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Situationseröffnungen

2010
978-3-8233-7438-1
Gunter Narr Verlag 
Lorenza Mondada
Reinhold Schmitt

Der Band führt aus einer multimodalen Perspektive in die Analyse von Situationseröffnungen ein. Auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen unterschiedlicher sozialer Situationen analysiert er die multimodalen Verfahren, mit denen die Beteiligten sich schrittweise auf eine koordinierte Interaktion orientieren, diese vorbereiten und schließlich herstellen. Kontrastiv zu etablierten Untersuchungen verbaler Gesprächseröffnungen am Telefon wird das spezifische Anforderungsprofil der multimodalen Situationsherstellung verdeutlicht. Der Band enthält sechs empirische Untersuchungen verschiedener Situationstypen: Filmset, Arbeitssitzungen, Videokonferenzen, Raclette- Essen unter Bekannten, Wegauskünfte, zufällige Treffen im Supermarkt und ein Gottesdienstanfang. Die Analysen fokussieren die für den jeweiligen Situationstyp konstitutiven Aspekte der Situationseröffnung: die von den Interaktionsbeteiligten gemeinsam hergestellte Ordnungsstruktur, deren sequenzielle und segmentale Spezifik, das interaktive Anforderungsprofil und die eingesetzten multimodalen Verfahren. Neben der Dichte simultan stattfindender Koordinationsleistungen wird in den Beiträgen vor allem die Bedeutung derjenigen Interaktionsprozesse hervorgehoben, die der Herauslösung und Vorbereitung der Situation dienen und der formellen Eröffnung vorausgehen. Die Untersuchungen verweisen so ganz grundsätzlich auf die Relevanz "interaktiver Vorgängigkeit".

Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt (Hrsg.) Situationseröffnungen Zur multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 4 7 Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Ulrich Hermann Waßner Band 47 Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt (Hrsg.) Situationseröffnungen Zur multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion Redaktion: Franz Josef Berens Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Tröster, Mannheim Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6438-2 Inhalt Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt Zur Multimodalität von Situationseröffnungen .......................................... 7 Heiko Hausendorf/ Reinhold Schmitt Opening up Openings: Zur Struktur der Eröffnungsphase eines Gottesdienstes .................................................................................... 53 Elwys De Stefani/ Lorenza Mondada Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum: Die emergente Koordination räumlicher, visueller und verbaler Handlungsweisen .................................................... 103 Florence Oloff Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen ......................................................... 171 Daniela Heidtmann Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen ....................................................................................... 229 Lorenza Mondada Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion: Das Beispiel Videokonferenzen .............................................. 277 Reinhold Schmitt/ Arnulf Deppermann Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation............................................................ 335 Vorwort_final. Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 1. Einleitung Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer seit Oktober 2006 bestehenden offiziellen Kooperation zwischen Mitarbeiter(inne)n des Laboratoire ICAR (Centre National de Recherche Scientifique und Université de Lyon) sowie Mitarbeiter(inne)n der Abteilung Pragmatik des Instituts für Deutsche Sprache. 1 Der Zusammenarbeit liegt ein gemeinsames Forschungsprojekt mit dem Titel „Vergleichende Analysen von Situationseröffnungen“/ „Analyses comparées d'ouvertures“ zugrunde. Das Projekt, das seinen Fokus im Vergleich von französisch- und deutschsprachigen Situationseröffnungen in unterschiedlichen sozialen Kontexten hat, setzt die langjährigen Arbeitskontakte vor allem von Lorenza Mondada und Reinhold Schmitt als zentrale Initiatoren und Koordinatoren fort, die seit Ende der 1990er Jahre bestehen. Ersten organisatorischen Ausdruck fand diese deutsch-französische Kooperation in den seit 2003 regelmäßig am IDS stattfindenden halbjährlichen „Arbeitstreffen zu Fragen multimodaler Kommunikation“ (Schmitt 2004, 2009). Die gemeinsamen Analysen und Diskussionen im Rahmen dieser Arbeitstreffen zielen auf die Entwicklung eines Ansatzes, der auf der empirischen Grundlage audiovisueller Daten Interaktion in ihrer komplexen multimodalen Qualität methodisch kontrolliert untersuchbar macht. Getragen werden diese Diskussionen von der Einsicht, dass die faktische Komplexität von Interaktion nur durch eine methodische und theoretische Fokussierung auf den Gesamtzusammenhang von Sprache, Intonation, Mimik, Blick, Gestikulation, Körperpositur, Präsenzmodi (Sitzen, Stehen, Gehen), der Manipulation von Gegenständen, der Konstellation der Beteiligten zueinander, der Positionierung im Raum sowie den praxeologischen Gegebenheiten (Interaktion als Bestandteil anderer Aktivitätszusammenhänge) erfasst werden kann. Die Arbeitstreffen führten zu einem zweitägigen Kolloquium, das im Oktober 2005 am IDS abgehalten wurde und der gemeinsamen Diskussion von Koordination als einem neuen Untersuchungsgegenstand der videogestützten Interaktionsanalyse einen Rahmen zur Verfügung stellte. Die Ergebnisse dieser Diskussionen wurden 2007 in dem Band „Koordination. Analysen zur multimodalen Interaktion“ publiziert (Schmitt (Hg.) 2007). Nach dem Kolloquium 1 Siehe Mondada/ Schmitt (2007) für eine Darstellung dieses Projekts. Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 8 Vorwort_final fiel die Entscheidung, die deutsch-französische Komponente als von Anfang an zentraler Bestandteil dieser multimodalen Initiativen zu einem eigenständigen Analysezusammenhang mit Projektstatus zu entwickeln. So entstand das Projekt „Vergleichende Analysen von Situationseröffnungen“/ „Analyses comparées d'ouvertures“, das in methodisch-methodologischer Hinsicht eine unmittelbare Weiterführung des multimodalen Diskussionszusammenhangs mit einer neuen inhaltlich-thematischen Schwerpunktsetzung darstellt. Die Wahl genau dieses Aspekts reflektiert dabei zentrale Einsichten der gemeinsamen Diskussionen, wie beispielsweise die folgende: Es ist notwendig, die im konversationsanalytischen Forschungszusammenhang entwickelten - primär verbal definierten - Konzepte im Lichte der neuen, audiovisuellen Qualität der Videodokumente zu überprüfen. Die zentrale Frage lautet dabei: Wie wirkt die Tatsache, dass bei Videodoaufzeichnungen auch die visuellen Anteile im interaktiven Verhalten der Beteiligten der Analyse zur Verfügung und im Fokus stehen, auf die etablierten konversationsanalytischen Konzepte zurück? Die Wahl, die „multimodale Herstellung fokussierter Interaktion“ zum Gegenstand systematischer Analysen zu machen, reagiert auf diese durch die neue materiale Grundlage notwendig gewordene Konzeptreflexion. Da die Analyse von Gesprächseröffnungen für die Konversationsanalyse eine ganz zentrale Rolle gespielt hat - und auch heute noch spielt -, war es naheliegend, diesen Untersuchungsgegenstand aus einer multimodalen Perspektive aufzugreifen. Dass dies nicht zur „Analyse der multimodalen Herstellung von Gesprächseröffnungen“ führte, sondern „die multimodale Herstellung fokussierter Interaktion“ als Fokus ausweist, macht Folgendes deutlich: Es handelt sich tatsächlich um die Konstitution eines neuen Gegenstandes. Die Beiträge verstehen sich folglich nicht in erster Linie als eine nur um Visualität erweiterte Konversationsanalyse, sondern als Analysen in einem eigenständigen interaktionstheoretischen Erkenntniszusammenhang, der durch den Begriff „Multimodalität“ definiert ist. Gleichwohl stellt die Konversationsanalyse für alle Beiträge einen zentralen Bezugspunkt in methodologischer Hinsicht dar, und professionsbiografisch sind alle Beiträger(innen) mehr oder weniger deutlich konversationsanalytisch „sozialisiert“. Daher skizzieren wir - bevor wir die einzelnen Analysen vorstellen - die konversationsanalytischen Wurzeln, die in der konstitutionsanalytischen Perspektive in allen Beiträgen deutlich werden (Kap. 2). Wie die Studien zeigen, beziehen sich die einzelnen Autoren jedoch in unterschiedli- Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 9 Vorwort_final cher Deutlichkeit und Ausprägung auf diese methodologischen Grundlagen und damit auch thematisch auf die konversationsanalytischen Arbeiten zu Gesprächseröffnungen. Dies spiegelt zum einen die unterschiedliche Nähe der Autor(inn)en zur konversationsanalytischen Methodologie wider. Zum anderen ist dies jedoch auch der Spezifik der analysierten Daten geschuldet. So legt die Analyse technisch vermittelter Interaktion, wie sie von Lorenza Mondada am Beispiel von Videokonferenzen durchgeführt wird, aufgrund materialer Beschaffenheit und der dabei konstitutiven Rolle der Verbalität einen stärkeren Bezug zu den konversationsanalytischen Ergebnissen und Konzepten zu Telefonkommunikation nahe. Bei der Analyse der gestreckten Eröffnungsphase eines Gottesdienstes mit Glockenläuten, Orgelspiel und der weitgehend stillen Kopräsenz der einzelnen Gottesdienstbesucher, wie sie von Heiko Hausendorf und Reinhold Schmitt vorgestellt wird, ist dies quasi „naturwüchsig“ etwas anders. Hier spielt vor allem die Sozio-Semiotik des speziell für die Realisierung des religiösen Rituals hergerichteten und mit unterschiedlichen Klängen erfüllten Raums eine größere Rolle als verbale Aktivitäten. Im Anschluss an die Darstellung unserer konversationsanalytischen Wurzeln skizzieren wir unter dem Begriff „Multimodalität“ den für die Studien gemeinsamen interaktionstheoretischen Rahmen. Dabei erheben wir nicht den Anspruch, die sich aktuell entwickelnde interaktionstheoretische Konzeption, auf die Multimodalität verweist, vollständig darzulegen. Vielmehr fokussieren wir diese Darstellung auf unser spezifisches Erkenntnisinteresse an der Herstellung fokussierter Interaktion (Kap. 3). Diese Fokussierung führt dann im nächsten Schritt dazu, dass wir Konsequenzen und Implikationen präsentieren, die sich aus den vorherigen Ausführungen für die Analyse multimodaler Situationseröffnungen ergeben (Kap. 4). Die Einleitung endet schließlich mit einer Kurzbeschreibung der Beiträge (Kap. 5). 2. Konversationsanalytische Wurzeln 2.1 Die Analyse von Eröffnungssequenzen Eröffnungssequenzen (openings) gehören zu den klassischen Themen der Konversationsanalyse. Sie sind Gegenstand der Dissertation von Schegloff (1967) und sind seitdem in den unterschiedlichsten Kontexten immer wieder analysiert worden. Die Untersuchung von Eröffnungssequenzen folgt dabei der allgemeinen Entwicklung der Konversationsanalyse: Als erstes dienten Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 10 Vorwort_final aufgenommene Telefongespräche als Analysebasis (Kap. 2.2), dann folgte die Analyse von Gesprächen im institutionellen Rahmen, die ebenfalls auf der Grundlage von Audioaufnahmen durchgeführt wurden (Kap. 2.3). Erst seit geraumer Zeit wurden auch Videoaufnahmen herangezogen, um die multimodalen Aspekte des interaktiven Handelns in Phasen der Herstellung und der Eröffnung von Interaktion genauer untersuchen zu können (Kap. 2.4). Im Folgenden skizzieren wir die geschichtliche Entwicklung der Erforschung von Eröffnungssequenzen und schenken dabei der Erweiterung der technischen Möglichkeiten besonderes Augenmerk. Es wird deutlich werden, dass die Analyse von Eröffnungssequenzen stetig revidiert wurde. Diese permanente Revision ist zum einen in der technologischen Veränderung im Bereich der Aufnahmetechniken begründet, ist jedoch auch durch die generelle konzeptionelle Entwicklung der Konversationsanalyse motiviert. 2.2 Die Eröffnung von Telefongesprächen Eröffnungssequenzen von Telefongesprächen spielen in der Geschichte der Konversationsanalyse eine wichtige Rolle. Sie sind nicht nur ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie sich die ‘Maschinerie’ der sequenziellen Gesprächsentwicklung in Gang setzt; ihre Analyse diente vielmehr ganz grundlegend dazu, aufzuzeigen, dass Paarsequenzen, bestehend aus initiativen und reaktiven Sequenzteilen, als Aufforderung-Antwort-Sequenz (summonsanswer-sequence) konzeptualisiert werden können und als prototypisches Sequenzpaar einen grundlegenden Teil der gesprächskonstituierenden Maschine darstellen. Im Falle eines Telefongesprächs bildet das Klingeln des Telefons die Aufforderung und damit den ersten Teil der Paarsequenz. Schegloff (1968, S. 1080) hat von Anfang an darauf hingewiesen, dass in unterschiedlichen Kontexten den Teilnehmer(inne)n unterschiedliche Verfahren zur Verfügung stehen, um die Aufmerksamkeit anderer zu gewinnen. Er erwähnt beispielsweise verbale Verfahren wie die Anstandsformel „Entschuldigen Sie bitte…“ aber auch körperliche Verfahren wie „ jemandem auf die Schulter klopfen“ und gestikulatorische Verfahren wie „mit der Hand winken“ oder „das Aufhalten der Hand eines Publikumsteilnehmers“ etc. Das Sequenzpaar im Kontext der Telefoneröffnung war von Anfang so konzeptualisiert, dass es einerseits den technologischen Besonderheiten eines Telefongesprächs gerecht wird, andererseits jedoch generell für die unterschiedlichsten interaktiven Bedingungen Gültigkeit besitzt. Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 11 Vorwort_final Die Paarsequenz ‘Aufforderung-Antwort’ ist fundamental, weil sie den Teilnehmer(inne)n erlaubt, auf koordinierte Art und Weise in die Organisation der Interaktion einzusteigen. Die Antwort, die auf die Aufforderung folgt, symbolisiert ganz grundsätzlich die Verfügbarkeit des Angerufenen. Sie erlaubt es auch, die Unterscheidung zwischen Ko-Präsenz und gegenseitiger Verfügbarkeit zu verstehen. Die Paarsequenz ‘Aufforderung- Antwort’ bildet somit eine Vor-Sequenz für die folgenden Sequenzen. Als solche enthält sie die Eigenschaft der ‘non-terminality’: Nach Beendigung des Antwortteils durch den Angerufenen hat der Anrufende die Verpflichtung, wieder zu sprechen und somit das Gespräch weiterzuführen (Schegloff 1968, S. 1081). Gleichzeitig steht der Angerufene in der Pflicht, zuzuhören (ebd., S. 1083). Die mit der non-terminality zusammenhängenden gesprächsorganisatorischen Implikationen, die sich primär als jeweils spezifische Partizipationsverpflichtungen der beiden Beteiligten zeigen, verweisen ihrerseits auf das allgemeine interaktionskonstitutive Prinzip der konditionellen Relevanz (conditional relevance): Die Realisierung eines ersten Teils einer Paarsequenz etabliert die normative Erwartung auf einen spezifischen, d.h. korrespondierenden zweiten Teil. Im Falle der Nichterfüllung dieser Erwartung ist die Abwesenheit des zweiten Teiles als relevantes Phänomen sichtbar (Schegloff/ Sacks 1973) und in solchen Fällen wird die Aufforderung wiederholt. Sobald der koordinierte Einstieg der Teilnehmer(innen) in das Telefongespräch organisiert ist, erfolgt die Eröffnung des Gesprächs, in der in der Regel die wechselseitige Identifikation der Gesprächspartner erfolgt (Schegloff 1979). Die Gesprächseröffnung findet normalerweise in folgender Reihenfolge statt: die Begrüßung, der Austausch „wie geht es dir? “ sowie die Erörterung der Gründe für den Anruf (Schegloff 1986). Schegloffs Analysen der Eröffnungssequenzen haben eine Vielzahl von Studien zu Telefongesprächen inspiriert. Die Dominanz gerade dieses Gesprächstyps für konversationsanalytische Untersuchungen hat seine Gründe primär in der technologischen Entwicklung der frühen Entwicklungsphase der Konversationsanalyse, die Tonbandaufzeichnungen zum Standard der empirischen Grundlage machte. Bezogen auf die Reduktion der interaktiven Ursprungsituation und ihren Tondokumenten stellt die Telefonkommunikation einen Sonderfall dar (Mondada 2008c). Hier gibt es eine weit(er)gehende Übereinstimmung hinsichtlich der Komplexität der Ursprungssituation und des Dokuments als Analysegrund- Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 12 Vorwort_final lage: Interaktionsbeteiligte und Analysierende haben in etwa den „gleichen“ Zugang zu den Interaktionsbeiträgen des Gesprächspartners: Beide hören, was gesprochen wird. Diese weitgehende Übereinstimmung von Ursprungsdaten und Interaktionsdokumenten ist - im Sinne der Lösung des grundsätzlichen methodologischen Problems, das dem Verhältnis dieser beiden Datentypen inhärent ist - ein Grund, mit dem Schegloff das analytische Interesse an Telefonkommunikation motiviert hat. … in those days when there were substantial limitations of technology and cost of gathering the visually accessible data of interaction - limitations barely imaginable in today's world - these telephone materials appealed on other grounds as well. For studying copresent interaction with sound recording alone risked missing embodied resources for interaction (gesture, posture, facial expression, physically implemented ongoing activities, and the like), which we knew the interactants wove into both the production and the interpretation of conduct, but which we as analysts would have no access to. With the telephone data, the participants did not have access to one another's bodies either, and this disparity was no longer an issue. (Schegloff 2002, S. 288) Interessanterweise finden sich in Schegloffs ersten Artikeln zur Sequenzkonstitution in Telefongesprächen zahlreiche Referenzen zu interaktiven Face-to- Face-Situationen. Diese Referenzen bleiben jedoch auf der Ebene des Anekdotischen und basieren ausschließlich auf ethnographischen Beobachtungen. Spätere Studien haben sich dann auch Eröffnungssequenzen gewidmet, die im Rahmen faktischer Wahrnehmungswahrnehmung (Hausendorf 2001) und somit mit direktem Blickkontakt zwischen den Beteiligten stattfinden. Interessanterweise wurden auch diese Untersuchungen zunächst auf der Grundlage von Audioaufnahmen von Interaktionen im institutionellen Rahmen durchgeführt. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, als sich Video als dominantes Dokumentationsmedium bereits in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit etabliert hatte, fand auch im Kontext der Konversationsanalyse eine Erweiterung der Gegenstandsdefinition hin zur Analyse der multimodalen Ressourcen statt. Dies führte dazu, dass das Modell der Telefongesprächseröffnung noch lange, nachdem die Videotechnologie bereits einsatzbereit war, als Standardwerk galt und dass nur wenig Arbeiten die faktische multimodale Komplexität von Interaktionen untersuchten. Schegloffs Pionierarbeit zu Eröffnungen in Telefongesprächen hat zu zahlreichen Arbeiten über Telefongespräche in anderen Sprachen, Kulturen und Kontexten geführt, was zur Erweiterung der Diskussion über die universelle Natur ihrer Organisation beigetragen hat. Gesprächseröffnungen am Telefon wurden beispielsweise Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 13 Vorwort_final - hinsichtlich ihrer kulturellen Variation untersucht (siehe beispielsweise Hopper/ Koleilat-Doany 1989, Hopper et al. 1990/ 1991, Pallotti/ Vacasia o.J., Luke/ Pavlidou (Hg.) 2002), - im Rahmen des konversationsanalytischen Ansatzes und der interkulturellen Soziolinguistik analysiert (zu Telefonanrufen in Frankreich siehe Godard 1977; in Holland, Houtkoop-Steenstra 1991; in Schweden, Lindström 1996; in Taiwan, Hopper/ Chen 1996; in Samoa, Liddicoat 2000; in Hong Kong, Luke 2002; in Korea, Lee 2006; in Japan, Park 2002; in Italien, Vacasia 2003 und Bowles/ Pallotti 2004), - aber auch unter der Perspektive des Spracherwerbs fokussiert (zu Telefongesprächen von non-natives siehe Taleghani-Nikazam 2002, Bowles 2006). Eine zweite Gruppe von Arbeiten hat dazu beigetragen, die Analyse von Telefonanrufen im Rahmen mediatisierter Situation weiterzuentwickeln. Hierzu gehören beispielsweise die Untersuchungen von - Gesprächen mit Mobiltelefonen (Relieu 2002; Arminen 2002, 2005; Hutchby/ Barnett 2005), - Gesprächen mit Bildtelefonen (Fornel 1994), - Radiosendungen (Hutchby 1999), - Videokonferenzen (Meier 1998, Licoppe / Dumoulin 2007, Mondada 2007d und - Gesprächen mit virtual walls (Bonu 2007, Relieu 2007); hierbei handelt es sich um eine Technik, bei der man die Beteiligten an anderen Orten nicht auf einem Bildschirm sieht, sondern auf einer virtuellen Wand, die in den Raum integriert ist. Generell haben diese Arbeiten die visuelle Dimension der Interaktion in ihre Analysen integriert, indem sie sich auf Kontexte konzentriert haben, die den Vergleich mit Telefoninteraktion notwendig machten. Der Vergleich hat dementsprechend dazu geführt, auf medien- und situationsbedingte Variationen des Ursprungsmodells hinzuweisen und Abweichungen zu formulieren. Ein dritter Typus von Arbeiten hat sich auf Telefongespräche im institutionellen Kontext konzentriert. Obwohl auch Schegloffs Aufnahmen selbst einem institutionellen Kontext entstammen, galt seine analytische Aufmerksamkeit nicht in erster Linie deren institutionellem Charakter. Er war vielmehr daran interessiert, fundamentale und generelle Mechanismen der Sequenziellen Interaktionskonstitution herauszuarbeiten. Den Arbeiten der 1980er und Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 14 Vorwort_final 1990er Jahre war hingegen daran gelegen, aufzuzeigen, wie der institutionelle Kontext durch spezifische Formate von Telefongesprächen widergespiegelt und konfiguriert wird. 2.3 Die Eröffnungen institutioneller Interaktion In den 1980er Jahren führte die Untersuchung von „Kommunikation in Institutionen“ dazu, institutionelle Interaktion als einen spezifischen Gesprächstyp zu konzeptualisieren, der im Vergleich zu gewöhnlichen Gesprächen durch einen begrenzten Gebrauch von Formaten gekennzeichnet ist. Der Nachweis dieser Unterschiede erbrachte gleichzeitig den Beweis, dass beiden Gesprächsarten dieselbe Organisationsmatrix zugrunde liegt (siehe beispielsweise die Einführung von Drew/ Heritage (Hg.) 1992). Die Analyse der Telefoneröffnungen in institutionellen Kontexten zeigt, dass im Rahmen von Telefonanrufen an die Notfallnummer 911 der Polizeidienste in Amerika eine Spezifizierung und Reduktion der zentralen Eröffnungssequenz („specification and reduction of the core opening sequence“, Zimmerman 1992a, S. 435; 1992b) zu beobachten ist. Tatsächlich zeichnen sich diese Eröffnungen durch ein kompaktes Format aus: Indem die Begrüßung und der Austausch von „Wie geht es dir“ ausgelassen wird, wird die Antwort auf die Aufforderung, die Identifizierung und den Grund für den Anruf in einem einzigen Redebeitrag des Anrufs vereint (Whalen/ Zimmerman 1987, S. 175ff.). Die möglichst rasche Einführung des Grundes für den Anruf ist charakteristisch für die Eröffnung von Telefongesprächen in einem institutionellen Kontext. Zudem zeigt die Analyse der institutionellen Eröffnungen, dass die Interagierenden in den ersten Redebeiträgen ihre Identitäten so aufeinander ausrichten, dass eine Fortsetzung des Gesprächs gewährleistet ist. So gesehen spiegelt das spezifische Format der Eröffnungen von Telefongesprächen in Institutionen nicht einfach den institutionellen Kontext. Das spezifische Format stellt vielmehr den Ort der reflexiven Realisierung dieses institutionellen Kontextes dar: Durch die wechselseitige Ausrichtung der Interaktionsbeteiligten und durch die Sichtbarmachung der Produktion und des Erkennens dieses Kontexts, (re-) produzieren sie gemeinsam die spezifische Form von Institutionalität (Heritage/ Greatbatch 1991, Zimmerman 1992b). Seit Zimmermans grundlegenden Analysen sind zahlreiche Untersuchungen zu Gesprächseröffnungen in verschiedenen sozialen, medizinischen und polizeilichen Institutionen durchgeführt worden (Baker/ Emmison/ Firth 2001, Bergmann 1995, Danby/ Baker/ Emmison 2005, De Gaulmyn 1994 und Emmison/ Danby 2007). Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 15 Vorwort_final Ein anderes Phänomen der Eröffnungssequenzen von Telefongesprächen, das bei Analysen von Interaktionen im institutionellen Rahmen wiederholt untersucht wurde, sind pre-beginnings. Damit bezeichnet Zimmerman eine vor der Aufforderung als erstem Sequenzteil platzierte Phase (Zimmermann 1992a, S. 432; 1992b, S. 38ff.), auf die schon Schegloff aufmerksam gemacht hat (Schegloff 1979, S. 27). Diese Phase umfasst die Aktivität des Auswählens und Eintippens der Telefonnummer und setzt für den Anrufenden selbst eine Reihe von Erwartungen in Gang und etabliert eine spezifische Form der Vororientierung. Diese bezieht sich beispielsweise auf die Person, die den Anruf entgegennehmen wird und auf mögliche erwartbare Gründe für den Anruf. Die Mitarbeiter des angerufenen Dienstes haben hingegen Erwartungen dahingehend, dass der Anrufer spezifische Gründe hat; sei es, dass er Unterstützung braucht oder sich aktuell in einer Notfallsituation befindet. Der Vor-Beginn projiziert dementsprechend eine Ausrichtung, die während der Identifizierungssequenz der Eröffnung ratifiziert wird. Diese Phase ist jedoch auf den Audioaufzeichnungen, die die Basis dieser Analysen bilden, nicht dokumentiert (siehe jedoch Mondada (2008c) für eine auf Videoaufnahmen basierende Analyse dieser Phase). Gleichwohl beschäftigt sich Zimmerman (1992a, 1992b) analytisch mit solchen pre-beginnings auf der Basis von abweichenden bzw. auffälligen Beispielen. Zum einen handelt es sich um Fälle, in denen der Anrufer die Nummer versehentlich gewählt hat und schweigt, zum anderen um Fälle, bei denen es sich um Scherzanrufe handelt. Bei der Analyse dieser Anrufe zeigt Zimmerman, dass sich der Angerufene an Elementen der pre-beginnings orientiert, um mögliche Gründe für den Anruf und dessen Verstehbarkeit zu rekonstruieren. Analysen von institutionellen Interaktionen weisen regelmäßig auf die Phase des Vor-Beginns hin. Dies trifft beispielsweise auf die Analysen von medizinischen Interaktionen zu, in denen Eröffnungssequenzen untersucht wurden, die einen wichtigen institutionellen Kontext darstellen (Bergmann 1979, Heath 1981, ten Have 1988 und Ruusuvuori 2000). Heritage/ Robinson (2006, S. 57f.) weisen darauf hin, dass die Verabredung eines Termins beim Arzt und der Weg zur Praxis einen Vor-Beginn darstellen, durch den der Patient sich auf den Arztbesuch als legitimes und aus medizinischer Hinsicht gerechtfertigtes Unterfangen ausrichtet, und so sein „Patient-Sein“ aufbaut. Die Eröffnung von Arztkonsultationen gehört zu den Bereichen, in denen sehr früh Videodokumente ausgewertet wurden. Dies gilt vor allem für die Arbeiten von Heath (1981, 1986). Seine Analysen haben gezeigt, dass der Aufbau von Wechselseitigkeit und Verfügbarkeit für einen gemeinsamen Austausch Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 16 Vorwort_final schrittweise erfolgt. Heath berücksichtigt das Eintreten des Patienten in den Konsultationsraum, die Art und Weise wie der Patient gebeten wird, sich hinzusetzen und wie der Arzt den Übergang von der Einsichtnahme der Patientenakte hin zum Anfang der eigentlichen Konsultation organisiert. Dabei unterstreicht Heath die Wichtigkeit der gegenseitigen Blickkontakte und die Blickorganisation des Patienten, um den Arzt in seiner Eröffnung zu unterstützen. Die gegenseitige Bereitschaft zu beginnen („mutual readiness to start“) wird somit durch das Zusammenspiel beider Parteien erreicht, wobei sie visuelle, vokale und verbale Ressourcen einsetzen. Obwohl schließlich der Arzt die Konsultation mit einem „Was kann ich für Sie tun? “ initiiert, ist diese Initiation das Ergebnis einer gemeinsamen Herstellung. Hierzu trägt der Patient mit seinen Blicken und seiner Haltung bei und lockt den ersten Themenbeitrag des Arztes gewissermaßen aus diesem heraus (Heath 1986, S. 24ff.). Die Rolle der Blicke und der Körperhaltung in der Übergangsphase der Eröffnung hin zur Initiierung der eigentlichen Konsultation wurde auch von Robinson (1998) und Modaff (2003) erwähnt. Andere Arbeiten zur Eröffnung von Arztkonsultationen rücken die Präsentation des Problems und die Beschreibung des Grundes für den Arztbesuch („accountable reason for the visit“) ins Zentrum ihres Erkenntnisinteresses. Diese Aspekte sind für den Aufbau der Glaubwürdigkeit und Legitimität des Patientenproblems und des Arztbesuches als ein ‘durch den Arzt behandelbares’ Problem zentral (Heritage/ Robinson 2006). Der Begriff „doctorable“ ist durch Mehans Arbeiten zu Anrufen an die Polizei inspiriert. Mehan (1989) charakterisiert die für den Anruf angegebenen Gründe als „policeable“. Die Analyse des Grundes für einen Anruf und die Einführung des ersten Themas (Schegloff 1986), das die Phase der Eröffnung beendet, erlauben zweierlei: Zum einen kann die Ausrichtung beider Parteien beschrieben werden, zum anderen kann auch die Konvergenz beziehungsweise mögliche Divergenz zwischen der Präsentation des zu behandelnden Problems aus Patientensicht und der Eröffnungsfrage des Arztes rekonstruiert werden (Robinson 2006, Heritage/ Robinson 2006). Neben den ärztlichen Konsultationen haben sich konversationsanalytische Untersuchungen auch im Kontext von Arbeitssitzungen für die Struktur der Eröffnungssequenz inklusive des Vor-Beginns in systematischer Weise interessiert. In einem bahnbrechenden Artikel weist Turner (1972) darauf hin, dass die Art und Weise, in der die Beteiligten am Sitzungsort eintreffen, sich setzen und zusammenkommen, bereits ihr Wissen um die Eigenheiten der kommenden Sitzung und ihre Ausrichtung auf dieselbe deutlich macht. Nach Turner ist bereits auch die kategoriale Zugehörigkeit der Beteiligten erkennbar, in der sie Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 17 Vorwort_final an der Sitzung teilnehmen werden. Der Vor-Beginn bildet in diesem Sinne eine Phase, während der sich die Beteiligten auf die kommende Aktivität und gleichzeitig auf spezifische Aktivitäten der Phase, die der Eröffnung vorangehen wird, ausrichten. Der Beginn („beginning“) der Sitzung selbst kann aufgrund eines vordefinierten Zeitplans geschehen oder das Resultat einer Ko- Präsenz von gewissen Beteiligten sein (Turner 1972, S. 371). In diesem zweiten Fall richtet sich die Eröffnung der Sitzung auf die für die kommende Aktivität relevanten Kategorien. Turners Analyse zeigt, dass die Herstellung der Eröffnung einer Therapiesitzung einen Wechsel in der Art und Weise mit sich bringt, wie die Beteiligten verbale Beiträge behandeln. Von dem Moment an, in dem die Sitzung beginnt, bilden Gesprächsbeiträge der Patienten keine Konversationsbeiträge mehr, sondern gelten als Gegenstände („data“), die vom Therapeuten analysiert werden. Die Eröffnungen von Sitzungen sind von Boden (1994, S. 92ff.) als „premeeting talk“ analysiert worden: Es sind Aktivitäten, die vor dem eigentlichen Beginn der Sitzung stattfinden, aber auf diesen ausgerichtet sind. Mirivel/ Tracy (2005) unterscheiden im Verlauf des premeeting talk folgende Phasen: small talk, work talk, preparatory work und shop talk. Oft ist der Übergang zum Beginn der Sitzung durch Markierungen (z.B. ‘so’, ‘gut’, ‘uh’) und der Initiierung des ersten Themas, das als Grund der Sitzung präsentiert wird, erkennbar (Boden 1994, S. 97f.). Auch für die Mehrheit dieser Arbeiten gilt, dass sie auf der Basis von Audiodokumenten durchgeführt wurden. Die Überlegungen zum Vor-Beginn ( prebeginning) sind um einiges älter als die allgemeine Verfügbarkeit von Video als Dokumentationsmedium. Interessanterweise wurden sie aber nicht mehr weiter entwickelt, obwohl in der Zwischenzeit die Dokumentation dieser interaktiven Momente in Form von Videoaufnahmen grundsätzlich möglich ist. Für die Analyse und Konzeptualisierung von Interaktion als multimodalem Gesamtzusammenhang müssen also bestimmte historische Bedingungen gegeben sein. Hierzu zählt ganz wesentlich - das ist bereits hervorgehoben worden - die technologische Entwicklung im Bereich der Videodokumentation und der Videoanalyse. Doch es bedarf weitaus mehr als nur dieser technischen Voraussetzungen, um wissenschaftlich eine neue Sicht auf Interaktion zu entwickeln. Es müssen vielmehr auch die wissenschaftsinternen Bedingungen und die wissenschaftliche Relevanz gegeben sein, diese vorhandene Technologie unter der Perspektive systematischer Erkenntnisgenerierung einzusetzen. In dieser Hinsicht sind Verzögerungsphasen in der wissenschaftlichen Adaption technischer Entwicklungen interessant, die sich - so hat man fast den Eindruck - mit einer gewissen Systematik wiederholen: Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 18 Vorwort_final Sowohl die „flächendeckende“ Adaption der technischen Möglichkeiten der Audiodokumentation als auch die der audiovisuellen Dokumentation hinken dem technisch Machbaren sowohl bei der Entwicklung der Konversationsanalyse als auch der „Multimodalität“ erkennbar hinterher (Mondada 2006, 2008c und 2009). 2.4 Die Eröffnungen in Face-to-Face-Situationen Konversationsanalytische Untersuchungen, die sich in Form einer expliziten Gegenstandskonstitution mit der faktischen multimodalen Komplexität von Situationseröffnungen beschäftigen, sind auch nach wie vor eher eine Seltenheit. Etwas anders stellt sich diese Situation hinsichtlich des Aspektes „Begrüßung“ im Bereich der Soziolinguistik, der Ethnographie der Kommunikation und der anthropologischen Linguistik dar. Hier gibt es durchaus Arbeiten, die bei der Analyse von Begrüßungen die Wichtigkeit des räumlichen Kontextes, der körperlichen Nähe, der Gestikulation und der Blickorganisation als integrale Bestandteile der Eröffnungsorganisation zumindest theoretisch hervorheben und den Aspekt der Multimodalität diesbezüglich als Grundlage formulieren. Aber auch hier werden die multimodalen Ressourcen als für die Interaktionskonstitution zentrale Grundlagen analysepraktisch kaum ernsthaft berücksichtigt (beispielsweise Ag-Youssouf/ Grimshaw/ Bird 1976, Collett 1983, Duranti 1992, Irvine 1974, Salmond 1974, Caton 1986 und Goody 1972 zu außereuropäischen Kulturen). Anderseits haben Wissenschaftler, die sich für Gestik und andere modale Verhaltensweisen interessieren, eine generelle Beschreibung der Begrüßungssequenz geliefert, die typisierenden Charakter besitzt und konventionelle Haltungen mit Sprache und Kultur verbindet. Beispielsweise beobachten Greenbaum/ Rosenfeld (1980) Begrüßungen in Flughäfen, die sie geschlechtsspezifisch typisieren. Argyle (1975, S. 78) bemerkt wiederum, dass die körperlichen Verhaltensweisen der Begrüßung zahlreiche Variationen aufweisen. Aufgrund dieser Beobachtung schlägt er eine Typologie der Begrüßungs-Haltungen und Begrüßungs-Gestiken vor, die quer durch die unterschiedlichen Kulturen am häufigsten vorkommen und erstellt eine Liste der in den verschiedenen Kulturen am häufigsten auftretenden Aspekte. Hierzu zählen beispielsweise: - der eyebrow flash (auf dessen Einsatz für Begrüßungszwecke Eibl-Eibesfeld (1972) zum ersten Mal hinweist), - Lächeln, Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 19 Vorwort_final - wechselseitige Blicke, - räumliche Nähe, - körperlicher Kontakt (der für Kulturen, die den Körperkontakt ansonsten nicht privilegieren, in diesem Zusammenhang charakteristisch ist), - die Präsentation der Handinnenfläche ( presenting palm) oder - der head toss. Aufgrund der existierenden Literatur identifiziert Duranti (1997) sechs universelle Eigenschaften der Begrüßungsorganisation, zu denen auch nichtverbale gehören. Obwohl der Autor diese im Verhältnis zur verbalen Dimension ansonsten vernachlässigt (ebd., S. 68), insistiert er jedoch beispielsweise darauf, dass die Begrüßung dazu beiträgt, einen gemeinsamen Orientierungsrahmen zu schaffen, den die Beteiligten teilen (ebd.). Das Anzeigen des Erkennens/ der Identifikation kann durch visuelle oder verbale Ressourcen realisiert werden. Wichtig ist dabei, dass die Form und die Modalität der Begrüßungen bereits Ausdruck der wechselseitigen Identifikation und der sozialen Kategorisierung der Beteiligten sind (ebd., S. 71). So ist es durchaus wichtig zu wissen, ob die Person gegenüber ein „Feind“ ist oder aber ein Hausangestellter oder ein Kind. Die adäquate Einschätzung ist dann die Voraussetzung dafür, das eigene Verhalten entsprechend anzupassen: beispielsweise dem Feind ausweichen oder sich angemessen gegenüber dem Kind verhalten. In Samoa kontextualisiert die Form der Begrüßung und deren Position im Verhältnis zum Aktionsablauf den Kontext und die Aktivität. So zeigen Durantis Analysen zu den Begrüßungsaktivitäten (1992, 1997), dass gewisse Begrüßungen innerhalb der Begegnung relativ spät stattfinden. Die Begegnung beginnt mit einem Austausch von Witzen, Fragen, Kommentaren und sieht vor dem Beginn der offiziellen Zeremonie keinen Austausch von Begrüßungen vor. Sherzer (1983) macht bei den Kunas ebenfalls die Beobachtung einer verspäteten Begrüßung. Generell lassen diese ethnographischen Beobachtungen (Durantis Arbeit basiert auf Videoaufnahmen) auf eine Art von Vor- Beginn-, Vor-Sitzungs-Gespräch schließen, das den formellen, zeremoniellen Aktivitäten eigen ist. Wie die Literatur zeigt, lassen sich auch im ethnographischen Forschungskontext nur wenig detaillierte Analysen finden, die auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen durchgeführt worden sind. Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang jedoch die wegweisende Arbeit von Kendon/ Ferber (1973), die von Goffmans Untersuchung (1963, S. 91f.) zum Blickaustausch als clear- Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 20 Vorwort_final ance signal innerhalb des Übergangs von der unfocused zur focused Interaktion inspiriert ist. Indem Kendon und Ferber auf der Grundlage von Filmmaterial und multimodalen Transkriptionen arbeiten, ist es ihnen möglich, die Details von Begrüßungen in Kontexten, in denen die gegenseitige visuelle Wahrnehmung der Beteiligten aufgrund der räumlichen Distanz der Annäherung vorangeht, als gestalthaften interaktiven Moment („complete interactional event“, Kendon 1990b, S. 20) zu erfassen. Die Begrüßungen kann durch wechselseitige Wahrnehmung (sighting) oder durch die explizite Präsenzankündigung eines Beteiligten initiiert werden (beispielsweise durch Husten, durch Klopfen an der Tür oder indem ein Beteiligter den anderen beim Namen ruft; Kendon 1990d, S. 163). Hierbei handelt es sich um Verfahren, die denen in der Konversationsanalyse beschriebenen Aufforderungen gleichkommen. Sobald sich die Beteiligten visuell identifizieren (clearance), initiieren sie ihre Annäherung, die in ihrer Realisierung auf die räumlichen Gegebenheiten des Ortes reagiert (die analysierten Geburtstagsgäste überschritten beispielsweise den zentralen Raum der Party nur, wenn sie vorher vom Gastgeber begrüßt wurden - dies traf vor allem auf Gäste zu, die mit dem Gastgeber nur weitläufig bekannt waren). Während der Annäherung kann durch ein Kopfnicken oder eine Handbewegung eine Begrüßung auf Distanz ausgetauscht werden. Charakteristisch für die Annäherungsphase bis zum Moment der bevorstehenden Begrüßung ist das Vermeiden von Blickkontakt und Auto-Kontakten ( grooming). Von dem Moment an, an dem die Vereinigung der Beteiligten stattgefunden hat, ist die Begrüßung durch einen intensiven Blickaustausch, durch Lächeln, Handpräsentation ( palm presentation) als Vorbereitung für den Handschlag gekennzeichnet. Zudem kann die Begrüßungsphase auch Körperkontakt einschließen. Die Studie von Kendon/ Ferber (1973) wird ein Jahr vor Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974) zum turn taking publiziert, bleibt aber im konversationsanalytischen Kontext weitgehend unbeachtet. Kürzlich wurden jedoch gewisse Elemente dieser Perspektive vertieft. So analysiert Pillet-Shore (2008) auf der Basis von Videoaufzeichnungen die multimodalen Praktiken des Zusammenkommens (coming together) in der Eröffnungsphase von Face-to-Face-Interaktionen. Sie zeigt, dass sich die Beteiligten bei der Organisation der Eröffnung an sichtbaren und symbolhaltigen Grenzen (z.B. Türen) orientieren: Sie erfragen den Zutritt (admission gained from pre-present parties) oder bewilligen ihn sich selber (self-admission). Ist der Zutritt gewährt, orientieren sie sich auf die Struktur des Raumes und erst, wenn diese erkannt ist, richten sich die Neuankömmlinge wieder auf den Eingang aus und realisieren ‘darf-ich- Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 21 Vorwort_final eintreten’-Aktivität („‘may-I-enter’ action“, Pillet-Shore 2008, S. 20). Eine solche Aktivität kann beispielsweise durch eine zögerliche Körperhaltung erfolgen, die dem Warten auf Einlass Ausdruck gibt. Die folgenden Phasen umfassen - die Begrüßungen in ihrer multimodalen Realisierung, - die Vorstellungen, - die Verfahren, mit denen sich die Beteiligten setzen und im Raum einrichten (hierzu zählen die Übergabe der Mitbringsel, der Austausch von Geschenken, das Wiederherrichten der Kleider und die Positionierung im Raum) und anhand derer sie ihre Präsenz markieren (doing ‘how I'm coming here’), - der Austausch von „Wie geht es dir? “, - der Austausch von Scherzen und Formulierungen, welche die Verbindung mit früheren Begegnungen wieder herstellen und explizieren. Die genaue Beschreibung der verschiedenen Phasen einer Annäherung oder der Ankunft der geladenen Gäste zeigt das Ineinandergreifen der verschiedenen multimodalen Verhaltensweisen. Es wird deutlich, dass diese Verhaltensweisen sequenziell organisiert sind und sich auf die Eigenheiten des Raumes, der persönlichen Beziehungen und der Begegnung ausrichten und sich ihnen anpassen. In diesem Sinne unterscheidet sich der Besuch von Freunden zu Hause (Traverso 1998, Pillet-Shore 2008) erkennbar von einer öffentlichen Veranstaltung mit Unbekannten (Mondada i.Dr.) oder einer Situation, die der von Kendon/ Ferber (1973) analysierten Geburtstagsparty gleicht. Hier erfolgt die Annäherung jeweils schrittweise nach und nach aus der Bewegung heraus durch einen ersten Blickkontakt, gefolgt von einem ersten Redebeitrag, der die Positionierung und die Koordination der Körper im Raum und den Einstieg in die Unterhaltung begleitet. Die Eröffnungen von Face-to-Face-Interaktionen werden somit einerseits mit Hilfe ähnlicher sequenziell organisierter Aktivitäten vollzogen wie die eines Telefongesprächs. Andererseits kommen aber bevor das erste Wort gesprochen wird auch systematisch körperliche, nur visuell wahrnehmbare Ressourcen zum Einsatz. In den nachfolgend präsentierten Studien sind es gerade diese visuellen Ressourcen, die zur Anbahnung und Herstellung einer Interaktion eingesetzt werden - wie Kopfbewegungen, Richtung des Blickes, wechselseitige Wahrnehmung, Orientierung des Körpers und die Koordination der wechselseitigen Annäherung - die neben und vor allem vor dem Einsatz von Verbalität bei den Analysen systematisch berücksichtigt werden. Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 22 Vorwort_final 3. Der interaktionstheoretische Rahmen: Multimodalität Im Folgenden wollen wir - zumindest ansatzweise - die vielfältigen methodisch-methodologischen und theoretischen Implikationen skizzieren, die mit einer Konzeption von Interaktion als multimodalem Ereignis verbunden sind. Wir konzentrieren uns dabei vor allem auf diejenigen Implikationen, die sich insbesondere im Hinblick auf unseren zentralen Gegenstand „Eröffnung von fokussierter Interaktion“ ergeben. 3.1 Dokumentierte Situation und Interaktionsdokument Geht man davon aus, dass die technisch vermittelten Interaktionsdokumente, die wir als empirische Basis unseren Analysen von Interaktion zu Grunde legen, der dokumentierten Ursprungssituation möglichst nahe kommen sollten, dann wird Folgendes deutlich: Wenn man Interaktion untersucht - sei es als komplexe soziale Aktivität oder im engeren Sinne als Sprachgebrauch - hat man es zwangsläufig mit Multimodalität als nicht hintergehbarer Qualität der dokumentierten Ursprungssituation zu tun. Interaktion als multimodal konstituiertes soziales Ereignis ist sozusagen der empirische „Normalfall“ und die Bezeichnung ‘multimodale Interaktion’ in diesem Sinne ein „weißer Schimmel“. Die multimodale Konzeption von Interaktion ist kein neuer Ansatz, der aus dem Nichts auftaucht. Sie hat vielmehr tiefe Wurzeln in der qualitativen Erforschung von Interaktion und der soziologisch gegründeten Interaktionstheorie. Eine zentrale Rolle für die empirische Untersuchung und Konzeptentwicklung des Zusammenhangs unterschiedlicher Modalitätsebenen spielt der Forschungsansatz der context analysis (Birdwhistell 1970, Scheflen 1972 und Kendon 1990b, c). Der Ansatz spielte zwar für die konversationsanalytische Entwicklung kaum eine Rolle, wird jedoch im Zuge der multimodalen Perspektive auf Interaktion wieder entdeckt (Müller/ Bohle 2007). Multimodalität ist also keine neue Analysemethode oder eine neue Methodologie, sondern bezeichnet eine konstitutive Qualität von Interaktion. Wissenschaftsgeschichtlich treten zu dem bislang dokumentierten Hörbaren der Tonbandaufzeichnungen nun auch die sichtbaren Anteile des interaktiven Verhaltens der Beteiligten hinzu und werden somit zum Untersuchungsgegenstand, teilweise als eigenständige Untersuchungsaspekte (beispielsweise Koordination als zentrale Interaktionsvoraussetzung und kontinuierliche Leistung der Beteiligten; vgl. Schmitt (Hg.) 2007), teilweise in systematischem Bezug Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 23 Vorwort_final zu bereits etablierten Untersuchungsaspekten der Konversationsanalyse (beispielsweise die Rolle visueller Verhaltensweisen für die Turn-Taking- Organisation; Mondada 2007b, Schmitt 2005). 2 Im engeren Sinne kann man also auch nicht von einer multimodalen Analyse sprechen. Multimodalität ist vielmehr ein theoretischer Bezugsrahmen, der - in unserem Verständnis - auf eine Form der Interaktionsanalyse verweist, die auf der Basis von Videodokumenten authentischer Interaktionssituationen auf der Grundlage der konstitutionsanalytischen Methodologie der Konversationsanalyse durchgeführt wird. 3 In dieser Hinsicht unterscheidet sich unsere auf der konversationsanalytischen Methodologie aufsetzende interaktionistische Konzeption von Multimodalität von der im englischsprachigen Raum entstandenen multimodal discourse analysis. 4 Die multimodal discourse analysis beschäftigt sich mit der Materialität unterschiedlicher Interaktionskanäle, sei es in Texten (als Ineinandergreifen von Text und Bild), sei es in der Interaktion (als Alignment von Gesten, Gegenständen und Sprache), sei es in der technisch vermittelten Interaktion (Organisation der Chat-Bildschirme und Webseiten etc.). Diese Fokussierung auf den jeweiligen Kanal behandelt die konkrete Materialität als eine notwendige Voraussetzung und als einen semiotischen Rahmen, der mit spezifischen Eigenschaften ausgestattet ist, nicht jedoch wie eine Ressource aus Plastik, deren Benutzung jeweils lokal durch die Beteiligten/ Benutzer definiert wird. Im Verständnis dieses Ansatzes bezieht sich ‘Multimodalität’ als Oberbegriff auf die unterschiedlichsten Veränderungen im Bereich der Kommunikation, die mit dem technologischen Wandel und den durch ihn hervorgebrachten neuen Kommunikationsmedien zusammenhängen. Die für die Konversationsanalyse lange Zeit vorherrschende analytische Konzentration auf das Verbale stellt demgegenüber eine weitgehende Reduktion der Ausgangsdaten dar. Von der multimodalen Komplexität der dokumentierten Situation bleibt im Interaktionsdokument bei Audioaufzeichnungen nämlich nur das Verbale oder besser gesagt: das Tonale, das Hörbare erhalten. Verlässt man die nicht nur technisch, sondern auch methodologisch 2 Das Konzept „multimodale Kommunikation“ ist bereits in Scheflen (1972, S. 230) terminologisch vorgeprägt, der von Körperpositur als einer „modality of communication“ spricht. 3 Eine vergleichbare interaktionistische Ausrichtung zeichnet beispielsweise den Sammelband von Sidnell/ Stivers (Hg.) (2005) aus. 4 Siehe hierzu beispielsweise den von LeVine/ Scollen (Hg.) (2004) herausgegebenen Sammelband „Discourse Analysis and Technology“ und O'Halloran (Hg.) (2004); weiterhin Taylor (1989, 2000), Kress/ Van Leeuwen (2001), Jewitt/ Kress (2003) sowie Norris (2004). Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 24 Vorwort_final motivierte Selbstbeschränkung auf Telefonkommunikation und betritt den Bereich der Face-to-Face-Situation, in der die Interaktionsbeteiligten unter Bedingungen wechselseitiger Wahrnehmungswahrnehmung interagieren, wird die strukturelle Reduktion des technisch vermittelten Transfers situierter Ursprungsdaten in Interaktionsdokumente zum Gegenstand methodologischer Aufmerksamkeit. Die Implikationen der strukturellen Reduktion spielten jedoch bei der Erweiterung der empirischen Datenbasis für konversationsanalytische Untersuchungen, die ihre anfängliche Fokussierung auf Telefongespräche aufgab und sich verstärkt der faktischen multimodalen Komplexität von Face-to-Face- Interaktion zuwendete, keine nennenswerte Rolle. Die strukturelle Reduktion der Ursprungssituation wurde eher beiläufig erwähnt, selten jedoch hinsichtlich der damit verbundenen Implikationen reflektiert. Verbalität wurde auch dann noch als zentrale, eigenständige und de facto unabhängige Ausdrucksmodalität behandelt, als sie in der multimodalen Komplexität der Ursprungssituation nur noch ein Teil des interaktiven Austauschs war. Man braucht sich nur einmal einen beliebigen Videoausschnitt anzusehen, um einen Einblick in die Vielfalt der unterschiedlichen, aufeinander bezogenen und miteinander koordinierten Aktivitäten auf verschiedenen Modalitätsebenen zu bekommen. Man begreift schlagartig die Gleichzeitigkeit und Komplexität der an der Interaktionskonstitution insgesamt beteiligten Ausdrucksmöglichkeiten der Beteiligten. Wenn wir in Face-to-Face-Situationen interagieren, soziale Bedeutung konstituieren, individuelle Ziele verfolgen und uns selbst und andere dabei in sozial relevanter Weise positionieren und als mit bestimmten sozialen Eigenschaften ausgestattete Personen präsentieren, tun wir das immer auf der Grundlage multimodaler Ausdrucksressourcen. 3.2 Modalitätsebenen Zu den unterschiedlichen Dimensionen oder Modalitätsebenen, die bei der Interaktionskonstitution eine Rolle spielen und die in der grundsätzlichen Körperlichkeit und Raumgebundenheit der „Inter-Aktion“ basieren, gehören beispielsweise: - Verbalität (Prosodie inbegriffen) und ihre Körperlichkeit - Vokalität - Blick Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 25 Vorwort_final - Kopfbewegung - Mimik - Gestikulation - Körperpositur - Bewegungsmodus - Präsenzform - Proxemik: Verteilung im Raum: Positionierung der Beteiligten ( face to face, side by side, back to face …), Nähe/ Distanz - Räumlichkeit/ Materialität: Manipulation von Objekten (Tools, Instrumente etc.) Aus einer multimodalen Perspektive auf Interaktion werden die unterschiedlichen Dimensionen oder Modalitätsebenen theoretisch als grundsätzlich gleichwertig konzipiert. Keine der Dimensionen ist demnach für die Analyse der Interaktionskonstitution zentraler oder wichtiger als andere: Blickkontakt oder Körperpositur kommen als Modalitäten theoretisch, methodisch und konzeptuell der gleiche Status zu wie Verbalität. Konkret tritt eine Modalität nur dann in den Vordergrund, wenn sie von den Beteiligten selbst zur situationssensitiven Realisierung eines bestimmten Handlungszusammenhangs erkennbar relevant gesetzt wird. Dies ist eine Sicht, die mit zentralen Annahmen der context analysis, wie sie von Kendon vertreten wird, übereinstimmt. Kendon (1990b, S. 16) betont „the importance of an integrated approach to the study of interaction“ und „refuses to assume that any particular modality of communication is more salient than another“. Das Primat der Verbalität bei der Untersuchung von Kommunikation zu Gunsten eines Ansatzes aufzugeben, der alle Modalitätsebenen bei der Analyse und theoretischen Konzeption von Kommunikation berücksichtigt, bedeutet nun jedoch nicht, die empirische Faktizität außer Acht zu lassen, dass Interaktionsbeteiligte zur Bearbeitung bestimmter interaktiver Anforderungen spezialisierte Modalitäten einsetzen. Diese spezialisierten Modalitäten tragen jedoch nie die Gesamtlast der Interaktionskonstitution, sondern tun dies immer im koordinierten Zusammenspiel mit anderen Modalitäten. Sie müssen folglich in genau diesem koordinierten Zusammenhang rekonstruiert werden. Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 26 Vorwort_final 3.3 Konsequenzen der materialen Spezifik Aus dem grundlegenden materialen Unterschied zwischen Audioaufnahmen und den audiovisuellen Videoaufzeichnungen ergibt sich eine zentrale und weitreichende Konsequenz für die Interaktionsanalyse, die sich zunächst als methodische Anforderung zeigt. So lange man sich ausschließlich in der Modalität verbaler Aktivitäten bewegt, ist es durchaus ausreichend, den Prozess der Interaktionskonstitution als sequenzielle Abfolge wechselnder Sprecher- (innen)beiträge zu konzipieren. Mit Videoaufzeichnungen als empirische Basis tritt nun jedoch neben der Sequenzialität als primäres Rekonstruktionsprinzip die Anforderung, der Gleichzeitigkeit sehr unterschiedlicher modalitätsspezifischer Aktivitäten analytisch gerecht zu werden. Aus einer multimodalen Analyseperspektive sind beide Konstitutionsprinzipien konstitutiv für die Herstellung interaktiver Ordnung: Sequenzialität und Simultaneität. Die strukturell nicht aufhebbare Gleichzeitigkeit sehr unterschiedlicher modaler Aktivitäten und die theoretische Gleichwertigkeit aller Modalitätsebenen sind der Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Konsequenzen, die sich im Vergleich zur verbalen Analyse von Interaktion für Analysen im theoretischen Rahmen einer Konzeption von Multimodalität ergeben. Wir werden im Folgenden - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - exemplarisch Implikationen darstellen, die sich zwangsläufig aus einer multimodalen Konzeption von Interaktion ergeben. Diese Implikationen beziehen sich auf die Konstitution neuer Untersuchungsgegenstände (Kap. 4.1), die Entwicklung gegenstandsadäquater Analysemethoden (Kap. 4.2) und die Reflexion zentraler methodologischer Aspekte (Kap. 4.3). 5 3.3.1 Die Konstitution neuer Untersuchungsgegenstände 3.3.1.1 Raum Dass Interaktion immer auch ein raumbezogenes und durch Raum definiertes Unternehmen ist, wurde bereits früh erkannt und führte beispielsweise bei Kendon (1990c) zur Formulierung so genannter F-formations. Raum stellt jedoch nicht nur eine wesentliche Konstituente für Interaktion dar. Raum wird auch als Ressource bei der Lösung spezifischer interaktiver Probleme eingesetzt (LeBaron/ Streeck 1997). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Interaktionsbeteiligte in das Blickfeld anderer treten, um diese zu bestimmten Handlungen zu veranlassen (Deppermann/ Mondada/ Schmitt i.Dr.). Und Raum 5 Siehe auch Schmitt (2007a, b). Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 27 Vorwort_final wird von den Interaktionsbeteiligten nicht als etwas Gegebenes betrachtet. Raum als für die Interaktion wichtiger Relevanzrahmen muss vielmehr für die jeweiligen Zwecke von Interaktion in Form von „Interaktionsräumen“ situativ erst hergestellt werden (Schmitt/ Deppermann 2007, Mondada 2007c und Müller/ Bohle 2007). Interaktionsräume werden konstituiert durch das Zusammenspiel von physikalischen Gegebenheiten, die auf Grund ihrer Beschaffenheit bestimmte Implikationen für die Strukturierung von Interaktion haben, und interaktiven Herstellungsleistungen, bei denen Beteiligte diese Gegebenheiten für ihre thematisch-pragmatische Praxis als Ressource nutzen. Interaktionsräume sind mit bestimmten Relevanzstrukturen verbunden, die beispielsweise in der Symbolisierung von Inklusivität und Exklusivität zum Ausdruck kommen. Das Konzept ‘Interaktionsraum’ beschreibt dynamische, sich stetig verändernde Konstellationen, die teilweise klare räumliche Konturen aufweisen. Es verweist nicht auf statische, gegenständlich-territoriale Gebilde. 3.3.1.2 Koordination Neben der von der Konversationsanalyse bislang primär fokussierten verbalen Handlungsebene laufen noch eine Vielzahl zumeist gleichzeitiger Aktivitäten ab. Sie sind zwar auf die Handlungsebene bezogen und für diese funktional, können jedoch in ihrer interaktiven Bedeutung weder automatisch noch systematisch mit einer Handlungsanalyse erfasst werden. Solche Aktivitäten fassen wir mit dem Begriff ‘Koordination’. Koordination stellt eine permanente Anforderung an alle Interaktionsbeteiligte dar und ist in diesem Sinne interaktionskonstitutiv. Aus multimodaler Perspektive ist Koordination ein Untersuchungsgegenstand sui generis (Deppermann/ Schmitt 2007, Schmitt (Hg.) 2007). Koordinative Aktivitäten sind solche Verhaltensweisen, die im Zusammenhang und zeitgleich mit verbalen Kooperationsbeiträgen und als deren Voraussetzung in den unterschiedlichen Modi körperlichen Ausdrucks realisiert werden. Sie selbst stellen jedoch keine zielorientierten und handlungsschematisch bezogenen Beiträge dar. Im Gegensatz zu Kooperation zielen koordinative Aktivitäten von Beteiligten nicht auf die Herstellung eines gemeinsamen Produkts und haben in diesem Sinne auch keinen produktspezifischen Handlungscharakter. Es sind vielmehr Anforderungen, die bei der Analyse als Voraussetzung inhaltlicher Kooperationsbeiträge in den Blick kommen. Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 28 Vorwort_final Koordination als interaktionskonstitutive Anforderung wirkt sich teilweise auch unmittelbar auf die verbalen Aktivitäten aus. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine Sprecherin ihre begonnene Äußerung solange unterbricht, bis ein anderer Beteiligter seine Unterlagen so weit geordnet hat, dass sie sich sowohl gestisch als auch verbal darauf beziehen kann (siehe Mondada 2004). Solche Verzögerungen sind in der Konversationsanalyse formal-strukturell beschrieben und zumeist mit der interaktiven Behandlung „schwieriger“ Sachverhalte in Zusammenhang gebracht worden. 3.3.1.3 Materialität Materialität spielt für die Strukturierung von Interaktion und für Koordinationsleistungen in vielfältiger Weise eine Rolle. Das wird beispielsweise bei der Manipulation von Gegenständen deutlich (vgl. etwa Kallmeyer/ Streeck 2001; Streeck 1996; Schmitt 2001; Mondada 2007d, 2008d). Das interaktionsstrukturierende Potenzial von Gegenständen manifestiert sich besonders dann, wenn es sich um signifikante Objekte handelt. Signifikante Objekte sind Gegenstände (wie beispielsweise ein Videomonitor und eine Filmkamera), um die herum und unter Bezug auf diese durch Interaktion zwischen verschiedenen Beteiligten temporär ein Interaktionsraum etabliert wird (Schmitt/ Deppermann 2007). Signifikante Objekte sind gegenständliche Mitkonstituenten von Interaktionsräumen, deren Zentrum und koordinativen Bezugspunkt sie temporär bilden. Sie besitzen auf Grund ihrer eigenen Spezifik koordinative Implikationen (ein Videomonitor impliziert auf Grund seiner semiotischen Eigenschaften eine gewisse Orientierung derjenigen, die das laufende Video betrachten wollen, und eine gewisse Positionierung zu dem Objekt). Signifikante Objekte erhalten ihre Relevanz jedoch erst auf Grund der Bedeutung, die sie für Beteiligte zu einem gegebenen Zeitpunkt für die Realisierung bestimmter Aktivitäten besitzen. 3.3.1.4 Wahrnehmung Ein weiterer Aspekt, der bislang in seiner zentralen interaktionskonstitutiven Bedeutung ebenfalls nicht gesehen werden konnte, ist die Rolle der Wahrnehmung und Wahrnehmungswahrnehmung (Hausendorf 2001) der Interaktionsbeteiligten. Videoaufzeichnungen machen deutlich, dass Interaktionsbeteiligte auf sehr unterschiedliche Weisen der Interaktionsentwicklung folgen, dass sie permanent - wenn auch manchmal nur aus den Augenwinkeln heraus - verfolgen, was gerade passiert. Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 29 Vorwort_final Videoaufzeichnungen ermöglichen es, unterschiedliche Formen von Wahrnehmung zu untersuchen und deren Rolle für die lokale Interaktionskonstitution zu reflektieren. Deppermann/ Mondada/ Schmitt (i.Vorb.) untersuchen, wie sich Monitoring-Aktivitäten der Moderatorin eines Meetings in Reaktion auf die Bemühungen einer Mitarbeiterin ändern, die versucht, von der Pause wieder zur inhaltlichen Arbeit zurückzukehren. Der Aspekt der Wahrnehmung lenkt notwendigerweise den Fokus auf die Blickorganisation als eine Form der empirischen Manifestation von Wahrnehmung. Blickorganisation als ein Teil grundsätzlicher koordinativer Anforderungen und als für die Konstitution von Interaktion wichtige Anforderung in ihrer empirischen Vielfalt und lokalspezifischen Funktionalität systematisch zu fokussieren, stellt für die multimodale Analyse eine wichtige zukünftige Aufgabe dar. Wir wissen im Moment noch relativ wenig darüber, wie in Mehrpersonen- Konstellationen verbal nicht aktive Beteiligte der Interaktion folgen (Heidtmann/ Föh 2007). Videoanalysen der unterschiedlichen Weisen, in denen die Beteiligten dem Interaktionsgeschehen folgen, ermöglichen es, die interaktionskonstitutive Bedeutung von Wahrnehmung systematisch zu untersuchen. Dabei gelangen körperliche Verhaltensweisen erstmalig als zeitlich gestreckter empirischer Ausdruck von Interpretationen der Beteiligten in den Blick, die bislang nur lokal und auf die Sprecher-Hörer-Dyade bezogen als display beschrieben worden sind (Goodwin 1981, Heath 1982). 3.3.2 Methodische Implikationen Auch in methodischer Hinsicht wirkt sich die Veränderung der empirischen Basis für Interaktionsanalysen unmittelbar aus. Wir werden hier kurz exemplarisch auf zwei Aspekte eingehen: die Mehrebenenanalyse und die visuelle Erstanalyse. 3.3.2.1 Mehrebenen-Analyse Die an der Strenge der konversationsanalytischen Methodologie orientierte konstitutionsanalytische Rekonstruktion multimodaler Interaktionsstrukturen verlangt die Entwicklung und Methodisierung spezifischer, auf die Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes bezogener Analyseverfahren. Die Analyse von Videodokumenten macht aufgrund des komplexen Zusammenspiels unterschiedlicher Modalitätsebenen und der theoretischen Egalität der verschiedenen Modalitätsebenen Analyseverfahren erforderlich, die neben Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 30 Vorwort_final dem Prinzip der Sequenzialität (d.h. der Vor- und Nachzeitigkeit) auch dem Prinzip der Gleichzeitigkeit in adäquater Weise Rechnung tragen. Da man bei der konkreten Analyse von Videoausschnitten jedoch nicht alle Aktivitäten auf den unterschiedlichen Modalitätsebenen gleichzeitig erfassen kann, ist man gezwungen, sich bei wiederholten Durchgängen durch den zu analysierenden Ausschnitt auf jeweils einzelne Ausdrucksebenen zu konzentrieren. Konkret bedeutet dies, dass man entscheiden muss, mit welchem Modalitätsaspekt man die Analyse beginnt und mit welchem Aspekt man sie auf der Grundlage des dabei erarbeiteten Wissens fortführen will. Es ist ebenso naheliegend wie problematisch, grundsätzlich mit der Analyse des verbalen Geschehens zu beginnen und die Beobachtungen aller anderen Modalitätsebenen darauf aufzubauen. Naheliegend ist ein solches Vorgehen, weil es die methodische Sicherheit suggeriert, über die wir bei der konversationsanalytischen Auseinandersetzung mit Gesprächen verfügen. Zudem erfolgt in vielen Fällen die voranalytische Selektion relevanter Videoausschnitte auf der Grundlage des Gesprochenen. Problematisch ist ein solches Vorgehen, weil es die theoretisch postulierte Egalität aller Modalitätsebenen bei der Analyse unterläuft. Grundsätzlich muss sich die Entscheidung, auf welcher Ebene man in die systematische Analyse einsteigt, an dem spezifischen Erkenntnisinteresse ausrichten, und sie muss dem konversationsanalytischen Diktum folgen, sich sowohl bei der Entwicklung angemessener Analysemethoden als auch bei der Definition adäquater Kategorien von den Daten selbst leiten zu lassen. Um den rekurrenten analytischen Durchgang durch das gleiche Videosegment methodisieren und dadurch den enormen Zeitaufwand ökonomisieren zu können, wird es zudem nötig sein, systematisch die eigene „De-facto-Methodologie“ zu rekonstruieren, der man bei der Analyse von Videoaufzeichnungen folgt. 3.3.2.2 Visuelle Erstanalyse Man kann auf die methodische Anforderung einer systematischen Mehrebenenanalyse so reagieren, dass man zur Fokussierung der körperlichen Ausdrucksformen die vokale Ebene motiviert ausschließt. In systematisierter Form führt dies zur visuellen Erstanalyse als einer Variante der Modalitätsfokussierung. Der Begriff ‘visuelle Erstanalyse’ verweist auf die spezifische, durch den Forschungsgang definierte Funktionalität dieses methodischen Verfahrens: Es sollte vor der Analyse des verbalen Geschehens zur Anwendung gelangen. Da die Analyse noch nicht weitgehend durch das Wissen um das verbale Geschehen beeinflusst ist, ist am Anfang vor allem ein solcher Zugang Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 31 Vorwort_final in kategorienbildender Hinsicht besonders produktiv. Wird ein Videoausschnitt nach den Regeln der Kunst unter Ausschluss der verbalen Anteile segmentiert und in seiner Struktur beschrieben, führt das - methodisch induziert - nicht nur zwangsläufig zur Entwicklung neuer Beschreibungskategorien, sondern auch zur Konstitution neuer Struktursegmente. Die bei einer visuellen Erstanalyse einer Videoaufzeichnung generierten Beschreibungen und ad-hoc-Kategorisierungen können dann systematisch darauf befragt werden, ob sich mit ihnen in systematischer Weise pragmatisch relevante Strukturen erfassen lassen, die wesentliche Aspekte der Interaktionsdynamik beschreiben. Ein Beispiel für diesen Zusammenhang: Im Rahmen einer visuellen Erstanalyse wurde als manifestes Verhalten deutlich, dass die Regisseurin am Filmset eine Mitarbeiterin um die Hüfte fasst und herumdreht. Nachdem man in einem folgenden Analysegang auf der verbalen Ebene eine Auseinandersetzung zwischen den beiden analysiert hat, wird deutlich, dass das Umdrehen auch im Sinne eines gesprächsrhetorischen Zuges verstanden werden kann. Es hat die pragmatischen Implikationen von „Jemanden von seiner ursprünglichen Position abbringen“. Dies ist ein instruktives Beispiel dafür, dass relevante Orientierungen der Beteiligten nicht nur verbalisiert werden, sondern auch als pragmatisch implikative Verkörperung zum Ausdruck kommen. 3.3.3 Methodologische Implikationen Die Spezifik audiovisueller Daten führt auch im methodologischen Bereich zu interessanten Fragen. Wir werden uns diesbezüglich auf folgende Aspekte konzentrieren: die Modifikation etablierter konversationsanalytischer Konzepte, den Status von Transkripten und Video als reflexive Dokumentationsmedien und den Prozess der Datenkonstitution als aktive Herstellung. 3.3.3.1 Modifikation etablierter Konzepte Die multimodale Perspektive auf Interaktion führt zwangsläufig zur Neukonstitution und Neubewertung etablierter konversationsanalytischer Konzepte. Mit der Fokussierung aller sichtbaren Verhaltensaspekte für die Konstitution der interaktiven Ordnung und der permanenten Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Verhaltensmodalitäten geraten die verbal definierten Konzepte zur Beschreibung der Grundmechanismen bei der Produktion interaktiver Ordnung unter Druck. 6 6 Zu den Auswirkungen auf etablierte konversationsanalytische Konzepte aus multimodaler Perspektive siehe beispielsweise Mondada (2004) und Schmitt (2004, 2005). Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 32 Vorwort_final Eine damit zusammenhängende Implikation führt letztlich dazu, die für die theoretisch-konzeptionelle und analysefaktische Konzentration auf Verbalität zentralen Kategorien „Sprecher“/ „Hörer“ aufzugeben. Sie müssen im Kontext der Analyse multimodaler Interaktion gegenüber einer Vorstellung von multimodal aktiven Interaktionsbeteiligten und dem „Interaktionsensemble“ als zentrale Handlungseinheit ersetzt werden (vgl. Schmitt i.Vorb.). Das heißt jedoch nicht, die Kategorien „Sprecher“ und „Hörer“ gänzlich aufzugeben. Sie verlieren jedoch ihren konzeptuellen Status von Zentralkategorien und rutschen, wenn man das so sagen will, eine Stufe herab. Sie kategorisieren jetzt einen an eine spezifische Modalität gebundenen Beteiligungsaspekt im Gesamtverhalten der Interaktionsbeteiligten. Die Kategorien sind im strengen Sinne nicht der Interaktion als solche inhärent und quasi naturwüchsig zentral, sondern sie sind das Ergebnis eines spezifischen Erkenntnisinteresses und einer davon abgeleiteten Gegenstandskonstitution, wie sie beispielsweise in den Bezeichnungen conversation und später dann talk-in-interaction im konversationsanalytischen Forschungszusammenhang ihren Ausdruck findet. Conversation wurde zunächst als übergreifender Begriff für unterschiedliche, verbal definierte speech exchange systems benutzt und später durch talk-ininteraction ersetzt (Schegloff 1987a, 1987b und 1988). Im multimodalen Erkenntniszusammenhang gibt es kein „Service-Verhältnis“ bestimmter Modalitätsebenen für Verbalität. Einzelne Modalitätsaspekte leisten vielmehr einen je spezifischen Beitrag bei der Interaktionskonstitution. Sie sind immer eingebettet in den übergeordneten und differenzierten Rahmen von participation framework, dessen Füllung eines der wesentlichen Aufgaben zukünftiger Forschung im Bereich „Multimodalität der Interaktion“ darstellt. Für die konkrete Analysearbeit bedeutet das, dass man - ausgehend vom Interaktionsensemble als zentraler Bezugsgröße - nunmehr auch die Aktivitäten derjenigen hinsichtlich ihres spezifischen Beitrags zur Interaktionskonstitution befragen muss, die aktuell nicht sprechen, sich jedoch als Teil des Interaktionsensembles multimodal verhalten. 7 Damit sind wir bei zwei weiteren Implikationen der multimodalen Konzeption von Interaktion, die - vergleichbar dem stillschweigenden Augenzwinkern hinsichtlich der methodologischen Implikationen des Verhältnisses von dokumentierter Situation und Interaktionsdokument im Kontext der Konversationsanalyse - auch im multimodalen Erkenntniszusammenhang leicht 7 Siehe beispielsweise Heidtmann/ Föh (2007), die „verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung“ konzeptualisieren. Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 33 Vorwort_final übersehen werden können: Es handelt sich zum einen um Video als reflexives Dokumentationsmedium und zum anderen um das, was man vielleicht am adäquatesten als Stücke-Idealisierung im Kontext interaktionsanalytischer Untersuchungsgegenstände bezeichnen kann. Beide Aspekte sind für unser Erkenntnisinteresse an der multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion unmittelbar relevant. 3.3.3.2 Video als reflexives Dokumentationsmedium Einer der manifesten Aspekte, der das Nachdenken über die Spezifik des methodischen Umgangs mit den empirischen Grundlagen im audiovisuellen Forschungszusammenhang nötig macht, ist der Status der Videotechnologie. Video als Dokumentationsmedium macht nicht nur die sichtbare Seite interaktiver Ordnung der Analyse zugänglich, Video ist gleichzeitig auch eine reflexive Technologie, die auf sich selbst verweist (Mondada 2006, 2008c, 2009; Schmitt/ Fiehler/ Reitemeier 2007, Heath/ Hindmarsh 2002, Heath/ Luff 2006). Die zur Aufzeichnung eingesetzte Technik schreibt sich unabwendbar in die Aufzeichnungen der Interaktionssituationen hinein, die sie konserviert. Das, was wir hinterher bei der Analyse sehen, ist nicht die tatsächliche Situation, in der die Videoaufnahme erfolgt ist. Vielmehr handelt es sich um einen durch die Kamera und die Person hinter der Kamera festgelegten Ausschnitt und Blickwinkel, mit dem bestimmte Fokussierungen und Implikationen verbunden sind. Damit zusammenhängend rückt auch die aktive Rolle des Kameramannes/ der Kamerafrau bei der Datenkonstitution in den Fokus. Beim Betrachten von Videodokumenten wird deutlich, dass der Kameramann/ die Kamerafrau unmittelbar und aktiv zur Gestaltung der von ihm/ ihr dokumentierten Daten beiträgt: Dynamische Kameraführung, Schwenks und Zoomaktivitäten, die Hervorhebung einzelner Personen aus dem Gesamtzusammenhang sowie die Ausblendung ganzer Teilaktivitäten sind Ausdruck seiner/ ihrer Interpretation des dokumentierten Geschehens. Diese werden als konstitutiver Bestandteil der Aufnahme mit-dokumentiert und verdeutlichen so, dass es sich bei der Dokumentation um eine aktive Herstellung handelt. Diese nicht hintergehbare Präsenz der Videotechnologie ist jedoch nicht nur ein notwendiges Übel. Man kann daraus vielmehr auch eine Tugend machen. Unter einer solchen Perspektive wird der Kameramann/ die Kamerafrau als Bestandteil des Interaktionsensembles gesehen und die Kamerabewegungen als Ausdruck seiner/ ihrer relevanzgeleiteten Orientierung und als Hinweise auf seine/ ihre Interpretationen des aktuellen Interaktionsgeschehens begriffen. Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 34 Vorwort_final Folgt man also dem ethnomethodologischen Diktum, sich bei der Konstitution von Fragestellungen und der Konzeptentwicklung von den Daten selbst leiten zu lassen, werden die Kamera bzw. der Kameramann/ die Kamerafrau und die Spuren, die er/ sie und das Dokumentationsmedium bei der Dokumentationsarbeit im Material hinterlassen haben, selbst zum Gegenstand der Untersuchung (Broth 2004, Macbeth 1999, Mondada 2009). Die nicht hintergehbaren Implikationen des Dokumentationsmediums haben beispielsweise zur Entwicklung des Konzepts „Fokusperson“ geführt (Schmitt/ Deppermann 2007). Das Konzept trägt zum einen den interaktionsvorgängigen Ordnungsstrukturen und deren Implikationen für die Interaktion Rechnung. Dies betrifft die herausragende Position des Regisseurs - der im Zentrum kontinuierlicher Monitoring-Aktivitäten vieler Setmitarbeiter steht - für die Koordination auf dem Set. Zum andern trägt das Konzept jedoch auch den spezifischen Dokumentationsbedingungen Rechnung. In methodischer Hinsicht reflektiert das Konzept die Tatsache, dass der Regisseur gerade auch durch die Mikrofonverkabelung und durch die Kamera zum Fokus des dokumentierten Geschehens wird. Insgesamt macht der dynamische Kameraeinsatz deutlich, dass bereits die Dokumentation unumgehbar analytische Implikationen hat bzw. selbst bereits analytisch ist. Dies zeigt sich besonders dann, wenn die Kamera in Folge der Antizipation des Kameramanns/ der Kamerafrau bereits einen der Interaktionsteilnehmer fokussiert und groß ins Bild holt, bevor dieser in das Geschehen eingreift. Hier kann man sehen, dass die Kamerabedienung auf der Grundlage einer intuitiven Analyse funktioniert, die dem Kameramann/ der Kamerafrau selbst in der Situation nicht bewusst sein muss. 3.3.3.3 Status von Transkripten Was ebenfalls einer systematischen Reflexion bedarf, ist der veränderte Status von Transkripten im multimodalen Forschungskontext. Bei Transkripten audiovisueller Daten handelt es sich konstitutionslogisch gesehen um „Zwitter“. Zum einen stellt die Notation des verbalen Geschehens wie in verbalen Transkripten die Grundlage für die nachfolgende Analyse der Interaktionsstruktur und der sequenziellen Rekonstruktion der sie generierenden Mechanismen dar. Zum anderen aber sind die Notationen der sichtbaren Verhaltensweisen bereits weitgehend das Ergebnis einer durch theoretisch motivierte Erkenntnisinteressen geleiteten faktischen Analyse des Interaktionsgeschehens. Erst nach einer analytischen Beschäftigung mit der Videoaufnahme Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 35 Vorwort_final kann die Entscheidung getroffen werden, an welcher Stelle im Transkript welche Abbildungen gebraucht werden. Hier stellt sich also die Frage, welche Analysefragen auf der Grundlage einer solchen konstitutionslogisch „zwittrigen“ Datenbasis in sinnvoller Weise verfolgt werden können. Diese Frage verweist auch indirekt auf die Notwendigkeit der Entwicklung gegenstandsadäquater Präsentationsformen für Analyseergebnisse, die auf der Grundlage audiovisueller Daten erarbeitet wurden. Diese konstitutionslogische Differenz geht einher mit einem weiteren Unterschied, der das Verhältnis verbaler und visueller Informationen prägt. Für den Bereich der Notation des verbalen Geschehens gibt es aufgrund der grammatisch-syntaktischen Kodierung unserer Sprache eine sehr weitgehende intersubjektive Übereinstimmung zumindest im Hinblick auf das Gesagte. Da es eine vergleichbare Kodifizierung und Wiedergabe körperlicher Aktivitäten nicht gibt, ist bei diesen Informationen bei unterschiedlichen Beobachtern ein weiter interpretativer Spielraum dafür gegeben, was man beispielsweise unter einer Bewegung versteht und wie sie angemessen wiedergegeben werden soll. Allein für die objektiv wahrnehmbare Bewegung eines Lehrers von der Tafel in den Klassenraum hinein gibt es eine ganze Reihe alternativer, jedoch nicht funktional äquivalenter Beschreibungen: von der Tafel weggehen, den Blick auf die Tafel freimachen, in den Klassenraum hineintreten, auf die Schüler zugehen etc. Jede dieser Beschreibungen ist mit einer ganz spezifischen Implikation verbunden, die das Geschehen in unterschiedlicher Weise konzeptualisiert. Der Einsatz von Transkriptionssoftware und des Alignments der ursprünglichen Signale und des Transkriptionstexts hat es ermöglicht, bei der Lösung der grundlegenden Problematik der Repräsentation multimodaler Zusammenhänge einen wichtigen Schritt nach vorne zu machen. Dies betrifft in erster Linie die Behandlung und Visualisierung von Zeitlichkeit, die in einer timeline repräsentiert wird, auf die sowohl die verbalen, gestikulatorischen, blicklichen als auch alle anderen relevanten Aktivitäten bezogen sind (Mondada 2008a). Diese Abhängigkeit von der timeline ermöglicht die Aufrechterhaltung der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der verschiedenen Modalitätsebenen. Sie ermöglicht die flexible und adäquate Anordnung, die bei der jeweiligen Transkription in Abhängigkeit der Fragestellung jeweils notwendig ist. Diese Form der Repräsentation ermöglicht zudem, die Annotationsspuren ohne prinzipielle Beschränkung beliebig zu erweitern (siehe Mondada 2007a). Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 36 Vorwort_final Die Beiträge des Bandes repräsentieren hinsichtlich der „Transkriptions-Problematik“ eine gewisse Bandbreite an Problemlösungen. Es finden sich im engeren Sinne multimodale Transkripte (Mondada, Oloff, De Stefani/ Mondada), bei denen sich die Autor(inn)en am klassischen Verständnis eines Transkripts als „Analysegrundlage“ orientieren. Die Erstellung dieser multimodalen Transkripte ist durch das Bemühen gekennzeichnet, die multimodale Komplexität der Ursprungssituation - in gewisser Granularität - im Transkript grundsätzlich verfügbar zu machen. Dies führt zu einer sehr dichten und komplexen Transkription. Diese Transkripte können bei der Lektüre nicht einfach gelesen werden, sondern müssen vom Rezipienten aktiv „erarbeitet“ werden. Es gibt daneben Beiträge (Heidtmann, Schmitt/ Deppermann, Schmitt/ Hausendorf), die auf die Herstellung multimodaler Transkripte verzichten. Hinter diesem Verzicht verbirgt sich folgende methodologische Überlegung: Audiovisuelle Interaktionsdokumente können nur hinsichtlich ihrer Verbalität angemessen und rezeptionsfreudig angefertigt werden. Die visuellen Aspekte hingegen sind bereits analytisch so stark aufgeladen und so komplex, dass sie den Status von Transkripten als Analysegrundlage sprengen. Ein Versuch, die multimodale Komplexität dennoch abzubilden, wird über das Einfügen von Standbildern versucht. Es liegt nicht in der Absicht der Beiträger(innen), die Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Einsatzes von Transkripten bei multimodalen Analysen zu homogenisieren. Es bleibt bewusst den Rezipienten überlassen, über die für ihre Bedürfnisse adäquate Präsentation der audiovisuellen Daten zu entscheiden. Der Status multimodaler Transkripte und deren vom jeweiligen Erkenntnisinteresse abhängige Granularität und Vollständigkeit ist ein zentraler Punkt, der bei der Entwicklung einer Methodologie für die Analyse multimodaler Interaktion in der Zukunft sicherlich ernsthaft diskutiert werden muss. Der vorliegende Band beschränkt sich hier lediglich darauf, ein gewisses Spektrum an Lösungen dieses Problems zu zeigen, die zum augenblicklichen Zeitpunkt zur Verfügung stehen. 4. Situationseröffnungen aus multimodaler Perspektive Die Untersuchung von Situationseröffnungen stellt eine Reihe von Fragen, die sowohl für die Konzeptualisierung von Multimodalität und Interaktion zentral sind, als auch hinsichtlich der methodologischen Konsequenzen, die sich aus der Arbeit mit Videoaufzeichnungen ergeben. Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 37 Vorwort_final 4.1 Multimodale Dimensionen „Späte“ Verbalität: Als eine grundsätzliche Erkenntnis der Analyse von Situationseröffnungen auf der Grundlage audiovisueller Interaktionsdokumente wird deutlich: Die Sprache kommt erst zu einem relativ späten Zeitpunkt ins Spiel. Werden die Interaktionsbeteiligten verbal aktiv, kann man in der Regel analytisch detailliert nachweisen, dass sie sich - anders als bei Telefongesprächen, wo dies technisch nicht möglich ist, und auch anders als bei Tondokumenten von Situationseröffnungen in Face-to-Face-Konstellationen, wo diese Informationen verloren gehen - in der Regel bereits intensiv ausgetauscht und die Möglichkeiten für den verbalen Austausch aktiv hergestellt haben. Auch wenn man der Meinung ist, dass Sprache das zentrale Medium / die zentrale Modalität für den interaktiven Austausch ist, muss man sehen, dass der Einsatz von Sprache von den Beteiligten in der Situation selbst erst ermöglicht werden muss. Ein voraussetzungsloses Sprechen im Sinne eines unvorbereiteten interaktiven Austauschs gibt es - zumindest als unmarkierte Normalform - nicht. Das Verhältnis von Sprache und den anderen Modalitäten ist dabei ein dialektisches: Der Gebrauch von Sprache wird von den Interaktionsbeteiligten durch den Einsatz anderer Modalitäten und die Konstitution von geeigneten Interaktionsräumen systematisch vorbereitet. Die Sprache, die auf diesen interaktiv vorbereiteten Grundlagen zum Einsatz gebracht wird, reflektiert ihrerseits im Detail die für ihren Einsatz notwendigen, von den Beteiligten hergestellten Voraussetzungen und ist an diese gebunden. Wie also der erste verbale Kontakt gestaltet wird, ob es eine offizielle Begrüßung, eine namentliche Adressierung gibt, in welcher Weise auf die aktuelle Situation referiert wird etc., hängt neben den Relevanzen des Ereignisses für die Beteiligten auch ganz wesentlich von den Aktivitäten dieser Anbahnungsphase ab. Visuelle Wahrnehmung: Die wechselseitige Kategorisierung als potenzielle bzw. zukünftige Interaktionspartner wird primär durch Prozesse der visuellen Wahrnehmung und der Wahrnehmungswahrnehmung organisiert und vorbereitet. Visuelle Wahrnehmung und die darauf basierende Blickorganisation ereignen sich - aufgrund der Qualität als Distanzmedium - zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Beteiligte können sich schon aus großer Distanz wahrnehmen und Hypothesen über Laufrichtung, Bewegungsgeschwindigkeit und Ziele anderer bilden und - für den Fall, dass sie eine fokussierte Interaktion mit einem/ den anderen Beteiligten beabsichtigen - ihr eigenes Verhalten in adäquater Weise auf der Grundlage dieser Hypothesen koordinieren. Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 38 Vorwort_final Doch nicht nur das Verhalten der anderen wird im Hinblick auf intendierte nachfolgende Interaktion durch Monitoring-Aktivitäten verfolgt. Auch das eigene Verhalten wird im Hinblick auf die Eröffnung einer Interaktionssituation für die anderen erkennbar, d.h. in diesem Falle wahrnehmbar gemacht. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass es nicht (nur) zu einseitig strukturierten Anbahnungen kommt, sondern dass diese Vorbereitungsphase von den Beteiligten gemeinsam organisiert werden kann. Körperorientierung: Die gemeinsame Orientierung auf eine durch bestimmte Hinweise in der Anbahnungsphase projizierte Bereitschaft/ Absicht zur fokussierten Interaktion zeigt sich im Verhalten der Beteiligten in Veränderungen ihrer Körperorientierungen, der Modifikation ihrer Bewegungsgeschwindigkeit, der Zielkorrektur, der Herstellung von Nähe, der Kopfausrichtung und der Blickorganisation als vorgreifende Verdeutlichungen des Partnerbezuges. Es kommt im Laufe der Entwicklung solcher Anbahnungen zu einer immer deutlicher werdenden wechselseitigen Abstimmung dieser unterschiedlichen modalen Ausdrucksmöglichkeiten auf einen gemeinsamen Punkt (der Eröffnung) hin. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass Außenstehende die Interaktionsabsicht der sich so gemeinsam orientierenden und koordinierenden Beteiligten mit relativer Sicherheit prognostizieren und erkennen können, dass es zu einer Situationseröffnungen kommen wird. Denn das grundsätzliche Design, die Wahrnehmbarkeit des eigenen Verhaltens als Vorbereitung für die Eröffnung einer fokussierten Interaktion, erfolgt nicht nur für den zukünftigen Interaktionspartner, sondern auch für diejenigen, die nicht als Beteiligte des zukünftigen Austauschs vorgesehen sind. Auf der Grundlage ihrer Interpretation des Verhaltens als Vorbereitungsaktivitäten können sie jedoch - in bestimmten Situationen und unter bestimmten Voraussetzungen - selbst entscheiden, sich in diesen Prozess zu integrieren. Beteiligungsrahmen: Und noch ein weiterer Punkt weist den konstitutiven Status der Anbahnung als Bestandteil von Situationseröffnungen aus: Bevor eine Situation eröffnet werden kann und die ersten Worte gewechselt werden können, müssen die Beteiligten in hinreichend erkennbarer Weise gemeinsam einen Beteiligungsrahmen etablieren und sich dadurch als potenzielle und prinzipiell willige Teilnehmer einer zukünftigen/ intendierten fokussierten Interaktion wechselseitig identifizieren. In konzeptueller Hinsicht ist es eine interessante Frage, wie der Status dieser Aktivitäten im Hinblick auf die Struktur von Situationseröffnungen konkret auszuweisen und zu definieren Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 39 Vorwort_final ist. Dass sie aus multimodaler Perspektive konstitutiver struktureller Bestandteil von Situationseröffnungen sind, steht angesichts der Ergebnisse der einzelnen Beiträge außer Frage. Raum: Bei der Analyse der multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion spielt dabei gerade für die Phase der Anbahnung und Vorbereitung der Situationseröffnung die Herstellung eines besonderen räumlichen Arrangements, eines gemeinsamen Interaktionsraums eine wesentliche Rolle (siehe auch Kendon (1990c) und seine Konzeption von F-formation). Die Art und Weise, in der ein solcher Interaktionsraum als zentrale Voraussetzung für die intendierte zukünftige Interaktion gemeinsam hergestellt wird, ist dabei projektiv hinsichtlich zentraler thematischer, pragmatischer oder sozialer Aspekte dieser zukünftigen Interaktion. Die verschiedenen Beiträge in diesem Band zeigen klar, dass und wie die Realisierung der Anbahnung und Vorbereitung der Situationseröffnung bereits zentrale Relevanzen dieser Situation verdeutlicht. 4.2 Methodologische Konsequenzen 4.2.1 Korpusaufbau Videoaufzeichnungen verdeutlichen die grundsätzliche Bedeutung von Wahrnehmung für die Strukturierung der Situationseröffnungen in Face-to-Face- Situationen. In der Regel ist die wechselseitige Wahrnehmung und die Blickorientierung der Interaktionsbeteiligten eine Art Primärressource/ -medium der Situationsanbahnung. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf den Korpusaufbau, vor allem aber hinsichtlich der Festlegung, wann man mit der audiovisuellen Dokumentation der Situation beginnt und Kameras und Mikrofone einschaltet. Die zentrale Bedeutung der wechselseitigen visuellen Wahrnehmung in Face-to-Face-Situationen für die Vorbereitung von Situationseröffnungen geht einher mit ihrer für eine detaillierte und methodisch kontrollierte Analyse oft nur ungenügenden empirischen Erfassung. Aufgrund aufnahmetechnischer Beschränkungen sind viele unserer audiovisuellen Interaktionsdokumente nur in Ausnahmefällen geeignet, die interaktiv relevanten Anbahnungsaktivitäten einer systematischen Analyse zu unterziehen. Dies gilt vor allem für mimische Aktivitäten und Blickorganisation, teilweise aber auch für minimale Formen von Kopfnicken als Ausdruck der Adressatenvorauswahl. Vor allem aber gilt das für die koordinierte Abstimmung der Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 40 Vorwort_final Anbahnungs- und Vorbereitungsaktivitäten der Beteiligten, wenn dies mit Bewegung im Raum verbunden ist. Vor allem bei einer gewissen räumlichen Distanz der Beteiligten ist dies nur mit großem technischem Aufwand dokumentier- und analysierbar. Unter Bedingungen wechselseitiger Wahrnehmung ist es ein generelles Charakteristikum von Interaktionseröffnungen, dass in der Regel lange bevor das erste Wort zwischen in einer Situation ko-präsenten Beteiligten gesprochen wird, bereits intensiver interaktiver Austausch zwischen ihnen stattfindet. In der Phase räumlicher Annäherung beispielsweise, die eine konstitutive Voraussetzung für das „Nähe-Medium“ Verbalität ist, selegieren und identifizieren sich Beteiligte bereits mit Blicken und Körperorientierung als künftige Interaktionspartner. Sie tauschen dabei auch wahrnehmbare Vororientierungen auf einen gemeinsamen Interaktionsraum aus und kommunizieren durch ihre spezifische körperliche Präsenz im Raum und durch den Modus ihrer Bewegung, welche Qualität die projizierte Interaktion haben wird/ soll. Es ist wichtig zu betonen, dass dies nicht einfach notwendige Vorbereitungen sind, die das eigentlich zentrale verbale Geschehen ermöglichen, das in seiner Spezifik dann jedoch von der bereits stattgefundenen Interaktion in der Anbahnungsphase unabhängig ist. Es ist vielmehr so, dass solche vorgängigen Aushandlungen (Anbahnungen) einen unmittelbaren Einfluss auf die Art und Weise haben, wie die verbale Weiterführung der bereits vorbereiteten Interaktion faktisch aussehen wird (ob es beispielsweise zu einer formellen Eröffnung mit Adressierung oder Begrüßung kommt oder nicht). In diesem Sinne kann man aufgrund einer videogestützten Analyse von Situationseröffnungen nicht nur rekonstruieren, was alles an Vorarbeiten in welcher Modalität geleistet worden ist, bevor Sprache ins Spiel kommt. Dies ist ein wichtiger Aspekt bei der Gegenstandskonstitution und dem „Zuschnitt“ von Situationseröffnungen für die Analyse. Man kann umgekehrt aus der Analyse der verbalen Situationseröffnung auch rekonstruieren, was alles an Vorbereitungsaktivitäten stattgefunden haben muss, damit der Einsatz von Sprache genau in der vorliegenden Art und Weise erfolgen konnte. Für die umfassende und systematische Untersuchung der multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion besteht folglich die Notwendigkeit, spezielle Korpora aufzubauen, die der spezifischen Konstitutionslogik der Situationsherstellung adäquat Rechnung tragen. Das bedeutet auch, dass man dabei auf leicht zugängliche Fremddaten, wie sie uns Fernsehen und Internet zur Verfügung stellen, nicht zurückgreifen kann. Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 41 Vorwort_final Um jedoch entscheiden zu können, wie solch ein geeignetes Korpus de facto aussehen muss, ist es nötig, zunächst einmal auf der Grundlage vorhandener Aufzeichnungen die multimodale Herstellung fokussierter Interaktion in möglichst vielen unterschiedlichen und maximal kontrastierenden Situationen detailliert zu untersuchen. Hierzu leistet der Band einen wichtigen Beitrag. 4.2.2 Ausschnitt konstituieren Aufgrund der teilweise weit gespannten Phase der Anbahnung und Situationsherstellung und ihrer in der Regel erst späten verbalen Qualität ist es unter einer multimodalen Erkenntnisperspektive notwendig, sich bei der Analyse von Videoausschnitten die Frage nach dem für die Analyse notwendigen Ausschnitt zu stellen. Es geht dabei nicht einfach darum, in formaler Hinsicht den Umfang des Ausschnittes festzulegen. Wie weit man den Blick bei der Ausschnittkonstitution nach vorne richten muss, ist nicht leicht zu entscheiden. Unter einem multimodalen Erkenntnisinteresse erfordert die Ausschnittbildung also bereits ernsthafte analytische Investitionen. Aufgrund der Komplexität der für die Interaktionskonstitution relevanten Aspekte und besonders wegen des mehr oder weniger dichten Netzes projektiver Verdeutlichungen in unterschiedlichsten Formen multimodaler Realisierung ist die motivierte, erkenntnisgeleitete Festlegung des relevanten Ausschnitts tatsächlich bereits ein erstes Analyseergebnis. Schaut man sich beispielsweise Videoaufzeichnungen an, die die Vor- und Etablierungsphase von Meetings dokumentieren, dann werden zwei Dinge unmittelbar deutlich: Zum einen liefert die Art und Weise, wie diese Vor-Phase gemeinsam hergestellt wird, wie die Mitglieder des Meetings nach und nach den Raum betreten, ihren Platz suchen, miteinander reden und sich dabei nicht nur blicklich, sondern auch teilweise bereits thematisch auf das anstehende Meeting beziehen, bereits wichtige Hinweise auf das nachfolgende interaktive Geschehen und den Charakter des Meetings. Zum andern wird deutlich, dass die Frage, wann die fokussierte Interaktion als hergestellt gelten kann, nicht zu beantworten ist, ohne sich bereits analytisch mit dem Geschehen dieser Vorbereitungsphase befasst zu haben. Andererseits wird der Beginn bereits durch die Orientierung der Person hinter der Kamera und durch situativ emergierende Relevanzen festgelegt, was oft zu einem verspäteten Einsatz des Dokumentationsmediums führt. Dadurch werden jedoch bestimmte Aspekte des Gesamtereignisses an den Rand gerückt oder gar gänzlich ausgeblendet. Zusätzlich zeigt sich häufig eine starke Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 42 Vorwort_final Orientierung an der manifesten Eröffnung und ihrer verbalen Grundlagen, was unmittelbar die Festlegung des Dokumentationsbeginns und damit auch die Möglichkeiten der analytischen Rekonstruktion der faktischen „Tiefe“ von Anbahnungen betrifft. Wir haben es bei Videoaufnahmen in einem doppelten Sinne mit einer vorgedeuteten Wirklichkeit 8 zu tun: Nicht nur die Deutungen der Interaktionsbeteiligten sind inkorporiert in ihrem konkreten Verhalten in den Daten enthalten. Auch die während der Aufnahme realisierten Deutungen und Interpretationen des Interaktionsgeschehens durch den Kameramann sind Bestandteil der Daten. In Anlehnung an Bergmann (1985) und seine Überlegungen zur Flüchtigkeit sozialer Interaktion muss man hier von einer „interpretativen Konservierung“ sprechen. Dieser konstitutive Aspekt audiovisueller Daten macht in erhöhtem Maße die methodologische Reflexion nicht nur der Datenkonstitution, sondern auch des methodisch kontrollierten und konzeptorientierten analytischen Umgangs mit diesen „aktiv hergestellten Dokumenten sozialer Praxis“ notwendig. Es ist daher erforderlich, in der detaillierten Auseinandersetzung mit konkreten Fällen der multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion eine der konversationsanalytischen Methodologie vergleichbare Methodisierung fallspezifischer Analyseprozeduren zu entwickeln. Diese muss der spezifischen Qualität der Interaktionsdokumente Rechnung tragen, was bedeutet, dass sie neben sequenziellen Phänomenen in gleichem Maße auch die vielfältigen Aspekte multimodaler Gleichzeitigkeit berücksichtigt. Der vorliegende Band versteht sich auch als eine Vorarbeit zu einer solchen Methodisierung. 5. Kurzbeschreibung der Beiträge Die in den Beiträgen des Bandes analysierten Beispiele multimodaler Herstellung fokussierter Interaktionen repräsentieren bewusst eine bestimmte Bandbreite unterschiedlicher Situationen. Das Varianzspektrum umfasst Situationen, die hinsichtlich verschiedener konstitutiver Aspekte kontrastieren. Zu diesen zählen beispielsweise: - Privat versus institutionell; - Freizeit versus Berufswelt; - Ritual versus Zufallskommunikation; 8 Zum Aspekt der immer schon vorgedeuteten Daten sozialwissenschaftlicher Untersuchungen siehe Schütz (1971). Zur Multimodalität von Situationseröffnungen 43 Vorwort_final - Dominante Kernaktivität versus thematisch-pragmatisch offen; - Face-to-Face-Interaktion versus technisch vermittelte Interaktion; - Variable Präsenzform versus dominante Präsenzform; - Vordefinierte Beteiligungsstruktur versus offene Beteiligungsstruktur. Konkret enthält der vorliegende Band folgende Situationen: - Arbeitsmeetings, in denen in der Kooperation zwischen Filmstudenten und Dozenten Ideen für Filme entwickelt werden (Daniela Heidtmann); - Videokonferenzen unterschiedlicher Ärzteteams, in denen Krankheitsfälle besprochen und Lösungsmöglichkeiten diskutiert werden (Lorenza Mondada); - zufällige Treffen im öffentlichen Raum wie beispielsweise das Einholen von Wegauskünften oder das ungeplante Zusammentreffen Bekannter im Supermarkt (Elwys De Stefani/ Lorenza Mondada); - ein Raclette-Essen unter Freunden und Bekannten, bei denen die Teilnehmer(innen) nach und nach „eintröpfeln“ (Florence Oloff); - der Gang des Regisseurs am Filmset in einer Drehpause und die dabei stattfindenden Interaktionen mit unterschiedlichen Beteiligten (Reinhold Schmitt/ Arnulf Deppermann) und - die langgedehnte Eröffnungsphase eines Gottesdienstes in einer evangelischen Kirche (Heiko Hausendorf/ Reinhold Schmitt). Dieses Varianzspektrum hängt mit dem Primärziel des vorliegenden Bandes zusammen. Angesichts der im Moment noch sehr sporadischen Untersuchungen zur komplexen multimodalen Struktur der Herstellung fokussierter Interaktion ist die detaillierte fallspezifische Rekonstruktion ausgewählter Situationen ein erster wichtiger Schritt, der noch weitgehend explorative Intentionen verfolgt. Die fall- und situationsspezifischen Studien zur multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion sind - angesichts der Prominenz der von der Konversationsanalyse untersuchten verbalen Gesprächseröffnungen - ein geeigneter und wichtiger Startpunkt für die Weiterentwicklung der multimodalen Konzeption von Interaktion gerade im kontrastiven Bezug zu diesem fest etablierten konversationsanalytischen Gegenstand. Dieser Band versteht sich in dieser Hinsicht auch als ein Beitrag zur grundsätzlichen Klärung der Brauchbarkeit verbal definierter Konzepte und deren empirisch basierter Reflexion, Weiterentwicklung, Modifikation oder Substitution. Lorenza Mondada/ Reinhold Schmitt 44 Vorwort_final 6. Literatur Ag-Youssouf, Ibrahim/ Grimshaw, Allen D./ Bird, Charles S. (1976): Greetings in the desert. In: American Ethnologist 3, S. 797-824. Argyle, Michael (1975): Bodily communication. New York. Arminen, Ilkka (2002): Emergentes, divergentes? Les cultures mobiles. In: Réseaux 112-113, S. 79-106. Arminen, Ilkka (2005): Sequential order and sequence structure - the case of incommensurable studies on mobile phone calls. In: Discourse Studies 7, 6, S. 649-662. Baker, Carolyn/ Emmison, Mike/ Firth, Alan (2001): Discovering order in opening sequences: 6. calls to a software helpline. In: McHoul, Alec/ Rapley, Mark (Hg.): How to analyse talk in institutional settings: A casebook of methods. London, S. 41-56. 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Einführung Es ist bekannt und konversationsanalytisch gut beschrieben, dass und wie Gesprächsbeendigungen vorbereitet und eröffnet werden: Der Aufsatz „Opening up Closings“ von Emanuel Schegloff und Harvey Sacks (Schegloff/ Sacks 1973), an den wir schon mit dem Titel unseres Beitrags anknüpfen, stellt eine der klassischen konversationsanalytischen Arbeiten dar. Aber nicht nur Beendigungen müssen vorbereitet werden, auch Eröffnungen werden in der Face-to- Face-Interaktion systematisch vorbereitet und selbst eröffnet. Das gilt insbesondere für verbale Situationseröffnungen, die in der Regel immer bereits ein erster Endpunkt eines vorausgegangenen, vorbereitenden Interaktionsgeschehens sind. Das Vorbereiten und Eröffnen von verbalen Gesprächseröffnungen ist - anders als verbale Gesprächseröffnungen selbst (von den ersten fünf Sekunden bis zu den ersten fünf Minuten: Schegloff 1967; Pittenger/ Hockett/ Danhey 1960) - bislang nur selten näher untersucht worden. Dafür gibt es gute Gründe: die Frage nach der Eröffnung von Gesprächseröffnungen führt in vielen Fällen in einen Mikrokosmos von Augenblicksaugenblicken, der der empirischen Analyse kaum zugänglich scheint. Im Fall des Telefonierens, auf den sich viele der konversationsanalytischen Arbeiten zu Eröffnungen bis heute beziehen (z.B. Schegloff 2002), ist die Eröffnung der verbalen Eröffnung auf den Moment wechselseitiger Wahrnehmung nach dem Abnehmen des Hörers nach dem Klingeln bis zum ersten Wort reduziert. Die Frage nach der Eröffnung von Gesprächseröffnungen ist zudem auch theoretisch anspruchsvoll: Ein Gespräch, um nur einen vergleichsweise einfachen Fall von Face-to-Face-Interaktion heranzuziehen, beginnt eben nicht erst mit den ersten Worten, sondern wird durch vorausgehende, zum Teil auch gleichzeitig ablaufende Körper-Koordinationen 1 Unser ganz besonderer Dank gilt Herrn Hotz, Pfarrer der evangelischen Kirche in Rimbach/ Odenwald, der uns nicht nur die Videoaufnahmen „seines“ Gottesdienstes ermöglicht hat, sondern darüber hinaus auch ein ausgesprochen interessierter und interessanter Gesprächspartner ist. Die Verfasser bedanken sich außerdem bei Arnulf Deppermann und Daniela Heidtmann für sehr viele und sehr konkrete Hinweise und Kommentare zu einer ersten Fassung dieses Beitrages. Auch wenn wir versucht haben, diese Rückmeldungen in die jetzt vorliegende Fassung einzuarbeiten, bleiben naturgemäß eine Reihe von Fragen offen, die der weiteren Arbeit vorbehalten bleiben müssen. Für Unzulänglichkeiten aller Art bleiben also die Verfasser verantwortlich. Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 54 Hausendorf/ Schmitt_final der beteiligten Personen vorbereitet. Wenn das erste Paar einer Begrüßungspaarsequenz erscheint, ist deshalb in der Regel schon viel passiert (und manches bereits entschieden). Aber gehört das, was zuvor passiert ist, schon dazu? Und wenn ja, in welchem Sinne sprechen wir dann von Interaktion? Wir berühren mit diesen Fragen eine Thematik, für die sich unter den phänomenologisch orientierten Theoretikern insbesondere Alfred Schütz interessiert hat. Er spricht, wenn es um dieses Vorfeld der verbalen Begrüßung geht, von einem „wechselseitigen Sich-aufeinander-Einstimmen“ (Schütz 1972, S. 132; vgl. dazu auch Luckmann 1984), geht das Phänomen aber eher von den Beteiligten und den von ihnen zu erbringenden Koordinationsleistungen aus an. Einen diesbezüglich anderen - und von vornherein dezidiert empirisch orientierten - Zugang zu unserer Thematik wählt Erving Goffman. Für ihn, und dann im Anschluss auch für die neuere an Interaktion interessierte Systemtheorie Luhmann'scher Prägung (Luhmann 1976; Kieserling 1999), beginnt Interaktion mit der wechselseitigen Wahrnehmbarkeit von Wahrnehmung, also mit dem Moment, in dem wahrgenommen werden kann, dass wahrgenommen wird. Goffman spricht dazu von einer „sozialen Situation“, die aus einer gegebenen Raum-Zeit-Situation ein sozial-symbolisches Ereignis macht, das die Anwesenden wie in einen Strudel mit hineinzieht - ob sie das wollen oder nicht (Goffman 1964, S. 135; vgl. dazu auch Hausendorf 1992, S. 49ff.). In vielen, aber nicht in allen Fällen, kommt dieser Moment mit dem Blickkontakt, dem Einander-Ansehen von Angesicht zu Angesicht, zustande: Wer sich in die Augen schaut, kann in der Regel davon ausgehen, dass wahrgenommen werden kann, dass wahrgenommen wird. Dieser auf Wahrnehmungswahrnehmung (Hausendorf 2001) beruhende Kurzschluss gibt dem Blickkontakt seine für die Interaktionseröffnung charakteristische Bedeutung. Das Problem der Interaktionseröffnung ist damit freilich noch nicht gelöst: Zum einen fällt auch der Blickkontakt nicht vom Himmel. Er muss vielmehr systematisch vorbereitet werden, was etwas mit Annäherung und Zuwendung der beteiligten Körper und ihrer Wahrnehmungsorgane zu tun hat, also in vielen Fällen schon Wahrnehmungswahrnehmungen erfordert. Zum anderen ist Wahrnehmungswahrnehmung nicht auf den Blickkontakt angewiesen. Sonst könnten wir im Falle des Telefongesprächs nicht von Interaktion sprechen. Und wir könnten viele Situationen nicht erfassen, in denen nicht face-to-face, sondern face-to-back oder side-by-side interagiert wird! Man kann, und das unterscheidet unser Problem der Wahrnehmungswahrnehmung von einem kognitions- und wahrnehmungspsychologischen Problem (Gamer/ Hecht 2007), auch dann wahrnehmen, dass man wahrgenommen wird, wenn man nicht hinschaut bzw. hingeschaut hat. Wahrnehmungswahrnehmung beruht dann auf sozialen Erwartbarkeiten, wie man sie in einer Situation auf kleinem Raum Opening up Openings 55 Hausendorf/ Schmitt_final sofort plausibel machen kann: im Fahrstuhl, in einem kleinen Wartezimmer oder im Vis-à-Vis eines Zugabteils ist Wahrnehmungswahrnehmung fast nicht auszuschließen. Genau das macht diese sozialen Situationen zu besonderen, manchmal auch belastenden Situationen mit potenzieller Dauerinteraktion, der man sich nicht entziehen kann, so ostentativ man auch auf den Boden starren mag (Watzlawick/ Beavin/ Jackson 1969, S. 51). Interaktionseröffnungen spielen sich - diese Gedanken zusammenfassend - also in einer für Wahrnehmungswahrnehmung sensiblen Situation ab, in der sie dazu beitragen, das Vielleicht einer wechselseitigen Wahrnehmung von Wahrnehmung in das Sicher einer angelaufenen Interaktion zu überführen. Das erste Element einer Begrüßungspaarsequenz („Hallo“), aber auch generell die ersten Worte, die erwartbar wahrnehmbar gesprochen-gehört werden („Liebe Gemeinde“, s.u.), sind in dieser Hinsicht in der Regel verlässlich und belastbar: Wer in Anwesenheit und Reichweite anderer spricht, kann kaum bestreiten, kommuniziert zu haben (Luhmann 1984, S. 209). Aber wenn diese Worte fallen, muss die Situation bereits für Wahrnehmungwahrnehmung sensibilisiert und hergerichtet sein. Verbale Eröffnungen können sonst auch scheitern. Diese Herrichtung und Aufladung einer Situation für Wahrnehmungswahrnehmung leistet die Vorbereitung von Interaktionseröffnungen, die wir in diesem Beitrag beschreiben wollen. Wenn wir den Blickkontakt oben metaphorisch als eine Art Kurzschluss beschrieben haben, dann ist die Aufladung eines Raumes im Sinne einer sozialen Situation, also die Sensibilisierung einer Umgebung für Wahrnehmungswahrnehmung, die Art von Energie, auf die ein solcher Kurzschluss angewiesen ist. Die Vorbereitung von Interaktionseröffungen ist also selbst schon Teil der Interaktion und muss als solche selbst vorbereitet werden. Wie in einer mathematischen Annäherung entzieht sich der Beginn der Interaktion damit einer (endlichen) Fixierung: Zwar werden die Intervalle immer kleiner, aber theoretisch auflösen kann man sie letztlich nicht. Das Abenteuer der Interaktionseröffnung liegt darin, diese Unwahrscheinlichkeit tagtäglich immer wieder in die Sicherheit und Verlässlichkeit einer sozialen Situation zu überführen. 2 Die beschriebene Sichtweise auf die Interaktionseröffnung, die ihrerseits immer wieder interaktiv vorbereitet werden muss, ist ebenso kontra-intuitiv wie paradox, und wir hören schon die Einwände. In vielen sozialen Situationen schmilzt die Interaktionseröffnung in der Tat auf Sekundenbruchteile zusammen, voll- 2 Diese Redeweise folgt der Perspektive der „Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation“ (Luhmann 1981), die dazu dient, sichtbar und analytisch rekonstruierbar zu machen, was wir in der Alltagsroutine kommunikativen Handelns immer schon als selbstverständlich erachten (eben z.B. das Eröffnen eines Gesprächs). Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 56 Hausendorf/ Schmitt_final zieht sich das, was wir hier zunächst theoretisch skizziert haben und was wir im Folgenden exemplarisch beschreiben wollen, in einem einzigen Moment. Empirisch gibt es dann nicht viel zu entdecken. Anders verhält es sich in sozialen Situationen, innerhalb derer die Eröffnung der Interaktionseröffnung systematisch zerdehnt wird und der Übergang von einer Raum-Zeit-Konstellation in eine soziale Situation eigens zelebriert und inszeniert wird. Worin die Besonderheit solcher Übergänge als Prozesse der Vergesellschaftung (Simmel 1983) und Vergemeinschaftung besteht und was das Faszinierende daran ist, solche Prozesse in ihren Details zu studieren, könnte man ohne die Einsicht in die interaktive Eröffnung von Interaktionseröffnungen nicht erklären. Wir können uns nach diesen Vorüberlegungen unserem Material zuwenden. Es stammt aus dem, wie man jetzt allerdings nicht mehr ganz unbefangen wird sagen können, „Beginn eines Gottesdienstes“. Die Analyse von Gottesdienst nimmt in der empirischen Untersuchung von Paul (1990) zur sprachlichen Konstitution ritueller Kommunikation einen zentralen Stellenwert ein. Diese Untersuchung ist in unterschiedlicher Hinsicht ein guter Bezugspunkt, um die Spezifik unseres eigenen Erkenntnisinteresses zu verdeutlichen und dabei auch klar zu machen, welche Möglichkeiten und Beschränkungen mit der jeweiligen Datenbasis zusammenhängen, auf deren Grundlage die Untersuchungen durchgeführt werden. Paul geht es auf der Grundlage von Audioaufzeichnungen um die Rekonstruktion des Gottesdienstes als rituelle Kommunikation. Wir hingegen (auf der Basis eines Videoausschnitts) sind lediglich an der organisationsstrukturellen Rekonstruktion der Eröffnungsphase eines Gottesdienstes als spezifischem Situationstyp interessiert. Paul fokussiert die Rolle, die speziell Sprache bei der Ritualkonstitution spielt. Wir hingegen untersuchen die multimodale Komplexität all jener Verhaltensweisen und Vorrichtungen, die situativ als Ressourcen für die Gottesdiensteröffnung eingesetzt werden. Paul setzt in einer Beispielanalyse den Beginn des Gottesdienstes auch unter Verweis auf die Agende I fest. 3 Wir hingegen stellen mit der Frage, „Wann geht es eigentlich los? “ die faktisch beobachtbaren Herstellungs- und Eröffnungsleistungen der Beteiligten selbst in den Mittelpunkt unserer Rekonstruktion der Eröffnungsphase. 3 Eine Agende ist ein Regelwerk, das die feststehenden und wechselnden Stücke des regulären Gottesdienstes sowie der Amtshandlungen beschreibt. Eine Agende enthält neben Liturgiemodellen, die den historisch gewachsenen Gottesdienstablauf und seine Gestaltungsvarianten darstellen, auch die nach jedem Sonn- und Feiertag im Kirchenjahr ausgerichteten Gebete und Texte. Eine Agende beschreibt zudem, was im Gottesdienst jeweils vom Pfarrer und von der Gemeinde zu tun ist (aufstehen, sitzen, gehen, stehen, beten, singen). Opening up Openings 57 Hausendorf/ Schmitt_final Paul (1990, S. 170) schreibt: „Der Gottesdienst beginnt mit einem Orgelspiel [...], sämtliche Aktivitäten, die vor dem Gottesdienst zum Gelingen des Rituals beitragen, bleiben in der Transkription unberücksichtigt.“ Wir sind jedoch auch an dem Geschehen interessiert, das im Transkript des Interaktionsdokumentes nicht auftaucht, sich jedoch in der dokumentierten Situation mit Sicherheit ereignet hat, und für alle wahrnehmbar war. Wir gehen davon aus, dass, bevor die Sprache zur Realisierung des Rituals eingesetzt werden kann, hierfür in der Situation selbst erst einmal die Voraussetzungen geschaffen werden müssen. 2. Wann geht's los? Die Frage „Wann geht's los? “ ist für Situationseröffnungen offensichtlich konstitutiv: Situationseröffnungen tragen maßgeblich dazu bei, diese Frage für die Beteiligten zu beantworten. „Wann geht's los? “ ist in diesem Sinne nicht nur eine Frage für nachträgliche Beobachter, sondern immer auch eine Frage für die Teilnehmer. Konversationsanalytisch(er) und streng(er) formuliert: Nur in dem Maße, in dem eine solche Frage ein Problem im Gegenstandsbereich selbst thematisiert, wird sie überhaupt zu einer Frage für konversationsanalytisch eingestellte Beobachter. Wenn wir uns also mit dieser Frage unserem Material, d.h. der Audio- und Video-Aufzeichnung eines Gottesdienstes, nähern, dann interessiert uns, wie die Frage des Losgehens im Material bearbeitet und beantwortet wird. Bevor wir mit der Rekonstruktion der sequenziellen Struktur beginnen können, müssen wir noch eine methodologische Bemerkung vorwegschicken, die sich auf die Quantität und Qualität der unserer Analyse zugrundeliegenden Daten bezieht. Die Aufnahmen sind Teil eines größeren Korpus von Gottesdienstdokumentationen, die unterschiedliche Formen von Gottesdiensten umfasst (u.a. Taufen, ALPHA -Gottesdienste). 4 Diese Aufnahmen sind mit dem spezifischen Erkenntnisinteresse an der Symbolik und Funktionalität des Kirchengebäudes (spezieller: des Altarraums) und der Art der Nutzung durch den Pfarrer entstanden und wurden nicht speziell mit einem Interesse an der Eröff- 4 Die Gottesdienste wurden von Daniela Heidtmann und Reinhold Schmitt aufgezeichnet. Das Korpus befindet sich im Aufbau. Eine statische Kamera fokussierte den gesamten Altarraum, eine dynamische folgte den Bewegungen des Pfarrers und der interaktiven Dynamik seiner Präsenz, was zu unterschiedlichen Zoom-Einstellungen führte. Der Alpha-Gottesdienst ist eine besondere Form der freien Gottesdienstgestaltung, der sich bewusst vom traditionellen Gottesdienst abhebt und weitgehend auf dessen Liturgie verzichtet. Für ihn ist eine große Alltagsnähe und Offenheit charakteristisch. Statt einem Pfarrer im Talar, der etwas vorbetet, gibt es offene Gespräche, Musik, Vorführungen, die sich mit einem zentralen Glaubensaspekt beschäftigen, wie etwa dem Leben nach dem Tod. Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 58 Hausendorf/ Schmitt_final nung des Gottesdienstes dokumentiert. Dieses Erkenntnisinteresse hat die Spezifik der Datenkonstitution unmittelbar beeinflusst, wobei zwei Aspekte für den hiesigen Zusammenhang von Bedeutung sind. Einerseits konzentrieren sich die beiden Kameras ausschließlich auf den Altarraum und den Pfarrer als zentrale Fokusperson (Schmitt/ Deppermann 2007) des Gottesdienstes. Es wurde aus ethischen und datenschutzrechtlichen Gründen bewusst darauf verzichtet, auch das Geschehen im Kirchenraum aufzuzeichnen. Andererseits „fehlt“ bei dem analysierten Ausschnitt die Phase, in der die Glocken noch nicht läuten. Wenn man sich fragt, wann es losgeht, mag auf einen ersten unbefangenen Blick viel dafür sprechen, sich auf den Moment zu fokussieren, in dem einer der Protagonisten des Ereignisses, der Pfarrer, die ersten Worte spricht, die erkennbar an die in der Kirche versammelten Anwesenden gerichtet sind. Diese ersten Worte lauten: 01 PF: <<all>liebe geMEINde? >= 02 =wir wollen AUFstehn? 03 (6.8) 04 denn wir FEIern, 05 (--) die AUFerstehung des herrn. 06 (1.2) Unbestreitbar ist, dass mit diesen Worten etwas unter den Anwesenden beginnt. Aber unbestreitbar ist auch, dass Interaktion im Sinne der Wahrnehmungswahrnehmung bereits angelaufen ist, wenn diese ersten Worte fallen, dass es also „interaktiv“ sehr wohl bereits losgegangen ist. Unsere Analyse wird im Grunde der Versuch sein, diese multimodale Konstitution der Eröffnungseröffnung nachzuzeichnen. Es wird sich dabei zeigen, dass die ersten Worte nicht mehr und nicht weniger darstellen als eine Zäsur unter anderen, vorausgehenden und nachfolgenden Zäsuren, mit denen das fragliche soziale Ereignis („Gottesdienst“) interaktiv konstituiert wird. Empirisch spricht dann viel dafür, dass man den Beginn des sozialen Ereignisses mit Fug und Recht sowohl „vorverlegen“ als auch nach „hinten“ verschieben kann. Insbesondere das, was dem Augenblick vorausgeht, in dem der Pfarrer liebe geMEINde? sagt, wollen wir in einer mit dem Beginn unserer Aufnahmen einsetzenden Betrachtung als Bestandteile der Interaktionskonstitution rekonstruieren. Es geht dabei um die Nachzeichnung der multimodalen Konstitution eines sozialen Ereignisses, das längst ins Leben gekommen ist, wenn die ersten Worte Opening up Openings 59 Hausendorf/ Schmitt_final fallen. Anhand einer Analyse der verbalen Situationseröffnungssequenz werden wir dann abschließend zu zeigen versuchen, dass sich die Struktur der multimodalen Situationseröffnung in der verbalen Eröffnung auf eine frappierende Weise reproduziert, so dass sich auch die verbale Eröffnung ihrerseits als Eröffnung von Eröffnungen erweist. Um Missverständnissen vorzubeugen, wollen wir ausdrücklich hinzufügen, dass unsere Perspektive auf die Eröffnung eine strikt interaktionstheoretische zu sein versucht (s.o.), die sich die Antwort auf die Frage „Wann geht's los? “ bewusst nicht theologisch vorgeben lassen will. Es ist also kein Einwand gegen unsere Analyse, wenn in der Liturgie der Beginn des Gottesdienstes sehr klar definiert ist. Die Frage ist dann, ob und wie diese liturgische Vorgabe auch interaktiv realisiert und ob sie nicht durch Eigengesetzlichkeiten sozialer Interaktion unterlaufen wird. Natürlich wollen wir damit nicht unterschlagen, dass auch die interaktionstheoretische Fokussierung nicht umhin kann, die institutionelle Kontextualisierung des laufenden Geschehens mit einzubeziehen und insofern in diesem Fall nicht gleichsam blind für theologische Fragen sein kann. 5 3. In der Kirche Die Gottesdienstbesucher kommen nicht in einem leeren, unstrukturierten Raum an, sondern in einem, der speziell für eine bestimmte religiöse Praxis ein- und hergerichtet worden ist. Es ist ein Raum, der sich den Gottesdienstbesuchern sofort hinsichtlich genau dieser Relevanzen mitteilt. Es lohnt sich daher, sich mit diesem Raum und seiner Ausstattung etwas genauer zu beschäftigen. Schauen wir uns also zunächst einmal die innenräumliche Ausstattung des Kirchenraumes (aus der Perspektive der Gottesdienstteilnehmer) etwas genauer an. Wenn der Besucher die Schwelle zum Innenraum überschreitet, tritt er in einen Raum ein, dessen Herrichtung und innenarchitektonische Ausgestaltung vollständig auf das hin geordnet sind, was als soziales Ereignis in ihm vollzogen wird. 5 Konkret: Wenn man von der Gottesdienstordnung ausgeht, wird man vielleicht dazu neigen, das Einsetzen des Orgelspiels als Beginn des Gottesdienstes anzusehen und das Glockengeläut als ein Vorher zu betrachten, das nicht dazu gehört. Wenn man interaktionstheoretisch rekonstruiert (wie wir es gleich versuchen werden), wird man dagegen kaum umhin können, die Anwesenheit der Besucher in der Kirche während des Glockengeläuts bereits als soziale Interaktion zu betrachten, die sehr wohl „dazu gehört“. Es wäre dann im Grunde ein nächster Schritt, diese beiden Perspektiven miteinander ins Gespräch zu bringen, um zu sehen, was beide Seiten voneinander lernen können. Diese Bemerkung gilt auch und gerade für unsere Analyse der ersten gesprochenen Worte des Pfarrers (s.u.). Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 60 Hausendorf/ Schmitt_final Alles signalisiert dem Besucher den besonderen religiösen und rituellen Charakter der Situation. Als ein Bestandteil seiner grundlegenden funktionalen Herrichtung vermittelt der Raum dem Besucher sofort auch, welche interaktive Beteiligungsrolle ihm bei dem zu vollziehenden sozialen Ereignis Gottesdienst zugedacht ist. Mit der räumlichen Positionierung und der Einnahme eines Platzes in einer der den Mittelgang begrenzenden linken oder rechten Sitzbänke ist eine „natürliche“ Ausrichtung von Körper und Blick des Besuchers verbunden: Der Raum und dessen Herrichtung weisen eine zentrierte Mittigkeit auf (Mittelgang zum Altar, die Anordnung der Säulen, die die Empore tragen, die seitlich vom Mittelgang abgehenden Sitzreihen, die Starre der Sitzbänke, die eine bestimmte Körperausrichtung „erzwingen“, die weitgehend ungeschmückten Seitenwände, die keine Aufmerksamkeit absorbieren etc.) und orientieren den Blick des Besuchers automatisch nach vorne und etablieren ein Blickfeld, das in spezifischer Weise für die Wahrnehmung des Besuchers aufbereitet ist (Bild 1). Bild 1: Altarraum von Empore aus gesehen Der Blick nach vorne endet im Altarraum, dem zentralen Bereich, in dem der Gottesdienst vom Pfarrer abgehalten wird. Der Altarraum ist - wie die Kirche insgesamt - konsequent symmetrisch strukturiert. Der Blick wird - als eine Implikation der Einnahme des Sitzplatzes - nicht nur insgesamt nach vorne in den Altarraum gelenkt, sondern auch nach oben. In der Mitte der Mittelachse des Altarraums ist der mit dem weißen Tuch bedeckte Altar plat- Opening up Openings 61 Hausendorf/ Schmitt_final ziert, der selbst wieder symmetrisch gestaltet ist: In der Mitte des Altars - etwas über die Hälfte seiner Oberfläche abdeckend - ist das Antependium drapiert, das auf der dem Besucherraum zugewandten Seite bis fast auf den Boden reicht. Auf dem Antependium ist ein Licht mit einem die Flamme einrahmenden kreisförmigen Band, bestehend aus sieben Sternen, abgebildet. Auf dem Altartuch liegt in der Mitte eine aufgeschlagene Bibel, auf der linken Seite steht ein Blumenstrauß, auf der rechten Seite sind zwei Kerzen platziert. All diese Gegenstände „leiten“ den Blick nach oben zu einem Kreuz und zu der darüber befindlichen Kanzel und von dort aus zur Orgel. Die Mittelachsenzentrierung und die visuelle Fokussierung des Altars wird darüber hinaus durch einen weißen Teppich verstärkt, der zum größten Teil im Besucherraum liegt, die drei Altarstufen bedeckt und nur zu einem kleineren Teil in den Altarraum hineinreicht. Durch diesen Teppich wird der durch die drei Stufen erhöhte Altarraum optisch mit dem Besucherraum verbunden. Der Teppich lenkt den Blick direkt auf den Altar. Er hat genau die Breite des Altars und endet kurz vor diesem. Auf dem hinteren, dem Altar zugewandten Ende des Teppichs befindet sich ein Standmikrofon, das deutlich signalisiert, dass der Teppich vom Besucherraum nicht in Richtung Altar begehbar ist. Rechts neben dem Altar steht ein Lesepult, das mit einem weißen Tuch abgedeckt ist, das die Inschrift „Das Licht scheint in der Finsternis“ trägt. Ein Mikrofon ist an diesem Pult befestigt. Entsprechend dem Pult steht auf der linken Seite des Altars ein Taufbecken. Während an der linken seitlichen Begrenzung eine Kerzenwand aufgebaut ist, an der die Konfirmanden ihre Kerze holen und an der großen Osterkerze anstecken, die links neben dem Altar platziert ist, steht auf der rechten Seite eine kleine Orgel. Neben der konkreten Ausgestaltung des Altarraums mit diesen rituellen Gegenständen verstärkt auch die Holztäfelung der Rückwand des Altarraums mit der Kanzel und den beiden Türen zur Sakristei den Eindruck von Mittigkeit, Synchronie und einer aufwärts strebenden Blickrichtung/ -lenkung. Für den Gottesdienstbesucher wirken diese Gegenstände und deren harmonische, mittig-synchrone Anordnung in ihrer Funktion als religiös-rituelle Bestandteile des Gottesdienstes unabhängig davon, ob sie ein faktisches Wissen um die konkrete religiös-liturgische Bedeutung der einzelnen Objekte besitzen. Sie stehen jedes für sich und sich wechselseitig stützend als Symbolisierung der Relevanzstrukturen des Versammlungsraumes als Teil des abgeschlossenen religiösen Sinnbereichs. Diese Wirkung entfalten sie in der langen Phase der Gottesdiensteröffnung auch, wenn der Besucher beispielsweise nicht weiß, dass der Altar auch als Berg Golgatha gedeutet werden kann, der deswegen in Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 62 Hausendorf/ Schmitt_final manchen Kirchen durch Stufen vom übrigen Kirchenraum getrennt ist, und der erst erklommen werden muss; dass das Kreuz an den Opfertod Jesu erinnert, dass die Tücher als Grabtücher Jesu zu verstehen sind und dass die Kerzen als Symbole des Lichtes der Auferstehung verstanden werden können. Die visuelle symbolische Repräsentation des religiösen Sinnbereichs durch die rituellen Objekte und Gegenstände kann gerade in der Eröffnungsphase des Gottesdienstes ungestört durch andere visuelle Angebote (Glocken und Orgel sind akustische Repräsentationen) ihre Wirkung entfalten. Wir haben mit dieser detaillierten Beschreibung deutlich zu machen versucht, dass und wie der Innenraum der Kirche wissensabhängig von den Anwesenden als Schauplatz einer religiösen Praxis „gelesen“ werden kann (siehe dazu auch Kesselheim/ Hausendorf 2007 am Beispiel von Ausstellungsräumen). Hinzuzufügen bleibt, dass der Raum selbst auf unsere Frage der Vorbereitung von Wahrnehmungswahrnehmungen antwortet. Wie viele Räume, hat auch unser Raum ein „Vorne“ und ein „Hinten“. Ausgerichtet auf das Vorne als Bühne schaffen die Stuhl- und Bankreihen Raum für Publikum. Wer in den Bänken sitzt, so das Signal, schaut nach vorne und konzentriert sich auf das, was vorne geschieht. Wer vorne agiert, tut das, so das Signal, in der Erwartung, nicht nur wahrgenommen, sondern geradezu beobachtet zu werden. Wer immer diesen Kirchenraum betritt, gerät damit - solange er und sie nicht allein bleiben - in eine vielfach vorstrukturierte soziale Situation. Für diese Situation ist zunächst charakteristisch, dass die Bühne, abgesehen von Durchgangs- Aktivitäten, auf die wir eingangs hingewiesen haben, auffällig unbelebt bleibt. Es passiert nichts, jedenfalls nichts, was erkennbar (sinnlich wahrnehmbar) für die Zuschauer aufgeführt wird. Diese Typik der sozialen Situation ähnelt auf den ersten Blick einer Wartesituation (Warten bei einem Konzert oder Vortrag auf den Auftritt des Künstlers oder der Rednerin). Was sie aber von vielen anderen Wartesituationen unterscheidet, ist die Stille der Wartenden, also ihr Vermeiden verbaler Interaktion, ohne auf dezidiert selbstbezogene Aktivitäten (wie Zeitung lesen) auszuweichen. Alles, was in unserem Raum passiert, geschieht bereits unter der Bedingung wechselseitiger Wahrnehmung, in einem gemeinsamen Raum von Wahrnehmungswahrnehmung, in dem gerade aufgrund der (weitgehenden) Vermeidung verbaler Interaktion schon normallautes Sprechen unüberhörbar wäre. Erst recht gilt das für alles, was nicht umhin kann, sich auf der Bühne zu ereignen (das Hin- und Hergehen mit dem teilweisen Betreten der Bühne). Die Beteiligten, und wir sprechen bis jetzt nur vom Publikum, zeigen auf diese Weise, dass sie dabei sind, zur Ruhe zu kommen. Indem sie sich setzen, sitzen Opening up Openings 63 Hausendorf/ Schmitt_final bleiben, nach vorne orientiert sind und laute verbale Interaktion mit anderen vermeiden, demonstrieren sie eine Art von Kontemplation, für die die Orientierung nach vorne konstitutiv ist. Man vergleiche dazu nur den Touristen und die Touristin, die in einer Kirche umhergehen, tuscheln, sich umdrehen, auf Sichtbares zeigen, um diese „stille Einkehr“ als konstitutiven Bestandteil des sozialen Ereignisses zu würdigen, mit dem die Anwesenden bereits Teil einer bestimmten Art von Gemeinschaft werden. Die Orientierung auf die Bühne hat, so das Signal, einen Selbstzweck, der das gemeinsame Verbringen von Zeit motiviert und erfüllt. Die soziale Vergemeinschaftung besteht dann darin, dass sich diese Kontemplation in einer sozialen Situation vollzieht - zusammen mit anderen, die die gleiche Orientierung teilen. Nichts spricht dagegen, dass es sich hier um eine soziale Situation mit Interaktion der Anwesenden handelt - auch wenn diese Interaktion zunächst ganz ohne eine auf die Anwesenden in ihrer Gesamtheit bezogene verbale Interaktion auskommt. 6 Genau darin besteht, so unsere These, der symbolische Eigenwert dieser frühen Phase der Interaktionskonstitution („stille Einkehr“). 4. Eintritt in den Kirchenraum Obwohl die Dokumentation erst unmittelbar nach Einsetzen des Glockenläutens startet, ist es sinnvoll, noch einen Schritt zurück zu gehen und die nicht mit Video dokumentierte Phase der „stillen Vorbereitung“ in unsere Frage nach der Situationseröffnung mit einzubeziehen. Wir können dies jedoch nur auf der Grundlage unserer Beobachtungsprotokolle und Erinnerungen tun. Wenn wir uns fragen, wann die beschriebene soziale Situation beginnt, erscheint zunächst der Eintritt in den Kirchenraum als der für diesen Übergang relevante Punkt. Das Innen des Kirchenraumes ist auch das Innen der sozialen Situation. Wenn die zweite Person den Kirchenraum betritt (und bevor die vorletzte Person ihn verlässt), dauert die soziale Situation an (siehe Fußnote 5). Man beachte, wie der Eintritt in den Kirchenraum selbst vielfach noch einmal durch eine Schleuse als Ort des Übergangs auch durch innenraumgestalterische Mittel verzögert und dadurch als Übergang erlebbar gemacht wird. Zugleich wird der Eintritt auf diese Weise charakteristisch gedämpft und der Wahrnehmung entzogen: Wer eintritt, kann (und soll) das möglichst ge- 6 In der Terminologie von Goffman würde man wohl sagen, dass es sich (zum gerade besprochenen Zeitpunkt noch) um ein „gathering“ im Unterschied zu einem „encounter“ handelt („focussed“ vs. „unfocussed interaction“). Für gatherings gilt (nur) die Minimalbedingung der Wahrnehmbarkeit von Wahrnehmung - womit Interaktion gleichwohl immer schon angelaufen ist: Auch „unfocussed interaction“ ist „interaction“! Vgl. zur Terminologie und zur Erläuterung Goffman (1964, S. 135f.). Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 64 Hausendorf/ Schmitt_final räuschlos tun. Und er und sie tun es weitgehend, ohne dabei gesehen zu werden. Uns interessiert nicht die Verhaltensetikette, die hier zum Ausdruck kommt, sondern die Implikation, dass damit der Moment der Interaktionseröffnung systematisch versteckt wird: Es gibt keine klare Zäsur (wie beispielsweise ein Schlagen der Tür), sondern einen schleichenden Übergang, eine Zerdehnung des Augenblicks der Interaktionseröffnung schon im Moment des Eintritts in den Kirchenraum. Das unterscheidet unsere Situation markant von vielen anderen Situationseröffnungen, in denen der Eintritt in den Interaktionsraum unübersehbar und unüberhörbar ist. Wenn wir jetzt endlich auf die Glocken kommen, werden wir sehen, wie auch in dieser nächsten Phase die Eröffnung noch weiter ausgedehnt und auf diese Weise als Übergang zelebriert wird, der der Transition von einen Sinnbereich in einen anderen gleichkommt. Der Besuch des Gottesdienstes ist gleichzusetzen mit dem Wechsel in einen anderen „geschlossenen Sinnbereich“ (Schütz 1971), der von der Wirklichkeit der Alltagswelt weitgehend unterschieden ist. 7 Der Wechsel in diesen Sinnbezirk kann nicht ohne weiteres vollzogen werden, sondern beansprucht Zeit und bedarf der Vorbereitung. Es ist konstitutiver Bestandteil der Gottesdienstorganisation, die Besucher bei dieser notwendigen Transition von der Alltagswelt in die religiöse und spirituelle Welt des gemeinsamen Gottesdienstes zu unterstützen bzw. zu leiten. Wir verstehen in diesem Zusammenhang die von Schütz (ebd., S. 276 unter Verweis auf Kirkegaard) benutzte Charakterisierung des Übergangs in einen solchen geschlossenen Sinnbereich als „Sprung“ im Sinne eines qualitativen Wechsels der für die Teilhabe des Individuums in den jeweiligen Sinnbezirken seiner Welt geltenden Grundlagen und Relevanzen. Wir verstehen „Sprung“ in Bezug auf unser Material jedoch gerade nicht als Charakterisierung der Struktur des Übergangs von der ausgezeichneten Realität in den geschlossenen Sinnbereich religiöser Praxis. Dieser faktische, situations- und verhaltensgebundene Übergang hat vielmehr - das wurde bereits deutlich - beim Gottesdienst eine völlig andere Struktur, für die gerade eine gewisse Dauerhaftigkeit als Grundlage konstitutiv ist. Eine stützende Maßnahme beim Übergang in den geschlossenen Sinnbezirk „Gottesdienst“ (hier als Exemplum religiöser Praxis) ist das Glockenläuten, das nicht lokal begrenzt etwas ankündigt, sondern eine dauerhafte Phase markiert, in der sich jeder Besucher für sich selbst, aber in dieser Selbstbezogenheit für die Anderen wahrnehmbar (! ) ohne Eile auf die Relevanzen des eigenständigen religiösen Sinnbereichs einstellen kann. 7 Zu den Kriterien geschlossener Sinnbereiche siehe Schütz (1971, S. 266ff.). Opening up Openings 65 Hausendorf/ Schmitt_final Für die Konzeptualisierung der Eröffnungsphase des Gottesdienstes als Transition ist - in Abgrenzung zu anderen Transitionen - folgender Aspekt von zentraler Bedeutung: Die Gottesdiensteröffnung stellt nicht einfach einen Wechsel innerhalb eines konstanten Relevanzrahmens (etwa der Arbeitsplatz) von einem Aktivitätszusammenhang (selbstzentrierte Arbeit am PC ) zu einem anderen Aktivitätszusammenhang (Teilnahme an einem Meeting) dar. Die Transition findet in unserem Falle - anders als im Falle des Orientierungslaufs des Regisseurs (vgl. Schmitt/ Deppermann in diesem Band) - nicht zwischen solchen rahmenkonstanten Aktivitätszusammenhängen statt, sondern stellt einen basalen Wechsel eigenständiger, geschlossener Sinnbereiche dar. Diese Form des Wechsels und die Art der Transition (als situationsspezifischer Vollzug dieses Wechsels) tangieren alle wesentlichen Grundlagen der Teilhabe des Individuums und besitzen daher die Qualität einer tiefgreifenden Veränderung. 5. Wenn die Glocken läuten Das Glockenläuten verändert die stille, andächtige Situation akustisch in grundlegender Weise mit dem ersten Glockenschlag. Der gesamte Kirchenraum ist nun erfüllt mit einem Signal, das einen klaren Ankündigungscharakter besitzt und gegenüber der vorherigen stillen Phase eine neue Phase eröffnet und darstellt. Das Glockenläuten ist also für die, die es gemeinsam hören, ein interaktiv relevanter Beitrag für die Strukturierung der Eröffnungsphase des Gottesdienstes und soll nachfolgend - so weit dies möglich ist - in seiner spezifischen interaktiven Qualität rekonstruiert werden. Zu den Aspekten, die dabei zu berücksichtigen sind, gehören zumindest die folgenden: die Lautstärke des Läutens, die Dauer, die Melodie und die Tonqualität. Ungeachtet dieser Aspekte kann man zur grundsätzlichen Funktionalität des Läutens in diesem Zusammenhang Folgendes sagen: Hinsichtlich der von der evangelischen Kirche unterschiedenen drei wesentlichen Arten des Läutens, dem Betläuten, dem Vorläuten und dem Hauptbzw. Zusammenläuten handelt es sich um letzteres. 8 Das Zusammenläuten erfolgt mit dem Ziel, die Gemeinde zum Gottesdienst aufzurufen und diesen anzukündigen. So heißt es auch in verschiedenen mittelalterlichen Inschriften auf Glocken „[...] die Lebenden rufe ich“. Heute bestimmt die so genannte Läuteordnung, wann welche Glocke wie lange und zu welchem Zweck läuten darf. Dabei läuten die Glocken je nach Kirchenjahreszeit entweder harmonisch oder dissonant. 8 Wir danken Frauke Erdmann für die Vermittlung relevanter Aspekte liturgischer und kirchengeschichtlicher Informationen. Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 66 Hausendorf/ Schmitt_final 5.1 Die Lautstärke der Glocken Das Läuten ist aufgrund seiner Lautstärke nicht nur innerhalb, sondern auch weithin außerhalb der Kirche zu hören und hat deswegen einen doppelten Adressatenkreis. Es ist gleichermaßen an Gemeindemitglieder gerichtet, die sich bereits innerhalb der Kirche befinden, und an diejenigen, die sich noch auf dem Weg zur Kirche befinden. Darüber hinaus erreicht es jedoch auch Unbeteiligte außerhalb, die nicht der Gemeinde angehören oder nicht am Gottesdienst partizipieren wollen oder können. Aufgrund der Lautstärke bringt sich also der zukünftige Gottesdienst unterschiedlichen Adressaten in Erinnerung und fordert - in Abhängigkeit von der Zugehörigkeit zu einer dieser Adressatengruppen - in unterschiedlicher Weise Aufmerksamkeit und eine Umorientierung des Verhaltens und/ oder der Haltung. Die Eltern, die mit ihren Kindern auf dem Fußballplatz sind, werden lediglich informiert, dass der Gottesdienst bald anfängt; sie brauchen ihr Verhalten oder ihre momentane Einstellung nicht zu ändern. Die Gottesdienstbesucher hingegen werden anders auf das Läuten reagieren und es als an sie gerichteten Hinweis, als an sie gerichtete Ankündigung verstehen. Das zukünftige Ereignis macht erstmalig auf sich aufmerksam und eröffnet somit für die Gottesdienstbesucher die Phase der Orientierung auf den Gottesdienst: Diese Vororientierung wird im wahrsten Sinne des Wortes „eingeläutet“! Für die Beteiligten am Gottesdienst, dies schließt Pfarrer und Lektor ein, ist das Glockenläuten ein offizielles Indiz dafür, dass die verbale Eröffnung bald einsetzen wird. Im Unterschied zur Phase ohne Glockenläuten verleiht das Läuten der Situation eine offizielle Qualität und verändert die Situation für die Anwesenden erkennbar. Strukturanalytisch formuliert besteht diese qualitative Veränderung darin, dass nunmehr - und vor allem: dauerhaft - auf den nahenden Beginn des Gottesdienstes als eine auch verbal konstituierte Praxis verwiesen wird. Dieser dauerhafte akustische Verweis füllt in der analysierten Aufnahme den gesamten Kirchenraum aus und kann auch bei leisen Unterhaltungen mit dem Nachbarn nicht überhört werden. Das Läuten hat schon in seiner Lautstärke, das sollte diese Beschreibung zeigen, einen starken Projektionscharakter: Es ist der Vorlauf für etwas, das im Anschluss beginnt und verleiht den im Kirchenraum Zusammengekommenen die Orientierung auf ein spezielles soziales Ereignis, das im Kirchenraum stattfindet und über das gemeinsame stille und andächtige Verbringen von Zeit hinausgehen wird. Und vieles von dem, was vorne während des Läutens (auf Opening up Openings 67 Hausendorf/ Schmitt_final das wir gleich noch zu sprechen kommen) passiert, spiegelt diese dem Läuten innewohnende Botschaft wider, dass wir dabei sind, der Eröffnung einer Eröffnung beizuwohnen. Und noch etwas anderes ist an der Lautstärke interessant. Man hört es nicht erst in der Kirche, sondern womöglich schon zu Hause, auf jeden Fall im näheren Umkreis der Kirche. Die, die zusammen auf dem Weg sind, sind denn auch potenziell die, die wenig später zusammen im Kirchenraum sitzen werden. Man darf annehmen, dass sie das selbst sehr genau wissen und ihr Verhalten darauf einstellen. Manches spricht dann dafür, dass die Eröffnung der Eröffnung der Interaktionseröffnung nicht erst im Kirchenraum stattfindet, sondern schon auf der Straße, auf dem Weg zur Kirche. Man kann schön sehen (genauer gesagt: man könnte schön sehen, wenn man es dokumentiert hätte), wie hier dann vieles noch möglich ist, was wenig später in der Kirche nicht mehr möglich sein wird: lautes Reden, freie Bewegung, Interaktion mit Dritten etc. Trotzdem sind schon die gemeinsame Orientierung der Laufrichtung, vielleicht auch die Kleidung und die Art des Gehens, die Koordination, zur gleichen Zeit sich mit anderen aufgemacht zu haben, untrügliche Erscheinungsformen des Vollzugs der Eröffnung der Eröffnung der Interaktionseröffnung. Hörbarer Ausdruck dieser Orientierung ist das Läuten der Glocken. Es ist also ohne weiteres möglich, die Geschichte der Eröffnung der Interaktionseröffnung noch weiter vorzuschieben: Man denke z.B. daran, dass manch einer und manch eine das Läuten der Glocken bereits zusammen in der eigenen Wohnung gehört und zum Anlass der Vorbereitung genommen haben. Man ahnt jetzt vielleicht, warum uns der „Beginn eines Gottesdienstes“ als ein besonders instruktiver Fall für die Analyse von Eröffnungseröffnungen erscheint. 5.2 Die Dauer des Glockenläutens Eine besondere Implikation besitzt das Glockenläuten aufgrund seiner langen, fast neunminütigen Dauer. Das lange anhaltende, in einem gewissen Rahmen invariante, melodische Läuten verändert, nachdem es sich zunächst schlagartig ins Bewusstsein der Anwesenden gebracht hat, mit zunehmender Dauer seine Qualität. Es rückt aus dem unmittelbaren Bereich bewusster Wahrnehmung hinaus und nimmt eher die Qualität eines Hintergrundklanges an, in die sich der Hörer einhören kann, ohne sich wirklich darauf konzentrieren zu müssen. Das Läuten entfaltet jedoch gerade in dieser spezifischen Form - unangestrengt akustisch wahrnehmbares Objekt zu sein - seine besondere Funktionalität im Rahmen der Eröffnungsphase. Es hüllt den Gottesdienstbesucher Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 68 Hausendorf/ Schmitt_final in einen Klangteppich ein, der aufgrund seiner Rhythmik und Rekurrenz meditative Qualitäten besitzt bzw. mit zunehmender Dauer entfaltet, und steuert damit einen ganz wesentlichen Beitrag für die Realisierung der schrittweisen Einstellung und Orientierung auf weitere Zäsuren der Interaktionseröffnungseröffnung bei. Das Läuten der Glocken ist so etwas wie eine akustische Schleuse, durch die hindurch der Besucher die Transition der beiden Sinnbereiche bewerkstelligt. Interessant ist dabei, dass sich ohne Veränderung der Melodie oder des Rhythmus allein aufgrund der Dauer die Qualität des Läutens verändert und sich mit zunehmender Dauer immer weiter vom Sinnbezirk der Alltagswelt entfernt und sich immer mehr an den Gottesdienst annähert. Unterstützt wird diese unmerkliche Bewegung innerhalb der Konstanz des akustischen Signals ganz wesentlich durch das räumliche Arrangement der Kirche und des Altarraums insgesamt, das quasi das visuelle Angebot zur Unterstützung der Transition ist, sowie durch dynamische, lokale Ereignisse und Verhaltensweisen einzelner Anwesender, die diese während des Glockenspiels realisieren (siehe 5.4). 5.3 Melodie und Tonqualität Die transitionsfördernde Qualität des Glockenläutens hängt neben seiner Dauer vor allem auch von der Melodie und der Tonqualität und deren sozialen Implikationen ab. Das Läuten ist warm, in seiner Wirkung meditativ, nicht aggressiv oder fordernd, nicht aufdringlich, gleichzeitig jedoch als Klangteppich jederzeit präsent. Zudem sind Glocken - wohl nicht nur für die Gottesdienstbesucher, sondern insgesamt - kulturell in sehr vielfältiger Weise besetzte Instrumente, die aufgrund ihrer spezifischen Klangwellen im menschlichen Körper „widerhallen“ und somit unmittelbar auch körperlich erfahrbar werden. Für die Besucher ist das Läuten zudem symbolisch positiv besetzt und ist untrennbar mit ihrer eigenen religiösen Praxis und Einstellung verbunden. Es ist in dieser Hinsicht hochgradig assoziativ und in der Lage - bei vorliegender religiöser Grundeinstellung (aber nicht nur in diesem Fall) - spirituelle Bilder und Gefühle und die Einstellung auf den bald beginnenden Gottesdienst zu evozieren. 9 9 Hochzeitsglocken, Friedensglocken, Silvesterglocken, Sturmglocken etc. sind nur einige Hinweise für den tiefen kulturellen Stellenwert, den Glockenläuten in den westlich-christlichen Gesellschaften besitzt; zur Kulturgeschichte der Glocke siehe beispielsweise Kramer (2007). Opening up Openings 69 Hausendorf/ Schmitt_final Zusammenfassung: Das Glockenläuten besitzt mit den einzelnen, oben aufgeführten Aspekten in zumindest zweierlei Hinsicht eine zentrale Bedeutung für die Gottesdiensteröffnung: Zum einen fungiert es in Form einer akustischen Dauer- oder Vollzugsmarkierung als Kennzeichnung einer bestimmten Phase der Interaktionseröffnung. Diese Phase ist kontrastiv kontextualisiert durch die Tatsache, dass sie eine vorgängige Phase ablöst (in der möglicherweise Blumen aufgestellt oder Kissen auf Bänke verteilt wurden). Sie qualifiziert zudem in indikativer Weise eine Veränderung hinsichtlich des nahenden Beginns einer weiteren Phase der Interaktionseröffnung. 10 Zum anderen unterstützt es die Transition der Gottesdienstbesucher von der Alltagswelt in die Eigenständigkeit des religiösen und spirituellen Sinnbezirkes. Es vereint auf zunächst noch unmerkliche Weise die einzelnen Besucher in dem Hinweis auf den nahenden Beginn der Feierlichkeiten und in ihrer beginnenden Orientierung auf dieses Ereignis, ohne dass hieraus bereits eine wechselseitig wahrnehmbare gemeinsame Praxis entspringen würde. Das Läuten trägt jedoch nicht alleine die Last der Transitionsmarkierung und Transitionsunterstützung, sondern fungiert vielmehr als Vollzugsmarkierung einer längeren und akustisch nicht weiter strukturierten Phase „individueller Vororientierung“, die durch weitere Markierungsverfahren unterstützt wird, denen wir uns nunmehr zuwenden werden. 5.4 Verhaltensspezifische Verweispraktiken Fokussieren wir nun den Innenraum der Kirche während des Glockengeläuts. Wir haben noch nicht besprochen, was vorne geschieht, während sich die Bank- und Stuhlreihen zu füllen beginnen. Wir müssen dazu die Momente einblenden, in denen sich der Altarraum und die ersten Sitzreihen beleben. Interessanterweise handelt es sich durchweg um transitorische Ereignisse: das Vorne wird betreten und wieder verlassen. Schauen wir uns die Personen, ihre Bewegungen und die Laufwege zunächst im Überblick an (5.4.1). Und denken wir daran, dass alles, was hier vorne passiert, unter einem besonderen Fokus passiert: Wer hier agiert, hatten wir betont, tut dies - solange eine zweite Person anwesend ist - zwangsläufig unter der Erwartung, wahrgenommen 10 Wir argumentieren auch in diesem Punkt aus der Perspektive einer andauernden und sich allmählich verändernden sozialen Situation (die an Anwesenheit von Besuchern gebunden ist). Das Glockenläuten ist zwar selbst nicht interaktionssensitiv (oder doch nur sehr eingeschränkt), aber die Wahrnehmung des Glockenläutens ist selbst wahrnehmbar und auf diese Weise Teil der sozialen Situation. Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 70 Hausendorf/ Schmitt_final und beobachtet zu werden. Diese Erwartung spiegelt sich in vielen Details der Bewegungen wider, wie wir im Anschluss an einen ersten Überblick zeigen wollen (5.4.2). 5.4.1 Überblick der Verhaltensweisen 00: 00 - 00: 23 Zu Beginn der Aufnahme blickt der Pfarrer durch die Tür der Sakristei, die einen Spalt weit geöffnet ist, in den Kirchenraum. Er ist in dieser Hinsicht mit einem Schauspieler vergleichbar, der durch den Vorhang „linst“, um zu sehen, ob schon Publikum im Zuschauerraum eingetroffen ist. Das Verhalten des Pfarrers ist ein deutlicher Ausdruck seiner Vororientierung und Erwartung und zeigt als solches seine Vororientierung auf eine spätere Aktivität in einer Phase, in der diese Aktivität aber noch nicht unmittelbar bevorsteht. Die relativ große Distanz zum erwartbaren Beginn zeigt sich auch in der Bekleidung des Pfarrers: Er trägt noch nicht seinen Talar, sondern ist noch im Anzug zu sehen. Er ist also noch nicht für die Ausfüllung seiner Funktionsrolle eingekleidet. Nachdem es für einen kurzen Moment so aussieht, als würde er die Tür zur Sakristei schließen, öffnet er sie und tritt aus der Sakristei in den Altarraum. Diesen durchquert er, nimmt die Stufen hinunter zum Besucherraum und geht in Richtung Mittelgang aus dem Blickfeld der Kamera. Kurz bevor dies geschieht, blickt er für einen ganz kurzen Moment nach rechts zu einer Besucherin, deren grauer Haarschopf kurz vorher zu sehen war. Sein Gang ist flüssig, seine Schritte sind eher raumgreifend, sein Oberkörper ist in einer leichten Pendelbewegung und seine Arme bewegen sich neben seinem Körper. Es ist kein indikativer Gang für den Kirchenraum, sondern eher eine Art des Gehens, die sich in nichts von Bewegungen im Raum in anderen Kontexten unterscheidet. Auch dieser Aspekt (die fehlende Indikativität hinsichtlich des besonderen sozialen Ereignisses Gottesdienst) ist ein weiteres Zeichen dafür, dass „es“ noch nicht gleich losgehen kann. Dies wird unterstützt durch die Tatsache, dass die zentrale Person des Gottesdienstes ihren für den Vollzug der Veranstaltung zentralen Bereich, den Altarraum, in Richtung Kirchenausgang verlässt. 01: 25.0 - 01: 31.0 Zwei Gottesdienstbesucher nehmen ihren Platz in einer Sitzreihe auf der rechten Seite des Mittelgangs ein. Opening up Openings 71 Hausendorf/ Schmitt_final 02: 39.0 - 02: 50.7 Der Pfarrer kommt aus dem Mittelgang der Kirche zurück, durchquert den Altarraum, öffnet die Tür zur Sakristei und schließt diese mit dem Rücken zum Kirchenraum. 03: 08.1 - 03: 12.7 Der Lektor kommt aus dem Mittelgang der Kirche, durchquert auf seinem Weg zur Sakristei den Altarraum und schließt hinter sich die Tür zur Sakristei. 03: 21.7 - 04: 00 Die Organistin verlässt ihren Stehplatz auf der rechten Seite der Empore, an dem sie sich längere Zeit bewegungslos aufgehalten hatte, geht zu ihrer Bank an der Orgel, setzt sich, dreht sich dann um und blickt in den Kirchenraum. 03: 47.7 - 04: 16.5 Ein Konfirmand durchquert den Altarraum, geht zur linken Altarraumseite und steckt eine kleinere Kerze an der großen Osterkerze an, die links neben dem Altar platziert ist. Danach verlässt er den Altarraum und tritt im Mittelgang aus dem Blickfeld der Kamera. 04: 30.7 - 05: 09.8 Ein weiterer Konfirmand erscheint, legt zunächst etwas in eine Bank auf der rechten Seite, geht dann ebenfalls zur Kerzenwand, steckt eine Kerze an, verlässt den Altarraum, setzt sich in eine der vorderen rechten Bänke und blättert im Gesangbuch. 05: 29.2 - 06: 04.1 Zwei Konfirmandinnen kommen aus dem Mittelgang ins Bild, legen in einer Sitzreihe links ihre Sachen ab, verlassen die Bank in Richtung Kerzenwand und zünden dort - wie die beiden Konfirmanden zuvor - jeweils eine Kerze an. Dann begeben sie sich in die Bank zurück, setzen sich und beginnen sich zu unterhalten. Ihr gesamter Auftritt wird von dem zweiten Konfirmanden, der in der gleichen Sitzreihe auf der rechten Gangseite sitzt, aufmerksam und kontinuierlich verfolgt. Hierfür scheinen andere als gottesdienstspezifische Interessen und Relevanzen vorzuliegen. Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 72 Hausendorf/ Schmitt_final 06: 10 - 6: 14 Zwei Gottesdienstbesucher setzen sich auf der linken Gangseite in die Bank hinter den beiden Konfirmandinnen. 07: 59.1 - 08: 26.1 Die Sakristeitür wird geöffnet, der Lektor tritt hinaus in den Altarraum und orientiert sich auf das Lesepult, das in der rechten Altarhälfte steht. Er lässt die Sakristeitür offen! Am Lesepult legt er ein Buch ab, arrangiert das Mikrofon, geht rechts an dem Pult vorbei zu seinem Sitzplatz in der ersten - bestuhlten - Reihe im Besucherraum. Dort bleibt er in versammelter Haltung kurze Zeit stehen, ehe er sich setzt. 08: 27.0-08: 45.5 Der Pfarrer ist durch die offene Tür in der Sakristei zu sehen, wie er letzte Vorbereitungen trifft. Dann tritt er durch die Tür, schließt diese mit Blick zur Gemeinde, schreitet gemessenen Schrittes durch den Altarraum, nimmt jede Altarstufe einzeln, geht zur ersten Stuhlreihe und bleibt links neben dem bereits sitzenden Lektor stehen. Er verweilt stehend eine Weile, verbeugt sich dann erkennbar in Richtung Altar. Parallel zu seinem Austritt aus der Sakristei wird das Glockenläuten leiser und kommt schließlich fast vollständig zum Ausklang. Nur ein einzelner, leiser Glockenton ist nun noch zu vernehmen. Bevor auch dieser erstirbt, setzt jedoch die Orgel mit ihrem lauten, den Raum füllenden Spiel ein (8: 45.6). Zu diesem Zeitpunkt steht der Pfarrer immer noch mit dem Rücken zur Gemeinde vor seinem Stuhl in der ersten Reihe. 08: 49 Beginn des Orgelspiels Was verdeutlicht dieser kurze Überblick hinsichtlich der Organisation der Eröffnungsphase und bezogen auf die eingangs aufgeworfene Frage nach der Projektivität und dem Ankündigungscharakter des beobachtbaren Verhaltens? Folgt man der sequenziellen Entwicklung der Gottesdiensteröffnungsphase bis dahin anhand der Verlaufsstrukturbeschreibung, so lässt sich vor allem die folgende Beobachtung machen: Es wird insgesamt eine zunehmende Verdichtung anfangsindikativer Verhaltensweisen schon allein dadurch ersichtlich, dass sich im Laufe des Glockenläutens der Kirchenraum immer mehr füllt und immer mehr Gottesdienstbesucher (mit auf den Gottesdienst bezogenen Aktivitäten beschäftigt sind und dabei) von immer mehr Besuchern als soziale Spiegelung der eigenen, auf den Gottesdienst orientierten Anwesenheit wahr- Opening up Openings 73 Hausendorf/ Schmitt_final nehmbar sind. Dies ist zweifelsohne ein weiterer Schritt hin zur spezifischen Vergesellschaftung, die sich im gemeinsamen Vollzug des Gottesdienstes realisiert. Das Läuten der Glocken stellt in diesem Zusammenhang eine übergeordnete Phasenmarkierung dar. Es gehört zur Besonderheit der während der Glockenphase realisierten verhaltensspezifischen Hinweise, dass sie in dieser Phase keine offensichtlich segmentierende und damit tendenziell interruptive Qualität besitzen, die die segmentale Einheit des Glockengeläuts stören könnten. Wir wollen uns nun auf die Rekonstruktion der projektiv-ankündigenden Implikationen einzelner Verhaltensweisen konzentrieren, die vor allem gegen Ende des Glockenläutens zunehmen. Dies bedeutet, dass wir ausgewählte Verhaltensweisen, die in der verlaufsstrukturellen Beschreibung primär deskriptiv erwähnt worden sind, nun im Hinblick auf ihre indikative Qualität re-analysieren. Wir werden uns dabei - der Konstitutionsspezifik des Materials folgend - auf die für die Vorbereitung und Durchführung des Gottesdienstes relevanten Funktionsträger in der Reihenfolge ihres Erscheinens beschränken und uns dabei auf den Pfarrer und den Lektor konzentrieren. 5.4.2 Indikative Qualität im Verhalten des Pfarrers und Lektors Am Verhalten des Pfarrers lässt sich exemplarisch die spezifische Qualität von Vorverweisen und Eröffnungseröffnungen veranschaulichen. Betrachtet man sein Verhalten, so werden drei unterschiedliche Eröffnungshinweise deutlich, mit denen er den Gottesdienstbesuchern Hinweise auf die zeitliche Spanne seines aktuellen Verhaltens gibt. Bei dieser Qualifizierung handelt es sich nicht um exakte Angaben, die in Zeiteinheiten von Minuten aufzufassen sind. Vielmehr eröffnen diese Hinweise - für diejenigen, denen der Ablauf der Eröffnungsphase des Gottesdienstes bekannt ist - die Möglichkeit der Adaption und sukzessiven Angleichung ihrer inneren Haltung an den Gang und die Vorbereitung der Gottesdiensteröffnung. Der erste Hinweis, der sich im eben gerade explizierten Sinne als zeitliche Qualifizierung verstehen lässt, findet sich zu Beginn der Videoaufnahme (siehe Strukturbeschreibung 0: 00 - 00: 23). Der Pfarrer verlässt im Anzug die Sakristei, die ihm als persönlicher Raum der Vorbereitung auf den Gottesdienst dient und in denen die für die Durchführung des Gottesdienstes notwendigen Utensilien aufbewahrt werden (Bücher, Talar etc.). Er begibt sich durch den Mittelgang der Kirche in Richtung Ausgang, verschwindet also aus dem Wahrnehmungsbereich der bereits in der Kirche befindlichen Besucher (Bild 2-5). Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 74 Hausendorf/ Schmitt_final Bild 2-5: Gang des Pfarrers im Anzug aus Sakristei So lange der Pfarrer sich nicht in der Sakristei vorbereitet und im Talar diesen Raum verlässt, um vor die Besucher zu treten, kann die verbale Gottesdiensteröffnung nicht erfolgen. 11 Dass er in Richtung Ausgang geht, qualifiziert die Differenz zum erwarteten Beginn als „es dauert noch eine Weile“. Der zweite Hinweis findet sich etwa zweieinhalb Minuten später, als der Pfarrer aus dem Mittelgang kommend die Sakristei wieder betritt und die Tür hinter sich schließt. Bezogen auf das Wissen der Besucher kann dies als Herstellung der Vorbereitungsvoraussetzungen interpretiert werden. Zeitlich ist der Hinweis kontrastiv zum Verlassen der Sakristei als qualitative Annäherung an die verbale Gottesdiensteröffnung zu verstehen, im Sinne von „es geht bald los, aber noch nicht sofort“. Die Spezifik der zeitlichen Qualifikation erfolgt hierbei zum einen durch die seit seinem Austritt aus der Sakristei vergangene Zeit, zum anderen durch seine eigene Verkörperung, hier vor allem durch die Art und Weise seiner Bewegung und Orientierung im Raum (Bild 6-9). Bild 6-9: Gang des Pfarrers zur Sakristei 11 Dies gilt für den Ostergottesdienst, jedoch nicht für alle Gottesdienste gleichermaßen. So betritt der Pfarrer bei einer Taufe gemeinsam mit den Eltern, Paten und Täuflingen den Kirchenraum durch die Eingangstür. Er geleitet also die Neuankömmlinge auf ihrem Weg in die Kirche. Opening up Openings 75 Hausendorf/ Schmitt_final Er geht nun etwas langsamer als beim Verlassen der Sakristei, hat aber seine grundlegende Körperhaltung und Gangart nicht verändert: Er geht mit raumgreifenden Schritten, sein Oberkörper wiegt leicht hin und her, seine Arme hängen zu Boden und schlenkern leicht vor und zurück. Einmal blickt er kurz nach oben zur Decke, da dort die Organistin bereits anwesend ist. Einen Gruß oder ähnliches kann man jedoch aus der Betrachtung seiner Rückenseite nicht festmachen. Beim Eintreten in den Altarraum übergeht er die mittlere Stufe und würdigt weder Altar noch Kreuz eines Blickes: Er ist zielorientiert unterwegs und klar auf die Sakristei orientiert. Die Zielorientiertheit seines Verhaltens wird auch dadurch unterstrichen, dass er die Tür zur Sakristei mit dem Rücken zum Kirchenraum schließt, wodurch er eine Ausklammerung der Gemeindemitglieder von dem nun nachfolgenden Prozess innerhalb der Sakristei signalisiert. Ein für die zeitliche Qualifikation und für die Organisation der Eröffnungsphase des Gottesdienstes insgesamt interessantes Detail ist das Überspringen einer der drei Altarstufen (Bild 10). Das Überspringen der Altarstufe 12 und die Nichtbeachtung des Altars ist interessant, denn der Altar markiert im klassisch-theologischen Sinn eine Verehrungsstätte für Gott und ist im christlichen Sinn Ort des Gebets und des Abendmahls. An dieser Stelle symbolisieren die aufgeschlagene Bibel, die Kerzen (Symbol für die Auferstehung Jesu Christi und Zeichen des Lichts der Welt) und das Kreuz für die Gläubigen die Gegenwart Gottes unter den Menschen. Zusammen mit Kanzel und Taufbecken bildet der Altar den Mittelpunkt des Gottesdienstraumes. Es ist offensichtlich, dass all diese Objekte, die für den kirchlichen Ritus - und in ihrer permanenten Sichtbarkeit für die Einstimmung der Gemeinde auf den Gottesdienst - eine so zentrale Bedeutung haben, für den Pfarrer zum aktuellen Zeitpunkt aber noch keinerlei rituell-symbolische Relevanz besitzen, auf die er durch sein Verhalten reagieren und sie dadurch anerkennen und sichtbar machen würde. Die aktuelle Nichtbeachtung dieser Objekte durch den Pfarrer ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass zumindest für ihn der Gottesdienst noch nicht begonnen hat, obwohl seine Orientierung auf die Sakristei zeigt, dass dessen Beginn näher gerückt sein muss. 12 Die dreistufige Altartreppe wird oftmals als Hinweis interpretiert, dass man auf gewisse Art und Weise sich Gott nähert, indem man die Stufen hinaufgeht: Man tritt im erhöhten Altarraum in das Allerheiligste hinein. Bild 10 Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 76 Hausendorf/ Schmitt_final Dies wird nachfolgend auch durch den Gang des Lektors in die Sakristei verdeutlicht: Nun befindet sich neben dem Pfarrer als der zentralen Fokusperson noch ein weiterer Funktionsträger in dem Raum, der als Ort der Vorbereitung für den Gottesdienst dient. Wir haben es also mit der Zunahme von Vorbereitungshinweisen zu tun, die die verbale Gottesdiensteröffnung immer deutlicher ankündigen. Bereits der Gang des Lektors zur Sakristei, von dort zum Lesepult und weiter zu seinem Sitzplatz in der ersten Stuhlreihe verdeutlicht eine verstärkte Orientierung auf den Gottesdienst. Im Vergleich mit dem Pfarrer geht er wesentlich langsamer, versammelt, mit kleinen Schritten, beide Arme sind vor dem Oberkörper verschränkt, in seinen Händen hält er einen Gegenstand (wahrscheinlich die Bibel, aus der er später vorlesen wird) und seine Schultern sind leicht noch vorne eingerollt. Der Gesamteindruck, den der Lektor damit vermittelt, ist der einer konzentrierten, in sich gekehrten Versammlung, die keinerlei Außenorientierung besitzt. Dies wird besonders auf dem Weg des Lektors zu dem Lesepult offensichtlich (Bild 11-14), der für ihn - als interaktive Aufgabe - nicht ganz einfach ist. Bild: 11-14: Gang des Lektors aus der Sakristei zum Lesepult Er muss seinen „Auftritt“, denn diese Qualität hat sein Austritt aus der Sakristei und das Ablegen des Buches am Pult angesichts der zurückliegenden Verweis- und Ankündigungsverfahren, so organisieren und wahrnehmbar machen, dass er sich nicht zu sehr in den Wahrnehmungsmittelpunkt der Anwesenden rückt und nicht in ungerechtfertigter Weise - als nicht legitimer Aspekt seines kategoriengebundenen Aktivitäten (vgl. Sacks 1992a-e) - den Beginn des Got- Opening up Openings 77 Hausendorf/ Schmitt_final tesdienstes ankündigt. Gleichwohl muss er seine Aktivitäten und seine Bewegung im Raum in unmittelbarer, inzwischen sensibilisierter, auf den nahenden Beginn orientierter Wahrnehmung der Gottesdienstbesucher realisieren. Im gewissen Sinne bearbeitet er eine widersprüchliche Anforderung: Er muss im Kontext einer durch unterschiedliche Hinweise erwartbar gemachten Veränderung der Situation eine für diese Veränderung relevante Handlung vollziehen, ohne damit die Veränderung selbst schon zu realisieren. Zur Bearbeitung dieser Aufgabe setzt er zwei unterschiedliche Mittel ein: Einerseits vermeidet er durch sein konkretes Verhalten jegliche Form appellativer Implikation: Er verkörpert, dass er in sich versunken ist, beschäftigt sich mit der exakten Justierung des Mikrofons und vermeidet dabei, den Blick von seiner unmittelbaren Umgebung zu lösen oder gar in den Kirchenraum zu blicken. Andererseits lässt er die Tür zur Sakristei offen, was die Implikation hat, dass der Blick in diesen normalerweise verschlossenen Bereich gestattet wird und die Anwesenden den Pfarrer, der inzwischen einen schwarzen Talar trägt, in der Sakristei bei letzten Vorbereitungen sehen können (Bild 15). Durch diese Durchsicht in den Raum der Sakristei dynamisiert sich nunmehr auch die bisherige Verweis- und Ankündigungsstruktur: Die offene Tür fungiert zusammen mit dem merklich leiser werdenden Glockenläuten als „Sanduhr“ oder als Countdown (ähnlich wie bei einem Raketenstart oder zu Silvester), bei dem die Gottesdienstbesucher die letzten Sekunden vor einer relevanten Situationsveränderung mitbzw. abzählen können. 13 Die offene Tür ist ein handgreifliches Zeichen für den nahenden Beginn der verbalen Gottesdiensteröffnung. Dass die Anwesenden auf die Bewegung in der Sakristei reagieren, zeigt sich im Verhalten der beiden in der linken Kirchenhälfte sitzenden Konfirmandinnen: Sie drehen ihre Köpfe in Richtung Sakristei, als der Pfarrer in den Türrahmen tritt. 13 Der letzte Schlag der Glocke, die dann langsam ausklingt, erfolgt zu dem Zeitpunkt, als der Pfarrer bei seinem Gang aus der Sakristei das Lesepult des Lektors erreicht hat. Als er die Stufen des Altars nimmt, ist bereits nur noch diese einzelne Glocke mit einem dünner werdenden Ton zu hören. Bild 15 Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 78 Hausendorf/ Schmitt_final Weitere Zeichen der kommenden Veränderung der Situation folgen: Der Pfarrer betritt, nachdem der Lektor bereits seinen Sitzplatz eingenommen hat, im schwarzen Talar aus der Sakristei heraus den Altarraum, schließt die Tür deutlich hörbar und schreitet dann gemessenen Schrittes, jede Stufe des Altarraumes betretend, hinunter in den Besucherraum. Er hält Bücher mit der linken Hand vor seinem Oberkörper bzw. seinem Herzen und hat den freien rechten Arm am Körper angelegt. Er geht auf den Stuhl direkt links neben dem Lektor zu, dreht sich dort angekommen herum, sodass er jetzt mit dem Rücken zum Kirchenraum steht. Bild 16-20: Gang des Pfarrers im Talar aus Sakristei Dann dreht er sich etwas nach links, richtet sich auf den Altar hin aus und verneigt sich nach einem kurzen Moment, beide Hände, die die Bücher umfassen, vor der Körpermitte zusammengeführt. Bild 21-23: Verbeugung des Pfarrers in Richtung Altar Diese Verneigung des Pfarrers ist ein wichtiges Detail. Es ist die erste sichtbare Handlung des Geistlichen, die offensichtlich religiöse Qualität besitzt. Er verneigt sich vor dem Altar, der für ihn nun ganz offensichtlich die religiös- Opening up Openings 79 Hausendorf/ Schmitt_final rituelle Bedeutung hat, die zuvor - als er unachtsam am Altar vorüberging - noch nicht vorhanden bzw. für die Situation noch nicht relevant war. Diese für alle Besucher wahrnehmbare Verneigung des Pfarrers verdeutlicht den Besuchern, dass die Fokusperson und der für die Durchführung des Ritus zentrale Funktionsträger sich nunmehr bereits in Kontakt mit Gott als nicht sichtbarem Anwesenden befindet. Dieser verneigende Gruß des Pfarrers verdeutlicht der Gemeinde die Anwesenheit Gottes und die Ausrichtung desjenigen auf ihn, der im Rahmen des Gottesdienstes in zentraler ritueller Funktion fungiert. 14 Der Vollzug dieser ersten rituellen Handlung ist der bisherige Endpunkt einer Entwicklung, die im Rahmen einer einheitlichen segmentalen Phasenmarkierung (das Glockenläuten) durch die schrittweise, jedoch unmarkierte Zunahme von ankündigungsrelevanten Hinweisen, die alle im Modus des sprachlosen, körperlichen Ausdrucks stattfinden, realisiert wird. Die Phase des Glockenläutens fällt also zusammen mit dem Vollzug der ersten rituellen Handlung (der Verbeugung) und wird nahtlos abgelöst durch das Orgelspiel, eine Phase, die ebenfalls akustisch als Einheit ausgewiesen wird. Die bislang so fein und kunstvoll gewobene Eröffnungsphase wird an diesem neuralgischen Punkt für einen kurzen Moment irritiert: Genau in den Wechsel von der Glockenzur Orgelphase und unmittelbar nach der ersten rituellen Handlung des Pfarrers fällt die Ankunft eines Besuchers, der - aus dem Mittelgang kommend an Pfarrer und Lektor vorbeigehend (Bild 24-25) - seinen Platz in der ersten Stuhlreihe einnimmt. Bild 24-25: Zu-spät-Kommender Der Besucher kommt offensichtlich „zu spät“, ohne durch die Organisation seines Ganges und seiner Platzwahl seinem Zu-spät-Kommen adäquat Rech- 14 Die rituelle Funktion des Pfarrers weist ihn als zentralen Funktionsträger aus, der den Ablauf des Gottesdienstes kennt und diesen weitgehend strukturiert: Er ist derjenige, der die Gottesdienstbesucher begrüßt, ihnen unbekannte Abläufe ankündigt und erklärt. Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 80 Hausendorf/ Schmitt_final nung zu tragen. Wäre der Besucher nach Einsatz der Orgel nicht im Mittelgang der Kirche bis vor zur ersten Reihe gegangen, sondern vorher nach rechts in den Seitenteil abgebogen um sich von der rechten Wand seinem Sitzplatz in der ersten Reihe zu nähern, hätte er das Ausmaß seiner Störung merklich reduzieren können. Man kann sehen, dass sein Auftritt - anders als der des Lektors, der seine Bewegung im Raum mit dem erreichten Stand der Vergesellschaftung koordiniert - eine solche Orientierung nicht aufweist, sondern der Besucher eher „für sich“ im Kirchenraum unterwegs ist. Sein Gang demonstriert im Kontext des bereits etablierten kollektiven Zuhörens der Orgelmusik eine notwendigerweise individuelle Orientierung, wodurch - im gewissen Sinne - der Vergesellschaftungsprozess wieder - zumindest punktuell - zurückgedreht wird. Zudem zerschneidet der Gang dieses Besuchers metaphorisch gesprochen das unmittelbar zuvor vom Pfarrer durch seine Verbeugung hergestellte Band zum unsichtbaren Gegrüßten und realisiert - etwas strukturanalytischer formuliert - sequenziell betrachtet nach der rituellen Handlung des Pfarrers eine individuelle und profane Handlung der Sitzplatzeinnahme. Wie Bild 26 zeigt, ist er derjenige, der noch steht, als der Pfarrer schon seinen Sitzplatz eingenommen hat, wodurch er sich durch seinen Präsenzmodus von allen anderen Anwesenden unterscheidet. 6. Das Orgelvorspiel Gleichwohl beendet das Orgelspiel nicht nur die Glockenphase, sondern auch die Phase der individuellen Einstimmung der einzelnen Anwesenden, die während dieser Zeit wechselseitig wahrnehmbar (! ) „für sich“ waren und auf diese Weise bereits eine bestimmte soziale Gruppe (der Gottesdienstbesucher) konstituiert haben. Die aktuelle Vergesellschaftung im Kirchenraum erreicht nun aber einen neuen Stand: Nunmehr sind alle Beteiligten mit dem ausschließlichen Zuhören des Orgelspiels in einer einheitlichen Aktivität ver- Bild 26 Bild 27 Opening up Openings 81 Hausendorf/ Schmitt_final eint. Alle vorher noch vereinzelt wahrnehmbaren Unterhaltungen sind mit dem Austritt des Pfarrers aus der Sakristei allmählich verstummt. Im Kirchenraum ist nun nur noch der kraftvolle Klang der Orgel zu vernehmen. Die Beteiligten werden durch das Orgelspiel als dominantes, akustisches und fokussierendes Element stärker zusammengehalten als zuvor durch das eben auch außerhalb hörbare Läuten der Glocken. Wenn wir von allen Beteiligten sprechen, dann sind damit ganz explizit auch der Pfarrer und der Lektor gemeint, die wie die übrigen Gottesdienstteilnehmer nun im Besucherraum sitzen (Bild 27). Die Sitzplatzwahl des Pfarrers bei der Gemeinde und das nun einsetzende Orgelspiel sind selbst wieder ankündigungsrelevante Hinweise. Sie machen deutlich, dass zwar eine erste rituelle Handlung vom Pfarrer (nicht von allen! ) vollzogen worden ist, die verbale Gottesdiensteröffnung aber noch aussteht, auch wenn sie nunmehr unmittelbar bevorzustehen scheint. Wir können sehen, dass - unabhängig von der Frage, ob der Gottesdienst an dieser Stelle nun tatsächlich anfängt oder nicht - der Wechsel der Instrumente, die eine übergeordnete akustische Phasenstruktur etablieren und deren Verlauf markieren, einen ersten Kulminationspunkt der Organisation der Gottesdiensteröffnung darstellt. Auf diesen Punkt laufen alle bisherigen Ankündigungshinweise und phaseninterne Differenzierungen mit ihren unterschiedlichen zeitlichen Implikationen hinaus. Dieser Punkt ist das Ergebnis einer kunstvollen Choreografie, in der das Glockenspiel und die verhaltenspezifischen Ankündigungsverfahren in fein abgestimmter Weise auf den Punkt genau koordiniert sind und im Zusammenfallen vom Übergang des Glockenspiels zum Orgelspiel und des ersten rituellen Handlungsvollzugs ein neuralgischer Wechsel in der Eröffnungsorganisation des Gottesdienstes hergestellt wird. Der Prozess der Orientierung auf den Gottesdienst wurde dabei so organisiert, dass jegliche Störung in der allmählichen Einnahme einer religiös-spirituellen Haltung der Gottesdienstbesucher vermieden wurde. Die im Rahmen der übergeordneten musikalisch-akustisch markierten Phase individueller Einstellung und Vororientierung realisierten verhaltensspezifischen Hinweise auf den nahenden Beginn der verbalen Gottesdiensteröffnung tragen der Tatsache Rechnung, dass der Übergang von der Alltagswelt in den eigenständigen Sinnbezirk religiöser Praxis ein Prozess ist, der zum einen Zeit beansprucht und zum anderen gegen jegliche laute oder gar aggressive Segmentierung geschützt werden muss. Im Ermöglichen einer zeitlich gedehnten und sanften Hinführung auf die verbale Gottesdiensteröffnung steckt die Funktionalität der spezifischen Eröffnungsstruktur des Gottesdienstes. Durch diese Spezifik der unmerklichen Hinführung zur „Kernaktivität“, deren schrittweise und zunehmende Fokus- Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 82 Hausendorf/ Schmitt_final sierung auf einen Beginn kaum wahrnehmbar ist, wird die Eröffnungsphase selbst zu einem eigenständigen, in seiner besonderen Qualität erfahrbaren sozialen Ereignis, bei dem sich letztlich die Frage nach dem Beginn - zumindest für die Beteiligten selbst - nicht stellt. Schauen wir uns nun die Glockenphase und die Phase des Orgelspiels im Vergleich an, so wird auf den ersten Blick folgendes deutlich: Die Orgelphase ist merklich kürzer (sie dauert etwas mehr als zwei Minuten gegenüber fast neun Minuten der Glocken) und sie verfügt über eine ausdifferenzierte interne Gliederung: Es gibt eine Einführung und ein erkennbares Thema, das wiederholt, dabei variiert und auf einen deutlichen Schlusspunkt hingeführt wird. Mit dieser dynamischen Struktur leistet die Orgel ihren spezifischen musikalischen Beitrag zur immer feiner werdenden anfangsindikativen Verweisstruktur. Die merklich kürzere Dauer des Orgelspiels hängt mit dem bislang bereits erreichten Vergesellschaftungsstand zusammen. Auch die Tatsache, dass diese musikalische Phase selbst - im Kleinen und in einer eigenen Modalität - auf einen klaren Schlusspunkt hinführt, deutet hinsichtlich der Funktionalität der Orgelphase in die gleiche Richtung. Beide Aspekte sind Ausdruck der Tatsache, dass die Orgel als lautes und durchdringendes Instrument - anders als die Glocken - die Aufmerksamkeit der Besucher fordert und beansprucht. Hatte das Glockengeläut leise Unterhaltungen noch relativ einfach zugelassen, so ist dies während des Orgelspiels nicht mehr ohne weiteres möglich. War es die Funktion der Glocken, die Besucher bei ihrer Hinwendung zum Gottesdienst zu begleiten und zu unterstützen, so ist es nun die Aufgabe der Orgel, die Besucher wach und aufnahmebereit zu machen für das, was nach Verstummen der Orgel kommen wird. In dieser Hinsicht fungiert die Orgel durchaus in Analogie zu dem, was in der Konversationsanalyse als attention getter bezeichnet wird. Durch das Orgelspiel werden die Anwesenden aus ihrer individuellen Orientierung und kontemplativen Verfassung herausgelöst und in „erhöhte Alarmbereitschaft“ versetzt. Man kann also sagen, dass mit dem Wechsel der Instrumente ein Wechsel in der Art der Orientierung bei den Beteiligten bewirkt wird. Diese befinden sich nun viel unmittelbarer in Erwartung des in Kürze beginnenden verbalen Teils des Gottesdienstes. Diese Haltung erhöhter Anspannung zeigt sich auch im Verhalten des Pfarrers. Verfolgt man ihn mit dem Zoom der dynamischen Kamera, so wird Folgendes deutlich: Der Pfarrer scheint die gesamte Phase der Orgelmusik als Vorbereitungsphase zu nutzen: Er drapiert seine Bücher in für ihn angemessener Weise auf dem Opening up Openings 83 Hausendorf/ Schmitt_final freien Stuhl links neben ihm. Er unterhält sich mehrmals für kürzere Zeit mit dem Lektor und lockert in den Phasen ohne Kommunikation die Muskulatur seines oberen Rückens und Nackens, indem er leicht die Schultern hochzieht. Er vermittelt insgesamt den Eindruck von jemandem, der „gleich dran ist“, sich konzentriert und lockert und noch ein allerletztes Mal prüft, ob er für seinen Auftritt auch alles beisammen hat. Zum Ende der Orgelmusik hin hören die Unterhaltungen vollständig auf, doch an dem sich häufig bewegenden Kopf des Pfarrers und seinem sehr tiefen Einatmen kann man erkennen, dass er tatsächlich „auf dem Sprung“ ist. Da diese körperlichen Verhaltensweisen des Pfarrers zumindest für einen Teil der Besucher wahrnehmbar sind, können diese seine Vorbereitungsaktivitäten als weitere Hinweise auf den baldigen Beginn der verbalen Gottesdiensteröffnung interpretieren. Mit den letzten Takten der Orgelmusik steht der Pfarrer auf und begibt sich, in langsamen, bedächtigen Schritten, bei denen er nun jede Altarstufe einzeln nimmt, hinter das Mikrofon, das vor dem Altar auf dem hinteren Ende eines weißen Teppichs steht. Das Zusammenfallen des Ausklangs der Orgelmusik und die damit verbundene Einkehr von Stille im Kirchenraum mit dem Gang des Pfarrers von seinem Sitzplatz in der ersten Reihe des Besucherraums zu seinem Platz hinter dem Mikrofon ins Zentrum des Altarraumes besitzt eine fokussierende Wirkung. Die Besucher, die dieser Bewegung des Pfarrers folgen, werden durch diese mit ihrem Blick ebenfalls ins Zentrum des Altarraums „geführt“ und fokussieren nun den Pfarrer als zentrale Person und Träger der zentralen Funktionsrolle für die Durchführung des Gottesdienstes. Der Pfarrer zieht in dieser Hinsicht die Blicke der Besucher auf sich, und nutzt seinen Gang, um die Wahrnehmung der Anwesenden auf sich zu fokussieren und dadurch auf den unmittelbaren verbalen Beginn des Gottesdienstes zu orientieren. 15 7. Lokale Stille 10: 59.1 - 11: 10.0 Auf dem Weg des Pfarrers von seinem Stuhl in der ersten Sitzreihe in den Altarraum und hinter das Mikrofon ist auch der letzte Ton der Orgel - vergleichbar dem Geläut der Glocken - schließlich langsam verklungen. In der 15 Hinsichtlich der fokussierenden Implikationen seines Ganges ist der Pfarrer unmittelbar vergleichbar mit dem Chef einer Software-Entwickler-Gruppe, der während eines Arbeitsmeetings von seinem Platz aufsteht und zur Tafel geht, um dort seine Ausführungen durch einen Entwurf zu unterstreichen; vgl. hierzu Schmitt (2001). Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 84 Hausendorf/ Schmitt_final Kirche herrscht nun eine raumgreifende Stille, die angesichts der vorherigen voluminösen Klangfülle der Orgel in ihrer Kontrastivität deutlich „hörbar“ ist. Vor dem Altar angekommen richtet der Pfarrer das Mikrofon auf eine für ihn angemessene Höhe ein. Er dreht dabei den Mikrofonständer so, dass der zu ihm weisende Fuß nun fast genau auf die Mittelachse von Kirche und Altar ausgerichtet ist (Bild 28-31). Bild 28-31: Gang des Pfarrers zum Mikrofon Aufgrund der eingetretenen Stille, der Platzierung des Pfarrers im Altarraum und hinter dem Mikrofon mit Blick in den Besucherraum der Kirche ist klar, dass ein erneuter Wechsel in der Phase der Gottesdiensteröffnung unmittel- Opening up Openings 85 Hausendorf/ Schmitt_final bar bevorsteht. Aufgrund des räumlichen Arrangements und der Manipulation des Mikrofons ist auch klar, dass dies eine Phase sein wird, in der Sprache nunmehr eine zentrale Rolle spielen wird. Der Pfarrer befindet sich zum ersten Mal überhaupt in einer Position, in der er - ausgerichtet auf den Besucherraum - seine zentrale Funktion bei der Durchführung des Gottesdienstes erfüllen kann: Er steht nun in seiner rituellen Funktion im Zentrum des Altarraumes. Er agiert als (Ver-)Mittler zwischen derjenigen Instanz, die durch den Altar symbolisiert wird, und den Besuchern, die zur gemeinsamen Feier des Gottesdienstes in die Kirche gekommen sind und die nun - nach einer langen Phase der Vorbereitung und Einstellung auf den Gottesdienst - darauf warten, dass der Pfarrer zu ihnen spricht. Als „Vorläufer“ nahkontextueller Hinweise auf die beginnende verbale Interaktion innerhalb der aktuellen Situation sind die Töne zu hören, die die Hände und Finger des Pfarrers bei der Mikrofoneinrichtung produzieren. Nunmehr ist - nach einer langen Phase der Hinführung - alles hergerichtet für den verbalen Beginn des Gottesdienstes. Vor allem in den für die Besucher wahrnehmbaren und inszenierten Positionswechseln des Pfarrers, die nicht nur zufällig jeweils mit Phasen des Ausklangs des Glockengeläuts und Orgelspiels zusammenfallen, zeigt sich auch im hiesigen Zusammenhang ein Aspekt, auf den Mondada (2007) als allgemeines Merkmal von Situationseröffnungen hingewiesen hat: die Notwendigkeit der Herstellung eines für den verbalen Vollzug adäquaten bzw. notwendigen Interaktionsraums. 16 Unter einer solchen Perspektive kann man die Einnahme der aktuellen Position des Pfarrers als Endpunkt einer in der öffentlichen und für die öffentliche Wahrnehmung realisierten schrittweisen räumlichen Annäherung an den Gottesdienstbeginn sehen (Skizze 1). Diese Annäherung führt den Pfarrer 1) aus der Sakristei zum Ausgang der Kirche, 2) zurück in die Sakristei, 3) von der Sakristei hinunter zum Besucherraum in die erste Stuhlreihe und von dort 4) in seine aktuelle Position mit dem Rücken zum Altar und dem Gesicht zum Besucherraum. 16 Siehe hierzu ebenfalls Müller/ Bohle (2007). Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 86 Hausendorf/ Schmitt_final Skizze 1: Laufwege des Pfarrers So, wie sich die Besucher langsam mental auf den beginnenden Gottesdienst orientieren, nähert sich der Pfarrer lokal-räumlich für die Besucher wahrnehmbar schrittweise dem Beginn. Die Bewegung des Pfarrers im Kirchenraum, seine Laufwege, die Laufrichtung, die Art seines Gehens (laufen vs. schreiten), die unterschiedliche Bekleidung bei seinen Gängen, all das verdeutlicht den Besuchern, wie weit der verbale Beginn des Gottesdienstes noch entfernt ist bzw. wie weit sich der Pfarrer diesem inzwischen bereits angenähert hat. Wir sind mit dieser Beschreibung nunmehr an exakt der Stelle angelangt, die wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen gemacht haben. Es ist der Moment, in dem der Pfarrer die ersten Worte in das Mikrofon spricht. Der Status des Pfarrers als die zentrale Fokusperson (Schmitt/ Deppermann 2007), auf die sich alle Gottesdienstbesucher orientieren, manifestiert sich besonders markant in der Positionierung vor dem Altar und hinter dem Mikrofon. Spätestens mit der Realisierung seiner ersten Worte sind die Blicke der Gottesdienstbesucher auf ihn gerichtet: Die potenziell multifokale Situation im Kirchenraum ist nun auf einen einzigen gemeinsamen Fokus zusammengeschmolzen. 8. Die ersten Worte Nachdem der Pfarrer das Mikrofon in die richtige Position gebracht hat, wird er zum ersten Mal verbal in seiner Rolle als zentraler Funktionsträger für die Durchführung des Gottesdienstes aktiv. Anders als in der Phase des Orgel- Opening up Openings 87 Hausendorf/ Schmitt_final spiels, wo er sich zeitweise mit dem neben ihm sitzenden Lektor unterhalten hatte, richtet er sich nunmehr direkt an die Gottesdienstbesucher. Wir werden in der folgenden Analyse vor allem auf diejenigen Hinweise schauen, die der Pfarrer hinsichtlich der Frage „Geht es jetzt los? “ produziert. Wir bleiben also im Rahmen derjenigen Relevanzen, die uns das Material bislang selbst gezeigt hat und gehen nicht davon aus, dass - nur weil jetzt auch gesprochen wird - alles klar ist. 8.1 Adressierung und erste organisatorische Anweisung 17 01 PF: <<all>liebe geMEINde? >= 02 =wir wollen AUFstehn? 03 (6.8) Der Pfarrer spricht die Anwesenden im Kirchenraum mit liebe geMEINde? an und fordert sie nach einer kurzen Pause zum Aufstehen auf =wir wollen AUFstehn? . Auffallend ist bei diesen ersten Worten des Pfarrers - neben dem Fehlen einer (durchaus erwartbaren) Begrüßung - die selbstinkludierte Personalreferenz wir. Der Pfarrer, der selbst bereits hinter dem Mikrofon vor dem Altar steht, adressiert sich durch das wir also in gewisser Weise selbst. Das wir positioniert ihn quasi als situativ Doppelbeteiligten: Er ist einerseits der zentrale religiöse Funktionsträger, der seine Gemeinde anspricht; er ist andererseits aber gleichzeitig auch Mitglied dieser Gemeinde und agiert diesbezüglich auch relativ zu dem Status, den er eingenommen hat, als er aus der Sakristei kommend im Kirchenraum in der ersten Reihe Platz genommen hatte. In diesen verbalen Aktivitäten des Pfarrers lassen sich zwei Hinweise darauf finden, dass zwar eine explizit auf ein Gegenüber fokussierte verbale Interaktion, damit jedoch noch nicht bereits der Gottesdienst „beginnt“. Bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass auch hier im verbalen Teil der Eröffnungsphase etwas angekündigt wird, was als Vorbereitung für den Beginn des Gottesdienstes notwendig ist, jedoch selbst noch nicht als Teil dieses Ereignisses dargestellt wird - sondern als Beitrag zur Eröffnung der Eröffnung. Wir haben es also hier wieder mit verweisindikativen Implikationen auch im sprachlichen Verhalten des Pfarrers zu tun. Zum einen kann „es“ erst dann wirklich losgehen, wenn der Pfarrer ausschließlich in seiner zentralen Funktionsrolle agiert. Diese Voraussetzungen sind jedoch mit ihm als mitadressiertem Mitglied der Gemeinde noch nicht gegeben. Zum anderen besitzt die Handlung, zu der er die Gemeinde auffor- 17 Die Transkriptausschnitte wurden nach GAT -Richtlinien erstellt; siehe Selting et al. (1998). Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 88 Hausendorf/ Schmitt_final dert, unzweifelhaft vorbereitende Qualität. Der Wechsel der Präsenzform ist eine Voraussetzung für etwas nach dem Wechsel Folgendes, projiziert also - wenn auch hier in unbestimmter Weise - eine nachfolgende Aktivität. Die Aufforderung zum Aufstehen ist jedoch nicht nur projektiv, sondern auch mit einer Relevanzhochstufung derjenigen Handlung verbunden, die nachfolgend im Stehen vollzogen werden soll. 18 Der Pfarrer wartet sechs Sekunden lang, bis sich die Gemeindemitglieder erhoben haben, ehe er den nunmehr Stehenden eine Begründung für den Wechsel ihrer Präsenzform gibt. 8.2 Begründung der Anweisung 04 denn wir FEIern, 05 (--) die AUFerstehung des herrn. 06 (1.2) Das Aufstehen ist bezogen auf dieses Feiern, es ist Teil der rituellen Vorbereitungen dieses Feierns, selbst aber nicht Bestandteil dessen. Wir befinden uns also immer noch in der Struktur, die bereits die gesamte Eröffnungsphase des Gottesdienstes bestimmt hatte: in der schrittweisen Annäherung an den Beginn des gemeinsamen Gottesdienstes, dessen zentraler Zweck der Pfarrer hier mit wir FEIern, (--) die AUFerstehung des herrn. angibt. Diese Phase der Annäherung ist - wie wir sehen können - mit den ersten verbalen Aktivitäten des Pfarrers und den darauf reagierenden Aktivitäten der Besucher (das gemeinsame Aufstehen) noch nicht beendet. Dies wird unter anderem auch daran ersichtlich, dass der Pfarrer als nächsten Schritt den genauen Ablauf der Durchführung derjenigen Handlung erklärt, zu der er die Gottesdienstbesucher in den Stand gebeten hat. 8.3 Erläuterung der gemeinsam zu vollziehenden rituellen Handlung 07 PF: wir machen das jetzt SO: ? 08 (-) ich GRÜße euch, 09 der herr ist AUFerstanden? 10 (--) und ihr ANTwortet, 18 Das (Auf-)Stehen ist eine weit verbreitete kulturelle Praxis, die fast immer mit Verehrung oder besonderer Ehrerweisung assoziiert ist (vgl. etwa „standing ovations“ im Sport, Schweigeminute zum Gedenken Verstorbener). Opening up Openings 89 Hausendorf/ Schmitt_final 11 ER ist; 12 (-) wahrHAFtig, 13 (-) AUFerstanden. 14 (-) und das GANze machen wir, 15 (--) DREI? 16 (.) mal. 17 (1.8) Die Erklärung des Pfarrers, wie das österliche Begrüßungsritual vollzogen werden soll (denn darum handelt es sich hier), hat selbst wieder Ankündigungscharakter und ist funktional bezogen auf die korrekte Ausführung des Rituals. Die Erklärung selbst kann hinsichtlich ihrer Eigenwertigkeit zwar nicht den Beginn des Gottesdienstes markieren, verdeutlicht der Gemeinde jedoch, dass damit ein weiterer Schritt in Richtung Beginn des Gottesdienstes getan wurde. Denn jetzt agiert der Pfarrer nicht mehr als Mitglied der Gemeinde, sondern ausschließlich in seiner zentralen Funktionsrolle. In dieser tritt er nunmehr verbal der Gemeinde gegenüber (ich GRÜße euch, - ihr ANTwortet,) und antizipiert damit in seiner Beschreibung durch die Beschreibung des Vollzugs eines adjacency pair eine faktische Dialogsituation mit zwei Beteiligten. Noch aber befinden wir uns in der Beschreibung; der Dialog, der hier vorwegnehmend beschreiben wird, wird selbst noch nicht vollzogen. 8.4 Kollektive Realisierung des Ostergrußes Nach der Erläuterung der rituellen Handlung lässt der Pfarrer den Gemeindemitgliedern nicht mehr lange Zeit. Er beginnt vielmehr bereits nach einer kurzen Pause mit der Realisierung seines Teiles des angekündigten Grußrituals <<f>DE: R HERR ist AUFerstanden.>, auf den die Gemeindemitglieder mit der Realisierung ihres Begrüßungsteils reagieren. Nachdem das Grußritual gemeinsam dreimal vollzogen worden ist, kommt der Pfarrer nochmals auf die aktuelle Situation als Gottesdienst zu sprechen: diesmal jedoch nicht in einem begründenden Zusammenhang, sondern vielmehr in explizierender und detaillierender Weise, die sich auf den besonderen Anlass des aktuellen Gottesdienstes bezieht. 8.5 Erneute Kundgabe des Grundes für den Gottesdienst 24 PF: WIR; 25 FEIern; = 26 =diesen GOTtesdienst; Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 90 Hausendorf/ Schmitt_final 27 zum Osterfest. 28 IM namen des VATers- 29 und des <<h>SOHnes? > 30 UND des HEIligen GEIStes. Darüber Auskunft zu geben, in welchem Namen man Gottesdienst feiert, ist zwar Bestandteil des Rituals, gleichzeitig aber auch etwas anderes als den Gottesdienst tatsächlich durch „Vollzug“ zu feiern. Der Pfarrer und die Gottesdienstmitglieder beenden die Phase der ersten gemeinsamen rituellen Handlung mit einem gesungenen amen. 8.6 Offizieller Abschluss der rituellen Handlung 31 PF: (-)[A: : ] 32 GE: <<singend>[A: : ]HA: : ME: N? > Nachdem der gemeinsame Gesang verstummt ist und auch die letzen Orgeltöne ausgeklungen sind, wendet sich der Pfarrer mit einer erneuten organisatorischen Anweisung an die Gemeindemitglieder: Er fordert sie dazu auf, wieder Platz zu nehmen. 8.7 Zweite organisatorische Anweisungen 33 PF: (---) sie dürfen PLATZ nehmen, 34 (5.6) Mit dem erneuten Wechsel des Präsenzmodus der Gottesdienstbesucher wird einerseits die vorbereitende Phase des kurzzeitigen Stehens abgeschlossen, andererseits wird mit dem Sitzen eine weitere Voraussetzung geschaffen, mit der Feier des Gottesdienstes zu beginnen. In dieser Hinsicht besitzt auch dieser Wechsel des Präsenzmodus verweisindikative Qualität und macht deutlich, dass man sich wieder einen kleinen Schritt dem „tatsächlichen“ Beginn genähert hat und es jetzt gleich losgehen wird. Die nächsten Worte des Pfarrers machen dann deutlich, wofür das Hinsetzen der Gottesdienstbesucher Voraussetzung war. Nach Vollzug all dieser Aktivitäten und nachdem die Gemeindemitglieder alle wieder ihre Plätze eingenommen haben, begrüßt sie der Pfarrer nunmehr ganz offiziell. Opening up Openings 91 Hausendorf/ Schmitt_final 8.8 Offizielle Begrüßung der Gemeinde 35 PF: <<all>ja liebe geMEINde? >= 36 =ich begrüße sie HERZlich? 37 zu diesem GOTtesdienst? 38 HEUte? 39 am osterMONtag? 40 mit dem WORT? 41 zum Osterfest- 42 (--) es STEHT, 43 in der joHANnesoffenbarung- 44 (-) JEsus- 45 (.) CHRIStus; 46 (.) SPRICHT. 47 (--) ich WAR to: t; 48 (-) UND- 49 SIEhe; 50 (.) ICH bin leBENdig. 51 (.) von EwigKEIT (.) zu Ewigkeit. 52 (-) UND habe den SCHLÜSsel? 53 (.) des Todes, 54 (.) und (.) der HÖLle. Es gibt gute Gründe dafür anzunehmen, dass die Begrüßung der Gemeindemitglieder durch den Pfarrer den Status der aktuellen Situation grundlegend verändert: Nunmehr befinden sich beide Seiten durch Vollzug einer Begrüßung auch verbal in fokussierter Interaktion. Interessant ist in diesem Zusammenhang folgender Punkt: Der Pfarrer hatte ja bereits mit den Gemeindemitgliedern interagiert und sie im Rahmen des österlichen Grußrituals auch schon begrüßt. Warum also wird dieser Gruß nochmals wiederholt? Bei genauer Betrachtung wird zwar nochmals gegrüßt, der vorherige Gruß wird dabei jedoch nicht mit seinen faktischen Implikationen wiederholt. Vielmehr hat der Pfarrer bei seinem zweiten Gruß andere Adressaten. Im österlichen Grußritual begegnen sich Pfarrer und Gemeinde in eher universeller Weise als gläubige Christen. Der „zweite“ Gruß des Pfarrers hingegen gilt „seiner“ Gemeinde, die sich in „ihrer“ Kirche eingefunden hat, um mit „ihrem“ Pfarrer Gottesdienst zu feiern. Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 92 Hausendorf/ Schmitt_final Wenn man davon ausgeht, dass es im hier vorliegenden Fall keine „abstrakten Christen“ sind, die mit einem Pfarrer zusammen Gottesdienst feiern, sondern eine ganz spezifische Gemeinde mit ihrem Pfarrer feiert, dann ist der Vollzug einer Begrüßung zwischen diesen beiden Seiten eine konstitutive Bedingung für den Beginn des Gottesdienstes. Nachdem nun also eine offizielle (und nicht nur eine rituelle) Begrüßung stattgefunden hat, kann es mit dem Gottesdienst dann auch gleich losgehen. Betrachtet man die Worte des Pfarrers, so liegt die Vermutung auch nahe, dass es nun tatsächlich losgeht bzw. bereits losgegangen ist. Der Hinweis auf diesem GOTtesdienst? HEUte? am oster- MONtag? lässt nur den Schluss zu, dass zumindest für den Pfarrer der Gottesdienst bereits begonnen hat, denn sonst könnte er sich nicht in genau dieser Weise auf ihn als bereits begonnenen beziehen. Oder ist es doch eher die Kategorisierung, an der der Pfarrer arbeitet und die den besonderen Anlass dieses speziellen Gottesdienstes hervorhebt, die hier von Bedeutung ist? Ganz so klar ist die Sache mit dem tatsächlichen Beginn also immer noch nicht, obwohl sich der Pfarrer und die Gemeinde seit geraumer Zeit in fokussierter Interaktion befinden. Dies ist eine Tatsache, die sich bei allen Zweifeln hinsichtlich des Zeitpunkts des Gottesdienstbeginns nicht bestreiten lässt. Doch lassen wir den Pfarrer selbst diese Frage beantworten. Nach der offiziellen Begrüßung und dem Zitat als Losung für den Gottesdienst realisiert der Pfarrer eine positive Evaluation des aktuellen Gottesdienstes. 8.9 Zweifache Positivevaluation des Gottesdienstes 55 (---) im Namen, 56 DIEses herrn; 57 GOTtesdienst zu feiern; 58 (-) das ist doch etwas (.) GANZ beSONderes. 59 (ich) FREUe mich darauf. Mit der konkreten sprachlichen Formulierung, mit der der Pfarrer seine Freude zum Ausdruck bringt, im Namen des Herrn Gottesdienst zu feiern, der von sich sagen kann ICH bin leBENdig. (.) von EwigKEIT (.) zu Ewigkeit. (-) UND habe den SCHLÜSsel? (.) des Todes, (.) und (.) der HÖLle realisiert er einen erneuten Vorverweis auf den Beginn des Gottesdienstes. Dies ist umso bemerkenswerter, als er zuvor bereits die Losung des Gottesdienstes verkündet und die Gemeindemitglieder mit einer offiziellen Begrüßung zum Gottesdienst willkommen geheißen hatte. Wenn der Pfarrer sagt ich FREUe mich darauf. Opening up Openings 93 Hausendorf/ Schmitt_final Gottesdienst zu feiern, dann ist damit objektiv impliziert, dass der Grund seiner Freude etwas Zukünftiges ist, der Gottesdienst somit auch für ihn noch nicht (wirklich) begonnen hat. Wie wir gesehen haben, erfolgen mit den ersten Worten in der Tat unüberhörbare Hinweise darauf, dass es nunmehr losgeht: Es handelt sich um die ersten Worte, die so laut gesprochen werden (technisch verstärkt durch ein Mikrofon), dass sie für alle Anwesenden im Raum unüberhörbar sind. Wer spricht - und zumal wer laut und in ein eigens dafür bereitgestelltes Mikrofon spricht -, kann nicht bestreiten, kommunizieren zu wollen. Das gibt den ersten (lauten) Worten die Unbestreitbarkeit eines kommunikativen Zuges. Wie wir gesehen haben, unterstützt das, was gesprochen wird, die Initialposition dieser „ersten“ Worte: - die Adressierung der Anwesenden (liebe geMEINde? =), - die Vorbereitung, Ankündigung und Erläuterung eines kleinen Grußrituals (=wir wollen AUFstehen? ; wir machen das jetzt SO: ? ; ich GRÜße euch,; <<f> DE: R HERR ist AUFerstanden), - die (dreimalige) Durchführung des Rituals, - die performative Bezugnahme auf das andauernde Ereignis (WIR; FEIern; = =diesen GOTtesdienst), - der Abschluss des Grussrituals (sie dürfen PLATZ nehmen,) und schließlich auch - die explizite Begrüssung der Anwesenden (<<all> ja liebe geMEINde? = = ich begrüße sie HERZlich? ). Viel verbal-interaktiver Aufwand also, der unmittelbar auf unsere Frage „Wann geht's los? “ bezogen ist und der dazu beiträgt, sie in dem Sinne zu beantworten, dass es an dieser Stelle tatsächlich losgeht. Aber wann genau geht es los und was geht los? Zeigt nicht schon die grobe Rekapitulation der Sequenz, die wir vorgenommen haben, dass es erst noch losgehen wird bzw. dass es gleich losgeht? Wir denken hier an den prospektiven Charakter der dokumentierten Äußerungen: Er ist in der Vorbereitung und Ankündigung des Grußrituals enthalten (=wir wollen AUFstehen? ), er ist im Grußritual selbst enthalten, dass ja als Grußritual davon lebt, dass es danach losgehen kann (ich GRÜße euch,), er ist in der neuerlichen Begrüßung enthalten - und er ist auch in weiteren sich unmittelbar anschließenden Äußerungen des Pfarrers unüberhörbar enthalten: im Namen, DIEses herrn; GOTtesdienst zu feiern; (-) das ist Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 94 Hausendorf/ Schmitt_final doch etwas (.) GANZ beSONderes. (ich) FREUe mich darauf. Das Signal ist also, vereinfacht gesagt, es kann jetzt / gleich losgehen! Erwartung wird aufgebaut im Hinblick auf den Vollzug eines sozialen Ereignisses, auf das hier gleich mehrfach mit den Worten GOTtesdienst feiern hingewiesen wird. Manches spricht dafür, dass schon das anfängliche Grußritual bereits Teil dieser feier ist - aber gehört auch schon die Vorbereitung des Grußrituals dazu: =wir wollen AUFstehen? - oder erst das Aufstehen - oder erst die durch Pausen wirksam abgegrenzte Durchführung des Rituals? Oder doch erst das, was gleich kommen wird und hier nicht mehr wiedergegeben ist? Wie man hier auch immer entscheiden mag (als Beobachter und als Teilnehmer), sicher ist, dass die feier sich nicht in den dokumentierten ersten Worten erschöpfen wird. Die „eigentliche“ feier, sie wird gleich beginnen, und sie ist es, auf die wir uns freuen (sollen). Wir wollen diese Bemerkungen so verstanden wissen, dass die Frage nach dem Losgehen des sozialen Ereignisses nicht nur mit Bezug auf die Abgrenzung nach vorne, sondern auch mit Bezug auf die Abgrenzung nach hinten nicht so einfach zu beantworten ist, wie es zunächst den Anschein haben mag. Dass es nicht schon mit den ersten Worten „losgeht“, was das zu vollziehende soziale Ereignis betrifft (das GOTtesdienst feiern), sondern dass das Losgehen gleichsam zerdehnt und in die Länge gezogen wird, im wahrsten Sinne des Wortes zelebriert wird, ist der Befund, den wir an dieser Stelle festhalten wollen. 9. Resümee Wir beenden unsere Analyse des Gottesdienstgeschehens an dieser Stelle mit folgendem Befund: Im verbalen Teil der Eröffnungsphase des Gottesdienstes reproduziert sich ein Phänomen, das wir als rekurrente Vorverweisstruktur bezeichnen wollen. Der Hinweis, dass der Gottesdienst gleich losgehen wird, dann aber doch noch nicht gleich losgeht, stellt einen konstitutiven Aspekt der gesamten Eröffnung dar. Wir haben auch im verbalen Teil eine Systematik der „Eröffnung von Eröffnungen“ oder des „Vorverweises auf Vorverweise“ rekonstruiert, die wir bereits zuvor in anderen modalen Realisierungen entdeckt haben. Diese Systematik ist das prägende Element der gesamten Eröffnungsorganisation des von uns analysierten Gottesdienstes. Die analysierte Vorverweisstruktur ist der grundlegende Mechanismus, der die gesamte Eröffnungsstruktur prägt. In dieser Hinsicht reproduziert der verbale Teil lediglich die bereits zuvor identifizierte Struktur, etabliert selbst jedoch kaum Neues. An- Opening up Openings 95 Hausendorf/ Schmitt_final gesichts des zentralen Bezugspunktes, den erste verbale Aktivitäten im Kontext von Situationseröffnungen analytisch häufig besitzen, ist dies ein durchaus überraschender Befund. Für den Vorverweis als strukturprägenden Mechanismus der Eröffnungsphase des von uns untersuchten Gottesdienstes sind zwei Aspekte charakteristisch: Einerseits lassen sich Realisierungen in unterschiedlichen Modalitäten in allen Phasen der Gottesdiensteröffnung finden. Andererseits zeichnen sich diese Realisierungen alle durch eine indirekte, inkorporierte und unmarkierte Phänomenologie aus. An keiner Stelle findet sich ein expliziter Hinweis auf die Funktionalität dieser rekurrenten Vorverweis-Praktik. Der Vorverweis auf den Beginn des Gottesdienstes kommt gänzlich ohne einen direkten oder gar reflexiven Bezug auf sich selbst aus. Gleichwohl entfaltet er seine ihm ganz eigene - und auch wenn dies aus strukturanalytischer Sicht sich etwas intentionalistisch lesen mag - beabsichtigte verweisindikative Funktionalität im gegebenen Kontext religiöser Praxis. Dies ist ein Befund, der sehr weitgehend mit den Ergebnissen von Mondada (in diesem Band) kontrastiert. Bei den Videokonferenzen gibt es eine starke und manifeste Orientierung auf den Beginn, die regelmäßig explizit formuliert wird. Es sind genau diese indirekten, auf den ersten Blick und das erste Hören hin nicht zu identifizierenden, aber wahrgenommenen, in anderen Aktivitätszusammenhängen (beispielsweise der Musik) inkorporierten Vorverweise auf den Beginn des Gottesdienstes, die es den Gottesdienstbesuchern ermöglichen, langsam, fast unmerklich und ohne bewusste Konzentration den Übertritt aus der Pragmatik der Alltagswelt hinein in die Eigenwertigkeit der gemeinsamen religiösen Praxis zu bewerkstelligen. Das fein gewobene Geflecht von „Vorverweisen auf Vorverweise“, von „Ankündigung von Ankündigungen“ stiftet einen Rahmen, in dem sich die Einstellung auf die religiöse Praxis ohne Zeitdruck bei gleichzeitig kontinuierlichem Orientiert-Werden auf diese religiöse Praxis entwickeln kann. In diesem Sinne würden wir - hinsichtlich des Verhältnisses von Alltagswelt und Gottesdienst - in Übereinstimmung mit Paul (1990, S. 30) auch sagen, dass „im Gottesdienst ein Einbruch der alltagsweltlichen Orientierung erwartet“ wird, würden jedoch sogleich folgenden Aspekt betonen: Es handelt sich letztlich nicht nur um eine Erwartung, die man mitbringen kann und die dann erfüllt oder nicht erfüllt wird. Vielmehr muss die - für den Vollzug des Gottesdienstes als gemeinschaftlicher Praxis - notwendige Transition von der Alltagswelt in einen eigenständigen sakralen Sinnbereich aktiv, in situ und als Transition durch die Spezifik ihrer Herstellung in genau dieser Qualität für die Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 96 Hausendorf/ Schmitt_final Gottesdienstbesucher erfahrbar hergestellt werden. Unsere zurückliegende Analyse hat im Detail die Verfahren aufgezeigt, die bei der Herstellung und Symbolisierung der Transition zwischen den Sinnwelten eingesetzt werden. Für die Funktionalität dieses - über die Jahrhunderte entwickelten - Transferangebots des Gottesdienstes ist neben der besonderen Phänomenologie der Verweisstruktur vor allem seine Rekurrenz ausschlaggebend. Dies wird deutlich, wenn man sich die einzelnen rekonstruierten Phasen der Gottesdiensteröffnung anschaut und dabei systematisch nach den darin realisierten verweisindikativen Aktivitäten, Verfahren, Mitteln fragt. Die nachfolgende Liste fasst diesbezüglich die Ergebnisse unserer zurückliegenden Analysen noch einmal im Überblick zusammen. 1) Vor-Glockenphase (Stille) 19 ……………………………………………………………………………… 2) Glockengeläut (Läuten, Gang von Pfarrer und Lektor) 3) Orgelspiel (Musik, Verbeugung und Sitzplatzeinnahme des Pfarrers) 4) Lokale Stille (Aufstehen und Positionierung des Pfarrers im Altar- raum, Ausrichtung auf Gemeinde, Manipulation des Mikrofons) 5) Verbale Aktivitäten a) Adressierung und organisatorische Anweisung b) Erklärung für die Aufforderung c) Erläuterung des österlichen Begrüßungsrituals d) Kollektive Realisierung der rituellen Handlung (erster gemein- samer Vollzug des sozialen Zwecks der Situation = unmarkierter Beginn des Gottesdienstes? ) e) Erneute Kundgabe des Grundes für den Gottesdienst f) Offizieller Abschluss der rituellen Handlung g) Zweite organisatorische Anweisung h) Offizielle Begrüßung der Gottesdienstgemeinde i) Zweifache Positivevaluation des Gottesdienstes 19 Wir führen hier die „Vor-Glockenphase“ als Startsegment auf, obwohl wir diese Phase nicht dokumentiert haben. Wir wissen aber aus unserer teilnehmenden Beobachtung um die strukturierenden und verweisindikativen Implikationen dieser akustisch noch weitgehend unstrukturierten Phase der Gottesdiensteröffnung. Opening up Openings 97 Hausendorf/ Schmitt_final Reflektiert man die Beziehungen, die zwischen diesen unterschiedlichen Segmenten (und ihren verweisindikativen Implikationen) bestehen, dann wird folgender Zusammenhang deutlich: Die 20-minütige Eröffnungsphase des Gottesdienstes zeichnet sich durch eine Dynamik aus, bei der die aufeinander folgenden Phasen immer kürzer werden. Der langen Phase des Glockenläutens folgt eine bereits deutlich kürzere Phase des Orgelspiels, die dann durch eine noch kürzere Phase situativer Stille abgelöst wird, in der der Pfarrer im Altarraum seine Position für die fokussierte Interaktion mit der Gemeinde einnimmt. Wie wir in der Analyse des Verbalteiles der Eröffnung gesehen haben, besteht diese nicht mehr als vergleichbares einheitliches Element wie etwa das Glockenläuten. Die ersten Worte des Pfarrers sind vielmehr durch eine aspektualisierte Struktur permanenter Vorverweise charakterisiert. Diese führen als verweisindikative Verdichtung die für die sequenzielle Entwicklung der Eröffnungsphase insgesamt charakteristische zunehmende Fokussierung und Orientierung auf den Beginn des Gottesdienstes weiter und verstärken sie. Wir wollen zum Abschluss dieses Beitrages noch einmal folgende Punkte explizit betonen: Wir betrachten die rekonstruierte Systematik des kontinuierlichen Vorverweises als konstitutiv für die Interaktionsstruktur der Gottesdiensteröffnung. Die durch sie erreichte zerdehnte Eröffnungsstruktur ist - unabhängig von der Möglichkeit, die Frage nach dem tatsächlichen Beginn des Gottesdienstes definitiv beantworten zu können - immer schon konstitutiver Teil der spezifischen Form religiöser Vergesellschaftung, die sich in der Kirche ereignet. In diesem Sinne kann man auch sagen: Die spezifische Struktur der Gottesdiensteröffnung, die wir zurückliegend analysiert haben, ist ein prototypischer Fall, bei der die Situationseröffnung nicht nur eine zentrale Kernaktivität vorbereitet. Vielmehr ist die Eröffnung als Antwort auf eine besondere Transitions-Anforderung, die sich aus dem Wechsel zweier eigenständiger Sinnbereiche ergibt, selbst bereits untrennbarer Bestandteil der Praxis, auf die sie (anscheinend doch nur) vorverweist. 10. Eine allerletzte Bemerkung Um keine Fehlinterpretationen aufkommen zu lassen, wollen wir eine abschließende Bemerkung zum Verhältnis der von uns rekonstruierten Vorverweispraktik und ihrer fallspezifischen Relevanz auf der einen und dem für die Interaktionskonstitution ganz allgemein grundlegenden Prinzip der projektiven Strukturbildung auf der anderen Seite machen. Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt 98 Hausendorf/ Schmitt_final Die Interaktionskonstitution ist - das ist eines der zentralen Ergebnisse der bisherigen konversationsanalytischen Untersuchungen - zu großen Teilen projektiv ausgerichtet. 20 Dies gilt für den Bereich der Bildung von adjacency pairs als kleinster interaktiver Bauform (beispielsweise Schegloff 1968, 2006), für die Konstitution größerer Aktivitätszusammenhänge wie etwa Geschichten erzählen oder einen komplexen Sachverhalt darstellen bis hin zur gemeinsamen Realisierung komplexer Handlungszusammenhänge wie etwa eine Sozialamtsberatung durchführen etc. Für all diese Formen interaktiver Praktik gilt, dass sie über projektive Mechanismen angekündigt und vorbereitet werden (siehe auch Streek 1995). Im Bereich der Konstitution von adjacency pairs wird dies über den Regelungsmechanismus der konditionellen Relevanz (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974; Schegloff 1972) gewährleistet, bei dem der initiative Zug einen korrespondierenden erwartbar macht. Bei komplexeren Aktivitätszusammenhängen werden in der Regel explizite sprachliche Verfahren eingesetzt, in denen der beabsichtige Aktivitätszusammenhang mehr oder weniger direkt und kategorial formuliert wird. Zwar vollzieht sich die Organisation der Eröffnungsphase auf der Grundlage des gleichen basalen Mechanismus, d.h. für die Konstitution der Eröffnungsphase des Gottesdienstes gelten die gleichen projektiven Orientierungen wie für die Interaktionskonstitution insgesamt. Das Phänomen, das wir in unserem Beitrag identifiziert haben, unterscheidet sich von dieser grundlegenden projektiven Orientierung der Interaktionskonstitution in folgender Weise: Die beschriebene Vorverweispraktik zeichnet sich dadurch aus, dass sie die konstitutionslogisch notwendige funktionale Bindung von Projektionsaufbau und Projektionseinlösung im Dienste der Symbolisierung spezifischer Relevanzstrukturen, die das soziale Ereignis Gottesdienst konstituieren, zerdehnt. Genau dadurch entsteht mit dem „Vorverweis auf einen Vorverweis, der selbst wieder auf einen Vorverweis verweist“ die für die Bewerkstelligung der Transition zweier eigenständiger Sinnbereiche notwendige und tragfähige Struktur. Dabei ist die beschriebene Phänomenologie dieser interaktiven Praktik sowie deren systematische Rekurrenz ein weiteres Unterscheidungsmerkmal. Die Praktik des systematischen Vorverweises auf einen Vorverweis besitzt als erste Präferenz die „strukturelle Anlage zur erstmaligen Nicht-Erfüllung“. Sie ist also gerade nicht darauf ausgerichtet, durch explizite Formulierungen oder 20 Siehe jedoch Deppermann/ Schmitt (demn.), die für die systematische Berücksichtigung auch des Aspektes der Konstitution von Retrospektivität plädieren. Opening up Openings 99 Hausendorf/ Schmitt_final durch einen sozial gültigen Sequenzierungsmechanismus auf die Projektion, die mit dem Vorverweis realisiert wird, als implizite oder explizite Aufgabenstruktur zu verweisen. Die zentrale Voraussetzung dafür, dass eine solche Vorverweispraktik überhaupt funktionieren kann und nicht zu weitgehender Desorientierung und Verstörung der Gottesdienstteilnehmer führt, liegt in dem geteilten Wissen um den Ablauf des Gottesdienstes und seiner Eröffnungsphase begründet. Es ist ein spezifisches Wissen, das durch die Einsozialisierung in den eigenständigen Sinnbereich erworben und durch die regelmäßige Praxis internalisiert wird, das man in Anlehnung an Goffman (1982) als rituelle Kompetenz bezeichnen kann (siehe auch Paul 1990). 11. Literatur Deppermann/ Schmitt (demn.): Participants' work in understanding and in deciding what comes next: The case of ‘anticipatory initiatives’. Gamer, Matthias/ Hecht, Heiko (2007): Are you looking at me? Measuring the cone of gaze. In: Journal of Experimental Psychology 33, S. 705-715. Goffman, Erving (1964): The neglected situation. In: Gumperz, John J./ Hymes, Dell (Hg.): Directions in sociolinguistics: The ethnography of communication. Special Issue of American Anthropologist. New York, S. 133-136. Goffman, Erving (1982): Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt a.M. Hausendorf, Heiko (1992): Gespräch als System. 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Hausendorf/ Schmitt_final Stefani_Mondada final Elwys De Stefani / Lorenza Mondada Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum: Die emergente Koordination räumlicher, visueller und verbaler Handlungsweisen 1. Einleitung: Die Analyse sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum als Beitrag zur Untersuchung der Gesprächseröffnungen In diesem Kapitel soll aufgezeigt werden, inwiefern die Analyse sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum dazu beitragen kann, die Prozesse der Koordination in Gesprächseröffnungen zu untersuchen. Dabei werden die situierten, multimodalen und kontingenten Aspekte hervorgehoben, welche den emergenten Vollzug der Eröffnungsphasen charakterisieren. Die bisherigen Studien, die sich mehrheitlich auf die Analyse von Telefongesprächen beschränkten, haben diesen Dimensionen nur ungenügende Beachtung geschenkt. Die Konversationsanalyse hat Eröffnungssequenzen einer ausführlichen Analyse unterzogen, wobei zeitlich klar begrenzbare Phänomene bevorzugt untersucht wurden: So hat man im Klingeln des Telefons einen ‘summons’ erkannt, der eine Unterbrechung im momentanen Handlungsgewebe des Angerufenen bewirkt und eine neue Interaktion eröffnet - sofern dieser den Anruf entgegen nimmt (siehe Schegloff 1967, 1968, 1986). In der Tradition Schegloffs wird der ‘summons’ als das erste Element einer zweigliedrigen Eröffnungssequenz, der ‘summons-answer-sequence’ verstanden. Das Klingeln des Telefons stellt damit ein Ereignis dar, welches eine sequenziell organisierte Interaktion einleitet. Die Tatsache, dass die Analysen Schegloffs jeweils vom letzten Klingelton ausgehen - und damit die zeitliche Ausdehnung des ‘summons’ außer Acht lassen - ist bezeichnend für eine Sichtweise, die Eröffnungssequenzen als ‘absolute’ Gesprächsinitiationen wahrnimmt, die unabhängig von den praktischen Handlungen, denen die Teilnehmer im Moment des Anrufs nachgehen, untersucht werden können. Wie Zimmerman (1992) gezeigt hat, kann diese Beschreibung komplexer gestaltet werden, indem untersucht wird, was vor dem Klingeln geschieht und welchen Handlungsabläufen diejenigen Personen nachgehen, die sich im Umfeld bewegen, in dem der Anruf ankommt. Im Falle multimedialer Ereignisse (z.B. Video- oder Webkonferenz) erfahren Eröffnungsphasen durch die all- Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 104 Stefani_Mondada final mähliche Herstellung der Verbindung eine zusätzliche Komplexität (vgl. Relieu 2005, Mondada 2007a, 2008, in diesem Band). Aus den Studien zur Mobiltelefonie (z.B. Arminen/ Leinonen 2006) geht außerdem hervor, dass auch Telefongespräche in ein ‘Davor’ und ein ‘Danach’ gegliedert werden, insbesondere durch das Beantworten und das Beenden des Anrufs. Die Relevanz solcher „pre-beginnings“ (Zimmerman 1992) lässt die Notwendigkeit erkennen, Eröffnungssequenzen als sich entfaltende ‘accomplishments’ zu verstehen, die durch das soziale Handeln der Gesprächsteilnehmer konstruiert werden und deren Realisierung zeitlich strukturiert ist. Sich bei der Analyse von Gesprächseröffnungen auf die ‘summons-answer-sequence’ zu beschränken, stellt in dieser Hinsicht ein analytisches Artefakt dar, das - unter anderem - der zeitlichen Strukturierung des ‘summons’ einen äußerst geringen Stellenwert zuschreibt. Der Ansatz, der uns bei der folgenden Untersuchung leiten soll, muss den prozessualen, emergenten Eigenschaften der Eröffnungssequenzen Rechnung tragen. Die feingliedrige sequenzielle Untersuchung Schegloffs muss somit um eine ebenso detaillierte Analyse der Sequenzialität, der Temporalität und der praxeologischen Organisation der Interaktion ergänzt werden, wobei insbesondere die Analyse der koordinierten, multimodalen Praktiken im Vordergrund stehen muss. Die Notwendigkeit dieser Neuorientierung wird vor allem bei der Analyse von Gesprächseröffnungen ersichtlich, die in Face-to- Face-Begegnungen zu beobachten sind. Auch wenn diese zeitlich beschränkt und klar festgelegt sind - in Bezug auf die Teilnehmer, die Uhrzeit, den Ort, wie z.B. bei Sitzungen, aber auch bei privaten Besuchen - weisen die Eröffnungshandlungen emergente Eigenschaften auf, z.B. im Zusammenhang mit dem sukzessiven Eintreffen der Teilnehmer (zu den Arbeitssitzungen vgl. Heidtmann, zu den privaten Besuchen vgl. Oloff, zu zeremoniellen Ereignissen vgl. Hausendorf/ Schmitt, alle in diesem Band). Bei unvorhergesehenen Begegnungen, wie sie oft im öffentlichen Raum zu beobachten sind, tritt die emergente und kontingente Dimension noch stärker in den Vordergrund. Die vorliegende Untersuchung der sozialen Begegnungen im öffentlichen Raum beabsichtigt, Forschungsfragen nachzugehen, die in den früheren Studien vernachlässigt wurden, obwohl sie für die Analyse der Interaktionseröffnungen von zentraler Bedeutung sind. So ermöglicht die reziproke Annäherung der Teilnehmer in einem offenen Raum, in dem mehrere Individuen kopräsent sind, sowohl fokussierte als auch nicht fokussierte Interaktionen (Goffman 1963, Sudnow 1972): Es ist gerade dieser Übergang von einer ge- Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 105 Stefani_Mondada final genseitigen höflichen Gleichgültigkeit („civil inattention“, Goffman 1963) zu einer Orientierung auf einen gemeinsamen Fokus, der charakteristisch ist für die hier vorgestellten Eröffnungen (vgl. Mondada 2009). Die Eröffnung wird nicht allein durch den Wortwechsel vollzogen, vielmehr wird sie durch multimodale Praktiken eingeleitet. Die Organisation der Gehrichtungen der Teilnehmer und damit die Strukturierung des öffentlichen Raums spielen in diesem Zusammenhang eine besonders wichtige Rolle. Die Identifikation und das (Wieder-)Erkennen des Gegenübers finden ebenfalls im öffentlichen Raum statt. Die Teilnehmer bedienen sich dabei visueller Ressourcen noch bevor sie zu sprechen beginnen und können sich somit mehr oder weniger frühzeitig und/ oder in einer kleineren oder größeren Entfernung auf die Begegnung einlassen (vgl. hierzu die Analyse der Begegnungen während einer Party in Kendon 1990). Die auch in einer bestimmten Entfernung mögliche Sichtbarkeit der Gesprächspartner ermöglicht eine frühzeitige Bezugnahme, die einen ‘Unbekannten’ in eine ‘Person, die man wiedererkennt’ verwandelt. Dies geschieht durch das gegenseitige Manifestieren eines Bekanntschaftsverhältnisses der Teilnehmer oder auf der Grundlage einer kategorisierenden Analyse (der Unbekannte wird somit beispielsweise als Person identifiziert, die man nach dem Weg fragen kann, als Bekannter, den man nicht sofort erkannt hat usw.; vgl. Mondada 2002). Die Begegnungen im öffentlichen Raum stellen in diesem Aufsatz ein „perspicuous setting“ (Garfinkel/ Wieder 1992) für die Analyse der emergenten Konditionen und Modalitäten der sozialen Interaktion dar. Im öffentlichen Raum lässt sich tatsächlich eine facettenreiche Vielfalt von Interaktionssituationen beobachten: zwischen Passanten und Bettlern (Hinnenkamp 1989), zwischen Käufern und fliegenden Händlern (Duneier 1999), zwischen Passanten, die nach der Uhrzeit, nach dem Weg oder nach der Zeitung der Nachbarn fragen („fleeting relationships“, laut Lofland 1998, S. 53), zwischen Flaneuren, die mit dem Spektakel der Stadt konfrontiert sind (Buck-Morss 1989), sowie zwischen Personen, die heimlichen oder versteckten Handlungen nachgehen, wie Taschendiebe (Maurer 1964), Dealer (Bourgeois 1995), Prostituierte und Freier (die Lofland 1998, S. 53 als „routinized relationships“ definiert und als standardisierte, kategorielle Paarkonstellationen interpretiert), aber auch Individuen, die unbezahlte sexuelle Begegnungen suchen (Humphreys 1970). In solchen Begegnungen ist der öffentliche Raum derjenige Ort, an dem die soziale Beziehung zwischen Unbekannten hergestellt wird und in Erscheinung tritt. Dabei lassen sich Individuen auf Handlungen ein, die durch Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 106 Stefani_Mondada final die Kopräsenz der Teilnehmer möglich sind oder mit einer bestimmten Absicht von einer der anwesenden Parteien eingeleitet werden. Der öffentliche Raum ist außerdem der Ort, an dem Bekannte zufälligerweise aufeinandertreffen können. Diese Möglichkeit wird verstärkt durch die Konvergenz zwischen dem Ort und den Personen, die sich dort aufhalten (Schegloff 1972), was auch in der Wendung „fréquenter des fréquentations“ von Bordreuil/ Ostrowetsky (1989) und Bordreuil (2005) zum Ausdruck kommt. Von den verschiedenen Interaktionen, die im öffentlichen Raum zu beobachten sind, werden wir zwei paradigmatische Begegnungstypen vorstellen, die sich in zweifacher Weise charakterisieren lassen: Begegnungen, die zufälligerweise aus der Kopräsenz der Teilnehmer hervorgehen vs. Begegnungen, die mit einer bestimmten Absicht von einer der Parteien initiiert werden; Begegnungen zwischen Unbekannten vs. Begegnungen zwischen Bekannten. In den folgenden Analysen werden wir für jeden der beiden Begegnungstypen einen paradigmatischen Fall untersuchen: Die finalisierten Begegnungen werden wir anhand von Wegauskünften untersuchen, während die zufälligen Begegnungen durch eine Analyse unvorhergesehener Zusammenkünfte von Bekannten in einem Supermarkt dokumentiert werden. Wir beginnen mit einer einleitenden Darstellung der Daten, auf der Grundlage zweier exemplarischer Analysen (Kap. 2). Die darauf folgende Untersuchung setzt sich mit der räumlichen Organisation der Teilnehmer und mit ihrem Zusammentreffen auseinander, das durch konvergierende Gehrichtungen erreicht wird (Kap. 3), sowie mit der Kategorisierung, der Identifikation und des gegenseitigen Wiedererkennens der Teilnehmer (Kap. 4). In der Folge analysieren wir die Stabilisierung des Interaktionsraums (Kap. 5) und die - je nach Interaktionstypus mehr oder weniger frühzeitige - Einführung des ‘first topic’ in einer ‘anchor position’, womit die Eröffnungsphase beschlossen wird (Kap. 6). Diese unterschiedlichen Themenbereiche werden jeweils auf der Grundlage von Ausschnitten beider Korpora untersucht. 2. Als Einstieg: Zwei exemplarische Analysen In diesem Kapitel stellen wir exemplarisch zwei Begegnungstypen vor, die wir im vorliegenden Aufsatz eingehend untersuchen werden. Es handelt sich zum einen um Wegauskünfte, zum anderen um Begegnungen im Supermarkt. Mit der Gegenüberstellung der für diesen Aufsatz untersuchten Korpora sollen sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Unterschiede und Eigenheiten der beiden Begegnungstypen beschrieben werden. Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 107 Stefani_Mondada final 2.1 Eine Wegauskunft Die Untersuchung der Wegauskünfte hat seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zahlreiche Arbeiten zur räumlichen Referenz hervorgebracht (siehe Schegloff 1972; Auer 1979; Klein 1979, 1982; Wunderlich 1976; Wunderlich/ Reinelt 1982). Trotz des großen Interesses der Wissenschaftler für die referenziellen Aspekte der Wegauskünfte bestehen die bisher untersuchten Korpora fast ausschließlich aus Audiodaten. Auch als Videoaufzeichnungsgeräte immer zugänglicher wurden, sind diese kaum dazu verwendet worden, die multimodalen Ressourcen zu untersuchen, die beim Ablauf solcher Handlungen eingesetzt werden. Diese Tatsache mag überraschen, wenn man bedenkt, welche Rolle beispielsweise die Gestik für die Untersuchung der Deixis spielt, der man gerade in den Studien zu den Wegauskünften besondere Beachtung geschenkt hat. Das hier vorgestellte Korpus stellt in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar. Es wurde in den neunziger Jahren durch ein Forschungsteam aus Marseille erstellt: Mithilfe einer vom eigentlichen Geschehen entfernt platzierten, aber mit einem leistungsfähigen Zoom ausgestatteten Videokamera haben die beteiligten Forscher eine Serie von Wegauskünften gefilmt, die von den Teammitgliedern (die ein schnurloses Krawattenmikrofon mit sich trugen) initiiert wurden. Die so erhobenen Daten wurden einer Gruppe von Forschern zur Verfügung gestellt, die im Rahmen eines kollektiven Bandes (Barbéris/ Manes- Gallo (Hg.) 2007) Analysen mit unterschiedlichen Ansätzen vorlegten und sich zum Teil auch mit multimodalen Aspekten auseinandersetzten. Spezifische Untersuchungen zu den Eröffnungsphasen sind in dieser Perspektive hingegen nicht vorgelegt worden, obgleich die Zuhilfenahme von Videoaufzeichnungen es ermöglicht hätte, Analysen durchzuführen, welche die Bedingungen, unter denen sich einander unbekannte Personen ansprechen, im Detail beschreiben. Dies beabsichtigt der vorliegende Aufsatz, der eine andere Untersuchung ergänzt, welche systematisch die multimodalen Ressourcen beschreibt, die im Verlauf verschiedener sequenzieller Organisationsphasen in den Wegauskünften vorkommen (Mondada 2009). Der folgende Ausschnitt soll als Einführung in die Analyse dienen. Wir legen zunächst ein Gesprächstranskript vor, das die vermeintliche Einfachheit des Wortwechsels darstellt (Ausschnitt 1). Darauf folgt der gleiche Ausschnitt mit einer multimodalen Transkription (Ausschnitt 2): Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 108 Stefani_Mondada final (1) (itin1) 1 E excusez-moi madame/ je cherche l′église saint-roch entschuldigen sie madame / ich suche die kirche saint-roch 2 (0.6) 3 I euh: (.) elle est là\ ehm : ( . ) sie ist dort \ E wendet sich an I und fragt nach dem Weg: Der erste Turn, den sie formuliert besteht aus einer ersten TCU 1 (in Form einer Entschuldigung) und aus einer zweiten, welche die eigentliche Frage nach dem Weg enthält. Die Entschuldigung belegt die erste Position im Turn, der an I gerichtet wird, noch bevor die Gesprächspartnerin adressiert wird (madame). Das Beginnen mit einer Entschuldigung könnte - Goffman folgend - als ein Versuch interpretiert werden, den ‘face’-Angriff auf die Gesprächspartnerin zu minimieren. Die Entschuldigung am Anfang des Turns kann aber auch als eine Praktik untersucht werden, die strukturelle Auswirkungen auf die darauf folgenden Gesprächsphasen hat - wie es Sacks vorzieht und nach ihm die Konversationsanalyse: Die Entschuldigung projiziert unmittelbar die Art der Handlung, welche die Begegnung konstituiert. Des Weiteren trägt sie dazu bei, die Begegnung verstehbar („intelligible“) zu machen und ermöglicht so der Gesprächspartnerin, sich auf einen erwartbaren Handlungsverlauf einzustellen. In diesem Zusammenhang bemerkt Schegloff (1979, S. 33f.): If some talk is undertaken, the first turn regularly displays (by each party for the other) understandings of the outcome of the pre-beginning phase. The types of turn employed begin to constitute a conversation of some type, and are selected, at least partially, by reference to determinations made in the pre-beginning, among them the indentification made there. For example, a greeting, e.g. ‘Hi,’ in first turn can display a claim of recognition by its speaker of its recipient, and can make reciprocal recognition relevant, if it has not already occurrend nearly simultaneously. An ‘excuse me’ in first turn can display an identification of its recipient by its speaker as a ‘stranger’ (as well as displaying, for example, that something other than a full or casual conversation is being intially projected, but rather a single sequence, very likely of a ‘service’ type). Excusez-moi projiziert demnach eine zweite TCU , die eine Bitte um eine Auskunft enthält (und die im vorliegenden Fall indirekt formuliert wird, mit einer Fokussierung auf die erste Person: je cherche l'église saint-roch). Die zweite TCU projiziert die konditionelle Relevanz einer Antwort. Nach einer Pause formuliert I den zweiten Teil eines Adjazenzpaares und verweist, nach einem kurzen Zögern, auf das gesuchte Gebäude. 1 Als TCUs (‘turn-constructional units’; Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974) werden Einheiten bezeichnet, aus denen ein Turn zusammengesetzt ist. Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 109 Stefani_Mondada final Die Analyse dieses Wortwechsels leitet unsere Aufmerksamkeit auf die Projektionen, die durch die Folge von TCU s und durch das Adjazenzpaar entstehen. Sie lässt jedoch keine Aussagen über die Bedingungen zu, welche den so organisierten Wortwechsel überhaupt ermöglicht haben. Die Videoaufzeichnung kommt uns hier zu Hilfe. Es lässt sich damit zeigen, dass die detaillierte Temporalität und Sequenzialität der ersten TCU s auf eine sehr präzise Weise mit den räumlichen Bewegungen der Teilnehmerinnen koordiniert sind. Wir ergänzen das erste Transkript mit den multimodalen Details, die diesen Ausschnitt charakterisieren: (2) (itin1 - multimodale Transkription) 1 E #exc*#usez-moi mada*me#/ entschuldigen sie madame / bild #1 #2 #3 >>geht vorwärts-----------------------> I >>bli. vorw.*bli. unten*bli. E, geht vorw.--> Bild 1 Bild 2 Bild 3 2 E je cher*che + l‘é#glise saint-#ro*+ch*# ich suche die kirche saint-roc bild #4 #5 #6 -->+hält an, beginnt körperdrehung+wechselt fuß--> I *legt hand auf tasche-->> I --->*hält an, dreht sich um* Bild 4-6: sich steigernde Körperdrehungen von I und E Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 110 Stefani_Mondada final 3 *(0.6) #* bild #7 I, E * die teiln. stehen sich gegenüber, schauen sich an * Bild 7: Einstellung und Stabilisierung einer F-formation als Face-to-Face-Situation 4 I *euh: * (.) elle est #là\ * ehm : ( . ) sie ist dort\ *ändert blickrichtung*....pointing* bild #8 Bild 8 Durch die sequenzielle Analyse dieses Ausschnittes kann im Detail gezeigt werden, wie die Interaktionseröffnung mit multimodalen Ressourcen gleichsam verkörpert wird. 1) E und I begegnen sich frontal. Ihre Gehrichtungen sind parallel und unabhängig voneinander. E adressiert I noch im Gehen, während letztere vor sich her schaut (Bild 1). E verlangsamt ihren Schritt, während sie excusezmoi madame/ sagt; I geht weiter vorwärts, senkt ihren Blick (Bild 2) und richtet ihn dann auf E (Bild 3), ohne dabei etwas zu sagen oder zu tun, das als Antwort auf Es erste TCU gelten könnte. Während beide Teilnehmerinnen noch in Bewegung sind und das einzige Erkennungssignal von Seiten Is der Blick ist, den sie auf E richtet, formuliert E einen Grund für das Ansprechen der Passantin: je cherche l'église saint-roch. Interessanterweise besteht die erste Bewegung Is darin, ihre Handtasche mit der Hand zu bedecken (Bild 4): Diese Geste ist nicht zufällig, da sie eine mögliche zweifelhafte Kategorisierung Es und der Gründe, die diese haben könnte um I anzusprechen, manifestiert. Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 111 Stefani_Mondada final 2) E bleibt als erste stehen (nach je cherche, während sie den räumlichen Gegenstand einführt) und leitet eine Drehung des Körpers ein - der bisher nach vorne gerichtet war -, um ihn auf I zu richten. I bleibt ihrerseits wenig später stehen (als E das Element roch ausspricht) und wendet sich ebenfalls E zu (Bild 4-6). Das Stehenbleiben ist also ein Vorgang, der vom Schwung der Vorwärtsbewegung der Passantinnen abhängt. Die darauf folgenden Körperdrehungen ermöglichen die Neuorientierung der Teilnehmerinnen, indem sie ihre ursprünglichen Gehrichtungen verlassen und sich in eine Face-to-Face-Situation begeben, die während einer Pause entsteht (Z. 3). Die zwei Passantinnen sind nun zu Teilnehmerinnen derselben Interaktion geworden und manifestieren diesen Status durch eine stabilisierte, auf zwei Beinen ruhende Körperhaltung und durch reziproke Blickrichtungen (Bild 7). 3) Erst danach dreht I wieder ihren Kopf und folglich den gesamten Körper, und deutet schließlich mit dem Finger auf einen Gegenstand im Raum, während sie Es Frage beantwortet. Man erkennt in diesem kurzen Ausschnitt, dass verschiedene Bedingungen während der Eröffnungsphase vollführt werden müssen, damit die Interaktion erfolgen kann. Zusammenfassend - und auf der Grundlage der drei besprochenen Eröffnungsphasen - lässt sich Folgendes festhalten: 1) Die reziproke Orientierung der Teilnehmerinnen wird während der allmählichen Bezugnahme auf die mögliche imminente Interaktion hergestellt - sowohl durch die Veränderung der Gehrichtung und die Orientierung des Körpers und der Blickrichtung derjenigen Person, die die Begegnung eröffnet, als auch durch den Redebeitrag, den diese an die Passantin richtet, die somit allmählich zu ihrer ‘Gesprächspartnerin’ wird. Letztere lässt sich nach und nach auf diese Initiative ein. Man beachte, dass diese Begegnung zwischen ‘Unbekannten’ während eines Augenblicks in einer kategoriellen Ungewissheit bleibt: Indem I ihre Handtasche an sich drückt, bereitet sie sich auf die Möglichkeit vor, dass die Passantin, die sie anspricht, eine dubiose Händlerin oder gar eine Diebin ist. Sie lässt im Übrigen ihre Handtasche auch dann nicht los, als sie sich mit E auf die Wegbeschreibung (die sich im vorliegenden Fall auf das Verweisen auf ein Objekt beschränkt) einlässt. 2) Die Individuen konstituieren den Interaktionsraum und den gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus im Verlauf der Interaktion auf emergente Weise und werden dadurch zu ‘Teilnehmerinnen’. Der Interaktionsraum entsteht Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 112 Stefani_Mondada final schrittweise aus dem Übergang von einer nichtfokussierten zu einer fokussierten Interaktion und verändert sich allmählich mit den Handlungen der Teilnehmerinnen (vgl. Mondada 2007b, 2009). In Bezug zum Aufmerksamkeitsfokus lässt sich festhalten, dass der Anlass der Begegnung formuliert wird, noch bevor die Teilnehmerinnen still stehen: Es ergibt sich somit eine Präferenz für eine möglichst rasche Äußerung des Motivs, das zum Ansprechen einer unbekannten Person geführt hat und das jegliche Zweifel bezüglich der kategoriellen Zugehörigkeit der ansprechenden Person sowie der eigentlichen Handlung vertreibt. Die Gehrichtung der Individuen scheint außerdem eine vorwärtsweisende Bewegung zu projizieren, die nicht abrupt unterbrochen wird, sondern allmählich zum Stillstand kommt, mit der graduellen ‘Entdeckung’ des Anlasses der Begegnung. 3) Die Handlung, auf die sich die Teilnehmerinnen folglich einlassen, impliziert eine andere räumliche Positionierung der Körper, die sich nicht mehr gegenüber stehen, sondern sich Seite an Seite mit einer gemeinsamen Orientierung auf das Ziel der Ortsbeschreibung disponieren. Dieser Übergang wird schrittweise realisiert: durch Änderungen der Blickrichtungen, durch Körperdrehungen und durch die ‘pointing’-Geste. Der Interaktionsraum wird somit in Verbindung mit den praktischen Handlungen der Teilnehmerinnen neu konfiguriert. 2.2 Eine Begegnung im Supermarkt Kaufhäuser stellen seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor allem im Rahmen der Soziolinguistik ein interessantes Forschungsterrain dar: Neben Labovs Studie zur Aussprache des Phonems / r/ durch Angestellte verschiedener Warenhäuser New Yorks (Labov 1972, S. 43-69) sind aus soziolinguistischer Perspektive Untersuchungen zum Sprachwechsel in mehrsprachigen Gemeinschaften (Gardner-Chloros 1991) und zu den Anredeformen (Timm 2001) in den Verkaufsgesprächen vorgelegt worden. Die interaktionalen Aspekte sind hierbei nur in spärlichem Maße untersucht worden. Nach dem pionierhaften Aufsatz von Mitchell (1957) über die Struktur der Verkaufsgespräche auf libyschen Märkten prägt Merritt (1976a, b, c) den Begriff der ‘Service Encounters’ und definiert damit das Verkaufsgespräch als Untersuchungsobjekt. Die Untersuchungen zur Interaktion in Warenhäusern und kleineren Läden haben in der Folge verschiedene Settings berücksichtigt, wie Buchläden (Aston (Hg.) 1988) und Märkte (Lindenfeld 1990, Clark/ Pinch 1995, Strähle 2002). 2 Das Augenmerk wurde hierbei stets auf das Verkaufsgespräch zwi- 2 Die Erforschung der ‘Service Encounters’ ist auch im Rahmen der Diskursanalyse unternommen worden: vgl. Ventola (1987); Filliettaz (2003, 2004, 2006); Ryoo (2005, 2007). Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 113 Stefani_Mondada final schen einem Kunden und einem Angestellten (Verkäufer, Marktschreier etc.) gerichtet. Es wurde hingegen vernachlässigt, andere Gesprächstypen zu untersuchen, die in kommerziellen Settings ebenfalls vorkommen. Bei Einkaufstouren, die von Kundenpaaren unternommen werden, sind beispielsweise Gesprächssequenzen zu beobachten, an denen ausschließlich Kunden beteiligt sind: Kundenpaare treffen gemeinsam Kaufentscheidungen, orientieren sich im Raum, organisieren ihre Einkaufshandlungen usw. (vgl. De Stefani 2006, 2007a; De Stefani/ Mondada 2007). Kunden können aber auch mit anderen Kunden interagieren, denen sie zufälligerweise begegnen und die ihnen entweder unbekannt (vgl. De Stefani 2007b) oder bekannt sind. Die zufälligen Begegnungen zwischen Bekannten sind bisher nicht untersucht worden: Im Zusammenhang mit den Eröffnungssequenzen stellen deshalb solche Begebenheiten ein interessantes Forschungsobjekt dar. Im Unterschied zu den Eröffnungen der Wegauskünfte - die eine gegenseitige Identifikation der Gesprächsteilnehmer erfordern - ist bei den Begegnungen zwischen Bekannten ein reziprokes (Wieder-)Erkennen relevant. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf ein Korpus, das in einem Supermarkt der italienischen Schweiz erhoben wurde. Drei Paare sind auf ihrem Einkaufsbummel durch das Warenhaus von einem mit einer Videokamera ausgestatteten Forscher gefolgt worden. Dabei sind auch unvorhergesehene Begegnungen aufgezeichnet worden, wie aus folgendem Ausschnitt hervorgeht: (3) (cons4581/ 02: 36-03: 06) 1 AND sandro# bild #9 2 (0.3) 3 SAN (carissimo com’è)# ( mein bester wie steht's ) bild #10 4 AND éh bene\ (.)#comple*anno/ # ja gut\ ( . ) geburtstag / bild #11 #12 san .......*bleibt stehen 5 *(0.5) and *...--> 6 SAN no (la festa) xxxx*x= nein ( das fest ) xxxxx= val ...........*bleibt stehen 7 AND *#=(ah) della mamma/ = ( ah ) der mutter / bild #13 -->*bleibt stehen Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 114 Stefani_Mondada final 8 SAN éh bravo\ ja genau\ 9 (0.4) 10 AND domani neh/ morgen ne / 11 (0.2) 12 SAN ‘eh: ‘ehe 13 (0.9) 14 AND cos’hai comprato (.) cannoli was hast du gekauft ( . ) cannoli 15 SAN tortone qui quaranta franc una tortina inscì [xxx riesentorte hier vierzig franken ein solches törtchen [xxx Untersuchen wir diesen Ausschnitt auf der rein verbalen Ebene, so stellen wir fest, dass die Gesprächseröffnung anders strukturiert ist als im vorhergehenden Ausschnitt. Andreas ( AND ) formuliert einen Turn, der einzig aus dem Namen der auf ihn zukommenden Person besteht (Z. 1). Damit gibt er zu erkennen, dass er Sandro ( SAN ) als Bekannten erkannt und ihn gleichsam als nächsten Sprecher ausgewählt hat. Nach einer kurzen Pause beginnt dieser seinen Turn ebenfalls mit einem Element, das ein soziales Erkennen manifestiert (carissimo, Z. 3). In der zweiten TCU des Turns eröffnet Sandro ein Adjazenzpaar (com'è), das auch in den Eröffnungen von Telefongesprächen zwischen Bekannten konstitutiv in Erscheinung tritt und als „how-are-you sequence“ beschrieben worden ist (Schegloff 1986). Andreas beschließt das Adjazenzpaar mit den Worten éh bene\ (Z. 4) und schlägt nach einer kurzen Pause ein mögliches erstes Gesprächstopic vor (compleanno/ ). Auch dieser neue Gesprächsabschnitt wird durch das Eröffnen eines Adjazenzpaares eingeleitet. Der weitere Verlauf des Gesprächs wird auf ähnliche Weise vor allem durch Adjazenzpaare strukturiert (Z. 7-8, Z. 10-12, Z. 14-15), die alle von Andreas initiiert werden. Im Unterschied zum weiter oben untersuchten Ausschnitt einer Wegauskunft lässt sich in diesem Ausschnitt eine elaborierte Konstruktion des Gesprächstopics feststellen. Nach dem reziproken Sich-Erkennen, das die Teilnehmer in den beiden ersten Turns erreichen, folgt eine kurze ‘How-are-you’-Sequenz und schließlich der Übergang zum ersten Topic. Im Unterschied zu den Wegauskünften liegt dieser Begegnung kein konkretes Informationsbedürfnis zugrunde. Der Gesprächsverlauf ist aus dieser Hinsicht offen. Das Gespräch kann sich beispielsweise auf das reziproke Erkennen und Begrüßen beschränken: Dieser Gesprächsverlauf wird üblicherweise dadurch signalisiert, dass die Teilnehmer, die sich zueinander bewegen, nicht stehenbleiben. Das Stehenbleiben der Teilnehmer geht hingegen syste- Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 115 Stefani_Mondada final matisch mit der Einführung eines ‘first topic’ einher. Wie der Übergang zum ersten Gesprächsthema mit den Positionsänderungen der Teilnehmer korreliert, geht aus der Betrachtung der Videodaten hervor: Bild 9 Bild 10 Bild 11 Bild 12 Bild 13 Aus Bild 9 und 10 geht hervor, dass die Phasen des gegenseitigen Erkennens und der ‘How-are-you’-Sequenz realisiert werden, während die Teilnehmer noch in Bewegung sind. Sie gehen frontal aufeinander zu, wobei Sandro (Bild 10) bereits von der ursprünglichen, geraden Bahn seiner Bewegung abweicht. Während Sandro folglich seinen Gang verlangsamt und sich körperlich nach Andreas und seiner Partnerin ausrichtet, richten sich diese nur mit dem Kopf nach Sandro, wohingegen ihre Körper weiterhin in Richtung des Haupteingangs des Einkaufszentrums orientiert sind (Bild 11). In dieser Situation führt Andreas ein erstes Topic ein, welches, wie aus Bild 12 hervorgeht, durch das Auftreten Sandros motiviert ist: Sandro trägt eine Schachtel in der Hand, auf welche sowohl er als auch Andreas und Valentina ( VAL ) ihren Blick richten. Andreas' Frage nach einem compleanno/ (Z. 4), zeigt, dass der Teilnehmer diese als Tortenschachtel kategorisiert und daraus ein mögliches Gesprächsthema ableitet. Auch in diesem Ausschnitt - wie in der vorher beschriebenen Wegauskunft - wird das erste Topic eingeführt, bevor die Teilnehmer stillstehen. Die Herstellung eines vorübergehend statischen Interaktionsraums, wie er aus Bild 13 hervorgeht, wird erst gegen Ende von Sandros Turn in Z. 6 erreicht, zu einem Zeitpunkt, in dem ein Sprecherwechsel relevant ist. Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 116 Stefani_Mondada final Die einleitende Analyse dieses Ausschnitts zeigt, dass die Gesprächseröffnung durch multimodale Praktiken verwirklicht wird. Die emergente reziproke Orientierung der Teilnehmer stellt den Ausgangspunkt sozialer Interaktion dar. In dieser Phase findet das (Wieder-)Erkennen statt, das folglich die Konstitution eines Interaktionsraums ermöglicht. In Ergänzung zu der in Abschnitt 2.1 beschriebenen Wegauskunft lassen sich in diesem Ausschnitt Verhaltensweisen beobachten, die für die weiterführende Untersuchung der Eröffnungssequenzen von Bedeutung sind: 1) Die Einführung des ‘first topic’ findet nicht unmittelbar nach der Kontaktaufnahme statt, sondern kann durch Pausen oder ‘How-are-you’-Sequenzen in den späteren Gesprächsverlauf verschoben werden. Es scheint, dass die Einleitung eines Gesprächsthemas erst dann relevant wird, wenn die Teilnehmer sich gegenseitig verdeutlichen, dass sie stehen bleiben werden. In anderen Worten: Wenn die Teilnehmer ihre Fortbewegung unterbrechen, müssen sie sich auch auf ein Gespräch einlassen. Reflexiv betrachtet scheint die Nennung eines Gesprächstopics zu signalisieren, dass die Teilnehmer stehen bleiben und einen Interaktionsraum konstituieren. So geht in Ausschnitt (3) die Einführung des ‘first topic’ mit dem Stehenbleiben eines Gesprächsteilnehmers einher (Z. 4). Im Unterschied zu den Wegauskünften ist das Gesprächsthema hier nicht durch ein Informationsbedürfnis eines Teilnehmers vorgegeben. Dieses muss gemeinsam gesucht, erarbeitet werden. Eine Möglichkeit, ein Gesprächsthema zu definieren besteht in der Ausschöpfung situativer Ressourcen: In Ausschnitt (3) bildet ein Objekt (die Tortenschachtel) die Basis für das ‘first topic’. 2) Der Interaktionsraum, der durch die reziproke Orientierung der Gesprächsteilnehmer erreicht wird, kann auf unterschiedliche Weise konstituiert werden. In Bild 13 wird ersichtlich, dass Sandro den ganzen Körper auf Andreas ausrichtet. Andreas und Valentina orientieren sich nur mit dem Kopf nach Sandro, während ihre Körper eine Seitenposition einnehmen. Diese Art der Positionierung - weder vollständig auf den Gesprächsteilnehmer gerichtet, noch auf die ursprüngliche Gehrichtung zum Haupteingang hin - deutet darauf hin, dass Andreas und Valentina sich nur auf ein kurzes Gespräch einlassen. Diese Interpretation stützt sich auch auf die Position des Einkaufswagens, der auf den Eingang des Einkaufszentrums gerichtet ist. 3) Im Unterschied zu den Audiodaten haben die Videodaten außerdem gezeigt, dass eine dritte Teilnehmerin an der Begegnung beteiligt ist: Valentina partizipiert nur mit nicht verbalen Handlungen an der Interaktion. Sie Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 117 Stefani_Mondada final nimmt als „Bystander“ (Goffman 1981) zwar am Geschehen teil, wird aber von den anderen Gesprächsteilnehmern nur als periphere Teilnehmerin behandelt (vgl. 5.3.2). 2.3 Zwischenbilanz: Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Interaktionstypen Die beiden untersuchten Interaktionstypen weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf, welche für die Analyse von Gesprächseröffnungen von Bedeutung sind. - Es handelt sich um soziale Begegnungen, die weder vorgängig geplant noch inszeniert sind, die von den Teilnehmern nicht erwartet werden und auf die sie deshalb nicht vorbereitet sind. Diese Tatsache ermöglicht die Analyse nicht angekündigter Eröffnungen - im Gegensatz zu den Eröffnungen von Telefongesprächen und multimedialer Ereignisse (vgl. Mondada 2008 in diesem Band), aber auch zu privaten Besuchen, die durch das Klingeln an der Tür angekündigt werden (vgl. Oloff in diesem Band) und nicht zu letzt zu geplanten Arbeitssitzungen (vgl. Heidtmann in diesem Band). - Es handelt sich um soziale Begegnungen die sich in einem (halb)öffentlichen Raum abspielen: Mehrere Personen können dort gleichzeitig anwesend sein, ohne dass diese gezwungen sind, miteinander zu interagieren, wobei ihre Bewegungen und Handlungen für eine visuelle, nicht-fokussierte Inspektion anderer verfügbar sind (im Gegensatz zu Interaktionen, die in einem geschlossenen Raum stattfinden, in dem die Art und Weise des Eintretens die Selektion und Ratifikation der Teilnehmer ermöglicht). - In dieser Hinsicht ermöglichen diese sozialen Situationen, die Begegnung als ein emergentes Phänomen zu analysieren, das eine allmähliche Transformation der Personen im öffentlichen Raum vollzieht, wodurch letztere zu Teilnehmern einer fokussierten Interaktion werden. Die Untersuchung von Situationen dieser Art ist deshalb interessant, weil dadurch aufgezeigt werden kann, wie sich die materiellen und sozialen Bedingungen, die für das Entstehen der Interaktion notwendig sind, nach und nach entfalten. Jenseits dieser gemeinsamen Merkmale, weisen beide Interaktionstypen interessante Eigenheiten auf: - In beiden Fällen handelt es sich um zufällige, nicht vorbereitete Begegnungen: Im Falle der Wegauskünfte spielen sich diese zwischen Unbekannten ab, während sie im Supermarkt zwischen Personen stattfinden, die sich Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 118 Stefani_Mondada final mehr oder weniger bekannt sind. Im ersten Fall geht es folglich darum, reziproke Identitäten der Teilnehmer zu konstituieren, während im zweiten Begegnungstypus diese wieder erkannt oder wieder konstituiert werden müssen. Dieser Unterschied kann jedoch relativiert werden, wenn man bedenkt, dass in beiden Fällen das gegenseitige Erkennen relevant ist: Im Supermarkt besteht die Aufgabe darin, diejenige Person, die einem als ‘bekannt’ erscheinen sollte, sofort zu erkennen, auch wenn das Aufeinandertreffen unerwartet ist; bei den Wegauskünften muss möglichst schnell ein kategorielles ‘Erkennen’ ermöglicht werden, das das Gegenüber in Bezug zu einer Kategorie identifiziert, welche die Begegnung als ‘accountable’ erscheinen lässt (das Erkennen der initiierenden Person als Touristen geht einher mit der Deutung der Begegnung als eine Wegauskunft - wobei andere Verbindungen zwischen einer Kategorie und einer ‘category-bound activity’ potenziell verfügbar wären, wie z.B. ‘Bettler’/ ‘wohltätige Handlung’, ‘Händler’/ ‘Verkaufshandlung’ usw.). - Ein weiterer Unterschied betrifft die Beteiligung der Teilnehmer an der Einleitung der Begegnung: Während die Kontaktaufnahme bei den Wegauskünften durch eine Partei initiiert (und damit aktiv organisiert) wird, die eine andere Partei anspricht, ist dies im Supermarkt nicht unbedingt der Fall, auch wenn die eine Partei die andere frühzeitig erkennen und auf sie zugehen kann. - Die räumliche Organisation wird in den beiden Handlungen auf unterschiedliche Art und Weise ausgenutzt: Die Person, die die Wegauskunft initiiert, bedient sich der Sichtbarkeit der Straße und der Gehrichtungen, die in den zufälligen Begegnungen im Supermarkt nicht immer gegeben ist, z.B. wenn zwei Personen sich plötzlich am Ende eines Regals gegenüberstehen - in einem komplexen Raum, der von Gegenständen bevölkert ist, welche die Aufmerksamkeit der Teilnehmer prioritär auf sich ziehen. - Die praxeologischen Kontexte in denen die zwei Begegnungsarten stattfinden, charakterisieren sich in Bezug zu den dort möglichen Handlungen durch unterschiedliche strukturelle Erwartungen und Bedingungen: Im Supermarkt sind die Personen üblicherweise mit dem gleichen Handlungstypus (d.h. dem Einkaufen) beschäftigt, während in der Straße zahlreiche soziale Handlungen existieren, die Passanten mit einbeziehen können (spazieren, an einen bestimmten Ort gehen, warten, einer geschäftlichen Handlung nachgehen usw.) und die eine Unterscheidung ermöglichen, zwischen denjenigen Personen, die ‘vorbei gehen’, und denjenigen, die in der Straße ‘verweilen’. Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 119 Stefani_Mondada final - Die Begegnungen weisen unterschiedliche praktische Ziele auf. Die Wegauskunft ist darauf ausgerichtet, möglicht rasch eine Bitte um eine Information (eine Dienstanfrage) zu formulieren, während die Begegnung im Supermarkt kein vordefiniertes Ziel verfolgt: Ein allfälliges Topic wird erst im Verlauf der Begegnung konstituiert, wobei das Manifestieren der Bekanntschaftsbeziehung im Vordergrund steht und das Gespräch nicht selten nach einer eröffnenden Begrüßung beendet wird. Die folgende Analyse erläutert die bisher beschriebenen Charakteristika auf der Grundlage dreier besonders wichtiger Aspekte, die für Begegnungseröffnungen dieser Art bezeichnend sind: Die Rolle des Raums und die Art und Weise, in der die Teilnehmer auf aktive Weise ihr ‘Aufeinander-Zukommen’ organisieren (Kap. 3), die Praktiken der Kategorisierung, der Identifikation und des reziproken (Wieder-)Erkennens (Kap. 4), die Stabilisierung der daraus hervorgehenden F-formation (Kap. 5) und schließlich die ersten Redebeiträge des Wortwechsels, die auf eine gegenseitige Begrüßung ausgerichtet sind oder auf ein möglichst rasches Einführen des Anlasses, der zur Begegnung führt (Kap. 6). Die Untersuchung dieser Aspekte erfolgt unter Berücksichtigung der Eigenheiten der zwei Interaktionstypen. 3. Die methodische Organisation der Gehrichtungen und das räumliche Konvergieren der Teilnehmer Die Interaktionseröffnungen im öffentlichen Raum verweisen auf die Bedeutung des Raums für die Entstehung interaktionaler Handlungen und ihrer Teilnehmerkonstellationen. Personen, die zufälligerweise aufeinanderstoßen, halten sich am gleichen Ort auf, ohne dies vorher besprochen zu haben: Sie koexistieren zwar dort, treten aber nicht zwingend ‘zusammen’ auf. Mit dem Zusammenkommen der Teilnehmer gehen diese von einer nicht-fokussierten zu einer fokussierten Interaktion über: Sie richten ihre Gehrichtungen nicht mehr auf das gegenseitige Ausweichen aus, sondern auf ein Konvergieren ihrer Körper; sie richten ihre Aufmerksamkeit nicht mehr auf verschiedene Foki sondern auf einen gemeinsamen Fokus und ein gemeinsames Ziel (Goffman 1963). Das Zusammenkommen ist ein praktischer Vollzug der durch Bewegungen im Raum und durch das Konstituieren einer visuellen (und erst später auch einer verbalen) Beziehung zustande kommt. Zwei sehr unterschiedliche Aspekte des Raums sind in solchen Begegnungen von Bedeutung: - Die Eigenschaften des umgebenden Raums spielen eine wichtige Rolle für die reziproke Sichtbarkeit (wenn sich keine Hindernisse im Raum befin- Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 120 Stefani_Mondada final den, ist die Sichtbarkeit auf großer Distanz möglich; diese kann durch Gegenstände, die den Raum bevölkern, beträchtlich reduziert werden) und für das Konvergieren der Bewegungen (z.B. die lineare Form einer Straße oder eines Weges wirkt sich anders auf die konvergierenden bzw. divergierenden Bewegungen der Personen aus als weniger begrenzte Flächen, wie z.B. Plätze und Parks). Es sei hier dennoch auf die Tatsache verwiesen, dass die materiellen Eigenschaften des Raums nur dann zu Handlungsressourcen der Teilnehmer werden, wenn diese sie als relevante Eigenschaften für und durch die Organisation ihrer interaktionalen Handlungen exhibieren und verwenden (in einer im ethnomethodologischen Sinne ‘reflexiven’ Beziehung der wechselseitigen Konstitution). - Der Interaktionsraum entsteht durch die Ausrichtung der Körper der Teilnehmer (Mondada 2005, 2007d), die durch ihr Konvergieren auf dynamische Weise eine räumliche Konstellation schaffen, in der sie sich aufeinander orientieren und damit eine „F-formation“ (Kendon 1990) bilden. Der Interaktionsraum ist nicht losgelöst von der materiellen Umgebung, wie die Untersuchungen von Goodwin (2000) beispielhaft belegen, insbesondere im Zusammenhang mit der strukturierenden Rolle, welche beim Himmel-und-Hölle-Spiel die auf den Boden gezeichneten Gitterlinien spielen; desgleichen die Linien, die Archäologen während der Ausgrabungen in den Sand zeichnen. Die materielle Umgebung bildet vielmehr eine mögliche Ressource - eine andere Ressource sind die Körper der Teilnehmer - die der Bildung eines koordinierten Handlungsraums dient, der ebenso flexibel und wechselhaft ist wie die Handlung selbst. Der Interaktionsraum lässt die räumliche Verankerung des Partizipationsrahmens (Goffman 1981; Goodwin/ Goodwin 2004) erkennen, wie sie durch die Blickwechsel und die Körperhaltungen in der materiellen Umgebung vollzogen wird. Diese koordinierenden, dynamischen Aspekte zeigen, inwieweit das Gehen ein kollektives, koordiniertes Handeln ist, das auf akkurate Weise im Raum organisiert ist (zum Gehen der Passanten als soziale Praktik siehe Ryave/ Schenkein 1974, Quéré/ Bretzger 1992, Lee/ Watson 1993, Watson 2005). Das Konvergieren der Gehrichtungen der künftigen Teilnehmer bedarf in den hier untersuchten Begegnungen unterschiedlicher Organisationsarten: Personen, die nach dem Weg fragen, richten sich an Unbekannte und müssen die Koordination der Gehrichtungen in einer asymmetrischen Situation angehen, in der die Initianten der Begegnung den angesprochenen Personen gegenüber die eigene Handlung als ‘accountable’, als erkennbar darstellen müssen (3.1). Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 121 Stefani_Mondada final Bei den zufälligen Begegnungen zwischen Bekannten im Supermarkt geht die Koordination der Gehrichtungen vom gegenseitigen (Wieder-)Erkennen aus, das andere Bedingungen in Bezug zur Verständlichkeit (‘accountability’) der räumlichen Bewegungen der Personen impliziert (3.2). 3.1 Auf Unbekannte zugehen Fußgänger, die nach einem Weg fragen, sind dem praktischen Problem ausgesetzt, das räumliche Konvergieren der Körper organisieren zu müssen, und dies zu einem Zeitpunkt, in dem der künftige Gesprächspartner noch gar nicht weiß, dass er bald aufgefordert wird, zu interagieren. Eine Möglichkeit, dieses praktische Problem zu lösen, besteht darin, bei der Annäherung die eigene Sichtbarkeit zu maximieren. Die Initiantin der Interaktion positioniert sich so auf der Straße, dass sie in das Sichtfeld der künftigen Gesprächspartner gerät. Tatsächlich sind im vorliegenden Korpus keine Ausschnitte enthalten, in denen die Wegauskunft hinter dem künftigen Gesprächspartner eingeleitet würde - im Gegensatz zu den Begegnungen, die im Supermarkt zu beobachten sind (vgl. Kap. 3.2.2). Die Passantinnen organisieren vielmehr eine Bewegung hin zum künftigen Gesprächspartner, sodass dieser sie im eigenen Sichtfeld erkennen kann. So lässt sich im weiter oben besprochenen Ausschnitt 1-2 beobachten, dass I die Teilnehmerin E von vorne anspricht, wobei beide frontal aufeinander zugehen und allmählich konvergierende Gehrichtungen einnehmen, die kurz zuvor noch einen parallelen Verlauf hatten. Neben dieser ersten frontalen Art der Annäherung lässt sich auch eine seitliche oder laterale Annäherung beobachten. Das Organisieren der frontalen bzw. lateralen Annäherung scheint unterschiedliche Probleme hervorzurufen. Sind die Gehrichtungen frontal, kann das Erkennen des Gegenübers schneller stattfinden, wobei es durch die Projektabilität des Vorwärtsgehens, durch die Gesichtsmimik, durch die Blickrichtung usw. gleichsam vorbereitet wird. Sind die Gehrichtungen lateral, so findet das Erkennen später statt - und kann u.U. zu Ausweichmanövern führen. Wir besprechen in den folgenden Abschnitten beide Annäherungsmethoden. 3.1.1 Die frontale Annäherung Das frontale Konvergieren der Teilnehmer scheint die einfachste räumliche Konstellation der Begegnung im Hinblick auf eine Wegauskunft darzustellen, wie folgender Ausschnitt belegt: Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 122 Stefani_Mondada final (4) (itin12 - 2.29.54 / 15,12) 0 E/ F ((gehen vorwärts)) # bild #14 Bild 14 1 E ((schaut vor sich)) 2 E ((schaut zu F#)) bild #15 3 E ((schaut vor sich)) Bild 15 4 E ceux-là/ diese dort / 5 (0.3) 6 F oui: \ j’sais pas *s’ils sont de montpellier/ ja : \ ich weiß nicht ob sie aus montpellier sind / E/ F *verändern bahn, gehen auf P,M zu—>> 7 on va #leur demander wir fragen sie bild #16 Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 123 Stefani_Mondada final Bild 16 8 (0.3) * # (0.1)* P/ M *........* bild #17 9 F *#eu[h: : : # eh [ m : : : P/ M *schauen zu F und E-->> bild #18 #19 10 E [(x) l’église saint-ro*ch* die kirche saint-roch P/ M >>gehen vorw.-->*halten an* Bild 17 Bild 18 Bild 19 .... Beginn des euh: : : Ende des euh: : : E initiiert eine Koordinationssequenz mit F, sowohl verbal (wie wir später im Zusammenhang mit den kategoriellen Aspekten vertiefen werden; vgl. Kap. 4.1), als auch auf visueller Ebene: E richtet sich in der Tat nach F und wirft einen kurzen Blick auf sie (Bild 15). Diese Koordination ist auf die Kontaktaufnahme mit P und M gerichtet, die sich gegenüber von E und F befinden. Die beiden Paare gehen frontal aufeinander zu (Bild 14). Unmittelbar nach Fs oui (Z. 6), verändern die beiden Frauen ihre Gehrichtung und orientieren sich auf die Passantinnen. Diese Bewegung - welche die ursprünglich parallele Gehrichtung verändert - wird von P und M erkannt, die während der Pause (Z. 8, Bild 17) ihre Köpfe nach E und F richten und während Fs euh: : : (Z. 9, Bild 18 und 19) ihre Blicke auf sie orientieren. Die zeitli- Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 124 Stefani_Mondada final che Positionierung von Es Frage - die sich dadurch auszeichnet, dass sie Es euh: : : überlappt - ist mit den veränderten Blickrichtungen abgestimmt: Die Formulierung der Bitte um eine Wegauskunft beginnt in der Tat, sobald sich die Blicke der Teilnehmerinnen kreuzen. Dieser Ausschnitt zeigt, inwieweit die Veränderung der Gehrichtung in einem öffentlichen Raum für die Passanten sichtbar ist, noch bevor diese angesprochen werden. Die ursprüngliche Gehrichtung wird so verändert, dass sie ohne Ausweichmanöver zu einem Aufeinandertreffen der Körper führen würde. Diese Gehrichtung ist projizierbar und deren Veränderung ist damit für die Teilnehmerinnen ‘erkennbar’ und wird tatsächlich auch als solche erkannt. 3.1.2 Die laterale Annäherung Erfolgt die Annäherung seitlich, beobachtet man eine komplexere Organisation der Gehrichtungen, wie aus dem folgenden Ausschnitt hervorgeht: Als E und F von ihrer ursprünglichen Gehrichtung abzweigen und auf einen Passanten zugehen, ändert dieser seine eigene Bewegungsrichtung und leitet einen Umgehungsversuch ein, um E und F auszuweichen: (5) (itin11 - 2.24.19 - 11/ 14) 1 E #°ouais/ °# ° ja / ° bild #20 #21 Bild 20 Bild 21 2 (0.*3)* P *kurzer blick zu E und F* 3 F #euh °euh: : : ° # pardon mons*ieur#/ ehm ° ehm : : : ° entschuldigung monsieur / bild #22 #23 #24 P *bli. F--> Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 125 Stefani_Mondada final Bild 22 Bild 23 Bild 24 4 P oui: ja : E und F koordinieren sich durch ein einfaches °oui/ ° Es und orientieren sich dann in Richtung des Passanten P. Sie gehen gemeinsam auf ihn zu, wobei sie in Bezug zu seiner Gehbahn eine schräge Bewegungsrichtung einnehmen (Bild 21). Interessanterweise richtet P kurz seinen Blick auf E und F als diese ihre Gehrichtung ändern (Z. 2); kurz danach, zu Beginn von Fs °euh: : : ° ändert er ebenfalls seine Gehrichtung, indem er von der geraden Bahn abweicht und nach rechts schwenkt. Das Projektibilitätspotenzial der Gehrichtungen wird hier deutlich: Es ermöglicht zum einen, E und F das Konvergieren mit Ps Gang durch die Straße zu organisieren, zum anderen erlaubt es P, die Änderung in E und Fs Gehrichtung festzustellen und seinerseits eine veränderte Bahn einzuschlagen, um die erwartbare Kollision mit den auf ihn zukommenden Personen zu verhindern. Während des Elements °euh: : : ° - und während die beiden Frauen sich P nähern - ,schweift P denn auch von seiner ursprünglichen Bahn ab (Bild 23). Er geht weiter vorwärts und leitet eine Umgehung ein, womit er das Ausweichen der beiden Passantinnen projiziert, die rechts an ihm vorbei gehen könnten (hätte er seine ursprüngliche Gehrichtung beibehalten, hätten sie ihn zu seiner Linken passieren müssen). Erst nach dem °euh: : : °, als F die Worte pardon monsieur/ ausspricht, schaut P in die Richtung der Sprecherin, ohne dabei stehen zu bleiben (Bild 24). Wir beobachten hier ein relativ spätes Erkennen des Gegenübers, das nach einem Ausweichmanöver stattfindet. Es zeigt sich so, dass es eine Alternative zur Begegnung gibt: Im öffentlichen Raum sind die Gehbahnen der Fußgänger auf das Verhindern von Kollisionen ausgerichtet, was eine seitliche, visuelle Wahrnehmung der Passanten voraussetzt und mit einer „höflichen Gleichgültigkeit“ (vgl. Goffman 1963, Sudnow 1972) einhergeht. Im vorliegenden Fall beobachtet man eine erste Bahn, die auf das Ausweichen ausgerichtet und Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 126 Stefani_Mondada final nach dem Modus der höflichen Gleichgültigkeit organisiert ist. Diese wird dann durch Fs Turn neu bestimmt als eine Bewegungsrichtung, die eine Begegnung eröffnet, und ermöglicht somit die Neuorientierung Ps auf E und F, die sich als Gesprächspartnerinnen anbieten. Die Komplexität der Laufrichtung erklärt unter anderem die verspätete ‘responsiveness’, mit der P auf das °euh: : : ° eingeht - im Gegensatz zu den Beobachtungen, die aus den Ausschnitten 1 und 2 hervorgegangen sind. Es hat sich gezeigt, dass die beiden Annäherungsarten, frontal vs. lateral, auf unterschiedliche Weise organisiert werden und dass sie einen verschieden großen Spielraum für alternative Gehrichtungen zulassen. Die Eigenschaften des Straßenraums werden beim Zugehen auf den Passanten als verfügbare Ressourcen zum Vollzug der Handlung herangezogen. Dabei fällt auf, dass die frontalen Bewegungsrichtungen einfachere, direktere Formen annehmen, die aufgrund ihrer Projektabilität mit einer maximalen Verstehbarkeit (‘accountability’) versehen sind, wohingegen laterale Annäherungen kompleaccountability’) versehen sind, wohingegen laterale Annäherungen komple- ) versehen sind, wohingegen laterale Annäherungen komplexer sind. Die Initianten der Wegauskünfte verzichten hingegen z.B. auf die dorsale Annäherung, wobei der Passant von hinten angesprochen würde, was mit einer noch komplexeren Organisation der Gehbahnen einhergehen würde (für die Wegauskünfte ist hierzu kein einziger Fall dokumentiert). Interessanterweise werden die Richtungsänderungen der Initianten systematisch von den Passanten wahrgenommen, unabhängig davon ob die Annäherung frontal oder lateral erfolgt: Die Passanten passen dabei ihren eigenen Gang durch die Straße den veränderten Kontingenzen an, wobei im Allgemeinen zuerst ein Ausweichmanöver versucht wird. Daraus ergeben sich durchaus komplexe Konstellationen: Ihre Komplexität geht aus den sukzessiven Anpassungen hervor, die nicht immer konvergent sind, sondern nur dann wenn eine erkennbare (‘accountable’) Handlung durch die Annäherung projiziert wird. Genau aus diesem Grund fangen die Initiantinnen der Wegauskünfte an zu sprechen, noch bevor ihre Gesprächspartner zum Stillstand gekommen sind. 3.2 Auf Bekannte stoßen Im Vergleich zu den Wegauskünften finden die Begegnungen im Supermarkt in einem Raum statt, der eine weitaus komplexere Strukturierung aufweist: Im Rahmen ihrer allgemeinen Einkaufshandlung zeigen die Teilnehmerinnen einerseits eine ausgeprägte Orientierung auf die ausgelegte Ware, andererseits bewegen sie sich in Gängen, die durch Regale usw. strukturiert sind. Die räumliche Disposition der Ware determiniert zwar keineswegs die Handlung oder den Bewegungsverlauf der Teilnehmer (vgl. hierzu Lave 1988), es darf Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 127 Stefani_Mondada final jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Teilnehmer ihrer Hauptaktivität (dem Einkaufen) in einem semiotisch reichhaltigen Umfeld nachgehen („semiotic field“; Goodwin 2000, S. 1494). Bei den Begegnungseröffnungen besteht in diesem Setting - anders als in den Wegauskünften - keine Präferenz bezüglich der Annäherungsweise der Teilnehmer. Die Tatsache, dass die Teilnehmer die Annäherungsprozesse im Supermarkt nicht auswählen, lässt sich mit dem zufälligen, unbeabsichtigten Charakter der Begegnungen und mit den reduzierten Sichtverhältnissen erklären: Individuen, die sich in einem Supermarkt bewegen, können z.B. völlig unverhofft auf einen Bekannten treffen, während sie sich in einen durch Regale abgegrenzten Gang begeben. Neben den weiter oben beschriebenen frontalen und lateralen Annäherungen - die bei Begegnungen zwischen Unbekannten vorherrschen - lässt sich im Supermarkt daher auch eine weitere Annäherungsweise beobachten: Die dorsale Annäherung (Kap. 3.2.2), die zwischen Bekannten erfolgen kann. Bevor wir jedoch auf die dorsale Annäherung eingehen, illustrieren wir mit dem folgenden Ausschnitt, wie sich die frontale Begegnung im Supermarkt abspielt. 3.2.1 Die frontale Annäherung Im Abschnitt 2.2 haben wir einen Ausschnitt untersucht (3), in dem sich die Personen frontal begegnen und während ihrer Annäherung zeigen, dass sie sich gegenseitig erkannt haben. Die räumliche Disposition der Umgebung gleicht in diesem Ausschnitt der Situation, die wir in einer Straße vorfinden könnten: Die Teilnehmer befinden sich noch außerhalb des Einkaufszentrums und gehen - zufälligerweise - frontal aufeinander zu. Im folgenden Ausschnitt (6) - der eine Begegnungseröffnung innerhalb des Supermarkts zeigt - gehen die Teilnehmerinnen zwar ebenfalls frontal aufeinander zu, das gegenseitige Sich-Erkennen stellt aber ein Problem dar. (6) (cons45111/ 20: 05-20: 41) 1 *(0.5)#(2.5)*(2.5) ANN *bewegt sich auf TER zu--> TER *bewegt sich mit einkaufswagen n. re.--> +blick ANN--> bild #25 2 TER ciao ciao 3 (0.2)*#(0.9) ANN .....*blick TER--> bild #26 Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 128 Stefani_Mondada final 4 ANN c*ia#o* [+(scusa)((lacht)) come va ciao ( entschuldigung ) (( lacht )) wie geht's -->*____*blick TER-->~~ -->*bleibt stehen TER -->+ bild #27 5 TER [((lacht))#*((lacht)) -->*bleibt stehen bild #28 6 TER be[ne e tua mamma/ gut und deiner mutter / Bild 25 Bild 26 Bild 27 Bild 28 Während der Pause in Z. 1 bewegt sich Anna ( ANN ) direkt auf Teresa ( TER ) zu, ohne den Blick auf sie zu richten (Bild 25). Teresa verhält sich hingegen genau konträr dazu: Sie schaut zu Anna und fängt wenig später an, sich von ihr weg zu bewegen, indem sie den Einkaufswagen in einen Gang lenkt, der sich zu ihrer Rechten befindet (Z. 1). Als Anna in die Nähe Teresas kommt, formuliert letztere eine Begrüßung (ciao, Z. 2), die ohne besondere prosodische Hervorhebung formuliert ist (vgl. im Gegensatz hierzu die Betonungen der Begrüßung ciao im Ausschnitt 7). Die Vervollständigung des Adjazenzpaares, das Teresa eröffnet hat, erfährt eine Verzögerung, wie aus der Pause in Z. 3 hervorgeht. Während dieser Pause richtet Anna den Blick auf Teresa (Bild 26) und wendet ihn dann für kurze Zeit von ihr ab, kurz nachdem sie ihrerseits ein ciao initiiert hat (Bild 3, Z. 4). Das Verhalten Annas in Z. 3 wird Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 129 Stefani_Mondada final von der Teilnehmerin als Identifikationsphase präsentiert: Durch die Orientierung des Blickes auf Teresa gibt sie einerseits zu erkennen, dass sie sich als möglichen ‘Recipient’ von Teresas ciao versteht, andererseits zeigt sie damit, dass sie visuelle Information benötigt, um die sich als Gesprächspartnerin anbietende Person (wieder-)erkennen zu können. Annas Verhalten hat aber auch eine retrospektive Wirkung: Indem sie die visuelle Identifikation derart verdeutlicht, gibt sie gleichzeitig zu verstehen, dass sie in der vorhergehenden Phase (als sich die beiden Teilnehmerinnen aufeinander zu bewegten) Teresa nicht erkannt hatte. 3 Interessanterweise folgt auf Annas ciao eine Entschuldigung (scusa) (Z. 4), die formuliert wird, während Anna stehen bleibt und den Blick wieder auf Teresa richtet. Diese Entschuldigung kann auf zwei Ereignisse des Begegnungseröffnung bezogen werden: Zum einen auf die verspätete Vervollständigung der Begrüßung (Anna formuliert ihr ciao erst über einer Sekunde nach Teresas ‘first pair part’), zum anderen auf die Tatsache, dass Anna damit verdeutlicht, Teresa nicht ‘erkannt’ zu haben, als sie auf sie zuging, wohl aber sie ‘gesehen’ zu haben (da sie im Zentrum ihres Sichtfelds war). Dies kann natürlich der effektiven Perzeption Annas entsprechen: Es kann sich aber auch um ein versuchtes Ausweichmanöver handeln. Die Entschuldigung Annas wird von einem Lachen Teresas überlappt, an dem Anna in der Folge ebenfalls teilnimmt. Wie auch aus den anderen Ausschnitten hervorgeht, scheinen Lachsequenzen bei unverhofften Begegnungen zwischen Bekannten konstitutiv für den Gesprächstypus zu sein. Während des Lachens sind die Blicke der Teilnehmerinnen nicht aufeinander gerichtet (Bild 28). Auch Teresa bleibt nun stehen und signalisiert damit ihre Bereitschaft zu einem Gespräch. Kurz danach initiiert Anna ein weiteres Adjazenzpaar mit den Worten come va (Z. 4) und setzt damit die Eröffnungsphase mit einer ‘How-are-you’-Sequenz fort (vgl. hierzu Ausschnitt 3). 3.2.2 Die dorsale Annäherung Anders als bei den Wegauskünften - bei denen die Initianten der Begegnung die räumliche Organisation der Umgebung ausnutzen, um die geeignetste (d.h. die für das Gegenüber sichtbarste) Annäherungsart auszuwählen - kann die zufällige Begegnung im Supermarkt erfolgen, während die verschiedenen Parteien sich in den unterschiedlichsten räumlichen Konstellationen befinden, 3 Es geht hier nicht darum, zu entscheiden, ob Anna Teresa schon vor der Begrüßungssequenz gesehen/ erkannt hat oder nicht, sondern vielmehr darum, aufzuzeigen, wie die Teilnehmerinnen selbst die Begegnung definieren und wie sie ihr Verhalten ‘accountable’ machen. Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 130 Stefani_Mondada final wobei keine Konstellation von vornherein auszuschließen ist. In diesem Zusammenhang können auch dorsale Annäherungen beobachtet werden, wie im Ausschnitt (7): Hier fährt eine Person ihrer Bekannten mit dem Einkaufswagen in den Rücken. (7) (cons45111/ 24: 38-25: 04) 1 (4.5) mar *>>geht vorwärts--> ter *>>geht vorwärts--> 2 MAR ‘AH: 3 (1.1) 4 MAR qui un’altra xxx hier noch eine xxx 5 (1.0) 6 TER ‘hm 7 (3.0) 8 MAR di su von oben 9 TER lì un quarto la ro[ba costa là quei mucchi da sind die sa [ chen zu einem viertel dort diese haufen 10 MAR [di s: u# [ von o : ben bild #29 11 (2.0)*(0.5)* mar -->*geht auf GIA zu--> ter -->*bleibt stehen 12 TER ci son sempre azioni anche qui neh/ *# es gibt immer sonderangebote auch hier ne / -->*steht hinter GIA bild #30 13 *(3.0)*(0.3)*#(0.2) ter *geht vorwärts--> gia *.....*blick MAR--> +......dreht sich zu MAR--> bild #31 14 GIA ci*ao: : *(ehi*là lì[*: : + ter -->*bleibt stehen gia -->*bli.TER*bli.MAR----*bli.kamera--> -->+ 15 MAR [((la#cht)) 16 TER [((la*cht)) *con*tinuiamo a 17 incon[trar- wir treffen weiter- ..........*geht vorwärts--> gia -->* ....*bli. kamera--> bild #32 Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 131 Stefani_Mondada final Bild 29 Bild 30 Bild 31 Bild 32 Am Anfang der Sequenz gehen Teresa ( TER ) und Maria ( MAR ) nebeneinander her (Bild 29). Zu diesem Zeitpunkt hat Maria bereits eine Bekannte erkannt, wie aus ihren Gesprächsbeiträgen in den Zeilen 4, 8 und 10 hervorgeht. Gegen Ende der in Z. 11 wiedergegebenen Pause beginnt Maria ihren Einkaufswagen auf Gianna ( GIA ) zu richten und auf diese zuzugehen. Zu diesem Zeitpunkt dreht Gianna Maria den Rücken zu, sodass sie die Annäherung Marias visuell nicht wahrnehmen kann. Maria kreuzt bei ihrem Manöver die Bahn Teresas von rechts nach links. Diese bleibt kurze Zeit stehen, während sie auch in dieser Situation zeigt, dass sie sich weiterhin auf die ausgelegte Ware orientiert (ci son sempre azioni anche qui neh/ , Z. 12, Bild 30). Gegen Ende der folgenden Pause - während Maria hinter Gianna stehen bleibt - dreht sich Gianna um und richtet ihren Blick auf Maria (Bild 31). Der Status von Giannas folgendem Turn (ciao: : ehilà lì: : , Z. 14) erfährt zwei mögliche Deutungen. Es handelt sich offenkundig um eine Begrüßungsformel, die als solche einen Gegengruß projiziert. Giannas ciao: : wird jedoch nicht erwidert. An der Stelle des Gegengrußes befindet sich eine Lachsequenz, die sowohl von Maria als auch von Teresa realisiert wird (Z. 15-16). Man kann sich fragen, ob das Lachen Marias und Teresas durch dessen sequenzielle Positionierung als ‘second pair part’ zu Giannas Grußformel zu interpretieren sei. Eine alternative Lesart der Daten würde in der Bewegung Marias - die mit dem Einkaufswagen in Gianna hinein fährt - die Initiation des Gesprächs erkennen und somit in Giannas ciao: : die Vervollständigung von Marias erstem „Move“ (im Sinne Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 132 Stefani_Mondada final von Goffman 1981). Für diese Lesart spricht die Tatsache, dass Maria über drei Sekunden hinter Gianna stehen bleibt, nachdem sie Gianna mit dem Einkaufswagen berührt hat (Z. 13). Marias Handlung verkörpert somit in dieser Hinsicht gleichsam einen ‘summons’, den Gianna schließlich durch die Neuorientierung des Blickes wahrnimmt. Obwohl diese zweite Interpretation durch Merritts (1976b, S. 321) Bemerkung belegt werden könnte, wonach es in Einkaufsgeschäften Bereiche gibt, in denen „a customer's presence funcfunctions as a summons for the server's attention“, zeigt die alternative Deutungsas a summons for the server's attention“, zeigt die alternative Deutungsweise doch vielmehr auf, dass es äußerst schwierig ist, einen ‘statischen’ ‘summons’-Begriff auf die hier vorgestellten Daten anzuwenden. Nachdem sich die so zur Interaktion aufgeforderte Person umgedreht hat, leitet sie ebenfalls eine Identifikationsphase ein, wie in Z. 14 ersichtlich wird: Während ihres Turns blickt Gianna abwechselnd zu Maria, Teresa und in Richtung der Kamera. Die Identifikation der beiden Frauen wird dabei als ein Wiedererkennen manifestiert, während die Präsenz des unbekannten Teilnehmers (des Forschers mit der Videokamera) wenig später thematisiert wird (siehe Ausschnitt 23). 4. Kategorisierung und reziproke Identifikation Die Identifikation des Gesprächspartners geht mit der Organisation der kollaborativen Interaktionseröffnung einher, wie Schegloff anhand von Telefongesprächen beispielhaft illustriert hat. Das gegenseitige Identifizieren ist für das ‘alignment’ der Teilnehmer grundlegend: Fehlt die Identifikation, so wird das Verfolgen gemeinsamer Ziele, kollektiver und koordinierter Handlungen empfindlich erschwert. Die Untersuchung von Eröffnungen im öffentlichen Raum lässt verschiedene Aspekte der Identifikation erkennen: Die Identifikation einer Person als möglichen künftigen Gesprächspartner, die Identifikation dieses Gesprächspartners als Kopartizipienten einer vernünftigen und legitimen Handlung, auf Grund des Erkennens seiner persönlichen (im Falle von Bekannten) oder seiner kategoriellen (bei unbekannten Gesprächsteilnehmern) Identität. 4.1 Die Identifikation Unbekannter im öffentlichen Raum Die visuelle und verbale Identifikation eines möglichen künftigen Gesprächspartners erfolgt im öffentlichen Raum oft auf einer kategoriellen Grundlage: Dies geschieht bei Interaktionen mit Unbekannten, kann aber auch zwischen bekannten Personen beobachtet werden. Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 133 Stefani_Mondada final Im öffentlichen Raum erfolgen Interaktionen mit Unbekannten nie mit anonymen Menschen, auch dann nicht, wenn ihre persönliche Identität nicht verfügbar ist (Mondada 2002): Der Eintritt in die Interaktion setzt eine kategorielle Identifikation des Anderen als einen relevanten und legitimen Konversationspartner für die laufende soziale Handlung voraus. So orientieren sich die Initianten von Wegauskünften an der Kategorisierung des Gesprächspartners als ‘Einheimischen’, als ‘Bewohner des Stadtviertels’, als ‘Ortskundigen’ usw. Der Wortwechsel zwischen zwei Hundebesitzern, während diese mit ihren Vierbeinern Gassi gehen, fußt auf der gemeinsamen kategoriellen Zugehörigkeit; das Gespräch zwischen Passanten, die gerade einem außergewöhnlichen Ereignis beiwohnen und dieses kommentieren, ist in der gemeinsamen - momentanen aber erkennbaren - Zugehörigkeit zur Kategorie des ‘Zuschauers’ begründet usw. (vgl. Schegloff 1972 zur Art und Weise, in der die daraus folgende Interaktion organisiert wird). Die kategorielle Identifikation kann auch in den zufälligen Begegnungen zwischen Bekannten erfolgen. Sie geschieht ad hoc - sei es in Bezug zu einer laufenden Handlung (wobei die bekannten Personen gleichzeitig auch Kunden desselben Geschäfts sind oder z.B. durch das gleiche Warenangebot angezogen werden usw.), sei es innerhalb einer Serie sich konstituierender Handlungsabläufe (aus der Sicht eines Teilnehmers), wie z.B. wenn es zu einer Folge von Begegnungen mit Bekannten aus der selben Gruppe oder Familie, die im gleichen Dorf wohnen, aus dem selben beruflichen Umfeld stammen usw. kommt. 4.1.1 Kategorisierungen in den ‘pre-beginnings’ der Wegauskünfte Kategorielle Erwägungen sind im Korpus ‘Wegauskünfte’ charakteristisch für die Phasen, die sich vor der Eröffnung abspielen, und werden von jener Partei formuliert, welche die künftige Interaktion initiiert. Die Kategorisierung ist funktional für die Koordination der Handlung, die der Annäherung an die Gesprächspartner vorausgeht: Die Initiantinnen orientieren sich dabei gegenseitig an der für die bevorstehende Handlung relevanten Kategorisierung des möglichen Gesprächsteilnehmers. Dies kann in einem Turn erfolgen, der vor der Eröffnung in einem kurzen Wortwechsel zwischen E und F formuliert wird und der in unterschiedlicher Weise den künftigen Gesprächspartner identifiziert und kategorisiert: Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 134 Stefani_Mondada final (8) (itin2 - 0.19.22) 1 F °(celui-ci)° °( dieser hier )° 2 E ah oui d’accord celui- ah ja einverstanden dieser - 3 (2.4) (9) (itin7 - 1.12.32) 1 F avec la: les enfants là\ mit de : r den kindern dort \ 2 (2.8) (10) (itin12 - 2.29.54) 1 E ((schaut vor sich, schaut zu F, schaut vor sich)) 2 E ceux-là/ diese dort/ 3 (0.3) 4 F oui: \ j’sais pas s’ils sont de montpellier/ ja : \ ich weiß nicht ob sie aus montpellier sind / 5 on va leur demander wir fragen sie Im ersten der drei Ausschnitte wird die angepeilte Person mit Demonstrativpronomina bezeichnet (Ausschnitt 8: (°celui-ci°) Z. 1, celui- Z. 2; Ausschnitt 10: ceux-là Z. 2); das Demonstrativpronomen erhält eine Bedeutung durch den Blickwechsel zwischen den Teilnehmerinnen (Ausschnitt 9, Z. 1; vgl. Ausschnitt 4, Bild 15) und durch ihre gemeinsame visuelle Orientierung, die aus der gemeinsamen Gehrichtung und ihrer relativ dazu ausgerichteten Körper ersichtlich wird. Im zweiten und dritten Ausschnitt werden kategorielle Ressourcen eingesetzt: in Ausschnitt 9 richtet sich die Aufmerksamkeit auf ein Paar mit einem Kinderwagen (siehe Ausschnitt 17, Bild 38), der durch ein dazu relatives Attribut (die Kinder) bezeichnet wird, während in Ausschnitt 10 die lokale Zugehörigkeit eines Paares problematisiert wird. Sequenzen dieser Art ermöglichen den beiden Gesprächspartnerinnen, - eine gemeinsame Orientierung zu erreichen, - die Relevanz der Wahl, die sie treffen, zu hinterfragen, - eine gemeinsame oder zumindest gemeinsam abgesprochene Handlung zu projizieren. Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 135 Stefani_Mondada final In diesem Kontext ist der Kategorisierungsprozess von grundlegender Bedeutung: Tatsächlich ermöglicht die Kategorisierung einer Person, diese mit der anstehenden Handlung („category-bound activity“, Sacks 1972, 1992) auf eine relevante und angemessene Weise zu verbinden. Die Straße ist ein Raum, in dem die visuelle Verfügbarkeit und der unmittelbare Zugang zahlreiche Interaktionen zwischen Unbekannten ermöglichen. Solche Interaktionen fußen auf ebenso zahlreichen, dem jeweiligen Handlungstypus angemessenen Kategorisierungen. Indem die Individuen ihr Verhalten und ihre kategorielle Verfügbarkeit organisieren - oder eine Kategorisierung verhindern, die ihnen aufgedrängt werden könnte - manifestieren sie einerseits, dass sie sich fortwährend an solchen praktischen Problemen orientieren. Andererseits geht daraus hervor, dass die visuelle Kategorisierung auf interaktive Weise vollzogen wird: In der Tat werden visuelle Eigenschaften trotz ihrer unmittelbaren Verfügbarkeit lokal durch die verbalen und multimodalen Interpretationen und Verhaltensweisen erarbeitet (vgl. Mondada 2002, 2007c). In Ausschnitt 9 ist ein Kategorisierungsprozess am Werk, bei dem E, aber vor allem auch F das visuelle Erscheinungsbild der Passanten analysieren, um zu eruieren ob diese aus Montpellier sind (s'ils sont de montpellier): Die Herkunft der Passanten wird hier auf der Grundlage ihres Erscheinungsbildes in Frage gestellt. F formuliert diese Frage in Bezug auf ein Paar, bei dem der Mann ein sehr auffälliges T-Shirt trägt, das gleichzeitig sehr modern, aber auch etwas „ethnisch“ anmutet (vgl. Bild 14 in Ausschnitt 4): F scheint sich auf diese visuellen Eigenschaften zu beziehen, die zur Inferenz führen, dass die betreffende Person vielleicht kein ‘Einheimischer’ sondern ein ‘Tourist’ ist. Die Entscheidung über die kategorielle Zugehörigkeit muss in diesem Fall (sowie in zahlreichen anderen Fällen, die sich im urbanen Umfeld abwickeln) mit einer gewissen Dringlichkeit gefällt werden: Der Kategorisierungsprozess wird zeitlich in Bezug zum Vorwärtsgehen (Geschwindigkeit, Richtung usw.) der Teilnehmer strukturiert: Wird die kategorisierende Entscheidung nicht schnell gefällt, so kann der vorwärtsschreitende Passant an E und F vorbei gehen und somit nicht mehr für eine Begegnung verfügbar sein. E und F sind also dem praktischen Problem ausgesetzt, eine Person zu identifizieren, auf die sie ihre Aufmerksamkeit richten können, diese im Hinblick auf die bevorstehende Handlung als ‘adäquat’ zu kategorisieren und folglich das koordinierte Zugehen auf die ausgewählte Person zu organisieren um sich so ‘erkennbar’ zu machen. All dies geschieht in nur wenigen Sekunden. Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 136 Stefani_Mondada final 4.1.2 Identifikation und Festlegung des Anderen als Gesprächsteilnehmer Die Kategorisierungspraktiken des Anderen erfolgen - zumindest in den Fällen, die aus unserem Korpus hervorgehen - bevor die Interaktion mit ihm beginnt - in einem neu kreierten Partizipationsrahmen, der durch das Konvergieren der Gehrichtungen und durch das Zusammentreffen der Körper im Raum hergestellt wird. Diese Positionierung - vor der eigentlichen Interaktion - grenzt den Kategorisierungsprozess von den Identifikations- und Erkennungspraktiken ab, die während der Annäherung zwischen sämtlichen Teilnehmern stattfinden. Im Gegensatz zu anderen Interaktionen - insbesondere zu denjenigen, die zwischen Bekannten stattfinden - erfolgt bei den Wegauskünften die Identifikation/ das Erkennen im Rahmen einer zweifachen Kategorisierung: Einerseits identifiziert der ausgewählte Passant die auf ihn zukommende und durch ihre Gehrichtung und den damit verbundenen möglichen Projektionen erkennbare Person als ‘unmittelbar bevorstehenden Gesprächspartner’, andererseits gibt sich dieser Gesprächspartner sehr rasch als ‘Erfrager einer Wegauskunft’ zu erkennen. In der Eröffnung ist deshalb zuerst die Emergenz eines künftigen Interaktionspartners zu beobachten und folglich dessen Kategorisierung, welche die Handlung, die er projiziert, akzeptabel und ‘accountable’ macht. Außerdem erfolgt bei Wegauskünften das gegenseitige Erkennen ausschließlich durch den Blick, der während des Konvergierens und der Anpassung der Körperpositionen ausgetauscht wird - im Gegensatz zu anderen Interaktionen, bei denen das gegenseitige Erkennen durch die die namentliche Adressierung des Gegenübers manifestiert werden kann. Kommen wir auf die weiter oben besprochenen Ausschnitte zurück und versuchen wir festzustellen, zu welchem Zeitpunkt die ausgewählten Passanten ihren Blick auf E und F richten, so beobachten wir zwei verschiedene Phänomene: - Die Passanten richten ihren Blick auf E und F, unmittelbar nachdem letztere ihre Gehrichtung so verändert haben, dass sie auf die Passanten treffen: Dies kann durch einen kurzes Hinblicken geschehen oder durch eine leichte Kopfbewegung. Zu diesem Zeitpunkt bleibt der Blick auf E und F eher peripher. - Die Passanten orientieren ihren Blick auf E und F - und kreuzen dabei den Blick der beiden Frauen - während der ersten Worte, welche die Initiantinnen an die Passanten richten, insbesondere während des initialen (oder Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 137 Stefani_Mondada final sogar pre-initialen; vgl. Mondada i.Dr.) euh: : , das mehr oder weniger ausgedehnt sein kann und sich in reflexiver Weise an den dadurch hervorgerufenen Blick anpasst: In Ausschnitt 4 schauen P und M gleich zu Beginn des euh: : : auf E und F (Z. 8); in Ausschnitt 5 blickt P hingegen erst gegen Ende von Fs Turn, nämlich während der letzten Silbe, auf die Initiantinnen der Interaktion (euh °euh: : : ° pardon monsieur/ , Z. 3), just bevor er mit oui (Z. 4) antwortet. Das Zustandekommen des reziproken Anblickens hängt mit kontextuellen und interaktionalen Gegebenheiten zusammen. Insbesondere wenn die ausgewählten Passanten ein Paar oder eine Gruppe bilden, stellt die Tatsache, dass diese vielleicht bereits in ein Gespräch untereinander vertieft sind, ein zusätzliches interaktionales Problem dar: Die Passanten müssen sich vom aktuellen ‘participation framework’ lossagen, um sich in einem anderen, der Wegauskunft entsprechenden Partizipationsrahmen zu engagieren. Im folgenden Ausschnitt erklärt sich der verspätete Blickwechsel mit E und F aus der Tatsache heraus, dass die angepeilten Personen gerade miteinander sprechen, während sie vorwärts gehen: (11) (itin10 - 2.11.18 - 10/ 13) 1 D,C ((sprechen miteinander # während sie gehen)) bild #33 Bild 33 2 F <#euh#: : : # (0.9)> pardon mesdames/ # (.) ehm : : : (0.9) entschuldigung mesdames / (.) bild #34 #35 #36 #37 3 l’église saint-roch/ die kirche st-roch / 4 D +ah+ +hält an+ Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 138 Stefani_Mondada final Bild 34 Bild 35 C schaut vor sich her C dreht den Kopf Bild 36 Bild 37 C und D schauen E an C und D schauen F an Die Passantinnen C und D gehen vorwärts, wobei sie nicht nur gemeinsam gehen, sondern dabei auch miteinander sprechen (Bild 33). Sie sind also als sich fortbewegendes Paar in einer Sprechhandlung vertieft. F spricht sie mit einem euh: : : : an, das 0.9 Sekunden dauert (Z. 2) und das mit der Annäherung an das Paar zusammenfällt. E und F schreiten mit einem gewissen Abstand voneinander vorwärts, weshalb sich E vor F auf der Höhe von C und D befindet. Während E bereits still steht, geht F weiter vorwärts und formuliert ein euh: : : : , dem sie die Wendung pardon mesdames/ hinzufügt. C leitet eine Drehbewegung des Kopfes in Fs Richtung ein, während diese ihr euh: : : : produziert. Diese Bewegung kommt nach Fs Lautäußerung zum Stillstand. Die beiden Passantinnen richten sich so zuerst auf E - die sich näher bei ihnen befindet - dann auch auf F, die sie nach der Formulierung der Worte pardon mesdames/ anblicken. Man erkennt, dass die Äußerung des euh nicht nur mit Fs Handlung untrennbar verbunden ist, sondern auch mit den Handlungen Es, sowie mit der räumlichen Positionierung der beiden Frauen. Ihr Vorwärtsschreiten stellt für C und D ein praktisches Problem dar: Zum einen werden sie von ihrer gemeinsamen Handlung abgelenkt, zum anderen befinden sie sich nun zwei Personen gegenüber, die in einer bestimmten Entfernung zueinander stehen, die aber trotzdem als Paar erkannt werden müssen. Die Verarbeitung dieses Problems erfordert eine gewisse Zeit: Die zeitliche Strukturierung von Fs Äußerung passt sich exakt an die Dauer der Problemlösung an. Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 139 Stefani_Mondada final Die Positionierungen der Körper manifestieren in diesem Ausschnitt das verspätete Erkennen - das durch den auf die neuen Gesprächspartnerinnen gerichtete Blick materialisiert wird - oder auch eine Komplexifizierung des Erkennens, wobei der Blick von C und D zuerst auf E und dann auf F gerichtet wird und schließlich ermöglicht, die beiden Initiantinnen als Paar zu identifizieren. 4.2 Das Wiedererkennen von Bekannten In den Daten aus dem Supermarkt sind Kategorisierungen im Vorfeld der Gesprächseröffnung eher selten anzutreffen. Als einziger Ausschnitt kann die Begegnung zwischen Teresa, Maria und Gianna angefügt werden: (12) (cons45111/ 24: 38-25: 36 - vgl. Ausschnitt 7) 1 (4.5) 2 MAR ‘AH: 3 (1.1) 4 MAR qui un’altra xxx hier noch eine xxx 5 (1.0) 6 TER ‘hm 7 (3.0) 8 MAR di su von oben 9 TER lì un quarto la ro[ba costa là quei mucchi da sind die sa [ chen zu einem viertel dort diese haufen 10 MAR [di s: u [ von o : ben 11 (2.5) Maria eröffnet die Sequenz mit einem ‘Change-of-state token’ (AH: , Z. 2; vgl. Heritage 1984): Diese Art der Neuorientierung auf einen potenziellen Gesprächspartner unterscheidet sich grundlegend von der Art und Weise, in der bei Wegauskünften ein neuer Aufmerksamkeitsfokus hergestellt wird. Durch das ‘Change-of-state token’ verdeutlicht Maria, dass sie - durch das visuelle ‘Monitoring‘ der Umgebung - „some kind of change in her locally current state of knowledge“ (ebd., S. 299) erfahren hat. Der zufällige, nicht vorhergesehene Charakter des bevorstehenden Gesprächs ist bereits an diesem Punkt zu erkennen. Die Tatsache, dass ‘Change-of-state token’ kaum in der Vorbereitungsphase der Wegauskünfte vorkommen, lässt hingegen den organisierten, vorbereiteten Charakter solcher Interaktionen erkennen (bei denen die eine Partei im Vorfeld des Gesprächs die Personen identifizieren und kategorisieren muss, die in der Folge um Auskunft gebeten werden). Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 140 Stefani_Mondada final Nach einer Pause (Z. 3) beschreibt Maria das Objekt ihres ‘noticings’ mit den Worten (qui un'altra xxx, Z. 4). Der Turn wird mit dem Lokaldeiktikum qui eröffnet, das hier gleichsam eine präsentative Funktion aufweist und weniger auf ein proximales Distanzverhältnis verweist. Es folgt die Beschreibung der identifizierten Person als un'altra: Dieser Ausdruck - der wörtlich übersetzt „eine andere“ bedeutet, der aber unter Berücksichtigung des Handlungskontexts besser mit „noch eine“ wiedergegeben wird - beschreibt die Person, die in Marias Sichtfeld geraten ist, in Bezug zu einer Serie von früheren Begegnungen: Gianna ist tatsächlich die dritte Person, die Teresa und Maria innerhalb von fünf Minuten treffen. In diesem Sinne scheint un'altra auf eine Kategorisierung als ‘Bekannte’ zu verweisen. Im weiteren Verlauf der Begegnungseröffnung wird jedoch eine andere Kategorie als relevant dargestellt. In den Zeilen 8 und 10 beschreibt Maria die neue Teilnehmerin als eine di su und kategorisiert sie somit anhand eines geografischen Kriteriums. Die geografische Kategorisierung der im Supermarkt angesprochenen Bekannten war auch in den vorhergehenden Begegnungen relevant, wie folgende Ausschnitte belegen: (13) (cons45111/ 20: 05-20: 41) 1 (5.5) 2 TER ciao 3 (1.1) 4 ANN ciao [(scusa)((lacht)) come va ciao ( entschuldigung ) (( lacht )) wie geht's 5 TER [((lacht)) 6 TER be[ne e tua mamma/ gu [ t und deiner mutter / 7 ANN [eh/ vi siete abbassati un po’ sì: : [sì sì bene [ na / seid ihr runter gekommen ein wenig ja : : [ ja ja gut 8 TER [sì\ . un momento [ ja \ . ein moment 9 ANN eh\ cioè com’è freddo su/ ähä \ also wie ist es kalt oben / In dieser ersten Begegnung - die hauptsächlich zwischen Teresa und Anna stattfindet, während Maria weitergeht und sich als „overhearer“ (Goffman 1981) verhält - werden geografische Beschreibungen als Ressourcen wahrgenommen, um ein gemeinsames Gesprächstopic zu finden (vgl. Z. 7: eh/ vi siete (abbassati) un po' und Z. 9: eh\ cioè com'è freddo su/ ). Es fällt insbesondere auf, dass schon in dieser ersten Begegnung von ‘unten’ und ‘oben’ gesprochen wird. Diese dichotomischen Kategorien bleiben auch für die folgenden Begegnungen verfügbar und relevant. Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 141 Stefani_Mondada final Auch die zweite Person, der Teresa und Maria begegnen, wird unmittelbar mittels einer geografischen Beschreibung kategorisiert: (14) (cons45111/ 20: 41-21: 05) 1 (19.0) 2 TER CI[A: O 3 MAR [((lacht))--> 4 (0.2) 5 TIN (ah bo[n) ( ah gu [ t ) 6 TER [contriamo mezzo airolo ..((lacht))] [ wir treffen halb airolo 7 MAR -->((lacht))] éh ben quella na gut die 8 MAR sa vedo mia a airöö ma dopo sa vedo via in gir sieht man nie in airolo aber dann sieht man sie auswärts Teresas Turn in Z. 6 ist als „Formulation“ zu verstehen (Heritage/ Watson 1979, 1980), mit der die Teilnehmerin die Handlung beschreibt, an der sie teilnimmt. Sie verwendet dabei einen Ortsnamen (airolo, dialektal airöö), den sie mit der neuen Gesprächspartnerin in Verbindung bringt. Dadurch, dass sich Teresa auf halb airolo beruft, gibt sie zu erkennen, dass die Begegnung mit Tina ( TIN ) sich in eine Reihe von Begegnungen mit Einwohnern der Tessiner Gemeinde eingliedert. Maria kommentiert in den folgenden Turns diese Kategorisierung und beschreibt Tina als eine Bewohnerin Airolos, die man nur außerhalb der Gemeinde trifft. Kommen wir nun auf den Ausschnitt 12 zurück, so stellen wir fest, dass die Beschreibung als di su nicht eine zufälligerweise ausgewählte Kategorie aktiviert, sondern sich vielmehr aus dem vorherigen interaktionalen Geschehen erklären lässt. Retrospektiv kann nun die anfängliche Beschreibung als un'altra (Auschnitt 12, Z. 4) präziser gedeutet werden: Maria bezieht sich mit diesem Ausdruck nicht nur auf ‘noch eine Kundin die wir kennen’, sondern auf ‘noch eine Kundin die wir kennen und die aus Airolo stammt’. Wie die Analyse zeigt, lassen sich Kategorisierungen dieser Art nicht allein auf der Grundlage einer mikroskopischen Datenuntersuchung erklären: Es ist vielmehr nötig, die Daten einer mesoskopischen Analyse zu unterziehen, die Zusammenhänge zwischen verschiedenen, zeitlich auseinanderliegenden interaktionalen Phasen aufdeckt. Aus der vergleichenden Analyse der Ausschnitte (12)-(14) geht außerdem hervor, dass bei zufälligen, nicht-finalisierten Begegnungen mit Bekannten deren Kategorisierung als ‘Bekannte’, als ‘Bewohner von Airolo’ usw. durchaus rele- Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 142 Stefani_Mondada final vant ist. Die Kategorisierung ist jedoch darauf ausgerichtet, ein Wiedererkennen öffentlich darzustellen, wobei eben dieses Wiedererkennen als Ausgangspunkt (als ‘account’) für die Gesprächseröffnung eingesetzt und von den angesprochenen Personen im Allgemeinen akzeptiert wird. 5. Die Stabilisierung der F-formation und die Differenzierung der Partizipationsmodi Nachdem das Konvergieren der Bewegungen der Teilnehmer auf eine erkennbare Weise begonnen hat und nachdem die Teilnehmer sich gegenseitig identifiziert haben, werden Konstellationen des Interaktionsraums geformt, die für die bevorstehende Handlung von spezifischer Relevanz sind. Diese Konstellationen können im Verlauf der Interaktion zwar verändert werden, doch der Beginn der Interaktion scheint sich durch eine Stabilisierung des Interaktionsraums zu charakterisieren, die das Resultat der interaktiven Organisation der Begegnungseröffnung darstellt. Aus einer räumlichen Perspektive lassen sich damit drei strukturierende, sequenzielle Phasen der Eröffnung unterscheiden: - Das Konvergieren der Körper der künftigen Teilnehmer, als ‘pre-beginpre-beginning’ oder zu Beginn der Eröffnung (Kap. 3), wobei auch die reziproke Identifikation der Teilnehmer stattfindet (Kap. 4); - die Stabilisierung des Interaktionsraums im Verlauf der Eröffnung, deren Vollzug ein Resultat der koordinierenden, für Eröffnungen charakteristischen Handlungen ist (Kap. 5); - der Wandel des Interaktionsraums im Verlauf der Interaktion, in Bezug zu den Handlungen, welche die Teilnehmer vollziehen. Nachdem wir bisher die Eigenschaften der ersten Etappe untersucht haben, fokussieren wir uns in der Folge auf die zweite Etappe. Der dritte und letzte Punkt sprengt den Rahmen dieses Aufsatzes (siehe hierzu Mondada 2005). 5.1 Das allmähliche Zustandekommen des Stillstands und die Bildung einer symmetrischen F-formation in den Wegauskünften In den Wegauskünften beenden die Teilnehmer ihren Gang systematisch nach dem Herstellen einer reziproken, visuellen Orientierung und nach der Formulierung des Anlasses der Begegnung. So gesehen ist die Stabilisierung der F-formation eines der Resultate, welche die Teilnehmer während der Eröff- Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 143 Stefani_Mondada final nung in interaktiver Arbeit vollzogen haben. Die F-formation entspricht somit - in Bezug zum koordinierten Anordnen der Körper im Raum - der „anchor position“ des verbalen ‘alignments’ der Teilnehmer. Der so stabilisierte Interaktionsraum ist durch eine symmetrische Disposition der beiden Parteien (Face-to-Face) gekennzeichnet. Es folgen einige Okkurrenzen dieser späten Eröffnungsphase, die bereits in den vorangegangenen Abschnitten (3.1 bzw. 4.1.1) ansatzweise besprochen wurden. (15) (itin12 - vgl. Ausschnitt. 4) 8 F *eu[h: : : eh [ m : : : P/ M *schauen zu F und E--> 9 E [(x) l’église saint-ro*ch* die kirche saint-roch P/ M >>gehen vorw.-->*halten an* 10 (0.9) (16) (itin11 - vgl. Ausschnitt 5) 4 P oui: ja : 5 E l’é[glise saint-*roch/ *] die k [ irche saint-roch / 6 F [euh: °: : : : : : *: : : : °*] [ ehm : °: : : : : : : : : : : °] P >>geht vorwärts *hält an* 7 *(0.4) P *bringt seine gitarre von der linken in die rechte hand, befreit linke hand--> (17) (itin7, vgl. Ausschnitt 9) 1 F avec la: les enfants là\ mir de : r den kindern dort\ 2 (2.8) 3 E excusez-moi: / l’église saint-roch s’il vous *plaît\ entschuldigen sie : / die kirche saint-roch bitte sehr \ P/ M >>gehen vorwärts--------------------------->*halten an--> 4 M l’église* #saint-roch/ die kirche saint-roch / -->* bild #38 Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 144 Stefani_Mondada final Bild 38 Stabilisierung der Face-to-Face-Positionierung der beiden Parteien Aus diesen Ausschnitten geht hervor, dass die Passanten systematisch stehen bleiben, wenn die Formulierung des Anlasses der Adressierung beendet ist. Es fällt auf, dass der Anlass der Begegnung in einer einzigen TCU formuliert wird. Der Stillstand der Passanten erfolgt am Ende dieser TCU : während der letzen Silben des Namens saint-ro*ch* (Ausschnitt 15, Z. 9; vgl. Ausschnitt 2, Z. 2) bzw. saint-*roch* (Ausschnitt 16, Z. 5); ein wenig später, zeitgleich mit der letzten Silbe des darauf folgenden s'il vous plaît (Ausschnitt 17, Z. 3). Die Formatierung des Turns beugt sich der zeitlichen Strukturierung der zum Stillstand tendierenden Gehbewegung, wobei der Anlass der Begegnung bezeichnenderweise auch nur durch die Nennung des gesuchten Objekts - das räumliche Ziel (l'église saint-roch) - erfolgen kann. Diese kanonische Form ist mit einer zweifachen Orientierung verbunden: Zum einen trägt sie der Tatsache Rechnung, dass - nachdem die Passanten ihre Aufmerksamkeit auf die Initiantinnen der Begegnung gerichtet haben - gerade die Nennung des Anlasses, der zu dieser Begegnung geführt hat, der Kontaktaufnahme eine Bedeutung verleiht - womit erklärt werden kann, weshalb die Formulierung des Anlasses möglichst schnell erfolgen muss. Zum anderen passt sie sich der Gehbewegung - dem Schwung - des Passanten und seinem allmählichen Übergang zu einer stabilen Position an. Mit dieser zweifachen Orientierung lässt sich einerseits erklären, weshalb die Sprecher eine minimale Form wählen (die kein Verb enthält, sondern sich auf das Nennen des räumlichen Zieles beschränkt - der Sprechakt der Frage wird als solcher von den Teilnehmern rekonstruiert, womit die Effizienz der zu diesem Zeitpunkt angebotenen ‘accountability’ ersichtlich wird). Andererseits kann diese minimale Form jedoch nach Bedarf ausgedehnt werden - insbesondere wenn sich der Stillstand des Gesprächspartners verzögert: Dies kann entweder mit einem Verb erreicht werden, das vor dem räumli- Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 145 Stefani_Mondada final chen Verweis - sozusagen links davon - genannt wird (wie in Ausschnitt 1, Z. 2: je cherche l'église saint-roch), oder indem rechts des Raumobjekts der Zusatz s'il vous plaît (Ausschnitt 17) platziert wird. Dieser Zusatz zeigt, inwiefern das Format des Turns von der Gehrichtung und -geschwindigkeit des Gesprächspartners abhängt: Die Länge des Turns passt sich sowohl der Gehgeschwindigkeit der angesprochenen Person als auch der allmählichen Verlangsamung derselben an. 3 Die grammatischen Details des ersten Turns, der an den Passanten gerichtet wird, orientieren sich also systematisch und haargenau an den Kontingenzen seines Blickes und an der allmählichen, emergenten Konstitution und Stabilisierung des Interaktionsraums. Das Stehenbleiben realisiert den Übergang von verschiedenen, möglichen Gehbewegungen im Raum zu einer einheitlichen Konstellation, die vorübergehend fixiert ist und die Kendon (1990) als „F-formation“ bezeichnet hat. Es sei hier bemerkt, dass diese Konstellation und deren Stabilisierung nicht selbstverständlich sind und dass diese sich, einmal erreicht, nicht verhärten: Sie verlangen nach einer kontinuierlichen, gegenseitigen Anpassung der Teilnehmer, nicht nur in Bezug zu ihrem allmählich konstituierten Stillstand, sondern auch in Bezug zu ihren Körperdrehungen („body torque“, vgl. Schegloff 1998), wobei die schwunghafte Dynamik des Gehens auch zu rückwärts gerichteten Schritten führen kann. Die Justierung der Körper führt schließlich zu einer Face-to-Face-Situation, in der die beiden Parteien eine reziproke Orientierung manifestieren. Sie wird während der Pause erreicht, die häufig nach der Formulierung des Anlasses der Begegnung folgt (siehe Ausschnitt 1, Z. 2; Ausschnitt 15, Z. 10; Ausschnitt 16, Z. 7). Während in manchen Fällen die F-formation eine bemerkenswerte Stabilität aufweist, bleibt sie in anderen Fällen nur kurzfristig erhalten. So ist in Ausschnitt 17 (siehe Bild 38) die neue F-formation äußerst stabil: Die Passantin nimmt eine stark verankerte Haltung ein, wobei beide Füße in gleichem Maße auf dem Boden ruhen, während die Hände auf den Hüften aufgestützt sind. 4 Im Gegensatz dazu beobachtet man in anderen Fällen einen fast unmittelbaren 3 In Relieu (1999) findet man ein weiteres Beispiel für die Anpassung der Turnlänge an das Gehen in einem komplexen Umfeld. 4 Der für diesen Aufsatz vorgesehene Umfang ermöglicht es uns nicht, zwischen jenen Teilnehmern, die sich aktiv in der Wegbeschreibung engagieren und jenen, die sich als Begleiter oder als periphere Teilnehmer verhalten, zu unterscheiden. Man beachte jedoch, dass das Verhalten von Paaren in dieser Hinsicht besonders interessant ist: Die Individuen, die das Paar bilden, können die Handlung entweder gemeinsam bewältigen, oder sie können diese Aufgabe einem Teil des Paares delegieren (vgl. Abschnitt 5.3). Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 146 Stefani_Mondada final Übergang zur nächsten Aufgabe, die durch die Nennung des Anlasses der Begegnung formuliert wird: In Ausschnitt 5 (und 16) sieht man, wie P, der in beiden Händen verschiedene Gepäckstücke trägt, seine linke Hand befreit, mit der er dann ein ‘pointing’ vollziehen wird. 5 Das Einsetzen der Wegbeschreibung geht mit der Neuanordnung des Interaktionsraums einher, der nun auf die relevanten Eigenschaften der räumlichen Umgebung ausgerichtet ist. 5.2 Die Konstitution einer räumlich distribuierten F-formation Im vorhergehenden Abschnitt ist gezeigt worden, dass bei den Wegauskünften die Orientierung zueinander in der Anfangsphase der Gesprächseröffnung von entscheidender Bedeutung ist. Erst nach dieser reziproken Körperausrichtung positionieren sich die Interaktanten so, dass sie das sie umgebende semiotische Feld als Ressource für die Wegbeschreibung verwenden können. Das Stehenbleiben der Teilnehmer verdeutlicht dabei die Stabilisierung der F-formation. Das Herstellen des für das bevorstehende Gespräch relevanten Interaktionsraums geht aber nicht immer mit einer eindeutigen Orientierung der Teilnehmer zueinander einher. In den Daten aus dem Supermarkt - in denen sich die Teilnehmer in einem außerordentlich komplexen semiotischen Umfeld bewegen - können die Interaktanten auch einen ‘distribuierten’ Aufmerksamkeitsfokus verkörpern. Dies wird in jenen Eröffnungsphasen ersichtlich, in denen die Teilnehmer ihre Orientierung auf ein bevorstehendes Gespräch manifestieren, ohne dabei ihre Hauptaktivität (das ‘Einkaufen’, d.h. das visuelle, taktile Analysieren, das Kommentieren usw. der ausgestellten Ware) zu unterbrechen. Besonders deutlich geht dies aus dem weiter oben besprochenen Ausschnitt 7 hervor, den wir hier einer detaillierteren Analyse unterziehen: (18) (cons45111/ 24: 38-25: 08; vgl. Ausschnitt 7) 1 (4.5) mar *>>geht vorwärts--> ter *>>geht vorwärts--> 2 MAR ‘AH: 3 (1.1) 4 MAR qui un’altra xxx hier noch eine xxx 5 (1.0) 5 Die Rolle der Gegenstände, welche die Passanten mit sich tragen, darf nicht unterschätzt werden: Die Ausrichtung des Kinderwagens (Ausschnitt 9 und 17) oder der sperrige Charakter, den die Gitarre und das Gepäck in diesem Zusammenhang aufweisen (Ausschnitt 5 und 16), tragen zur Organisation der Körperhaltungen und der Gehrichtungen bei. Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 147 Stefani_Mondada final 6 TER ‘hm 7 (3.0) 8 MAR di su von oben 9 TER lì un quarto la ro[ba costa là quei mucchi da sind die sa [ chen zu einem viertel dort diese haufen 10 MAR [di s: u [ von o : ben 11 (2.0)*(0.5)* mar -->*geht auf GIA zu--> ter -->*bleibt stehen 12 TER ci son sempre azioni anche qui neh/ * es gibt immer sonderangebote auch hier ne / -->*steht hinter GIA 13 *(3.0)*(0.3)*(0.2) ter *geht vorwärts--> gia *.....*blick MAR--> +......dreht sich zu MAR--> 14 GIA ci*ao: : *(ehi*là lì[*: : + ter -->*bleibt stehen gia -->*bli.TER*bli.MAR----*bli.kamera--> -->+ 15 MAR [((la#cht)) 16 TER [((la*cht)) *con*tinuiamo a 17 incon[trar- wir treffen weiter- .. ..........*geht vorwärts--> gia -->* ....*bli. kamera--> bild #39 18 GIA [xxxx filma giù/ = [xxxx filmt er/ = 19 MAR =s[ì ci toci toche (ndre) filma nüm du# = j [ a wir müwir müssen gefilmt werden wir zwei bild #40 20 GIA [xx 21 GIA oh santo cielo oh mein gott Im Vergleich zu den Beobachtungen, die aus der Untersuchung der Wegauskünfte hervorgegangen sind, erweist sich die Konstitution einer F-formation in diesem Ausschnitt als weitaus komplexer. Die zeitliche Ausdehnung der Eröffnungsphase (im Vergleich zu den sehr knapp gehaltenen Gesprächseröffnungen bei den Wegauskünften) geht mit einem extensiven Konstituieren der F-formation einher, die in zweifacher Hinsicht als ‘distribuiert’ betrachtet werden kann: Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 148 Stefani_Mondada final 1) Die beiden Teilnehmerinnen, die als „vehicular unit“ (Goffman 1971) durch die Gänge des Supermarkts gehen, verdeutlichen in diesem Ausschnitt unterschiedliche Fokussierungen. Während Maria in einem zeitlich ausgedehnten Turn (Z. 2-8) ihre Orientierung auf die vor ihr auftretende und als ‘Bekannte’ identifizierte Person manifestiert, zeigt Teresa durch ihre Beiträge in den Z. 9 (lì un quarto la roba costa là quei mucchi) und 12 (ci son sempre azioni anche qui neh/ ), dass sie ihre Aufmerksamkeit weiterhin auf die Verkaufsware richtet. 2) Im weiteren Verlauf der Gesprächseröffnung richten sowohl Maria als auch Teresa Redebeiträge an die gemeinsame Bekannte, dabei zeigen ihre Körperpositionen und ihre Blickrichtungen aber, dass sie gleichzeitig ihrer Einkaufshandlung nachgehen, wie aus folgenden Bildern hervorgeht: Bild 39 Bild 40 In Bild 39 erkennt man die Blickrichtungen der Teilnehmerinnen während einer besonders intensiven Gesprächsphase: Giannas erster Turn (ciao: : ehilà lì: : , Z. 14) wird in der Tat sowohl durch Marias als auch durch Teresas Lachen überlappt (Z. 15-16). Die reziproke Orientierung der Teilnehmerinnen auf die soeben eingeleitete Interaktion wird hier durch deren verbales Verhalten verdeutlicht. Die Blickrichtungen von Teresa und Maria sind jedoch nicht auf die soeben getroffene Bekannte gerichtet, sondern auf die sich im unmittelbaren Umfeld befindende Verkaufsware. Auch im weiteren Verlauf des Gesprächs verkörpern die Beteiligten eine ‘distribuierte’ F-formation, wie aus Bild 40 ersichtlich wird, das die körperliche Orientierung der Teilnehmerinnen am Ende von Giannas zweitem Turn (Z. 18) darstellt. Die frontale Positionierung der Gesprächspartner zueinander gehört nach Kendon (1973, 1990) zur idealen Realisierung einer F-formation, die aber auch durch die geringe Distanz der Teilnehmerinnen zueinander verkörpert wird. Ciolek/ Kendon (1980, S. 251) haben aber gezeigt, dass die Positionierung der Teilnehmer innerhalb einer F-formation mit der räumlichen Beschaf- Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 149 Stefani_Mondada final fenheit der Umgebung variieren kann. So können im Supermarkt Maria, Teresa und Gianna die ausgelegte Ware begutachten, während sie gleichzeitig einer fokussierten Unterhaltung nachgehen, wie aus der sequenziellen Organisation ihrer Turns hervorgeht. 5.3 Räumliche Neuanordnung und Differenzierung des Partizipationsstatus Das gegenseitige Erkennen der Teilnehmer wird durch die Tatsache erschwert, dass verschieden zusammengesetzte Parteien an den hier untersuchten Begegnungen beteiligt sein können, wie z.B. einzelne Individuen oder Personen, die ein Paar bilden (wobei sich ein Teil des Paares für bestimmte Handlungen vom anderen distanzieren kann; vgl. De Stefani/ Mondada 2007) oder Paare, die von Individuen begleitet werden, die eine marginale oder periphere Position einnehmen können (Kinder, oft auch der Partner). Passanten in Paarkonstellationen sind im öffentlichen Raum für andere Fußgänger als ‘vehicular units’ erkennbar. Diese können als solche erkannt werden auch wenn sie eine differenzierte Organisation aufweisen, die zentrale und periphere Mitglieder des Paares erkennen lässt. Diese Möglichkeit kann bei Begegnungen im öffentlichen Raum zu praktischen, organisatorischen Problemen führen, insbesondere wenn die Begegnung von einer Person ausgeführt wird, die zu beiden Parteien gehört, während die Partner im Hintergrund bleiben oder sich mit anderen Dingen beschäftigen. Man beobachtet solche Situationen im Supermarkt, wenn ein Paarteil der Einkaufshandlung nachgeht während der andere Partner sich auf eine Konversation (mit einem Bekannten) eingelassen hat. Dies ist ebenso der Fall bei ‘vehicular units’ die in den Wegauskünften in Erscheinung treten: Während ein Paarteil mit der Wegbeschreibung beschäftigt ist, kann das andere in einem gewissen Abstand warten oder auch einer anderen Beschäftigung nachgehen (z.B. die Schaufenster eines Geschäftes betrachten). Diese Beobachtungen lassen die komplexe und flexible Organisation der Partizipationsrahmen während dieser Begegnungen erkennen, sowohl von Seiten der Initianten der Interaktion, als auch auf der Seite der angesprochenen Personen. In diesem Zusammenhang zeigen wir hier mögliche Analyseansätze, wobei wir insbesondere auf die Rolle der peripheren Teilnehmer eingehen werden. In den Wegauskünften ist folgende kategorielle Unterscheidung innerhalb der ursprünglichen ‘vehicular unit’ möglich: Das Mitglied, das sich Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 150 Stefani_Mondada final als ‘Informant’ auf die Interaktion einlässt (und eine räumliche Kompetenz besitzt) steht dem Paarteil gegenüber, das eine solche Identität verweigert (und damit die eigenen Kenntnisse über die Stadt negiert). Im Supermarkt erfolgt die Unterscheidung hingegen zwischen dem Mitglied, das die angesprochene Person kennt und demjenigen Paarteil, das die betroffene Person nicht oder weniger gut kennt: Die Bestandteile der ‘vehicular unit’ können in der Tat durch unterschiedlich intensive Bekanntschaftsverhältnisse mit der anderen Partei verbunden sein. In sämtlichen Fällen erfolgt die Veränderung des Partizipationsrahmens auf der Grundlage unterschiedlicher Kenntnisse, die verschiedene Intensitäten der Teilnahme an der neuen Handlung motivieren. Interessanterweise schreiben sich die Änderungen des Partizipationsrahmens im Raum und in der reziproken Positionierung der Teilnehmer ein. 5.3.1 Die Identifikation des ‘richtigen’ Gesprächspartners: Kategorisierung und Teilnahme an der Handlung Die Begegnungen zwischen Passanten erfolgen zwischen zwei verschiedenen ‘vehicular units’, deren Gehrichtungen konvergierend organisiert werden müssen. Ist eine ‘vehicular unit’ aus mehreren Personen zusammengesetzt, können diese sich entweder als Angehörige eines ‘Teams’ oder als einzelne ‘Individuen’ verhalten. Wenn E und F Passanten ansprechen, sind sie als Mitglieder einer ‘vehicular unit’ erkennbar; sie können die Wegauskunft als ‘Team’ erfragen und gleichzeitig eine interne Differenzierung manifestieren (zwischen der Person, die nach dem Weg fragt und die sich als Hauptgesprächspartnerin zu erkennen gibt und der Person, die sich eher als Begleiterin ausgibt). Die angesprochenen Passanten bilden eine weitere ‘vehicular unit’, die unterschiedliche Kompositionen aufweisen kann: Die Art und Weise in der sich Personen, Paare, Familien, Frauen mit Kindern usw. auf die Wegauskunft einlassen, manifestiert ihr Auftreten, einem Unbekannten gegenüber, als ‘Team’, innerhalb dessen verschiedene Kategorien agieren können, die ein mehr oder weniger intensives Engagement in die bevorstehende Handlung mit sich bringen. So kann ein Paar zwar als solches angesprochen werden, aber in differenzierter Weise auf die Wegauskunft eingehen, z.B. indem die Wegbeschreibung gemeinsam formuliert wird, oder indem die Mitglieder des Paares verschiedene Haltungen einnehmen, durch Selbstkategorisierungen als ‘Informanten’, ‘Ortsansässige’, ‘Ortskundige’ oder im Gegenteil als ‘Ortsfremde’ und damit als nicht verfügbar für die ‘category-bound activity’ der Wegbeschreibung. Schauen wir uns ein Beispiel an: Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 151 Stefani_Mondada final (19) (itin5 - 0.24.44 - etu9) 1 E euh: : : pardon l’éeuh l’église saint-roch s’il ehm : : : entschuldigung die k. ehm die kirche saint-roch 2 vous+# plaît\ bitte \ komm +#ende der F-formation bild #41 Bild 41 3 (0.6) 4 A e*uh: : : # alors/ +# ehm : : : also / *bli. nach hinten---> B +bli. zu E/ F--> bild #42 #43 Bild 42 Bild 43 5 (1.0) 6 B ah moi je suis pas d’ici/ +alors\+ °je sais pas +du tout° ah ich bin nicht von hier / also \ ° ich weiß überhaupt nicht ° -->+zieht schultern hoch+ +dreht sich--> 7 E # [ah a[h B #--> und entfernt sich --> bild #44 F [ah Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 152 Stefani_Mondada final 9 (#1.1#) bild #45 #46 B ->stellt sich hinter seine frau--> 10 A i#* me semble+ qu’*i faut que vous repart*iez par là es scheint mir dass ihr wieder dalang losgehen müsst ->*bli. nach vorne->> *......................*pointing->> B -->+ bild #47 Bild 44 Bild 45 Bild 46 Bild 47 E spricht ein Paar an, A und B. Die Konstitution des Interaktionsraums ( Faceto-Face) wird während der Formulierung der Wegauskunft eingeleitet und zeitgleich mit der Nennung des s'il vous plaît vollzogen (Bild 41, Z. 1). E selegiert nicht von vornherein die Person, die antworten wird, sondern behandelt das Paar als eine ‘Partizipationseinheit’ (‘participation unit’; Goffmann 1971). Dennoch manifestiert die Art und Weise, in der A und B antworten werden, unterschiedlich intensive Engagements. Während der Pause (Z. 3) bewegt sich das Paar nicht: A antwortet dann als erste (Z. 4) und dreht gleichzeitig den Kopf nach hinten (Bild 42). Man beachte, dass sie ihren Turn mit den Elementen euh: : : alors/ beginnt, d.h. mit verbalen Ressourcen, die sowohl die Turneröffnung, als auch die Projektion der Antwort und die Verzögerung der eigentlichen Beschreibung ermöglichen. Die folgende Pause (Z. 5) lässt As Schweigen erkennen. Die Passantin blickt dabei weiterhin nach hinten und manifestiert durch ihre Haltung eine zweifache Orientierung: Der untere Körperteil nimmt einen festen Stand ein und ist weiterhin auf E und F gerichtet, während der obere Teil nach hinten gewandt ist (vgl. „body torque“, Schegloff 1998). Diese vorbereitende Handlung löst vorübergehend den visuellen Kontakt zwischen A und E auf, die sich nun in einer Face-to-Face-Situation mit B wiederfindet. Am Ende von As angebrochenen Turn orientiert sich B - der bisher nur Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 153 Stefani_Mondada final vor sich her schaute - sichtlich auf E und F (Z. 4, Bild 43). Während A weiterhin schweigt, formuliert B einen Account (Z. 6), der in drei Teile gegliedert ist: Der erste Teil rechtfertigt die Tatsache, dass B keine Wegbeschreibung formuliert und bedient sich dazu einer kategoriellen Selbstbeschreibung (ah moi je suis pas d'ici, Z. 6); der zweite Teil ermöglicht die Einführung einer Konsequenz, die durch das Hochziehen der Schultern verkörpert (‘embodied’) wird; der dritte Teil formuliert die Konsequenz (°je sais pas du tout°, Z. 6) und geht mit der Einleitung einer nächsten Bewegung einher. Es handelt sich um eine Positionsänderung (Bild 45-47), durch die sich B hinter A platzieren wird. In diesem Moment führt A ihre Beschreibung ein (Z. 10), indem sie sich umdreht und den Blick wieder nach vorne richtet. Man beobachtet hier eine koordinierte Alternanz der Antworten von A und B: A setzt zu einer Antwort an und projiziert damit eine adäquate Beschreibung, die aber nicht sofort formuliert wird; währenddessen richtet sich B an E und F und formuliert eine andere Antwort, die in Bezug zur gestellten Frage ‘disaligned’ ist und eine Begründung für diese nicht-präferierte Antwort enthält. Nachdem sich B aus dem Interaktionsraum zurückgezogen und den Partizipationsrahmen - und damit auch den Partizipationsraum - neu konfiguriert hat, indem er A in einer Face-to-Face-Situation mit E und F belässt, fährt A mit ihrem Turn fort und formuliert eine Wegbeschreibung. Kategoriell betrachtet, schreibt sich A durch die Formulierung der Wegbeschreibung die Kategorie der ‘Informantin’ zu, während B diese Kategorie negiert, sowohl durch eine explizite Anders-Kategorisierung (moi je suis pas d'ici, Z. 6) als auch durch die körperliche Abnabelung vom Interaktionsraum. Die Tatsache, dass er sich hinter seiner Frau positioniert, entzieht ihn zum einen der Interaktion, zum anderen wird der Vollzug der Wegbeschreibung damit an das andere Mitglied des Teams delegiert. Die ‘vehicular unit’ reorganisiert sich hier hinsichtlich der Handlung in zwei verschiedene Partizipationsarten. 5.3.2 Die Positionierung der Teilnehmer und das Manifestieren sozialer Beziehungen Bei den Begegnungen im Supermarkt können die Mitglieder der ‘vehicular unit’ ebenso verschiedene Kategorien, Positionierungen, Beteiligungsrollen manifestieren und sich auf unterschiedliche Weise in die bevorstehende Interaktion einbringen. Hier ist jedoch nicht so sehr eine für den Vollzug der bevorstehenden Aufgabe relevante Kategorie im Spiel, sondern vielmehr die besondere soziale Beziehung, die zwischen dem einen oder dem anderen Mitglied Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 154 Stefani_Mondada final des Teams der ‘Einkaufenden’ und der zufällig angetroffenen Person existiert. In solchen zufälligen Begegnungen wird der Partizipationsstatus der Teilnehmer bereits in der Eröffnungsphase verkörpert. Dies geschieht einerseits durch die frühzeitige Selektion und Identifikation der aktiven Teilnehmer, andererseits durch die räumliche Positionierung derselben. Dies geht aus dem folgenden Ausschnitt hervor: (20) (cons4581/ 02: 36-03: 06; vgl. Ausschnitt 3) 1 AND sandro 2 (0.3) 3 SAN (carissimo com’è) ( mein bester wie steht's ) 4 AND éh bene\ . comple*anno/ ja gut \ . geburtstag / san ......*bleibt stehen 5 *(0.5) and *...--> 6 SAN no (la festa) xxxx*x= nein ( das fest ) xxxxx = val ...........*bleibt stehen 7 AND *=(ah) della mamma/ =( ah ) der mutter / -->*bleibt stehen 8 SAN éh bravo\ ja genau \ 9 (0.4)# bild #48 10 AND domani neh/ morgen ne / 11 (0.2) 12 SAN ‘eh: ‘ehe 13 (0.9) 14 AND cos’hai comprato . cannoli was hast du gekauft . cannoli 15 SAN tortone qui quaranta franc una tortina inscì [xxx riesentorte hier vierzig franken ein solches törtchen [ xxx Während Andreas das Gespräch mit dem Namen des auf ihn zukommenden Mannes (sandro, Z. 1) eröffnet, erwidert dieser die Kontaktaufnahme mit einer bewertenden Adressierung (carissimo, Z. 3) und initiiert folglich eine ‘How-are-you’-Sequenz. Diese Art der Gesprächseröffnung zeichnet Begegnungen zwischen Bekannten aus. Es fällt auf, dass Andreas unmittelbar nach Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 155 Stefani_Mondada final der Vervollständigung des Adjazenzpaares (éh bene\, Z. 4) ein erstes mögliches Gesprächstopic einführt (compleanno/ ). Mit anderen Worten: Der Phase des gegenseitigen Sich-Erkennens folgt sehr schnell die Einführung des ‘first topic’, das in den folgenden Turns weiterentwickelt wird. Die öffentliche gegenseitige Identifikation und das reziproke Wiedererkennen sind in Gesprächseröffnungen (auch in telefonischen, vgl. Schegloff 1968, 1979) bekanntermaßen relevante Handlungen. Wohl hat Sandro das Paar als ‘vehicular unit’ erkannt, diese Paaridentität wird aber weder als relevant dargestellt (es werden beispielsweise keine Verbformen der ersten/ zweiten Person des Plurals verwendet), noch wird sie ‘accountable’ gemacht. Im untersuchten Ausschnitt wird die Identifikationsphase denn auch sehr schnell beendet, noch bevor alle an der Begegnung Beteiligten identifiziert worden sind. Die dritte Teilnehmerin (Valentina) hat bisher keine Gelegenheit gehabt, das Wort zu ergreifen: Bis zur Einführung des ersten Topics ist die Eröffnung als Folge von Adjazenzpaaren konfiguriert, die durch den jeweils selegierten Gesprächspartner zu vervollständigen sind; ein gegenseitiges Vorstellen der zwei Personen, die sich offensichtlich ‘unbekannt’ sind, ist in dieser Anfangsphase ebenso wenig initiiert worden. Eine solche Handlung wäre aber gerade in der Eröffnungssequenz des Gesprächs relevant gewesen. Das periphere Verhalten Valentinas ist folglich nicht nur ein Resultat ihrer eigenen Handlungen: Auch Sandro und Andreas behandeln sie sowohl durch ihre konversationalen Handlungen als auch durch ihre visuellen und körperlichen Orientierungen als periphere Teilnehmerin. Die periphere Rolle, welche Valentina hier verkörpert, geht auch aus ihrer räumlichen Positionierung hervor: Bild 48 Während Sandro und Andreas ihre Blicke (und ihre Körper) aufeinander richten, befindet sich Valentina in einer marginalen Position: Kendons (1990) ideale Realisierung der F-formation - wonach sich die Teilnehmer kreisförmig anordnen - wird hier nicht erreicht. Diese spezifische Positionierung der Teilnehmer ist aber nicht zufällig: Sie lässt vielmehr die sozialen Beziehungen Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 156 Stefani_Mondada final erkennen, die zwischen den einzelnen Individuen vorherrschen: Die reziproke Orientierung von Sandros und Andreas' Körpern manifestiert eine ‘engere’ soziale Beziehung, während Valentinas Körperhaltung in Bezug zu Sandro eine weitaus weniger intensive Beziehung erkennen lässt. Sie verhält sich hier primär als ‘Partnerin’ von Andreas. 6. Die Einführung des ‘first topic’ Wie aus den Analysen hervorgeht, ist der Anfang eines Gesprächs oder einer sozialen Begegnung nicht einfach mit den ersten Redebeiträgen gleichzusetzen. Es hat sich gezeigt, dass Gespräche - seien es Wegauskünfte oder Begegnungen zwischen Bekannten - durch verschiedene, dem eigentlichen Gesprächsbeginn vorhergehende Handlungen eingeleitet werden. Stellt man sich die Frage der (zeitlichen und sequenziellen) Ausdehnung der Eröffnungsphase, so gilt es einen Punkt zu definieren, an dem die Teilnehmer das Gespräch als ‘eröffnet’ betrachten. Aus konversationsanalytischer Sicht werden Gesprächseröffnungen im engeren Sinne mit der Einführung eines ersten Gesprächsthemas, des ‘first topic‘ abgeschlossen (vgl. Schegloff 1967, 1968, 1986). Aus diesem Grund muss auch die Analyse der Eröffnungsphasen die Art und Weise berücksichtigen, in der das erste Gesprächsthema eingeführt wird. In den untersuchten Daten lassen sich diesbezüglich wesentliche Unterschiede feststellen, die in den folgenden Abschnitten erläutert werden: Beobachtet man bei Wegauskünften in der Regel eine sehr rasche Einführung des Gesprächsthemas, so zeichnen sich Begegnungen zwischen Bekannten durch einen verzögerten Übergang zum ‘first topic’ aus: Dieses muss durch die Teilnehmer in kollaborativer Gesprächsarbeit erst konstituiert werden. 6.1 Dienst- und Auskunftsanfragen: Kompaktes Format und rascher Übergang zum ‘first topic’ Wie wir weiter oben (Abschnitt 3.1 und 5.1) gezeigt haben, ist die Interaktion zwischen Personen, die eine Wegauskunft erfragen/ geben, durch einen möglichst raschen Übergang zum ‘Anlass der Begegnung’ charakterisiert. Dies erklärt sich aus der Tatsache heraus, dass das erste (und einzige) Topic das Motiv der Interaktion liefert und diese auch legitimiert. Das erste Topic trägt außerdem dazu bei, die Kategorisierung der Person, die den Kontakt aufgenommen hat (als ‘Touristen’, als ‘Person, die sich verirrt hat’ - kurz, als einen Teilnehmer, der eine legitime Interaktion mit einem Unbekannten im öffentlichen Raum eingeht) abzuschließen. Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 157 Stefani_Mondada final Wegauskünfte sind durch einen ersten kompakten Turn gekennzeichnet, der dem ersten Redebeitrag institutioneller Interaktionen ähnelt (vgl. Zimmerman 1992) und der dem Gesprächsteilnehmer nur selten Gelegenheit gibt, nach dem anfänglichen euh: : : oder einer initialen Entschuldigung das Wort zu ergreifen. Dieser Turnanfang funktioniert eher wie ein ‘summons’, der die Möglichkeiten, eine Antwort einzuführen, minimiert. Dieses kompakte Turnformat leitet unmittelbar das ‘first topic’ ein, das den Grund für die Eröffnung der Interaktion liefert. Wie wir bereits bemerkt haben, ist die Form, in der das ‘first topic’ und der Anlass der Begegnung formuliert werden, diesbezüglich von Bedeutung: Es werden nur selten Verben verwendet, welche die Handlung der Initianten beschreiben; in den meisten Fällen beschränkt sich der erste Turn auf die Nennung des gesuchten Objekts, das als isolierte Nominalphrase formuliert wird. Die Äußerung der Nominalphrase ist außerdem sehr genau mit dem Stehenbleiben der Teilnehmer synchronisiert und manifestiert somit die Stabilisierung der F-formation, die die Gesprächseröffnung beendet. 6.2 Begegnungen mit Bekannten: Die Suche nach dem ‘first topic’ Im Unterschied zu den Wegauskünften - die von Anfang an als Dienstleistung konfiguriert sind und in der Regel auch mit dem Erteilen der Auskunft enden - sind Begegnungen im Supermarkt weitaus weniger zielgerichtet. Das unvorhergesehene Aufeinandertreffen von Bekannten stellt sämtliche Beteiligten vor ein praktisches Problem: Soll sich das Gespräch auf eine wechselseitige Begrüßung beschränken, bei der die Teilnehmer lediglich manifestieren, dass sie sich erkannt haben, oder gehen sie dazu über, eine F-formation zu bilden (durch die räumliche und visuelle Orientierung zueinander, durch das Stehenbleiben usw.)? Im ersten Fall - den wir hier nicht besprechen - kommt das Gespräch nach der Begrüßung sehr rasch zu einem Abschluss. Im zweiten Fall sehen sich die Teilnehmer mit der Aufgabe konfrontiert, gemeinsam ein Gesprächsthema zu finden. Aus unseren Daten geht hervor, dass dabei vorwiegend auf zwei unterschiedliche Ressourcen zurückgegriffen wird: Die ‘first topics’ beziehen sich a) auf Phänomene, welche die Teilnehmer im situativen Umfeld isolieren und als ‘noticeable’ darstellen, oder b) auf ein gemeinsames Wissen über die jeweiligen Lebensverhältnisse der Gesprächsteilnehmer. Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 158 Stefani_Mondada final 6.2.1 Kontextuelle ‘first topics’’ Nach Abschluss der Eröffnungssequenz haben die Teilnehmer die Möglichkeit, ein Phänomen aus dem situativen Kontext als relevant darzustellen, indem sie es als Gesprächstopic einführen. Im folgenden Ausschnitt (vgl. Kap. 2.2, Ausschnitt 3) thematisiert Andreas z.B. die Tatsache, dass sein Gesprächspartner Sandro eine Tortenschachtel in der Hand hält: (21) (cons4581/ 02: 36-03: 06; vgl. Ausschnitt 3, 20) 1 AND sandro 2 (0.3) 3 SAN (carissimo com’è) ( mein bester wie steht's ) 4 AND éh bene\ . compleanno/ ja gut \ . geburtstag / 5 (0.5) 6 SAN no (la festa) xxxxx= nein ( das fest ) xxxxx = 7 AND =(ah) della mamma/ =( ah ) der mutter / 8 SAN éh bravo\ ja genau \ Die Einführung dieses Topics findet nach dem Ende der Eröffnungsphase (éh bene\, Z. 4) und einer darauf folgenden, sehr kurzen Pause statt. Mit dem Begriff compleanno/ (Z. 4) bezieht sich Andreas auf einen bestimmten Aspekt in Sandros Erscheinung (die Tortenschachtel) und stellt diese Beobachtung als ein Begebenheit dar, die eines Accounts, einer Erklärung bedarf - wie aus der steigenden Intonation am Wortende ersichtlich wird. Nach einer Pause (Z. 5) lässt sich Sandro auf das vorgeschlagene Topic ein und formuliert den Anfang eines Turns (no (la festa) xxxxx=, Z. 6), den Andrea interessanterweise in kollaborativer Weise weiterführt (=(ah) della mamma/ , Z. 7). Man beachte auch das ‘latching’, das die beiden Redebeiträge verbindet und dass von einer hohen Interaktivität zeugt. Eine ähnliche Art, ein Gesprächstopic zu bilden, geht aus dem folgenden Ausschnitt hervor. Maria hat sich soeben dorsal ihrer Gesprächspartnerin Gianna genähert. Als diese sich umdreht, erkennt sie nicht nur Teresa und Maria, die gemeinsam einkaufen, sondern auch den Kameramann, der das Paar begleitet: Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 159 Stefani_Mondada final (22) (cons45111/ 25: 00-25: 08, vgl. Ausschnitt 7, 12, 18) 14 GIA ci*ao: : *(ehi*là lì[*: : + ter -->*bleibt stehen gia -->*bli.TER*bli.MAR----*bli.kamera--> -->+ 15 MAR [((lacht)) 16 TER [((la*cht)) *con*tinuiamo a 17 incon[trar- wir treffen weiter- ..........*geht vorwärts--> gia -->* ....*bli. kamera--> 18 GIA [xxxx filma giù/ = [ xxxx filmt er / = 19 MAR =s[ì ci toci toche (ndre) filma nüm du = j [ a wir müwir müssen gefilmt werden wir zwei 20 GIA [xx 21 GIA oh santo cielo oh mein gott In Z. 18 (xxxx filma giù/ ) wird die Aufnahmesituation als bemerkenswertes (‘noticeable’) Ereignis dargestellt. Diese Beobachtung wird in der Folge als ‘first topic’ behandelt, wie anhand von Marias Turn (Z. 19) zu erkennen ist. Ähnlich wie bei den ‘noticings’ - wie sie von Sacks (1992, Bd. 2, S. 87-97) und Schegloff (1988, S. 119-131) beschrieben worden sind - werden auch die hier dokumentierten kontextuellen Phänomene präferenziell am Anfang der Begegnung formuliert. Bei Begegnungen zwischen Bekannten bilden ‘noticeables’ eine wichtige Ressource, um ein ‘first topic’ zu formulieren. Dies hat insbesondere auch damit zu tun, dass ‘noticeables’ unmittelbar nach ihrer Perzeption in das Gespräch eingeführt werden müssen: In der Tat stehen nach der visuellen Kontaktaufnahme - wie wir auch anhand des vorhergehenden Ausschnittes erläutert haben - zahlreiche kontextuelle Phänomene zur Verfügung, die als ‘noticeables’ manifestiert werden können. Natürlich verfügen die Teilnehmer aber auch über andere möglichen ‘first topics’. So beobachtet man in Ausschnitt 22, wie das Topic ‘Videoaufzeichnung’ ein anderes, ebenfalls angedeutetes ‘first topic’ gleichsam verdrängt: in Z. 16-17 formuliert Teresa einen Turn, der offensichtlich ein anderes Topic projiziert, nämlich die Tatsache, dass Maria und Teresa schon mehrere Bekannte im Supermarkt getroffen haben. In dieser Hinsicht scheint die Nennung eines ‘noticeable facts’ - und die damit verbundene Projektion auf den weiteren Verlauf der Konversation - eine größere Relevanz zu haben, als das von Teresa vorgeschlagene Topic. Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 160 Stefani_Mondada final 6.2.2 Das gemeinsame Wissen Um ein Gesprächstopic zu konstituieren, greifen die Teilnehmerinnen in manchen Fällen auf ihr Wissen über die Lebensverhältnisse ihres Gegenübers zurück, wie der folgende Ausschnitt belegt: (23) (cons45111/ 20: 05-20: 41, vgl. Ausschnitt 6) 1 (5.5) 2 TER ciao 3 (1.1) 4 ANN ciao [(scusa)((lacht)) come va ciao ( entschuldigung ) (( lacht )) wie geht's 5 TER [((lacht)) 6 TER be[ne e tua mamma/ gu [ t und deiner mutter / 7 ANN [eh/ vi siete abbassati un po’ sì: : [sì sì bene [ na / seid ihr runter gekommen ein wenig ja : : [ ja ja gut 8 TER [sì\ . un momento [ ja \ . ein moment 9 ANN eh\ cioè com’è freddo su/ ähä \ also wie ist es kalt oben / 10 TER no: [ci si stava bene an]che là nein : [ man hatte es auch do ] rt gut 11 ANN [no . (si) sta bene ] . eh\ [ nein . ( man ) hat's gut ] . ähä \ Nach der anfänglichen Begrüßung leitet Anna eine ‘How-are-you’-Sequenz ein (Z. 4). Teresa vervollständigt das Adjazenzpaar mit einer präferierten Antwort (bene, Z. 6) und erwidert ihrerseits die Frage nach dem Befinden: Interessanterweise bezieht sie diese Frage aber nicht auf ihre Gesprächspartnerin, sondern auf deren Mutter. Damit lässt sie eine Kategorisierung erkennen (Anna als ‘Tochter von X’), die auf der Grundlage eines sozialen Wissens über ihre Bekannte zustande kommt. Im folgenden Turn leitet Anna schließlich das ‘first topic’ ein: Mit den Worten eh/ vi siete (abbassati) un po' bezieht sich Anna ihrerseits auf das persönliche Wissen über die Lebensumstände ihrer Gesprächspartnerin. Sie zeigt somit zum einen, dass sie Teresa als Mitglied einer größeren sozialen Einheit (eines Paares, einer Familie usw.) wahrnimmt und zum anderen, dass sie Kenntnisse über die Wohnverhältnisse besitzt: Diese werden aufgrund räumlicher Beschreibungen (abbassati, Z. 7; su, Z. 9) manifestiert und werden als solche auch von Teresa akzeptiert. Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 161 Stefani_Mondada final Der Wohnort der Teilnehmerinnen wird auch im nächsten Ausschnitt thematisiert: Nachdem sich sämtliche Beteiligte gegenseitig identifiziert haben, formuliert Teresa einen Turn, in dem sie die Herkunft der drei Frauen als Topic einführt: (24) (cons45111/ 20: 41-21: 05, vgl. Ausschnitt 14) 1 (19.0) 2 TER CI[A: O 3 MAR [((lacht))--> 4 (0.2) 5 TIN (ah bo[n) ( ah gu [ t ) 6 TER [contriamo mezzo airolo .. ((lacht))] [ wir treffen halb airolo 7 MAR -->((lacht))]éh ben quella na gut die 8 [sa vedo [mia a airöö ma dopo sa vedo [via in gir [ sieht man [ nie in airolo aber dann sieht man sie [ auswärts 9 TER [xx [no ma ti saluto anche [qu[i eh/ [nein aber ich begrüße dich auch [hi[er ne/ 10 TIN [sì ah/ [ja ne/ 11 TER [aeh: 12 TIN [anch’io [ ich auch 13 (0.6) 14 TIN ma sai che io vengo da lugano e ne ho già incontrati sei aber weißt du dass ich von lugano komme und schon sechs getroffen habe 15 TER davvero [((lacht)) wirklich [(( lacht )) Die Beschreibung der Zusammenkunft, die Teresa in Z. 6 mit den Worten contriamo mezzo airolo .. ((lacht)) realisiert, ermöglicht es, auf der Grundlage der geografischen Herkunft (Airolo) der drei Teilnehmerinnen eine gemeinsame Identität zu konstituieren. Auch in diesem Fall wird ein ‘noticeable fact’ genannt, nämlich die Tatsache, dass Tina kaum in Airolo anzutreffen ist, obwohl sie offensichtlich dort lebt (Z. 7-8). Tina entwickelt folglich dieses Topic weiter und erzählt, dass sie soeben aus Lugano kommt und dort sechs Bekannte, die in Airolo wohnen, getroffen hat (Z. 14). Das Gesprächsthema, das folglich die ‘aus Airolo stammenden aber sich außerhalb des Ortes befindenden Bekannten’ fokussiert, wird bis zum Ende der Begegnung weitergeführt. Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 162 Stefani_Mondada final Die Analyse hat gezeigt, welche Ressourcen die Teilnehmer mobilisieren, um ein Gesprächstopic einzuleiten. Neben den ‘noticeable facts’ ist insbesondere der Bezug auf ein gemeinsames soziales Wissen von Bedeutung: Die Bereiche, die wir in der Analyse beleuchtet haben, sind die soziale Identifizierung der Gesprächspartner (als ‘Tochter von X’, als ‘Teil eines Paares/ einer Familie’) und deren geografische Herkunft. Es handelt sich hierbei um Themenbereiche, die unter Bekannten leicht zugänglich sind, die zum Teil öffentlich zur Verfügung stehen und die gleichsam der öffentlichen Darstellung des Wiedererkennens dienen. Diese Beobachtung belegt die Relevanz der Bekanntschaftsverhältnisse für die Organisation der zufälligen Begegnungen - während bei den Wegauskünften ein allgemeineres Wissen lokale Relevanz erreicht, indem auf Kenntnisse über ‘category-bound activities’ zurückgegriffen wird, die auch im weiteren Verlauf der Interaktion ausgeschöpft werden. 7. Fazit Anhand der vergleichenden Untersuchung der Eröffnungen, die in zwei verschiedenen Arten sozialer Interaktion im öffentlichen Raum vorkommen, haben wir gezeigt, wie komplexe stimmliche, verbale und multimodale Ressourcen im Verlauf des allmählichen, emergenten Vollzugs der Begegnung schrittweise eingesetzt werden. Die detaillierte Analyse der ersten Sekunden der Interaktionen hat uns ermöglicht, die Praktiken zu beschreiben, welche die beteiligten Personen verwenden, um die räumliche Annäherung zu vollziehen, die durch die präzise Koordination der Gehrichtungen zustande kommt (Kap. 3). Auf der Grundlage der räumlichen Positionierung der Körper und der Annäherungswinkel der Teilnehmer haben wir drei Arten der Annäherung unterschieden - frontal, lateral und dorsal - und die damit einhergehenden praxeologischen und interaktionalen Möglichkeiten und Konsequenzen aufgezeigt. Noch bevor die Teilnehmer zu sprechen beginnen, vollziehen sie das Eintreten in die Interaktion durch die Reorientierung ihrer Gehbewegung. Die Gehrichtung ist mit einer spezifischen Projektabilität versehen, die den Individuen insbesondere ermöglicht, fokussierte von nicht-fokussierten Interaktionen zu unterscheiden - aufgrund der Tatsache, dass parallele Gehrichtungen ein Aufeinandertreffen der Individuen ausschließen, während konvergierende Gehrichtungen das Konstituieren eines gegenseitigen Kontakts projizieren. Der Kontakt wird auch über den Blickwechsel hergestellt, der zeitgleich mit den ersten gesprochenen Worten erfolgt. Diese werden oft eher als ein lautliches ‘summons’ wahrgenommen und weniger als bedeutungstragende, verstehbare Äußerungen. Die Identifi- Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 163 Stefani_Mondada final kation und das Erkennen der Teilnehmer (Kap. 4) geschieht während der visuellen Kontaktaufnahme. Sie wird durch die Kategorisierung des Anderen als ‘Touristen’, als ‘Erfrager einer Wegbeschreibung’ oder durch das Wiedererkennen des Anderen als ‘Freund’, ‘Bekannter’ - allenfalls auch durch eine Ad-hoc-Kategorisierung auf Grund einer gemeinsamen Zugehörigkeit oder anhand von Assoziationen, die durch die Situation gegeben sind - vollzogen. Nach der gegenseitigen Identifikation und dem wechselweisen Erkennen wird der Partizipationsrahmen durch die unterschiedlichen Beteiligungsgrade der Teilnehmer (neu) konfiguriert (Kap. 5). Die Konstitution des Partizipationsrahmens ist wesentlich mit der Organisation eines adäquaten Interaktionsraums verbunden, der an die emergente Handlung und an die kategorielle Zugehörigkeit der Teilnehmer angepasst wird. Auch der Abschluss der Eröffnungsphasen - durch die Einführung des ‘first topic’ - hat sich für die untersuchten Interaktionsformen als konstitutiv herausgestellt (Kap. 6): Während in den Wegauskünften das Topic - die Bitte um eine Wegbeschreibung - sehr rasch eingeführt wird und gleichsam als Account für das Ansprechen einer „unbekannten“ Person dient, ist das Gesprächsthema bei Begegnungen zwischen Bekannten im Supermarkt kollaborativ konstituiert: Die gemeinsame Suche nach dem ‘first topic’ - das im Vergleich zu den Wegauskünften verhältnismäßig spät eingeführt wird - stützt sich auf zweierlei Ressourcen, wobei zum einen Phänomene des situativen Umfelds in der Form von ‘noticings’ in das Gespräch eingeführt werden, oder zum anderen auf ein soziales Wissen über den oder die Gesprächspartner zurückgegriffen wird. Beide hier untersuchten sozialen Praktiken - die Wegauskünfte und die Begegnungen im Supermarkt - ermöglichen die Analyse einer Reihe von Eigenschaften der Interaktion im öffentlichen Raum: Dieser ist ein ‘Raum möglicher Begegnungen’, die nicht vorhergesehen, nicht beabsichtigt oder zufällig sind, die den Eventualitäten der Kopräsenz offen gegenüberstehen und die auf fokussierte Interaktionen hinauslaufen oder auch als nicht-fokussierte Interaktionen erfolgen können. Neben diesen gemeinsamen Eigenschaften weisen solche Begegnungen aber differenzierte Formate der gegenseitigen Annäherung im öffentlichen Raum auf. Die multimodalen Ressourcen und die charakteristischen praxeologischen und interaktionalen Ressourcen der Eröffnung stehen im Bezug mit dem finalisierten (d.h. mit einer bestimmten Aufgabe oder Anfrage verbundenen) oder nicht-finalisierten (d.h. vorwiegend auf die soziale Beziehung und die Soziabilität ausgerichteten) Charakter der Interaktion, mit dem sozialen Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 164 Stefani_Mondada final Bezug zum Gesprächspartner, der unbekannt (‘unacquainted person’; vgl. Svennevig 1999) oder bekannt sein kann, und mit dem Raum, in dem die Begegnung stattfindet und der eine gegenseitige visuelle Verfügbarkeit ermöglichen kann (die als solche durch den Fußgänger, der nach dem Weg fragt, konfiguriert wird) oder sich durch die Präsenz zahlreicher Gegenstände auszeichnet, die fokussiert werden können (und die bei den Einkaufshandlungen im Supermarkt eine zentrale Rolle spielen). 1. Die Aufzeichnungen von Interaktionen im öffentlichen Raum liefern Daten, die andere Eigenschaften aufweisen als die üblicherweise untersuchten Gesprächseröffnungen. Letztere bestehen im Allgemeinen aus zeitlich klar abgegrenzten (und vorhergesehenen) Ereignissen - wie Telefongespräche, Arbeitssitzungen, Besuche, Zeremonien - auch wenn gezeigt worden ist (vgl. die anderen Beiträge des vorliegenden Bandes), dass ihre zeitliche Verankerung selbst indexikal ist und fortwährend zwischen den Teilnehmern verhandelt wird. Die Untersuchung der Interaktionseröffnungen im öffentlichen Raum verdeutlicht insbesondere - den allmählichen und emergenten Status ihres Vollzugs, der aus einer intensiven interaktionalen Arbeit hervorgeht und zeitlich ausgedehnt ist; - die Bedeutung des Raumes, welcher durch die methodische Organisation der Positionierung der Teilnehmer konfiguriert wird und sich somit im Verlauf der Interaktion auf dynamische Weise entwickelt; - die Bedeutung der visuellen (visuelle Verfügbarkeit, Blicke) und im Allgemeinen der multimodalen Ressourcen für die Kontaktaufnahme; - nicht nur die reziproke Identifikation und das gegenseitige Erkennen, sondern auch die gemeinsame Bestimmung der relevanten Kategorisierungen der Teilnehmer, die sowohl den Handlungstypus, an dem diese teilnehmen, als auch ihre Beteiligungsintensität definieren und die mit den Änderungen des Partizipationsrahmens in Bezug stehen, die im Verlauf der Eröffnung zu beobachten sind. Der emergente Charakter der Eröffnung stellt die verbreitete Auffassung in Frage, wonach sich diese punktuell und in klar abgrenzbarer Weise in einen Kontext und in ein Hintergrundgeschehen einfügt. Er lädt außerdem dazu ein, die methodische Organisation der Praktiken zu berücksichtigen, welche die Teilnehmer einsetzen, um die räumliche Annäherung zu initiieren und schrittweise zu verhandeln, und somit eine gemeinsame Handlung zu erreichen. Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum 165 Stefani_Mondada final 8. Transkriptionskonventionen 8.1 Sprachliche Äußerungen [ Überlappungen (.) Mikropause (2.1) gemessene Pausen / \ steigende bzw. fallende Intonation extra betontes Segment ((rire)) beschriebene, kommentierte Phänomene < > Abgrenzung der Phänomene zwischen (( )) : Längung °bon° gemurmelt par- Trunkierung & Fortsetzung des Redebeitrags = schneller Anschluss ^ lautliche Bindung .h Einatmung xxx unverständliches Segment (il va) unsichere Transkription 8.2 Bewegungen, Gesten, Blicke * */ + + Anfang und Ende einer Geste, eines Blicks, die in der folgenden Zeile beschrieben sind ..... Vorbereitung der Geste ----- Erhalten der Geste " Zurückziehen der Geste ----> Fortsetzung der Geste über die folgenden Zeilen --->> Fortsetzung der Geste über das Ende des Fragments hinaus >>-- Beginn der Geste vor dem Anfang des Fragments # gibt den Moment der Rede wieder, auf den sich ein Videostand bezieht (in der linken Kolonne steht bild) Elwys De Stefani / Lorenza Mondada 166 Stefani_Mondada final 9. Literatur Arminen, Ilkka/ Leinonen, Minna (2006): Mobile phone call openings. 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Das sukzessive Eintreffen der Gäste führt jeweils zu Eröffnungssequenzen innerhalb dieser Wartezeit. Anhand von Auszügen dieser Zeitspanne verfolgt die Analyse, wie sich die Teilnehmer zu dieser Zeitlichkeit des Wartens und (Nochnicht-)Beginnens orientieren und wie sie den Anfang des Essens gemeinsam konstruieren. 1. Tischgespräche und Eröffnung von Tischgesprächen Neben Telefongesprächen (Schegloff 1968; Schegloff/ Sacks 1973) stellen insbesondere Tischgespräche ein bevorzugtes Objekt klassischer konversationsanalytischer Studien dar, genannt seien hier die bekannten Analysen des „chicken dinner“ (Schegloff 1997, S. 181; Schegloff 2000; Lerner 2002; Schegloff 2007) oder des „chinese dinner“ (Goodwin 1981, 1979; Gardner 2007, S. 324), die von Charles Goodwin ab den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aufgenommen wurden und seitdem regelmäßig in konversationsanalytischer Literatur Erwähnung finden (für einen kurzen Überblick siehe Mondada 2008a). In der Konversationsanalyse haben Tischgespräche allerdings selten ein Untersuchungsobjekt per se dargestellt, vielmehr werden bestimmte Phänomene anhand des Tischgesprächs illustriert, wie beispielsweise die Dynamik des Teilnehmerrahmens und von Erzählungen (Goodwin 1997) oder die Beschreibung von Schismen (Egbert 1993). Zum einen ist das sprachliche Engagement der Sprecher während der Mahlzeit ein bevorzugtes Objekt, um verschiedene „Kommunikationsstile“ zu studieren (Boix i Fuster 1987), typischerweise den Stil des „high involvement“ (Tannen 2005). Zum anderen werden Tischgespräche als ein bevorzugter Ort der Soziabilität, aber auch der (Re)produktion von Ritualen und Normen ana- Florence Oloff 172 Oloff final lysiert 1 (Blum-Kulka 1997; Ochs/ Shohet 2006; Larson/ Wiley/ Branscomb (Hg.) 2006). An interkulturellen Gesprächen oder kulturellen Vergleichen interessierte Arbeiten heben daher das Tischgespräch als geeigneten Gegenstand hervor (siehe z.B. Wieland 1995; Iino 1996), was möglicherweise auch in Zusammenhang mit der im Vergleich zu anderen Kontexten leichten Zugänglichkeit der Daten (sowohl aus juristischer als auch aus quantitativer Sicht) steht. Ein besonderer Schwerpunkt der Literatur liegt bei der Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern bei Tisch, da das Tischgespräch als prototypischer Ort ihres Lernprozesses von kulturell geprägten Gesprächsverfahren (Aukrust/ Snow 1998; Aukrust 2004) oder von relevanten Kategorien und Identitäten (Ochs/ Taylor 1995) angesehen wird. Oftmals sind es hier bestimmte Aktivitäten, typischerweise Erzählungen sowie die damit verbundenen Praktiken des Sprecherwechsels (z.B. Ochs 1986; Ochs/ Shohet 2006; Blum-Kulka 1993; Junefelt/ Tulviste 1997; Fatigante/ Fasulo/ Pontecorvo 2004), die das Interesse der Forscher am Tischgespräch mit Kindern prägen. Weniger wurde in der Literatur aber berücksichtigt, dass Tischgespräche auch aussagekräftige Analysen dazu ermöglichen, wie Teilnehmer eine Aktivität - etwa das Essen - gemeinsam beginnen und so als etwas Gemeinsames organisieren. Sowohl Telefongespräche (Schegloff 1968, 1986; Mondada in diesem Band) als auch die Interaktion im öffentlichen Raum (Mondada 2009; Mondada/ De Stefani in diesem Band) werden herangezogen, um zu verstehen, wie Teilnehmer miteinander in Interaktion treten. Des Weiteren werden institutionelle und berufliche Kontexte bemüht (z.B. Arbeitssitzungen, Atkinson/ Cuff/ Lee 1978; Call-Center, Mondada 2008b; Videokonferenzen, für eine Übersicht siehe Mondada in diesem Band), um den Vorgang einer gemeinsamen Eröffnung nachzuvollziehen. In Bezug auf den Beginn sind Tischgespräche wesentlich seltener der Mittelpunkt des analytischen Interesses, wobei als eine Ausnahme die Arbeit Kepplers (1995) hervorzuheben ist, die „kommunikative Vergemeinschaftung“ am Beispiel von familiären Tischgesprächen aufzeigt. Zwar ist die Familie eine relativ stabile Gemeinschaft, die sich regelmäßig zusammenfindet bzw. zusammen lebt, sich also durchaus von einer 1 „[...] [M]ealtimes can be regarded as pregnant arenas for the production of sociality, morality, and local understandings of the world. Mealtimes are both vehicles for and end points of culture. As vehicles, mealtimes constitute universal occasions for members not only to engage in the activities of feeding and eating but also to forge relationships that reinforce or modify the social order. In addition, mealtimes facilitate the social construction of knowledge and moral perspectives through communicative practices that characterize these occasions.“ (Ochs/ Shohet 2006, S. 35f.). Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 173 Oloff final heterogeneren Freundesgruppe, wie sie hier vorliegt, unterscheidet. 2 Jedoch betont Keppler, dass sich die Familie erst und gerade in der Interaktion als solche organisiert, sie beschreibt daher das Tischgespräch als Moment, in dem „erprobte Gesprächsverfahren“ zum Einsatz kommen, durch welche die Familie sich gemeinsam konstituiert. Der analytische Schwerpunkt Kepplers liegt daher weniger auf der Strukturierung der Eröffnung an sich als auf der interaktiven Konstituierung einer Gruppe, die beim Beginn des Essens durch die Orientierung zu bestimmten Normen sowie durch standardisierte Handlungen erfolgt, die die gemeinsame Mahlzeit strukturieren. Neben dem Essen, der „Nahrungsaufnahme“ an sich (sowie einem eventuellen „Nachspiel“) beschreibt Keppler zwei vorausgehende Phasen, „[...] erstens die dem Auftragen der Speisen vorangehende Phase der allgemeinen „Versammlung“, zweitens gewissermaßen die „offizielle Eröffnung“ der Veranstaltung [...]“ (Keppler 1995, S. 55). Diese Unterscheidung zwischen einem offiziellen Beginn des Essens sowie einer vorgelagerten Phase der Interaktion wird bei Familien beispielsweise durch den Schlüsselmoment des Tischgebets illustriert, der das Gespräch „bei Tisch“ eröffnet und das Gespräch „vor Tisch“ beendet (ebd., S. 58ff.). Brown/ Ragan (1987), die ebenfalls das Tischgebet als Methode der Teilnehmer beschreiben, das gemeinsame Essen zu beginnen, betonen den ritualisierten und für die Familie normativen Aspekt dieser Handlung. 3 Die Herstellung eines gemeinsamen Fokus der Teilnehmer zu Beginn des Essens kann auch durch eröffnende „profane Segenswünsche“, wie z.B. „guten Appetit“ (Keppler 1995, S. 63ff.), erfolgen. Neben diesen profanen Segenswünschen und dem Gebet stehen den Teilnehmern noch andere Methoden zur Verfügung, die Eröffnung eines Essens zu vollziehen, die nicht nur verbale Ressourcen mobilisieren. Wie die multimodale Analyse der Daten in diesem Artikel zeigen wird, ist die Herstellung eines gemeinsamen Fokus zudem nicht nur auf die Eröffnungsphase des Essens beschränkt, sondern zeichnet sich bereits in der Interaktion davor ab. Im gleichen Maße wie die Eröffnung von den Teilnehmern als solche konstituiert wird, orientieren sie sich auch zu der vorangehenden Interaktion als etwas der Eröffnung Vorgelagertes. Nicht nur die „offizielle Eröffnung“ an sich, sondern die 2 Keppler zieht jedoch explizit Parallelen zwischen der Familie sowie „familienähnlichen Gemeinschaften wie z.B. Wohngemeinschaften“, in denen das gemeinsame Essen mehr oder weniger institutionalisiert wird und es dadurch so erst zur Herstellung einer „echten“ Gemeinschaft (vs. „Zweckgemeinschaft“) kommt (1995, S. 64). 3 „In addition, the enactment of blessings manifests a number of spoken rules, roles, and relationships and serves to align family members on conversations.“ (Brown/ Ragan 1987, S. 131). Florence Oloff 174 Oloff final Strukturierung von Voreröffnung und Beginn des Essens zusammen gibt Auskunft über die Art, wie die Teilnehmer sich zu einer gemeinsamen Aktivität orientieren und einen „Beginn“ konstituieren. Von einer kurzen Beschreibung der hier verwendeten Daten ausgehend, sollen nun die Schritte skizziert werden, in denen das „Warten der Teilnehmer auf den Beginn“ analysiert wird. 1.1 Daten: Ein Racletteessen unter Freunden Bei dem hier verwendeten Korpus handelt es sich um die ca. dreistündige Videoaufzeichnung eines Racletteessens in einem Studentenwohnheim in Lyon, Frankreich. Die Teilnehmer sind deutsche Muttersprachler aus verschiedenen Regionen Deutschlands sowie aus Luxemburg. Alle absolvierten zum Zeitpunkt der Aufnahme einen Studienaufenthalt in Frankreich und sind daher mehr oder weniger zweisprachig: Untereinander wird vor allem auf Deutsch, mit den restlichen Mitbewohnern der Wohngemeinschaft üblicherweise auf Französisch gesprochen, was die gelegentlichen Sprachwechsel bzw. Vermischungsphänomene erklärt. Isabelle (im Transkript: ISA ), Bewohnerin der Wohngemeinschaft und Gastgeberin, erwartet insgesamt fünf Gäste: Christian ( CHR ), Fabian ( FAB ), Jan ( JAN ), Karolin ( KAR ) sowie Manuela ( MAN ). Diese treffen zu unterschiedlichen Zeiten ein: Während die Ankunft der ersten Gäste, Manuela und Fabian, den Beginn der Aufnahme markiert, vergehen bis zum Eintreffen von Jan und schließlich Christian und Karolin beinahe 45 Minuten. Zwei Kameras wurden im Gemeinschaftsraum der Wohngemeinschaft installiert, der Eingangs-, Wohnbereich sowie Küche umfasst und von dem aus man ebenfalls in die Zimmer der vier Mitbewohner gelangt (Einzelheiten zu den räumlichen Beschaffenheiten werden im Laufe der Analyse aus den Standbildern ersichtlich). Der genaue Zeitpunkt jedes Auszugs in Hinblick auf die Gesamtdauer der Aufnahme wird systematisch angegeben. Im Gegensatz zum quasi institutionalisierten Charakter des alltäglichen familiären Essens handelt es sich hier um ein einmaliges Ereignis, und die im Vorfeld ausgesprochenen Einladungen legen die Relevanz des Kategoriepaars (Sacks 1972a, 1992) Gastgeber/ Gast nahe, wie auch in der Analyse der Eröffnungsphase des Essens deutlich wird (Abschnitt 2.1). Diesem von Gastgeberin und Gästen explizit als „Eröffnung“ behandelten Beginn des Essens gehen mehr als 45 Minuten voraus, in denen die Teilnehmer auf diesen warten. Dieses Warten manifestiert sich nicht nur in den Vorbereitungen des Essens oder im Anbieten eines Aperitifs an die ersten Gäste, sondern auch in zahlreichen Thematisierungen von Zeit: die mögliche Ankunftszeit der anderen, ihre Tätigkeiten vor dem Racletteessen, ihre eventuelle Verspätung. Die Auszüge un- Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 175 Oloff final ter Abschnitt 2.2 und 2.3 zeigen, wie das „Warten“ zunehmend als Aktivität in den Vordergrund rückt, bis die noch fehlenden Gäste schließlich ankommen. Die zeitversetzten Ankünfte der eingeladenen Personen werden in diesem Sinne nicht als Eröffnungen behandelt: obgleich mittels der üblichen Adjazenzpaare wie Begrüßung und Gegenbegrüßung (Schegloff 1968, 1979) die Interaktion zwischen den bereits Anwesenden und den Neuankömmlingen eindeutig begonnen wird, wird diese Erweiterung des Teilnehmerrahmens stets in Bezug auf das Warten bzw. in Hinblick auf den Beginn des Essens organisiert. Dies wird sowohl in der Ankündigung der Gäste und dem Öffnen der Tür (Abschnitt 3) als auch beim anschließenden Hereintreten der Gäste sichtbar (Abschnitt 4), da die bereits anwesenden Personen sich mehr oder weniger zu einer Kontinuität des Wartens bzw. der Vorbereitungen orientieren. Die Art, wie die Anwesenden auf die Ankündigung eines neuen Gastes reagieren, gewährt auch Einblicke in die hier relevanten Kategorien. Die Ankünfte und Begrüßungen sind somit Schlüsselmomente in Hinblick auf die Strukturierung der Wartezeit durch die Teilnehmer, da besonders hier ihre Orientierungen zu einem mehr oder weniger nahen Beginn des Essens deutlich werden. Die Analyse einer langen Sequenz von Voreröffnung und Eröffnung ermöglicht nicht nur einen detaillierten Einblick in eine emisch strukturierte Zeitlichkeit, sondern auch einige abschließende Gedanken zu interaktionsrelevanten Kategorien und zum Interaktionsraum (Abschnitt 5). 2. Warten und „Voreröffnung“ Der erste analytische Teil beschreibt zunächst, mit Hilfe welcher Ressourcen die Teilnehmer den Beginn des Essens als Eröffnung organisieren (Abschnitt 2.1). Damit kontrastierend strukturieren die Sprecher die vorangehende Interaktion als Voreröffnung, in der sich die Teilnehmer von Anfang der Aufnahme an zu einem Warten orientieren, das sich beispielsweise in Fragen zum Zeitplan der noch fehlenden Gäste oder in expliziten Kommentaren zur Vorbereitung äußert (Abschnitt 2.2). Im Laufe der Interaktion wird das Warten als solches immer mehr thematisiert, um schließlich in einer gemeinsamen Beschwerdesequenz über die Verspätung der noch fehlenden Gäste zu münden (Abschnitt 2.3). 2.1 Die Eröffnung des Essens Das Essen beginnt ca. 50 Minuten nach Anfang der Aufnahme, als alle fünf eingeladenen Gäste anwesend sind. Nachdem die Gastgeberin gemeinsam mit Teilnehmer Christian in ihrem Zimmer die Musik ausgewählt hat, betritt sie Florence Oloff 176 Oloff final wieder die Küche und geht auf ihren Platz zu (Bild 1). Alle anderen sitzen bereits am Tisch, haben jedoch mit dem Essen noch nicht begonnen, obwohl Teller sowie alle Zutaten bereitstehen und auch das Raclettegerät bereits angeschaltet ist. Noch während Isabelle auf ihren Platz am Kopf des Tisches zugeht, stellt sie eine Liste von noch vorrätigen Nahrungsmitteln auf. Sie unterstreicht die einzelnen Punkte dieser Liste mit einer Art Zählgeste beider Zeigefinger (Z. 4-7, Bild 1-2). ISA CHR KAR JAN MAN FAB Bild 1 Bild 2 Auszug 0 (ev1_50: 18, po1_49: 44) Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 177 Oloff final Obwohl Isabelle bereits nach dem ersten Teil der Liste (Z. 6, 8: fast noch 'n kilo kä: se/ ) ihren Platz erreicht hat, setzt sie sich nicht, sondern verbleibt in der stehenden Position, die Liste fortfahrend (Z. 10, Bild 2). Das von ihr in die Liste eingefügte also haut rei: n/ (Z. 8) wird von den Teilnehmern nicht als Aufforderung verstanden, sofort mit dem Essen zu beginnen, da alle noch ihre Hände unter dem Tisch positioniert haben und in ihre Richtung schauen (Bild 2). Auch das Thema „Fasching“ (Z. 1-3, 5, 7), welches vor dem Wiedereintreten der Gastgeberin in den Raum von Jan, Fabian und Manuela behandelt wurde, wird hier nicht weiterentwickelt. Dies zeigt einerseits, dass die Teilnehmer Isabelles Redebeitrag als noch nicht vollständig behandeln (da sie sowohl durch die Zählgeste als auch durch das Stehenbleiben an ihrem Platz eine Weiterentwicklung ihres Redebeitrags anzeigt, siehe auch die projizierende Intonation nach also haut rei: n/ , Z. 8), andererseits, dass sie auf den Beginn des Essens warten. Dies belegen auch die folgenden Redebeiträge, in denen kein neues Thema eingeführt wird, sondern die auf die bevorstehende Aktivität des Essens Bezug nehmen: Als Isabelle die mehrteilige Liste mit einem also: \ (Z. 12) abgeschlossen hat und sich auf ihren Stuhl zu setzen beginnt, produziert Christian eine erste positive Bewertung („assessment“, Pomerantz 1984) dieser Liste (Ah klasse\, Z. 13). Nachdem Isabelle sich auf ihrem Platz niedergelassen hat, formuliert Christian eine Art multimodalen Abschluss der Liste (und ich hab genug hunger Florence Oloff 178 Oloff final mitgebracht \, Z. 17), verbal und mit seiner den Bauch streichelnden Hand aufzeigend, dass nun der Beginn des Essens imminent ist (Bild 3). Isabelle vollzieht nun ihrerseits explizit die Eröffnung des Essens, was sowohl mit lexikalischen Mitteln (das eSSEN IS JETZT ERÖFFNET\, Z. 18) als auch körperlich durch ihr kurzes Klatschen zum Ausdruck gebracht wird (Z. 20, Bild 4). Bild 3 Bild 4 Die Orientierung der Teilnehmer zu den Kategorien ‘Gastgeber’ bzw. ‘Gast’ wird in dieser Eröffnung sehr deutlich: Während Isabelle die Eröffnung sowohl hörals auch sichtbar einleitet und ausführt (Liste und Zählgeste, die gemeinsam mit dem Klatschen wie eine Art Countdown funktionieren, laute Stimme und explizite verbale Eröffnung, Stehenbleiben, während die anderen bereits sitzen), leiten die restlichen Teilnehmer diese Phase auf andere Weise ein: Beendigung des aktuellen Themas und Nicht-Aufbringen eines neuen Gesprächsthemas, die Blicke zu Isabelle gerichtet sowie in einer Art Wartehaltung positioniert (Bild 1-4). Erst nach der expliziten Eröffnung durch Isabelle (Z. 18) beginnen die anderen, ihre Haltung aufzulösen, sie nehmen die Hände unter dem Tisch hervor, um das Besteck zu ergreifen und die Servietten sowie die Raclette-Pfännchen vom Teller zu nehmen (Bild 5-7). Christian, der als einziger noch nicht sitzt (den Grund hierfür wird er am Ende des Ausschnitts verdeutlichen), verkörpert ebenfalls den Start, indem er mit beiden Händen eine Art Pistolengeste produziert, was er zudem mit einem Zungenschnalzer begleitet (Z. 20, Bild 4). Auch Jan weist explizit auf den Beginn der Nahrungsaufnahme hin, indem er sich Christians Aussage, dass er Hunger hat, anschließt (Z. 19). Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 179 Oloff final Bild 5 Bild 6 Bild 7 Fabian, Manuela und Karolin begleiten die Auflösung der Wartehaltungen mit positiven Bewertungen (AH: / , aUja: \, °cool/ °, Z. 22-24) und Danksagungen (Z. 26, 30), die auf ihre Kategorisierung von Isabelle als Gastgeberin verweisen. Die Eröffnung ist hiermit noch nicht abgeschlossen, denn bevor mit dem Essen begonnen wird, bringen die Teilnehmer ihren Körper in eine passende Haltung am Tisch (Fabian zum Beispiel rückt mit seinem Stuhl an den Tisch heran), die Hände werden über dem Teller positioniert, der Teller sowie der Raum um diesen herum werden freigeräumt, und der Blick auf den Tisch ermöglicht es den Teilnehmern, die verfügbaren Nahrungsmittel sowie ihren Standort zu erfassen (Bild 5-7). Isabelle vollzieht keine direkte positive Bewertung des Essens, sondern bestätigt lediglich mit einem genau\ (Z. 29) sowohl die Vorbereitungen der anderen als auch ihre Selbstorganisierung. Erst, nachdem alle Gäste sich verbal geäußert haben, vollzieht auch sie eine positive Be- Florence Oloff 180 Oloff final wertung der Eröffnung mit einem gemimten Ju/ hu: : \, während sie kurz beide Hände anhebt (Z. 34). Dies stellt eine Art Abschluss der Eröffnung dar, da, abgesehen von einem leisen Echo Fabians auf das Ju/ hu: : \ (Z. 35), keine weiteren Bewertungen der anderen Teilnehmer mehr erfolgen. Dies wird auch im neuen Thema ersichtlich, das Christian nun anschneidet und mit dem er sich direkt an Isabelle wendet (Z. 37). In der (hier nicht gezeigten) Folge entschuldigt er sich bei ihr, dass er keinerlei Gastgeschenk mitgebracht hat. Erst nachdem er dies mit der Gastgeberin ausgehandelt hat, nimmt auch er Platz. Unterdessen haben alle anderen bereits mit dem Essen begonnen, was darauf hindeutet, dass Christians Redebeitrag bereits Teil des „Gesprächs bei Tisch“ ist. Der kurze Zeitraum vor der Nahrungsaufnahme wird von den Teilnehmern deutlich als Beginn organisiert: Von Seiten der Gastgeberin geschieht dies sowohl verbal durch eine Art Einleitung (das Aufzählen der Speisen) und die explizite „Eröffnung“ des Essens als auch sichtbar durch das Abzählen mit den Händen, das Stehenbleiben am Platz in der Einleitungsphase und schließlich das Hinsetzen und das Klatschen zum Start. Bei den Gästen ist zunächst eine multimodale Wartephase zu beobachten, die sich durch unter dem Tisch gehaltene Hände, stilles Sitzenbleiben mit Blick auf die Gastgeberin bis zu ihrem „Startschuss“ auszeichnet, dann, von Beginn der durch Isabelle initiierten Eröffnungsphase an, durch Vorbereitungen zum Essen sowie durch positive Bewertungen des Essens, Danksagungen sowie „Startgesten“ (Klatschen, „Pistolengeste“). Diese unterschiedlichen „Displays“ (Deppermann/ Schmitt 2007) innerhalb der Eröffnungsphase scheinen eng an die Kategorien ‘Gastgeber’ bzw. ‘Gast’ gebunden zu sein, zumal es Isabelle ist, die diese Phase sowohl beginnt als auch abschließt, bevor ein neues Gesprächsthema initiiert wird und mit der Nahrungsaufnahme begonnen wird. Neben Tischgebet oder profanen Segenswünschen (wie „guten Appetit“, siehe Keppler 1995) stehen den Teilnehmern also auch andere Methoden zur Verfügung, das Essen zu beginnen, wie hier durch Aufzählen (und somit explizites Anbieten) der Speisen, positive Bewertungen und Danksagungen - was auch auf die Relevanz der Kategorien ‘Gastgeber’ und ‘Gast’ hinweist, die hier mobilisiert werden (können). Dieser gemeinsam von allen Teilnehmern öffentlich vollzogene Beginn des Essens weist darauf hin, dass sie die vorherige Interaktion als kontrastierend zu diesem Beginn behandeln. Es sollte demnach in der diesem Zeitpunkt vorausgehenden Interaktion deutlich werden, dass hier etwas „noch nicht begonnen hat“, bzw. dass auf den Beginn des Essens gewartet wird. In den folgenden Absätzen (2.2, 2.3) werden daher die Schlüsselmomente analysiert, in denen die Interaktion „vor dem Essen“ explizit von den Teilnehmern als solche thematisiert wird und in denen ihre Orientierung zu einem Warten deutlich wird. Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 181 Oloff final 2.2 Warten auf den Beginn des Essens als „Nebenaktivität“ Dass die Dreiviertelstunde vor dem Beginn des Essens von den Teilnehmern als ein Warten gestaltet wird, zeigen einerseits die „stofflichen“ Vorbereitungen zum Essen (Schneiden, Anrichten, Kochen der Nahrungsmittel usw.), andererseits auch diverse verbale Äußerungen der Teilnehmer. Wenngleich der Warteaspekt beim Zubereiten der Speisen oder beim Anbieten eines Glases Portwein (von Isabelle ausdrücklich als „Aperitif “, und daher so als vor dem Essen stattfindend kategorisiert) kaum wörtlich expliziert wird, thematisieren die Teilnehmer mehrmals die „Zeitlichkeit“ der Ankünfte der verschiedenen Gäste. Bereits sechs Minuten nach der Ankunft der ersten Gäste, Fabian und Manuela, wirft letztere die Frage auf, welche Uhrzeit Isabelle ihren Eingeladenen angegeben hatte (Z. 3). Im folgenden Auszug wird das Warten auf die Ankunft der anderen ausdrücklich als kollektive Aktivität organisiert: Auszug 1 (ev1_06: 03, po1_05: 29) Florence Oloff 182 Oloff final Während Isabelle eine Packung Chips öffnet und ankündigt, sie auf das noch kalte Raclettegerät zu stellen (Z. 1-2, zuvor hat sie Fabian und Manuela einen Aperitif angeboten), erkundigt sich Manuela nach dem Zeitpunkt, der den anderen Gästen als Ankunftszeit vermittelt wurde (zu wann hast du denn eingeladen\, Z. 3). Dass die Einladung zu diesem Essen nicht (nur) direkt von Isabelle, sondern vor allem von Fabian übermittelt wurde (der im Gegensatz zu Isabelle im selben Studentenwohnheim wie alle anderen Teilnehmer wohnt), zeigt die folgende, von Isabelle und Fabian gemeinsam formulierte Antwort (Z. 5-9). Während ihres zögernden ÖH: : : : : : \ (Z. 5) wendet Isabelle ihren Blick zu Fabian und schlägt in Überlappung mit ihm die Uhrzeit a: cht: / hal(b)- (Z. 7) vor, wohingegen Fabian eine wesentlich spätere Uhrzeit angibt und sich deutlich als „Vermittler“ der Einladung positioniert (ich hab gesagt, Z. 6). Besonders interessant ist hier der ‘repair’ Fabians von nEun uhr °gehts: : ° zu ( fangen) wir (dann) mit essen^A: n/ (Z. 8-9), was den offiziellen Beginn hier als Zeitpunkt kennzeichnet, an dem die Teilnehmer mit der Raclette beginnen. Besonders die von ihm verwendete Präposition davor (Z. 12) verdeutlicht die Einteilung des Abends in ein „Essen“ und ein „vor dem Essen“. In seinem Bericht zu den Zeitplänen der anderen teilt Fabian die Gäste in verschiedene Gruppen - zu Manuela und sich selbst referiert er als wir (Z. 12), die bereits davor ankommen, im Kontrast zu der Gruppe der anderen (Z. 15). Deren spätere Ankunft wird nun von Fabian detailliert erklärt: Christian und Jan werden als weiteres Paar von Fabian erfasst, da beide an einem abendlichen Capoeirakurs teilnehmen (Z. 15-17), der zu diesem Zeitpunkt bereits beendet zu sein scheint, wie die Verwendung des Präteritums anzeigt (die warn auf jeden fall im capoeira\, Z. 16-17). Diese Information wird von Manuela mit einem „change-of-state-token“ (Heritage 1984), von Isabelle mit einer Präzisierungsfrage zur Uhrzeit bestätigt (un(d) das bis NEUn oder/ , Z. 19). Das Wissen Fabians um die Zeitpläne der anderen ist somit zu einem geteilten Wissen der Anwesenden geworden. Die spätere Ankunft wird hier nicht als etwas Problematisches behandelt, weist aber auf die Orientierung der Anwesenden zu einem „Warten auf die anderen“ hin. Die Verwendung der Begriffe „gleich“ und „direkt“ in Fabians Ausführung zu Karolin (sie geht gleich dann direkt her\, Z. 23-24) sowie die vorangehende Verwendung des Präteritums (warn, Z. 16) unterstreichen, dass für Fabian mit der Ankunft der anderen in einem zeitlich engen Rahmen zu rechnen ist. Diese Erwartung scheint von Isabelle geteilt zu werden, da sie nach Fabians Redebeitrag keine explizite Bewertung zu diesen Informationen produziert, sondern mit ihren Vorbereitungen fortfährt (sie er- Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 183 Oloff final hebt sich, Z. 21) und den Gästen etwas zu trinken anbietet. Erst 25 Minuten später kommt es zu einer zweiten Thematisierung der Ankunft der anderen Gäste, was hier dadurch ausgelöst wird, dass Jan Fabian per Handy kontaktiert: Auszug 2 (ev1_30: 25, po1_29: 52) Florence Oloff 184 Oloff final Isabelles französischer Mitbewohner Damien (Bild 8) ist gerade im Begriff, zur Musik mitzusingen, als Fabian nach seinem Handy greift (Z. 2). Kein Klingelton ist zu hören, aber das °hm/ hm\° Fabians sowie seine zum selben Zeitpunkt beginnende Greifbewegung zum Handy weisen darauf hin, dass er angerufen wird. Nach einem Blick auf das Display seines Mobiltelefons (Z. 6, Bild 8) vollzieht er die Identifizierung des „Anrufers“ mit einem deutlichen ah: / : \ (Z. 11). Gleich im Anschluss daran erhebt sich Fabian von seinem Platz (Z. 11-14) und geht auf die Haustür zu, was er auch durch seinen Account ich MACH aUf (Z. 16) erklärt. Er formatiert diesen Redebeitrag durch den Wechsel zum Französischen und seine Kopfdrehung für Isabelle, die gerade mit Damien über die von ihm erwarteten Freunde spricht 4 (Z. 7-15, Bild 9). Dies weist darauf hin, dass es sich bei der anrufenden (und Fabians Annahme nach ankommenden) Person um einen der erwarteten Gäste handelt. Isabelle produziert nun mit Hinblick auf die von Fabian projizierte Aktivität ihrerseits ein ‘change-of-state-token’ (AH/ (0.3) d'accord\, Z. 18, siehe ihre Blickrichtung zu Fabian) und stimmt so Fabians Annahme zu, dass ein weiterer Gast vor der Tür steht. Vor der Tür hört man Fabian Jans Namen rufen (Z. 29), bei dem es sich offenbar um den Anrufer handelt. DAM Bild 8 Bild 9 In Fabians Abwesenheit kündigt Isabelle das Öffnen der Weinflasche und damit den unmittelbaren Beginn des Essens an (Z. 32: dann können wir ja fast loslegen\ dann kann ich ja eigentlich den wein schon ma: l dekapsulieren\), sie 4 Interessanterweise wird auch im kurzen Gespräch zwischen Isabelle und Damien die Ankunftszeit seiner Gäste sowie deren eventuelle Verspätung besprochen. Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 185 Oloff final situiert das Entkorken der Flasche aber gleichzeitig als noch zur Wartezeit gehörend, als Moment des „Noch-nicht-Beginnens“ für die Anwesenden (wir, fast). Auch das schon ma: l unterstreicht, dass Isabelle diese Handlung als etwas zeitlich Vorgelagertes behandelt. Sie bleibt nach dem Öffnen der Flasche vor dem Tisch stehen, was einen weiteren möglichen Hinweis auf ihre Orientierung zur Ankunft eines neuen Gastes darstellt. Auszug 2, Fortsetzung (ev1_31: 19, po1_30: 45) Als Fabian eine halbe Minute später ohne Begleitung wieder eintritt (Z. 35), fragt Isabelle ihn nach der Identität des Anrufers bzw. des (Nicht-)Ankommenden (aber das war wer: / was wer wie was/ , Z. 36). Während Fabian zu seinem Platz zurückgeht, erklärt er, dass Jan nicht - wie von ihm erwartet - vor der Tür stand, so dass er ihm lediglich eine Nachricht per Handy hinterlassen hat Florence Oloff 186 Oloff final (Z. 38-45). Dieser „Fehlalarm“ wird nun von Isabelle scherzhaft behandelt, sie macht deutlich, dass auch sie mit der Ankunft weiterer Gäste gerechnet hatte und dass das Öffnen der Weinflasche für sie eine dem Beginn des Essens nur kurz vorgelagerte Handlung war ( jetzt hab ich den wein schon aufgemacht war ganz AUFgere: gt/ >>weil ich dacht jetzt kommen noch mehr g(h)äst(h)e(h: )/ <<, Z. 50-51, 53). Ihre durch ein Hüpfen gemimte „Aufregung“ sowie das Lachen zeigen, dass das Warten zu diesem Zeitpunkt von ihr als etwas Unproblematisches behandelt wird. Auch Fabian mimt durch Lachen, Klatschen und schnelles Drehen zur Seite die „Aufregung“ Isabelles und stimmt so in die scherzhafte Behandlung des Fehlalarms ein (Z. 52, 54-55). Das „Erwarten“ der fehlenden Gäste wird explizit, wenn auch scherzhaft von Fabian und Isabelle verkörpert, wozu Manuela eine minimale, aber nichtsdestoweniger zustimmende Bemerkung beisteuert (ja/ (so)\, Z. 56): Innerhalb dieser kurzen Sequenz zeigt sich also eine deutliche gemeinsame Orientierung zum Warten als Aktivität. 2.3 Warten als Hauptaktivität: Verspätung der anderen und gemeinsame Beschwerde Dass zumindest die Gastgeberin sich immer mehr zur Aktivität des Wartens orientiert, zeigt ihre Frage weniger als drei Minuten später. Indem sie nochmals nach der Dauer des Capoeirakurses fragt, den Jan und Christian besuchen, nimmt sie erneut Bezug zu den Zeitplänen der anderen und projiziert so ein mögliches Problem: Auszug 3 (ev1_34: 15, po1_33.41) In einer Pause nach ihrem letzten Redebeitrag (ein Witz mit Mitbewohner Damien) beginnt Isabelle, ihren rechten Arm zu heben, um auf ihre Armbanduhr zu schauen (Z. 1). Gleichzeitig fragt sie Fabian nach dem Zeitpunkt, an Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 187 Oloff final dem der Capoeirakurs der anderen endet (Z. 2-3). Während Isabelle wie bereits zuvor neun Uhr vorschlägt (vgl. Auszug 1, Z. 19: un(d) das bis NEUn oder/ ), schaut sie zu Fabian, doch dieser hat schon seit der Pause seinen Blick zum vor dem Tisch tanzenden Damien gerichtet und spricht diesen in Überlappung mit Isabelle an (Z. 4). Er steht daher nicht für eine Antwort zur Verfügung. Obwohl Isabelle Fabian nach ihrer Frage noch fixiert, unterbricht dieser seine Interaktion mit Damien nicht, so dass Isabelle ihren Blick schließlich von ihm abwendet, ohne eine Antwort erhalten zu haben (Z. 8). Es kommt hier also zu keiner gemeinsamen Behandlung des Themas „Zeitpunkt der Ankunft der anderen Gäste“, jedoch projiziert Isabelle hier schon ein mögliches Problem bezüglich der Abwesenheit bzw. Verspätung der anderen Teilnehmer, was sich auch im von ihr gewählten Frage-Format zeigt. Sie stellt hier die Teilnahme am Capoeirakurs als möglichen Grund für das spätere Eintreffen dar, wobei ihr Vorschlag neun die mögliche Dauer anzeigt, die eine verspätete Ankunft erklären würde. Weitere drei Minuten später aber kommt es zu einer gemeinsamen Thematisierung der Abwesenheit der anderen Gäste, in deren Verlauf Isabelle sowohl ihre Frage als auch das Auf-die-Uhr-Blicken wiederholt. Während sie und Damien sich noch gemeinsam über ein vorangegangenes Wortspiel amüsieren (Z. 2, 4), beginnt Fabian, sich über die Abwesenheit der anderen zu beschweren. Er tut seine Absicht kund, nun bei ihnen anzurufen und dreht sich währenddessen mit dem Oberkörper zum Fenster hinter ihm (Z. 1, 3): Auszug 4 (ev1_37: 36, po1_37: 03) Florence Oloff 188 Oloff final Fabian verkündet in Überlappung mit Isabelle und Damien seine Absicht, die fehlenden Gäste anzurufen (hey: / x(x) (ich ruf jetzt an/ ) ich hab langsam hUnger\, Z. 1, 3). Fabian kategorisiert sich in dieser Ankündigung als Wartender, und das Essen - dessen Beginn mit der Anwesenheit aller Eingeladenen verbunden ist - wird hier nochmals als ein Startpunkt sowie als zentrale Aktivität des Abends dargestellt. Die Drehung zum Fenster (Z. 2-3, siehe auch Auszug 2, Z. 2-3) ist hier als eine Art Ausschauhalten nach den anderen zu verstehen, da die Straße, von der aus die Gäste ankommen, in Richtung des Fensters liegt. Als Fabian nach seinem Mobiltelefon greift, wiederholt er sein Vorhaben und formuliert eine erste ausdrückliche Beschwerde (so jetzt ruf ich mal an\ (.) jetzt reichts\, Z. 6). Während dieser Beschwerde schaut Isabelle noch einmal (siehe Auszug 3) auf ihre Armbanduhr (Z. 7-9, Bild 10) und stimmt Fabian verbal zu, indem sie seine Beschwerde „jetzt reichts“ ein wenig umformuliert wiederholt (Z. 7-8) - interessanterweise in der Ich-Form, was eventuell als Bezug auf ihre Rolle als Gastgeberin zu verstehen ist. Sie fährt mit einem allgemeinen Kommentar zu Verspätungen fort, allerdings ist der Ton ihrer Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 189 Oloff final Stimme zu diesem Zeitpunkt nicht so ernsthaft wie der Fabians (immer diese verspätungen\, Z. 10), was darauf hinweist, dass sie Fabians vorangegangenen Beitrag nicht als ernsthafte Beschwerde behandelt (siehe Traverso i.Dr.). Letzterer führt seine Beschwerde jedoch weiter aus, indem er die Dauer der Verspätung präzisiert (also 'ne ha: lbe stunde zu spät das is: : \, Z. 12-13). Bild 10 Bild 11 Fabians Anspielung auf die „deutsche Pünktlichkeit“ (BEI MANCHEN DEUT- SCHEN/ , Z. 16) wird von ihm nicht weiter ausgeführt, vielleicht, da Isabelle mittlerweile mit lauter Stimme erneut die Frage nach der Dauer des Sportkurses von Jan und Christian stellt (Z. 17, 19, Bild 11, siehe Auszug 1: un(d ) das bis NEUn oder/ , Auszug 3: Ah bis wann 'n geht der: / der capoeirakurs neun/ ). In der von ihr verwendeten „Pivot-Konstruktion“ (Betz 2008) wechselt sie ohne prosodischen Bruch von einer deklarativen, unvollständigen Konstruktion (ABER ICH DENKE DAS GING BIS → x Uhr) zu einer interrogativen Konstruktion (bis wAnn ging denn das\). Dies weist auf eine epistemische Asymmetrie zwischen Isabelle und den anderen hin (ebd., S. 137-168), da Isabelle zum einen verdeutlicht, dass sie über das Ende des Capoeira-Kurses (zu dem sie mit das referiert) nicht informiert ist, zum anderen leitet sie mit der Fragekonstruktion eine Reparationssequenz ein, mit der sie diese Information von den anderen einfordert. Dieser Redebeitrag spielt darauf an, dass der Zeitraum, der zwischen dem Ende des Sportkurses und dem aktuellen Zeitpunkt liegt, entscheidend dafür ist, inwieweit die Abwesenheit der anderen als Verspätung zu beurteilen ist. Isabelle nimmt im Folgenden durch die Steigerung von Fabians Beschwerde ebenfalls eine Position der „sich Beschwerenden“ ein (Traverso i.Dr.): Nach Fabians Antwort ((äh) bis um Acht, Z. 24, Florence Oloff 190 Oloff final durch die Verzögerung von fast einer Sekunde als potenziell nicht-präferenzielle Antwort formatiert) wird deutlich, dass Isabelle diese Zeitspanne als mehr als ausreichend für ein pünktliches Ankommen betrachtet sowie die abgelaufene Zeit nun als problematisch behandelt, was sie hörbar durch die emphatische Wiederholung (bis um ACH: T ging das capoeira/ , Z. 27) sowie ihre negative Bewertung mitteilt (das is aber Abusé: : \, Z. 29, 31; abusé kann wörtlich mit „missbraucht“ übersetzt werden und entspricht in diesem Zusammenhang ungefähr dem deutschen „das geht gar nicht“). Auch Manuela stimmt nun in die Beschwerdesequenz ein und formuliert explizit (dann werden's die ja wohl bis zehn bis halb zEHn schaffen können\, Z. 28, 30), was Isabelle auch mimisch sowie mit ihrer Haltung zum Ausdruck bringt. Nachdem Isabelle ihre „vorwurfsvolle“ Haltung mit hängendem Kopf sowie steifem Arm aufgelöst hat (Z. 29-31), erfolgt ein erneuter Blick ihrerseits auf die Uhr (Z. 33-34), während sie ihrer Zustimmung zu Manuela Ausdruck verleiht (allerdings/ , Z. 33). Die von den drei Teilnehmern gemeinsam formulierte Beschwerde über die Verspätung der anderen verdeutlicht, dass das Warten von den drei Teilnehmern als eine gemeinsame Aktivität angesehen wird und nicht etwa nur die Gastgeberin betrifft. Kurze Zeit nach Abschluss dieser Sequenz ruft Fabian die fehlenden Gäste wie angekündigt an (Z. 36): Auszug 4, Fortsetzung (ev1_38: 21, po1_37: 48) Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 191 Oloff final Fabian fragt Jan nach dessen Verbleib und versucht erfolglos, Informationen über Karolins und Christians Ankunftszeit zu erhalten (wo bist 'n du/ , Z. 36-37, und der chrischi und die karolin/ , Z. 43). Auch Isabelle adressiert sich kurz an Jan, Fabians Frage wiederholend (JAN wo bist dU: \, Z. 40), was einen weiteren Hinweis auf das kollektive Warten der Anwesenden darstellt. Als Fabian erfährt, dass Jan bereits mit seinem Fahrrad unterwegs ist (AchsO: du bist aufm fah-, Z. 49), leitet er schnell die Schlusssequenz des Anrufes ein und verabredet mit Jan dessen Ankunftsmodalitäten (Z. 49-50). Das zweimalige bis gleich (Z. 49, 54) projiziert, dass Jan in absehbarer Zeit eintreffen wird. Noch während Fabian den Inhalt des Telefongespräches an Isabelle vermittelt, lässt er das Handy von der linken in die rechte Hand gleiten (Z. 57-58), Vorbereitung zu einem weiteren Anruf. Fast gleichzeitig mit ihm schlägt Isabelle vor, bei Christian anzurufen (vielleicht rufen wir mal \, was is 'n die nUMmer von: chrischi\, Z. 61-63), was Fabian kurz darauf in die Tat umsetzt (Z. 82): Auszug 4, Fortsetzung (ev1_39: 00, po1_38: 26) Florence Oloff 192 Oloff final In Christians WG ist nur dessen französischer Mitbewohner zu sprechen, der Fabian informiert, dass dieser bereits gegangen ist (Z. 82-89), wie auch Isabelle aus dem Teilgespräch erschlossen hat (auch gegangen/ , Z. 91). Da Christian im gleichen Studentenwohnheim wie Fabian und Manuela wohnt, können die Teilnehmer einschätzen, dass bis zur Ankunft Christians nur noch einige Minuten vergehen sollten (die Dauer des Fußweges zwischen den beiden Wohnorten beträgt ungefähr zehn Minuten). Da das Ende des Wartens und der Beginn des Essens nun für die anwesenden Teilnehmer in eine präzisere Nähe rücken, besteht keine Notwendigkeit mehr, die Beschwerdesequenz zu wiederholen, und Isabelle schneidet anschließend ein neues Thema an (über den Mitbewohner Christians, Z. 95). Die beständige Orientierung zu einem „Warten“ zeigt sich jedoch in Isabelles kurzem Redewechsel mit ihrem Mitbewohner Pascal, der zwischenzeitlich in die Wohnung gekommen ist und nun wieder hinausgeht (Z. 65). Als er, einen guten Appetit wünschend, aus der Tür tritt, bedankt sich Isabelle bei ihm (danke\ (.) den ham wir\, Z. 68). Mit dieser wörtlichen Bestätigung seines Wunsches (guten appetit - den ham wir) formuliert Isabelle einen Account bezüglich des Wartens, insbesondere durch den Zusatz, dass die Anwesenden erstmal warten (Z. 73), bevor der vorhandene Appetit befriedigt werden kann. Die Anwesenheit aller Teilnehmer wird deutlich als Bedingung für den Beginn des Essens behandelt, was auch im letzten Auszug deutlich wird (vgl. die Orientierungen der Teilnehmer zu eher technischen „Eröffnungsbedingungen“, siehe Mondada in diesem Band). Da Fabian, Isabelle und Manuela nun durch die Telefonanrufe Genaueres zur Ankunftszeit der anderen wissen, nimmt die letzte gemeinsame Thematisierung des Wartens einen wesentlich unproblematischeren Ton an. Die Frage Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 193 Oloff final (Z. 1), die Isabelle ungefähr fünf Minuten später an Fabian und Manuela stellt, weist darauf hin, dass sie mit der unmittelbaren Ankunft der restlichen Gäste rechnet: Auszug 5 (ev1_42: 56, po1_42: 23) In Isabelles Frage wird die vorherige Zeit explizit als Warten bezeichnet (warten wir jetzt noch auf die andern/ oder, Z. 1). Während Fabian Christians baldige Ankunft noch einmal erwähnt (und sich somit eher für ein „Abwarten“ ausspricht (a'so der: chrischi is par: (.)ti: : / (gegangen), Z. 3, 5), schlägt Manuela vor, das Raclettegerät ma: vielleicht an[zu]machen\ (Z. 4, 6). Beide Teilnehmer scheinen also den Beitrag Isabelles als indirekte Frage zu verstehen, ob nun mit dem Essen begonnen werden sollte, was in dem Sinne wahrscheinlich ist, als Isabelle einige Sekunden zuvor (hier ausgelassen) einen Teil der nun fertig gekochten Kartoffeln auf den Tisch gestellt hat (und somit alle Zutaten für die Raclette bereit stehen). Die Teilnehmer zeigen eine deutliche Präferenz des Wartens auf die anderen, da das Essen nicht explizit thematisiert wird, auch wenn Manuelas Vorschlag einen weiteren Schritt hin zum Beginn des Essens darstellt. Sowohl Isabelle als auch Fabian akzeptieren Manuelas „Kompromiss“ (Fabian schaltet nun das Raclettegerät ein, Z. 12). Es erscheint noch einmal ein isolierter Verweis auf die Verspätung der anderen: Isabelles Kommentar, der das Wegräumen der Portoflasche begleitet ((die) kriegen aber keinen portwein, Z. 13), impliziert, dass es sich hier erstens um den Abschluss des Aperitifs handelt (zu dem sie den beiden bereits anwesenden Gästen Getränke und Essen angeboten hatte, siehe Auszug 1); dass also mit dem Anstel- Florence Oloff 194 Oloff final len des Raclettegerätes eine neue Phase des „Wartens“ beginnt, und zweitens, dass „die“ anderen drei Gäste zu spät kommen, um noch zu dem Privileg eines Glases Portwein kommen zu können. In diesem Redebeitrag aktualisiert Isabelle nochmals die Kategorisierung zwischen den bereits Anwesenden und den „Zuspätkommern“, die innerhalb der bisherigen Interaktion die beständige Orientierung der Anwesenden zum Warten verdeutlicht hat. Die verschiedenen Auszüge aus der vor dem Beginn des Essens liegenden Interaktion zeigen, wie die ersten Gäste gemeinsam mit der Gastgeberin diesen Zeitraum als „Voreröffnung“ strukturieren. Dies manifestiert sich vor allem in den zahlreichen Thematisierungen der Zeitpläne und der Verspätung der noch fehlenden Gäste, die die Orientierung zum Warten als gemeinsame Aktivität verdeutlichen. In der Folge sollen nun das Klingeln (Abschnitt 3) sowie das Hereintreten (Abschnitt 4) der einzelnen Gäste beschrieben werden, um herauszuarbeiten, wie sich diese Sequenzen in das vorab beschriebene Warten einfügen und was in diesen Ausschnitten in Bezug auf die Zeitlichkeit der Interaktion sichtbar wird. 3. Die Ankunft der Gäste: „Klingeln“ und Hereinlassen Wie die folgenden Auszüge zeigen werden, bestehen neben der in diesem Kontext erwartbaren „Aufforderung“ („summons“, Schegloff 1968) durch ein Klingeln an der Haustür weitere Möglichkeiten, sein Ankommen „hörbar“ zu machen. Die Ankunft der ersten beiden Personen, Fabian und Manuela, wurde nicht vollständig gefilmt - die Gastgeberin, verantwortlich für das Einschalten der Kameras, hat diese erst nach deren Ankündigung in Gang gesetzt. Der ‘summons’ hat hier bewirkt, dass der zweite Teil des Ajdazenzpaares nicht nur das Öffnen der Tür ist, sondern auch bzw. zunächst das Auslösen der Kameras. Somit stellt dieser Moment aus der Perspektive der Gastgeberin deutlich einen Beginn (der Interaktion mit den Gästen) dar. Die Ankündigungen der Gäste und deren Einlass unterliegen hier allerdings gewissen räumlichen Besonderheiten: Um auf das Gelände des Studentenwohnheims und so zu Isabelles Haustür zu gelangen, muss zunächst die Wohnheimpforte passiert werden. Der Ankommende kann sich entweder mit einer die Anwohnerkarte besitzenden Person Zutritt auf das Gelände verschaffen, oder aber über die am Tor angebrachte Sprechanlage in einem der Zimmer des Wohnheimes anrufen und warten, dass ihm das Eingangstor geöffnet wird. 3.1 Manuelas und Fabians Ankunft: Aufnahmebeginn Als die Aufnahme der ersten Kamera beginnt, ist die Eingangstür noch verschlossen. Es ist zu sehen, wie Isabelle die zweite Kamera neben der Tür an- Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 195 Oloff final schaltet (Z. 1-4). Bis beide Kameras angeschaltet sind, vergehen über 40 Sekunden. Erst dann öffnet Isabelle die Tür (Z. 5) und fordert die Gäste an der Eingangspforte des Wohnheims zum Warten auf (moment\, Z. 7), da sie zum Hinuntergehen noch Schuhe anziehen muss (Z. 11): Auszug 6A (ev1_00: 00, po 1_00: 28) Nachdem sie ihre Stiefel angezogen hat, geht Isabelle auf die Terrasse und läuft die Treppe hinunter, wo der Haupteingang des Wohnheimgeländes liegt (Z. 21). Im weiteren Verlauf sind einige Gesprächsfetzen von unten zu hören, schließlich fällt die Wohnheimpforte ins Schloss. Die Tatsache, dass Isabelle die beiden hier nicht begrüßt, lässt vermuten, dass dies entweder bereits am Telefon erfolgt ist bzw. (außer Sicht der Kameras) noch erfolgen wird. Da weder das Klingeln des Telefons noch Isabelles vorherige Aktivität von der Kamera aufgezeichnet wurden, ist es unmöglich zu sagen, inwieweit sie ihre bisherige Aktivität unterbricht, jedoch ist in den nächsten Auszügen zu sehen, wie die Teilnehmer auf das „Klingeln“ reagieren und ob dies zu einem Aussetzen der laufenden Aktivität führt oder nicht. Florence Oloff 196 Oloff final 3.2 Jans Ankunft: Fahrradbremsen Wie im bereits analysierten Auszug 2 (Abschnitt 2.2) gesehen, wird in dieser Interaktion auch das Anrufen auf dem Mobiltelefon als eine Aufforderung verstanden: Als Jan das erste Mal anruft, steht Fabian sofort auf, um ihm draußen die Wohnheimpforte zu öffnen, was sich zu diesem Zeitpunkt jedoch als Fehlinterpretation herausstellt. Später (Abschnitt 2.3) vereinbaren beide, dass das „Anklingeln“ auf Fabians Handy als Signal für Jans Ankommen gelten soll (lass bei mir an: klingeln: dann: mach ich dir auf \, Auszug 4, Z. 50). Zugleich konnte Fabian in diesem Telefongespräch, auch hörbar für die Isabelle und Manuela, in Erfahrung bringen, dass Jan mit dem Fahrrad zu Isabelle fährt (AchsO: du bist aufm fah-, Auszug 4, Z. 49, der jan is aufm fahrrad/ , Z. 57). Die Verfügbarkeit dieser Information führt zu einer ganz anderen Art von Ankündigung, wie sich zeigt, als Jan schließlich (etwa 43 Minuten nach Aufnahmebeginn) eintrifft. Während Fabian und Isabelle ein deutsch-französisches Wortspiel zum Anschließen des Gerätes machen 5 (auf dessen Anschalten sie sich kurz zuvor geeinigt haben, siehe Auszug 5, Abschnitt 2.3), ist von der Straße das Geräusch quietschender Bremsen zu hören (Z. 16-31): Auszug 7A (ev1_43: 11, po1_42: 38, Fortsetzung von Auszug 5) 5 Z. 19: brancher = „anschließen“, im übertragenen Sinne auch „jemanden anmachen“, als Adjektiv branché auch mit dem Sinn „modern, angesagt, trendy“ verwendet. Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 197 Oloff final Bild 12 Während nach dem ersten Quietschen der Bremsen (Z. 20) keine verbale oder körperliche Reaktion bei den Teilnehmern wahrnehmbar ist (siehe ihre gleichbleibende Orientierung zum Tisch nach dem ersten Bremsgeräusch, Bild 12, Z. 28), modifiziert Isabelle während des zweiten Bremsens deutlich ihre Haltung (Z. 31-33). Noch im Sprechen begriffen, beugt sie sich etwas vor und dreht dann ihren Kopf sowie ihren Blick in Richtung Tür (Bild 13). In der folgenden Pause (Z. 35) löst sie diese „Lauschhaltung“ auf, richtet sich auf und dreht sich zur Haustür, um anschließend den anderen ihre Interpretation des Geräusches mitzuteilen (man möchte meinen/ das sei 'n fahrrad \, Z. 33). Fabian, der zuvor den Blick auf den Tisch gerichtet hatte, beginnt unterdessen zu ihr aufzuschauen (Bild 14). Bild 13 Bild 14 Florence Oloff 198 Oloff final Interessanterweise wendet Isabelle noch vor Ende ihres Redebeitrags ihren Blick sowie ihren Körper zu Fabian. Diese körperliche Ausrichtung sowie ihre Frage nach Bestätigung (die sie nicht als Tatsache, sondern eher als Hypothese formuliert: man möchte meinen das sei, Z. 33) werden von Fabian als Aufforderung interpretiert, Jan zu öffnen. Noch während er Isabelles Vermutung zur Herkunft des Geräusches bestätigt (Z. 36, 39), beginnt er sich von seinem Stuhl zu erheben und zur Haustür zu gehen. Auch Isabelle bewegt sich nun auf die Tür zu (Z. 37-42, Bild 15, 16). Bild 15 Bild 16 Während Fabian und Isabelle sich auf die Ankunft des neuen Gastes konzentrieren, sucht Manuela nach dem Stecker des Raclettegerätes und führt so die vorherige Aktivität fort (Z. 40). Ihre Frage nach dem Vorhandensein einer Steckdose (Z. 45) erhält jedoch keine Antwort, da Isabelle unterdessen die Haustür geöffnet hat und Jans Namen ruft (Z. 44), woraufhin dieser mit einem lauten Ja antwortet (Z. 46): Auszug 7A, Fortsetzung (ev1_43: 28, po1_42: 56) Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 199 Oloff final Bild 17 Bild 18 Auch wenn Isabelle bis zur Türschwelle gegangen ist, bleibt sie dort stehen und hält die Tür offen (Bild 17), wohingegen Fabian auf die Terrasse hinaustritt (Bild 18). Auch er initiiert ein Frage-Antwort-Paar (Z. 47, 49), das demselben Muster folgt: Ruf des Namens und Bestätigung. Das Bremsgeräusch wird also eindeutig als Ankündigung Jans, als personalisierte Aufforderung (ähnlich wie bei Mobiltelefonen, siehe Mondada in diesem Band) verstanden, so dass Aufforderung und Antwort mit der Identifizierung verschmelzen, wie auch die folgende Bemerkung Isabelles (COO: L/ WIR HABEN DICH AN DEINEN BREM/ SEN ERKANNT \, Z. 50-51) sowie die Abwandlung eines biblischen Zitats durch Manuela verdeutlichen (an ihren bremsen sollst du sie erk(h)e(h)nn(h)en\, Z. 55, 57). Florence Oloff 200 Oloff final Noch bevor Fabian die Treppe hinunterläuft, um Jan an der Hauptpforte Einlass zu gewähren, geht Isabelle wieder in den Raum zurück (Z. 54). Trotz dieser Aufgabenverteilung zeigen die beinahe simultan begonnene und ausgeführte Bewegung der beiden zur Tür, das Öffnen der Tür durch Isabelle und das simultane Hinaustreten Fabians sowie ihre identisch formulierte Antwort auf das Bremsgeräusch, dass das Hereinlassen des neuen Gastes von beiden als eine gemeinsame Aktivität konstruiert wird. Dies steht auch mit der Verfügbarkeit des ‘summons’ in Zusammenhang, der in diesem Fall im „öffentlichen“ Raum, auf der Straße, produziert wurde und so für beide gleichzeitig zu hören war. Bei der Ankunft der letzten Gäste hingegen ist die Aufforderung zunächst nur an Isabelle gerichtet, was sich in den späteren Reaktionen der anderen Teilnehmer niederschlägt. 3.3 Karolins und Christians Ankunft: Telefonanruf Die Ankunft von Karolin und Christian findet kurz nach Jans Eintreffen statt. Fabian und Manuela sprechen gerade über Isabelles Mitbewohner Damien, der kurz zuvor alle Anwesenden nach einer Zigarette gefragt hatte und nun wieder in seinem Zimmer ist. Isabelle hatte kurz danach erklärt, dass es Damien daher wohl schlecht gehe. Dieser Zusammenhang ist für Fabian unklar, jedoch geht Isabelle nicht weiter auf seine Klärungsfragen ein. Während sie auf ihr Zimmer zugeht, kommt ihr Jan mit zwei CD s in der Hand entgegen. Als sie diese entgegennimmt (Bild 19), beginnt das Telefon in ihrem Zimmer zu klingeln. Bild 19 Bild 20 Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 201 Oloff final Auszug 8A (ev1_46: 30, po1_45: 56) Noch während das Telefon das erste Mal klingelt (Z. 5), setzt Isabelle den Weg zu ihrem Zimmer fort (Bild 20). Ihre Frage °(wer) ruft mich an/ ° (Z. 8) zeigt auf, dass sie das Telefon hier nicht automatisch als Ankündigung eines neuen Gastes versteht, sondern zunächst als gewöhnlichen Telefonanruf einer ihr zu diesem Zeitpunkt unbekannten Person. Bevor sie außer Sicht der Kameras ist, bedankt sie sich bei Jan für die mitgebrachten CD s und schließt so das Gespräch mit ihm ab (Z. 10). Unterdessen hat Fabian das Verständnisproblem um Damien mit Manuela weitergeführt. Jan beteiligt sich nun auch an diesem Gespräch (is dir schlEcht/ , Z. 21). Zwar bleibt er am Tisch stehen, aber keiner der Anwesenden zeigt eine körperliche oder verbale Orientierung zum Klingeln des Telefons, das hier offensichtlich als eine an Isabelle gerichtete Aufforderung verstanden wird. Florence Oloff 202 Oloff final Auszug 8A, Fortsetzung (ev1_46: 38, po1_46: 04) Es ist zu hören, wie Isabelle am Telefon antwortet (Z. 23), das französische allô/ verdeutlicht, dass sie den Anruf zunächst als einen gewöhnlichen Telefonanruf interpretiert, der eher einen französischsprachigen Anrufer erwartbar macht. Im folgenden Redebeitrag wechselt sie jedoch ins Deutsche ( ja/ , Z. 26), und interessanterweise lenkt Fabian kurz danach seinen Blick von Jan in Richtung Zimmer (Z. 28, Bild 21). Er wendet sich aber kurz darauf wieder dem noch laufenden Gespräch um den Mitbewohner Damien zu. Es ist daher schwer zu sagen, ob er ihr ja/ gehört hat, zumindest steht fest, dass er zu die- Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 203 Oloff final sem Zeitpunkt den Anruf als für ihn nicht relevant einstuft. Auch Isabelles appel/ portier: \, das sie noch in ihrem Zimmer ruft (Z. 29, als Echo der automatischen Botschaft des Telefonsystems, die beim Anruf von der Sprechanlage der Wohnheimpforte aus erklingt) führt zu keiner sichtbaren Reaktion Fabians. Während er spricht, ruft Isabelle - diesmal deutlich lauter - aus dem Zimmer und wendet sich an alle in der Küche Anwesenden (KANN JEMAND VON EUCH au- ÄH: , Z. 32). Jan, der immer noch am Tisch steht, dreht sich als erster zum Zimmer (Z. 32), jedoch repariert Isabelle ihre Frage und spezifiziert nun, dass diese an Fabian gerichtet ist (FABIAN/ , Z. 32, kannst du bitte mal aufmachen/ , Z. 35). Bild 21 Bild 22 Kurz nach Erklingen seines Namens blickt Fabian zu Isabelle ins Zimmer und antwortet. Noch bevor Isabelle ihren Redebeitrag syntaktisch vervollständigt hat (kannst du, Z. 35), beginnt er bereits, sein Aufstehen mit einer Bewegung seiner Arme vorzubereiten (Z. 35, Bild 22). Er behandelt Isabelles Anfrage nun mit seinem NEI: n\ zwar als potenziell nicht-präferenziell, steht aber auf und bewegt sich auf die Haustür zu (Z. 37-43, Bild 23). Obwohl Isabelle kurz zuvor aus dem Zimmer tritt (Z. 36), geht sie nicht auf die Haustür, sondern auf Herd und Spüle zu und unterstreicht somit, dass sie das Hereinlassen nun voll und ganz Fabian überlässt (Z. 41-46, Bild 24). Diese klare Aufgabenteilung wird auch in Isabelles nächster Handlung ersichtlich, die darin besteht, die offene Schachtel mit Salzgebäck (auf dem Stuhl vor ihr) zu ergreifen und Jan davon anzubieten (möchtest du 'n paar: : \ gâteaux apéro: / , Z. 45, Bild 24). Im Gegensatz zu Jans Ankunft, bei der Isabelle und Fabian fast gleichzeitig und parallel reagieren, reagiert Isabelle auf diese Ankündigung mit einem expliziten Delegieren des Hereinlassens an Fabian. Florence Oloff 204 Oloff final Bild 23 Bild 24 Neben einer großen Variation der „Aufforderungen“ (Anrufen auf dem Handy, Anruf auf Isabelles Telefon, Fahrradbremsen) stellt sich auch die Reaktion darauf als sehr unterschiedlich dar: Während Isabelle (bzw. auch Fabian, siehe Ankunft Jan) schnell eine Orientierung zum Öffnen aufzeigt, verbleiben die anderen Teilnehmer (besonders Manuela und Jan) eher in der laufenden Interaktion und behalten ihre Position im Raum bei. Dies hängt zum einen mit dem „recipient design“ (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974, S. 727) der Ankündigung zusammen, die mehr oder weniger für spezifische Teilnehmer formatiert sein kann (z.B. Anruf auf Fabians oder Isabelles Telefon), zum anderen mit der Relevanz bestimmter Kategorien wie ‘Gast’ bzw. ‘Gastgeber’. Die Art, wie die Ankunft eines neuen Gastes bei seinem Hereintreten in den Raum strukturiert wird, gibt zudem Auskunft über die Orientierung der anwesenden Teilnehmer zu einem eher fernen oder eher unmittelbaren Beginn des Essens, wie der letzte analytische Teil zeigen wird. 4. Eintreten und Begrüßung: Orientierung zum Warten, zum Beginn der Interaktion mit dem Gast, zum Beginn des Essens In Übereinstimmung mit der Vielfalt der ‘summons’ gestaltet sich auch das Hereinkommen der Gäste. Die folgenden Analysen illustrieren, wie sie in den Wohnraum treten und von den anderen Teilnehmern begrüßt werden. In diesen Ausschnitten wird deutlich, inwieweit die Teilnehmer sich zu einer Kontinuität des Wartens oder aber zu einem baldigen Beginn des Essens orientieren. Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 205 Oloff final 4.1 Beginn der Vorbereitungen (Fabians und Manuelas Ankunft) Bei der Ankunft Fabians und Manuelas hat die Begrüßungssequenz entweder vor dem Anschalten der Kameras stattgefunden oder/ und am Eingangstor des Wohnheims. Die Interaktion zwischen den drei Teilnehmern ist bereits in Gange, als sie die Treppe zur Wohnung hinaufgehen: Auszug 6B, Fortsetzung von Auszug 6A (ev1_01: 30, po1_00: 57) Florence Oloff 206 Oloff final Bild 25 Bild 26 Immer deutlicher ist zu hören, dass die drei Teilnehmer über die Aufnahmesituation sprechen, da Isabelle Fabians Aussprache des französischen Wortes für „Versuchskaninchen“ (cobaye) korrigiert (Z. 25-38). Unterdessen tritt Isabelle wieder in die Küche (Z. 37), hebt ihre zuvor dort abgelegten Hausschuhe auf, legt sie auf einen der Stühle und beginnt, sich die Stiefel auszuziehen (Bild 25). Während Manuela die Aufnahmesituation mit Experimenten in ihrem Fachbereich Biologie vergleicht, tritt auch sie über die Schwelle (Z. 40-41, 43, Bild 25), gefolgt von Fabian (Z. 41, Bild 26). Zwar kann aus den zuvor genannten Gründen die Begrüßungssequenz hier nicht dokumentiert werden, jedoch markieren andere Elemente, dass sich die Teilnehmer zum gemeinsamen Essen orientieren. In seinem ersten Redebeitrag nach dem Eintreten in die Wohnung kündigt Fabian ein „Geständnis“ an, nämlich, dass er die von Isabelle verlangten Zwiebeln auf dem Weg im Supermarkt „Casino“ vergessen hat (Z. 44, 50-51): Auszug 6B, Fortsetzung (ev1_01: 45, po1_01: 12) Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 207 Oloff final Fabian nimmt in seinem Redebeitrag unmittelbar Bezug auf das geplante Essen, und auch Manuela, die unterdessen ihre Tasche abgelegt hat und nun den Mantel aufknöpft, bestätigt dieses Vergessen und schließt sich so dem von Fabian initiierten Thema an (Z. 54-55). Sämtliche Handlungen des Ankommens werden parallel zum Gespräch ausgeführt: So fängt Isabelle gleich nach dem Hereinkommen an, ihre Schuhe zu wechseln, Manuela beginnt, Tasche und Jacke abzulegen (Z. 47-50), und Fabian ergreift noch im Hereinkommen die Tür und schließt diese dann hinter sich (Z. 41-52, Bild 27). Während Isabelle immer noch mit ihren Schuhen beschäftigt ist, formuliert sie minimale Antworten und nimmt so das von ihren Gästen initiierte Thema auf (Z. 53, 57). Als sie mit ihren Stiefeln in der Hand in ihr Zimmer geht, schaut Fabian in die von ihm gehaltene Plastiktüte (Z. 59, Bild 28), aus der er wenig später (hier nicht gezeigt), als Isabelle aus dem Zimmer in die Küche zurückkehrt, noch weitere Dinge für das geplante Essen hervorholt. Bild 27 Bild 28 Florence Oloff 208 Oloff final Auffällig ist bei dieser ersten Ankunftssequenz, dass die Teilnehmer beim Hereintreten in den Raum sofort ein für das spätere Racletteessen relevantes Thema initiieren. Die Thematisierung von mitzubringenden bzw. fehlenden Nahrungsmitteln weist auf die Orientierung zu der späteren, kollektiven Aktivität des Essens sowie auf dessen Vorbereitung hin, der sich die Teilnehmer bis zur Ankunft Jans gemeinsam widmen. 4.2 Orientierung zum „baldigen Beginn“ (Jans Ankunft) Wie zuvor dokumentiert, ist Fabian nach dem Hören des Bremsgeräusches nach draußen gegangen, um Jan das Tor zum Wohnheimgelände zu öffnen (siehe 3.2). Während von draußen von Zeit zu Zeit einige Gesprächsfetzen von Jan und Fabian nach oben klingen, kümmert sich Isabelle gemeinsam mit Manuela um die Inbetriebnahme des Raclettegerätes. Jans Ankunft wird von den beiden nicht thematisiert, obgleich die von Isabelle offen gelassene Tür auf die Erwartung der unmittelbaren Ankunft Jans hinweist. Während Isabelle Manuela erklärt, wo sie eines ihrer Poster erworben hat, ist Fabians Stimme auf der Treppe bereits deutlicher zu hören, und die Schritte auf der Treppe projizieren sein und Jans unmittelbares Eintreten in den Wohnbereich (Z. 64-78): Auszug 7B, Fortsetzung von Auszug 7A (ev1_45: 05, po1_44: 33) Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 209 Oloff final Bild 29 Bild 30 Während Fabian bereits auf der Terrasse sichtbar wird und auf die Tür zugeht, beendet Isabelle ihren Redebeitrag zum Thema Poster (Z. 70, Bild 29), dreht sich aber dann zur Eingangstür (Z. 72, Bild 30). Dies wird auch von Manuela als Abschluss des Gesprächsthemas „Poster“ verstanden, da sie nichts Neues mehr hinzufügt. Dass auch Manuela sich nun zu Jans Ankunft orientiert, zeigt nicht nur die Abwesenheit eines zustimmenden Redebeitrags, der besonders im Anschluss an Isabelles zusammenfassende Bemerkung den thematischen Abschluss auszeichnen könnte (siehe Drew/ Holt 2006), sondern auch, dass sie nun ebenfalls ihren Blick zur Tür wendet (Z. 75). Zwar hat Isabelle unterdessen die offene Weinflasche ergriffen, um damit wenig später ihr Glas zu füllen (dies ist ein weiterer Hinweis auf den Abschluss des Aperitifs und den Übergang zum Florence Oloff 210 Oloff final Beginn des Essens), jedoch schaut auch sie erneut zur Tür (Z. 76, Bild 31). Dies erfolgt genau an einem möglichen transitionsrelevanten Platz in Fabians Beitrag, dem Zeitpunkt, zu dem Jan gerade sicht- und hörbar die Treppe hinaufkommt (also nIch: über 'n sommer hIErlassen das fahrrad \, Z. 75-76). Bild 31 Bild 32 Im folgenden Redebeitrag wird deutlich, dass Isabelle das Gespräch verfolgt hat, da sie Jan nun fragt, ob er sein Fahrrad angeschlossen hat und ihm anbietet, dieses „hochzunehmen“ und vor die Wohnung zu stellen (Z. 79, 81). Dies erfolgt, noch bevor Jan in die Wohnung tritt. Wie zuvor das Öffnen der Haustür wird auch sein Hereinlassen von ihr und Fabian gewissermaßen gemeinsam vollzogen, wie sich in Isabelles Übernahme des von Fabian initiierten Gesprächsthemas (Sicherheit der Fahrräder) zeigt sowie in Fabians sofortiger Drehung zur Tür, die er nun für Jan offen hält (Z. 79, Bild 32, 33). Bild 33 Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 211 Oloff final Zwar projiziert Isabelles Frage eine Antwort Jans, es erfolgt aber zunächst eine sichtbare Begrüßung seinerseits: Er winkt kurz mit seiner linken Hand (Z. 81, Bild 33) und antwortet auf Isabelles Frage, als er über die Schwelle in den Wohnbereich tritt (H: : : \ is angeschlossen\, Z. 83). Unterdessen löst und schließt Fabian die Tür hinter Jan (Z. 84). Interessanterweise erfolgt nun erst eine verbale Begrüßungssequenz, die Isabelle mit einem gemimten buenas noches initiiert (Z. 85), während Jan in Überlappung ein hallO erklingen lässt, begleitet von einer Wiederholung seiner Winkegeste (Z. 86): Auszug 7B, Fortsetzung (ev1_ 45: 23, po1_44: 51) Florence Oloff 212 Oloff final Während Jan sich für seine Verspätung entschuldigt, 6 wird er auch von Manuela begrüßt (Z. 86, 88-89). In Überlappung mit seinem Kommentar zur Dusche (ein weiterer potenzieller Grund für sein verspätetes Kommen und daher auch eine Entschuldigung, Z. 96) nimmt Fabian das Thema wieder auf, das bis zum Zeitpunkt seine Hinausgehens von den Anwesenden gemeinsam behandelt wurde: Das Anstellen des Raclettegerätes (brennt das licht/ , Z. 97). Die Initiierung der Reparation durch Isabelle (HÄH: / , Z. 99) erklärt sich dadurch, dass dieses Thema in Fabians Abwesenheit von ihr und Manuela bereits abgeschlossen wurde (das Gerät erhitzt sich, auch wenn der Knopf am Gerät selbst nicht leuchtet, was zunächst von den drei als potenzielles technisches Problem verstanden wurde). Fabian formuliert seine Frage neu und zeigt dabei auf das Raclettegerät (leuchtet es/ , Z. 102, Bild 34). Sowohl Manuela als auch die mit der Handfläche die Hitze des Geräts prüfende Isabelle antworten ihm (nee es leuchtet nicht aber es wird heiß \, leuchtet nie: : , Z. 104-106, Bild 35), so dass alle drei zu diesem Zeitpunkt das vor Jans Ankunft laufende Thema wieder aufgenommen haben. Bild 34 Bild 35 Jans In-Empfangnahme wird von Isabelle und Fabian sowohl gemeinsam initiiert (siehe Abschnitt 3.2) als auch abgeschlossen, wie das Anknüpfen Isabelles an das von Fabian eingeführte Fahrradthema aufzeigt. Besonders interessant ist hier, dass die Begrüßungen (sowohl von Jan als auch von Isabelle aus) erst erfolgen, als er den Wohnraum betritt, obwohl bereits vorher durch die offene Tür eine gegenseitige Sichtbarkeit vorliegt - die Teilnehmer scheinen 6 Diese Entschuldigung weist darauf hin, dass er die bis zu seiner Ankunft verstrichene Zeit als Wartezeit der anderen behandelt (siehe Abschnitt 2). Fabians lautes NEE/ NEE NEE\ (Z. 91) wird von einer „beschwichtigenden“ Bewegung seiner Hände begleitet, diese Annahme von Jans Entschuldigung verweist auf den Telefonanruf zwischen ihm und Jan in Folge der Beschwerdesequenz, ist gleichzeitig aber auch ein möglicher Hinweis auf seine Aktivität als „Co-Organisator“ des Racletteessens. Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 213 Oloff final sich also nicht nur zur gegenseitigen Sichtbarkeit allgemein, sondern zu einer an den Interaktionsraum bzw. an die Distanz zwischen den Teilnehmern gebundenen Sichtbarkeit zu orientieren (vgl. Mondada 2007a, S. 160ff.). Dies deutet auf unterschiedliche Interaktionsräume hin, die durch die Türschwelle getrennt sind - die Begrüßung scheint an den Innenraum gebunden zu sein, wie auch das Winken Jans beim Übertreten der Schwelle vermuten lässt. Das Thema um das Fahrrad ist mit der Begrüßungssequenz quasi verflochten, was auch auf die Kontinuität der Aktivitäten vor Jans Ankunft zutrifft: Zwar findet eine gewisse „Erstversorgung“ Jans statt (z.B. Begrüßung und Hinweis, wo er seine Jacke ablegen kann), jedoch beweist die schnelle Wiederaufnahme des alten Themas durch Fabian, dann durch Isabelle und Manuela, dass die Teilnehmer sich kontinuierlich der Vorbereitung des Essens widmen. Dies zeigt einerseits, dass die Teilnehmer sich noch in der Voreröffnung befinden, andererseits aber auch, dass sie sich zu einem nahenden Beginn des Essens orientieren (Isabelle z.B. schenkt sich bei Jans Hereinkommen Wein ein und beginnt davon zu trinken, Bild 34). Eine ähnliche Verflechtung von laufender Vorbereitung und Integration von ankommenden Personen liegt auch im letzten Beispiel vor. 4.3 „Versammlung“ aller Gäste (Karolins und Christians Ankunft) Karolin und Christian haben sich nur wenige Minuten nach Jans Ankunft über die Sprechanlage angekündigt (siehe Abschnitt 3.3). Während sich Fabian um das Hereinlassen der beiden an der Wohnheimpforte kümmert, hält Isabelle etwas Smalltalk mit Jan, geht aber nach kurzer Zeit in ihr Zimmer zurück (hier nicht gezeigt). Das Gespräch zwischen Manuela und Jan ist bald thematisch erschöpft (Z. 48-53), was auch auf eine Orientierung zu der Ankunft der letzten Gäste hindeuten kann. In der Tat ist nun Fabians Stimme vor der Tür zu hören ((dann fragt er ob ich da was) xxx\, Z. 50-51), die nach seinem Hinausgehen ins Schloss gefallen und nun immer noch verschlossen ist: Auszug 8B, Fortsetzung von Auszug 8A (ev1_47: 28, po1_46: 55) Florence Oloff 214 Oloff final Deutlich ist in der Küche zu hören, wie jemand erfolglos von außen gegen die geschlossene Tür drückt (Z. 52). Es erfolgt zunächst keine Reaktion von Jan oder Manuela, die wortlos in ihrer vorherigen Position verharren, Jan stehend, Manuela sitzend. Als es jetzt dreimal an der Tür klopft, löst sich deren statische Haltung jedoch schnell auf (Z. 54-57). Nach dem ersten Klopfen beginnt Manuela, sich auf ihrem Stuhl leicht vorzubeugen (Bild 36, 37), um während des zweiten Klopfens ein (d)a: (Z. 55) zu äußern, was deutlich Bezug auf die Ankommenden nimmt. Jan, der bereits steht, dreht sich um und macht einen kleinen Hüpfer auf die Tür zu (Bild 36, 37), wohingegen sich Manuela wieder auf ihrem Stuhl zurücklehnt (Z. 58). Bild 36 Bild 37 Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 215 Oloff final Isabelle, die sich noch immer in ihrem Zimmer befindet, reagiert ebenfalls sicht- und hörbar auf das Klopfen. Aufgrund von Jans Nähe zur Tür bittet sie ihn, diese aufzumachen (>>kannst du aufmachen / <<, Z. 61), was beim ersten Versuch erfolglos bleibt (Z. 62), woraufhin Isabelle ihm beschreibt, wie er diese durch Knopfdruck öffnen kann (musst du auf diesen knopf drücken \, Z. 61, 63). Als sie im selben Moment in die Küche tritt, gelingt es Jan, die Tür zu öffnen (Z. 63-64, Bild 38), woraufhin Isabelle ihre Bewegung zur Tür hin abrupt abbricht, sich in die andere Richtung dreht und auf den Herd zugeht (Z. 66-68, Bild 39). Bild 38 Bild 39 Jan erlaubt sich nun einen kleinen Scherz und schließt mit dem Satz ja: wir kaufen nix \ die soeben geöffnete Tür wieder (Z. 67, Bild 39). Dies wird sowohl vor als auch hinter der Tür mit einem Lachen quittiert, und als Jan sie wieder öffnet (Z. 74), antwortet Fabian auf seinen vorherigen Scherz und tritt als erster in die Wohnung (Z. 75-77). Isabelle scheint dieses Geschehen und das Hereinkommen der Gäste hier als eine Art Zuschauerin zu verfolgen, da sie sich unterdessen neben ihren Platz am Tisch positioniert und sich bei ihrem nächsten Redebeitrag sogar von den Hereinkommenden zum Herd hin abwendet (Z. 68-81, Bild 40, 41). Sie verdeutlicht, dass die Teilnehmer aus ihrer Sicht nun vollzählig sind (AH: : : nun sind ja alle versAMMelt \, Z. 76, 78) und nimmt so explizit Bezug auf den baldigen Beginn des Essens: Auszug 8B, Fortsetzung (ev1_47: 39, po1_47: 05) Florence Oloff 216 Oloff final Nun beginnen die Begrüßungen: Jan, der den beiden Neuankömmlingen die Tür aufhält, nickt zunächst Karolin (Z. 77-78, Bild 40), dann Christian kurz zu (Z. 77-79). Auf der Schwelle erhebt Christian (der als letzter die Küche betritt) kurz beide Hände (hinter Karolin, Bild 41). Jan erhält von Karolin (die zu ihm blickt) eine Antwort (Z. 79), wohingegen Christians sAlu: : t (Z. 80) an alle Anwesenden gerichtet zu sein scheint. Auch Manuela und schließlich Isabelle begrüßen die Ankommenden hörbar (Z. 81, 83), die Begrüßungssequenz ist damit abgeschlossen. Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 217 Oloff final Bild 40 Bild 41 Wie bei Jan ist es nicht die Gastgeberin, die die Ankommenden hereinlässt, sondern die bereits anwesenden Gäste (obwohl Isabelle auch hier das Aufmachen verfolgt und Anweisungen, zum Beispiel zum Öffnen der Tür, gibt): Fabian holt diese unten ab, Jan öffnet und schließt die Haustür. Auch bleibt die Gastgeberin (wie bereits bei Jan, bei dessen Hereinkommen sie sich Wein einschenkt) körperlich sowie verbal eher in der Kontinuität ihrer Vorbereitungen und projiziert dadurch einen unmittelbaren Beginn des Essens (siehe ihre Ankündigung kann ich ja auch die pataten (Kartoffeln) hier mal rausholen, Z. 88). Die anderen orientieren sich ebenfalls eher zu einem kurzen Aussetzen ihrer Handlungen während der Ankunft von Christian und Karolin, sie bleiben entweder statisch (Manuela bleibt sitzen) oder kehren schnell in ihre Ausgangsposition zurück (Fabian setzt sich gleich nach seinem Hereinkommen wieder auf seinen Platz). Allerdings wird das vorherige gemeinsame Gespräch um Damien von Manuela, Fabian und Jan nicht wieder aufgenommen, sondern es kommt zu neuen, von den letzten Gästen initiierten Parallelgesprächen: Christian, der gleich auf der Höhe Fabians stehen geblieben ist, zeigt auf das Fenster (Z. 91-92) und beginnt mit Fabian, über das Öffnen des Fensters zu sprechen. Karolin hingegen, die bereits beim Hereinkommen in die von ihr mitgebrachte Plastiktüte geblickt hat (Z. 77-81), hat unterdessen eine Weinflasche daraus hervorgeholt (Z. 82) und wendet sich damit (nachdem sie keinen Platz auf dem Tisch gefunden hat) direkt an Isabelle (Z. 93, Bild 42). Florence Oloff 218 Oloff final Bild 42 Einerseits weisen die bereits vor Christians und Karolins Ankunft Anwesenden mit ihren Körperhaltungen und Bewegungen eine Orientierung zu einer Kontinuität der Warteaktivität und der Vorbereitungen zum Essen auf, andererseits kommt es nach der Begrüßung sofort zu neuen thematischen Entwicklungen, es liegt also eine Art Doppelorientierung vor, in der sich deutlich ein baldiger Übergang zum Beginn des Essens abzeichnet (siehe auch die von Mondada (in diesem Band) erwähnte Doppelorientierung der Teilnehmer von Videokonferenzen innerhalb der Eröffnungsphase zu einem baldigen Beginn sowie zu Sequenzen, die diesen Beginn verschieben). 5. Ergebnisse der Analyse Die Eröffnung des gemeinsamen Essens wirft die Frage auf, wie die Sprecher die vorherige Interaktion in Bezug auf diesen Beginn behandeln. Die durch die Aktivität des Wartens als Voreröffnung organisierte Interaktion vor dem Essen wird ebenfalls durch das aufeinanderfolgende Eintreffen der Gäste strukturiert, bei der sowohl der Ankündigung als auch dem Hereinkommen der Gäste analytisch Rechnung getragen wurde. Im Folgenden werden die zuvor analysierten Auszüge innerhalb eines Schemas in ihre chronologische Reihenfolge gesetzt, um zu veranschaulichen, wie die Teilnehmer über eine lange Dauer (fast 50 Minuten) Interaktionszeit strukturieren (Abschnitt 5.1). Im Anschluss daran finden andere interaktionsrelevante Elemente und Phänomene Erwähnung, die auf Grundlage der vorangegangenen Analysen als mögliche weitere Untersuchungsaspekte formuliert werden (Abschnitt 5.2). Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 219 Oloff final 5.1 Zusammenfassung: Eröffnung und Voreröffnung(en) Wie Isabelles Kommentar nach der Ankunft der letzten Gäste verdeutlicht (Ah: : : nun sind ja alle versAMMelt\, siehe Auszug 8B, Z. 76, 78), ist die Vollzähligkeit der Gäste Voraussetzung für den Beginn des Essens. Dieser explizit als „Eröffnung“ behandelte Beginn wird von den Teilnehmern sowohl durch lexikalisch-auditive Ressourcen (wie z.B. das eSSEN IS JETZT ERÖFFNET \, und ich hab genug hunger mitgebracht \, Bewertungen, siehe Auszug 0)) vollbracht als auch durch Veränderungen in der Haltung und Orientierung (Position am Tisch und der Hände, Blick zur Gastgeberin, dann auf den Tisch). In der diesem Beginn vorangehenden Interaktion zeigen die Teilnehmer auf unterschiedliche Weise, wie sie die Voreröffnung als solche behandeln. Dies manifestiert sich deutlich im gemeinsamen Warten, zu dem sich die ersten Gäste samt der Gastgeberin orientieren. Sowohl durch Fragen zu den Zeitplänen der noch fehlenden Gäste als auch durch die Einnahme eines Aperitifs wird ersichtlich, dass das Warten eine wichtige Aktivität in der Voreröffnung darstellt. Die Entwicklung dieses Wartens bis zu einem Höhepunkt (gemeinsame Beschwerdesequenz zur Verspätung der anderen) weist aber darauf hin, dass sich die Teilnehmer nicht ausschließlich dem Warten widmen, sondern dass dessen Relevanz je nach Zeitpunkt größer oder geringer ist: Je weiter die Ankunft Manuelas und Fabians zurückliegt, desto stärker manifestiert sich die Orientierung der Anwesenden zum gemeinsamen Warten 7 auf die anderen. Sobald die drei Wartenden durch Fabians Telefonanruf bei den fehlenden Teilnehmern erfahren, dass bis zu deren Ankunft nur noch wenige Minuten vergehen, wird das Warten nicht mehr als Hauptaktivität behandelt, sondern tritt wieder in den Hintergrund. Diese Entwicklung wird im unteren Balken („Warten als +/ relevant“) des Schemas ersichtlich, in dem einzelne, im vorliegenden Artikel analysierte Ereignisse chronologisch angeordnet sind, beginnend bei der Ankunft Fabians und Manuelas: 7 Dem gemeinsamen Warten kann auch ein individuelles Warten bzw. ein nicht gemeinsam organisiertes Warten entgegengesetzt werden. So zeugt zum Beispiel das Anschalten der Kameras zunächst davon, dass die Gastgeberin Isabelle die Ankunft Manuelas und Fabians individuell als einen Beginn behandelt. Florence Oloff 220 Oloff final Zeitschema zu Voreröffnung(en), Übergang und Eröffnung am Beispiel des Racletteessens Das ab dem Anruf bei Jan und Christian als weniger problematisch behandelte Warten ist bezeichnend für die Übergangsphase zwischen Voreröffnung und Eröffnung, innerhalb derer sich die Teilnehmer verstärkt zum Beginn des Essens orientieren. 8 Diese Orientierung steht im Zusammenhang mit der angenommenen oder tatsächlichen Ankunft der letzten Gäste, wie sich bereits beim ersten Telefonanruf von Jan bei Fabian zeigt: In Glauben an dessen unmittelbare Ankunft öffnet Isabelle die Weinflasche, die später zum Essen gereicht wird. Da sich dies jedoch als Fehlinterpretation herausstellt, orientieren sich die Teilnehmer hier weiterhin zur Voreröffnung. Kurz bevor Jan eintrifft, wird aber das Raclettegerät eingeschaltet, eine weitere, zum Beginn des Essens notwendige Vorbereitung. Innerhalb dieser Übergangsphase kommt Jan hinzu, dem bezeichnenderweise von der Gastgeberin kein Getränk, sondern lediglich Salzgebäck angeboten wird, was auf das Ende des (die Phase der Voreröffnung auszeichnenden) Aperitifs hinweist. Zwar wird die Interaktion mit Jan durch die Begrüßung eindeutig eröffnet, jedoch zeigt die schnelle Rückkehr der anderen zum vorherigen Thema eine Kontinuität des Wartens, aller- 8 Diese drei Phasen, „Voreröffnung“, „Übergangsphase“ sowie „Eröffnung“, sind mit den von Mondada (in diesem Band) beschriebenen Phasen des „pre-beginning“,„opening“ sowie „beginning“ bei Videokonferenzen vergleichbar. Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 221 Oloff final dings mit einem Schwerpunkt zu vorbereitenden Elementen, die den baldigen Beginn des Racletteessens projizieren. Diese Übergangsphase endet mit der Ankunft von Christian und Karolin, mit der gleichfalls das gemeinsame Warten auf die Vollzähligkeit der Gruppe zum Abschluss kommt (siehe den Pfeil im Schema, der von „Warten“ zu „Eröffnung“ führt). Es kommt hier zu neuen thematischen Entwicklungen innerhalb des Gesprächs sowie zu verschiedenen Aktivitäten, die auf die baldige Eröffnung hinweisen (z.B. das Anrichten der Kartoffeln durch die Gastgeberin und das Hinsetzen der Gäste an den Tisch, auch wird den letzten Gästen weder Aperitif noch Salzgebäck angeboten). Die gemeinsame Orientierung zum Beginn der Nahrungsaufnahme zeigt sich anschließend in der Wartehaltung der Gäste bei Tisch und in der Fokussierung auf die Gastgeberin, die die Eröffnung einleitet und in Interaktion mit den Gästen abschließt. Der Abschluss dieser Eröffnungssequenz wird zudem durch das von Christian im Anschluss eingeführte Thema deutlich, das den Beginn des Gespräches bei Tisch und den Beginn des Racletteessens markiert. Die Ankünfte der einzelnen Personen werden von den Teilnehmern nicht als Eröffnung des Essens, sondern als Voreröffnungen behandelt, die in Bezug auf den gemeinsamen Begin des Essens nicht nur die Warteaktivität an sich, sondern auch unterschiedliche Arten des Wartens relevant machen: So weist der gedeckte Tisch zu Anfang der Aufnahme darauf hin, dass die Gastgeberin mit den Vorbereitungen und daher auch mit dem Warten auf die anderen bereits vor dem Einschalten der Kameras begonnen hat. Nach einem bestimmten Muster oder zu einem bestimmten Zeitpunkt manipulierte Objekte (wie z.B. ein gedeckter Tisch) können die für die Teilnehmer relevante Aktivität und ihre Orientierung zur Zeitlichkeit „sedimentieren“. Dass die Kamera jedoch erst nach dem Klingeln der ersten Gäste ausgelöst wird, weist auf Isabelles Orientierung zu mindestens zwei unterschiedlichen Zeitlichkeiten hin: einerseits zu „ihrem“ vorangehenden Warten auf die Gäste, ihren Vorbereitungen, andererseits zum Beginn der Interaktion mit den ersten Gästen. Das Warten der Gastgeberin wandelt sich so zu einem gemeinsamen Warten mit den anwesenden Gästen auf die Vollzähligkeit der Gruppe. Später, als das Wissen vorliegt, dass die noch fehlenden Gäste auf dem Weg sind, handelt es sich hingegen eher um ein „Warten auf die gleich ankommenden Gäste“, welches mit Ankunft der letzten beiden Teilnehmer als Aktivität nicht mehr relevant ist. Die Veränderungen der Körperhaltung, mit denen die Teilnehmer sich anschließend auf das Essen vorbereiten, verkörpern nunmehr ein „Warten auf den Anfang des Essens“. Da die Relevanz bzw. die Art der Warteaktivität deutlich mit den jeweiligen Ankünften der Gäste verbunden ist, wäre es möglich, nicht nur von „der“ Voreröffnung zu sprechen, sondern von mehreren Florence Oloff 222 Oloff final Voreröffnungen (die den Teilnehmerrahmen nach und nach erweitern, vgl. Mondada in diesem Band). Der Plural trägt auch den verschiedenen Begrüßungssequenzen Rechnung, mit denen bei jeder Ankunft die Interaktion zwischen wartenden und hinzukommenden Teilnehmern eingeleitet wird. 5.2 Weitere Forschungsperspektiven Die Strukturierung der drei Ankunftssequenzen durch die Teilnehmer gibt auch Auskunft über andere interaktionsrelevante Elemente. Bestimmte Schlüsselmomente des Ankommens, wie die Reaktion auf die Aufforderung oder das Hineintreten in den Wohnraum, ermöglichen Aussagen zur Konstitution von Interaktionsraum sowie zur Kategorisierungsarbeit der Sprecher. Auf den Analysen basierend werden im Folgenden einige Ansätze zu weiteren Forschungsfragen formuliert. In dem Moment, in dem der neue Gast die Schwelle der Haustür erreicht bzw. diese überschreitet, wird deutlich, wie die Teilnehmer den Raum als Interaktionsraum konstituieren. Sowohl bei Jan als auch bei Christian und Karolin wird die Begrüßungssequenz erst beim Erreichen der Schwelle (körperliche Grüße wie Winken oder Nicken) bzw. nach deren Übertreten (verbale Grußformen wie hallo, salut) initiiert, selbst wenn die Teilnehmer bereits vorher miteinander gesprochen haben bzw. füreinander sichtbar sind (siehe Abschnitt 4.2). Insofern scheint die Schwelle von den Teilnehmern als eine Art Grenze verstanden zu werden, die einen für die Interaktion relevante(re)n Innenraum von einem Außenbereich trennt. Zwar kommt es im Außenbereich bereits zum Gespräch (zumindest mit der Person, die die Gäste an der Eingangspforte des Wohnheimes abholt), jedoch werden die dort behandelten Themen nach dem Eintreten in den Wohnraum nicht mehr weitergeführt (außer im Fall von Jan, wo das Thema jedoch noch vor der Begrüßung beendet wird), sondern ein neues wird initiiert bzw. ein vorheriges wiederaufgegriffen. Die neuen Gäste treten also nicht nur in den physischen Raum, sondern gleichzeitig auch in den allen Teilnehmern gemeinsamen Interaktionsraum ein, der praxeologisch von ihnen gemeinsam konfiguriert wird (siehe Mondada 2007b, 2009). Die Ankündigung eines neuen Gastes belegt nicht nur die vielfältigen Aufforderungsmöglichkeiten (durch Fahrradbremsen oder durch einen Telefonanruf), sondern gibt auch Auskunft über die in der Interaktion relevanten Kategorien. Während Isabelle systematisch die Antwort initiiert, zeigen die anwesenden Gäste keinerlei oder nur minimale Reaktionen auf den ‘summons’. Durch das Verbleiben in einer Position oder, im Gegenteil, durch deren schnelle Auflösung und Bewegung zur Haustür manifestieren die Teilnehmer Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 223 Oloff final eine Orientierung zum Kategorienpaar ‘Gastgeber/ Gast’ mit seinen jeweiligen Rechten und Pflichten (Sacks 1972a). Während die Gastgeberin sofort laufende Aktivitäten unterbricht und das Einlassen der ankommenden Person projiziert, führen die Gäste zunächst ihr Gespräch oder ihre jeweilige Aktivität fort, interpretieren diese Aufforderung also als nicht an sie gerichtet (außer in Abwesenheit der Gastgeberin, siehe die Reaktion Jans bei der Ankunft der letzten Gäste). Einige interessante Variationen dieser „category-bound activity“ (Sacks 1972b, 1992) sind jedoch in Hinblick auf Fabian zu beobachten. So zeigen sowohl er als auch Isabelle bei Jans Ankommen eine sofortige Reaktion: Beide suspendieren die laufende Aktivität, das Anschließen des Raclettegerätes, wohingegen Manuela keinerlei Orientierung zur Tür aufzeigt. Auch das Wissen Fabians um die Zeitpläne der anderen Gäste oder die an ihn delegierte Aufgabe des Toröffnens weisen ihn als eine Art Co-Organisator/ Mit- Gastgeber aus. Die Kategorien ‘Gast’ und ‘Gastgeber’ sind während der gesamten Interaktion relevant: Isabelle neigt grundsätzlich zu einer stehenden Haltung und bewegt sich während der Vorbereitungen häufig durch den Raum, wohingegen Fabian und Manuela die meiste Zeit sitzen. Besonders Letztere zeigt eine auffallend statische Haltung beim Hereinkommen der Gäste: Zwar blickt sie zu ihnen auf und grüßt, steht aber nicht auf, wohingegen Isabelle am Platz stehenbleibt, selbst wenn sie nicht persönlich die Tür öffnet (Abschnitt 4.2, 4.3). Ein weiteres Kategorienpaar ist wiederum nur innerhalb der Voreröffnungen relevant: Mehrmals vollziehen Fabian, Manuela und Isabelle vor Beginn des Essens eine Einteilung der Teilnehmer in zwei Gruppen, die bereits angekommenen und die noch fehlenden Personen; diese wird von Beginn der Aufnahme an vorgenommen und regelmäßig erneuert. Durch diese Kategorisierung zeigen sich die Teilnehmer gegenseitig ihre permanente Orientierung zur Aktivität des Wartens auf. Ihr ‘doing waiting’ (für die Verwendung des Ausdrucks „doing x“ in der Konversationsanalyse siehe Sacks 1984) wird insbesondere in der Beschwerdesequenz sichtbar, innerhalb derer die noch fehlenden Gäste als ausdrücklich verspätet kategorisiert werden sowie die bereits Anwesenden als auf diese wartend. Diese Kategorisierung wird ein letztes Mal kurz vor dem Essen erneuert (hier nicht gezeigt), ist nach dessen Beginn aber nicht mehr relevant, im Gegensatz zu den Kategorien ‘Gastgeber/ Gast’. Wie Teilnehmer Interaktionszeit strukturieren und zwischen Voreröffnungen und Eröffnungen unterscheiden, wird also nicht nur in typischen Aktivitäten (wie z.B. Vorbereitungen) ersichtlich, sondern auch in Kategorisierungen, die innerhalb bestimmter Phasen des Gesprächs als relevant behandelt werden. Florence Oloff 224 Oloff final 6. Transkriptionskonventionen 1 FAB Originalauszug Übersetzung [ ] (]’) Überlappung (Anfang & Ende) (.) Mikropause (kürzer als 0.2 Sek.) (2) Pause in Sekunden / \ steigende/ bzw. fallende\Intonation xx unverständliches Segment ((lacht)) beschriebene, nicht präzise transkribierte Phänomene < > Begrenzung der Phänomene in (( )) & Fortsetzung des Redebeitrags .h , h Einatmen, Ausatmen ^ lautliche Bindung = schneller Anschluss extra betontes Segment : Lautdehnung >>was<< schnell gesprochen da- Wortabbruch °gut° geflüstert/ stimmlos GUT laute Stimme (das) Transkriptionsversuch +,*,§,£,$ Anfang, Höhepunkt, Ende einer Geste, eines Blickes (etc.) fab Geste (Blick etc.) des Teilnehmers FAB blick chr Blick zum Teilnehmer CHR pppp Zeigegeste („points“) ... Beginn der Geste (des Blickes etc.) " Ende/ Rückzug der Geste --- Fortsetzung der Geste >-- Beginn der Geste vor der Zeile --> Fortsetzung der Geste in der nächsten Zeile --> l.5 Fortsetzung der Geste bis zur Linie 5 -->> Fortsetzung der Geste über das Ende des Auszugs hinaus # Situiert das Bild genau in Bezug zur Transkription Ankommen und Hinzukommen: Zur Struktur der Ankunft von Gästen 225 Oloff final 7. Literatur Atkinson, Maxwell A./ Cuff, Edward C./ Lee, John R.E. (1978): The recommencement of a meeting. In: Schenkein, Jim (Hg.): Studies in the organization of conversational interaction. New York, S. 133-275. Atkinson, J. Maxwell/ Heritage, John (Hg.) (1984): Structures of social action. Cambridge. Aukrust, Vibeke Grøver (2004): Talk about talk with young children: pragmatic socialization in two communities in Norway and the US . In: Journal of Child Language 31, 1, S. 177-201. Aukrust, Vibeke Grøver/ Snow, Catherine E. 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Untersucht wird dabei nicht nur die ‘Situationseröffnung’ im engeren Sinne, d.h. die formale Eröffnungs- und Begrüßungssequenz durch einen Moderator sowie die Bearbeitung eines „first topic“ (Schegloff 1968). Vielmehr werden auch die davor stattfindenden Interaktionen zwischen den im Arbeitsraum eintreffenden bzw. bereits befindlichen Beteiligten als unterschiedliche Phasen der ‘Situationsherstellung’ konzeptualisiert. Diese Phasen sind der formalen sprachlichen Eröffnung, die meist durch eine offizielle Begrüßung realisiert wird, grundsätzlich vorgelagert und immer mit der Einrichtung des Sitzplatzes und der Herstellung des zur Arbeit nötigen Arrangements verbunden. Der im Rahmen dieser Vorbereitungsaktivitäten stattfindende verbale Austausch der Beteiligten ist inhaltlich-thematisch gesehen noch nicht unmittelbar arbeitsbezogen. Das multimodale Verhalten der Anwesenden zeichnet sich durch den Einsatz unterschiedlicher Ressourcen aus, die auf den vorgängigen Status der Situationsherstellung verweisen. Hierbei ist interessant, dass die unterschiedlichen Verhaltensweisen auch darauf reagieren, wie lange es noch bis zur offiziellen Eröffnung dauern wird. Die von den Teilnehmenden aufgrund ihrer Interaktionserfahrung vorhandenen Annahmen bzgl. des nahenden offiziellen Starts drücken sich in jeweils spezifischen Verhaltensweisen aus: Je nachdem, wie nah die offizielle Eröffnung ist, zeigen sich z.B. Unterschiede in der körperlichen Orientierung der Anwesenden zueinander, der körperlichen Nähe zum Arbeitstisch, der Länge, Intensität oder Vermeidung von Blickkontakt, der Wahl sprachlich zu bearbeitender Themen und der Verwendung bzw. Relevantsetzung unterschiedlicher auf dem Arbeitstisch befindlicher Objekte. Dieses auf den offiziellen Start bezogene Verhalten der Teilnehmer ermöglicht die Rekonstruktion der segmentalen Struktur und sequenziellen Ordnung der Situationsherstellung. Daniela Heidtmann 230 Heidtmann_ final Die folgende Analyse von drei Ausschnitten, die dem offiziellen Start unterschiedlich nahe bzw. entfernt sind, wird verdeutlichen, welche Ressourcen die Interaktionsteilnehmer wie einsetzen, um sich wechselseitig anzuzeigen, in welcher Phase der Situationsherstellung sie sich befinden und welche Implikationen mit ihren Verhaltensweisen in den verschiedenen Phasen verbunden sind. 2. Empirische Grundlage Die empirische Grundlage dieses Beitrags besteht aus einer Kollektion von Anfängen eines Ereignistyps, der innerhalb einer praxisbezogenen universitären Ausbildung verortet ist. Es handelt sich bei den Daten um so genannte „Pitchings“. 1 Pitchings sind eine Mischform aus Arbeits- und Lehr-Lern-Diskurs, bei der vier Studierende des Aufbaustudiengangs „Film“ zusammen mit zwei Dozenten Stoffe für Kurzfilme entwickeln. Eine zuvor von den Studierenden entworfene Filmidee wird den Dozenten präsentiert, von ihnen evaluiert und unter Berücksichtigung strenger dramaturgischer Richtlinien zu einer Filmgeschichte ausgearbeitet, die in den folgenden Monaten weiter bearbeitet und schließlich gedreht wird. Die Pitching-Sitzungen dauern drei Stunden. In Hinblick auf die relevanten Anforderungen des Pitchings herrschen bei allen Beteiligten stabile gemeinsame Orientierungen auf die zu realisierende Kernaktivität vor. Diese besteht aus zwei Teilen. Zuerst präsentieren die Studierenden den Dozenten ihre vorab entwickelte Filmidee (= „pitchen“), anschließend wird diese Idee von allen Beteiligten detailliert und zu einer Geschichte ausgearbeitet (= Stoffentwicklung). Für die Struktur der Eröffnungen ist dieser Kernaktivitätsbezug zentral. Er definiert neben der inhaltlich-thematischen Vorgabe auch die körperlichen Präsenzformen der Beteiligten: Die Arbeit findet im Sitzen statt und wird nahezu ausschließlich durch verbale Beiträge vorangetrieben. Die Sitzplatzwahl am gemeinsamen Arbeitstisch und die Einnahme des Sitzplatzes sind somit strukturell gesehen zentrale Komponenten der Situationsherstellung. Erst wenn alle sitzen und einen von allen geteilten Aufmerksamkeitsfokus etabliert haben, kann mit der gemeinsamen inhaltlichen Arbeit begonnen werden. 1 Das Gesamtkorpus der Pitching-Sitzungen besteht aus 72 Stunden Videomaterial (24 Sitzungen à 3 Stunden), das Reinhold Schmitt und ich gemeinsam in einer Kooperation mit dem Filmstudium der Universität Hamburg (Gründer und Leiter: Hark Bohm) erhoben haben. Das Korpus ist in Heidtmann (2009) systematisch ausgewertet. Wissenschaftliche Ergebnisse der Kooperation mit dem Filmstudium Hamburg sind darüber hinaus dokumentiert in Heidtmann (2007) sowie Schmitt (2004, 2005) und Heidtmann/ Föh (2007); anwendungsbezogene Ergebnisse finden sich in Schmitt/ Heidtmann (2003). Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 231 Heidtmann_ final Analytisch muss im Kontext des verwendeten Materials zwischen der Sitzplatzwahl und der Einrichtung des Sitzplatzes für die gemeinsame Arbeit unterschieden werden. Die Sitzplatzwahl, die zeitlich gesehen vor der Einrichtung des Sitzplatzes stattfindet, unterliegt einigen Einschränkungen. Zum einen gibt es eine Festlegung durch die Dozenten. Sie sitzen immer nebeneinander und an der gleichen Tischseite. Zum anderen definiert die Kamera Plätze, die zur besseren Sichtbarkeit der Interaktionsteilnehmer frei bleiben müssen. Bild 1: Schema der Sitzplatzverteilung Die Wahl des Sitzplatzes kann in diesem Aufsatz nicht detailliert dargestellt werden, da sie meist schon abgeschlossen war, als die Videoaufzeichnung begann. 2 Aus meinem Wissen als beobachtende Anwesende in allen Pitchings kann ich jedoch festhalten, dass die Wahl des Sitzplatzes meist durch die Ablage von Unterlagen auf dem Tisch geschieht und in einigen Fällen kurz thematisiert oder ausgehandelt wird. Nach der Markierung des Sitzplatzes blei- 2 Darin zeigt sich auch eine Orientierung des Kameramannes auf die erwartbare Kernaktivität. Da zum Zeitpunkt der Aufnahme noch kein spezifisches Interesse an Situationseröffnungen vorhanden war, sind die meisten Aufnahmen erst nach der Belegung des Sitzplatzes entstanden. Daniela Heidtmann 232 Heidtmann_ final ben die Studierenden stehen, bewegen sich im Raum oder verlassen ihn noch einmal kurz. In dieser Phase sind die Dozenten i.d.R. noch nicht anwesend. Ihr Erscheinen im Besprechungsraum und ihre Orientierung auf den eigenen Sitzplatz etabliert für die Studierenden eine klare „koordinative Relevanz“ (Schmitt/ Deppermann 2007): Alle orientieren sich zum Arbeitstisch und beginnen mit der Einnahme ihres zuvor gewählten Sitzplatzes. Diese Sitzplatz-Einrichtungen sind systematisch video-dokumentiert. Anhand von drei Beispielen werde ich im Folgenden strukturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Einrichtung des Sitzplatzes und der Herstellung des für die gemeinsame Arbeit nötigen Interaktionsraumes 3 darstellen. Dabei geht es um die nötigen koordinativen Prozesse, die in der Vorbereitung auf die Kernaktivität durchlaufen werden. Neben spezifischen verbalen Aktivitäten zeigen insbesondere bestimmte körperliche, mimische und gestische Verhaltensweisen eine in unterschiedlichen Etappen verlaufende Orientierung auf den offiziellen Sitzungsbeginn an. All diese Aktivitäten verdeutlichen jedoch nicht nur die Spezifika der koordinativen Verdichtung, sondern sind auch in komplexer Weise sozial relevant: im Hinblick auf die Etablierung von Atmosphäre, die Verdeutlichung von Beziehungsstrukturen und die Verdeutlichung hierarchischer Grundlagen der gemeinsamen Arbeit. 3. Fallanalysen Das erste Beispiel „20/ warten“ zeigt die koordinative Relevanz, die das Auftauchen einer Fokusperson 4 (Dozent 1) für die bereits anwesenden Studierenden im Sitzungsraum besitzt und wie sie sich wechselseitig das Warten auf die zweite Fokusperson (Dozent 2), die noch nicht im Raum anwesend ist, anzeigen. Das zweite Beispiel „05/ bordercollie“ fokussiert eine Phase der Sitzplatzeinrichtung, bei der die Orientierung auf die Kernaktivität schon deutlich vorhanden ist, jedoch noch nicht alle Gruppenmitglieder am Tisch sitzen, darunter auch einer der Dozenten. In Beispiel drei „10/ trin- 3 Zum Konzept des Interaktionsraums siehe Mondada (2007, S. 55): „Das Konzept des Interaktionsraumes lenkt die Aufmerksamkeit auf die räumlichen Arrangements der Körper der Interaktanten und ihre wechselseitige Ausrichtung und damit auf die Verfahren, mit denen sie sich im Hinblick auf ihr gemeinsames Handeln im Raum koordinieren.“ 4 Das Konzept „Fokusperson“ ist von Schmitt/ Deppermann (2007) zur Beschreibung der herausragenden Position der Funktionsrolle „Regisseurin“ am Film-Set entwickelt worden. Die Fokusperson „steht im Zentrum der Monitoringaktivitäten: Alle Funktionsrollen und Mitarbeiter am Set müssen beobachten, in welchem Arbeitszusammenhang die Regisseurin gerade involviert ist, um ihre eigene Arbeit möglichst antizipatorisch strukturieren und „timen“ zu können“ (ebd., S. 109f.). Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 233 Heidtmann_ final ken“ wird der unmittelbar bevorstehende Übergang zur offiziellen Sitzungseröffnung sichtbar. Alle Anwesenden sitzen bereits, einer der Dozenten ist - sitzend - jedoch noch mit seinem Platzarrangement beschäftigt. Die zentrale analytische Frage bei der Bearbeitung der drei Beispiele ist folgende: Welche multimodalen Ressourcen setzen die Interaktionsteilnehmer ein, um sich wechselseitig aufzuzeigen, in welcher Phase der Situationsherstellung sie sich befinden? 3.1 Warten auf eine Fokusperson als Zwischenetappe vor der Kernaktivität Das erste Beispiel „20/ warten“ zeigt einen Fall, der hinsichtlich der koordinativen Relevanz, die die Fokusperson (Dozent Ralf ( RA )) für die Studierenden etabliert, betrachtet werden kann. Die Herstellung des Sitzarrangements reagiert auch auf das Fehlen der zweiten Fokusperson (Dozent Hans). Die Studierenden befinden sich schon eine ganze Weile im Raum und haben durch das Ablegen ihrer Unterlagen auf dem Tisch ihre Sitzplätze bereits markiert. Zwei der Studierenden sitzen auch schon auf ihrem Platz, zwei weitere sitzen bzw. stehen außerhalb des Kameraausschnittes, an der - aus Kameraperspektive - linken Wand. 5 Als der Dozent Ralf den Besprechungsraum betritt, kommt es zu einer Begrüßungssequenz, gefolgt von einer Orientierung der Studierenden zum Arbeitstisch. Interessant ist zunächst die Blickorientierung des Dozenten beim Eintreten in den Raum. Ralf Oliver Markus 5 Die Kameraperspektive zeigt, dass auch die Aufnehmenden diese „Vor-Phase“ noch nicht der eigentlichen Kernaktivität zuordnen. Der Ausschnitt der Kamera zeigt während der ganzen Zeit unverändert nur den Nahbereich (= Arbeitstisch als Objekt, an dem die spätere Kernaktivität stattfinden wird); die Kameraführung ist bezogen auf die Eröffnungsphase nicht analytisch und bildet daher nicht die Teilnehmer außerhalb des Tischbereiches ab. Daniela Heidtmann 234 Heidtmann_ final Bild 2-4: RA s Blickrichtung beim Betreten des Raumes Zunächst blickt Ralf vor sich auf den Boden, hebt dann den Kopf und wendet seinen Blick in Richtung Markus ( MA ). Anschließend schaut er wieder vor sich und bewegt sich zugleich zwischen Olivers ( OL ) Stuhl und der Wand hindurch in die Richtung seines Platzes. Ralfs Blickorientierung ist auf den unmittelbaren Nahbereich ausgerichtet. Er blickt zum einen auf den Boden. Diese Blicke dienen der Selbstorganisation bzw. der intrapersonellen 6 Koordination während seiner Vorwärtsbewegung. Er kann damit kontrollieren, ob sein Weg frei ist und die enge Passage zwischen Olivers Stuhl und dem Regal koordinieren. Zum anderen blickt er auch kurz in Richtung Markus. Auch wenn Ralf seinen Kopf nicht so weit dreht, dass er direkt zu den beiden an der Peripherie des Raumes befindlichen Studierenden schaut, so kann er diese durch den knappen Blick, ebenso wie die beiden anwesenden Wissenschaftler und die Kamera, aus den Augenwinkeln wahrnehmen. 7 Primär ist der Dozent jedoch auf das Erreichen seines Sitzplatzes orientiert. Dies erklärt auch, warum er das Betreten des Raumes nicht mit einem Gruß verbindet. Offenbar besteht für ihn der erste Schritt seiner Selbstetablierung in der Situation im zügigen Aufsuchen des Sitzplatzes. Vera ( VE ), die im Video nicht sichtbar ist, weil sie an der linken Wandseite sitzt, grüßt den Dozenten mit einem kurzen hallo als erste, woraufhin er win- 6 Zur Differenzierung von intrapersoneller und interpersoneller Koordination siehe Deppermann/ Schmitt (2007). 7 Für Ralf ist es an diesem Tag bereits die zweite Pitching-Sitzung, auf seinem Platz liegen noch seine Unterlagen. Ralf kommt - anders als die Studenten, für die die Situation grundsätzlich neu ist - gewissermaßen zu seinem vorherigen Arbeitsplatz zurück. Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 235 Heidtmann_ final kend, jedoch weiter gehend, zweimal hallo in einem sehr freundlichen und unbeschwert klingenden Tonfall erwidert. Auch Manfred und Oliver begrüßen den Dozenten: 8 01 VE: hallo 02 (---) 03 RA: <<im singsang> hallo-hallo-> 04 VE: ((lacht leicht))= 05 MA: =hallo 06 OL: hi OL nimmt Blatt von RI und grüßt RA Bild 5: RA grüßt, winkt Richtung VE / RI Bild 6: Blickkontakt RA / OL Ralfs Gruß wird von einer raumgreifenden Winkbewegung mit ausgestrecktem rechtem Arm begleitet. 9 Vera erwidert seinen Gruß, indem sie ebenfalls kurz winkt (im Videoausschnitt sieht man ihre winkende Hand) (Bild 5). Vor der Begrüßungssequenz mit dem Dozenten hatte Richard ( RI ), der ebenfalls außerhalb des Bildes sitzt, Oliver angesprochen und ihm ein Blatt Papier gereicht. Mit der Entgegennahme des Papiers dreht Oliver seinen Kopf zu Ralf, hat Blickkontakt mit ihm und grüßt ihn kurz (hi ) (Bild 6). Die Begrüßungssequenz verläuft sehr informell (Winken, hi ). Ralf realisiert seinen Teil der Begrüßung, während er weiter auf seinen Sitzplatz zugeht. Dies und die vorherigen Blickorientierungen auf den unmittelbaren Nahbereich gewichten die Sitzplatzeinnahme als übergeordnete Aktivität. Erklärbar wird diese Orientierung des Dozenten durch die für den Anfang der Sitzung bereits fortgeschrittene Zeit. Die Studierenden, die kurz vor dem vereinbarten 8 Richard, der Student, der sich ebenfalls außerhalb des Videobildes befindet, ist weder sichtnoch hörbar. Er ist zwar damit beschäftigt, Oliver ein Blatt zu reichen, wird aber sehr wahrscheinlich auch in irgendeiner anhand des Videoausschnittes nicht zu beobachtenden Form auf Ralfs Begrüßung reagieren. 9 Die expressive Gestikulation kontextualisiert den Gruß als noch nicht offiziellen Start des Ereignisses. Daniela Heidtmann 236 Heidtmann_ final Termin den Besprechungsraum betreten haben, mussten bereits 12 Minuten auf Ralf warten. Dies bedeutet für sie, dass von der ohnehin knapp bemessenen Zeit für die Sitzung schon ein Teil verloren gegangen ist. Während sich Ralf hinsetzt, entschuldigt er sich für sein Zu-spät-Kommen (tschuldigung <<f> zu spät>). Mit der Sitzplatzeinnahme des Dozenten beginnt auf Seiten der Studierenden eine Bewegung Richtung Tisch und die Einnahme der jeweiligen Plätze. Oliver, der noch auf das erhaltene Papier blickt, setzt sich auf seinen Stuhl, Richard bewegt sich von der Peripherie des Raumes zum Tisch (Bild 7). RI geht los RA sitzt OL setzt sich mit Blick auf Papier Bild 7: Veränderung der Positionen von RI , OL und RA RI s Gang Bild 8: Veränderung der Position von RI Nachdem bereits der Dozent und zwei Studierende sitzen und für alle ersichtlich ist, dass Richard auf dem Weg zu seinem Platz ist (Bild 8), reagiert Vera, immer noch an der Seite sitzend, auf Ralfs Thematisierung des Zu-spät-Kommens. Ihr Beitrag beginnt, als Richard gerade an ihr vorbei gegangen ist. Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 237 Heidtmann_ final 11 VE: da konnt ich mir noch MUt anessen 12 ((alle lachen)) 13 RA: <<lachend,p> das gibt=s auch> ((lacht)) Auf spielerische Weise kommentiert sie ihr eigenes Verhalten. Sie hat die Zeit, in der Ralf noch nicht im Besprechungsraum war, zum mut anessen sinnvoll genutzt (und ist weiterhin damit beschäftigt). Interessant ist ihr Hinweis auf das essen, weil Vera die einzige ist, die bisher in der Aktivität fortgefahren ist, in die sie vor dem Erscheinen des Dozenten im Besprechungsraum involviert war. Zwar liest auch Oliver noch, jedoch hat er sich bereits an den Arbeitstisch gesetzt. Vera liefert zudem einen Hinweis auf die zu erwartende Kernaktivität, die mut erforderlich macht und die hohe Anspannung, die für die Studierenden generell mit dem Pitching verbunden ist. Veras Bemerkung wird in der Gruppe mit einem Lachen quittiert. Ralf kommentiert sie implizit als witzige Abweichung der Formulierung „Mut antrinken“ (das gibt=s auch) und lacht anschließend weiter. Als er sein Lachen beendet, ist Richard an seinem Platz angelangt, der sich neben Ralf befindet (Bild 10). RI geht zum Platz RI an seinem Platz Bild 9: Veränderung der Position von RI Bild 10: RI spricht RA an, Blickkontakt An seinem Platz angekommen, wendet sich Richard an Ralf, weist mit der rechten Hand auf seinen Stuhl und rekurriert auf die Sitzkonstellation in vergangenen Pitchings: 14 RI: ich setz mich immer neben dich 15 RI: [<<p> hab ich mir jetz vorgenommen>] 16 RA: [ja is doch gut is doch gut ] 17 RA: das hat sich doch bewährt 18 RI: ((lacht leicht)) Daniela Heidtmann 238 Heidtmann_ final Inhaltlich-thematisch handelt es sich bei dem kurzen Austausch von Student und Dozent um eine Form von Setting-Talk, 10 bei dem Aspekte der Situation zum Thema werden. Hier ist der Setting-Talk zum einen direkt auf die Herstellung des Sitzarrangements bezogen (ich setz mich), zum anderen knüpft er implizit an die erwartete Kernaktivität an, indem der Dozent auf die gemeinsame positive Erfahrung vorangegangener Pitchings, also die gemeinsame Erfahrung in Hinblick auf die Durchführung der Kernaktivität, rekurriert (das hat sich doch bewährt). Die beiden Interaktionsteilnehmer, die direkt von der thematisierten Sitzplatzwahl betroffen sind, bilden über kurze Zeit eine Interaktionsdyade. Ralf und Richard sind einander zugewandt und haben zeitweise Blickkontakt. Während dieses kurzen Austausches zwischen Student und Dozent nimmt Richard seinen Sitzplatz ein. Als er sitzt, lehnt sich Vera nach vorne (sie ist nun teilweise im Bildausschnitt zu sehen), wickelt ihr nicht aufgegessenes Brot in Papier und packt es dann in ihre Tasche, wobei sie noch lange weiterkaut. Obwohl noch ein Dozent fehlt, interpretiert sie die Situation nicht als Möglichkeit, weiter zu essen. Sie begibt sich jedoch nicht gleich an ihren Platz, sondern lehnt sich wieder zurück und kratzt sich ausgiebig am Bein. Die übrigen - am Tisch sitzenden - Gruppenmitglieder (außer Oliver, der weiterhin liest) reden währenddessen über den von den Studierenden mitgebrachten, auf dem Tisch befindlichen Kuchen. Sie scherzen und lachen. Ralf versorgt sich mit einem Becher, greift zu seiner mitgebrachten Wasserflasche und gießt sich etwas ein, während er nach Hans, dem zweiten Dozenten, fragt und vorschlägt, noch fünf Minuten auf ihn zu warten: 27 RA: was wir warten noch (---) fünf minuten 28 OL: <<p> jo> 29 (---) 30 RA: auf äh wo is hans denn 31 MA: äh 32 XX: <<p> keine ahnung> 33 MA: keine ahnung 34 nö 10 Zum Setting-Talk siehe Maynard (1980), Maynard/ Zimmermann (1984) und Schmitt (1992). Im vorliegenden Material werden die Phasen vor der offiziellen Eröffnung des Ereignisses häufig von Setting-Talk begleitet, der entweder die Situation im engen Sinne betrifft (d.h. auf Aspekte reagiert, die im Raum wahrnehmbar sind), oder mit dem Setting „Pitching“ bzw. „Filmstudium“ als übergeordnetem und für die aktuelle Situation relevanten Kontext zu tun hat. Mirivel/ Tracy (2005) haben vergleichbare Situationen als „premeeting talk“ unter einem thematisch-funktionalen Erkenntnisinteresse untersucht. Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 239 Heidtmann_ final Da niemand aus der Gruppe Näheres über Hans' Abwesenheit weiß, schlägt Ralf durch seine folgende Formulierung implizit vor, den offiziellen Beginn des Pitchings und damit die Bearbeitung der Kernaktivität noch um einige Zeit zu verschieben. 11 34 MA: nö 35 (3.0) 36 RA: gut dann ess ich mir auch noch mut an 37 VE: ja ((lacht)) das SOLLtest du ((lacht)) 38 ((lachen)) Dieser Hinweis ist für die Orientierung der Studierenden in der Phase der Situationsherstellung eine verhaltensrelevante Information. Sie können nun ihre bereits deutliche Orientierung auf den Start der Kernaktivität wieder etwas reduzieren und haben mehr Raum für andere, kernaktivitätsfernere Belange und Themen. Ralf bezieht sich auf Veras vorherige witzige Bemerkung und kommentiert sein eigenes Kuchenessen gleichsinnig als mut anessen. Er spielt hier mit seiner Rolle als Lehrperson, denn als Dozent benötigt er normalerweise keinen mut im Pitching-Kontext. Vera lacht darüber, reagiert spielerisch-drohend mit dem selbstbewussten Rat (das SOLLtest du) und lacht wieder. Sie komplettiert die von Ralf etablierte spielerische Rollendistanzierung. Die von Vera vorgeschlagene und von Ralf aufgegriffene und so intersubjektiv verankerte Interaktionsmodalität („this is play“ i.S.v. Bateson 1959) signalisiert den Status der aktuellen Interaktion als kernaktivitätsferne Vorphase und reagiert bereits auf den - durch die angekündigte Wartezeit veränderten - Rahmen. Während sie lacht, steht Vera nun auch auf und orientiert sich auf ihren Platz am Tisch. Martin ist währenddessen mit einigen selbstorganisatorischen Aktivitäten beschäftigt, Oliver und Richard sind gemeinsam über ein Papier gebeugt und reden leise. In den folgenden Bildern (11-14) sind die Blickrichtungen von Vera und Ralf während Veras Annäherung an den Sitzplatz mit Pfeilen markiert. Nach einem kurzen Blickkontakt mit Ralf verlässt Vera ihren Platz an der Wand des Raumes (Bild 11). Sie bewegt sich auf ihren Stuhl zu und blickt dabei nach unten/ vorne in dessen Richtung (Bild 12). Hinsetzend wendet sie sich mit dem Kopf der Dyade Oliver-Richard zu (Bild 13). 11 Prinzipiell könnte Ralf auch ohne Hans anfangen, mit den Studierenden zu arbeiten. Einige Minuten später tut er dies auch. Daniela Heidtmann 240 Heidtmann_ final Bild 11: VE steht auf Bild 12: VE steht Bild 13: VE setzt sich Bild 14: VE sitzt, RA adressiert sie Kurz bevor Vera sitzt, schiebt Ralf, der durchgehend zu Vera geschaut hatte (Bild 11-13), mit der rechten Hand seine Brille leicht in Richtung Nasenwurzel und adressiert die Studentin direkt durch die Nennung ihres Namens (vera). Es kommt zu einem Blickkontakt. Anschließend hält er die gleiche Hand vor den Mund und kaut demonstrativ. Noch während des Kauens zeigt er dann mit dem Zeigefinger der Hand direkt auf Vera (Bild 14), ohne nochmals sprachlich aktiv zu werden. Die Handbewegungen und der zeigende Finger halten die Adressierung aufrecht. Ralf symbolisiert so, dass er, sobald er mit dem Kauen fertig ist, mit Vera reden möchte. Diese „gestische Aufrechterhaltung“ der Fokussierung der ausgewählten Interaktionspartnerin dauert 3,5 Sekunden. 43 RA: vera wie sieht das aus mit deinem ( ) 44 VE: das dauert noch ich steh allein im wald 45 und weiß noch den ausgang nicht 46 ((...)) Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 241 Heidtmann_ final Ralf und Vera reden hier über eine spezifische Aufgabe aus der Drehbuchklasse. Ralf ist Leiter dieser Klasse und befindet sich deshalb auch außerhalb der Pitching-Situation in einem Arbeitskontext mit Vera, die Drehbuchstudentin ist. Das Gespräch zwischen Ralf und Vera ist hinsichtlich folgender Aspekte interessant: - Inhaltlich-thematische Ausrichtung: Vera und Ralf führen ein fachliches, problembezogenes Gespräch über ein für das Studium relevantes Thema. - Körperliche Displays der Beteiligten/ Koordinative Bezugspunkte: Ralf signalisiert schon vor seiner ersten Adressierung mit einem langen Blick in Veras Richtung, dass er sie als nächste Gesprächspartnerin auswählt. Während des Gesprächs sind die beiden dann deutlich mit Oberkörper und Blick aufeinander ausgerichtet; sie etablieren eine dyadische Face-to- Face-Konstellation. - Lautstärke: Das Gespräch zwischen Vera und Ralf zeichnet sich aufgrund der reduzierten Lautstärke als „Privatgespräch“ aus, das den anderen im Raum Anwesenden eingeschränkte Zugänglichkeit signalisiert. - Initiative/ Themenetablierung: Der Dozent, der eine spezifische Frage an die Studentin richtet, initiiert das fachbezogene Thema. Während das Auftauchen des Dozenten im Besprechungszimmer dazu führt, dass sich alle Studierenden auf ihren Sitzplatz hin orientieren und diesen einnehmen, beginnt eine neue Phase, als alle sitzen und sich eingerichtet haben. Hier führt das Zeitfenster, das durch das Warten auf den noch fehlenden Dozenten entsteht (wir warten noch -fünf minuten), zu einer spezifischen Interaktionsstruktur. Ralf nutzt es, um zunächst mit seiner Drehbuchstudentin ein ausführlicheres fachliches Zweiergespräch zu führen. Anschließend gibt es Phasen, in denen alle Gruppenmitglieder gemeinsam über studienspezifische Belange reden, danach spricht der Dozent Oliver an und redet kurz mit ihm, dann spricht er Richard an, mit dem er ebenfalls ein kurzes Gespräch führt. Nach Beendigung des Gesprächs mit Richard und insgesamt 4: 11 Minuten am Arbeitstisch leitet der Dozent zum offiziellen Beginn des Pitchings über ( gut dann fangen wir an), woraufhin Martin aufsteht und die Tür schließt. Zusammenfassung „20/ warten“: Die Fallspezifik des analysierten Beispiels und die diesbezüglichen Einsichten in die segmentale Struktur und sequenzielle Entwicklung der Situationsherstellung reagieren vor allem in zwei Aspekten: Zum einen auf den grundsätzlich verspäteten Beginn der Arbeitssitzung, zum anderen auf das Fehlen des zweiten Dozenten. Daniela Heidtmann 242 Heidtmann_ final Der Dozent zeigt durch die Organisation seines Eintretens und seiner Bewegungen im Raum, dass er zunächst auf einen möglichst schnellen Sitzungsbeginn orientiert ist: Seine Blickorganisation dient primär der Laufkoordination und ist ausschließlich vor sich und auf den Boden gerichtet, er sucht seinen Platz sehr schnell auf und er initiiert keinen Gruß. Erst als er von den Studierenden gegrüßt wird, holt er das Grüßen deutlich erkennbar, jedoch während der Bewegung zu seinem Platz, nach. Seiner zügigen Sitzplatzeinnahme korrespondiert auf Studentenseite jedoch keine vergleichbar starke Orientierung auf den Start. Sie begeben sich eher langsam auf ihre Plätze, um sich hinzusetzen. Diese Kontrastivität mit der Schnelligkeit des Dozenten ist jedoch begründet: Da die Studenten wissen, dass das Pitching immer von zwei Dozenten durchgeführt wird, fehlt mit dem zweite Dozenten die zentrale Voraussetzung für den Arbeitsbeginn, was sich im Verhalten der Studierenden niederschlägt. Die studentenseitige Orientierung zum Sitzplatz zeigt zum einen die prinzipielle koordinative Relevanz, die das Erscheinen der einen Fokusperson auslöst. Zum anderen führt jedoch das Fehlen der zweiten Fokusperson und somit die Unvollständigkeit des relevanten „Fokuspaares“ zu einer spezifischen Form der Sitzplatzeinnahme: Sie geschieht langsam. Die Studierenden führen zunächst ihre aktuellen Aktivitäten (lesen, Brot essen) eine kurze Zeit weiter, ehe sie diese aufgeben und sich am Tisch einrichten. Das Fehlen des zweiten Dozenten verlangsamt gewissermaßen die Herstellungsdynamik, was durch die offizielle Verkündigung einer Wartezeit noch verstärkt wird. Hierdurch wird die Orientierung auf den Beginn abgeschwächt und da es keinen Vorrang für die auf das Pitching bezogenen organisatorischen Aktivitäten gibt, nehmen alternative Themen und Aktivitäten ihren Platz in dieser „Auszeit der Situationsherstellung“ ein. Der Status dieser Wartezeit als „off work“ wird dabei vor allem durch die interaktionsstrukturelle Aufspaltung in koexistente Interaktionsdyaden mit eigenständigen Foki, sowie durch eine Interaktionsmodalität symbolisiert, die in ihrem unernsten, spielerischen Charakter die spezifische Qualität der Interaktion in dieser Phase verdeutlicht. Das häufige Scherzen und Lachen der Teilnehmer etabliert in dieser „Wartezeit“ eine interaktive Leichtigkeit, die - das wissen die Studierenden aus eigenen Erfahrungen - erkennbar mit der Arbeitshaltung des Dozenten im Pitching und den eigenen Beteiligungsmöglichkeiten kontrastiert. Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 243 Heidtmann_ final In dieser Hinsicht ist das Beispiel ein Exempel für eine Delay-Struktur der Situationsherstellung, die an die Studierenden etwas andere Anforderungen richtet als der Normalfall. Sie müssen gewissermaßen die räumlich-körperlich bereits hergestellte Voraussetzung für den Beginn der gemeinsamen Arbeit so lange interaktiv überbrücken, bis entweder der zweite Dozent kommt oder der bereits anwesende alleine mit ihnen die Arbeit beginnt. Eine Orientierung auf die Kernaktivität drückt sich in diesem Beispiel also nicht in der schnellen Einrichtung des Sitzplatzes für den Beginn der Arbeit aus, sondern ist eher in der thematischen Orientierung auf den (übergeordneten) Arbeitszusammenhang erkennbar: Die gewählten Themen im Kontext des Setting-Talk beziehen sich immer, jedoch in unterschiedlicher Weise, auf die Kernaktivität (Mut für das Pitchen anessen, Kekse zur besseren Stimmung bei der Arbeit bereitstellen, sich - wie in den vergangenen Pitchings - neben den Dozenten setzen). Die Überleitung zur Arbeit und damit die Beendigung der „Wartezeit“ wird nach etwas mehr als vier Minuten von dem Dozenten realisiert, nachdem eine mehrsekündige Gesprächspause eingetreten war. 3.2 Schrittweise Fokussierung und koordinative Verdichtung als Vorbereitung der Kernaktivität Der folgende Videoausschnitt „05/ bordercollie“ stammt aus einer Phase, in der bereits beide Dozenten im Raum anwesend sind, jedoch einer von ihnen noch am Sitzplatz steht. Auch eine Studentin hat sich noch nicht hingesetzt. Diejenigen, die bereits sitzen, sind mit (selbst-)organisatorischen Aktivitäten befasst. LU und MA sortieren Unterlagen AN hängt Mantel auf RA krempelt Ärmel herunter KO HA steckt Handy in Jackentasche Bild 15: Organisatorische Aktivitäten der Pitching-Gruppe Daniela Heidtmann 244 Heidtmann_ final Nur Konrad ( KO , im Bild ganz links) führt keine selbstorganisatorischen Aktivitäten aus. Er sitzt bereits auf dem Stuhl, hat seine Unterlagen schon vor sich auf dem Tisch liegen und stützt unbewegt den rechten Unterarm auf die Tischplatte. Jedoch ist er derjenige, der - neben Lukas ( LU ) und Manfred ( MA ), die leise knappe Kommentare beim Sortieren ihrer Unterlagen von sich geben - sprachlich aktiv ist. Als der Dozent Hans, gefolgt von seinem Hund, den Besprechungsraum betritt, initiiert Konrad ein Gespräch, das sich thematisch auf den Hund bezieht. 01 KO: so=en ganz ähnlichen hund hab ich=en 02 halbes jahr ausgeführt in der- 03 in so=ner- 04 kleinen produktionsfirma wo ich 05 gearbeitet hab Wie im vorangegangen Beispiel auch, ist Setting-Talk eine wichtige thematische Ressource in dieser Herstellungsphase. 12 In diesem Fall verknüpft Konrad die Thematisierung des Hundes mit Informationen, die zum einen an den spezifischen Kontext „Filmemachen“ anschließbar sind (der Hund, auf den er sich bezieht, gehörte zu einer Produktionsfirma), zum anderen ein relevantes berufsbiografisches Detail preisgeben (Konrad hat ein halbes Jahr in einer Produktionsfirma gearbeitet). Der Dozent Ralf reagiert darauf mit dem laut und betont gesprochenen Kommentar HUNdewart, der fragend intoniert ist. Er verdeutlicht damit implizit, dass sich Konrad mit seiner Äußerung selbst negativ positioniert hat, als jemand, der in der Produktionsfirma als Hundewart eingesetzt wird, statt einer inhaltlich definierten Arbeit nachzugehen. Während der Äußerung blickt Ralf kurz nach rechts zu den Studierenden, die weiterhin und ohne Reaktion auf Konrad oder Ralf mit organisatorischen Aktivitäten beschäftigt sind. Danach schaut er mit einem breiten Grinsen zu Konrad. Es kommt zu einem kurzen Blickkontakt, den Konrad beendet, indem er sich abwendet und einen weiteren Beitrag macht: 06 RA: <<f> HUNdewart> 07 KO: nee der musste immer zwei drei mal am 12 Die Thematisierung des Hundes ist zudem eine implizite Fokussierung auf den Hundebesitzer als potenziellen Adressaten. Das Thema „Hund“ hat somit eine gewisse Exklusivität und ist nicht für alle Anwesenden in gleicher Weise bearbeitbar. Zu Haustieren als kommunikativer Ressource siehe Bergmann (1988), der anhand von Familiengesprächen sowohl das Reden mit, als auch das Reden über Haustiere untersucht. Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 245 Heidtmann_ final 08 tag gut auslauf im park haben 09 HA: ja: 10 KO: <<p> das war auch so=n hund> Mit nee weist er den Fokus auf sich als HUNdewart zurück und thematisiert anschließend die Bedürfnisse des Hundes nach Auslauf. Die leiser gesprochene Äußerung <<p> das war auch so=n hund > schließt als Fokussierungsklammer die Bearbeitung des Hundethemas ab (sein einleitender Zug war: so=en ganz ähnlichen hund). Während des Formulierens verändert er seine Körperpositur deutlich. Er beginnt seinen Beitrag, indem er Kopf und Blick senkt (nee) (Bild 16), anschließend lehnt er sich weit zurück, Kopf und Blick immer noch gesenkt, so dass er von ihm aus gesehen links am Tisch vorbei nach unten schaut (Bild 17). Bei der Äußerung des Wortes immer ist Konrad maximal weit vom Tisch entfernt. Danach wendet er sich mit Oberkörper und Kopf wieder Richtung Tisch (Bild 18). Damit ist eine Drehung des Kopfes in die andere Richtung verbunden, jetzt rechts am Tisch vorbei nach unten. KO: nee der musste immer zwei drei mal am tag gut auslauf 13 Bild 16: nee Bild 17: immer Bild 18: drei Bild 19: auslauf Als er die maximale Beugeposition nach unten erreicht hat, verharrt er einige Sekunden unbewegt, während er weiter spricht (Bild 19): KO: im park haben <<p> das war auch so=n hund> Konrads manifeste Bewegungen können als deutliche Suchaktivitäten nach dem Hund interpretiert werden. Seine körperliche Ausrichtung ist von Ralf abgewandt. Während der Äußerungsproduktion wird der Hund, der thematisch ist, zum koordinativen Bezugspunkt für Konrad und nicht der vorgängige Sprecher. Damit bearbeitet Konrad auch die implizite „Degradierung“ als 13 Lesehinweis: Das jeweils fett gedruckte Wort ist simultan zu der im direkt darunter befindlichen Screenshot abgebildeten Körperhaltung Konrads. Daniela Heidtmann 246 Heidtmann_ final hundewart. Mit der starken Fokussierung auf den Hund und seinem „Abtauchen“ unter den Tisch, mit dem er sich selbst potenziell „unsichtbar“ macht, blendet er den berufsbiografischen Aspekt seiner vorgängigen Äußerung, nämlich seine Aufgabe in der Produktionsfirma, weitgehend aus. Ralf richtet, nachdem Konrad den Blickkontakt mit ihm beendet hat, seine Aufmerksamkeit nicht mehr auf Konrad, sondern krempelt lang und sorgfältig seine Ärmel herunter. Hans ( HA ), der andere Dozent und Hundebesitzer, ist intensiv mit seinem Handy beschäftigt. Er ignoriert die deutlichen Bewegungen und Suchaktivitäten Konrads. Nicht ein einziges Mal blickt er in Konrads Richtung, reagiert jedoch mit einem knappen Rückmelder auf die Relevanz des Auslaufes für den Hund. 07 KO: nee der musste immer zwei drei mal am 08 tag gut auslauf im park haben 09 HA: ja: 10 KO: <<p> das war auch so=n hund> Nach dieser Reaktion des Dozenten richtet sich Konrad im Vergleich zu seinen vorherigen ausgedehnten Suchbewegungen sehr schnell wieder auf. Dabei produziert er eine deutliche Zeigegeste (Bild 20) mit seiner linken Hand, streckt seinen Oberkörper gerade, blickt geradeaus in Hans' Richtung und stellt zwei Fragen: wie heißt die (-) wie heißen die. Die Zeigegeste weist vor sich auf (bzw. unter) den Tisch, zu dem Ort, an dem sich der Hund befindet. Sie wird über drei Sekunden aufrecht erhalten, bis Hans den ersten Teil seiner Antwort (GERda) liefert. Die Dauer der Geste von drei Sekunden kann auf vier Aspekte der Situation reagieren. Erstens kann sie - nach der deutlichen Suche des Hundes unter dem Tisch - den Fokus auf den Hund weiter aufrechterhalten und damit auch weiterhin von der negativen Positionierung als hundewart „ablenken“. Zweitens macht sie die Relevanz des Hundethemas für Konrad deutlich. Er zeigt sich als ernsthaft interessiert und nicht lediglich „Smalltalk betreibend“. Drittens verweist die Geste auf die Relevanz der nächsten Handlung. Sie wird so lange aufrechterhalten, bis Hans schließlich den Turn übernimmt und die Fragen beantwortet. Viertens reagiert die Dauer der Geste - und dies ist ein interes- Bild 20: Zeigegeste Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 247 Heidtmann_ final santer Aspekt der multimodalen Perspektive - möglicherweise auf die Spezifik ihrer Produktionsbedingungen. Das Referenzobjekt „Hund“ befindet sich unter der Tischplatte, die Zeigerichtung der Finger kann jedoch aufgrund der materialen Gegebenheiten lediglich auf diese Tischplatte gerichtet sein. Der imaginäre Blick des Betrachters muss die Platte „durchdringen“, um zum eigentlichen Referenzobjekt zu gelangen. Aber dies geschieht in der Situation nicht. Kein Gruppenmitglied ist visuell auf Konrad orientiert. Jedoch reagiert Hans präzise auf die beiden Fragen, die Konrad in seine Richtung gewandt formuliert hatte, indem er zunächst den Rufnamen des Hundes (GERda) und anschließend die Rasse (das ist ein BORdercollie) angibt. An Hans' Antwort sind zwei Aspekte interessant: Der eine ist koordinativer Art, der andere betrifft die Spezifik der prosodischen Äußerungsrealisierung. Hans antwortet erst, als er mit dem Gesäß Stuhlkontakt hat. Er räumt dem Arrangement seines Sitzplatzes und dem Hinsetzen einen größeren Stellenwert ein, als der Beantwortung der Frage. Auch wenn nur ca. 1,5 Sekunden zwischen Frage und Antwort vergehen, stuft die starke Fokussierung auf die Sitzplatzeinnahme die Frage in ihrer Relevanz zurück. Interessant an der Antwortrealisierung sind zum einen die finale, nicht auf Expansion angelegte syntaktische Struktur und zum anderen der Intonationsverlauf der Äußerung. Hans spricht sehr deutlich, mit erhöhter Lautstärke und „latent genervt“ [gєRda das is(t) aın bRdə kli]. Dabei betont er sowohl den Namen gєRda, als auch die Rassenbezeichnung bRdə kli. In beiden Wör- . In beiden Wörtern rollt er das „R“ besonders lang. Die spezifische Äußerungsrealisierung lässt seine Präferenz für die Beendigung des Hundethemas deutlich werden. Hans beantwortet beide Fragen Konrads in der Reihenfolge ihrer Produktion und behandelt damit beide Aspekte als gleichwertig und nicht den zweiten als Korrektur des ersten. Auch dadurch ist eine potenzielle Expansionsbedürftigkeit des Themas weitgehend ausgeschlossen. Hätte er z.B. nur auf die Rasse verwiesen, so hätte Konrad den Namen des Hundes weiter nachfragen können. Schon als Hans sehr prononciert den Namen des Hundes (GERda) äußert, gibt Konrad seine Zeigegeste und die vis-à-vis-Orientierung (Bild 21) zu Hans auf, indem er sich vom Tisch zurücklehnt. Während Hans die Rasse benennt (das ist ein BORdercollie), beendet Konrad in einer fließenden Bewegung den Tischkontakt des rechten Armes, dreht den Oberkörper nach links und nimmt auch seinen Kopf in diese Bewegungsrichtung mit. Dann führt er die rechte Hand zu einer Selbstberührung an die Nase und reibt sie zwei Mal (Bild 22). Daniela Heidtmann 248 Heidtmann_ final Bild 21: KO am Tisch Bild 22: KO s Selbstberührung Nach Abschluss der Selbstberührung äußert er ein knappes ja und fügt nach einer 1,5 Sekunden dauernden Pause sehr leise zu sich selbst gesprochen folgenden Nachtrag an: <<p>es gibt verschiedene (---) collie>. Mit einem Blick zum Boden bricht er die Äußerung, die während ihrer Progression immer leiser wurde, ab (collie). Er signalisiert, dass er Hans' knappe Antworten als Hinweis zur Beendigung des Redens über den Hund interpretiert. Durch das Wegdrehen des Oberkörpers und die Aufgabe der vis-à-vis-Orientierung mit Hans drückt er dies auch körperlich aus. Hans hatte sich währenddessen von einer Seite zur anderen gebeugt, um seinen Hund unter dem Tisch zweimalig (erfolglos) zu sich zu rufen. 21 HA: komm mal her 22 KO: <<p> es gibt verschiedene> 23 HA: komm mal her 24 KO: <<p> collie> Man kann die körperlichen Aktivitäten von Konrad und Hans zur Fokussierung des Hundes unter dem Tisch gut vergleichen. Beide lehnen sich zuerst zur einen, dann zur anderen Seite. Während Konrad deutliche Bewegungen macht und seine „Suche nach dem Hund“ auch inszenatorisch ist, sind Hans' Bewegungen, die von Handsignalen für den Hund unter dem Tisch begleitet werden, etwas weniger „ausladend“, seine Blicke unter den Tisch eher Kontrollblicke und damit wesentlich kürzer als die Konrads. Hans' Aktivitäten können als Teil seines Sitzarrangements beschrieben werden. Erst nachdem sich der Hund mitten unter dem Tisch hingelegt hat, ist Hans' Sitzplatzeinrichtung abgeschlossen und er formuliert noch eine spezifizierende, jedoch durch die reduzierte Lautstärke erkennbar in der Relevanz Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 249 Heidtmann_ final zurückgestufte Auskunft über die Hunderasse (<<p>das is=n hütehund>). Dann wendet er sich seinen Arbeitsunterlagen, die vor ihm auf dem Tisch liegen, zu. Diese knappe thematische Weiterführung des von dem Studenten initiierten Gesprächsthemas kann als Reaktion auf Konrads deutlichen Rückzug verstanden werden. Hans stimmt damit implizit Konrads Aussage zu, diese Art von Hund benötige viel Auslauf 14 und „würdigt“ damit minimal Konrads vorangegangene Informationen. Konrad reagiert darauf mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken und verankert den Blick anschließend wieder auf dem Tisch. Er verhält sich jetzt abwartend und unternimmt keine weiteren mündlichen Aktivitäten. Mit Hans' Orientierung auf die Unterlagen entsteht in der Gruppe eine Gesprächspause von 5,5 Sekunden. Mittlerweile sitzen alle am Tisch und haben die Augen gesenkt. Sie sitzen bewegungslos oder sind auf eigene Aktivitäten in unmittelbarer Nahdistanz konzentriert (Bild 23). Bild 23: Gruppenmitglieder auf unterschiedliche individuelle Aktivitäten konzentriert Für die Spezifik der Sitzplatzeinrichtung ist es interessant zu fragen, wie und auch wann sich dieses Sitzarrangement hergestellt hat. Während die sprachlichen Aktivitäten, an denen insbesondere Konrad, aber auch kurz Ralf und Hans beteiligt waren, keine erkennbaren Reaktionen bei den übrigen Teilnehmern hervorrufen und sie weiterhin mit organisatorischen Tätigkeiten befasst sind, ändern sich ihre Verhaltensweisen, als Hans sich hinsetzt und seinen Stuhl zum Tisch zieht. Hans' Sitzarrangement besteht aus vier zu differenzierenden Etappen: 14 Hütehunde sind auf eine enorme Ausdauer hin gezüchtet worden, die sie beispielsweise bei der Bewachung von Schafherden benötigen. Dem Bewegungsdrang muss in der Haltung des Tieres eine hohe Priorität eingeräumt werden, damit der Hund psychisch und physisch gesund bleibt. Daniela Heidtmann 250 Heidtmann_ final - Setzen auf den Stuhl (Bild 24) - Heranziehen des Stuhles zum Tisch (Bild 25) - Suche nach dem Hund und Sicherstellung seiner Platzierung (Bild 26) - Orientierung auf die Arbeitsunterlagen (Bild 27) Die Bilderfolge zeigt die vier Etappen. Fokussiert werden die Aktivitäten der Studierenden, während Hans seinen Sitzplatz einrichtet. LU und MA mit Unterlagen beschäftigt AN zu Jackentasche gebeugt Bild 24: HA setzt sich LU l ehnt sich zurück, löst Dyade mit MA auf AN zieht Stuhl nach hinten Bild 25: HA sitzt LU verschränkt Arme und lehnt sie auf den Tisch AN setzt sich Bild 26: HA platziert Hund Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 251 Heidtmann_ final Bild 27: HA blickt auf Unterlagen Die oben wiedergegebenen Bilder zeigen, dass Lukas die Beschäftigung mit den Unterlagen aufgibt und die Dyade mit Manfred auflöst, als Hans seinen Sitzplatz einnimmt. Außerdem stellen Lukas und Manfred das leise Reden über die Unterlagen ein, Manfred legt die Hände übereinander gefaltet auf den Tisch. Andrea, die sich zuvor ausgiebig mit dem Aufhängen ihres Mantels beschäftigt hatte und noch dabei ist, ihre Manteltaschen zu inspizieren, beendet diese Aktivität und orientiert sich auf ihren Stuhl. Sie setzt sich kurz danach hin und holt ihre Tasche auf den Schoß, um ihr darin befindliches Handy herauszuholen und auf das Display zu blicken, sowie einige Tasten zu drücken. Was Konrad angeht, so wurde bereits festgehalten, dass er die körperliche Orientierung zu Hans aufgibt und seinen Oberkörper und das Gesicht leicht zur linken Seite dreht. Alle Anwesenden sind jetzt auf ihr unmittelbares Nahfeld orientiert. Begreift man die Verhaltensweisen der Studierenden als koordinative Prozesse, so stellt sich die Frage nach ihrem Bezug. Hans' Sitzplatzarrangement - und nicht die sprachlichen Aktivitäten im Rahmen des Setting-Talk - sind für sie der zentrale Koordinationsfokus, an dem sie ihr eigenes Verhalten ausrichten. Das Verhalten des Dozenten, der zentralen „Fokusperson“, produziert für sie eine koordinative Relevanz. Mit minimalen Seitenblicken betreiben sie ein kaum sichtbares Monitoring in Richtung Hans, bzw. in Richtung beider Dozenten. 15 Während Ralf schon sitzt, als dieser Ausschnitt beginnt und schon eine Weile mit seinen Ärmeln beschäftigt ist (in diesem Ausschnitt noch insgesamt ca. 16 Sekunden! ), muss Hans, der zu Beginn noch steht, das komplette Sitzarrangement erst herstellen. Erst wenn Hans fertig ist, kann mit der gemeinsamen Arbeit begonnen werden. 15 Die räumliche Nähe der Dozenten verhindert eine eindeutige Differenzierung der kurzen Blicke. Die Dozenten fungieren als „Fokuspaar“. Da jedoch Ralf offensichtlich schon an seinem Arbeitsplatz eingerichtet und zum Arbeiten bereit ist, beeinflussen Hans' Abschlussorganisationen bei der Sitzplatzeinnahme den bevorstehenden Start unmittelbarer. MA hat Unterlagen abgelegt, Hände auf dem Tisch AN sitzt mit Tasche auf Schoß Daniela Heidtmann 252 Heidtmann_ final Die Studierenden schließen ihre organisatorischen Aktivitäten langsam ab und produzieren somit Displays von Availability, 16 als deutlich wird, dass Hans seine Arbeitsposition am Tisch eingenommen hat und sich danach den Unterlagen, dem schriftlich von den Studierenden eingereichten Entwurf ihrer Geschichte, zuwendet. Mit letzterem wird erkennbar, dass er nun auf die Kernaktivität orientiert ist. Hans' Antwort während der Einnahme des Sitzplatzes (GERda das ist ein BORdercollie) signalisiert die Beendigung des durch Setting-Talk definierten mündlichen Austausches und damit eine wesentliche Voraussetzung für den Beginn der gemeinsamen Arbeit. Auch Ralf, der in diesem Ausschnitt bereits sitzende Dozent, zeigt seine Orientierung, die Phase der Situationsherstellung abzuschließen. Er beendet das Ärmelkrempeln, nachdem Hans seinen Stuhl zum Tisch gezogen hat, atmet dann lang und hörbar aus, nimmt anschließend sein vor ihm auf dem Tisch befindliches Handy und schaut demonstrativ auf das Display. 17 22 KO: <<p> es gibt verschiedene> 23 HA: komm mal her 24 KO: [<<p> collie> (1.5)] 25 RA: [.hhh ] 26 HA: <<p> das is=n hütehund> Auch Ralfs Verhaltensweisen, das lange hörbare Ausatmen und der Blick auf das Handy signalisieren seine Orientierung auf etwas Neues. Dies geschieht - im Gegensatz zu Hans - nicht durch die Einnahme einer für das Neue notwendigen Position am Arbeitstisch, denn diese hat Ralf bereits hergestellt, sondern durch Mittel, die in der bereits etablierten Arbeitshaltung am Tisch eingesetzt werden und damit weniger markant sind, als das Verändern der Körperpositur vom Stehen zum Sitzen. Die Verhaltensweisen der Dozenten sind für die Studierenden deutlich wahrnehmbar, selbst wenn sie primär auf sich selbst orientiert zu sein scheinen. 16 Die Studierenden zeigen an, dass sie sich für den Beginn der Arbeit bereithalten. Zum Display von Availability siehe Heath (1982). Zur Diskussion des Display-Konzeptes unter einer multimodalen Perspektive und in Mehr-Personen-Konstellationen siehe Heidtmann/ Föh (2007). 17 Der Blick auf das Handydisplay, auf dem man die Zeit ablesen kann, ist vergleichbar mit einem demonstrativen Blick auf die Armbanduhr. Beides sind prototypische Verfahren der Interaktionsstrukturierung, mit denen Zeitmanagement und die Notwendigkeit von Aktivitätswechseln symbolisiert werden. Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 253 Heidtmann_ final Dies liegt zum einen an der Nähe der Personen zueinander, die z.B. ermöglicht, dass Ralfs Ausatmen für alle hörbar ist, zum anderen betreiben die Studierenden ein kontinuierliches Monitoring in Richtung beider Dozenten. Unter der grundsätzlichen Relevanz von Wahrnehmungswahrnehmung (Hausendorf 2001), die durch die räumliche Nähe noch verstärkt wird, werden vor allem in Phasen der Transition (hier von der Herstellung der Situation zur formellen Eröffnung) alle Verhaltensweisen der Fokuspersonen relevant. Die grundsätzliche situationsstrukturelle Wahrnehmungswahrnehmung ist in solchen Transitionsphasen quasi zusätzlich noch interaktionsstrukturell und handlungstypologisch aufgeladen. Das macht die Teilnehmer für die Wahrnehmung und die Relevantsetzung auch minimaler Verhaltensweisen sensibel. Auch die Dozenten zeigen Monitoringaktivitäten, jedoch auf unterschiedliche Weise: Hans blickt sehr punktuell und kurz zu den Studierenden, während er seinen Sitzplatz arrangiert. Ralf schaut permanent in Richtung seiner Ärmel und betreibt über lange Zeit überhaupt kein im Video wahrnehmbares Monitoring. An zwei systematischen Stellen blickt er jedoch sehr deutlich zu den Studierenden und zwar in einer schnellen fließenden Bewegung von rechts nach links (von Andrea über Manfred, Lukas und Konrad bis frontal in die Kamera): ein erstes Mal kurz vor seinem hörbaren langen Ausatmen, ein zweites Mal nach dem Ablegen des Handys und einem folgenden Griff zu der vor ihm stehenden Mineralwasserflasche. Beide Monitoringaktivitäten von Ralf folgen relativ dicht aufeinander und in einem Kontext, der von den oben beschriebenen Abschlussbzw. Übergangsmarkierungen geprägt ist. Es ist daher nicht überraschend, dass Ralf nach dem Öffnen der Flasche, und während er sich Wasser in das vor ihm auf dem Tisch stehende Glas eingießt, verbal aktiv wird und etwas Neues beginnt. 27 RA: ja: - 28 herzlich willkommen- 29 (2.0) 30 LA: ja 31 RA: wie geht=s inzwischen Mit der Begrüßung herzlich willkommeneröffnet er die Arbeitssitzung offiziell. Dies geschieht, während er sich Mineralwasser eingießt und ohne Blickkontakt zu den anderen Gruppenmitgliedern. Erst nach der Frage wie geht=s inzwischen und während des Zudrehens der Wasserflasche, blickt Ralf deutlich auffordernd von einem Studierenden zum anderen. Sein Blick wandert Daniela Heidtmann 254 Heidtmann_ final dabei langsam von links nach rechts (Konrad, Lukas, Manfred, Andrea), dann zurück und ein weiteres Mal von Konrad bis Lukas, der die Frage beantwortet (ja noch so im endstress von den neunzigsekündern). 18 Dieser langsame und auffordernd wandernde Blick hat eine erkennbar andere Qualität als der schnelle schweifende Monitoringblick vor der offiziellen Begrüßung. Er markiert und verstärkt die etablierte konditionelle Relevanz und deren prinzipielle Gültigkeit, d.h. die potenzielle Antwortverpflichtung für alle Studierenden. Damit fokussiert er die Anwesenden auf ein gemeinsames von allen zu bearbeitendes Thema. Im Vergleich zu dem von Konrad etablierten Setting-Talk, der zunächst diffus für alle Teilnehmer als mögliches, jedoch nicht verpflichtendes Gesprächsangebot galt, hat das offizielle Willkommenheißen und die erste Frage des Dozenten völlig andere Implikationen, was sich unter anderem in den körperlichen Ausrichtungen der Anwesenden zueinander spiegelt. Hierfür gibt es mindestens drei Erklärungen, die auf sehr unterschiedlichen Ebenen liegen: Räumlich-positionale Ebene: Das Sitzarrangement der Teilnehmer ist weitestgehend abgeschlossen. Die vorherige „multifokale Struktur“, die dadurch gekennzeichnet war, dass nahezu alle Gruppenmitglieder mit eigenen organisatorischen Aktivitäten beschäftigt waren, wird von einer „monofokalen Struktur“ abgelöst, bei der der Aufmerksamkeitsfokus aller auf die gemeinsame Interaktion gerichtet ist. Inhaltlich-thematische Ebene: Für die Beteiligten, die zur Bearbeitung der Kernaktivität zusammengekommen sind, wird durch die erste Frage des Dozenten ersichtlich, dass der Beginn der inhaltlichen Arbeit kurz bevorsteht. Eine solche Ausrichtung auf die erwartbare Kernaktivität ist für vergleichbare Interaktionstypen, wie z.B. Arbeitsmeetings ebenfalls konstitutiv. Hierarchische Ebene: Während das Setting-Talk-Angebot (als mündliche Aktivität während der vorrangigen Sitzplatzeinrichtung in der Herstellungsphase) von einem Studenten ausgeht, haben das erkennbar an alle Studierenden gerichtete Willkommenheißen und die Frage des Dozenten einen anderen Status. Der Dozent betreibt nicht nur eine auf die Durchführung der Kernaktivität bezogene thematische Steuerung, sondern etabliert mit der seiner Frage inhärenten konditionellen Relevanz auch gleich zu Beginn und unmittelbar nach der formellen Eröffnung eine strukturelle Reaktionsverpflichtung. Diese ist ein wesentlicher Bestandteil des studentischen Beteiligungsformats. Somit 18 Während der Vorbereitung auf das Pitching haben alle Studierenden einen 90 Sekunden langen Film realisieren müssen. Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 255 Heidtmann_ final drückt der Dozent - als eine seiner ersten sprachlichen Handlungen - die bestehende Asymmetrie des Lehr-Lern-Diskurses und seinen damit verbundenen übergeordneten Status aus. Zusammenfassung „05/ bordercollie“: Das Beispiel zeigt eine zunehmende koordinative Verdichtung und schrittweise Fokussierung der Interaktionsteilnehmer, als deren Folge sich aus einer multifokalen Interaktionsstruktur (mit selbstorganisatorischem und selbstbezogenem Fokus jeder Person) eine monofokale entwickelt (siehe auch Goffman (1963) zu „focused gatherings“). Der jeweilige sprachliche Aktivitätszusammenhang (Setting-Talk, offizielle Begrüßung, erste Frage an alle Studierenden durch den Dozenten) zeigt eine unterschiedliche Nähe zur handlungsschematisch erwartbaren Kernaktivität und geht mit unterschiedlichen Verhaltensweisen der Beteiligten einher. Die Beteiligten signalisieren sich in dieser Vorphase durch den Einsatz unterschiedlicher multimodaler Ausdrucksressourcen, dass sie sich auf die Kernaktivität vorbereiten. Eine Ressource ist neben der Orientierung von Oberkörper und Kopf auch die Blickorganisation. Über die Häufigkeit und Länge von Blicken und die „Vermeidung“ 19 von Blickkontakt zu anderen Teilnehmern signalisieren die Anwesenden wechselseitig ihr eigenes Engagement bzw. unterschiedliche Formen von Availability. In der Phase des Sitzarrangements und Setting-Talks ist die interaktive Präsenz der Beteiligten primär durch sehr reduzierte Engagement- und Availability-Displays (im Sinne von Heath 1982) gekennzeichnet. Ein Spezifikum der Interaktionsstruktur ist das Vermeiden von längerzeitig stabilen Interaktionsdyaden. Die thematischen Potenziale, die als Setting-Talk zwar wahrnehmbare Aspekte der aktuellen Situation (Reden über den anwesenden Bordercollie) umfassen, nicht jedoch wie im vorangegangenen Beispiel (20/ warten) unmittelbar auf das Pitching oder das Studium verweisen, sind nicht auf Expansion und Abschluss angelegt. Das Thema kann jederzeit zu Gunsten des offiziellen Sitzungsbeginns fallen gelassen werden. Zudem ist der Austausch durch eine gewisse „Leichtigkeit“ der Themen und der interaktiven Reaktionsverpflichtung gekennzeichnet. Namentliche oder sonstige Adressierungen kommen nicht vor, die präferierte Orientierung in Hinblick auf den Sprecherwechsel ist „Selbstwahl“ der Beteiligten. 19 „Vermeidung“ ist hier als strukturanalytisches Konzept gemeint, es ist nicht ‘intentionalistisch’ zu verstehen. Daniela Heidtmann 256 Heidtmann_ final 3.3 Orientierung auf den Start Der folgende Ausschnitt „10/ Trinken“ beginnt, nachdem bereits alle Gruppenmitglieder am Arbeitstisch sitzen und ihre Unterlagen auf den Tisch gelegt haben. Sie sind mit Aktivitäten befasst, die sie am Arbeitstisch ausführen (z.B. Schreiben, Glas nehmen). Nur Ralf und Bea sind noch dabei, ihre Taschen, aus denen sie die Unterlagen geholt haben, zu verschließen und wieder am Boden abzustellen. Bea beugt sich zu ihrer Tasche Karl Peter Torsten Hans Ralf mit Tasche auf dem Schoß Bild 28: Bereits sitzende Pitching-Gruppe Vergleicht man diesen Ausschnitt mit den beiden vorherigen, so ist allen gemeinsam, dass ein Dozent offensichtlich noch nicht zum Arbeiten bereit ist. In diesem Fall muss Ralf noch die letzten organisatorischen Vorbereitungen zur Einrichtung seines Sitzplatzes durchführen. Hierbei kommt es zu einer Setting-Talk-Phase, die von einem Studenten (Torsten ( TO )) initiiert wird, nachdem er sich selbst mit Mineralwasser versorgt hat. Sie beginnt, nachdem Torsten seine Tasse von sich weg geschoben und dadurch seinen unmittelbaren Agitationsbzw. Arbeitsbereich freigemacht hat. 01 TO: dass ich das nicht bemerke; 02 deswegen wenn ich tagsüber zu wenig 03 trinke? das passiert ja; (-) 04 dass ich dann nachts (-) echt so=n 05 wasser zwischendurch trinke; = 06 RA: =nachts? Während der Äußerungsrealisierung sind Torstens körperliche Verhaltensweisen auf das Sortieren der auf dem Tisch befindlichen Unterlagen ausgerichtet. Er beschäftigt sich dabei ausgiebig mit dem vor ihm liegenden Heft. Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 257 Heidtmann_ final TO: deswe gen wenn ich tagsüber zu wenig trinke , Bild 29: TO schiebt Tasse vor Bild 30: TO öffnet Heft (deswegen) (trinke) TO: das passiert ja; (-) dass ich dann Bild 31: TO bättert vor (ja) Bild 32: TO blättert weiter vor (dann) TO: nachts (-) echt so=n wasser zwischendurch trinke; Bild 33: TO blickt zur Seite Bild 34: TO blättert zurück (nachts) (wasser) Das Hin- und Herblättern scheint durch eine Suche nach unbeschriebenen Seiten motiviert zu sein. Offenbar ist der vordere Teil des Heftes bereits beschrieben. Diese Suche erklärt, warum Torsten während seiner Äußerung Bea beugt sich zu ihrer Tasche Daniela Heidtmann 258 Heidtmann_ final intensiv in das Heft blickt. Nur ein einziges Mal schaut er kurz in eine andere Richtung, nämlich während seines Hinweises, dass er nachts Wasser trinkt. TO: nachts (-) echt so=n wasser zwischendurch trinke; Bild 35: Blick links/ unten Bild 36: Blick links/ horizontal Dieser Seitenblick, erst direkt links/ unten neben sich (nachts) (Bild 35), dann gleitend weiter nach links/ horizontal ( - ) (Bild 36) stellt inszenatorisch die nächtliche Suche nach dem Wasser direkt nach dem Aufwachen dar. Torsten strukturiert seine Äußerung insgesamt durch den Einsatz minimaler inszenatorischer Mittel, primär Kopfbewegungen und damit zusammenhängend auch Blickveränderungen. Die relevante Information, dass er nachts Wasser trinkt, wird dadurch darstellerisch untermauert. Auch die kurze Mikropause in der Äußerungsrealisierung nach dem Wort nachts trägt zur Akzentuierung dieser Information bei. Obwohl er also primär mit seinem Heft beschäftigt ist, trägt die Äußerung durch den inszenatorischen Aspekt reduzierte Hinweise auf eine potenzielle Adressatenorientierung. Jedoch ist er ganz offensichtlich nicht auf der Suche nach einem bestimmten Adressaten. Er richtet keinen (Kontroll-) Blick in die Gruppe, sondern liefert ein unspezifisch adressiertes Angebot, bei dem er nicht aktiv sicherstellt, dass es jemand in der Runde aufgreift. Das Angebot hat keine klaren gesprächsorganisatorischen Implikationen, sondern funktioniert gänzlich auf der Grundlage einer deutlichen Präferenz für Selbstwahl. Anders als in anderen Kontexten (siehe beispielsweise beim Filmset, Schmitt 2007) kann sich Torsten jedoch nicht auf ein Modell grundsätzlicher Mitadressierung verlassen, bei dem sich die relevanten Adressaten auf der Grundlage einer bestimmten funktionsrollenbedingten Zuständigkeit „automatisch“ selbst wählen. Die Anschlussimplikationen der „Wasser-Geschichte“ im aktuellen Kontext der Transition von Beendigung der Herstellungsphase zur offiziellen Eröffnung der Arbeitssitzung sind also eher schwach und vom Sprecher selbst in ihrer Relevanz zurückgestuft. Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 259 Heidtmann_ final Gleichwohl kommen zwei Reaktionen auf Torstens Beitrag. Zum einen eine kurze Nachfrage von Ralf (=nachts ? ), zum anderen ein Kommentar von Hans (da hat man=n trockenen mund ne). Man kann also festhalten, dass nur die Dozenten, jedoch keine Mitglieder des studentischen Teams reagieren. 05 TO: zwischendurch trinke; = 06 RA: =nachts, 07 TO: ja nachts- 08 TO: [wach ich auf ] 09 HA: [da hat man=n trock]enen mund ne 10 TO: ja Beide Dozentenreaktionen beziehen sich auf den von Torsten auch darstellerisch relevant gesetzten Aspekt des nächtlichen Trinkens (obwohl weder Ralf noch Hans erkennbar auf die körperliche Darstellung reagiert haben). Beide Reaktionen sind jedoch knapp und nicht auf Expansion angelegt, sondern kommentieren und gratifizieren lediglich die Ausführungen des Studenten, entwickeln sie jedoch thematisch nicht weiter. Dies korrespondiert auch mit Torstens Reaktion. Ralfs Nachfrage veranlasst ihn nicht zu weiteren Explikationen, sondern er bestätigt nur kurz, dass er tatsächlich nachts aufwacht ( ja nachts wach ich auf ). Hans' Hinweis auf den trockenen mund bestätigt er ( ja), 20 ebenfalls ohne darauf weiter einzugehen. Offenbar sind alle Beteiligten auf eine knappe Bearbeitung des Setting-Talks orientiert. Angesicht des bereits erreichten Standes der Situationsherstellung und des unmittelbar bevorstehenden Arbeitsbeginns ist der Expansionsverzicht und die verbale Zurückhaltung - anders als im ersten Beispiel - eine klare Orientierung auf den offiziellen Anfang. Inzwischen sind auch der Dozent Ralf und Bea ( BE ), die beiden, die als letzte Gruppenmitglieder noch ihre Taschen arrangiert haben, ebenfalls am Tisch eingerichtet. Während alle anderen Gruppenmitglieder, ebenso wie der mündlich aktive Torsten, jeglichen Blickkontakt mit anderen Interaktionsbeteiligten vermeiden (für eine detaillierte Darstellung der Verhaltensweisen siehe unten), ist Ralf auf den Sprecher fokussiert. Noch während er seine Tasche auf dem Boden abstellt, wendet er seinen Kopf direkt in Torstens Richtung. Danach richtet er sich auf und berührt mit beiden Händen seine Mappe, ohne dabei die Kopfausrichtung zu verändern. Mit kurzen Blicken begleitet er das Öffnen 20 Solche knappen Reaktionen ( ja, mhmh etc.) werden in der Literatur als „minimal responses“ beschrieben. Eine Darstellung verschiedenster Arbeiten zum Themenkomplex „minimal responses“ bietet Fellegy (1995), die sich auch mit der Funktionalität dieser Ausdrucksformen befasst. Interessant im Rahmen der hier dargestellten Analysen ist deren Potenzial, thematischen Expansionsverzicht zu dokumentieren. Daniela Heidtmann 260 Heidtmann_ final und Arrangieren seiner Mappe, während er danach immer wieder längere Zeit direkt zu Torsten schaut. Die folgenden Bilder (37-45) zeigen Ralfs Kopfbewegungen. TO: das nicht bemerke; deswegen wenn ich tagsüber zu wenig trinke, das passiert Bild 37: Blick nach unten (das) Bild 38: Blick zu TO (tagsüber) TO: ja ; (-) dass Bild 39: Blick weiter zu TO (ja; ) Bild 40: Blick nach unten ((-)) TO: ich dann nachts (-) echt Bild 41: Blick zu TO (ich) Bild 42: Blick nach unten (nachts) Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 261 Heidtmann_ final TO: so=n wasser zwischendurch trinke; Bild 43: Blick zu TO (so=n) RA: = nachts , TO: ja nachts- Bild 44: Blick nach unten (nachts) Bild 45: Blick zu TO (ja) Ralfs kurze Blicke auf die Unterlagen, die die Orientierung auf den Sprecher immer wieder ablösen, sind im Vergleich zu den Blicken zum Sprecher viel kürzer. Er richtet sich primär auf den Sprecher aus und ordnet diesem Wahrnehmungsaspekt seine intrapersonellen Koordinierungsaktivitäten unter (Platzieren und Aufschlagen der Mappe). Die Möglichkeit, sich auf den Sprecher auszurichten, hat sicherlich mit dem Abschluss seiner Arrangiertätigkeiten zu tun. Nachdem die Tasche unter dem Tisch verstaut wurde, beansprucht die Platzierung und das Aufschlagen der Mappe nur noch wenig Aufmerksamkeit. Daniela Heidtmann 262 Heidtmann_ final Auch wenn es zunächst paradox anmutet: Ralf zeigt sich implizit arbeitsbereit, weil er sich auf den Studenten konzentrieren kann und signalisiert gerade dadurch eine Präferenz für die Beendigung der mündlichen Aktivitäten. Diese Präferenz wird auch durch Handbewegungen verstärkt. Beispielsweise fährt er, während Torsten spricht, zwei Mal mit der linken Hand von oben nach unten über eine Papierseite, als würde er ungeduldig warten („mit den Hufen scharren“). Ralfs kurze Rückfrage ( = nachts , ) erfolgt schnell im direkten Anschluss an Torstens Äußerung, jedoch mit Blick auf seine Unterlagen und nicht zu Torsten. Durch die besondere Form der Blickorganisation wird die Rückfrage in ihrer Relevanz herabgestuft und damit verdeutlicht, dass eine expandiertere Bearbeitung der Thematik nicht präferiert ist. Sein letzter Blick zu Torsten, als dieser auf seine Frage antwortet, wird von einem Blick zu den anderen Studenten abgelöst. Am Ende von Hans' Kommentar (da hat man=n trockenen mund ne) und der Bestätigung des Studenten ( ja) - hebt Ralf seine linke Hand einige Zentimeter an und lässt sie wieder hörbar fallen. - Anschließend, als niemand mehr spricht, nimmt er die Mappe hoch, klappt die Außenseiten der Deckel aneinander (aus DIN-A3 wird DIN-A4- Format), - platziert die Mappe hörbar wieder auf dem Tisch und - legt schließlich geräuschvoll seine Stifte auf die Mappe, während er ein deutliches und lautes Gliederungssignal (gut) äußert. Ralfs Verhaltensweisen, die auf den Abschluss des Setting-Talk ausgerichtet sind, korrespondieren sehr gut mit den zuvor beschriebenen Merkmalen, die von Seiten des Sprechers dazu beitragen, seinem Beitrag einen subordinären Status zu verleihen (keine Expansionsorientierung, keine Fremdwahl, kein Blickkontakt und dadurch keine explizite Adressierung). Auch von den übrigen Studierenden wird diese Orientierung auf Abschluss des Setting-Talk bzw. auf den nahenden Übergang zum Arbeiten „gespiegelt“. Alle drei sind während Torstens Äußerung bereits am Sitzplatz eingerichtet, verändern jedoch ihre jeweiligen Körperausrichtungen mehrfach. Impulse, die schließlich dazu führen, in einer Arbeitshaltung an den Tisch zu rücken, sind nicht auf den Sprecher Torsten bezogen, sondern reagieren offensichtlich auf die oben beschriebenen Verhaltensweisen von Ralf. Insbesondere das hör- Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 263 Heidtmann_ final bare Fallenlassen der linken Hand auf die Mappe, das deutliche Zusammenklappen, das geräuschvolle Ablegen der Stifte und schließlich die Äußerung des Gliederungssignals ( gut) sind markante Stellen, die zu einer Veränderung der Körperpositur hin zu einer Arbeitshaltung bei den Studierenden führen. Von Hans, dem anderen Dozenten, gehen keine Koordinierungsimpulse für die Studierenden aus. Hans schreibt während des gesamten Ausschnitts. Selbst als er seinen Kommentar (da hat man=n trockenen mund ne) äußert, bleibt er in dieser Position, bewegt weder Oberkörper noch Kopf (Bild 46). Bild 46: HA schreibt kontinuierlich Methodische Anmerkung: Es ist eine aus der Analyse motivierte Entscheidung, die folgenden Standbilder, die die Veränderungen der Körperpositionen der Studenten abbilden, nicht - wie etwa erwartet - mit dem Transkript zu verbinden. Verbalität, also primär das sprachliche Verhalten des Setting-Talk betreibenden Studenten Torsten, ist hier nicht die Modalitätsebene, auf die die Verhaltensweisen der Studierenden zu beziehen sind. Es ist vielmehr der spezifische Umgang des Dozenten Ralf mit den zur Arbeit relevanten Objekten (Mappe und Stifte). Die Manipulation dieser arbeitsrelevanten Objekte funktioniert im gewissen Sinne als „gestikulatorischer Countdown“, bei dem die Studenten sehen können, dass es jetzt gleich mit der Eröffnung und dann im Anschluss mit der gemeinsamen Arbeit losgehen wird. Dieser fallspezifische Zusammenhang führt in der anschließenden Darstellung dazu, dass die Standbilder der Studierenden nur in Hinblick auf Ralfs (bereits detailliert dargestellte) Verhaltensweisen kommentiert und nicht mit dem Transkript synchronisiert werden. Wann rücken die Studierenden also an den Tisch und zeigen sich arbeitsbereit? Karl ( KA ) schreibt in seinen aufgeschlagenen Block schon während Ralf seine Tasche abstellt und noch während Ralf seine Mappe arrangiert. Karls Verhalten scheint zunächst nicht mit der ihn umgebenden Interaktion koordiniert Daniela Heidtmann 264 Heidtmann_ final zu sein: Nach dem Schreiben blättert er einige Seiten um (Bild 47) und richtet sich auf. Er schließt seinen Füller (Bild 48), behält ihn in der rechten Hand und greift dann mit beiden Händen gleichzeitig die vor ihm befindlichen Unterlagen (mit der rechten Hand einen Block, mit der linken Hand eine Mappe) (Bild 50), hebt sie einige Zentimeter an und legt sie einige Zentimeter weiter nach links. Bild 47 Bild 48 Bild 49 Bild 50 Als Ralf seinen Monitoringblick in die Runde beendet und seine linke Hand hörbar auf den Tisch fallen lässt, setzt Karl seinen rechten Ellenbogen auf dem Tisch auf und führt die rechte Hand, in der er noch immer den Stift hält, kurz zum Mund (Bild 50). Bea verstaut zunächst, wie Ralf, ihre Tasche, benötigt dazu aber etwas länger als der Dozent. Während Ralf seine Mappe auf dem Tisch arrangiert und aufschlägt, lehnt sich Bea, die ihre Unterlagen bereits auf dem Tisch platziert hat, sitzend weit vom Tisch zurück und ist ca. 8 Sekunden lang mit ihrem Haar beschäftigt (Bild 51, 52). Dabei blickt sie gelegentlich zu Ralf. Bild 51 und 52: BE beschäftigt sich mit ihrer Frisur Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 265 Heidtmann_ final Bild 53: BE berührt Arbeitstisch und Stift Als Ralf seine Mappe zusammenklappt und während er diese geräuschvoll auf den Tisch legt, setzt sich Bea - 1,4 Sekunden später als Karl - nach vorn, stützt ihren rechten Ellenbogen auf den Tisch, wobei sie mit der linken Hand ihren Stift berührt (Bild 53). Während Ralf seine Tasche verstaut, berührt Peter ( PE ) mit der linken Hand sein linkes Ohr und die Haare an der linken Kopfseite (Bild 54). Als Ralf seine Mappe auf dem Tisch arrangiert, nimmt er sein Glas und trinkt (Bild 55). Danach wendet er sich der Kamera zu (Bild 56), um anschließend auf den Bildschirm des Notebooks zu blicken (Bild 57). Bild 54 Bild 55 Bild 56 Daniela Heidtmann 266 Heidtmann_ final Bild 57 Bild 58 Als Ralf schließlich seine Mappe geräuschvoll auf den Tisch legt und während er ebenso geräuschvoll die Stifte darauf ablegt, setzt sich Peter - 0,9 Sekunden später als Bea - ebenfalls nach vorn und stützt den linken Unterarm auf den Tisch (Bild 58). Während Torstens Beitrag zeigen die anderen Studierenden also keine Reaktion, die auf diesen beziehbar sind. Dies ist eine interessante Beobachtung, die von unmittelbarer Relevanz für die Rekonstruktion der Orientierungen der Studierenden im Kontext der aktuellen Situationsherstellung ist. Im Rahmen der Pitching-Sitzungen präsentieren sich die Studierenden als Teams, die gemeinsam für die Filmidee und deren Bearbeitung verantwortlich sind. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass sie Torstens Äußerung ganz offensichtlich noch nicht bereits als Teil der inhaltlichen kollektiven Leistung bzw. Anforderung interpretieren. Der fehlende Bezug auf Torsten signalisiert, dass sie sich noch nicht bei der Durchführung der Kernaktivität, bei der sie als Team agieren müssen, befinden, sondern in einer der Kernaktivität vorgelagerten Phase, für die die interaktive Verpflichtung wechselseitiger Unterstützung und gemeinsamer Verantwortung noch nicht besteht. Die Studierenden zeigen an, dass es für sie sitzplatzorganisatorisch nichts mehr zu tun gibt. Ihre Aktivitäten können als „doing waiting“ oder „doing being ready to start“ charakterisiert werden. 21 Insbesondere die lang ausgedehnten Selbstberührungen, das Trinken oder die Beschäftigung mit den Arbeitsutensilien lassen sich gut unter einer solchen Perspektive zusammenfas- 21 Das Warten bzw. das Anzeigen der Arbeitsbereitschaft werden in Anlehnung an Sacks (1984) als „doing waiting“ bzw. „doing being ready to start“ konzeptualisiert. Warten wird somit verstanden als konkretes, situationsgebundenes, interaktives Verhalten, mit dem die Interaktionsbeteiligten auf relevante Situationsanforderungen reagieren. Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 267 Heidtmann_ final sen. Die Aktivitäten sind erkennbar in die Relevanzen der Situation eingepasst und relativ zu den Anforderungen der Situation und der erwartbaren Kernaktivität gestaltet. Die Art der körperlichen Präsenz in der Phase des Wartens auf den Start symbolisiert gleichsam die Arbeitsbereitschaft der Studierenden und reagiert auf ihren hierarchischen Status. Sie selbst führen keine situationsstrukturierenden Aktivitäten durch, sondern engagieren sich in detailliertem Monitoring, um sensibel auf die Strukturierungsaktivitäten der Dozenten (den „Countdown“) reagieren zu können. Nach dem Gliederungssignal (gut) begrüßt Ralf die Studierenden offiziell und stellt eine erste Frage: 11 RA: <<f> gut> gut=n morgen; 12 TO: guten morgen 13 PE: ( ) 14 BE: [guten morgen; ] 15 KA: [<<p> guten morgen>] 16 RA: zusammen; (---) 17 äh erzählt uns doch mal bitte wo ihr 18 steht als team; (-) 19 wie- (-) 20 ihr- (-) 21 gearbeitet habt? Nach dem ersten Teil seiner Begrüßung (guten morgen) blickt er von links nach rechts und wieder zurück, so dass er alle mindestens einmal direkt angeschaut hat. Erst danach realisiert er den zweiten Teil (zusammen) und blickt wieder vor sich auf die Unterlagen. Zwischen dem ersten und zweiten Teil seiner Begrüßung grüßen die Studierenden zurück und blicken dabei direkt zum Dozenten. Ralfs Blicke führen dazu, dass die Studierenden ihre selbstbezogenen Aktivitäten beenden und sich auf den Dozenten orientieren. Neben den Blicken und kurzen Blickkontakten bei der Begrüßung ist der Umgang mit den auf dem Tisch befindlichen Objekten interessant. Torsten nimmt seinen Stift kurz vor der Begrüßung zur Hand, Bea legt während der Begrüßung ihre linke Hand auf das vor ihr liegende Papier und schiebt es etwas vor sich. Karl öffnet seinen Füller wieder, den er gerade zuvor in der Wartephase geschlossen hatte (Bild 60) und zieht zwei lange Striche auf dem Papier (Bild 61). Daniela Heidtmann 268 Heidtmann_ final Bild 59: KA kurz vor RA s Begrüßung Bild 60 und 61: KA während RA s Begrüßung Die Studierenden manipulieren Objekte, die für ihre Partizipation an der Kernaktivität relevant und symbolisch markiert sind, und stellen mit ihren Händen - dem zentralen Werkzeug, um aktiv in die menschliche Umwelt einzugreifen - Kontakt zu diesen her. Alles ist auf den Anfang der gemeinsamen Arbeit ein- und hergerichtet: Papier und Stift sind für Notizen, bereits beschriebene Blätter können Informationen für den zu bearbeitenden Stoff enthalten. Das Verhalten der Studenten in dieser Transitionsphase lässt sich jedoch adäquat nur als gegenläufige Gesamtdynamik beschreiben. Komplementär zur Hin-Orientierung auf relevante Arbeitsobjekte steht nämlich die Weg-Orientierung von zusätzlich auf dem Tisch befindlichen Objekten, die zwar das Arbeiten angenehmer machen, selbst jedoch nicht unmittelbar für die Arbeit gedacht sind: Tassen und Gläser, Mineralwasserflaschen, Zuckerdose und Milchpäckchen. Mit der Begrüßung schiebt beispielsweise Bea ihr Wasserglas von sich weg, Ralf direkt nach der Begrüßung das Milchpäckchen und Torsten hatte schon während seiner Äußerung sein Wasserglas von sich weggeschoben. Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 269 Heidtmann_ final Diese funktional-symbolische Manipulation der unterschiedlichen Objekte (was unmittelbar zum Arbeiten gebraucht wird, wird relevant gesetzt, was nicht unmittelbar gebraucht wird, wird etwas weggeschoben) ist - neben der offiziellen mündlichen Begrüßung - ein weiteres multimodales Aufzeigeverfahren. Es markiert den Übergang von einer Phase, die sich durch eine multifokale und noch weitgehend arbeitsentlastete Interaktionsstruktur auszeichnet, zu einer Phase, die durch eine monofokale Interaktionsstruktur mit manifester Orientierung auf den Beginn der gemeinsamen Arbeit gekennzeichnet ist. Und es ist eine modalitätsspezifische Ressource, auf die alle Beteiligten zurückgreifen (mit Ausnahme von Hans, der die ganze Zeit mit Schreiben beschäftigt ist): Der Dozent Ralf benutzt das Verfahren primär zur Situationsstrukturierung und als eine Art Vorankündigung der kommenden Eröffnung; die Studenten nutzen das Verfahren, um ihr Alignment mit der Orientierung des Dozenten zu symbolisieren. Im Rahmen relevanzhochgestufter Wahrnehmungswahrnehmung hat die kollektive Realisierung dieses sequenziell organisierten und systematisch aufeinander bezogenen Verdeutlichungsverfahrens die Qualität einer „stillschweigenden Aushandlung“. Die Beteiligten zeigen sich damit im Kontext der bereits sehr weit entwickelten Situationsherstellung wechselseitig an, dass sie nunmehr alle für den Start bereit sind. Als Ergebnis dieser Aushandlung realisiert Ralf die offizielle Begrüßung und startet damit den arbeitsbezogenen verbalen Austausch. Zusammenfassung „10/ trinken“: Das Beispiel „10/ trinken“ zeigt eine Phase der Situationsherstellung, die sich unmittelbar vor der „formalen Eröffnung“ befindet. Im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Beispielen ist dies eine Situation, die ablauflogisch die größte Nähe zur offiziellen Begrüßung und damit eine unmittelbare Position vor der formellen Situationseröffnung hat. Der aktuell erreichte Stand der Situationsherstellung hat für alle Beteiligten eine weitgehend übereinstimmende Projektivität, die sich nicht nur auf die Spezifik des nächsten Handlungszusammenhangs, sondern auch auf die zeitliche Einschätzung bezieht, wann dieser Zusammenhang aktualisiert wird. 22 Der auf die Kernaktivität bezogene Status der Herstellungsphase als „sehr nahe dran“ oder „unmittelbar davor“ wird von den Beteiligten durch unterschied- 22 Die projektive Qualität von Interaktion ist für die Konversationsanalyse ein konstitutiver Untersuchungsaspekt (stellvertretend Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974) und Schegloff (2006); siehe weiterhin Streeck (1995), Selting (2000) und Krafft/ Dausendschön-Gay (i.Dr.)). Daniela Heidtmann 270 Heidtmann_ final liche Verhaltensweisen symbolisiert, wobei die dabei eingesetzten Ressourcen eine relativ klare interne Gliederung der Herstellungsphase erlauben. Die realisierten Verhaltensweisen ermöglichen eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen 1) dem allgemeinen Involviert-Sein in vorbereitende Aktivitäten, das noch Platz für andere, nicht unmittelbar arbeitsassoziierte Aktivitäten zulässt, und 2) dem manifesten Warten auf den offiziellen Start. Ad 1) Allgemeines Involviert-Sein in vorbereitende Aktivitäten: In dieser Phase können Themen behandelt werden, die zwar aus Aspekten der aktuellen Situation motiviert sind, selbst jedoch Ereignisse bearbeiten, die die Situation transzendieren. Die Spezifik der interaktiven Bearbeitung solcher Themen drückt jedoch durch unterschiedliche Formen der Relevanzrückstufung ihren subordinierten Status bezogen auf die Vorbereitung für die Arbeit aus: Dies ist erkennbar der primäre Aspekt. So enthält die interaktive Bearbeitung des „Mineralwasser-Themas“ auf unterschiedlichen Ebenen Relevanzrückstufungen: Die Beiträge des Studenten sind relativ leise gesprochen, nicht auf Expansion angelegt, ohne Anschlussprojektionen, ohne gesprächsorganisatorische Implikationen in Richtung Fremdwahl und etablieren keine konditionellen Relevanzen. Der Sprecher ist zudem während seiner verbalen Aktivitäten auf seine Unterlagen orientiert, er hat keinen Blickkontakt zu anderen Gruppenmitgliedern. Es handelt sich eher um ein ungerichtetes „to whom it may concern“-Angebot als um eine ernsthafte thematische Offerte zur interaktiven Bearbeitung. Auch die „reduktionistischen“ dozentenseitigen Reaktionen auf die Äußerung konvergieren mit den studentischen Relevanzsetzungen: Es handelt sich um eine „Einwort-Nachfrage“ und einen kurzen Einwurf. Beide Reaktionen werden ohne körperliche Hinwendung zu dem Studenten formuliert, und es kommt zu keinem Blickkontakt. Insgesamt verweist die Art der Themenbearbeitung auf den bereits erreichten Stand der Situationsherstellung. Sie zeigt durch eine nicht-projektive Anlage den Entwicklungsstand der Situationsherstellung als unmittelbare Vorbereitung der gemeinsamen Arbeit an, wodurch die Bereitschaft für den folgenden Aktivitätswechsel gesichert bleibt. Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 271 Heidtmann_ final Ad 2) Manifestes Warten auf den offiziellen Start: Die Phase verbaler Aktivitäten wird von einer Phase abgelöst, in der die schon zum Arbeiten bereiten Teilnehmer - während sie auf Gruppenmitglieder warten, die noch etwas Zeit für ihre eigene Vorbereitung benötigen - verdeutlichen, dass sie sich für die unmittelbar bevorstehende Eröffnung bereit halten. In diesem Zusammenhang können zwei Arten von Vorbereitungsaktivitäten differenziert werden: obligatorische Vorbereitungsaktivitäten, wie das Einrichten des Sitzplatzes und fakultative Vorbereitungsaktivitäten, wie das Bewegen der Unterlagen, das Öffnen und Verschließen von Stiften etc. Vor allem mit letzteren Aktivitäten, die eine Form von „doing waiting“ darstellen, signalisieren die Beteiligten (in erster Linie sind dies die Studierenden) deutlich ihre Bereitschaft zum inhaltlichen Arbeiten. Alle von den Studierenden eingesetzten Verfahren reagieren auf eine „paradoxe Anforderung“: Die Interaktionsteilnehmer handeln, ohne durch ihr Handeln Aktivitätsprojektionen und interaktive Konsequenzen zu etablieren. Ihr Handeln ist punktuell und ohne weitgehende zeitliche Erstreckung bzw. ohne Aufmerksamkeitsforderung. Die spezifischen Aktivitäten sind dazu geeignet, solche paradoxen Erfordernisse zu erfüllen. Sie können jederzeit abgebrochen werden, nehmen keine bzw. kaum Aufmerksamkeit in Anspruch und signalisieren damit ein Bereithalten für die jederzeit mögliche, bevorstehende formale Eröffnung. Die verstärkte Orientierung der Studierenden auf den bevorstehenden offiziellen Beginn des Ereignisses zeigt sich besonders darin, dass alle verhältnismäßig schnell und auf vergleichbare Weise auf die nonverbalen Gliederungssignale des Dozenten (das deutliche Fallenlassen einer Hand, das Zuklappen der Mappe und das geräuschvolle Platzieren der Mappe) als unmittelbare Startvorbereitung reagieren: Sie stellen mit einem Arm Kontakt zum Tisch, dem zentralen Arbeitsbereich, her. Die formelle Begrüßung durch den Dozenten, mit der er die Phase der Situationsherstellung beendet und den Übergang zur tatsächlichen inhaltlichen Arbeit herstellt, wird von mehreren Gruppenmitgliedern durch die Manipulation relevanter Objekte begleitet: Arbeitsrelevante Objekte werden berührt (Stifte, Papiere), Objekte, die nicht unmittelbar für die Arbeit von Bedeutung sind (Tassen, Getränke) werden beiseite geschoben. Im ethnomethodologischen Verständnis ist dies der letzte lokal spezifische Zug in der wortlosen, kollektiven Aushandlung des geeigneten Zeitpunktes der offiziellen Begrüßung durch den Dozenten: Dieser wird - eher symbolisch als pragmatisch implikativ - von den Studierenden übereinstimmend bestätigt. Daniela Heidtmann 272 Heidtmann_ final 4. Schlussresümee Die zurückliegenden Analysen zeigen, dass lange vor der formellen, d.h. in der Regel sprachlichen Situationseröffnung mittels Begrüßungs- oder anderen Eröffnungsritualen bereits auf die Eröffnung der Situation bezogene und für diese funktionale Interaktion zwischen den Beteiligten stattfindet. Diese Interaktion wurde als Situationsherstellung begrifflich gefasst. Zunächst mag der Zusammenhang, wonach vor dem Eröffnen einer Situation erst die Bedingungen ihrer Eröffnung selbst interaktiv hergestellt werden müssen, vielleicht trivial erscheinen. Dies ändert sich jedoch genau in dem Moment, in dem man rekonstruiert, a) mittels welcher Ressourcen und Verfahren die Beteiligten unter den gegebenen situations- und organisationsstrukturellen Bedingungen die Möglichkeiten der Situationseröffnung gemeinsam herstellen und sich wechselseitig aufzeigen, und b) welche segmentale Differenzierung und sequenzielle Ablauflogik solche Phasen der Situationsherstellung aufweisen. Hinsichtlich der segmentalen und sequenziellen Struktur der untersuchten Situationsherstellungen zeigen die zurückliegenden Analysen deutlich eine Abfolge von Phasen, die durch die Bearbeitung verschiedener Anforderungen charakterisiert werden kann: - Betreten des Sitzungsraumes, - Platzwahl, - Einrichtung des Sitzplatzes, - (allgemeines) Involviert-Sein in vorbereitende Aktivitäten, - (manifestes) Warten auf die formelle Situationseröffnung und den Start der gemeinsamen Arbeit. Diese Anforderungen werden auf unterschiedlichen Modalitätsebenen bearbeitet und müssen nicht notwendigerweise sprachlich realisiert werden. Letzteres gilt vor allem für das Betreten des Sitzungsraumes, die Einrichtung des Sitzplatzes und das Warten auf den Start. Wird Sprache als Ressource eingesetzt, was in unterschiedlicher Weise in den verschiedenen Phasen möglich ist, zeigt sich systematisch eine thematische Spezifik, die als Setting-Talk charakterisiert werden kann. Dieser Setting-Talk hat unterschiedlich starke thematische Anbindungen an die übergeordnete Kernaktivität bzw. an das Setting „Filmstudium“. Steht die offizielle Eröffnung kurz bevor (wie in Beispiel 2, Zur Herstellung von Situationseröffnungen in Arbeitsgruppen 273 Heidtmann_ final noch klarer in Beispiel 3), wird eher auf sichtbare Aspekte der Situation rekurriert (Hund, Wasserflasche bzw. trinken), die nicht weiter bearbeitet werden. Ist hingegen die offizielle Eröffnung noch nicht unmittelbar zu erwarten (Beispiel 1), kann auch ausführlicher über andere studienspezifische Belange geredet werden. Die drei Beispiele zeigen einen klaren Zusammenhang zwischen der sequenziellen Konstitutionsdynamik der Herstellungsphase und den eingesetzten Ressourcen: Je näher die Interaktionsentwicklung der offiziellen Eröffnung kommt, desto stärker tritt das verbale Geschehen in den Hintergrund und macht anderen Herstellungs- und Symbolisierungsverfahren Platz, z.B. der Manipulation signifikanter Objekte. Die bei den Analysen gewonnenen Einsichten sind nicht nur fallspezifisch interessant, sondern durchaus zu verallgemeinern. So ist beispielsweise nicht nur für viele Mehr-Personen-Situationen eine Phase „Warten auf den Anfang“ konstitutiv, sondern auch die Tatsache, wie „Warten als interaktive Aufgabe“ bearbeitet und als auf Wahrnehmung ausgelegtes Verhalten dargestellt wird. Warten in seiner interaktionistischen Variante als „doing waiting“ reagiert grundsätzlich auf interaktions- und organisationsstrukturelle Vorbedingungen, wie beispielsweise Hierarchie. Hierarchisch „Untergeordnete“, wie die Studierenden in den analysierten Beispielen, stellen die existierende formale Hierarchie dadurch in Rechnung, dass sie primär selbstbezogen und mit reduzierter interaktiver Implikativität warten. Alles, was als selbstbestimmte, auf die Kernaktivität bezogene Situationsstrukturierung interpretiert werden kann, wird unterlassen. 23 Dem auf Wahrnehmung designten „doing waiting“ der Studierenden entsprechen auf Seiten der Dozenten deutlich wahrnehmbare Monitoring-Aktivitäten und die ankündigungsimplikative Manipulation signifikanter Objekte. Insgesamt zeigen die Analysen, dass für die Interaktionsbeteiligten selbst diese Phase der Situationsherstellung eine konstitutive Anforderung ist, zu deren Bearbeitung sie beteiligungsspezifisch beitragen. Der Übergang zur Kernaktivität und als dessen Höhepunkt die offizielle verbale Eröffnung ist keine singuläre Leistung eines einzelnen privilegierten Teilnehmers, sondern vielmehr ein kollektiv auf unterschiedlichen Modalitätsebenen erarbeiteter Anfang. 23 Dies ist eine von vielen empirischen Evidenzen für die in Schmitt/ Heidtmann (2002) formulierte Permananz und Nicht-Hintergehbarkeit der hierarchiebezogenen Orientierung in Arbeitsgruppen. Im konkreten Fall erfüllt die Realisierung des studentischen Wartens auf den Anfang genau die Bestimmungsmerkmale „kommunikativer Selbstbeschränkung“. Diese Einsicht ermöglicht und erfordert es, das primär verbal basierte Grundmodell der „interaktiven Hierarchiekonstitution“ im Hinblick auf die faktische - gerade auch visuelle - Komplexität multimodaler Interaktion weiterzuentwickeln. Daniela Heidtmann 274 Heidtmann_ final 5. Literatur Bateson, Gregory (1959): The message: „This is play“. In: Schaffner, Bertram (Hg.): Group processes. 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Einleitung In diesem Beitrag wird die Eröffnung technisch vermittelter Interaktionen anhand eines Korpus von Videokonferenzen im professionellen Kontext untersucht. Videokonferenzen sind in diesem Zusammenhang insofern interessant, als sie zwar ebenso wie Telefongespräche technisch vermittelt sind, aber neben dem akustischen Kontakt auch Austausch auf visueller Ebene erlauben und zudem nicht auf zwei Teilnehmer beschränkt sind. Diese Unterschiede erlauben, die strukturierende Rolle der technischen Vermittlung über die von Schegloff (1968, 1972, 1986) für Telefongespräche bereits detailliert beschriebene Organisation hinaus zu untersuchen. Im Folgenden werden zunächst einige Eigenschaften dieser Form technisch vermittelter Interaktion und ihre Auswirkungen auf die Organisation der Eröffnung beschrieben. Dann werden Videodaten aus einer französischen Klinik analysiert, die wöchentliche Videokonferenzen mit chirurgischen Zentren in Europa und weltweit abhält, um schwierige klinische Fälle zu diskutieren und dazu Vorschläge und Rat einzuholen sowie sich über neue Operationstechniken auszutauschen. In diesen Videokonferenzen wird jeweils ein Problem zunächst in einem kurzen Vortrag präsentiert und anschließend diskutiert. Anhand dieses Korpus soll zunächst die Eröffnung dieser Sitzungen per Videokonferenz mit ihren organisatorischen Beschränkungen und Möglichkeiten untersucht werden. Anschließend wenden wir uns den Aktivitäten zu, die der Eröffnung vorausgehen und folgen: Hier zeigt sich eine spezifische sequenzielle Organisation, in der die Teilnehmer sich erkennbar auf endogene Kategorien wie „Vor-Eröffnung“ und „Beginn“ als von der eigentlichen „Eröffnung“ deutlich verschiedene Momente orientieren. Anhand der detaillierten Analyse dieser sequenziellen Organisation, bei der die technischen Bedingungen und die damit verbundenen Beschränkungen zu berücksichtigen sind, können verschiedene Grade von Ko-Präsenz, Kontakt und Teilnahme unterschieden und die praktische Herstellung der Voraussetzungen der Eröffnung beschrieben werden. Lorenza Mondada 278 Mondada_FINAL 2. Eröffnung in technisch vermittelter Interaktion: Die konstitutive Rolle der Technik bei der Gesprächsorganisation Schegloff hat in einer Reihe mittlerweile klassischer Texte (1968, 1972, 1979, 1986) die Eröffnungssequenz anhand von Tonaufnahmen von Telefongesprächen beschrieben, der ursprünglichsten Form technisch vermittelter Interaktion. In seinen Analysen arbeitet er die Bedeutung der Eröffnungssequenz für die gesamte Interaktion heraus: Sie ist der Moment, in dem die Teilnehmer in eine gemeinsame Interaktion eintreten, sich ihre Bereitschaft zur Interaktion anzeigen, sich wechselseitig erkennen und identifizieren, kurz: sich aufeinander einstellen, um dann gemeinsam und koordiniert die eigentliche konversationelle Aktivität zu beginnen. Videokonferenzen haben mit Telefongesprächen gemein, dass sie vermittelte Interaktionen zwischen Teilnehmern an verschiedenen Orten sind; der Eintritt in die Interaktion setzt voraus, dass über die technische Vorrichtung des Partners eine Verbindung hergestellt wird. Bei seiner Beschreibung der Eröffnung von Telefongesprächen hat Schegloff (1968, 1972) die technische Dimension von vornherein in die sequenzielle Organisation der Interaktion integriert; insbesondere beschreibt er das Klingeln als ersten Teil der ersten Paarsequenz (das „summons“, Schegloff 1972). Zudem verweist er darauf, dass technische Probleme und die Qualität der Verbindung zu jedem Moment des Gesprächs und besonders in der Eröffnung thematisiert werden können (Schegloff 1986). Die technische Vermittlung bietet den Vorteil, dass das Telefongespräch eindeutig vom Davor und Danach abgegrenzt werden kann. 1 Diese scheinbar simple technische Eigenschaft lässt sich aber noch weitaus komplexer und genauer beschreiben. Zum einen besteht die Herstellung der Verbindung selbst aus einer ganzen Reihe von Aktivitäten - Abheben des Hörers durch den Anrufer, Wählen, Freizeichen (bzw. auf Seiten des Angerufenen Klingeln), eine mehr oder weniger lange Folge von Klingeltönen und schließlich Abnehmen des Hörers -, die sequenziell organisiert und mit der laufenden Gesprächsaktivität verknüpft sind (vgl. Mondada 2007a, 2008; Relieu 2005). Zum anderen 1 Vgl.: „Telephone conversations are well-bounded events in social life. They have easily identifiable, clearly demarcated beginnings and endings. The openings and closings of telephone conversations are distinctive interactional events, marked by the use of particular kinds of resources that allow people to manage intimacy at a distance, as well as other communicative affordances of the technology.“ (Hutchby 2001, S. 89) Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 279 Mondada_FINAL. ist in Videokonferenzen die Verbindung oft instabil und es treten Störungen auf, darum werden Ton und Bild ständig kontrolliert und justiert - die technische Einstellung ist nie endgültig abgeschlossen und aus der Organisation des Sprechens verschwunden (vgl. Mondada 2007b). 2 Aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften kann bei Videokonferenzen unterschieden werden zwischen der Herstellung der Verbindung einerseits und der Kontaktaufnahme andererseits, die mit bestimmten Verfahren geschieht und Zeit in Anspruch nimmt. 3 So können die Teilnehmer entweder in eine Interaktion mit den anderen Standorten eintreten oder Beschäftigungen am eigenen Ort nachgehen (sich also, wie Meier (1997, S. 27-35) sagt, entweder auf das „Hier“ oder auf das „Dort“ konzentrieren). Da Videokonferenzen zwischen mehreren Standorten und mit vielen Personen stattfinden können, treffen die Teilnehmer zudem nacheinander ein. Dadurch ist die Herstellung eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und die sukzessive Erweiterung des Teilnahmerahmens mit einem gewissen Aufwand verbunden, begleitet von Warten und möglicherweise zahlreichen Eröffnungen. In dieser Hinsicht ähnelt die Videokonferenz stärker der direkten Interaktion als einem Telefongespräch. Schließlich können dadurch, dass die Herstellung der Verbindung unmittelbar einen visuellen Zugang zu den Teilnehmern eröffnet, bestimmte Handlungen in einer spezifischen Weise organisiert sein: Der Andere kann zuerst über das Bild erkannt und identifiziert werden, und die körperliche und räumliche Anordnung der Teilnehmer ist nicht nur sichtbar, sondern bedeutungsvoll und wird von diesen auch aktiv bearbeitet (dazu, wie die verschiedenen Orte ihre eigene Sichtbarkeit für die Partner organisieren, siehe unten Ausschnitt 4). 4 2 In diesem Sinne ist die Technik nicht transparent, wie verschiedene Autoren übereinstimmend bemerken (vgl. Fornel 1994; Friebel et al. 2003; Bonu/ Relieu 2006; Mondada 2007b). 3 Siehe aber den gap zwischen dem Abnehmen des Hörers und der Antwort im deviant case, auf den Schegloff (2002) verweist und den Whalen und Zimmerman (1987) behandeln (vgl. auch Zimmerman 1992a, 1992b): Diese Lücke kann bei Anrufen in Notrufzentralen auf ein Problem oder einen Scherzanruf hinweisen. 4 Hier ist zu bedenken, dass die verwendeten Kameras mit einer speziellen Bildausrichtung ausgestattet sind und dass sie die Bilder der Teilnehmer auf unterschiedliche Weisen übertragen (Vollbild gegenüber Bild-im-Bild). Dadurch ist die Interaktion per Bildtelefon oder Videokonferenz durch eine Asymmetrie gekennzeichnet (Fornel 1994, Meier 1998), die es im Telefongespräch nicht gibt. Lorenza Mondada 280 Mondada_FINAL Angesichts dieser allgemeinen Betrachtungen, die im Folgenden in detaillierten Analysen spezifiziert werden, stellt sich die Frage nach den möglichen Besonderheiten der Eröffnung von Videokonferenzen. 5 Zwar eröffnet die Videoverbindung einen visuellen Zugang, der dem in Face-to-Face-Interaktion sehr ähnlich ist, doch sind multimodale Ressourcen wie Gesten oder Blicke, die im Gespräch häufig genutzt werden, in vermittelter Interaktion selbst bei Verwendung hochentwickelter Technik erheblich weniger effektiv. So zeigen Heath und Luff (1993), die eine permanente Videoverbindung zwischen den Büros eines großen Unternehmens analysieren, dass die Teilnehmer auf sie gerichtete Blicke und andere Gesten oder Körperhaltungen, die üblicherweise eingesetzt werden, um die Aufmerksamkeit eines anderen zu erregen, auf dem Bildschirm nicht bemerken, was zu hyperbolischen Gesten führt oder aber dazu, dass mit anderen Mitteln (z.B. telefonisch) Kontakt aufgenommen wird. In der Literatur wurde in diesem Zusammenhang auch die Frage diskutiert, wie stark sich die jeweilige Vermittlungstechnik auf die Strukturierung der Interaktion auswirkt. Besonders intensiv wurde dies in Bezug auf Gespräche mit dem Mobiltelefon untersucht (Arminen 2002; Relieu 2002; Arminen/ Leinonen 2006), wo sich eine Kontroverse darüber entspann, ob die Technologie nun die Interaktion bestimmt oder nicht (Arminen 2005; Hutchby/ Barnett 2005). Arminen und Leinonen (2006) verweisen in ihrem Artikel zur Eröffnung von Telefongesprächen auf eine veränderte sequenzielle Organisation bei Gesprächen mit dem Mobiltelefon und eine Reduktion der Eröffnung gegenüber Festnetzgesprächen: - Während bei Anrufen im Festnetz das summons immer gleich ist, kann es beim Mobiltelefon personenabhängig definiert sein und Aufschluss über den Anrufer geben, dessen Nummer oder Name in der Regel auf dem Display des Angerufenen erscheint. - Daher orientiert sich beim personalisierten summons die Antwort an der Erkennbarkeit und Identifizierbarkeit und wandelt sich zu einer greeting response („responsive action to a recognizable activity“, Arminen 2005, S. 652), die an einen bestimmten Adressaten gerichtet und in Bezug auf diesen recipient-designed ist. Dadurch verschwindet tendenziell der Austausch von Begrüßungen (bei Anrufen im Festnetz bleibt er dagegen als 5 Siehe Fornel (1994) zum Bildtelefon; Meier (1997, 1998), Licoppe/ Dumoulin (2007) zu Videokonferenzen; Bonu/ Relieu (2006), Bonu (2007), Relieu (2007) zu verschiedenen Verfahren der Telepräsenz. Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 281 Mondada_FINAL. eigene, von der Antwort auf das summons deutlich unterschiedene Paarsequenz erhalten). Wenn das summons jedoch keine Identifizierung des Anrufers ermöglicht, ist die Struktur dieselbe wie bei Festnetzgesprächen. - Auch die Identifizierungssequenz verschwindet in Gesprächen mit dem Mobiltelefon zunehmend (während bei Festnetz-Anrufen in Ländern wie Finnland, Schweden und den Niederlanden die Antwort auf das summons in einer Selbstidentifizierung besteht oder eine solche beinhaltet). Das „hello“ als Antwort auf das summons hat in der Regel eine flache prosodische Kontur, anders als das „hello“ im Festnetz, das u.a. dazu dient, dem Anrufer eine erkennbare Stimmprobe zu geben (also als stimmlicher „Ausweis“ fungiert). Aufgrund dieser Beobachtungen widerspricht Arminen (2005) der Behauptung, die Hutchby und Barnett (2005) im Rahmen ihrer Beschreibung von Gesprächen mit dem Mobiltelefon aufstellen, dass nämlich die Besonderheiten der Technik die sequenzielle Organisation der Eröffnung, wie Schegloff sie beschrieben hat, nicht grundlegend beeinflussen. Diese Kontroverse ist insofern interessant, als sie die technische Vermittlung ins Zentrum der Debatte stellt: Auf der einen Seite relativieren Hutchby und Barnett (2005) den Einfluss der Technik auf die Struktur der Interaktion, indem sie das Fortbestehen von Verfahren zeigen, die sich im Rahmen einer anderen Technik entwickelt haben. Auf der anderen Seite zeigen Arminen und Leinonen (2006), dass die Gesprächspartner beim Mobiltelefon Eigenschaften der Technologie nutzen und das sequenzielle Format diesen anpassen: Die Antworten auf den neuen Typ von summons zeugen von einem Prozess der Anpassung, in dem die neuen technologischen Gegebenheiten als Möglichkeiten und Angebote für die Handlung genutzt werden. Arminen (2005, S. 658) verweist darauf, dass die Organisation der Sequenzen, die Hutchby und Barnett in ihrer Analyse in den Vordergrund stellen, in einer Reihe von Fällen durchaus unverändert bleibt; die Veränderungen in der sequenziellen Organisation, die er ebenso wie Arminen und Leinonen (2006) hervorhebt, lägen aber auf einer erheblich feineren Ebene. Tatsächlich ist bei Gesprächen mit dem Mobiltelefon eine Orientierung auf die sozio-technischen Eigenschaften und deren prozedurale Auswirkungen auf das situierte Handeln der Teilnehmer eher auf der Ebene der Turnformatierung zu beobachten als auf der Ebene der Organisation der Sequenzen. Lorenza Mondada 282 Mondada_FINAL Bei der Analyse der Eröffnung von Interaktionen per Videokonferenz ist es unabdingbar, die technische Dimension einzubeziehen. Sie ist jedoch nicht als technische Determinante zu verstehen, die eine bestimmte interaktionale Ordnung erzwingt, sondern als Ressource und Beschränkung zugleich, die die Teilnehmer selbst in die sequenzielle Organisation ihrer Aktivitäten einbeziehen. Im Folgenden gehen wir zunächst ausführlicher auf einige sequenzielle Eigenschaften der offiziellen Eröffnung von Videokonferenzen ein. Auf dieser Grundlage wird dann die emische Einteilung der Ereignisse am Beginn der Videokonferenz herausgearbeitet, auf die sich die Teilnehmer orientieren. Schließlich wird ein erweitertes Modell der Eröffnung entwickelt, wobei der Schwerpunkt auf den Interaktionen liegt, die vor der offiziellen Eröffnung stattfinden. 3. Eröffnung von Videokonferenzen: Ausrichtung auf das übermittelte Ereignis Die ersten der folgenden Analysen beziehen sich auf die eigentliche Eröffnung der Videokonferenz. Sie zeigen, dass bei Videokonferenzen die Eröffnung nicht so unmittelbar mit dem Herstellen der Verbindung zusammenhängt wie beim Telefongespräch (selbst wenn die Verbindung durch ein Klingelzeichen angekündigt wird, vgl. Licoppe/ Dumoulin 2007, S. 116), sondern sich über eine Reihe vorbereitender Schritte aufbaut, die mit der Handhabung der Technik zusammenhängen. Diese erfolgen keineswegs unabhängig von der sequenziellen Organisation des Sprechens und Handelns, sondern sind im Gegenteil eng mit ihr verschränkt. 3.1 Die interaktive Herstellung der Verbindung in der Eröffnungssequenz Der folgende Ausschnitt zeigt ein erstes Beispiel der Eröffnung einer Videokonferenz; in dem relativ einfachen Format wird die Einbettung der technischen Aktivitäten in die Sequenzialität der Eröffnung deutlich. Zu diesem Zeitpunkt sind zwei Teams zugeschaltet: Freiburg, sichtbar im Hauptbild, das Dr. Frieberg und Dr. Rohner zeigt, und Straßburg im kleinen Bild, in dem Dr. Maire und Dr. Séford zu sehen sind. Die Aufnahme wurde in Straßburg gemacht (die Teams sehen sich selbst in der Regel in dem kleinen Bild, das nach dem PIP -Verfahren (Picture in Picture, Bild im Bild) eingeblendet ist). Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 283 Mondada_FINAL. (1) (12028): Maire ( MAI ) und Séford ( SEF ) in Straßburg, Frieberg ( FRI ) und Rohner ( ROH ) in Freiburg Bild 1 0 bi #Bild 1 1 SEF #((drückt den Knopf und schaltet Mute aus)) bi #Bild 2 Bild 2 2 MAI #((aktiviert sein Mikro durch Knopfdruck))# bi #Bild 3 Bild 4# 3 MAI .hhhhh°° bonsoir/ guten abend h/ 4 (1.0) 5 MAI h H*H hhh* fri *aktiviert das Mikro* 6 (0.9) 7 FRI guten abend 8 (1.0) 9 AMI so wir werden ich glaube (0.5) bald anfangen/ Lorenza Mondada 284 Mondada_FINAL Diese Eröffnung ist um einen Austausch von Begrüßungen herum organisiert: Dr. Maire initiiert ihn (Z. 3) und Dr. Frieberg reagiert darauf (Z. 7). Die Sequenz besteht jedoch nicht nur aus der Begrüßungs-Paarsequenz, sondern diese ist eingebettet in eine andere Handlung, nämlich die Bedienung der Videotechnik: Bevor Maire die Begrüßung initiiert, schaltet erst sein Kollege Dr. Séford, dann er selbst sein Mikrofon ein (Z. 1-2, Bild 2); Frieberg tut dasselbe, bevor er antwortet (Z. 5). Der Knopfdruck, mit dem von „Mute“ (Mikro stumm) auf offenes Mikro umgeschaltet wird, ist eine Vorbedingung für den verbalen Austausch. Doch die multimodale Komponente in dieser Eröffnung beschränkt sich nicht auf technische Handgriffe, sondern beinhaltet auch eine Veränderung der Körperhaltung der Teilnehmer. Zu Beginn des Ausschnitts sind die Teilnehmer an den beiden Standorten zwar verbunden, aber nicht miteinander im Gespräch, sondern unterhalten sich jeweils am eigenen Ort (vgl. Bild 1). Als Séford die Funktion „Mute“ deaktiviert (woraufhin auf dem Bildschirm in Straßburg das entsprechende Symbol links im Bild erscheint, vgl. Bild 1), verändern er und Maire gleichzeitig mit dieser Geste ihre Körperhaltung: Vorher waren sie einander zugewandt, nun drehen sie sich nach vorn (Bild 2). Während er den Knopf drückt, beugt sich Maire zu seinem Mikrofon und ergreift es mit der rechten Hand. Genau in diesem Moment dreht Frieberg den Kopf und wendet sich nach vorn (Bild 3); Maire hebt den Kopf wieder, sobald das Mikrofon angeschaltet ist, und schaut ebenfalls nach vorn (Bild 4). Die beiden richten ihre Blicke in dem Moment aufeinander aus, als Maire hörbar einatmet und seinen Turn beginnt (Z. 3). In dieser Abfolge von Handlungen emergiert also in der präzisen Koordination von Körperbewegungen und Blicken eine wechselseitige Beziehung, bevor überhaupt ein Wort gesprochen wird. Bild 3-4 Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 285 Mondada_FINAL. Diese scheinbar einfache Eröffnungssequenz erweist sich also als ein praktischer Vollzug, in dem gleichzeitig die technischen Bedingungen für den Austausch hergestellt und die Positionierung, Körperorientierung und Blickrichtung sowie das Sprechen in Interaktion in Gang gesetzt und dabei zeitlich präzise aufeinander abgestimmt werden. 3.2 Die räumlich-visuelle Anordnung der Teilnehmer für die Videokonferenz: Ausrichtung von Körpern und Bild Anhand von Ausschnitt 1 wurde detailliert beschrieben, wie die Teilnehmer aktiv eine konvergente Aufmerksamkeitsausrichtung herstellen, bevor sie die Eröffnung initiieren. Die Eröffnungsphase vollzieht sich durch eine Veränderung der Blickrichtungen und Körperhaltungen und das Einschalten der Mikrofone. Der Ausschnitt macht also deutlich, welche Aktivitäten im Hinblick auf die Eröffnung und als Voraussetzung für diese stattfinden: Die Mitglieder der jeweiligen Teams befinden sich in lokalen Gesprächen, sie kommunizieren nicht mit den anderen bereits zugeschalteten Teams, beobachten aber aus dem Augenwinkel den Bildschirm, um eine eventuelle Überleitung zur Eröffnung mitzubekommen. Die kurzen Blicke, die die nebeneinander sitzenden Teilnehmer auf den Bildschirm vor sich werfen, zeigen, dass sie von dem Gespräch, das sie führen, nicht vollkommen beansprucht sind, sondern sich auf dessen mögliche plötzliche Beendigung und den Beginn der nachfolgenden Aktivität einstellen. Vor allem orientieren sich die Teilnehmer in dieser Phase der bevorstehenden Eröffnung bei ihrer Verteilung im Raum darauf, wie die einzelnen Orte jeweils im Bild zu sehen sind. Dabei berücksichtigen sie eine doppelte Räumlichkeit: die innerhalb des Ortes und die vermittelte zwischen den eingeschalteten Orten. Die räumliche Dimension ist ein fundamentaler Aspekt jeder Eröffnung (vgl. De Stefani/ Mondada in diesem Band; Mondada 2009a): Wie in Faceto-Face-Interaktionen erfordert auch bei der Videokonferenz die Eröffnung eine angemessene Anordnung der Körper im Raum, um einen Interaktionsraum herzustellen (siehe zur Entwicklung dieses Konzepts Mondada 2007c), der für die folgende Interaktion geeignet ist. Darüber hinaus kommt bei der Videokonferenz aber noch eine andere Form von Räumlichkeit ins Spiel, nämlich die des übermittelten Bildes: Die Anordnung der Körper ist darauf orientiert, wie die Kamera mit ihren technischen Eigenschaften und ihrer Lorenza Mondada 286 Mondada_FINAL Ausrichtung sie für die Gesprächspartner sichtbar macht. Die Bedeutung dieses Aspekts manifestiert sich darin, dass zu Beginn der Videokonferenzen zahlreiche Aktivitäten dem Einstellen der Kameras und der Anordnung von Körpern und Gegenständen gewidmet sind. 6 Diese Aktivitäten an den einzelnen Orten sind nicht völlig unabhängig voneinander: Die Teams orientieren sich sowohl am eigenen Bild als auch an dem der anderen. Diese Bilder, ihre Ausrichtung, die Orientierung der Teilnehmer darauf und die daraus folgende Anordnung der Körper im Raum definieren den Interaktionsraum der Videokonferenz. Das Einstellen der Kamera ist in dieser Phase rekurrent. Die Ausrichtung des Bildes auf eine bestimmte Person bedeutet im Gegensatz zu anderen Phasen nach dem Beginn der Sitzung hier nicht, dass diese Person das Wort ergreifen wird, sondern sie dient lediglich Testzwecken. In der folgenden Bildserie - während derer kein offizieller sprachlicher Austausch zwischen den Orten stattfindet und auch innerhalb der Orte kein Sprechen zu hören ist - nehmen Toulouse (Vollbild) und Straßburg (kleines Bild) jeweils ihre Einstellungen vor: (2) (0801) Bild 5-10 6 Für weitere Beispiele der Abstimmung von Körperpositionierung und Kameraeinstellung siehe den Beitrag von Keating/ Mirus (2003) zu Interaktionen zwischen gehörlosen Menschen per Videokonferenz im Internet. Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 287 Mondada_FINAL. Bild 11-16 Die Bildfolge zeigt zwei Formen der Einstellung des Bildausschnitts: In Toulouse macht der Leiter, Taschel (Bild 5), erst einen Schwenk über seine Mitarbeiter (Bild 6-9), bevor er das Bild auf einen von ihnen ausrichtet und einstellt (Bild 10-16). In Straßburg zentriert der Verantwortliche, Lelacq, das Bild zunächst auf sich selbst (Bild 5-11), richtet es erst höher (Bild 12), dann wieder tiefer aus (Bild 13), zoomt es heran (Bild 14), stellt dann ein Gesamtbild der Gruppe (Bild 15) und schließlich eine mittlere Ansicht ein (Bild 16). Diese Kamerabewegungen zeigen, dass die Teilnehmer sich auf die Bildausrichtung orientieren und eine passende Einstellung für ihr Team suchen, bevor die Eröffnung beginnt. Diese Ausrichtung ist verbunden mit einer anderen, die weniger das Bild selbst betrifft als vielmehr die Körper und die Art und Weise, wie diese gefilmt werden. Der folgende Ausschnitt stammt aus einer Videokonferenz zwischen New York, Straßburg und Japan: (3) (09029): Mannin ( MAN ) in New York; Lelacq ( LEL ), Darmont ( DAR ), Doren ( DOR ) und Drissi ( DRI ) in Straßburg; Keio ist ebenfalls zugeschaltet 1 MAN tsk perhaps we can have a little try of sound from 2 keio u[niversity\ 3 LEL [mets-toi là# mettez-vous *là\ °me#t[tez-*vous là\° [ setz dich dahin setzt euch da \ ° se [ tzt euch dahin \° *..............*zeigt--> bi #Bild 17 #Bild 18 4 MAN [ehm: Lorenza Mondada 288 Mondada_FINAL 5 echo mettez-vous* là\ mettez-vous là setzt euch dahin \ setzt euch dahin --->* 6 (1.+#7)+ dar +geht vor der Kamera her+ bi #Bild 19 7 MAN can we have a test sound from keio uni†ver#sity pl†ease\ dor †zeigt------† bi #Bild 20 8 DRI √°non non# viens là°√ ° nein nein komm her ° √zeigt--------------√ bi #Bild 21 Bild 17-22 Während Mannin, der Leiter dieser Sitzung, in New York dabei ist, die Audioverbindung zu überprüfen, gibt Lelacq in Straßburg den zuletzt eingetroffenen Teilnehmern Anweisungen, wie sie sich platzieren sollen (Bild 19). Dabei verwendet er nicht nur den Imperativ, sondern weist auch mit einer Zeigegeste (Bild 18) genau auf den Platz, auf den der eben angekommene Darmont (der in Bild 19 vor der Kamera hergeht) sich setzen soll; diese Geste wird zuerst von Doren aufgenommen (Bild 20), dann von Drissi (Bild 21). Hier ist deutlich sichtbar, dass das Einnehmen der Plätze im Hörsaal eine methodische, geordnete und auch wahrnehmbare Handlung ist (worauf sich mehrere Teilnehmer orientieren), die auf den praktischen Zweck der Komposition des übertragenen Bildes ausgerichtet ist (Bild 22 zeigt den Saal, wie er sich bei Beginn der offiziellen Eröffnung präsentiert). Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 289 Mondada_FINAL. Dass diese angeordnete körperliche Positionierung des Teams im Hinblick auf die visuelle Übertragung der Kamera erfolgt, wird in einem anderen Ausschnitt explizit gemacht, wo Taschel in Toulouse einige seiner Mitarbeiter sich umsetzen lässt, um seine Gruppe besser ins Bild zu bringen. (4) (18127): Taschel ( TAS ), Tournier ( TOU ) und Bernard Tavernier ( BER ) in Toulouse, Lelacq ( LEL ) und Maire ( MAI ) in Straßburg 1 LEL mais il est là ou PAS/ / aber ist er da oder NICHT / / 2 TAS en tout cas i- (0.5) NON/ *il est pas #là\ jedenfalls er- ( 0.5 ) NEIN / er ist nicht da \ *dreht s. n. hi. li.---> bi #Bild 23 3 LEL ah bon hhh* ach so hhh tas -->* 4 (1.2) 5 TAS monsieur ste[rn *il est pas # là en tout cas* herr ste [ rn er ist nicht da jedenfalls *dreht s. n. hi. re.-------* bi #Bild 24 6 LEL [donc ça ne gedonc ça ne chan*ge pas (.) .hh [ also das stalso das ändert nichts (.) . hh 7 TOU? °tu as dit que xxxx° ° du hast gesagt dass xxxx ° 8 TAS non\ nein \ 9 √ (1) √ mai √ setzt sich neben LEL √ 10 TAS euh* (.) soyez genti*ls de vous mettre äh seid so nett und setzt euch *dreht s. n. hi.* 11 dans le ch*amp de: : *(.) de visio* in den bereich des (.) des videos *dreht s. n. hi.*zeigt n. vo.* 12 LEL ∆°mais c’est touqui c’est qui a dit aber ist das alwer hat gesagt komm ∆3 Pers. hinten stehen auf und setzen sich um------> 13 LEL qu’il [fallait al]ler là-bas\°° [°ah c’est marie-anne°] dass er da hinkommen sollte \ [° ach das war marie-anne °] 14 TAS [(pour que) vous l’voyez] [on peut pas] faire plus∆ ( damit ) wisst ihr wir können nicht mehr machen komm ------>∆ 15 ∆ (3.2) ∆ komm ∆eine 4te Person setzt sich nach hinten links∆ Lorenza Mondada 290 Mondada_FINAL 16 LEL ah oui y avait mar#qué invité toulouse/ parce qu‘on s‘est ah ja da stand gast toulouse / denn wir haben uns bi #Bild 25 17 permis d’en inviter pour vous/ monsieur Stern journaliste erlaubt jemanden für euch einzuladen / herrn stern journalist 18 de video systems oui\ (.) .hh y a eu un problè[me de: & bei video systems ja \ (.) . hh es gab ein problem mit : & 19 TAS [oui oui [ ja ja 20 & hier on était^un peu énervés là oui\ & gestern waren wir etwas genervt ja \ 21 (1.6) 22 TAS oui\ (.) mais enfin peu importe\ ja \ (.) aber naja unwichtig \ 23 (0.4) 24 TAS peut-être qu’il va arriver/ vielleicht kommt er noch / 25 (1.1) 26 TAS *alors/ (.) on com*mence par quoi/ (.) Bernard/ * also / (.) womit fangen wir an / (.) bernard / *-schaut n. li.---*schaut n. re. zu B----------* 27 BER par ce que [vous voulez/ [on xxx womit [ ihr wollt / [ wir xxx 28 LEL [((Räuspern)) [bon [(( Räuspern )) [ gut 29 TOU [par une observation xx [ mit einer beobachtung xx 30 TAS mais *euh mets-toi là/ # [°metstoi là/ °* aber äh setz dich dahin / [° setz dich dahin / ° *zeigt auf Stuhl zu seiner Li.-----* bi #Bild 26 31 LEL [allez [ also 32 ¡(0.5)¡ ber ¡ nähert sich dem Stuhl ¡ 33 LEL °vous êtes prêts° ° seid ihr soweit ° 34 (0.5) 35 TAS alors/ (.) vous vou[lez qu’on commence par une & also / (.) sollen wir mit einer beobachtung von & 36 LEL [ben si [ also wenn 37 TAS &observation à nous/ &uns anfangen / Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 291 Mondada_FINAL. Bild 23-26 Der Ausschnitt beginnt mit einer am Anfang der Sitzungen rekurrenten Aktivität, der Überprüfung der Anwesenheit, die hier dazu führt, dass Lelacq in Straßburg und Taschel in Toulouse das Fehlen des Journalisten Stern feststellen (Z. 1-8). Darauf folgt eine gemeinsame Suche der beiden Orte nach Herrn Stern: Lelacq in Straßburg bringt das Problem auf; Taschel reagiert darauf, indem er sich in seinem eigenen Raum suchend umschaut, sich erst nach hinten links wendet (Z. 2), dann nach rechts (Z. 5). Lelacq spielt daraufhin die Abwesenheit des Betreffenden herunter (Z. 6). Nach einer Zwischensequenz - auf die wir gleich näher eingehen werden - nimmt er das Problem wieder auf und behandelt es zunächst im eigenen Team (Z. 12-13), dann in einer Erklärung an Taschel (Z. 16-18), der darauf antwortet und dann die Sequenz abschließt (Z. 19-24). Währenddessen finden in Toulouse andere Aktivitäten statt: die Ankunft der Teilnehmer und die Wahl ihrer Sitzplätze. Die Teilnehmer treffen nacheinander ein, gehen rechts von Taschel am Tisch vorbei, passieren die erste Stuhlreihe, in der er sitzt, und nehmen weiter hinten im Raum Platz (Bild 23). In Zeile 10-11 dreht sich Taschel um und fordert diejenigen, die sich nach hinten gesetzt haben, auf, sich „in den Bereich des Videos“ (dans le champ de la visio) zu setzen. Diese Aufforderung ist hochgradig indexikalisch: Die Teilnehmer sind auf dem nach Straßburg übertragenen Bild durchaus zu sehen, Lorenza Mondada 292 Mondada_FINAL befinden sich also in einem gewissen Sinne bereits „im Bereich des Videos“. Taschels Anweisung macht aber deutlich, dass sie seiner Meinung nach nicht angemessen platziert sind, wofür er mehrere Gründe nennt (Z. 14). Taschel äußert diese Aufforderung, als er die Diskussion über Stern für beendet hält. In der Pause, die seinem Turn vorausgeht, betritt Maire in Straßburg gerade den Raum. Seine Ankunft wird nicht thematisiert; er setzt sich direkt neben Lelacq. In gewisser Weise kann man die zeitlich aufeinander folgenden Ereignisse, Maires Ankunft und Taschels Aufforderung, als aufeinander bezogen betrachten: Mit Maires Ankunft füllt sich in Straßburg die erste Reihe (in der Breite des Kamerabildes); die anderen Reihen sind bereits gut gefüllt. Maires Ankunft macht die kompakte Anordnung des Straßburger Teams sichtbar. Taschel orientiert sich offenbar darauf, dass dadurch wiederum die Anordnung seiner eigenen Gruppe sichtbar wird. Zu diesem Zeitpunkt sitzt er in der ersten Reihe allein (eine Person befindet sich rechts im Raum am Rand), die beiden anderen sitzen hinten (vgl. Bild 23). Eine weitere Person sitzt links von Taschel am Computer; dieser Platz unterscheidet sich aber von den anderen insofern, als er eine Position im Raum mit einer bestimmten Aktivität bzw. einer bestimmten Kompetenz und Verantwortung verbindet. In diesem Rahmen und zu diesem Zeitpunkt veranlasst Taschel die beiden Personen hinten im Raum, sich umzusetzen. Daraufhin wechselt auch der Teilnehmer, der am äußeren Rand sitzt, den Platz - obwohl Taschel ihn gar nicht angesprochen hatte. Darüber hinaus richtet sich die Person vor dem Computer auf ihrem Stuhl neu aus, ohne den Platz zu wechseln. Alle reagieren also auf Taschels Aufforderung. Diese Aufforderung hat verschiedene Aspekte: Sie weist zum einen Taschel als den ‘Chef’ aus, der in der Lage ist, seine ‘Truppen’ zu führen und aufzustellen. Zum anderen vermittelt sie allen Beteiligten eine bestimmte Perspektive auf den Raum, nämlich dass dieser im Hinblick auf die Videokonferenz und ihren ‘Bereich’ organisiert ist. Das führt dazu, dass sich das ‘Team’ um den ‘Chef’ verdichtet. Nach dem bereits angesprochenen weiteren Austausch über den besagten Journalisten (Z. 16-24) initiiert Taschel eine neue Aktivität: die Festlegung der Tagesordnung (Z. 26). Dies hat Auswirkungen sowohl auf die Konfiguration des Raums in Toulouse als auch auf die Beziehung zur Straßburger Seite, was deutlich macht, dass die Bewegungen am einen Standort von denen am anderen nicht unabhängig, sondern mit ihnen verbunden sind. Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 293 Mondada_FINAL. Taschel wendet sich an seinen Mitarbeiter Bernard, der gerade ankommt und auf ihn zugeht, und fragt ihn nach dem ersten Punkt der Tagesordnung. Damit löst er zwei Probleme in einem Zug: Er führt die Handlung weiter in Richtung auf den Beginn der Konferenz, und er integriert den gerade angekommenen Bernard. Dieser gibt eine äußerst vage Antwort (Z. 27), die von Tournier, einem anderen Mitglied des Teams, ergänzt wird (Z. 29); währenddessen bildet Bernards Positionierung im Raum die Hauptaktivität. Im Videobild sieht es so aus, als sei Bernard seit Beginn des Ausschnitts anwesend und halte sich rechts gerade außerhalb des Bildes auf (man sieht den Zipfel eines weißen Kittels, der offenbar seiner ist). Er hat also nicht auf Taschels Anweisung reagiert, sondern mit seinem Eintritt in das Sichtfeld so lange wie möglich gewartet und tritt nun gleichzeitig mit einem anderen neu ankommenden Teilnehmer ein. Bernard lässt diesen vorbeigehen und sich setzen, während er sich selbst sehr langsam nähert und im Gang zu den hinteren Stuhlreihen stehenbleibt. Durch diese Verzögerung befindet er sich gerade rechts von Taschel, als dieser sein fragendes alors/ äußert (Z. 26) und dabei erst nach links, dann nach rechts in den Saal schaut. Sein Blick trifft Bernard, den er dann anspricht (Z. 26) - und zwar als bis dahin Einzigen namentlich. Währenddessen bewegt Bernard einen Stuhl und wartet ab, bis Taschel ihn auffordert, sich neben ihn zu setzen. Bernards Eintritt in den Interaktionsraum ist also genau auf das Geschehen darin abgestimmt. Gleichzeitig orientiert sich Lelacq auf den Beginn der offiziellen Aktivität und dessen Verzögerung durch Toulouse (Z. 28, 31, 33). Taschel richtet sich auf ihn aus, indem er ihm eine Frage zur Tagesordnung stellt - er richtet also die Frage, die er kurz zuvor in Toulouse Bernard gestellt hat, jetzt an den anderen Ort. Mit dieser Frage orientiert er sich also einerseits auf den Fortgang der Aktivität, andererseits nutzt er sie als Ressource, um ein neues Mitglied zu integrieren und gleichzeitig zum Straßburger Partner Kontakt zu halten. Dieser Ausschnitt macht deutlich, in welchem Maße die den praktischen Zwecken der Handlung angemessene Positionierung der Teilnehmer eine interaktive Leistung ist, die sich über eine gewisse Zeit erstreckt und mit der die Teilnehmer die soziale und hierarchische Struktur des Teams aktiv konfigurieren. Diese Vorbereitung auf die bevorstehende Eröffnung wird dadurch öffentlich sichtbar gemacht, dass die Verbindung frühzeitig hergestellt wird, nämlich schon vor der offiziellen Eröffnung. In diesem Zusammenhang ist eine Beobachtung von Licoppe/ Dumoulin (2007) interessant, die Gerichtsprozesse per Videokonferenz zwischen zwei Gerichten untersuchen: Anfangs stellten die Parteien die Verbindung her, bevor alle Teilnehmer eingetroffen waren, um Austausch und Abspra- Lorenza Mondada 294 Mondada_FINAL chen vor Beginn der Verhandlung (wie sie auch in den zuletzt betrachteten Ausschnitten erfolgen) zu erleichtern, aber dann beschlossen sie, die Verbindung erst einzuschalten, nachdem alle ihre Plätze eingenommen hatten, um die allmähliche Platzierung der Teilnehmer nicht zu zeigen, weil dieses „unordentliche“ Bild der Förmlichkeit des gerichtlichen Zeremoniells nicht angemessen sei (Licoppe/ Dumoulin 2007, S. 118). Diese Beobachtung macht deutlich, dass die Regulierung dessen, was gefilmt und gezeigt wird, keineswegs nur eine technische Frage ist, sondern dass die Handhabung der Technik eng mit sozialen und institutionellen Aspekten verwoben ist. 4. Orientierung auf den visuellen Kontakt und Organisation der Begrüßung Die Verknüpfung von technischer und interaktionaler Dimension manifestiert sich auch darin, dass die Verbindung nicht nur vor der Eröffnung, sondern auch im Verlauf der Eröffnungssequenz selbst überprüft wird. Die entsprechenden Aktivitäten können in unterschiedlicher Weise eingebettet sein, sie können punktuell oder eher ausgedehnt sein, der Kontaktaufnahme zwischen den Teilnehmern untergeordnet bleiben oder aber sich zur vorherrschenden Aktivität in der Eröffnungsphase entwickeln. Ihr Ausmaß macht einen zentralen Aspekt dieser Eröffnungen deutlich: die Orientierung der Teilnehmer auf ihre Voraussetzungen, nämlich den wechselseitigen akustischen, aber vor allem visuellen Zugang. Es ist zu beobachten, dass diese beiden Modalitäten nicht gleichwertig sind: Über den akustischen Kontakt können zwar technische Probleme gelöst werden, er wird aber nicht als für die Kommunikation hinreichend behandelt, während der visuelle Kontakt als Bedingung für die Fortführung der Interaktion dargestellt wird. 4.1 Begrüßung und Überprüfen der Technik Charakteristisch für die Anfänge dieser Videokonferenzen ist die Verschränkung von Begrüßung und Überprüfung der technischen Vorrichtung. Der folgende Ausschnitt gibt dafür ein erstes Beispiel: (5) (20117): Séford ( SEF ) in Straßburg, Peters ( PET ) und MUL (Müller) in Freiburg. Der Bildschirm zeigt zuerst ein Dokument („dok“, Z. 2), dann Freiburg („frei“, Z. 2). 1 SEF xxx un négatif ((richtet Kamera auf ein Dokument aus)) xxx ein negativ 2 (0.3) | (1.0) scr >>dok-|FREI->> Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 295 Mondada_FINAL. 3 SEF ah h/ 4 (1.0) 5 SEF bonjour fribourg/ guten tag freiburg / 6 (0.9) + (0.1) pet +winkt m.d. Hand---> 7 SEF vous nous en#ten+d[ez/ + hört ihr uns / 8 PET [bonjour £°ouais°/ (.) bonjour oui/ £ [ guten tag £ja / (.) guten tag ja / £ "+ bi #Bild 27 Bild 27 9 (0.5) * (2.6) séf *erhöht die Lautstärke---> 10 SEF voilà\ on a encore des* (.) p: etits problèmes de gut \ wir haben noch * (.) k: leine probleme mit der -->* 11 connexion/ avec toulouse: verbindung / mit toulouse: 12 (1.7) 13 PET ah\ 14 (1.6) 15 MUL <xxxxxxxxxxx+xxx ((auf deutsch))> pet +grüßt m. Handbeweg. ---> 16 (0.4) 17 SEF donc on [va peut-être+ attendre encore cinq mi£nutes£ also warten wir vielleicht noch fünf mi£nuten£ 18 PET [((lacht)) pet --->+ 19 (1.5) 20 PET oui∫: ja: mül ∫winkt m.d. Hand--> Lorenza Mondada 296 Mondada_FINAL 21 (0.∫7) mül ->∫grüßt m. Handbeweg. --> 22 SEF et pis∫ on ∫va: (0.2) + (1.0) + (1.0) on va commencer\ und dann fangen wir: ( 2.2 ) fangen wir an \ mül "∫ pet +sieht auf Uhr+ Zu Beginn des Ausschnitts ist Séford in Straßburg dabei, ein Dia für ein kommendes Referat einzurichten, als plötzlich der Raum von Freiburg auf dem Bildschirm erscheint (Z. 2). Séford reagiert mit ah, einem „change-ofstate token“ (Heritage 1984), auf die Veränderung des Teilnahmerahmens, die dieses Bild bewirkt. Der Turn, der auf diese „Entdeckung“ folgt, ist eine Begrüßung (Z. 5). Diese Begrüßung hat eine besondere Form: Der Adressat wird mit dem Namen der betreffenden Stadt angesprochen, also mit einem Toponym anstelle eines Anthroponyms. Diese Form der Referenz konstituiert die Personen in Freiburg als ein Team und behandelt sie als Gruppe. Der zweite Teil der mit der Begrüßung eröffneten Paarsequenz wird von Peters in Freiburg zunächst gestisch realisiert, durch ein Winken (Z. 6, Bild 27). Als eine verbale Antwort ausbleibt, initiiert Séford jedoch eine Reparatur und orientiert sich damit auf ein mögliches akustisches Problem (Z. 7), worauf Peters einen verbalen zweiten Teil der Paarsequenz äußert (Z. 8). Hier sieht man, dass organisatorische Eigenschaften wie die konditionelle Relevanz der Begrüßung noch zu anderen Zwecken genutzt werden, nämlich zur Überprüfung der Verbindung, die für das alignment der Teilnehmer ebenfalls notwendig ist. Während Séford sich also weiterhin auf die technischen Bedingungen für den Beginn der Sitzung orientiert, orientieren sich die Teilnehmer in Freiburg auf die Begrüßung als rituelle Paarsequenz, die eine entsprechende Antwort erfordert, und grüßen mit Gesten (Z. 15, 20), worauf die Teilnehmer in Straßburg aber nicht sichtbar reagieren. Dieser Ausschnitt enthält verschiedene in unserem Korpus rekurrente Phänomene. Zum einen zeigt er die Orientierung der Beteiligten auf das Bild und das, was sich darin abspielt. In einer Videokonferenz sind die Teilnehmer ständig damit befasst, das Bild, das sie sehen, zu interpretieren; sie behandeln es nicht wie ein Fenster, das ihnen den Blick auf ihre Gesprächspartner erlaubt, sondern wie eine - manchmal undurchsichtige - Vermittlung, die ihnen und ihren Partnern zwar wechselseitig Zugang gewährt, diesen Zugang aber auch Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 297 Mondada_FINAL. stören kann. Dies führt zu einem doppelten „Monitoring“ des Bildes: zum einen im Hinblick auf das, was es zeigt, zum anderen in Bezug auf das, was es über die Technik aussagt, mit der es erzeugt wird. 7 Zum anderen zeigt der Ausschnitt, dass Pausen oder das Ausbleiben von Sprechen oft mit einem technischen Problem in Verbindung gebracht werden (eher als mit anderen Aspekten wie etwa einem Verständnisproblem oder der Verzögerung eines dispräferierten zweiten Teils einer Paarsequenz). Das führt zu zahlreichen Reparaturen und Überprüfungen in verschiedenen sequenziellen Positionen, vor allem in der Eröffnung (vgl. Mondada 2007b). Wir haben es hier also mit einer spezifischen Interpretation der Interaktion zu tun, in der die sequenzielle Organisation als Test der technischen Anlage behandelt wird. Schließlich zeigt der Ausschnitt die enge Verbindung zwischen dem Erscheinen eines Ortes auf dem Bildschirm und seiner Begrüßung durch das Team, das ihn auftauchen sieht. Diese Verbindung zwischen visuellem Kontakt und Begrüßung werden wir im Folgenden eingehender betrachten. 4.2 Erscheinen auf dem Bildschirm und Begrüßung Auf die enge Verbindung zwischen Bild und Begrüßung wurde bereits in der Literatur hingewiesen, die die Bedeutung der Blicke und der visuellen Aktivitäten bei der Kontaktaufnahme und als Vorbedingung für die Begrüßung gezeigt hat. Begrüßungen „are usually initiated after the parties involved have sighted each other“, stellt Duranti (1992, S. 657) anhand seiner Daten von Samoa fest (siehe auch Kendon/ Ferber 1973). In some cases, making recognition visually available to the other party may constitute the greeting itself (viz., with a toss of the head, a nod, or an eyebrow flash); in other cases, visual recognition is followed by verbal recognition [...]. Thus we would expect brief and casual opening salutations to occur simultaneously with or at least very close to mutual sighting and long and elaborate greetings to occur after the parties have had a chance to previously recognize each other's presence in some way. (Duranti 1997, S. 68f.) Kendon weist in dieselbe Richtung: „Thus, before any greeting can begin, the participants must sight each other, and in so doing they must identify the other as someone they wish to greet. Sighting may sometimes be observed as a distinct action.“ (Kendon/ Ferber 1990, S. 163). Und er stellt fest: „sighting is a 7 Ebenso werden die Bewegungen der Teilnehmer einerseits als multimodale Aspekte der Handlungsorganisation betrachtet, andererseits als Hinweise auf den Zustand der Geräte; beispielsweise wird die Unterbrechung einer Bewegung sofort als eingefrorenes Bild und damit als Anzeichen eines technischen Problems interpretiert (Mondada 2007b). Lorenza Mondada 298 Mondada_FINAL pre-interactional step“ (Kendon/ Ferber 1990, S. 165). 8 Hier überlagern sich also verschiedene Handlungen, die nicht zu verwechseln sind: sich sehen, sich erkennen, sich begrüßen. Der folgende Ausschnitt gibt dafür ein Beispiel: (6) (0705V): Séford ( SEF ) in Straßburg, Larose ( LAR ) in Brüssel, Schöndiger ( SCH ) und Peters ( PET ) in Freiburg, Dumont ( DUM ) und seine Kollegen in Basel. Das Bild wechselt von Basel (Z. 1) zu Brüssel (Z. 8), dann zu Freiburg (Z. 13). 1 SEF |#bonjour tout le monde/ guten tag alle zusammen / scr |BAS -> bi #Bild 28 2 (1) 3 SEF strasbourg essaie de vous parler/ (.) alors je sais straßburg versucht mit euch zu sprechen / (.) also ich weiß 4 normalement euh (0.4) bâle nous entend/ (0.2) on a- im prinzip äh ( 0.4 ) hört basel uns / ( 0.2 ) wir haben- 5 on a- (.) on a vu passer bruxelles/ wir haben- (.) wir haben brüssel kurz gesehen 6 (1.3) 7 LAR oui\ ja \ 8 (0.3) |# scr -->|BRÜ --> bi #Bild 29 9 SEF bonjour bruxelles\ guten tag brüssel \ 10 (0.5) *(0.6)* lar *Kopfnicken* 11 SEF est- [ce que fribourg] est branché aussi h/ ist [ freiburg auch zugeschaltet h / 12 LAR [bonjour strasbourg] [ guten tag straßburg 13 |# (1.4) scr |FREI ->> bi #Bild 30 14 SEF fribourg est branché aussi\ oké\ (.) freiburg ist auch zugeschaltet \ okay \ (.) 15 h eu: : h for you +freiburg\ (.) [euh+: we wil-] pet + winkt mit li. Hand + 16 SCH [hello (von) freiburg] 8 Siehe Conein (2005, S. 108) für eine Diskussion der Unterscheidung und der Zusammenhänge zwischen Begrüßung, wechselseitiger Aufmerksamkeit und sozialer Anerkennung. Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 299 Mondada_FINAL. 17 SEF hello\ .hh we will speak in euh in english for eu: : h 18 the state of the art, so you can participate (.) ((...)) Bild 28: BS + STR ( PIP ) Bild 29: BRÜ + STR ( PIP ) Bild 30: FREI + STR ( PIP ) Die Bilder (28-30) zeigen jeweils den Ort, der von Straßburg aus im Vollbild sichtbar ist, und Straßburg selbst in dem unten rechts eingeblendeten kleinen Bild. Séford in Straßburg, der Vorsitzende der Sitzung, begrüßt die zugeschalteten Teilnehmer (Z. 1), wobei er sich ausdrücklich an alle richtet (tout le monde); er erhält aber keine Antwort (Z. 2). Daraufhin wählt er ein anderes Turn-Format: Er benennt zunächst sich selbst, dann die Partnerteams nacheinander mit den Ortsnamen - eine typische Form der Identifizierung in Videokonferenzen, mit der der Ort als kollektiver Adressat behandelt wird. Bei seiner Runde durch die zugeschalteten Orte macht Séford deutlich, dass die Verbindung zu Basel bereits erfolgreich geprüft war (Z. 3-4). Brüssel nennt er mit fragender Intonation (Z. 5), woraufhin Larose bestätigt (Z. 7); durch seine Wortübernahme erscheint Brüssel auf dem Bildschirm (die Videokonferenz ist technisch so organisiert, dass das Team, das gerade spricht, im Bild erscheint). Sobald Séford Larose sieht (dessen Bild erscheint erst einen Augenblick nach seinem oui, vgl. Z. 8), begrüßt er ihn. Die Begrüßung dient somit dazu, die wechselseitige Sichtbarkeit zu bestätigen, wie bereits Kendon/ Ferber (1973) und Duranti (1992, 1997) festgestellt haben. Die Herstellung wechselseitiger Sichtbarkeit ist in Videokonferenzen besonders wichtig, da sie hier nicht selbstverständlich ist, sondern vom korrekten Einsatz der Technik abhängt (von der Verbindung, aber auch der richtigen Bildeinstellung, Körperposition etc. des Gesprächspartners). In diesem Rahmen ist die Begrüßung ein wichtiges Verfahren, um Ko-Präsenz zu bestätigen (vgl. Relieu 2007). Séfords Begrüßung wird von Larose zuerst gestisch (mit einem Kopfnicken, Z. 10), dann verbal erwidert (Z. 12). Die Begrüßungssequenz fügt sich also in den Turn der Überprüfung ein und ist eng an das Erscheinen des Gesprächs- Lorenza Mondada 300 Mondada_FINAL partners auf dem Bildschirm gebunden (vgl. Fornel 1994; Relieu 2007). Ihre Einbettung in die Überprüfung manifestiert sich auch darin, dass Séford Laroses verbale Begrüßung nicht abwartet, bevor er seinen Turn fortsetzt und sich nun an Freiburg wendet. Diese nächste Überprüfung verläuft etwas anders: Séford fragt explizit nach, ob Freiburg zugeschaltet ist (Z. 11); Freiburg antwortet darauf nicht, erscheint aber im Bild (Z. 13), was Séford als Bestätigung nimmt (Z. 14). Bis hierhin, also während er über die Teilnehmer aus Freiburg spricht, redet Séford Französisch; als er sich nun direkt an sie wendet und mit ihnen spricht, wechselt er zum Englischen. Dabei versäumt er es, sie zu begrüßen, und geht direkt zur Verkündung der Tagesordnung über. Daraufhin initiiert Freiburg selbst eine Begrüßung - ebenfalls zunächst gestisch (Z. 15), dann verbal (Z. 16) -, so dass Séford gezwunden ist, seine Ankündigung zu unterbrechen und eine Begrüßung einzuschieben (Z. 17). Die Teilnehmer aus Freiburg machen also ihre normative Orientierung auf die Begrüßung deutlich und unterstreichen damit die Schwierigkeit, die Phase der Überprüfung von der zur Eröffnung gehörigen Phase der Begrüßung abzukoppeln. Diese enge Verbindung zwischen visuellem Kontakt und Begrüßung zeigt sich auch in anderen Ausschnitten des Korpus: (7) (0904): Séford ( SEF ) in Straßburg, Taschel ( TAS ) in Toulouse 0 bi ((Brü: leerer Tisch, niemand im Bild)) 1 ? [s’il vous plaît/ [ entschuldigung / 2 SEF xx on [vous voit pas\ xx wir [ sehen euch nicht \ 3 (2.7) 4 TAS ben nous on vous entend/ mais on vous voit pas\ also wir wir hören euch / aber wir sehen euch nicht \ 5 SEF ah bon ben j’[pense qu’on xx-] aha gut also ich [ denke wir xx- ] 6 TAS [on vous voit/ ] mais on veuh non/ [ wir sehen euch / ] aber wiräh nein / 7 en fait on vous entend/ on vous voit pas\ also wir hören euch / wir sehen euch nicht \ 8 SEF très bien\ sehr gut \ 9 (0.6) 10 SEF ben on est dans l’même cas also uns geht es genauso Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 301 Mondada_FINAL. 11 [((Mikrogeräusche)) 12 TAS [ah oui (absolument) [ ah ja ( absolut ) 13 SEF on peut dire que le son marche très b|ien/ immerhin funktioniert der ton sehr gut / scr |TOU -> 14 SEF → ah: / (.) je vous vois\ ah : / (.) ich sehe euch \ 15 (1.1) 16 SEF ((kurzes Lachen)) 17 TAS ((kurzes Kopfnicken)) 18 (0.3) 19 SEF bonjour\ guten tag \ 20 (0.5) 21 TAS (oui) bonjour/ monsieur sé[ford ( ja ) guten tag / herr séford 22 SEF [parfait\ .hh on va fon va [ perfekt \ . hh wir mwir 23 faire cce soir ((...)) machen hheute abend Der Austausch zwischen Toulouse und Straßburg beginnt mit der Feststellung, dass man sich gegenseitig nicht sieht. Dabei orientieren sich die Teilnehmer in Straßburg nur auf den leeren Bildschirm (Z. 2), während Toulouse neben der fehlenden Sichtverbindung das Funktionieren der akustischen Verbindung feststellt (Z. 4-7). Dabei nimmt Taschel in seiner diesbezüglichen Äußerung Elemente aus dem vorhergehenden Turn kontrastiv auf (Z. 4: on vous entend/ mais on vous voit pas\ (wir hören euch/ aber wir sehen euch nicht\)). Séford ratifiziert diese Äußerung (Z. 5); sein Turn wird aber von einer weiteren Äußerung Taschels überlappt. Diese bricht Taschel dann ab und repariert sie (Z. 6-7), und Séford ratifiziert sie nach ihrer Vervollständigung mit einer positiven Evaluierung (Z. 8). Diese Arbeit an der Formulierung zeigt, wie wenig die Reziprozität der Perspektiven (Z. 9: on est dans l'même cas (uns geht es genauso)), die in Face-to-Face-Interaktion normal ist, von den Teilnehmern einer Videokonferenz als selbstverständlich angesehen wird. Sie muss vielmehr Schritt für Schritt hergestellt werden, hier aufgrund des fehlenden Bildes mit Hilfe verbaler Beschreibung; sie ist also das Ergebnis dieser Konstruktion und nicht ihr Ausgangspunkt. In dem Moment, als Séford erneut bestätigt, dass die wechselseitige Verbindung sich auf den akustischen Kanal beschränkt, erscheint das Bild von Toulouse auf dem Schirm. Mit dem ‘change-of-state token’ (ah: / , Z. 14) zeigt Lorenza Mondada 302 Mondada_FINAL Séford die Veränderung der Situation an. 9 Mit der Feststellung des neuen Sichtfeldes, in dem der Gesprächspartner erscheint (siehe auch Relieu 2007), ergeben sich andere Möglichkeiten des konversationellen Austauschs, wie die Begrüßung zwischen Séford und Taschel deutlich macht: Diese erfolgt zunächst durch Kopfbewegungen (Bewegung nach unten bei Taschel, Z. 15-17), dann durch eine Paarsequenz (Z. 17-19). Das oui, das Taschel seinem Gegengruß voranstellt (Z. 19), zeigt deutlich, dass er über die Begrüßung hinaus die erfolgreiche Ausrichtung bestätigt. Auch hier resultiert die Begrüßung aus dem wechselseitigen visuellen Kontakt der Teilnehmer und erfolgt, als dieser sichergestellt ist. Aus diesem Grund kann die Begrüßung relativ spät erfolgen, auch wenn die Teilnehmer schon geraume Zeit interagiert haben. Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Erscheinen des Gesprächspartners im Bild und der Begrüßung kann mehr oder wenig eng sein. Wie der vorige Ausschnitt gezeigt hat, kann das Erscheinen ein unmittelbares AH auslösen; so auch im folgenden Ausschnitt (Z. 8): (8) (12038 Astr): Maire ( MAI ) in Straßburg, Dumont ( DUM ) in Basel 1 MAI si: un pma foi moi j’te vois un peu flou/ doch: ein bna ja ich sehe dich etwas unscharf / 2 tu m’vois flou aussi/ siehst du mich auch unscharf / (1.2) 4 DUM xxxxxxxxxxx (0.8) non j’vois bruxelles moi xxxxxxxxxxx ( 0.8 ) nein ich sehe brüssel 5 (1.0) 6 DUM pourquoi c’est flou l’image warum ist es unscharf das bild 7 (2.7) 8 DUM → voilà c’est plus flou/ AH ça y est j’te vois/ salut/ so es ist nicht mehr unscharf / AH okay ich sehe dich / hallo / 9 MAI ((kurzes Lachen)) Anhand der Tonaufnahme dieses Ausschnitts lässt sich das vorliegende Problem des visuellen Zugangs rekonstruierten, das hier nicht in einer fehlenden visuellen Verbindung besteht, sondern in schlechter Bildqualität. Auch hier produziert Dumont, als das Problem behoben ist, ein change-of-state token 9 Die Häufigkeit dieses „ah“ ist auffällig. Es findet sich auch in anderen Kontexten, zum Beispiel in den Gerichtsprozessen, die Licoppe/ Dumoulin (2007, S. 117) untersucht haben: 1 ((Herstellung der akustischen und visuellen Verbindung)) 2 Staatsanwalt (Ort 1): ah voilà= 3 Techniker (Ort 2): =ah bah voilà Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 303 Mondada_FINAL. und formuliert seinen veränderten visuellen Zugang. Darauf erfolgt unmittelbar die Begrüßung - nachdem die beiden Interaktanten schon eine ganze Weile miteinander diskutiert haben. Manchmal wird der Zusammenhang zwischen Bild und Begrüßung auch explizit formuliert wie im folgenden Ausschnitt: (9) (26038) Dumont ( DUM ) in Basel, Maire ( MAI ) in Straßburg, außerdem Teilnehmer aus Tunesien und Malta 1 DUM [tu m’entends là/ (.) je vais mettre le son| je pense [ hörst du mich jetzt / (.) ich schalte den ton ein ich glaube scr |BAS ->> 2 que xx ((Mikrogeräusche)) oké merci alors je mets dass xx okay danke dann schalte ich 3 sur mute hein\ °merci°\ auf mute ne \ ° danke °\ 4 (2.6) 5 MAI → bonjour monsieur dumont/ nous venons de vous voir à guten tag herr dumont / wir haben sie gerade auf dem 6 l‘écran/ nous avons le PLAIsir de savoir que vous bildschirm gesehen / wir freuen uns zu sehen dass sie 7 êtes connecté zugeschaltet sind 8 (1.2) 9 MAI .h donc comme vous le savez on est connecté avec . h also wie sie wissen sind wir verbunden mit 10 [la tunisie [ tunesien 11 DUM [SALUT/ [ HALLO / 12 MAI bonjour/ et on est connecté avec malte\ (.) on attend guten tag / und wir sind verbunden mit malta \ (.) wir erwarten 13 encore les: (1.1) je crois qu‘on va pouvoir commencer/ noch die: ( 1.1 ) ich denke wir können gleich anfangen/ Dumont erscheint auf dem Bildschirm, als er seinen Turn beendet (Z. 1). Maire antwortet ihm (Z. 5) und bringt seine Begrüßung explizit mit dem in Verbindung, was auf dem Bildschirm zu sehen ist; die explizite Formulierung von Handlungen und Regeln hängt damit zusammen, dass in dieser Situation ‘Novizen’ anwesend sind (vgl. Mondada 2007b). Dumont vervollständigt die Paarsequenz mit einem Gegengruß (Z. 11), während Maire seine Runde durch die Orte fortsetzt. Bild und Begrüßung können aber auch weniger schnell aufeinander folgen, wenn Probleme auftreten. So im folgenden Ausschnitt: Lorenza Mondada 304 Mondada_FINAL (10) (12038): Maire ( MAI ) und Séford ( SEF ) in Straßburg, Brigaud ( BRI ) in Brüssel 0 scr >>BAS|BRÜ --> 1 *(5.2) mai *senkt den Blick auf die Tastatur --> 2 MAI ((grüßt mit dem Kopf, dann mit der Hand))* mai --->* 3 MAI °xxxx lui encore° ° xxxx er noch ° 4 BRI on n’a pas le retour de son wir bekommen keinen ton zurück 5 MAI °comment il s’appelle encore (lui en face)° ° wie heißt er noch ( der da drüben )° 6 SEF? xxxx 7 MAI? ouais ja 8 SEF °°mais j’suis pas sûr°° °° aber ich bin nicht sicher °° 9 (1.1) | (0.2) scr |BRÜ: eingefrorenes Bild--> 10 MAI on a l’image de bruxelles là/ (.) bonjour/ wir haben das bild von brüssel da / (.) guten tag / 11 (1.3) 12 BRI bonjour/ | guten tag / scr ---> | In diesem Ausschnitt folgt auf das Erscheinen von Brüssel im Bild (Z. 0) eine lange Pause (Z. 1). Maire grüßt hier nicht verbal, sondern nur kurz und unauffällig erst durch ein Kopfnicken, dann mit der Hand (Z. 2), während er den Blick auf die Tastatur senkt und so eine Bedienung des Mikrofons und damit eine Wortübernahme projiziert; eine verbale Begrüßung erfolgt erst später (Z. 10). Zuvor findet an beiden Orten ein interner Austausch statt: in Brüssel über die akustische Verbindung mit Straßburg (Z. 4), in Straßburg über ein Identifizierungsproblem (Z. 3, 5-8). Die eingeschobene Sequenz auf Straßburger Seite, wo das Erscheinen des Bildes eine Suche nach dem Namen der sichtbaren Person auslöst, macht deutlich, wie sehr die direkte Abfolge von visuellem Kontakt und Begrüßung von der Identifizierung des Gesprächspartners abhängt. Wenn diese problematisch ist wie im vorliegenden Fall (vgl. die unsichere Antwort von Séford in Z. 6 und Z. 8), kann die Begrüßung verzögert werden, oder es werden andere Verfahren gewählt (wie hier die Verwendung des Ortsnamens anstelle des Namens der Person). Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 305 Mondada_FINAL. Anhand dieses letzten Ausschnitts lassen sich also mehrere Handlungen unterscheiden, die nacheinander ausgeführt werden: den Gesprächspartner sehen, ihn erkennen, ihn identifizieren, ihn begrüßen. Dabei ist - wie in diesem Beispiel - der visuelle Zugang wichtig, aber manchmal nicht ausreichend. Darüber hinaus machen die Teilnehmer deutlich, dass der akustische Kontakt dem visuellen nicht gleichkommt, sondern eher eine Art Vorbedingung für diesen ist. Das führt manchmal zu doppelten Begrüßungen wie im folgenden Ausschnitt: (11) (0801) Lelacq ( LEL ) in Straßburg, Taschel ( TAS ) in Toulouse 1 LEL → bonjour/ vous nouvous nous entendez/ guten tag/ hören siehören sie uns/ 2 (2.0) 3 TAS toulouse vous entend très bien\ toulouse hört sie sehr gut \ 4 [(bonjour) (docteur lelacq)] [(guten tag) (doktor lelacq)] 5 LEL [ah ben alors c’est parfait/ ] [ ah okay also ist es perfekt / ] 6 (0.8) 7 LEL → très bonne année à tout le monde/ bonjour/ ein ganz gutes neues jahr allen / guten tag / Lelacq initiiert sofort bei seiner ersten Selbstwahl eine erste Begrüßung. Darauf folgt jedoch keine übergaberelevante Stelle, die die Möglichkeit bietet, die Paarsequenz zu vervollständigen, sondern eine Überprüfung der Tonqualität. Taschel fügt seiner Rückbestätigung (Z. 3) eine Begrüßung an (Z. 4), die aber von Lelacqs positiver Evaluation (Z. 5) überlappt wird. 10 Lelacqs Gegengruß erfolgt erst, nachdem der wechselseitige Zugang geklärt ist. Dieses Phänomen beschreibt Fornel (1994, S. 118) auch für das Bildtelefon. In den von ihm analysierten Fällen stellen die Teilnehmer zuerst die akustische Verbindung her, begrüßen sich, handeln dann das Einschalten der visuellen Verbindung aus und begrüßen sich, sobald sie auf dem Bildschirm erscheinen, ein zweites Mal. 11 In den hier untersuchten Daten aus Videokonferenzen ist dieses Phänomen ebenfalls rekurrent, gleichzeitig können die Begrüßungen 10 Diese Evaluation mit parfait findet sich im Korpus häufig (vgl. Ausschnitt 4; siehe Mondada 2007b für zahlreiche weitere Beispiele); sie zeigt, dass die Begrüßung in erster Linie als Bestätigung für das Funktionieren der Anlage gesehen wird. 11 Interessant ist, dass Kendon/ Ferber (1973) in Face-to-Face-Interaktion ebenfalls doppelte Begrüßungen beobachten: Sie unterscheiden „distance salutations“, die erfolgen, sobald die Interaktanten sich von weitem sehen und erkennen, und „close salutations“, wenn die Interaktanten sich einander genähert haben und in die Eröffnung einsteigen. Lorenza Mondada 306 Mondada_FINAL mit großem zeitlichem Abstand erfolgen: die erste bei der Herstellung der Audioverbindung, die zweite beim Erscheinen des Bildes nach einem unter Umständen langen Austausch ohne visuellen Kontakt. Dies macht deutlich, dass die beiden Begrüßungen Unterschiedliches leisten, wobei die erste sich häufig mit der Kontrolle der Verbindung überlagert, während die zweite davon klar getrennt erfolgt. 4.3 Das Ineinandergreifen von Begrüßung und technischer Überprüfung Dass die Herstellung des wechselseitigen visuellen Zugangs eine Voraussetzung für die Begrüßung und den koordinierten Einstieg in die Interaktion ist, erklärt die permanente Orientierung auf die Technik, die Aufrechterhaltung der Verbindung und damit verbundene Probleme. Darum ist die Begrüßung häufig mit der technischen Überprüfung verflochten wie im folgenden Ausschnitt: (12) (09029interc/ premier exposé): MAN = Michel Mannin in New York, LEL = Lelacq in Straßburg 1 MAN SO: ahm professor lelacq/ in strasbourg\ 2 (0.9) 3 LEL <okay eh ((echo))> good mor- (0.3) good morning eh michel/ 4 i i think you have now to: (0.2) to put on mu: te/ (.) 5 because we have some eh *some echos/ man *macht Zeichen, d. Knopf zu drücken-> 6 (0.6) 7 LEL okay* thank you/ man -->* 8 (0.6) 9 LEL and euh (0.3) have you have you the picture and the 10 sound (.) everything is okay/ 11 MAN <xxxx(2.3)> ((spricht ins Mikro, aber nichts ist zu hören))>> 12 (0.2) 13 LEL okay\ 14 (0.9) 15 LEL SO/ ah eh i just want to present myself i am euh ((...)) Wie im vorigen Ausschnitt erteilt der Vorsitzende dem nächsten Sprecher das Wort (Z. 1). Lelacq ergreift es, steigt jedoch nicht sofort in seinen Vortrag ein. Der Beginn seines Turns okay eh (Z. 3) erzeugt ein anhaltendes Echo; darauf nimmt er nach der Begrüßung - die in dieser Position häufig wiederholt wird - Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 307 Mondada_FINAL. Bezug und begründet damit seine Aufforderung an die Teilnehmer, ihre Mikrofone auszuschalten (Z. 4-5). Mannin kommt der Bitte nach: Man sieht, wie er seinem Team ein Zeichen macht, den entsprechenden Knopf zu betätigen (Z. 5). Lelacq dankt ihm (Z. 7), dann überprüft er mit einer Frage Ton und Bild (Z. 9-10). Das Folgende ist aufschlussreich: Mannins Antwort ist nicht zu hören, da er auf „Mute“ geschaltet hat (Z. 11), aber seine Wortübernahme genügt Lelacq als Bestätigung (Z. 13). Erst dann beginnt er seinen Vortrag (Z. 15). Solche Bitten um Überprüfung, die häufig mit Anweisungen an die Gesprächspartner verbunden sind, und die Orientierung auf mögliche Probleme tragen offenkundig der Asymmetrie der Perspektiven Rechnung, die für Videokonferenzen charakteristisch ist (Heath/ Luff 1993). Diese Asymmetrie ist beobachtbar; sie manifestiert sich zum Beispiel darin, dass die Referenten wie in den beiden letzten Ausschnitten mögliche Probleme bei ihren Zuhörern in Erwägung ziehen, die sie auf ihrem eigenen Bildschirm gar nicht feststellen. Sie gehen also nicht davon aus, dass die Gesprächspartner auf ihrem Bildschirm dasselbe sehen wie sie selbst. Die Begrüßung selbst fungiert als Ressource, um sowohl die technische Vorrichtung als auch die Sequenzialität zu kontrollieren: Ihre Organisation als Paarsequenz wird hier genutzt, um sicherzustellen, dass die Interaktionsbedingungen in Ordnung sind, denn in der Produktion eines zweiten Teils der Paarsequenz manifestiert sich das Verständnis - und damit die Möglichkeit des Verstehens. Dies erklärt das Phänomen der doppelten Begrüßung, das schon Fornel (1994) in Bezug auf das Bildtelefon festgestellt hat; auch der folgende Ausschnitt zeigt einen solchen Fall: (13) (09029_intercontin.): Mannin ( MAN ) in New York, Oshima ( OS ) in Osaka 1 MAN |so perhaps we can have a test now with OsAkA\ scr |NY---> 2 (1.0) 3 MAN ah: before we start\ 4 (1.5) 5 OS hallo michael/ = 6 echo =hallo michael/ 7 (0.3) 8 OS can yo- (0.2) | can you hear me/ = scr -->|OSAKA--> 9 echo =can you hear me/ Lorenza Mondada 308 Mondada_FINAL 10 MAN yes/ hi\ 11 | (0.8) scr |NY 12 OS hi\ 13 MAN HI\ 14 (0.3) In diesem Ausschnitt kündigt Mannin explizit eine Überprüfung als nächste Handlung an (Z. 1). Als darauf aus Osaka keine Antwort kommt (Z. 2), verlängert er seinen Turn (Z. 3) und bietet damit dem Gesprächspartner eine weitere Möglichkeit zu intervenieren. Nach einer Pause produziert Oshima den ersten Teil einer Begrüßungs-Paarsequenz (Z. 5), der von einem anhaltenden Echo begleitet ist (Z. 6); daraufhin schließt er eine Kontrolle der Audioverbindung an (Z. 8). Mannin antwortet in einem kompakten Turn (Z. 10) sowohl auf die Kontroll-Frage (yes/ ) als auch auf die Begrüßung (hi\). Nachdem der Test damit zufriedenstellend abgeschlossen ist, begrüßen die Teilnehmer sich erneut (Z. 12-13), diesmal ohne technische Funktion. Die erste Begrüßung stellt somit eine „mise à l'épréuve du dispositif“ (Relieu 2007, S. 208) 12 dar, die zweite dagegen eine gesellschaftliche Praxis. 4.4 Zwischenbilanz: Ein spezifisches Format der Eröffnung von Videokonferenzen? Aus den bisherigen Ausführungen können nun einige vorläufige Schlüsse in Bezug auf die Eröffnung von Videokonferenzen gezogen werden. Diese weist eine Reihe spezifischer Eigenschaften auf, die auf die Verflechtung von technischen Einschränkungen und Möglichkeiten einerseits und interaktionaler Ordnung andererseits zurückzuführen sind. Die Teilnehmer sind auf die technischen Eigenschaften der Anlage (einschließlich ihrer potenziell problematischen Aspekte) orientiert, was für die Organisation der Interaktion gewisse Konsequenzen hat. Insbesondere ist festzustellen, dass das sequenzielle Format der Eröffnung, wie es für Telefongespräche beschrieben wurde, in Videokonferenzen expandiert ist. Von den ersten ausgetauschten Worten an können an jedem Punkt der Eröffnungsphase Reparatursequenzen eingeschoben werden, die sich auf die Technik beziehen: Bereits das summons kann der Überprüfung der Verbindung dienen, und das Erscheinen des Bildes sowie das Funktionieren des akustischen Kanals sind eng mit der Begrüßung verbunden. Die Teilnehmer orientieren sich auf eine möglichst frühzeitige Überprüfung und gegebenen- 12 Relieu fährt fort: „Pour cette raison, les salutations participent étroitement de la validation de la coprésence favorisée par les dispositifs de téléprésence.“ (ebd.) Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 309 Mondada_FINAL. falls Anzeige von Problemen (Mondada 2007b); darin manifestiert sich, dass die technischen Voraussetzungen eben gerade in der Phase der Eröffnung sichergestellt werden müssen, um einen reibungslosen Ablauf des Folgenden zu gewährleisten (Meier 1998, S. 38 nennt dies das „für-das-Beginnen-bereit-Sein“). 5. Orientierung auf den „Beginn“ Die Expansion der Sequenzen, aus denen sich die Eröffnung zusammensetzt, hat einen doppelten Effekt: Einerseits verzögert sie den Beginn der Sitzung, andererseits dient sie dazu, eben die Bedingungen herzustellen, die diesen Beginn ermöglichen. Die interaktionale, multimodale und technologische Ausrichtung der Teilnehmer erfordert zwar Zeit, ist aber gleichzeitig voll und ganz auf den Fortgang der Aktivität orientiert. Diese Orientierung auf das Folgende manifestiert sich als normative Erwartung hinsichtlich dessen, was Schegloff (1986) als „anchor position“ bezeichnet und Meier (1998, S. 2) in Bezug auf Videokonferenzen als „zur- Sache-kommen“. Spuren davon findet man aus der emischen Perspektive der Teilnehmer in der häufigen Bezugnahme auf den „Beginn“ (commencement) und „beginnen“ (commencer), oft im Futur: Dies zeigt die prospektive Orientierung auf eine next action an, die selbst dann erwartet und projiziert wird, wenn sie durch eine eingeschobene Sequenz, in der technische Probleme behandelt werden, verzögert wird. Betrachten wir die bisher analysierten Ausschnitte, so zeigt sich, dass sie häufig mit dem Vorschlag enden, zu „beginnen“: (14) (12028) (siehe Ausschnitt 1) 7 FRI guten abend 8 (1.0) 9 MAI so wir werden ich glaube (0.5) bald anfangen/ (15) (20117) (siehe Ausschnitt 5) 17 SEF donc on [va peut-être+ attendre encore cinq mi£nutes£ also warten wir vielleicht noch fünf minuten 18 PET [((lacht)) pet --->+ 19 (1.5) 20 PER oui∫: ja: mül ∫winkt --> Lorenza Mondada 310 Mondada_FINAL 21 (0.∫7) mül ->∫grüßt m. d. Hand--> 22 SEF et pis∫ on ∫va: (0.2) + (1.0) + (1.0) on va und dann werden wir: ( 2.2 ) werden wir 23 commencer\ anfangen \ mül "∫ pet +sieht auf Uhr+ (16) (26038) (siehe Ausschnitt 9) 11 DUM [SALUT/ [ HALLO / 12 MAI bonjour/ et on est connecté avec malte\ (.) on attend guten tag / und wir sind verbunden mit malta \ (.) wir erwarten 13 encore les: (1.1) je crois qu‘on va pouvoir commencer/ noch die: ( 1.1 ) ich denke wir können gleich anfangen / (17) (0902) (siehe Ausschnitt 13) 1 MAN |so perhaps we can have a test now with OsAkA\ scr |NY 2 (1.0) 3 MAN ah: before we start\ In diesen Ausschnitten sehen wir die Rekurrenz der Formulierung von Handlungen, denen gemeinsam ist, dass sie a) stattfinden, während die Eröffnung noch läuft, b) sich mit entsprechenden Formulierungen explizit auf „anfangen“, „commencer“ oder „start“ beziehen und c) einen solchen Beginn in naher Zukunft projizieren. 13 Damit einher gehen Bezugnahmen auf Verspätung oder Warten oder sogar Gesten, die eine gewisse Ungeduld zum Ausdruck bringen (wie Auf-die-Uhr-Sehen, vgl. die Ausschnitte 5 und 15). Diese Orientierung auf den Beginn wird besonders deutlich, wenn ein projizierter Beginn durch ständig neue Probleme immer wieder behindert wird. Der folgende Ausschnitt gibt dafür ein Beispiel: (18) (1902): Lelacq ( LEL ) und Kleister ( KLE ) in Straßburg, Castagnet ( CAS ) in Brüssel-St. Paul, Dommat ( DOM ) in Brüssel-St. Luc; das Team aus Basel nimmt ebenfalls teil 1 LEL \ |(eh pa-)(0.8) on vous attendait donc on commence ( eh pa- )( 0.8 ) wir haben auf euch gewartet also fangen wir an scr |BAS: Bild schlecht eingestellt--> 13 In dieselbe Richtung gehen Aufforderungen wie vas-y, allons-y, allons oder allez (vgl. die Ausschnitte 4 und 24). Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 311 Mondada_FINAL. 2 hein/ et c’est donc euh kleister/ (.) euh donc le docteur ne / und es ist also äh kleister / (.) äh also doktor 3 kleister de cancérologie j’crois/ (.) qui fait le: (.) ben kleister aus der krebsforschung glaub ich / (.) der den: (.) also 4 j’crois je sais/ <hhh ((rit))> qui fait le state of the art\ ich glaube ich weiß / (( lacht )) der den state of the art macht \ 5 (0.3) 6 LEL donc on va appuyer s[ur (mute) also wir schalten au [ f ( mute ) 7 cas [àà saint paul on a une image: [ inin saint paul haben wir ein 8 frisée\ verzerrtes bild \ ((10 Zeilen ausgelassen: Diskussion über das Problem)) 18 LEL → deux secon va commencer quand-mê: me/ vous entendez zwei sekwir fangen trotzdem an / ihr hört 19 par contre le son/ ou pas\ aber den ton / oder nicht \ 20 (1.2) 21 CAS oui/ tout à fait/ mais on a l’image de monsieur ja / absolut / aber wir haben das bild von herrn 22 dommat qui est figée\ dommat das eingefroren ist \ ((etwa 50 Zeilen ausgelassen: LEL geht einen Techniker holen; simultane Gespräche; erneute Überprüfungen zu verschiedenen Problemen)) 70 LEL donc il faudrait que monsieur dommat PARle et vous also sollte herr dommat sprechen und ihr 71 vous mettez sur mute/ comme ça on voit/ ihr schaltet auf mute / dann sehen wir / 72 <(1.5) ((Geräusche))> 73 DOM ah nous avons pas de problème/ | pour l’instant\ on ah wir haben kein problem / im moment \ wir scr ->|BRÜ StLuc--> 74 est tous défrisés\ sind alle entzerrt \ 75 LEL ((lacht[)) 76 DOM [pas de problème= [kein problem= 77 LEL =voilà ben nous aussi ouais\ = na bitte also wir auch ja \ 78 (0.3) 79 LEL d’accord\ .h ben on vaet bâle/ bâle nous voit bien/ okay\ .h na dann wo- und Basel/ kann basel uns sehen/ 80 (1.6) 81 DUM oui pour une fois ça marche tip top: \ ja ausnahmsweise funktioniert es tipptopp \ 82 (0.8) 83 LEL ((lacht)) Lorenza Mondada 312 Mondada_FINAL 84 (0.7) 85 LEL → bon\ .h et: on va commencer alors et puis on essaie gut \ . h und: wir fangen also an und dann versuchen wir 86 d’arranger l’problème avec euh l’équipe là euh ceh das problem zu lösen mit äh dem team da äh cäh 87 castagnet et: carrière\ hein/ .hh donc eu: h castagnet und: carrière \ ne / .hh also äh: 88 (0.8) 89 LEL on y va es geht los 90 <(1.6) ((Stimme))> 91 LEL monsieur kleister/ (.) j’crois que c’est l’quat’\ herr kleister / (.) ich glaube es ist die vier \ 92 voilà\ bitte \ Zu Beginn des Ausschnitts formuliert Lelacq das Vorausgegangene als „Warten“, projiziert einen bevorstehenden „Beginn“ (Z. 1) und geht sofort über zur Ankündigung des Vortrags von Kleister (Z. 2). Bevor dieser das Wort ergreifen kann, ergänzt Lelacq eine technische Anweisung an alle Teilnehmer (Z. 6), in der sich der Übergang des Rederechts an den Referenten und das Einnehmen einer Zuhörerhaltung seitens der Gesprächspartner manifestiert. In dieser sequenziellen Position signalisiert Castagnet in Brüssel-St. Paul kurz vor dem Ende von Lelacqs Turnkonstruktionseinheit überlappend ein Problem (Z. 7), während er gleichzeitig ins Bild kommt. Im Folgenden behandeln die Teilnehmer dieses Problem (hier ausgelassen; siehe Mondada 2007b). In Zeile 18 schlägt der Vorsitzende Lelacq vor, die Sitzung trotz der Panne zu beginnen (Z. 18: on va commencer quand mê: me/ (wir fangen trotzdem an)), während er gleichzeitig eine erneute Überprüfung vornimmt (und zwar eine des Tons, was deutlich macht, dass er die Teilnahme des Teams von Castagnet nun an den akustischen Kontakt als Minimalbedingung knüpft, nicht mehr an visuellen Kontakt). Seine Überprüfung führt zur Feststellung eines neuen Problems und zu einer weiteren, sehr langen Expansion, in der diese Panne behandelt wird (hier ausgelassen). Die Expansion endet mit einer erneuten Überprüfung und der Feststellung, dass das Problem behoben ist (Z. 73-76); auch Basel meldet auf Lelacqs Rückfrage, dass keine Probleme vorliegen (Z. 79-81). Nach dieser letzten Überprüfung initiiert Lelacq erneut den Beginn der Sitzung (Z. 85), allerdings ohne Brüssel-St. Paul, die das erste Problem gemeldet hatten. Er erteilt wieder Kleister das Wort (Z. 91) und knüpft damit an seine Aktivität zu Beginn des Ausschnitts (Z. 2-4) an. Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 313 Mondada_FINAL. Dieser Ausschnitt zeigt die systematische doppelte Orientierung der Teilnehmer: einerseits auf mögliche Probleme und ihre Lösung, andererseits auf den Fortgang der Handlung. Die Verweise auf den „Beginn“ sind retrospektiv und prospektiv interessant, insofern sie auch die Bedingungen und Beschränkungen deutlich machen, die auf dem „Beginn“ der Aktivität lasten. Eine solche Bedingung ist die Anwesenheit und Sichtbarkeit aller angekündigten Teilnehmer (d.h. der teilnehmenden Orte), wie der folgende Ausschnitt zeigt: (19) (09048 1.25): Taschel ( TAS ) und Cussac ( CUS ) in Toulouse, Séford ( SEF ) in Straßburg, Brigault ( BRI ) und Borgaud ( BOR ) in Brüssel ( SEF hat Toulouse bereits begrüßt und soeben begonnen, das Programm der Sitzung vorzustellen): 1 SEF le: le dernier cas qui est marqué sur la feuille/ der: der letzte fall der auf dem blatt genannt ist / 2 lésions hépatiques/ en en fait euh daniel maire devait leberschädigungen / eigentlich äh sollte daniel maire 3 le présenter/ (.) .h il est à deauville/ (.) ihn vorstellen / (.) . h er ist in deauville / (.) 4 donc je pense que hhhh on s’en passera\ darum denke ich dass hhhh wir darauf verzichten \ 5 (7) 6 TAS °alors c’est (.) c’est benoît cussac le° ° also ist (.) ist benoît cussac der ° 7 (0.5) 8 CUS → <on va commencer maintenant/ ((plus fort))> < fangen wir jetzt an / (( lauter ))> 9 (0.5) 10 SEF → ben on va: on va peut-être commencer/ bruxelles n’est also wir: wir fangen vielleicht an / brüssel ist 11 pas encore là/ j’pense/ noch nicht da / glaube ich / 12 (0.5) 13 SEF puisqu’on a vu les des [fauteuils vides da wir die [leere sessel gesehen haben 14 BRI [SI/ [DOCH/ 15 (0.9) 16 BRI si[si/ sisi doch [ doch / dochdoch 17 SEF [mais/ [aber/ 18 SEF → il est l’heu: re/ donc j’pense qu’on va commencer/ es ist zeit / a lso ich denke wir fangen an / Lorenza Mondada 314 Mondada_FINAL 19 (0.3) | (0.2) scr >>TOU |BRÜ ->> 20 SEF <°tu appelles le: le xxx s’il te plaît° ((zum Techniker))> <° rufst du den: den xxx an bitte ° (( zum Techniker ))> 21 BRI? °c’est séford là qui xxx° ° ist das séford da der xxx ° 22 SEF bruxelles est là/ bonjour bruxelles ist brüssel da / guten tag brüssel 23 (1.2) 24 BRI oui/ bonjour ja / guten tag 25 BOR bonjour guten tag 26 (2.0) 27 SEF → donc nous allons: / nous allons commencer/ also fangen wir: / fangen wir an / 28 (0.6) 29 SEF c’est le docteur belair qui: : qui va donc vous es ist also doktor belair der: : der ihnen also 30 présenter donc le state of the art/ den state of the art vorstellen wird / Nachdem Séford die Tagesordnung mit einigen Änderungen vorgestellt hat, endet er, ohne eine nächste Handlung projiziert zu haben (Z. 4). Es folgt eine lange Pause (Z. 5), in der er weder irgendeine Aktivität initiiert noch einem der Teilnehmer das Wort erteilt. Mit ihren dann folgenden Äußerungen behandeln Taschel und Cussac das Vorhergehende als Eröffnung und die Pause als Übergang zum first topic, d.h. als den Moment, wo es relevant ist zu „beginnen“: Taschel identifiziert den möglichen nächsten Sprecher (Z. 6); dieser fragt, ob jetzt angefangen werden soll (Z. 8: on va commencer maintenant/ (fangen wir jetzt an/ )), und bereitet sich vor, das Wort zu ergreifen. Séford hingegen sieht die Pause offenbar als ein Warten auf weitere Teilnehmer (besonders die aus Brüssel, auf deren Abwesenheit er hinweist), und formuliert den Beginn hypothetisch (Z. 10: on va: on va peut-être commencer (wir: wir fangen vielleicht an/ )). Dass die Teilnehmer aus Brüssel - entgegen seiner Annahme - anwesend sind, löst das Problem: Sobald sie im Bild erscheinen, begrüßt Séford sie, fährt dann fort mit nous allons: / nous allons commencer/ und bestimmt nach einer kurzen Pause den nächsten Sprecher (der, wie sich herausstellt, nicht Cussac ist). An diesem Ausschnitt lassen sich also zwei weitere Aspekte beobachten. Zum einen wird hier sichtbar, wie der Sitzungsleiter mit der schrittweisen Ankunft der Teilnehmer umgeht: Er kann entweder die Eröffnung initiieren oder aber Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 315 Mondada_FINAL. sie hinauszögern, bis alle anwesend sind. Zum anderen zeigt sich, dass die Orientierung der Teilnehmer auf den sequenziellen Moment, in dem sie sich befinden, divergieren kann: Derselbe Moment kann als Vor-Eröffnung, als Eröffnung oder als Beginn interpretiert und gestaltet werden. Als Zwischenbilanz ist also festzuhalten, dass die Kategorie „Beginn“ eine emische, endogene Kategorie ist, die die Teilnehmer nicht nur selbst formulieren und thematisieren, sondern auch als Ressource für die Organisation und Sequenzialisierung ihrer Handlungen nutzen. Die Analysen zeigen, dass die Teilnehmer sich bei der Organisation der Handlung auf zwei verschiedene Phasen orientieren: - eine Phase der „Eröffnung“ (opening), in der der Eintritt in die Interaktion und die schrittweise Anpassung aller Teilnehmer erfolgen; - eine Phase des „Beginns“ (beginning), die der anchor position entspricht, wo ein first topic oder reason for calling eingeführt wird (Schegloff 1986). Diese emische lokale Unterscheidung findet sich auch in anderen Sitzungen, selbst in anderen Typen von Aktivitäten. In Videokonferenzen kann damit unterschieden werden zwischen einer Phase, in der die Überprüfung der Technik einen hohen Stellenwert hat, und einer, in der die technischen Probleme als gelöst betrachtet werden können (selbst wenn zu jedem Moment wieder neue auftreten können und es auch nach dem Beginn bevorzugte Positionen gibt, in denen die Teilnehmer Probleme ausmachen und anzeigen, vgl. Mondada 2007b). 6. Vor-Eröffnungen ( pre-openings) Die emische Unterscheidung zwischen „Eröffnung“ und „Beginn“ und der stufenweise Eintritt in die Interaktion führen uns wieder zurück zur Organisation der Eröffnung selbst. Aufzeichnungen, die längere Zeit vor dem offiziellen Beginn der Videokonferenz einsetzen, zeigen die Rekurrenz der Projektion des Beginns, des Wartens, der technischen Überprüfung vom ersten vorbereitenden Kontakt zwischen den Teilnehmern an und lassen erkennen, dass die Eröffnung weitaus länger und komplexer organisiert ist, als es in den bisherigen Analysen scheint. Unter diesem Gesichtspunkt betrachten wir im Folgenden noch einmal die Eröffnung und besonders die darin stattfindenden Aktivitäten, die Meier (1998, S. 35) als „opening up openings“ bezeichnet. Lorenza Mondada 316 Mondada_FINAL 6.1 Spezifische Interaktionsmodi zwischen den Standorten in der Vor-Eröffnung Schegloff behandelt diesen Moment in seinen ersten Artikeln unter dem Begriff „pre-beginning“: 14 Greetings are generally, and not incorrectly, treated as the first exchange of a conversation. It is important to note, however, that they are, as well, the end of a phase of incipient interaction - what I referred to earlier as ‘pre-beginnings’. Routinely, the actual exchange of greeting terms follows a set of other activities, such as lookings, eye aversions, pace changes, body, head, and arm maneuvers. One important component of the pre-beginning is identification of other(s) in the scene. (Schegloff 1979, S. 33f.) Schegloff bezieht sich also beim pre-beginning in erster Linie auf das wechselseitige Erkennen. Dieses erfolge in direkter Interaktion „by visual inspection in the ‘pre-beginning’ of the interaction“ (1979, S. 27); in Telefongesprächen hingegen hätten pre-beginnings keinen Sinn, da es keinen visuellen Kontakt gebe („on the telephone, visual access is denied, and typically there is no pre-beginning“; ebd., S. 34). Whalen und Zimmerman greifen diese Kategorie aber gerade für Telefongespräche auf: In calls for help, as in other telephone calls, prebeginnings consist of the activity of dialing a telephone number (including the prior activity of looking in a directory for the number if needed), thereby summoning another to interact. [...]. The prebeginning activity prior to the production of the summoning ring, gong, or buzzer is, of course, unobservable to answerers. (1987, S. 180) Zimmerman unterstreicht mit Hinweis darauf, dass die Anrufer sich auf den bevorstehenden Anruf vorbereiten: The pre-beginning thus establishes an alignment of identities which provides a particular footing for the call [...], [...] the relevance of which continues in force until an alternative alignment is proposed through some action of the participants. (1992a, S. 433f.; vgl. Mondada 2008) 14 Der Begriff pre-beginning wurde später in der Konversationsanalyse - von Schegloff selbst (vgl. 1996, S. 92f.) - häufig zur Bezeichnung einer bestimmten sequenziellen (nämlich: präinitialen) Platzierung innerhalb des Turns verwendet. Es gibt also zwei unterschiedliche Verwendungen dieses Begriffs: Die eine verweist auf den Moment, der dem Beginn des Gesprächs vorausgeht, die andere auf eine prä-initiale Position im Turn (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974, S. 719 sprechen auch von pre-starts). Hier liegt die erste Bedeutung zugrunde (siehe auch Meier 1997, S. 67, der vom „Prä-Beginn“ vor dem „offiziellen Beginn“ spricht); zur zweiten Bedeutung vgl. Mondada (demn.). - Im vorliegenden Fall wird allerdings von pre-openings gesprochen, da die Teilnehmer selbst unterscheiden zwischen openings und beginnings und die Phase, die uns hier interessiert und die Schegloff (1979) „pre-beginnings“ nennt, nicht vor dem beginning liegt, sondern vor dem opening. Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 317 Mondada_FINAL. Diese Bemerkungen laden dazu ein, sich näher mit dem zu befassen, was vor der offiziellen Eröffnung geschieht. Zwei miteinander zusammenhängende Typen von Fragen stellen sich hier: - Der eine betrifft die Modalitäten und Temporalitäten der Verbindung zwischen den Teilnehmern (diese können, wie wir in Ausschnitt 1 gesehen haben, in Videokonferenzen bereits ko-präsent sein, aber noch nicht interagieren; in anderen Fällen interagieren sie zwar, orientieren sich aber darauf, dass dies noch nicht zur offiziellen Videokonferenz gehört): Ab wann treten sie in Interaktion? Was tun diejenigen, die zuerst eintreffen? Was tun die Teilnehmer, während sie warten? Wie orientieren sie sich auf diese einführenden Momente? - Der andere bezieht sich auf das damit zusammenhängende Problem der Korpuskonstitution: Ab wann beginnt man mit der Aufnahme? Die Aufnahmen, die von Forschern gemacht werden, unterscheiden sich von denen, die die Teilnehmer selbst erstellen wie beim vorliegenden Korpus, entsprechend ihrem jeweiligen Zweck (vgl. Mondada 2009b). Die Teilnehmer sind klar auf das beginning oder das opening orientiert, und diese emische Orientierung manifestiert sich in der zeitlichen Begrenzung der Aufnahmen, die die jeweilige Regie der Videokonferenz anfertigt: Sie ignorieren die Phase davor, manchmal sogar die ersten Sequenzen des offiziellen Austauschs in der Eröffnungsphase. Darum erweisen sich Audioaufnahmen, die wir als Forscher an verschiedenen Standorten der Videokonferenzen gemacht haben und die zum Teil auch Aktivitäten in der Vorlaufphase dokumentieren, als außerordentlich wertvoll, um die der Eröffnung vorausgehenden Momente zu analysieren. Diese Aufnahmen liegen den folgenden Analysen zugrunde. Diese Fragen lenken die analytische Aufmerksamkeit retrospektiv auf die verschiedenen vorbereitenden Momente, die der Eröffnung vorausgehen. Im Folgenden rekonstruieren wir Schritt für Schritt diese Momente, die zur offiziellen Eröffnung führen, und zeigen, dass es neben der Eröffnung und dem Beginn eine wichtige Vorlaufphase gibt, die wir Vor-Eröffnung nennen. In Bezug auf die Aktivitäten in der Vor-Eröffnung stellen sich einige analytische Probleme, die sich mit methodologischen Problemen überlappen: Wie bereits angesprochen, werden diese Ereignisse häufig nicht aufgezeichnet, zum einen weil sie als nicht relevant angesehen werden, zum anderen weil die Forscher sich gerade in diesen Momenten selbst auf die Aufnahme des bevor- Lorenza Mondada 318 Mondada_FINAL stehenden Ereignisses vorbereiten. Wenn die technische Anlage der Videokonferenz diese Momente durch einen frühen Beginn der Aufnahme dokumentiert, wie in unserem Fall, ist häufig der Ton geschnitten oder von schlechter Qualität. Diese Kontingenzen machen die oben bereits erwähnten Tonaufnahmen, die wir als Forscher unabhängig von der Regie an verschiedenen Standorten gemacht und zunächst beiseite gelegt hatten, besonders wertvoll, denn diese Aufnahmen setzen im Allgemeinen frühzeitig ein und dokumentieren auch die Aktivitäten, die der offiziellen Eröffnung vorausgehen und von der später einsetzenden Videoaufnahme nicht erfasst werden. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die der Eröffnung vorausgehenden Aktivitäten zwischen den Standorten und arbeiten vor allem zwei in diesem Kontext rekurrente Aspekte heraus: a) die Orientierung der Teilnehmer auf spezifische Aktivitäten in diesen Momenten der Vor-Eröffnung und b) die Orientierung des Vorsitzenden auf den Beginn und seine Versuche, eine gemeinsame Aufmerksamkeitsausrichtung herzustellen. Dies tun wir anhand der ausführlichen Analyse eines Einzelfalls. 6.2 Spezifische Aktivitäten und Themen in der Vor-Eröffnung Die Aktivitäten in der Vor-Eröffnung unterscheiden sich von denen, die die nachfolgende Interaktion kennzeichnen; zudem weisen sie eine spezifische Zeitlichkeit auf, denn aufgrund der unmittelbar bevorstehenden Eröffnung kommen in der Vor-Eröffnung nur potenziell kurze Interaktionen in Betracht, die jederzeit unterbrochen werden können. Hier können Themen behandelt werden, die mit der bevorstehenden Tagesordnung zusammenhängen, wie im folgenden Ausschnitt: Dumont informiert in der Position der Vor-Eröffnung Maire über eine Änderung im Programm der bevorstehenden Sitzung: (20) (12038 Astr - 0.51): Dumont ( DUM ) in Basel, Daniel Maire ( MAI ) in Straßburg 1 DUM daniel/ / 2 (1.2) 3 MAI oui oui je suis là/ j’suis en train de discuter avec ja ja ich bin da / ich diskutiere gerade mit 4 euh (.) tes charmantes compatriotes/ äh (.) deinen charmanten landsmänninnen / 5 (1.4) 6 DUM écoute/ (.) je voulais te dire quelque chose/ y aura hör mal / (.) il wollte dir was sagen / es gibt 7 un petit changement/ eine kleine änderung / Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 319 Mondada_FINAL. 8 (0.5) 9 DUM c’est pas stefan fischbach qui va nous parler de es ist nicht stefan fischbach der euch etwas über 10 l’adrénalectomie parce que: il a eu un empêchement/ die adrenalectomie erzählen wird weil: er verhindert ist / 11 (0.9) 12 DUM mais c’est moi qui va vous parler de la sondern ich erzähle euch etwas über die 13 micro-chirurgie transanale endoscopique/ transanale endoskopische mikrochirurgie / 14 (1.6) 15 DUM alors ça sera pas aussi brillantissime que si ça avait also das wird nicht so brillant wie wenn es 16 été stefan/ mais (enfin on essaiera d’faire) stefan wäre / aber ( naja wir versuchen das beste ) 17 (1.5) 18 MAI ah non ça m’intéresse/ c’est la c’est la büc’est le oh nein das interessiert mich / das ist die das ist die büdas 19 troudeballoscope de büss comme on l’appelle chez nous/ ist die arschlochskopie nach büss wie man das bei uns nennt / 20 (0.4) 21 DUM c’est le troc’est le troudeballoscope de büss comme das ist ardas ist die arschlochskopie nach büss wie 22 tu l’appelles chez vous/ c’est toujours aussi distingué du das bei euch nennst / es ist immer noch so vornehm 23 chez vous ((lacht)) bei euch Dieser Ausschnitt ist bezeichnend für die Art von Aktivitäten und die Interaktionsmodalitäten, die die Vor-Eröffnung charakterisieren. Er beginnt damit, dass Dumont ein summons (Z. 1) an Maire richtet, um dessen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Tatsache, dass er hier einen solchen ersten Teil einer Paarsequenz verwendet, zeigt, dass die Teilnehmer sich in einem incipient state of interaction befinden - sie sind verbunden, kopräsent, haben die Mikrofone eingeschaltet, sind aber gleichzeitig noch nicht in eine fortlaufende Interaktion eingebunden. Der zweite Teil der Paarsequenz, die Antwort auf das summons, ist ebenfalls im Hinblick auf die Situation interessant: Maire bezieht sich mit je suis là/ (ich bin da, Z. 3) auf die Kopräsenz, die durch die Verbindung gegeben ist. Außerdem verweist er auf eine andere Aktivität, mit der er beschäftigt ist (discuter, Z. 3), die nichts mit der bevorstehenden Videokonferenz zu tun hat. Nach diesem ersten summons/ Antwort-Paar kündigt Dumont eine Neuigkeit an, die in einer Programmänderung besteht (Z. 6-16). Diese Ankündigung erfolgt in mehreren Turnkonstruktionseinheiten und bietet eine Reihe übergaberelevanter Stellen, an denen eine Antwort erfolgen und die Neuigkeit topikalisiert werden Lorenza Mondada 320 Mondada_FINAL könnte, doch der Angesprochene reagiert nicht (Z. 8, 11, 14, 17). Erst als die Information vollständig ist und Dumont sie mit einer Selbstabwertung abschließt (Z. 15-16), antwortet Maire positiv (Z. 18: ah non ça m'intéresse/ ). Er reformuliert die von Dumont genannte Technik (Z. 12-13: micro-chirurgie transanale endoscopique) in ausgesprochen informeller Weise, indem er einen auf einem vulgären Ausdruck basierenden wissenschaftlichen Neologismus (trou de balle + scope) bildet und diesen mit dem Namen des Erfinders verbindet (Z. 19: troudeballoscope de büss). Diesen Ausdruck verortet er in einem bestimmten kulturellen Kontext (chez nous (bei uns, Z. 19)). Dumont wiederholt den Ausdruck mit einer Selbstreparatur, nimmt dabei den Bezug seines Gesprächspartners auf die lokale Verankerung auf (Z. 21-22) und verbindet ihn mit einer expliziten Bewertung (Z. 22-23: c'est toujours aussi distingué chez vous (es ist immer noch so vornehm bei euch)). In dieser Formulierungsarbeit manifestiert sich zum einen die Informalität der Interaktionssituation, zum anderen die Herstellung kultureller Differenzen zwischen den Orten (wie auch die vorherige Bezugnahme auf tes charmantes compatriotes in Z. 4). Einige Minuten später bezieht Maire, als er Dumont eine Frage stellt, sich explizit auf deren Position in der Vor-Eröffnung: (21) (12038 Astr - einige Minuten später) 1 MAI xxxx j’vais juste j’vais j’vais juste griller une ich will nur ich will ich will nur eben eine info 2 info/ t’en t’en as fait beaucoup/ rausquetschen / hast du hast du viele davon gemacht / 3 (1.3) 4 DUM ouais j’en ai fait cinq/ ja ich hab fünf davon gemacht / Indem er seine Frage vorab ankündigt als griller une info/ (etwa „eine Information herausquetschen“), verweist Maire darauf, dass diese Information erst später gegeben werden sollte und er sie vorzeitig erfragt und erhält. Mit dieser Bearbeitung des Status der Information orientiert er sich explizit darauf, dass er nicht den Beginn der Sitzung abwartet, um sie einzuholen. Kurz darauf spricht Maire im Zusammenhang mit der zuvor angesprochenen Operationstechnik eine Einladung an Dumont aus: (22) (12038 Astr - kurz darauf) 1 MAI j’aimerais bien venir (0.7) voir quelqu’un qui la ich würde gern kommen ( 0.7 ) und jemanden sehen der sie 2 fait [en tout cas macht [ jedenfalls Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 321 Mondada_FINAL. 3 DUM [ben volontiers [aber gern 4 MAI (c’est la bonne) c’est la bonne occasion= ( das ist eine gute ) das ist eine gute gelegenheit= 5 DUM =très volontiers= =sehr gern= 6 MAI =on t’invitera aussi pour parler d’ça un jour =wir laden dich auch ein um darüber zu sprechen eines tages 7 (1.3) 8 MAI xxx 9 DUM mais j’veux bien aber gern 10 (2.6) 11 MAI on va voir/ on va voir si ta présentation est bien/ wir werden sehen / wir sehen ob deine vorstellung gut ist / 12 on va la tester/ ((lacht)) wir testen sie / Maire lädt zunächst sich selbst bei Dumont ein (Z. 1: j'aimerais bien venir…“ (ich würde gern kommen …)), dann lädt er Dumont nach Straßburg ein (Z. 6: on t'invitera aussi (wir laden dich auch ein)); beide Male erhält er eine positive Antwort. Die Sequenz wird mit einer Pause abgeschlossen, dann ergänzt Maire scherzhaft eine Bedingung (Z. 11-12), wobei er die bevorstehende Präsentation als „Test“ darstellt. Er manifestiert also die Orientierung der Teilnehmer auf die bevorstehende Sitzung, indem er diese kategorisiert als eine Reihe von Vorstellungen, die von den Zuschauern bewertet werden. Wie diese Reihe von Auszügen aus der Vor-Eröffnung einer Interaktion zeigt, widmen sich die Teilnehmer in dieser Phase Aktivitäten, die zwar von denen des Treffens selbst unterschieden werden, aber gleichzeitig aus diesem und seinem unmittelbaren Bevorstehen ihren Sinn beziehen. Andere Aktivitäten und Themen in dieser sequenziellen Position sind wiederum dadurch gekennzeichnet, dass sie überhaupt keinen Zusammenhang zu der bevorstehenden Sitzung haben. So im folgenden Ausschnitt: (23) (12038 Astr - 4.10) 1 DUM alors tu sais/ on est on est encore combcombien de also du weißt / wir sind wir sind noch wiewie lange 2 temps entre nous là que j’te raconte une histoire/ unter uns hier kann ich dir noch eine geschichte erzählen / 3 MAI ben j’aiy a peut-être nos amis belges qui écoutent nun ichvielleicht hören unsere belgischen freunde zu 4 mais vas-y ((leichtes Lachen)) aber mach mal Lorenza Mondada 322 Mondada_FINAL 5 DUM bon c’est pas grave (0.5) t’sais qu’notre professeur gut das macht nichts ( 0.5 ) du weißt dass unser professor 6 euh (.) müller/ travaille beaucoup äh (.) müller / viel arbeitet Einige Minuten nach seinem oben analysierten Austausch mit Maire initiiert Dumont eine andere Aktivität, die diesmal nichts mit den Themen der bevorstehenden Sitzung zu tun hat: Es handelt sich um eine Erzählung bzw., wie sich dann zeigt, eine lustige Geschichte, die der Erzähler explizit als „Geschichte“ (Z. 2: une histoire) kategorisiert. Dumont kündigt eine neue Aktivität an (Z. 1: alors tu sais/ (also du weißt/ )), doch bevor er sie beginnt, fragt er explizit nach, wie viel Zeit er bis zum Beginn der Sitzung noch hat, um sie zu Ende zu bringen. Diese Orientierung auf die Zeit ist organisatorisch motiviert: Eine „Geschichte“ setzt ein längeres beiderseitiges Engagement voraus als ein schlichter Austausch von Neuigkeiten. Sie zeigt, dass die Teilnehmer Aktivitäten in der Position der Vor-Eröffnung mit Blick auf die zeitlichen Beschränkungen initiieren und versuchen, diese einzuschätzen (sie orientieren sich damit auf den Moment, in dem die Sitzung beginnt; dieser ist nicht identisch mit der dafür angekündigten Zeit, sondern kann nach den Kontingenzen an den verschiedenen Standorten flexibel definiert werden). Die Aktivitäten in der Vor-Eröffnung werden im Hinblick darauf organisiert, indem jeweils lokal geprüft wird, wie lange sie dauern könnten und wie viel Zeit schätzungsweise bis zum Beginn der Sitzung bleibt. Die Teilnehmer orientieren sich also zugleich auf die erwartbare, normative Dauer der Aktivitäten und auf ihre flexible Anpassung. In Erwartung des bevorstehenden Beginns der Sitzung bedeutet Smalltalk den Eintritt in eine Interaktion, die jederzeit beendet werden kann, während die Aktivität des Erzählens mehr Zeit erfordert. Dumont orientiert sich aber nicht nur auf diese zeitliche Dimension, sondern auch auf einen spezifischen Teilnahmerahmen: Mit der Bezeichnung unter uns hier (Z. 2: entre nous là) verweist er auf einen engeren, intimeren Kreis als den der offiziellen Sitzung - denn zu diesem Zeitpunkt sind erst wenige Teilnehmer zugeschaltet. Maire repariert diese Beschreibung, indem er Bezug nimmt auf ‘overhearers’ (Z. 3: y a peut-être nos amis belges qui écoutent (vielleicht hören unsere belgischen freunde zu)) und damit auf eine Form der Ko- Partizipation, die typisch ist für Videokonferenzen, wo Teilnehmer zugeschaltet sein, aber ihr Mikrofon ausgeschaltet haben können. Die Platzierung der Einführung der Geschichte und die Orientierung auf die Zeit und den Teilnahmerahmen machen also zahlreiche spezifische Eigenschaften dieser sequenziellen Position der Vor-Eröffnung deutlich. Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 323 Mondada_FINAL. 6.3 Orientierung auf den „Beginn“ in der Vor-Eröffnung In den Interaktionen mit Dumont orientiert sich Maire, auch während er sich spezifischen Aktivitäten der Vor-Eröffnung widmet, permanent auf den Beginn der Sitzung, die er leiten soll. Seine wiederholten Mahnungen und Versuche, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, die er im Laufe von etwa zehn Minuten unternimmt, zeichnen sich alle durch eine Bezugnahme auf den „Beginn“ aus. Wir betrachten sie im Folgenden der Reihe nach. Hier sein erster Versuch: (24) (12038 Abs av1): Dumont ( DUM ) und GEH (Gehring) in Basel, Maire ( MAI ) in Straßburg 1 MAI → écoute on va: iil est l’heure/ donc on va essayer de hör mal wirees ist zeit / wir werden also versuchen 2 commencer à l’heure pünktlich anzufangen 3 DUM attends/ attends deux minutes/ il faut que je mette warte / warte noch zwei minuten / ich muss noch meine 4 mes papiers [en ordre] papiere [ in ordnung ] bringen 5 MAI [est-ce] que ouais ouais mais jeje [ ist ] ja ja aber ichich 6 voudrais savoir si les gens de bruxelles sont là/ wüsste gern ob die leute von brüssel da sind / 7 (2.0) ((Papierrascheln)) 8 (5) ((Papierrascheln und Gesprächsgeräusche)) 9 MAI d’accord donc on va quand même leur donner (.) okay also geben wir ihnen doch (.) 10 quelques minutes encore à bruxelles le temps noch ein paar minuten brüssel um 11 [qu’ils arrivent hein [ anzukommen 12 GEH [xxxxxxxxxx (mr gerne) 13 DUM mhm 14 GEH (und die zwei bilder zum zeige) 15 (2.6) ((Papierrascheln)) Maire beginnt seine Aufforderung, anzufangen, mit der Projektion eines Verbs (on va: in Z. 1 projiziert on va commencer), repariert sie dann, indem er einen Hinweis auf die Anfangszeit der Sitzung einschiebt. Seine anschließende Aufforderung, die Zeit einzuhalten (Z. 1-2: donc on va essayer de commencer à l'heure (wir werden also versuchen pünktlich anzufangen)), ist modalisiert formuliert, als bestehe auch die Möglichkeit, sie nicht zu befolgen. In dieser Hinsicht ist der folgende Turn aufschlussreich: Anstatt der Aufforderung zu folgen, suspendiert Dumont die von Maire projizierte Handlung (Z. 3: Lorenza Mondada 324 Mondada_FINAL attends (warte)) und macht eine andere - vorbereitende - Handlung geltend, mit der er gerade beschäftigt ist. Maire akzeptiert dies (Z. 5) und orientiert sich auf eine andere Voraussetzung für den Beginn der Sitzung, die Ko-Präsenz der Teilnehmer. Auf seine Frage nach den belgischen Partnern (Z. 5-6) antwortet niemand (Z. 7, 8), woraus er schließt, dass die Teilnehmer aus Brüssel sich verspäten (Z. 9-11). Den von Dumont erbetenen Aufschub behandelt er dagegen nicht als ‘Verspätung’. Über den akustischen Kanal sind parallele Aktivitäten hörbar: Hintergrundgespräche (Z. 8) und in Basel vorbereitende Gespräche (bezogen auf die Dias für den nächsten Vortrag, Z. 12-15). Diese Aktivitäten ignorieren die kommunikativen Gegebenheiten der Verbindung, sie nehmen nicht Bezug auf die Videokonferenz oder darauf, dass sie übertragen werden. Fünf Minuten später startet Maire einen neuen Versuch: (25) (12038 V 2.47 = Abs 4.58) 1 MAI bon ben écoutez on a: on a: déjà cinq minutes euh: gut also hört mal wir haben: wir haben: schon fünf minuten äh: 2 → il est moins vingt-cinq: donc on comcoj’pense es ist fünfundzwanzig vor: also wir fanfaich denke 3 → qu’on va commencer quand même/ parce qu’autrement/ (.) wir fangen trotzdem an / denn sonst / (.) 4 .h (.) on va prendre trop de retard: / . h (.) kriegen wir zu viel verspätung: / 5 (2.0) 6 MAI donc si euh l’ami dumont est prêt à commencer à nous also wenn äh unser freund dumont bereit ist anzufangen uns 7 parler de la micro-chirurgie transanale etwas über die transanale mikrochirurgie zu erzählen 8 MAI ((schaltet auf mute)) 9 <(28.8) ((MAI steht auf und geht hinaus))> In seinem Ordnungsruf verweist Maire wiederum auf die fortschreitende Zeit (zum einen durch die Angabe der bisherigen Verspätung - auch wenn er diesen Begriff zu Beginn noch nicht verwendet, sondern erst in Zeile 4 -, zum anderen durch Verweis auf die Uhrzeit, Z. 2) und mahnt erneut zu beginnen; auch dies repariert er durch Modalisierung und den Wechsel vom Präsens zum Futur: donc on comcoj'pense qu'on va commencer quand même/ (also wir fanfaich denke wir fangen trotzdem an/ , Z. 2-3). Als eine Reaktion seiner Gesprächspartner ausbleibt, erteilt Maire Dumont das Wort (Z. 6-7) und schaltet sein Mikrofon auf „Mute“, gibt also den floor Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 325 Mondada_FINAL. ab. Dumont beginnt jedoch nach dieser Übergabe nicht mit seinem Vortrag (lange Pause in Z. 9); daraufhin verlässt Maire seinen Platz und verschwindet aus dem Bild. Einige Minuten später schlägt Maire erneut vor, zu beginnen (Z. 5) und versucht wiederum, das Wort an Dumont zu übergeben: (26) (12038 V av5): (Anmerkung: X und Y sind in Brüssel) 1 X xxxxx (.) et à strasbourg ils ont l’image ou pas/ xxxxx (.) und haben die in straßburg ein bild oder nicht / 2 Y +hum ? hm ? mai +beugt sich zum Mikro und ergreift es--> 3 X à strasbourg ils ont l’image [ou pas/ haben die in straßburg ein bild [ oder nicht / 4 MAI → [°je crois qu’on va [ ich denke wir fangen 5 → commencer là xxx° jetzt an xxx 6 Y si si/ doch doch / 7 (0.7) 8 Y hum hm 9 X pourquoi ils n’parlent plus alors/ warum sprechen sie dann nicht mehr / 10 Y ben j’sais pas xx (j’pense qu’ils entendent bien/ ) xxx na ich weiß nicht xx ( ich denk schon dass sie uns hören / ) xxx 11 +(0.3)+ mai +schaltet mute aus/ Mikro ein+ 12 MAI → okay °bon°\ voilà/ j’crois qu’on va commencer là/ parce okay gut \ also / ich denke wir fangen jetzt an / denn 13 qu’autrement on va: (.) pas pouvoir être dans le temps sonst werden wir: (.) die Zeit nicht einhalten können 14 +(6.7) mai +legt den Finger auf mute, ohne das Mikro auszuschalten--> 15 MAI donc on va donner la parole à martial dumont/ also erteilen wir das wort martial dumont / 16 ( 3+.9 ) mai ->+schaltet das Mikro auf mute-->> 17 MAI °non i veut pas hein° ° nein er will nich ne ° Maire formuliert seinen Vorschlag zu beginnen zweimal, beim ersten Mal mit ausgeschaltetem Mikrofon (4), das zweite Mal mit offenem Mikrofon, wiederum mit einem modalisierenden Verb des Meinens (Z. 12: je crois (ich denke)). Lorenza Mondada 326 Mondada_FINAL Der Vorschlag erfolgt, als über den akustischen Kanal zwei Personen in Brüssel zu hören sind, die sich über den visuellen und akustischen Zugang der verschiedenen Standorte austauschen. In diesem Austausch zeigt sich eine Ratlosigkeit nicht nur in Bezug auf die technische Anlage, sondern auch auf den Beginn der Sitzung, der als solcher für die Teilnehmer nicht erkennbar ist. In diesem Kontext wiederholt Maire seine Aufforderung und verweist dabei erneut auf die vergehende Zeit; wieder reagiert darauf niemand, namentlich nicht der Angesprochene, Dumont (Z. 14). Maire behandelt es als selbstverständlich, dass dieser der nächste Sprecher ist (er benennt ihn zwar nicht, erwartet aber offenbar von ihm, dass er das Wort ergreift). Im Anschluss an die Pause erteilt er Dumont explizit das Wort (Z. 14) und schaltet sein Mikro auf „Mute“ (Z. 15), sieht sich aber erneut einer fehlenden Reaktion von Dumont gegenüber und kommentiert diese (Z. 17). Einige Sekunden später ergreift Dumont schließlich das Wort, nicht in Reaktion auf Maires erneute Anweisung, sondern als er selbst sich auf den Beginn der Sitzung orientiert: (27) (12038 V 5.31) 0 scr >>bas-->> 1 (4.8) 2 DUM <on attend: / = ((leise zu seinem Kollegen))> < warten wir: / = 3 MAI-> =allez vas-y/ tu peux y aller =los fang an / du kannst anfangen 4 (1.2) 5 DUM ah ben d’accord/ alors bon/ euh on changbonjour ah gut okay / also gut / äh wir ändguten tag 6 d’abord pour bruxelles/ que je vois maintenant aussi erst mal an brüssel / die ich jetzt auch sehe 7 à l’image im bild 8 (0.7) 9 BRÜ oui bonjour ja guten tag 10 DUM ((nickt, winkt dann mit der Hand)) 11 (0.7) 12 DUM et puis on a un petit changement de programme/ dann haben wir eine kleine programmänderung / 13 au lieu de stefan fischbach qui va nous parler de: anstatt dass stefan fischbach zu uns spricht über: 14 l’adrénalectomie euh là coelioscopique euh: / il est die äh koloskopische adrenalektomie äh: / er ist Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 327 Mondada_FINAL. 15 retenu/ moi je vais vous parler d‘une technique (.) verhindert / erzähle ich Ihnen über eine technik (.) 16 de: chirurgie transanale microscopique/ (.) euh der: transanalen mikroskopischen chirurgie (.) äh 17 qui est le: la micla TEM/ nämlich die: die mikdie TEM / 18 (.) qui a été développée par euh (.) par büss\ (.) die entwickelt wurde von äh (.) von büss \ Als nichts geschieht (Pause in Z. 1), fragt Dumont seinen Nachbarn, ob mit dem Beginn der Sitzung noch gewartet werden soll (Z. 2). Maire antwortet darauf umgehend (vgl. den schnellen Anschluss zwischen Z. 2 und Z. 3) und ermahnt ihn anzufangen. Diesmal ergreift Dumont das Wort. Er nimmt Bezug auf die Teilnehmer in Brüssel als die zuletzt Angekommenen (Z. 5-7) und gibt dann offiziell die Programmänderung bekannt, die er Maire zehn Minuten zuvor inoffiziell angekündigt hatte. Interessant ist, dass mit dieser Wortübernahme durch Dumont die Sitzung „beginnt“, ohne dass eine kollektive Begrüßung oder ein Willkommensgruß an die anderen Orte erfolgt. Das Fehlen einer als solche erkennbaren Eröffnung hängt vermutlich zusammen mit dem Umfang, den die Vor-Eröffnung angenommen hat, und Maires wiederholten Versuchen, den Beginn zu initiieren, die - zumindest aus seiner Sicht - die Überleitung zur Sitzung offensichtlich machen. Wie dieser Fall zeigt, können also Länge und Schwierigkeiten der Vor-Eröffnung die Eröffnung auflösen und mit dem „Beginn“ der Sitzung zusammenfallen lassen. 7. Schlussfolgerungen In diesem Beitrag wurden einige spezifische Eigenschaften der Eröffnung von Videokonferenzen herausgearbeitet. Es wurde gezeigt, dass die Eröffnung aufgrund der engen Verschränkung von Technik und Interaktion auf die Ausrichtung sowohl des Interaktionsverhaltens als auch der technischen Bedingungen orientiert ist. Diese doppelte Orientierung manifestiert sich in der permanenten Überprüfung der Technik und der engen Verknüpfung zwischen dem wechselseitigen visuellen Zugang und der Begrüßung. Darüber hinaus wurde deutlich, dass sich die Teilnehmer solcher Videokonferenzen auf die Eröffnung als einen für die Interaktion zentralen Moment orientieren. Dieser ist einerseits mit der Vor-Eröffnung verbunden - die von der Sitzung selbst klar abgesetzt, aber gleichzeitig auf deren bevorstehenden Beginn orientiert ist -, andererseits mit dem Beginn, d.h. dem Einstieg in die Behandlung der Lorenza Mondada 328 Mondada_FINAL offiziellen professionellen Themen. Diese drei Momente wurden in einer systematischen und detaillierten Analyse des Verhaltens der Teilnehmer und der Relevanzen, die ihm zugrunde liegen, herausgearbeitet. Diese Eigenschaften verweisen jedoch nicht nur auf die Besonderheit von technologisch vermittelten Interaktionen wie Videokonferenzen. Ihre Analyse hat insofern eine globalere Tragweite, als durch die Technik besonders sichtbar wird, welche Voraussetzungen vor dem Beginn einer Aktivität erfüllt sein müssen und wie die Teilnehmer sich auf diese Voraussetzungen und ihre Herstellung orientieren. In diesem Sinne zeigt sich an den technischen Problemen besonders deutlich, dass die Eröffnung nicht der initiale, der erste Moment einer Interaktion ist, sondern dass sie durch vorausgehende Aktivitäten vorbereitet wird, die die Bedingungen für ihren Vollzug herstellen. Die Analysen führen also zu einer Rekonzeptualisierung der Eröffnungssequenz im Allgemeinen, die einerseits von der Vor-Eröffnung, andererseits vom Beginn abzugrenzen ist. Die Phase der Vor-Eröffnung kann mehr oder weniger lang sein, sie kann von der bevorstehenden Aktivität relativ unabhängig sein oder im Gegenteil zu ihrer Eröffnung beitragen. In beiden Fällen sind die darin stattfindenden Aktivitäten charakteristischerweise darauf ausgerichtet, dass sie transitorisch, momentan und kurzfristig sind: Sie erfordern kein längeres Engagement, haben eine unbestimmte Dauer und können jederzeit beendet werden. Diese zeitliche Eigenschaft der Vor-Eröffnung wirkt sich nicht nur auf die Organisation, sondern auch auf die Art der darin stattfindenden Handlungen aus. Hier sind mindestens zwei Typen zu unterscheiden: Es handelt sich zum einen um Aktivitäten, die von der bevorstehenden Handlung relativ unabhängig sind, wie Smalltalk (vgl. Turner 1972), Austausch von Neuigkeiten, Witze oder informellen Informationsaustausch. Zum anderen sind es Aktivitäten, die die kommende Handlung vorbereiten: angemessene Positionierung der Teilnehmer, Arrangement des Settings, Herstellen der Verbindung, Überprüfung des wechselseitigen Kontakts, Ausrichtung der Kamera, Tontest usw. Im Fall der Videokonferenzen hat sich gezeigt, dass diese Aktivitäten sich über die Phase der eigentlichen Eröffnung fortsetzen und somit in die begonnene Handlung hineinreichen können. Zudem wurde daran der emergente, vorläufige, progressive Charakter des Übergangs von der Vor- Eröffnung zur Eröffnung deutlich. Das zentrale Merkmal dieser Phase der Vor-Eröffnung ist die Orientierung auf ihre besondere Zeitlichkeit: Die Teilnehmer behandeln die Eröffnung als unmittelbar bevorstehend, selbst dann, wenn sie sie durch eingeschobene Sequenzen und wiederholte Verzögerungen hinausschieben. Wenn dieses unmittelbare Bevorstehen durch immer neue Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 329 Mondada_FINAL. Verzögerungen umgedeutet, rekategorisiert und neu definiert wird (wie im zuletzt analysierten Beispiel), kann man von einer „Vor-Vor-Eröffnung“ sprechen: Die Teilnehmer selbst passen ihre zeitlichen Erwartungen laufend an, indem sie das „unmittelbare Bevorstehen“ der Eröffnung lokal neu definieren. Es scheint, als sei diese Erwartung zyklisch organisiert, dehne sich bis zu dem Moment, wo geeignete Handlungen unternommen werden können, um die Eröffnung zu beschleunigen (wie Ordnungsrufe, Ermahnungen, die Aufforderung zu „beginnen“, Verweis auf die vergangene oder noch verbleibende Wartezeit). Jeder dieser „Zyklen“ - die die Nichtlinearität des Wartens deutlich machen - kann als eine neue Vor-Phase angesehen werden. In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, dass die Teilnehmer sich auf die „Eröffnung“ und den „Beginn“ unterschiedlich orientieren. Der Beginn als „zur-Sache-kommen“ (Meier 1998, S. 2) ist stärker auf den inhaltlichen Austausch in der bevorstehenden Sitzung orientiert als auf den koordinierten Eintritt in die Interaktion. Diese Orientierung scheint umso stärker zu sein, je länger die Vor-Eröffnung dauert und je häufiger sie sich zyklisch wiederholt; in solchen Fällen beobachtet man manchmal eine preemption der Eröffnung. Schegloff (1986, S. 133ff.) spricht von „preemption“, wenn die Eröffnung beschleunigt oder drastisch reduziert wird, zum Beispiel bei sehr stark erwartbaren oder wiederholten Anrufen. Die hier analysierten Daten zeigen einen anderen Fall von Verkürzung, der eintritt, wenn ein Teilnehmer in einer langen Vor-Eröffnungsphase mehrfach den Beginn (nicht die Eröffnung) der Sitzung anmahnt; in diesem Fall kann ein direkter Übergang von der Vor-Eröffnung zum Beginn erfolgen. Diese Beobachtungen zeigen die grundlegende Bedeutung der Konzeptualisierung von Zeit in der sequenziellen Analyse der Phasen, die die Vor-Eröffnung, dann die Eröffnung und schließlich den Beginn einer Aktivität bilden. Diese Zeitlichkeit ist nicht nur emergent und inkrementell, sondern auch zyklisch, sie weist Kontinuitäten und Brüche, Wartezeiten, aber auch Beschleunigungen und Projektionen auf. Sie ist keineswegs linear, sondern lädt vielmehr dazu ein, Zeit emisch aus der Perspektive der Teilnehmer zu denken. 8. Danksagung Diese Untersuchung wäre nicht möglich gewesen ohne die Mitarbeit und Unterstützung des IRCAD (Institut de Recherche pour le Cancer de l'Appareil Digestif) am Hôpital Civil in Straßburg. Dafür möchte ich den Leitern ebenso wie allen Teilnehmern an den Videokonferenzen herzlich danken. Lorenza Mondada 330 Mondada_FINAL Die Aufnahmen wurden im Rahmen eines vom Fonds National Scientifique Suisse finanzierten Projekts zur Konstruktion von Wissen in der Interaktion (Projekt Nr. 1214-051022.97) gemacht. Ingrid Furschner danke ich für ihre ausgesprochen aufmerksame Übersetzung des Ursprungsmanuskripts ins Deutsche. 9. Transkriptionskonventionen Notation des Sprechens: [ Überlappungen (.) Mikropause (2.1) Pause in Sekunden xxx unverständliches Segment / \ steigende / bzw. fallende \ Intonation exTRA betontes Segment ((rire)) beschriebene, nicht präzise transkribierte Phänomene : Dehnung < > Begrenzung der Phänomene zwischen (( )) par- Abbruch & Fortsetzung der Äußerung = schneller Anschluss ^ lautliche Bindung .h Einatmen (il va) unsichere Transkription °bon° gemurmelt £ lächelnd gesprochen Notation der Gesten: * * Anfang und Ende einer Geste eines Teilnehmers, die im Verhältnis zum ^ ^ Sprechen verortet und in der nachfolgenden Zeile beschrieben wird (ein + + Symbol für jeden Teilnehmer). Weitere Symbole sind: † √ ∆ ¡ ∫ . Wenn in der folgenden Zeile nicht eine Geste des aktuellen Sprechers beschrieben wird, sondern die eines anderen Teilnehmers, steht dessen Kürzel am Anfang der Zeile in Kleinbuchstaben. Wenn es sich um den gerade sprechenden Teilnehmer handelt, ist kein Kürzel angegeben. .... Entfaltung/ Vorbereitung einer Geste " Ende/ Zurückziehen der Geste ----> Fortsetzung der Geste über die folgenden Zeilen ---->> Fortsetzung der Geste bis zum Ende des Ausschnitts >>-- Beginn einer Geste vor dem Ausschnitt Eröffnungen und Prä-Eröffnungen in medienvermittelter Interaktion 331 Mondada_FINAL. Notation der Bilder auf dem Bildschirm von Straßburg (= Ort der Videoaufnahme): scr „scr“ (screen) am Rand verweist auf eine Beschreibung dessen, was auf dem Bildschirm zu sehen ist | verortet diese Beschreibung präzise in Bezug auf die gesprochene Äußerung; das Bild bleibt bis zur nächsten Markierung, die ein neues Bild anzeigt bi „bi“ (Bild) am Rand verweist auf ein reproduziertes Bild # verweist auf den genauen Moment, in dem das betreffende Bild aufgenommen wurde, situiert es in Bezug auf die transkribierte Äußerung 10. Literatur Arminen, Ilkka (2002): Emergentes, divergentes? Les cultures mobiles. In: Réseaux 20, 112-113, S. 79-106. 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Aus diesem Grund konzeptualisieren wir diesen Transitionstyp als Eröffnung einer neuen Situation. Uns interessieren neben der Spezifik des jeweiligen Falles vor allem rekurrente Verhaltensaspekte der Beteiligten, die im Kontext dieser Transitionen beobachtbar sind. Diese nehmen wir als Startpunkt für die Rekonstruktion eines fallunabhängigen Aufgabenprofils für die ‘Transition von Interaktionsräumen als Eröffnungen’. Neben der Offenlegung der unterschiedlichen konstitutiven Aspekte dieses Aufgabenprofils konzentrieren wir uns auf die multimodalen Verfahren, mit denen die Interaktionsbeteiligten diese Anforderungen bearbeiten. Wir diskutieren hier die Transitionen von Interaktionsräumen als speziellen Fall von Eröffnungen. Dabei konturieren wir die Spezifik der von uns untersuchten Transitionen in zwei Richtungen: Erstens grenzen wir die Transition von Interaktionsräumen von anderen Formen der Transition ab; zweitens schärfen wir unseren Gegenstand im Hinblick darauf, was er mit „klassischen“ Situationseröffnungen gemeinsam hat und was ihn von diesen unterscheidet. Bei der Konstitution unseres Gegenstandes ‘Transitionen am Filmset als Situationseröffnungen’ orientieren wir uns an den interaktiven Definitionsleistungen der Beteiligten: Es sind die Beteiligten, die das interaktive Geschehen selbst als Eröffnung einer neuen Situation realisieren. Die wissenschaftliche Konzeptualisierung von ‘Transitionen als Situationseröffnungen’ baut also auf dieser emischen Grundlage auf und folgt den Relevanzen der Beteiligten. 1 Neben den vielfältigen Anregungen aus der gemeinsamen Diskussion in der Gruppe haben vor allem kritische Hinweise und Vorschläge von Betty Couper-Kuhlen Eingang in diesen Beitrag gefunden. Vielen Dank hierfür! Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 336 Schmitt_Deppermann_final Wir werden zunächst unser Konzept ‘Transitionen als Situationseröffnungen’ vorstellen und es mit „klassischen“, bereits gut untersuchten Situationseröffnungen im Sinne der vollständig in der aktuellen Situation geleisteten Herstellung einer Interaktionssituation vergleichen (Abschnitt 2). Danach beschreiben wir die Daten, die unseren Analysen zugrunde liegen (Abschnitt 3) und skizzieren im Anschluss daran die organisationsstrukturellen Grundlagen der Situation „Filmset“ (Abschnitt 4). Anschließend stellen wir die Konzepte ‘Fokusperson’ und ‘Orientierungslauf’ als Ergebnis der Auseinandersetzung mit den besonderen Gegebenheiten unseres Gegenstandes und als zentrale Grundlage für unsere Datenanalyse vor (Abschnitt 5). In der Datenanalyse werden nach einer kurzen Kontextbeschreibung drei aufeinander folgende Transitionen konstitutionsanalytisch rekonstruiert, wobei wir der multimodalen Komplexität des Transitionsvollzuges Rechnung tragen. Wir werden dabei die Struktur der Transitionen als Abfolge aufeinander bezogener Stadien rekonstruieren und nach der Spezifik des Einsatzes unterschiedlicher multimodaler Ressourcen für die Bearbeitung der einzelnen Stadien fragen (Abschnitt 6). Bei der nachfolgenden Theoretisierung werden wir ein fallspezifisch basiertes Grundmodell der Transition von Interaktionsräumen entwickeln (Abschnitt 7). Wir stellen allgemeinere Überlegungen zur fallspezifischen und interaktionstheoretischen Relevanz „interaktiver Vorgängigkeit“, die als zentraler Befund in unserer Untersuchung vorstellig geworden ist, an (Abschnitt 8). Der Beitrag endet mit einer Zusammenfassung der falltranszendierenden Ergebnisse, die sich bei der Analyse von Transitionen als Eröffnungen ergeben haben (Abschnitt 9). 2. Die Herstellung fokussierter Interaktion Unser Gegenstand ‘Transition von Interaktionsräumen als Eröffnungen’ hat im Rahmen dieses Bandes einen gewissen Sonderstatus. Während es sich bei den Situationen, die in den anderen Beiträgen untersucht werden, zumeist um im klassischen Verständnis „wirkliche“ Situationseröffnungen handelt, zeichnen sich die von uns untersuchten Transitionen am Filmset dadurch aus, dass ein übergeordneter Interaktionszusammenhang existiert, in dem es bereits etablierte Interaktionsbeziehungen und interaktionsräumliche Konstellationen verschiedener Setmitarbeiter gibt. Die verschiedenen Setmitarbeiter sind bereits eine gewisse Zeit auf dem Setting zusammen, haben zurückliegend auch bereits in verschiedenen personalen und räumlichen Konstella- Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 337 Schmitt_Deppermann_final. tionen miteinander interagiert. Sie haben also eine gemeinsame vorgängige Interaktionsgeschichte in diesem raumzeitlichen Kontext. Zudem rechnen sie damit, dass sie im weiteren Verlauf ihres Aufenthalts auf dem Set fortwährend in weitere, wechselnde Interaktionen mit den bekanntermaßen dort Anwesenden eintreten werden. Diese Interaktionsgeschichte stellt für die Neukonstitution von Interaktionsräumen und die dafür notwendigen Transitionen in vielfacher Hinsicht einen relevanten Bezugspunkt dar. Gleichwohl zeichnen sich die einzelnen Interaktionen durch eine so weitgehende Abgrenzung als raumzeitliche Einheiten aus, dass es uns gerechtfertigt scheint, sie auch konzeptuell dadurch als eigenständig zu behandeln, dass wir von deren ‘Eröffnung’ sprechen. Darüber hinaus enthalten die Transitionen ein Profil zu bearbeitender interaktiver Anforderungen, das weitgehend mit dem Anforderungsprofil klassischer Situationseröffnungen vergleichbar ist. Wir wollen im Folgenden das Verhältnis von Transitionen (der Konstitution von Interaktionsräumen aus in der Situation bereits existierenden Strukturen heraus) und Situationseröffnungen, die auf keine zwischen den Beteiligten geteilte raumzeitlich kontinuierliche Vorgeschichte zurückgreifen können, reflektieren. Wir gehen dabei davon aus, dass Situationseröffnungen und Transitionen in wesentlichen Hinsichten die gleiche Anforderungsstruktur für ihre Konstitution beinhalten. Die Überlegungen von Goffman (1963) zu „focused interaction“ stellen einen integrativen Bezugsrahmen dar, der Gemeinsamkeiten wie Unterschiede klarer fassen lässt. Hinsichtlich der Herstellung fokussierter Interaktionen sind Situationseröffnungen und Transitionen situationsspezifische Realisierungsformen. 2.1 Situationseröffnungen als Typ der Interaktionsherstellung Situationseröffnungen sind ein spezifischer Fall der Herstellung fokussierter Interaktion. Ihre Aufgabenstruktur gilt keineswegs generell für die Herstellung jeder fokussierten Interaktion, sondern sie reflektiert spezifische Bedingungen, unter denen die Herstellung zu leisten ist. Für diesen spezifischen Fall ist konstitutiv, dass es keine unmittelbar vorgängige Interaktion zwischen den Beteiligten gibt bzw. dass es aufgrund der konkreten Interaktionsbedingungen fraglos ist, dass trotz vorgängigem Kontakt die neue Situation wieder explizit eröffnet werden muss (z.B. wenn ich zum dritten Mal am Tag mit demselben Gesprächspartner telefoniere). Zur Herstellung fokussierter Interaktion im Kontext von Situationseröffnungen haben die Beteiligten folgende Anforderungsstruktur zu bearbeiten Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 338 Schmitt_Deppermann_final (siehe auch Schmitt/ Mondada in diesem Band): Die Beteiligten müssen in der aktuellen Situation, ohne auf die Kontinuität einer gemeinsamen vorgängigen Interaktionsgeschichte zurückgreifen zu können, 1) ihre Interaktionsbereitschaft signalisieren, 2) sich als Interaktionsbeteiligte identifizieren und identifizierbar machen, 3) einen geeigneten Interaktionsraum für ihren sozialen Austausch konstituieren, 4) sich verdeutlichen, was „Zweck“ ihrer Interaktion sein soll, 5) projizieren, in welcher Interaktionsmodalität die Interaktion erfolgen soll, 6) erkennbar machen, wie das damit verbundene Beteiligungsprofil für die einzelnen Teilnehmer aussehen soll, 7) die zur Verfolgung dieses Zwecks geeigneten sozialen Beziehungsunterstellungen anzeigen und implementieren. 2.2 Transitionen als Typ der Interaktionsherstellung Für Transitionen als ein anderer Typ der Herstellung fokussierter Interaktion ist in unserem konkreten Fall - im Unterschied zu den Situationseröffnungen - die wechselseitige Bekanntheit der Akteure, die vorgängige gemeinsame Präsenz auf einem Setting und die Existenz einer interaktiven Vorgeschichte auf diesem Setting zu einem früheren Zeitpunkt des Aufenthalts (zumindest für einen Teil der Beteiligten) konstitutiv. Unter diesen räumlichen Bedingungen ist grundsätzlich die Möglichkeit der Wahrnehmungswahrnehmung (Hausendorf 2001) gegeben. Aufgrund der organisationsstrukturellen Bedingungen des Filmsets sowie der grundlegenden Struktur des Arbeitsablaufs und der damit verbundenen Partikularisierung des Gesamtzusammenhangs in koexistente, teilautonome Arbeitsbereiche (siehe genauer in Abschnitt 4) sind die einzelnen Setmitarbeiter sehr weitgehend mit eigenen Relevanzen beschäftigt und zudem auch räumlich über das Gesamtsetting verteilt. Dies führt dazu, dass es im Rahmen gemeinsamer Setting-Präsenz immer zu Phasen kommt, in denen sich bestimmte Konstellationen ergeben, in denen Setmitarbeiter miteinander interagieren, die sich zwar bereits gesehen und evtl. gegrüßt haben, die jedoch in dieser konkreten Situation erstmalig miteinander in fokussierte Interaktion treten: In diesen Situationen ändert sich für die Beteiligten die Interaktionsstruktur dahingehend, dass sie - motiviert durch eine spezifische Anforderung,Aufgabe etc. - aus ihren vorherigen Interaktionsräumen heraustreten und in personell anderer Konstellation in eine neue fokussierte Interaktion eintreten müssen. Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 339 Schmitt_Deppermann_final. Wir haben es also mit einem speziellen Typ von Transition zu tun, für den folgende Aspekte konstitutiv sind: 1) Veränderung der personellen Konstellation: Die Beteiligungsstruktur entspricht einer gänzlichen Neukonfiguration. Es kommt also nicht nur eine weitere Person zu einer bereits existierenden Konstellation hinzu, wie das beispielsweise in den Daten von Oloff (in diesem Band) der Fall ist. 2) Veränderung der thematischen und pragmatischen Relevanzen: Es findet ein Wechsel des Themas und der Handlungsorientierung statt, wobei beides auf die Realisierung eines eigenständigen neuen Zwecks ausgerichtet ist. 3) Veränderung der räumlichen Strukturen: Die Neukonstellation ist mit einem räumlichen Wechsel (zumindest für einen Teil) der Beteiligten verbunden. Diese drei Aspekte konstituieren eine neue fokussierte Interaktion. Sie führen damit zur Notwendigkeit, sie in einer für die Beteiligten erkennbaren und für die Realisierung des aktuellen Zwecks sachdienlichen Weise vom vorherigen Geschehen abzugrenzen und sie - gemäß ihrer Eigenständigkeit - durch eine ihrem Status als Herstellung einer neuen Situation adäquate Art und Weise zu eröffnen. Transitionen, die von den Beteiligten in einem prä-existenten und komplexen multi-aktionalen, setting-definierten praxeologischen Kontext realisiert werden, unterscheiden sich von anderen Formen der Transition in Interaktionen. Wir haben es nicht mit reinen Themenwechseln (vgl. etwa Maynard 1980, Drew/ Holt 1998 oder West 1988) zu tun, die primär durch Sprachlichkeit konstituiert werden. Wir beschäftigen uns auch nicht mit der Veränderung der Handlungsstruktur oder der Kernaktivität innerhalb einer personal und räumlich stabilen Konstellation (vgl. etwa Robinson/ Stivers 2001; Jefferson 1984; Modaff 2003; Mehus 2004; Deppermann/ Mondada/ Schmitt i.Vorb.) oder mit dem Übergang zwischen einzelnen Aktivitätsphasen (vgl. Mondada 2006a; Bruxelles/ Greco/ Mondada i.Dr.). Transitionen als Situationseröffnungen, wie wir sie im Folgenden untersuchen, zeichnen sich im Gegensatz dazu durch grundlegende Veränderungen der personalen, räumlichen, aktionalen und thematischen Struktur aus. Sie resultieren in der Herstellung einer neuen fokussierten Interaktion, weshalb für ihr interaktives Anforderungsprofil auch weitgehend die gleichen interaktiven Anforderungen, die wir oben für Situationseröffnungen aufgelistet haben, gelten. Der Unterschied zu Situationseröffnungen besteht dagegen in der Art und Weise, wie die Beteiligten auf die Existenz und die jeweilige Spezifik der Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 340 Schmitt_Deppermann_final vorgängigen Interaktionsstrukturen auf dem Setting bei der gemeinsamen Herstellung einer neuen fokussierten Interaktion zurückgreifen können. Die Existenz und Relevanz interaktiver Vorgängigkeit bestimmt das Relief der von den Beteiligten zu bearbeitenden interaktiven Anforderungen und differenziert so die Situationseröffnungen und Transitionen als Eröffnungen. Ein wesentlicher Unterschied besteht zum einen in der sozialen Erwartbarkeit und Notwendigkeit einer Begrüßung bei klassischen Situationseröffnungen sowie in der Notwendigkeit, sich wechselseitig und bezogen auf die Ziele und Zwecke der zu etablierenden fokussierten Interaktion zu kategorisieren. Damit einher geht insgesamt eine größere Explizitheit bei der Realisierung der Eröffnungsaktivitäten. Eine Begrüßung ist hingegen bei den von uns analysierten Transitionen nicht erforderlich, da die neu zu etablierende Interaktion die Fortsetzung einer unterbrochenen Interaktionsbeziehung auf dem gleichen, zeitlich kontinuierlich bevölkerten Setting darstellt und die zukünftigen Interaktionspartner bereits aufgrund des wechselseitigen Wissens um die jeweilige Aufgabe am Set füreinander hinreichend vorkategorisiert sind. Die Analysen werden jedoch zeigen, dass die Beteiligten trotz der beschriebenen Vorgängigkeit der Interaktionsbeziehung auf dem Setting Anforderungen bearbeiten, die für Situationseröffnungen typisch sind. Dabei werden wir diese Eröffnungs-Orientierung der Beteiligten und die Verfahren zur Realisation der Transition als Eröffnung verdeutlichen. 3. Das Filmset Empirische Grundlage unserer Untersuchung sind Videoaufnahmen von einem Filmset. Sie zeigen, wie in Kooperation von Regisseur, Schauspieler, Kameramann, Beleuchter, Requisite und vieler anderer Mitarbeiter verschiedene Filmszenen besprochen, geprobt und schließlich gedreht werden. Auf ihnen ist zu sehen, wie für die verschiedenen Einstellungen, die gedreht werden sollen, das Set umgebaut, neu ausgeleuchtet und die Kamera für die Aufnahmen vorbereitet werden. Organisationsstrukturell betrachtet, dokumentieren die Videoaufnahmen die arbeitsteilige Organisation und lokale Koordination vieler unterschiedlicher Mitarbeiter auf der Grundlage sehr genau strukturierter Zuständigkeiten und Abhängigkeiten verschiedener Inhaber von Funktionsrollen. Die Aufnahme stammt aus dem Hamburger Filmkorpus, das aus einer mehrjährigen Zusammenarbeit des IDS mit dem Filmstudium der Universität Hamburg entstanden ist. 2 Das Korpus besteht zum einen aus mehrstündigen Ar- 2 Die Kooperation, bei der von IDS -Seite Daniela Heidtmann und Reinhold Schmitt beteiligt waren, erstreckte sich über den Zeitraum 2002-2006; siehe Schmitt/ Heidtmann (2003). Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 341 Schmitt_Deppermann_final. beitssitzungen, bei denen studentische Teams mit zwei Dozenten an der Entwicklung von Filmideen arbeiten (so genannten ‘Pitchings’) und Aufzeichnungen an verschiedenen Drehorten dreier Filmteams. 3 3.1 Die Spezifik der Daten Ein charakteristischer Aspekt der Set-Aufnahmen ist die Konzentration der Kamera und des Mikrofons auf den Regisseur. Es war eine zentrale vorgängige Entscheidung, den Regisseur(inn)en - so weit es irgendwie möglich war - mit der Kamera zu folgen und sie somit in den Mittelpunkt des dokumentierten Geschehens zu rücken. Diese Entscheidung orientierte sich an der für das Setgeschehen zentralen Rolle des Regisseurs. Das Setgeschehen konstituiert diesen neben seinem herausragenden organisationsstrukturellen Status auch dokumentationslogisch zur Fokusperson (siehe Abschnitt 5.1). Die Träger dieser Funktionsrolle rückten durch die spezifische Art und Weise, in der das Geschehen am Set aufgezeichnet wurde, in den Mittelpunkt des Interaktionsdokumentes. Die Videoaufzeichnungen erhalten dadurch eine spezifische Perspektivität. Sie verdeutlichen zu jedem Zeitpunkt, dass nicht die Totalität des Setgeschehens sichtbar ist, sondern nur derjenige Teil, der sich um den Regisseur herum ereignet. Die Gleichzeitigkeit der an unterschiedlichen Orten stattfindenden Arbeitszusammenhänge und die aufgrund der räumlichen Enge weitgehend unfreiwillige Wahl der Position der Dokumentationskamera(s) machen die Dokumentation des Gesamtzusammenhangs „Filmset“ praktisch unmöglich. 3.2 Strukturen des Filmsets Dies hat seine Ursachen in einem dichten und eng gewobenen Geflecht verschiedener organisationsstruktureller Voraussetzungen, die die Grundlage der Kooperation am Set bilden und in ihrem Zusammenspiel das Filmset als Arbeitsplatz definieren. 4 Vor allem die temporäre Koexistenz verschiedener Arbeitszusammenhänge und Interaktionsräume und die damit verbundene Notwendigkeit, die eigene Arbeit kontinuierlich mit anderen Arbeitszusammenhängen koordinieren zu müssen, produziert eine hektische Betriebsamkeit. Diese zeigt sich nicht nur in gleichzeitig an verschiedenen Orten 3 Das Hamburger Filmkorpus umfasst insgesamt 100 Stunden Videoaufzeichnungen aus beiden Kontexten. Zu beiden Teilkorpora liegen inzwischen Publikationen vor: Zum Pitching siehe vor allem Heidtmann (2009) sowie Schmitt (2004 und 2005) und Heidtmann/ Föh (2007), zum Filmset vgl. Schmitt (2007) und Schmitt/ Deppermann (2007). 4 Zur detaillierten Beschreibung des Filmsets als Arbeitsplatz siehe Schmitt (2007, i.Dr.). Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 342 Schmitt_Deppermann_final stattfindenden Interaktionen, sondern drückt sich vor allem auch in kontinuierlicher Bewegung und räumlicher Dynamik auf dem Set aus. Beim Anblick mancher Videoausschnitte drängt sich dem Betrachter das Bild eines Ameisenhaufens auf: Auf den ersten Blick scheinen alle irgendwie chaotisch durcheinander zu laufen. Erst bei genaueren Hinsehen und auf der Grundlage detaillierter Informationen über die organisationsstrukturellen Grundlagen und ihre interaktiven Konsequenzen werden die Laufwege - relativ zu den jeweils spezifischen Aufgaben - als direkt und zielführend deutlich. Das Filmset hat im Vergleich mit anderen Arbeitszusammenhängen (etwa Arbeitsmeetings) keinen einheitlichen, für alle gleichermaßen verbindlichen Fokus. Auf dem Set existieren die meiste Zeit über gleichzeitig eine Vielzahl relativ eigenständiger Arbeitskontexte. Diese bilden für eine gewisse Zeit eigenständige organisations- und interaktionsstrukturelle Zusammenhänge und konstituieren für eine gewisse Zeit auf engstem Raum auch einen eigenständigen Interaktionsraum mit einem erkennbaren eigenen Arbeitsterritorium mit eigener hierarchischer Struktur. Für eine Drehpause, in der die Vorbereitungen für den Dreh der nächsten Szene getroffen werden, ist beispielsweise die Gleichzeitigkeit und relative Eigenständigkeit folgender Arbeitszusammenhänge charakteristisch: Die Beleuchter richten auf Anweisung des Kameramanns ihre Strahler ein und bauen ihre Blenden auf, - während der Kameramann die technische Ausstattung der Kamera überprüft, - während einer seiner Assistenten die Bestückung einer neuen Filmrolle vorbereitet, - während zwei weitere Kameraassistenten die Schienen für die Kamerafahrt legen, - während die Requisiteure das Tischarrangement für die nächste Szene drapieren, - während ein Schauspieler von der Maske für die nächste Szene präpariert wird, - während der Aufnahmeleiter mit seinem Assistenten die organisatorischen Vorkehrungen für den nächsten Dreh bespricht, - während der Regisseur sich zusammen mit seiner Assistentin am Videomonitor noch einmal das Ergebnis der letzten Einstellung anschaut, - während die Continuity die bisherigen Aufnahmen für die Entwicklung auflistet. Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 343 Schmitt_Deppermann_final. 4. Die Analysekonzepte ‘Fokusperson’ und ‘Orientierungslauf’ Wir werden nun nachfolgend die zwei Konzepte vorstellen, die für die Analysen der Transitionen einen zentralen Stellenwert besitzen. Es handelt sich um das Konzept ‘Fokusperson’ und ‘Orientierungslauf’. Beide sind stark aufeinander bezogen und reflektieren grundlegende Konstituenten des Interaktionsdokumentes, dessen Bestandteile die von uns untersuchten Transitionen sind. 4.1 Fokusperson 5 Der Regisseur ist organisationsstrukturell die zentrale Figur auf dem Filmset. Ihm also folgt, ihn fokussiert die Kamera und so begleiten wir ihn als analysierende Beobachter in den unterschiedlichen Situationen und Stadien seiner Arbeit auf dem Schauplatz. Der Regisseur ist - in unserer Begrifflichkeit - die ‘Fokusperson’ des Schauplatzes. Damit meinen wir den Umstand, dass der Regisseur für nahezu alle Setmitarbeiter die zentrale Bezugsperson ist. Von seinen Aktivitäten hängt sehr weitgehend die Strukturierung und Koordination der Arbeit der anderen Mitarbeiter ab. Dies gilt besonders für diejenigen, die ihm mittels Funktionsrolle direkt zugeordnet sind und ihre eigene Arbeit in Abhängigkeit von seinen Aktivitäten organisieren und koordinieren müssen. Die Setmitarbeiter koordinieren sich mit der Fokusperson primär auf der Grundlage regelmäßiger Monitoring-Aktivitäten, d.h. sie beobachten - bewusst oder nebenbei aus den Augenwinkeln heraus - was der Regisseur gerade tut, um die eigene Arbeit darauf abzustimmen. Solche kontinuierlichen Monitoring-Aktivitäten sind situativer Ausdruck der interaktionsvorgängigen Organisationsstrukturen, die den übergeordneten Status des Regisseurs für die arbeitsteilige Kooperation am Set festlegen (siehe Schmitt/ Deppermann 2007). Unser analytischer Zugang ist in zweierlei Weise durch den Regisseur als Fokusperson bedingt. Zum einen hören wir das akustische Geschehen quasi mit seinen Ohren, da er mit einem Mikrofon verkabelt ist und wir uns daher akustisch immer mit ihm bewegen. Zum anderen fokussiert ihn die Kamera permanent und rückt ihn in den Mittelpunkt. Wir folgen also dem visuell wahrnehmbaren Setgeschehen in einer durch seine räumliche und körperliche Präsenz relevanzgewichteten Weise. Sein Aufenthalt und seine Bewegung im Raum legen zum Großteil die Ausschnitte fest, die durch die Videokamera als Dokumente des Setgeschehens konstituiert werden. 5 Zur Rolle der Fokusperson und zur zentralen Bedeutung von Monitoring-Aktivitäten für die Koordination am Set siehe Schmitt/ Deppermann (2007). Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 344 Schmitt_Deppermann_final Mit einer solchen Aufnahmetechnik sind andere Konsequenzen verbunden als beispielsweise mit einer statischen Kamera mit stabiler Positionierung. Ein so dokumentiertes Ereignis weist eine primär räumliche Konstanz auf; Personen erscheinen nur dann, wenn sie sich innerhalb des gewählten Ausschnittes aufhalten. Eine solche Dokumentation ist zwangsläufig mit einer Fragmentierung der Aktivitätszusammenhänge verbunden, wenn es sich bei dem dokumentierten Ereignis nicht um ein lokal stabiles, sondern räumlich mobiles und dynamisches handelt, das durch die Kamera nicht vollständig erfasst werden kann. Bei der den Set-Aufnahmen zugrunde gelegten Dokumentationsentscheidung wird - in Reaktion auf die organisations- und interaktionsstrukturellen Konstituenten des Zusammenhanges - bewusst auf jegliche Form räumlicher Konstanz verzichtet. Die Kamera definiert vielmehr, indem sie der räumlichen und interaktiven Dynamik des Regisseurs folgt, zwangsläufig eine perspektivierte Sicht auf das Geschehen. Das Konzept der Fokusperson reagiert genau auf diese Konstitutionsspezifik und die besondere Qualität der Daten. Wir verstehen das Konzept ‘Fokusperson’ als Lösung des methodologischen Problems, nicht die gesamte Interaktionssituation „Filmset“ dokumentieren zu können, sondern in reflektierter und motivierter Weise eine bestimmte Perspektive auf dieses Gesamtereignis einnehmen zu müssen. Das Konzept reagiert auf die Notwendigkeit zur motivierten selektiven Aufnahme angesichts einer situativen Komplexität, die das Gesamtereignis grundsätzlich nur in perspektivierter Weise zugänglich macht. Mit dem Konzept wird die methodische Lösung in der sozialen Organisation des beobachteten Handlungsfelds selbst gesucht und verankert: Das Konzept ‘Fokusperson’ geht vom organisations- und damit interaktionsstrukturell herausgehoben Status des Regisseurs aus und nutzt diesen zur motivierten Entscheidung bezüglich der aufnahmetechnischen Ausrichtung des Interaktionsdokumentes und seiner Analysemöglichkeiten. Die Qualität des Regisseurs, Fokusperson des Sets zu sein, und in diesem besonderen Status auch durch die Kamera mitkonstituiert zu werden, hat auch für die Analyse der Transition von Interaktionsräumen unmittelbare Implikationen. In letzter Konsequenz führt dies dazu, die Transitionen primär aus Sicht einer Person zu rekonstruieren, indem man ihrer interaktiven Mikrobiografie in der dokumentierten Situation folgt. Die spezifische Form der Dokumentation der Zusammenarbeit am Set - fokussiert auf den Regisseur - ermöglicht und erzwingt, Transitionen auf eine Art zu untersuchen, die den mit der Videokamera als reflexivem Dokumentationsmedium verbundenen Implika- Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 345 Schmitt_Deppermann_final. tionen (den Regisseur zur Fokusperson zu machen) in besonderer Weise Rechnung trägt. 6 Es ist für unsere Analysen unabdingbar, diesen Zusammenhang explizit zu reflektieren und durch eine angemessene Gegenstandskonstitution und Konzeptentwicklung materialbezogen umzusetzen. Für unseren Beitrag bedeutet das: Wir untersuchen Transitionen auf der Grundlage der audiovisuellen Konzentration auf die zentrale Fokusperson des Handlungsfeldes. Wir sind damit primär und zwangsläufig mit ihrer Rolle, ihrer „Perspektive“, ihrem Verhalten, ihrer besonderen Beteiligungsweise und ihren Interpretationen des Transitionsgeschehens konfrontiert. Wir haben primär vermittelt über ihre Ausschnittbildungen und Relevanzsetzungen empirischen Zugang zu dem Gesamtgeschehen auf dem Filmset. Dieser Tatsache tragen wir mit dem Konzept ‘Orientierungslauf’ Rechnung. 4.2 Orientierungslauf Bei den folgenden Analysen begleiten wir den Regisseur (Özkan) während einer Drehpause ein Stück auf seinem Gang über den Schauplatz und lassen uns - was die Konstitution unseres Gegenstandes betrifft - von ihm leiten. Wenn wir den Gang des Regisseurs als ‘Orientierungslauf’ bezeichnen, dann ist damit mehr als nur ein Ad-hoc-Status des Begriffs impliziert. Mit ‘Orientierungslauf’ benennen wir, wie wir auf der Basis unserer empirischen Datengrundlage den Untersuchungsgegenstand konzeptualisieren. Das Konzept reflektiert sowohl wesentliche Relevanzen des Schauplatzes als organisationsstrukturelles Gebilde als auch methodologische Implikationen, die mit der Konstitutionsspezifik unseres Interaktionsdokumentes zusammenhängen. 4.2.1 Schauplatzrelevanzen und Konzeptimplikationen Hinsichtlich des Aspektes schauplatzspezifischer Relevanzen verweist ‘Orientierungslauf’ als verhaltensbezogenes Konzept zum Großteil auf die organisationsstrukturellen Grundlagen, die auch dem Konzept der Fokusperson zugrunde liegen. Es enthält zwei unterschiedliche Aspekte, die für die Funktionsrolle des Regisseurs wesentlich und charakteristisch sind. Zum einen benutzt der Regisseur die Zeit des Umbaus, um sich selbst über den Stand der Dinge an unterschiedlichen Orten des Schauplatzes zu orientieren. In diesem Verständnis orientiert sich der Regisseur in einer Phase, in der es für ihn nichts Konkretes zu tun gibt. Zum anderen orientiert der Regisseur gerade auch in 6 Ganz grundsätzlich reflektiert die konkrete Dokumentationspraxis - so sie denn nicht das Ergebnis einer Zufälligkeit ist - immer sehr weitgehend die spezifischen Relevanzen der Situation, die sie dokumentiert. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 346 Schmitt_Deppermann_final einer Phase, in der er seine Funktionsrolle nicht unmittelbar arbeitsbezogen ausagieren kann, die Set-Mitarbeiter auf sich. Dies wird besonders deutlich in den interaktiven Konstellationen, in denen er sich mit unterschiedlichen Mitarbeitern unterhält; das zeigt sich jedoch auch in der Reaktion von Mitarbeitern, mit denen er nicht spricht, die sich jedoch erkennbar auf ihn orientieren und auf seine Präsenz reagieren, wenn er in ihrer Nähe ist. 4.2.2 Methodologische Implikationen des Konzeptes Hinsichtlich der Spezifik unseres Interaktionsdokumentes reagiert das Konzept ‘Orientierungslauf’ auf die in 4.1 beschriebenen reflexiven Dokumentkonstituenten, die der Einsatz der Videokamera in Reaktion auf zentrale Schauplatzrelevanzen produziert hat. ‘Orientierungslauf’ ist in diesem Sinne ein personenbezogenes Konzept, mit dem der übergreifende Zusammenhang des Handelns eines Interaktionsbeteiligten in motivierter Weise für die konstitutionsanalytische Rekonstruktion aus der Gesamtheit der dokumentierten Ereignisse herauspräpariert wird. Das Konzept eröffnet eine Sicht auf die dokumentierte Interaktion aus der Perspektive eines Beteiligten und reflektiert, dass wir als Analytiker an dem Gesamtgeschehen nur unter den Bedingungen der mit dieser Sicht unweigerlich verknüpften Selektivität des Zugriffs auf den interaktiven Gesamtzusammenhang teilhaben: sei es in Form einer Auswahl von Interaktionsteilnehmern, der Selektion thematischer und pragmatischer Relevanzen oder der Relevantsetzung territorial geprägter Interaktionsräume etc. In diesem Verständnis orientiert der Regisseur natürlich auch uns als Analytiker auf die mit seinem Gang über den Schauplatz verbundenen Relevanzen. So findet hierdurch eine ursprünglich nicht intendierte Annäherung an die Perspektive eines der Interaktionsbeteiligten statt, der den Zugriff auf das Gesamtgeschehen durch seine Position und Bewegung im existierenden Handlungsrahmen selektiert, strukturiert und in seiner Relevanz gewichtet. In dieser Tatsache muss man keine ungewollte Beeinträchtigung sehen. Wir argumentieren durchaus - aus einer zunächst noch voranalytischen Position heraus - für die fallübergreifende Nützlichkeit personenbezogener Konzepte (wie ‘Fokusperson’ und ‘Orientierungslauf’) als Antwort auf die empirische Komplexität multimodaler, multiaktionaler, multipersonaler und praxeologisch strukturierter Situationen, für die räumliche Dynamik und Mobilität zwei ihrer wesentlichen Konstituenten sind. Für solche Interaktionsdokumente, mit denen wir es immer dann zu tun haben, wenn wir lokal nicht-stabile, dynamische Aktivitätszusammenhänge analysieren, stellen solche personenbezogene Konzeptualisierungen interaktiver Zusammenhänge eine Möglichkeit der methodisch kontrollierten Bearbeitung dar. Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 347 Schmitt_Deppermann_final. 5. Der relevante Kontext Die Transitionen, die wir nachfolgend als Teil des Orientierungslaufs des Regisseurs analysieren, stammen aus einem Ausschnitt, der das interaktive Geschehen zwischen zwei Drehs dokumentiert. Der Ausschnitt wird durch das Abschlusssignal des Regisseurs eröffnet, mit dem er die erste Probe offiziell beendet. Er endet mit dem Startsignal, mit dem er den nachfolgenden Dreh offiziell ankündigt. Zwischen diesen beiden Aktivitäten liegt ein Zeitraum von 6: 36 Minuten. Für die Analyse der Transitionen spielen diese Abschluss- und Eröffnungsmarkierungen eine wesentliche Rolle. Sie definieren die Phase zwischen den Drehs als äußeren Relevanzrahmen für unsere analytische Beschäftigung mit den dazwischen realisierten Transitionen. Innerhalb dieses Relevanzrahmens findet sich alles an interaktiven Bezügen, Orientierungen, thematischen Aspekten etc., was wir für die Rekonstruktion der Transitionen brauchen, ohne bei der Konstitutionsanalyse zu viel externes Wissen importieren zu müssen. Nach Beendigung des ersten Drehs entscheidet der Regisseur in Absprache mit seinem Kameramann, die Einstellung noch einmal zu drehen. Der neue Dreh wird vom Aufnahmeleiter mit den Worten wir machen NOCH eine (-) bitte alle auf anfang explizit angekündigt. Nach dieser Ankündigung kommt es zu einem kurzen Gespräch zwischen dem Kameramann und dem Regisseur, in dessen Verlauf der Kameramann darauf hinweist, dass er noch etwas Zeit für die Ausleuchtung brauchen wird: okay äh wir brauchen noch mal drei minuten wir ziehn die lampe ans fenster weiter rum. Nach dem Gespräch mit dem Kameramann verlässt der Regisseur den vorherigen Drehbereich am Tisch, wendet der Kameracrew, die mit den Vorbereitungen für den nächsten Dreh bereits begonnen hat, den Rücken zu und „wandert“ über das Set. Bei seinem Gang über den Schauplatz spricht er mit unterschiedlichen Setmitarbeiter(inne)n. Der Gang über den Schauplatz führt den Regisseur zunächst an einen Tisch, an dem zwei Komparsen sitzen, mit denen er sich kurz unterhält. Von dort aus orientiert er sich wieder in Richtung des Bereichs, in dem die nächste Probe stattfinden wird und von dem er gekommen war. Er macht dann kehrt und begibt sich zu einem anderen Tisch, an dem eine weitere Komparsin steht, und spricht mit ihr über ihre Rolle als Serviererin. Der Regisseur verlässt die Komparsin und geht wieder in Richtung des Tisches, an dem die nächste Szene gedreht werden wird, und an dem inzwischen der Kameramann Lichtmessungen vornimmt. Er fragt den Kameramann nach der Zeit, die noch für den Umbau gebraucht wird (= Transition 1). Von Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 348 Schmitt_Deppermann_final ihm aus orientiert er sich in Richtung Video-Monitor, der im hinteren Bereich des Raumes auf einem Tisch steht. Auf dem Weg dorthin wird er von Sven, seinem Aufnahmeleiter, angesprochen. Er geht darauf hin zu diesem und bespricht arbeitsorganisatorische Dinge mit ihm (= Transition 2). Schließlich verlässt er Sven und geht in Richtung Monitorraum, in dem auch Anne, seine Assistentin steht. Mit dieser unterhält er sich über die Kamerafahrt der zuvor gedrehten Szene (= Transition 3). Am Ende seines Ganges nimmt der Regisseur wieder seinen Platz in der Ecke auf der Bank ein, von der aus er schon den ersten Dreh verfolgt hatte, und wartet darauf, den Startschuss für den zweiten Dreh zu geben. Die Wiederaufnahme der neuen Aufnahme bildet den Schlusspunkt der Zwischenphase. Bild 1: Orientierungslauf des Regisseurs Erläuterung: Die Abbildung zeigt den Orientierungslauf des Regisseurs. Die weiße Linie zeigt den Beginn, der hier nicht analysiert wird; die Zahlen in den weißen Kreisen verweisen auf die einzelnen Stationen, an denen der Regisseur für eine gewisse Zeit verweilt und sich mit verschiedenen Personen un- Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 349 Schmitt_Deppermann_final. terhält (1 bis 5). Die schwarze, durchgezogene Linie stellt den Teil des Orientierungslaufs dar, den wir analytisch bearbeiten werden. Die grauen Kreise mit den Buchstaben (R = Regisseur, K = Kameramann, L = Aufnahmeleiter, A = Regieassistentin) verdeutlichen die personalen Konstellationen, die wir detailliert rekonstruieren werden. Diese Konstellationen sind zusätzlich durch Standbilder repräsentiert. 6. Transitionen im Orientierungslauf Wir werden drei aufeinander folgende Transitionen analysieren, die der Regisseur bei seinem Orientierungslauf initiiert und in die jeweils Vertreter(inne)n verschiedener Funktionsrollen involviert werden. Wir haben diese Dreiersequenz unter methodischen Gesichtspunkten ausgesucht, weil die einzelnen Interaktionen kontrastieren: hinsichtlich ihrer zeitlichen Erstreckung, ihrer Kernaktivitätsprägung, ihrer Modalität und Thematik, ihres Arbeitsbezugs und ihres Verhältnisses zur übergeordneten Aufgabe (dem Umbau als Vorbereitung für den nochmaligen Dreh der „Tischszene“). Und wir haben uns für diese einzelnen Interaktionskontakte entschieden, weil sie eine Sequenz bilden und wir damit untersuchen können, inwiefern für die Transition Aspekte vorgängiger Interaktionsräume für die nachfolgenden eine Rolle spielen. Wir beginnen unsere Analyse mit dem Ausschnitt des Orientierungslaufs, den der Regisseur zu seinem Kameramann führt. 6.1 Regisseur und Kameramann (Transition 1) Nach Beendigung der Unterhaltung mit der Komparsin kehrt der Regisseur wieder zu dem etwas höher gelegenen Tisch-Bereich zurück. Er muss dabei den gesamten Raum durchschreiten und ist insgesamt etwa acht Sekunden unterwegs. Die Kamera zeigt, dass dieser Gang des Regisseurs nicht unbemerkt bleibt. Sowohl ein Mitglied des Kamerateams als auch der Aufnahmeleiter nehmen die Be- Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 350 Schmitt_Deppermann_final wegung des Regisseurs in dem Moment wahr, als er sich von der Komparsin aus in die Raummitte hin orientiert. Beide blicken für einen kurzen Moment in seine Richtung. Nachdem er die beiden Stufen zum „Tischbereich“ genommen hat, geht er an Sven, dem Aufnahmeleiter, vorbei zu Martin, dem Kameramann. Dieser sitzt, ihm und der Dokumentationskamera mit dem Rücken zugewandt, an dem Tisch, an dem zuvor die Schauspieler gefilmt worden waren. Der Kameramann blickt konzentriert in Richtung des Fensters, an dem im Moment die Lampen für die Beleuchtung eingerichtet werden. Der Regisseur geht einen Schritt an dem sitzenden Kameramann vorbei, atmet hörbar ein, platziert sich dann neben ihm und fragt nach der Zeit, die die Kameracrew noch braucht (drei minuten sagtest du ne martin? ). Dabei berührt er den Kameramann mit der linken Hand am Rücken. 7 01 ÖZ: gut. 02 AR: LACHT (8) 03 ÖZ: ((atmet ein)) (---) 04 ÖZ: drei minuten sagtest du [ne mar]tin? okay (---) 05 MA: [ja ] Während des Ganges des Regisseurs finden sich noch keine Hinweise darauf, dass er Kontakt zum Kameramann sucht. Dieser ist durch seine Arbeiten absorbiert und hatte im Unterschied zum Aufnahmeleiter und dem Mitglied der Kameracrew auch nicht auf die Bewegung des Regisseurs reagiert. Geht man davon aus, dass der Regisseur bei seinem Orientierungslauf wahrnimmt, womit die für die Realisierung einer „next action“ relevanten potenziellen Partner gerade beschäftigt sind, kann man annehmen, dass er wahrgenommen hat, dass der Kameramann nicht auf eine Interaktion mit ihm vororientiert ist. Das Einatmen (Z. 03) ist die erste Aktivität, die der Regisseur in unmittelbarer Nähe des Kameramannes realisiert und die dieser auch akustisch wahrnehmen kann. Einatmen ist eine notwendige Vorbereitung für den Einsatz der Sprechwerkzeuge (vgl. Eckert/ Laver 1994) und in dieser Hinsicht zunächst einmal ein physiologisches, nicht-interaktives Phänomen, das außer in seiner grundsätzlichen Vorbereitungsqualität nicht weiter qualifiziert werden kann. Da es jedoch so platziert ist, dass der Kameramann es hören kann, bekommt es neben der für den Regisseur relevanten intrapersonell-koordinativen Funktion, das Sprechen vorzubereiten, zusätzliche interaktive Relevanz (siehe auch Schegloff 1996, S. 105; 2002b, S. 51). Sie besteht in seinem Potenzial, als semantisch leeres Prä-Element einen folgenden Turn zu projizieren. Als wech- 7 Die Transkripte folgen GAT (Selting et al. 1998). Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 351 Schmitt_Deppermann_final. selseitig wahrnehmbares Phänomen ermöglicht das Einatmen somit dem Produzenten wie dem Rezipienten als eine Art „summons“ (Schegloff 1968) die Vororientierung und Vorbereitung auf eine nachfolgende fokussierte Interaktion. Das Einatmen des Regisseurs markiert bezogen auf den Kameramann und dessen aktuelles, räumlich und pragmatisch definiertes Territorium so etwas wie eine interaktionsräumliche Schnittstelle, eine Initiative zur Eröffnung eines gemeinsamen Interaktionsraums. Der Regisseur setzt ein ganzes Bündel unterschiedlicher modaler Ressourcen ein, die projizieren, dass es sich bei der bevorstehenden Interaktion nur um einen kurzen, zeitlich befristeten Kontakt handelt, der vom Kameramann nur eine sehr reduzierte Beteiligung erfordert. Nachdem der Regisseur eingeatmet hatte, als er im Rücken des Kameramannes angelangt war, macht er einen Schritt an diesem vorbei und beugt dann seinen Oberkörper zu ihm und beginnt ihn anzusprechen. Wollte der Regisseur eine körperliche Interaktionsachse mit dem Kameramann etablieren (vgl. Kendon 1990: „f-formation“, siehe auch Mondada/ De Stefani in diesem Band) und damit die Grundlage für eine fokussierte, auf Expansion angelegte Interaktion schaffen, müsste er rechts um den Tisch herum gehen und sich dem Kameramann gegenüber positionieren. Dies würde die Voraussetzungen für wechselseitige visuelle Wahrnehmung schaffen. Der Regisseur tritt jedoch nicht in das Blickfeld des Kameramannes, sondern spricht ihn aus dem „Rückraum“ aus einer peripheren Position heraus an. Diese Side-by-Side- und Face-to-Back-Formation, die der Regisseur herstellt (der Kameramann trägt zu deren Etablierung nichts bei und er verändert auch nicht seine Position in Reaktion auf seine Ansprache durch den Regisseur), ist eine der modalen Ressourcen, um bereits durch die Anbahnung und Eröffnung der Interaktion diese als kurzzeitiges, nicht auf Expansion angelegtes Ereignis zu qualifizieren und dem Kameramann zu verdeutlichen. Neben dieser räumlich-positionalen Formation trägt auch die Wahl des verbalen Äußerungsformats (Deklarativsatzfrage: drei minuten sagtest du Martin) dazu bei, die relevanten Implikationen der vom Regisseur eröffneten Interaktion zu verdeutlichen: Participation framework: Die Deklarativsatzfrage ist eine Ratifikationsfrage. Sie etabliert eine Präferenz für die (knappe) Bestätigung einer Information, die der Regisseur explizit als Reformulierung einer zuvor vom Kameramann selbst gemachten Ansage ausweist. Damit wird eine konditionelle Relevanz mit einem spezifischen Charakter etabliert: Ein über die knappe Beantwortung der Frage hinausgehendes Engagement wird vom Kameramann nicht erwartet, die Intervention bleibt minimal. Eine thematische Entwicklung oder die Expansion des interaktiven Austauschs wird nicht projiziert. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 352 Schmitt_Deppermann_final Relevanz des interaktiv Vorgängigen: Die Frage des Regisseurs verdeutlicht durch das Zitatformat die Bedeutung, die ein vorgängiger Interaktionszusammenhang für die Interaktionsetablierung spielt. Dies wird zudem durch die elliptische Form der Äußerung verdeutlicht. Um den Bezug der Zeitangabe zu verstehen, muss man die entsprechende Proposition „es dauert drei Minuten, bis das Licht fertig ist“ aus der vorgängigen Interaktion hinzudenken. Zeitmanagement und Koordination: Die Frage verdeutlicht, dass der Regisseur in der Planung seiner weiteren Aktivitäten während der Drehpause vom Kameramann abhängig ist. Je nach Antwort des Kameramannes, dessen Arbeit erledigt sein muss, bevor es mit dem erneuten Dreh weitergeht, kann der Regisseur seine eigenen Aktivitäten organisieren. Es zeigt sich, dass sich lokal und in Abhängigkeit von der Arbeit bestimmter Funktionsrollen auch der Regisseur als zentrale Fokusperson an anderen Funktionsrollenträgern orientieren muss, um seine eigene Arbeit koordinieren zu können. Das Konzept ‘Fokusperson’ darf also nicht zu einseitig verstanden werden: Es besteht sowohl aus einer organisationsstrukturellen, funktionsrollendefinierten als auch aus einer dynamischen, interaktiven Komponente. Das Zusammenspiel beider macht erst die Relevanz des Konzeptes als Rekonstruktion der Orientierungen der Beteiligten aus. Die Hand auf dem Rücken des Kameramannes (Bild 2) ist ein weiteres multimodales Verfahren, das zur vorausgreifenden Qualifizierung der Interaktion beiträgt. Die Berührung ist kurz, nicht die gesamte Handfläche liegt auf dem Rücken auf, nur die leicht gespreizten Finger. Diese Berührung ist auch eine Art „haptisches Summons“: Der Regisseur benutzt diese Berührung, um den Kameramann - zusätzlich zur verbalen Ansprache, aber angesichts fehlenden Blickkontakts - noch in einer anderen Modalität auf die spezifische Interaktion mit ihm zu orientieren. Bild 2: Hand auf Rücken von Martin bei du ne Martin Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 353 Schmitt_Deppermann_final. Die Hand wird nicht auf der Schulter oder dem Oberarm des Kameramannes platziert, sondern relativ tief in dessen Rücken. Sie veranlasst den Kameramann weder zur Veränderung seiner aktuellen Körperpositur noch zur Aufnahme von Blickkontakt mit dem Regisseur. Sie verdeutlicht - mittels Platzierung und reduzierter Kontaktfläche - die Erwartungen des Regisseurs: Es ist ein Kontakt en passant, ein lokaler, zeitlich begrenzter und untergeordneter Zusammenhang, der den übergeordneten und prioritären Arbeitskontext (Einrichtung der Kamera für den folgenden Dreh) nicht beeinträchtigen soll. Der Kameramann reagiert in Übereinstimmung mit diesen Projektionen. Außer einer kurzen, bejahenden Antwort gibt es keinerlei Hinweise in seinem Verhalten, dass er seinen aktuellen Arbeitsfokus in Reaktion auf die Ansprache des Regisseurs verändert. Er blickt weiterhin in die Richtung, in der sich der aktuelle Umbau der Lampe vollzieht, und verdeutlicht durch die Konstanz von Blick und Körperpositur, dass er seinen eigenen Aufmerksamkeitsfokus aufrechterhält. Somit gestaltet er den interaktiven Kontakt mit dem Regisseur ebenfalls als peripheres Ereignis im Rahmen übergeordneter Relevanzen. Dass er seine Reaktion genau in die vom Regisseur etablierte Relevanzstruktur einpasst, ist Ausdruck der grundsätzlichen Reziprozität der gemeinsamen Interaktionskonstitution, die in der gemeinsamen Orientierung an dem übergeordneten ‘joint project’ gegründet ist. Der Regisseur reagiert mit einem knappen okay auf die Antwort des Kameramannes. Er beginnt sich bereits bei der Namensnennung wieder von ihm abzuwenden. Bei seinem abschließenden okay, mit dem er explizit die Bestätigung des Kameramannes ratifiziert, ist er bereits voll in der Abwendbewegung (Bild 3). Bild 3: okay Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 354 Schmitt_Deppermann_final Dies verweist auf die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Orientierungen von Interaktionsbeteiligten bei der multimodalen Organisation von Transitionen. 8 Beteiligte drücken koexistente, jedoch auf unterschiedliche Interaktionszusammenhänge bezogene Orientierungen durch den differenziellen Einsatz unterschiedlicher modaler Ressourcen aus. In unserem Fall sind das primär „Verbalität“ (Orientierung noch zum Kameramann) vs. „Körperpositur“ und „Körperorientierung“ (Orientierung auf die Auflösung der Interaktion und ggf. auf einen nächsten Handlungskomplex). In manchen Situationen mag eine solche Doppelorientierung für die anderen Beteiligten problematisch sein (im Sinne einer Relevanzrückstufung: „der andere ist nicht mehr richtig bei mir“), hier ist das nicht der Fall. Der interaktive Austausch wurde von Anfang an als kurzes, peripheres und in seiner Relevanz zurückgestuftes Ereignis projiziert, das relativ zu dieser Relevanz keine formale Beendigungsprozedur erfordert. Nach Abschluss der Äußerung hört man den Regisseur ausatmen. Das anfängliche Einatmen und das abschließende Ausatmen „rahmen“ den interaktiven Kontakt mit dem Kameramann. In Bezug auf die Transition von Interaktionsräumen markiert (u.a.) das Atmen die Grenzen des gemeinsamen Interaktionsraums des Regisseurs und des Kameramanns, es indiziert phonatorisch die Phasen der Anbahnung und der Auflösung. Die physiologische Notwendigkeit des Einatmens für die Lautproduktion wird also interaktional semantisiert: Das Einatmen wird zum Zeichen der Projektion der Turnproduktion und damit zu einer Initiative zur Aufnahme einer fokussierten Interaktion. Umgekehrt wird der physiologische Kausalzusammenhang, dass nach dem Ausatmen (also ohne zur Phonation verfügbare Atemluft) die Lautproduktion kaum mehr möglich ist, interaktional ebenfalls semantisiert: Ausatmen wird zum Zeichen dafür, dass ein Turn abgeschlossen ist bzw. (wie hier) im Kontext mit anderen Markierungen weitergehend zum Index für die Beendigung einer Interaktion. Zusammenfassung (Transition 1) Die folgende Zusammenfassung der Analyseergebnisse hat vor allem auch die Funktion, die weitere Analyse zu orientieren und den falltranszendierenden Gehalt der fallspezifischen Erkenntnisse zu formulieren. 1) Eintritts- und Austrittsmarkierungen sind Bestandteil der Transition. In unserem Falle wurden sie durch Ein- und Ausatmen realisiert. Hinsichtlich ihrer Platzierung bearbeiten sie primär die Probleme der intra- und interpersonellen Koordination (siehe Deppermann/ Schmitt 2007) sowie der 8 Deppermann/ Mondada/ Schmitt (demn.) sprechen von „divided recipient design“, wenn solche Doppelorientierungen im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Adressierung unterschiedlicher Beteiligten über eine längere Zeit aufrecht erhalten werden. Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 355 Schmitt_Deppermann_final. Vororientierung auf einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und dessen Auflösung. Der Regisseur setzt ein ganzes Bündel modaler Ressourcen und Mittel zur Herstellung der Interaktion ein (Atmung, Handberührung, Ansprache) und grenzt sie damit als eigenständiges Ereignis, ungeachtet der Kürze der fokussierten Interaktion, aus. Hier deutet sich ein möglicher Zusammenhang zwischen Kürze und Relevanz auf der einen und der Deutlichkeit der Markierung der Fokussiertheit und Eigenständigkeit der Interaktion auf der anderen Seite an. Dies zeigt, wie wichtig es ist, sich bei Eröffnungsaktivitäten und Eröffnungsanforderungen als Untersuchungsgegenstand nicht von Annahmen über vermutliche Aufgabenstrukturen, sondern einzig vom interaktiven Vollzug der Beteiligten und ihren manifesten Interpretations- und Definitionsleistungen leiten zu lassen. Nur so werden strukturelle Ähnlichkeiten zwischen interaktiven Phänomenen deutlich, die sich hinsichtlich ihrer Komplexität und Dauerhaftigkeit zunächst nicht für einen Vergleich anbieten. 2) Die Analyse hat verdeutlicht, dass bereits in der Anbahnung und Eröffnung die pragmatische Qualität der Interaktion projiziert wird. Hierfür war vor allem die Herstellung der Face-to-Back- und Side-by-Side-Formation verantwortlich. Eine solche Formation ist als Fundament für eine thematisch fokussierte, längerzeitige, auf einen Wechsel der Beteiligungsrollen und Initiativen ausgerichtete Interaktion nicht geeignet. Das Beispiel legt nahe, dass ein systematischer Zusammenhang existiert zwischen dem Einsatz spezifischer multimodaler Ressourcen bei der Transition und der Symbolisierung der interaktiven Qualität der damit vorbereiteten Interaktion. 6.2 Regisseur und Aufnahmeleiter (Transition 2) Wir folgen nun der weiteren Entwicklung des Interaktionsgeschehens. Im nächsten Beispiel lässt sich die Frage, wo eigentlich die Transition anfängt, nicht so leicht beantworten, da wir es mit Strukturen zu tun haben, die hinsichtlich ihres eine Transition konstituierenden Status uneindeutig sind. Der Ausschnitt hat außerdem einen weiter ausgebildeten thematisch-pragmatischen Kernbereich, der nicht in Gänze analysiert werden kann. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 356 Schmitt_Deppermann_final Dies führt zur Frage, wie viel von der Gesamtstruktur einer Interaktion man rekonstruieren muss, um die Prozesse der Transition von Interaktionen hinreichend vollständig behandeln zu können. Nachdem der Regisseur sich von seinem Kameramann abgewendet hat, orientiert er sich zum hinteren Bereich des Raumes, wo ein Videomonitor links auf einem Tisch steht. Dieser Monitor ermöglicht es, die gedrehten Einstellungen aus der Sicht des Zuschauers zu verfolgen. Der Regisseur kommt jedoch nicht beim Monitor an, da ihn die Äußerung nur noch zwei des Aufnahmeleiters (Sven) zurückhält, an dem er, kurz bevor er den Kameramann angesprochen hatte, vorbeigegangen war. 06 SV: <<p> nur noch zwei.> 07 ÖZ: (---) LACHT (---) 08 ÖZ: is gut . 09 (3) Svens Turn bezieht sich auf das Gespräch zwischen Regisseur und Kameramann. Er führt das Thema „Zeitbudget“ fort. Dieser war mit der Ankündigung des Kameramannes etabliert und wurde mit der Nachfrage des Regisseurs aufgegriffen. Sven nennt nun in elliptischer Form die Anzahl der Minuten, die die Kameracrew noch für den Umbau braucht. Die Ellipse ist gegenüber der ebenfalls elliptischen Bezugsäußerung des Regisseures noch drei minuten weiter (um das Nomen) reduziert. Sven zeigt mit seiner Turngestaltung, dass er das Gespräch zwischen Kameramann und Regisseur als ‘by-stander’ verfolgt hat und dass er die sprachlichen und thematischen Inhalte der vorangegangenen Interaktion auch für den Regisseur latent noch als verfügbar erachtet, so dass lediglich die neue, gegenüber diesem vorangegangenen Interaktionsstand veränderte Information (noch zwei statt drei Minuten) versprachlicht werden muss (vgl. Auer 2006). Die Turngestaltung ist somit Ausdruck der kontinuierlich erfolgenden, auf den Regisseur als Fokusperson bezogenen Monitoring- Aktivitäten und der Orientierung an seiner Perspektive auf das übergeordnete ‘joint project’. Nur im Rahmen dieser Perspektive ist der Aspekt ‘Zeitbudget’ und der von Sven eingeleitete Countdown von Bedeutung. Der Aufnahmeleiter, der während des Umbaus darauf wartet, wieder aktiv werden zu können, bringt sich mit diesem Turn gegenüber dem Regisseur selbst ins Spiel und demonstriert mit ihm (gerade auch durch seine Anbindung an die zurückliegende Interaktion mit dem Kameramann) Aufmerksamkeit, Konzentration und ‘availability’: Sollte der Regisseur etwas von ihm wollen, so würde er in der aktuellen Situation zur Verfügung stehen. Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 357 Schmitt_Deppermann_final. Obwohl er auf den Videomonitor orientiert ist, reagiert der Regisseur auf den relativ leise gesprochenen Hinweis des Aufnahmeleiters. Dies deutet darauf hin, dass er mit erhöhter Wachsamkeit und Konzentration unterwegs ist und seine „Antennen“ überall hat, von wo eine potenzielle Ansprache erwartbar ist. Dies ist eine der funktionalen Implikationen des Konzepts ‘Orientierungslauf’. Der Regisseur wendet auf die Äußerung Svens, die in seinem Rücken gesprochen wird, zunächst den Kopf nach rechts und blickt direkt in die Aufnahmekamera, hinter der sich Sven im Moment gerade befindet (Bild 4). Abb. 4: zwei Abb. 5 Bild 4: zwei Bild 5 Dann wendet der Regisseur seinen Kopf nach links, beginnt zu lachen, hält in seinem Lauf inne und dreht seinen Körper insgesamt nach links, wobei er weiterhin lacht (Bild 5). Anschließend reagiert er nun auch verbal auf Svens Äußerung mit noch leicht lachenden Ansatz: is gut. (Bild 6). Abb. 6: is gut Bild 6: is gut Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 358 Schmitt_Deppermann_final Es folgt eine Pause von drei Sekunden Dauer. Özkans verbale Reaktion weist keine Projektionen auf, die sie als Beginn einer Interaktion mit Sven ausweisen würden. Is gut hat vielmehr auf Grund seines zustimmenden Kommentarformats eher Abschlusscharakter. Nach seiner verbalen Reaktion verändern sich Gesichtsausdruck, Körperpositur und körperliche Ausrichtung des Regisseurs: Er dreht sich um die eigene Achse nach links, lacht und schaut dabei Sven kurz an. Dann dreht er den Oberkörper etwas nach rechts ein und es hat den Anschein, als wolle er sich wieder in Richtung Videomonitor auf den Weg machen. Gleichzeitig hebt er leicht den Kopf und löst den Blickkontakt mit Sven auf. Sein Blick ist nun auf einen imaginären Punkt irgendwo in der Ferne gerichtet (nicht ‘available’), er dreht zunächst die Schultern, dann den Oberkörper etwas nach rechts und schließt gleichzeitig den Mund, wobei sein Blick unverändert in die Ferne schweift. Als sein Mund geschlossen ist, beginnt er seinen Oberkörper ganz leicht nach vorne zu verschieben und dreht sich etwas nach links in Richtung Sven, der unverändert etwa 1,5 Meter von ihm entfernt an den Stufen der Treppe steht (Bild 7-10). Bild: 7-10 Özkan senkt den Kopf, richtet den Blick nach unten, schließt für einen kurzen Moment die Augen und beginnt sich mit vorgebeugtem Oberkörper in Richtung Sven in Bewegung zu setzen, wobei er deutlich hörbar und tief einatmet. Kognitive Vorgänge sind zwar nicht unmittelbar empirisch zu beobachten (vgl. Drew 2005; Deppermann/ Schmitt 2008), als kulturell geprägte Ausdrucksform dokumentiert dieser körperliche Verhaltensablauf jedoch, dass sich der Regisseur nach einem Moment des Innehaltens und Nachdenkens dazu entschließt, die Interaktion mit Sven wieder aufzunehmen, diesmal aber in einer anderen Interaktionsmodalität als der lachenden zuvor. Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 359 Schmitt_Deppermann_final. Gehen als „situated practice“ (Goodwin 1997, 2003) Diese Neuorientierung des Regisseurs scheint das Ergebnis des vorangehenden, sich in der Pause von drei Sekunden 9 vollziehenden Nachdenkens zu sein. Betrachtet man den sich daran anschließenden Gang des Regisseurs zu seinem Aufnahmeleiter, so wird wie schon bei der Interaktion des Regisseurs mit seinem Kameramann (siehe 6.1) deutlich, dass das körperliche Verhalten die projizierte Interaktion in relevanten Aspekten vorab qualifiziert. Man kann hier von einer ‘vorgreifenden Verkörperung relevanter Qualitäten der sich anbahnenden Interaktion’, also einer projektiven, situierten Praxis sprechen. Nachdem der Regisseur losgegangen ist, blickt er in Richtung Sven und beginnt diesen noch aus der Distanz namentlich mit Sven zu adressieren. Dass er ihn überhaupt adressiert, ist angesichts des bereits stattgefundenen Austauschs bemerkenswert. Namentliche Adressierungen in turninitialer Position sind ein konstitutives Strukturelement von Situationseröffnungen, denn sie sind Mittel der Kontaktaufnahme („summons“ im Sinne von Schegloff 1968) par excellence. Abgesehen davon dienen sie der Sicherung der Aufmerksamkeit des Adressaten und der Relevanzmarkierung (vgl. Schwitalla 1995; Hartung 2001). Die Adressierung als solche und die Tatsache, dass sie aus der Distanz heraus erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem der Regisseur noch nicht beim Aufnahmeleiter angekommen ist, erweckt den Eindruck von Dringlichkeit: Die Interaktion wird bereits projiziert, als der adäquate Interaktionsraum noch nicht etabliert ist. 10 Dringlichkeit wird auch durch den zielführenden, dynamischen und versammelten Gang des Regisseurs kontextualisiert. Der Regisseur kommt unmittelbar vor Sven zum Stehen, Gesicht an Gesicht und in so unmittelbarer körperlicher Reichweite, dass zur Gestikulation nur der Bereich neben dem eigenen Körper zur Verfügung steht (Bild 11, 12). Diese Positionierung in einer Face-to-Face-Formation, bei der die gängige räumliche Distanz zwischen zwei stehend miteinander Sprechenden erkennbar unterschritten wird, symbolisiert Dringlichkeit, Relevanz, Ernsthaftigkeit und projiziert zudem eine gewisse Dauer der Interaktion. Özkan schafft so einen intimen Interaktionsraum, der mögliche ‘overhearers’ ausschließt. 9 Die Bedeutung von Vorgängen in Pausen für die Konstitution der interaktiven Ordnungsstrukturen wurde bislang eher vernachlässigt. Im Lichte systematischer Videoanalysen wird jedoch die Bedeutung solcher Interaktionsphasen, in denen die Beteiligten auf verbalen Ausdruck verzichten, zunehmend deutlich; vgl. etwa Schmitt (2004). 10 Zur Herrichtung des für bestimmte interaktive Zwecke adäquaten Interaktionsraumes siehe Mondada (2007). Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 360 Schmitt_Deppermann_final Bild 11 Bild 12 Thematisch-pragmatische Strukturen Die anschließende Interaktion zwischen Regisseur und Aufnahmeleiter besteht in einer ‘multi-unit turn’ von Özkan, bei der Sven nur als rückmeldender Adressat aktiv wird. Die Interaktionsmodalität ist durch Ernsthaftigkeit gekennzeichnet: Sven soll in Probesituationen für etwas mehr Ruhe sorgen. 10 ÖZ: Sven (--) s wär WUNderbar 11 ÖZ: <<all> [wenn] du in so en probensituationen- 12 SV: [mhm.] 13 ÖZ: weil ich denk da nich mehr dran weil ich hör das nich Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 361 Schmitt_Deppermann_final. 14 ÖZ: [weil] ich sehr konzentriert bin aber-> 15 SV: [mhm.] 16 ÖZ: in pro bensituationen oder wenn wir so was sind 17 ÖZ: dass du zwischendurch vielleicht mal ansagen 18 ÖZ: kannst dass hier wirklich die ruhe BLEIben soll 19 ÖZ: weißt du 20 SV: mach ich (-) Der Beitrag des Regisseurs ist durch Reformulierungen (Z. 16), Begründungen (die Parenthese in Z. 13-14) und Modalisierungen (sehr, Z.14; vielleicht mal, Z. 17; wirklich, Z. 18) geprägt, was auf eine gewisse Problemhaftigkeit seiner Aufforderung hinweist. 11 Das Augment weißt du hat Appellcharakter und deutet noch einmal auf die vertrauliche Qualität der Unterredung hin. Özkan formuliert den gesamten Turn nach der namentlichen Adressierung, also den inhaltlichen Teil, ohne eine einzige turninterne Pause. Die Äußerungsvollendung wird durch die oben genannten Verfahren verzögert, der thematische Aufschub geht jedoch mit zügigem Sprechtempo einher. Die parenthetische Struktur (siehe Mazeland 2007), die durch die eingeschobenen weil-Begründungen entsteht, schiebt die Realisierung der projizierten Aufforderung auf und ist äußerungsstruktureller Ausdruck der bearbeiteten Problemhaftigkeit. Funktional kann sie als Angebot an den Rezipienten verstanden werden, mit einem eigenen Angebot der projizierten Aufforderung zuvor zu kommen. Das Fehlen jeglicher Hinweise auf Formulierungsschwierigkeiten (Wortsuche, 11 Interaktionsbeteiligte formulieren heikle, unangenehme und kritische Sachverhalte in der Regel nicht glatt und zielstrebig. Vielmehr zeichnen sich solche Äußerungen formulierungsdynamisch durch Verzögerungen, Pausen, Äußerungsmodalisierungen, Wortsuche, Reformulierungen, Konstruktionsabbrüche, Retraktionen etc. aus, die die Vollendung der Äußerung hinausschieben. Dies sind Merkmale von „dispreferred turn-shapes“, wie sie Pomerantz (1984) für Zurückweisungen von Bewertungen beschrieben hat. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 362 Schmitt_Deppermann_final Anakoluthe oder gefüllte Pausen) macht deutlich: Es ist nicht der Vorgang des Formulierens, der problematisch ist, es sind die Inhalte, über die gesprochen wird. Auflösung des Interaktionsraums Der Regisseur beendet die Interaktion mit einer über drei Etappen ausgebauten Danksagung. 21 ÖZ: das wär topp [das wär] super . ja ? 22 SV: [okay; ] 23 ÖZ: dank dir . 24 SV: <<p>gut.> 25 ÖZ: (---) ((räuspert sich)) (--) Zunächst formuliert er mit das wär topp eine positive Bewertung der Folgen von Svens Zustimmung, zukünftig für Ruhe zu sorgen. Dieser evaluative Zug wird im unmittelbaren Anschluss wiederholt, wobei topp durch super. ersetzt wird. Beide Realisierungen sind konjunktivisch formuliert, was den antizipatorischen Charakter der Bewertungen hervorhebt. Die sinkende Intonation bei der zweiten Realisierung (super.) projiziert bereits die Beendigung des Redebeitrags und besitzt zusammen mit der inhaltlichen Wiederholung das Potenzial, die Beendigung der gesamten Interaktion zu eröffnen (vgl. Schegloff/ Sacks 1973). Sven ratifiziert zum frühest möglichen Zeitpunkt (Z. 22) und markiert damit, dass der Punkt abgeschlossen werden kann. Auch hier macht der Regisseur mehr, als unter den Bedingungen reiner Arbeitsorganisation notwendig wäre. 12 Özkan „spornt“ Sven mit dem nachfolgenden Rückversicherungspartikel ja? nochmals zur Realisierung seines „Versprechens“ an und er bedankt sich zum Abschluss explizit (dank dir.), was Sven leise mit gut ratifiziert. Betrachtet man die Beendigung der Interaktion aus multimodaler Perspektive, zeigt sich ein komplexeres Bild, als das Transkript vermittelt. Nimmt man die verschiedenen multimodalen Praktiken in den Blick, die an der Realisierung der Beendigung der Interaktion und der Auflösung des Interaktionsraumes beteiligt sind, so wird eine Drei-Phasen-Struktur von Abschluss, Abwendung und Austritt deutlich. 12 Auf den Punkt, dass es sich jedoch nicht um eine Frage „reiner Arbeitsorganisation“ handelt, kommen wir gleich noch einmal zurück. Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 363 Schmitt_Deppermann_final. Abschluss(organisation) Der Interaktionsabschluss wird vom Regisseur vor allem sprachlich initiiert (Dank). Dabei ist der Regisseur körperlich noch deutlich auf den Aufnahmeleiter orientiert. Er steht weiterhin nahe und direkt vor dem Aufnahmeleiter. Abwendung Bei der Abwendung spielt Verbalität keine Rolle mehr. Dafür werden Blick (Blickabwendung), Gestikulation (in Form einer abschließenden Berührung, ähnlich wie zuvor im Gespräch mit der Komparsin), Kopfbewegung (Abwendung) und vor allem die Veränderung der Körperpositur (indem er sich wegdreht und dem anderen den Rücken zukehrt) für die Auflösung der auf den anderen bezogenen Orientierung eingesetzt. Dazu kommt die Bewegung, die zur räumlichen Distanz (weg vom anderen) führt, im Unterschied zur vorangegangenen Statik (Verweilen an einem Fleck). Austritt Der Austritt weist keine manifeste eigene zeitliche Erstreckung auf, sondern wird (wie bei der vorangegangenen Transition) durch ein kurzes, lokal spezifisches, punktuelles Verhalten realisiert, nämlich vokal durch ein Räuspern. Es ist eine Zäsurmarkierung, die an niemanden speziell adressiert ist. Es ist zwar in der Umgebung hörbar, dient jedoch eher der Selbstorganisation des Regisseurs. Gleichwohl ist es das erste vokale, akustisch wahrnehmbare Signal, das sich - vor allem aufgrund der inzwischen etablierten räumlichen Distanz zu Sven - in keiner Weise mehr auf den früheren Interaktionsraum beziehen lässt. Wie in einigen anderen von uns untersuchten Fällen sind hier Ausatmen und Räuspern wichtige Markierungen für die Abgrenzung des Austritts aus dem vorangehenden Interaktionsraum und der Annäherung in Bezug auf einen zeitlich und räumlich unmittelbar folgenden, erst noch zu etablierenden Interaktionsraum. Diese Auflösung des Interaktionsraumes, den Özkan gemeinsam mit Sven, seinem Aufnahmeleiter, konstituiert hatte, wird primär - analog zu seiner einseitigen Eröffnungsinitiative - von Özkan geleistet. Zusammenfassung (Transition 2) Die Analyse des zweiten Beispiels bestätigt weitgehend die Befunde der ersten Analyse. Darüber hinaus wird die Transition aufgrund der größeren Komplexität des thematisch-pragmatischen Kerns der Interaktion aufwändiger gestaltet. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 364 Schmitt_Deppermann_final 1) Wie bei der ersten Transition zeigen sich klare Grenzmarkierungen beim Übergang vom zuvor etablierten zum projizierten nächsten Interaktionsraum (hier: eröffnende namentliche Adressierung und abschließendes Räuspern). 2) Auch im zweiten Beispiel zeigte sich, dass die Art des Gehens die zu realisierende Interaktion hinsichtlich wesentlicher Aspekte bereits in der Phase der Annäherung qualifiziert (hier: Ernsthaftigkeit, Dringlichkeit). 3) Auch in der zweiten Transition gibt es nicht nur einen systematischen Zusammenhang zwischen den Strukturkomponenten 1) Anbahnung und Eröffnung sowie 2) der fokussierten Interaktion, sondern auch zwischen der fokussierten Interaktion und 3) der sprachlich-interaktiven Realisierung der Auflösung (hier: Bekräftigung der Relevanz des behandelten Themas durch explizite verbale Vorbeendigung und Beendigung der Interaktion durch den Regisseur). 4) In der zweiten Transition zeigt sich - im Kontrast zum ersten Fall - eine komplexere und hinsichtlich der eingesetzten Ressourcen ausdifferenzierte Phase der Auflösung (Verbalität als Mittel des thematischen Abschlusses, Körperbewegungen und Vokalität zur Auflösung des Interaktionsraumes und zum Austritt). 6.3 Regisseur und Assistentin (Transition 3) Austritt und Anbahnung Das Räuspern des Regisseurs markiert vokal einen raumzeitliches Moment des „Dazwischen- Seins“: Der Regisseur ist aus dem mit dem Aufnahmeleiter konstituierten Interaktionsraum herausgetreten, er ist aber noch nicht in eine andere Interaktionssituation eingetreten. Das Räuspern zeigt seine ‘availability’ an: Die mit dem vorigen Interaktionsraum verbundenen Zugangs- und ‘availability’- Restriktionen sind aufgehoben, der Regisseur steht nun wieder für die Interaktion mit anderen Setmitarbeitern zur Verfügung. Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 365 Schmitt_Deppermann_final. Ansprache des Regisseurs durch die Assistentin Der Regisseur nähert sich weiter dem Video-Monitor, der - von der Kamera aus betrachtet - links neben und hinter Anna, seiner Assistentin, platziert ist. Als er noch etwa zwei Schritte von ihr entfernt ist, wendet er seinen Kopf für einen kurzen Moment zu Anna. Diese spricht ihn - während er seinen Kopf bereits wieder nach links in Richtung Monitor wendet - mit den Worten (EIne minute noch für LICHT.) an. 25 ÖZ: (---) ((räuspert sich)) (--) 26 AS: EIne minute noch für LICHT. 27 ÖZ: mHM. 28 (2.4) 29 ÖZ: wie=war=s von der FAHRT? 30 AS: (0.8) sah GUT aus. 31 ÖZ: ja? 32 AS: sah SEHR gut aus. 33 ÖZ: oKAY (---) 34 NN: hn hn 35 NN: die die (ANabell) hat ne gute 36 NN: [AUfnahme gemacht. ne] 37 AS: [s=is alles so: ]im richtigen moment [auch- 38 ÖZ: [mhm 39 ÖZ: mhm 40 AS: passt [alles] 41 ÖZ: [sehr schö[n 42 AS: [es kommt auch alles HIN. (--) 43 AK: auch mit Arsu kommt=s genau hin ne. 44 ÖZ: SEHR <schön>.<sehr kurz>(-) 45 ÖZ: he he (-) 46 ÖZ: da is die noch einmal- (0.4) fett durch=en BILD 47 ÖZ: (-)fett durch=s bild geLAUFen. Nh? Zwischen der Annäherung und der Kopfwendung des Regisseurs und Annas Hinweis auf die Minute, die noch für das Licht gebraucht wird, besteht eine unmittelbare sequenzielle Beziehung: Anna reagiert mit ihrer Äußerung auf die Kopfbewegung des Regisseurs. Eine solche Interpretation setzt voraus, dass sie den Regisseur beobachtet, um diese kurze Bewegung des Kopfes überhaupt wahrzunehmen, sie als interaktiv relevantes Verhalten zu interpretieren und in Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 366 Schmitt_Deppermann_final einer - aus ihrer Sicht angemessenen Weise - daraufhin antizipatorisch die Initiative zu ergreifen, ihm eine vermutlich für ihn relevante Information zu liefern (siehe dazu Deppermann/ Schmitt i.Vorb.). Diese Reaktion und ihre Monitoring-Voraussetzungen zeigen, welche Relevanz der Orientierungslauf der Fokusperson für bestimmte Setmitarbeiter hat: So wie sich der Aufnahmeleiter ‘available’ macht (zunächst durch seine räumliche Positionierung entlang des Laufweges des Regisseurs, dann mit seinem Hinweis <<p> nur noch zwei.>), so produziert die Annäherung des Regisseurs, verbunden mit der kurzen Kopfbewegung, die Reaktion der Assistentin. Diese zeigt auch dadurch, dass sie das Thema „Zeit“ aus den beiden vorgängigen Kontaktsituationen des Regisseurs fortführt, ‘availability’, Aufmerksamkeit und Informiertheit. Wie bei der Interaktion zwischen Regisseur und Aufnahmeleiter wird der verbale Austausch bereits eröffnet, bevor ein adäquater Interaktionsraum durch die räumliche Nähe der Beteiligten hergestellt ist. Hier ist es aber nicht der Regisseur, der den verbalen Austausch eröffnet, sondern seine Assistentin. Im Kontext der aktuellen Situation, in der die Filmkamera für den nächsten Schuss vorbereitet wird, ist der Hinweis, dass für die Prüfung der Lichtverhältnisse noch etwas Zeit benötigt wird, eine relevante Information. Zeitmanagement ist am Set eines der zentralen Probleme und zudem Bestandteil des Zuständigkeitsbereichs der Regieassistentin. Wir sehen hier die Orientierung aller Beteiligten an einem ‘joint project’ in der Kontinuität der thematischen Relevanz „Zeit“, die in den unterschiedlichen Interaktionsräumen von verschiedenen Teilnehmern behandelt wird: Im ersten Fall war es der Regisseur, dann der Aufnahmeleiter, nun die Regieassistentin. Orientierung auf den Video-Monitor (Özkan) Özkan reagiert auf Annas Äußerung mit einem unspezifisch zur Kenntnis nehmenden mHM. (Z. 27). Während der Regisseur verbal auf seine Assistentin reagiert, ist er körperlich eindeutig nicht auf sie ausgerichtet. Seine Doppelorientierung verdeutlicht er mit verschiedenen Modalitäten: Verbal zeigt er seine Orientierung auf seine Assistentin, seine Körperhaltung richtet sich dagegen auf den Videomonitor. Er blickt links an Anna vorbei in Richtung Monitor, sein Oberkörper, sein Kopf und Blick (erschlossen) sind auf den Monitor ausgerichtet (Bild 13). Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 367 Schmitt_Deppermann_final. Bild 13: Özkans Doppelorientierung Özkan tritt nicht in eine Interaktionsachse mit Anna ein. Seine aktuellen Relevanzen beziehen sich auf den Videomonitor; es gibt von ihm aus keinerlei Projektion für einen weiteren interaktiven Austausch mit Anna. Bereits seine Annäherung an den Nebenraum, d.h. die Art und Weise seines Gangs, signalisierte, dass er mit Anna kein für die Organisation des Arbeitsplatzes relevantes Gespräch führen wird. Während er zielgerichtet, mit festen Schritten, auf Sven zuging und ihn bereits während der Annäherung verbal adressierte, sieht sein Gang in Richtung Monitor ganz anders aus: Er geht etwas breitbeinig, sein Körper schwingt nach links und rechts, beide Arme hängen baumelnd zur Seite am Körper herunter. Die fehlende Körperspannung lässt keine pragmatische Fokussierung erkennen, und er beginnt auch von sich aus keine verbale Interaktion. Özkan verdeutlicht, dass er sich einem Objekt, nicht aber einem potenziellen oder gar bereits ausgewählten Interaktionspartner nähert. Auch hier zeigt sich Gehen wiederum als situierte Praktik, die ein projektives und qualifizierendes Potenzial für relevante Aspekte der zukünftigen Interaktion verkörpert. Thematisch-pragmatische Entwicklung der Interaktion Während ihrer eigenen Äußerung und auch während der Rückmeldung des Regisseurs blickt Anna geradeaus, links an ihm vorbei in den Raum hinein, in dem sich der Umbau für die nächste Szene vollzieht. Auch ihr Körper ist auf diesen Raum ausgerichtet: Sie steht, die linke Hand in ihrer Gesäßtasche, die Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 368 Schmitt_Deppermann_final rechte an der rechten Halsseite und (dadurch) mit geöffnetem Oberkörper, auf ihrem linken Bein als Standbein ruhend (Bild 14). Beide Akteure behalten ihre Körperposituren während der folgenden 2,4-sekündigen Gesprächspause weitgehend bei. Kurz bevor Özkan danach zu sprechen beginnt (Z. 29), löst er zunächst seine Unterkörperorientierung auf den Monitor auf: Er wechselt das Standbein von links nach rechts und schwenkt dadurch mehr auf eine frontalere Formation mit Anna ein. Nach Abschluss seiner Frage wie war=s von der FAHRT? (Z. 29) wendet er auch seinen Oberkörper und seinen Kopf Anna zu. Beide befinden sich jetzt in einer - wenn auch losen - Face-to-Face-Konstellation (Bild 15). Bei der Veränderung der Grundkonstellation von einer verschobenen Face-to- Face-Konstellation hin zu einer tatsächlichen, in der beide Körper erkennbar aufeinander bezogen und in einer Interaktionsachse ausgerichtet sind, behalten beide ihre Körperpositur weiterhin aufrecht: Anna hat ihre linke Hand immer noch in der Gesäßtasche, die rechte an ihrem Hals; Özkan steht immer noch mit zu beiden Seiten herunterhängenden Armen vor ihr. Bild 15: von „diagonaler“ zu „loser“ Face-to-Face-Konstellation Özkans Frage nach der Qualität der Fahrt reagiert darauf, dass er selbst auf dem Videomonitor nichts erkennen kann, da einer der Kameraassistenten direkt vor dem Gerät mit der Einrichtung der Optik für die Kamera beschäftigt ist, wodurch der Monitor verdeckt ist. Obwohl Özkan nach Arbeitsplatzbelangen fragt, ist deren Relevanz für die Organisation der gemeinsamen Arbeit Bild 14 Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 369 Schmitt_Deppermann_final. deutlich herabgestuft. Die Antwort der Assistentin hat keinerlei Auswirkungen auf die bereits gefällte Entscheidung, dass die Fahrt noch einmal gedreht werden soll. Insofern elizitiert die Frage des Regisseurs hier eher Annas persönliche Meinung und nicht eine Einschätzung der Assistentin als professionelle Entscheidungsgrundlage. Diese Form des arbeitsbezogenen Redens unterscheidet sich also grundsätzlich von dem „ernsthaften“, auf Konsequenzen abzielenden Gespräch, das der Regisseur zuvor mit dem Aufnahmeleiter geführt hat. Dies zeigt sich auch in der thematischen Struktur des Kerns des Gesprächs (den wir hier nicht analysieren), der aus einer mehrfachen Thematisierung der „Kamerafahrt“ und deren positiver Bewertung besteht. An keiner Stelle ist dieses Thema entweder auf Expansion oder die Entwicklung auf Entscheidungsrelevanz angelegt. Auflösung 48 (2.4) 49 AS: sieht GUT aus 50 AS: [wir müssen uns] nur bisschen beEIlen. 51 ÖZ: [sehr schön ] 52 AS: [das is ALLe[s 53 ÖZ: [JA [JA? 54 (0.9) 55 ÖZ: Okay. 56 ÖZ: FARdi is DA: : ? 57 (0.4) Anna beendet das Thema „Kamerafahrt“ mit der erneuten positiven Evaluation sieht GUT aus. (Z. 49). Diese Positivbewertung bezieht sich als allgemeine Aussage auf die Kamerafahrt. Anna wiederholt damit bis auf eine kleine Variation ihre erste Reaktion auf Özkans Frage zu Beginn ihres Gesprächs. Dort hatte sie mit sah GUT aus. (Präteritum) geantwortet, hier beendet sie die Pause mit sieht GUT aus. (Präsens). Durch das Zitat ihrer ersten inhaltlichen Reaktion auf die Frage des Regisseurs nach der Kamerafahrt wird dieses Thema evaluativ geklammert und durch diese Klammer als von ihr aus abzuschließend behandelt. Bei dieser Themenbeendigung (vgl. Maynard 1980; Drew/ Holt 1998) wiederholt sich ein Aspekt ihrer Eröffnung: Annas Äußerung reagiert auf ein körperliches Verhalten des Regisseurs, so wie sie zu Beginn mit einer Äußerung auf seine Kopfbewegung reagiert hatte. Der Regisseur beginnt Dehnungsübungen Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 370 Schmitt_Deppermann_final zu machen: Er bringt dazu beide Hände hinter seinen Rücken und verschränkt diese im unteren Rückenbereich und beugt dann seinen Oberkörper in einer deutlichen Bewegung nach rechts unten (Bild 16). Bild 16: Özkans Dehnübung Bild 17: Annas Blick nach unten Annas Äußerung sieht GUT aus (Z. 49) erfolgt unmittelbar, nachdem Özkan mit seiner Dehnbewegung begonnen hat. Gleichzeitig beginnt sie ihre Körperpositur grundsätzlich zu verändern: Sie löst ihre rechte Hand vom Ansatz ihres T-Shirts, die sie dort fast die ganze Zeit über platziert hatte, und dreht ihren Körper etwas nach rechts aus der Diagonalen mit dem Körper des Regisseurs heraus. Zu diesem Zeitpunkt hat sie ihre Äußerung gerade beendet, und der Regisseur ist nach seiner Dehnung nach rechts wieder in den vollen Stand gekommen und blickt Anna für einen kurzen Moment an. Ihr Blick ist jedoch links zur Seite und nach unten orientiert (Bild 17). Dass Anna nicht nur einen thematischen Abschluss initiiert, sondern eine Vorbeendigung der Interaktion insgesamt, wird nicht nur durch die ko-okkurrente Auflösung der bis dahin weitgehend statischen Körperhaltung verdeutlicht. Sie formuliert die Notwendigkeit der Orientierung auf einen neuen Aktivitätszusammenhang explizit in ihrer nächsten Äußerung: [wir müssen uns] nur= bisschen beEIlen., die zu Beginn von Özkans Gegenvaluation sehr schön überlappt wird (Z. 50-51). Der Regisseur hat während Annas Turn seine Dehnübungen zur linken Seite hin erweitert und ist, als Anna ihre Äußerung mit beEIlen abschließt, von der linken Seite wieder zurück zum aufrechten Stand gekommen (Bild 18-19). Auch hier blickt er Anna kurz an, und erneut kommt es zu keinem Blickkontakt. Seine Assistentin schaut nach vorne in Richtung des Tisches, an dem der nächste Dreh stattfinden wird. Gleichzeitig setzt sie sich in diese Richtung in Bewegung (Bild 20). Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 371 Schmitt_Deppermann_final. Bild 18: Anna: uns nur Bild 19: Anna: beEIlen Bild 20 Es ist vor allem die Aufgabe ihrer bisher statischen Körperpositur und der Übergang in eine andere, dynamische Präsenzform, die zusammen mit ihren verbalen Aktivitäten ihre Auflösungsorientierung manifestiert. Auch der Regisseur vollzieht nun die Auflösung der Interaktion mit und blickt nun seinerseits in die Richtung des Tisches, dem Ort des nächsten Drehs (Bild 20). Beide zustimmende Äußerungen Özkans bestätigen Annas Abschlussorientierung und sind Teil der kollaborativen Abschlussorganisation. Neuorientierung / gemeinsamer Austritt Özkans nachfolgendes Okay. (Z. 55) (Bild 21) und das anschließende FARdi (Name eines Schauspielers, der für den nächsten Dreh gebraucht wird) is DA: : ? (Z. 56), das von einer kurzen Pause gefolgt wird (Bild 22), sind bereits Ausdruck seiner projektiven Orientierung auf die Szene, die nach dem Umbau gedreht werden soll. Die Transition des gemeinsam mit Anna konstituierten Interaktionsraumes ist abgeschlossen, obwohl beide noch körperlich nahe beieinander in Richtung des Drehortes (Tisch) gehen. Bild 21: Özkan: Okay Bild 22: FARdi ist da Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 372 Schmitt_Deppermann_final Zusammenfassung (Transition 3) Die verbale Abschlussorganisation der Interaktion und die multimodale Transition des Interaktionsraums werden hier im Unterschied zu den beiden vorher betrachteten Transitionen kollaborativ bearbeitet. War es zuvor primär der Regisseur, der das von ihm selbst initiierte Ereignis beendet hatte, so arbeiten hier Anna und Özkan fein abgestimmt zusammen. Während er mit körperlicher Bewegung („Dehnübungen“) den Startschuss zur Auflösung gibt, ist es Anna, die diese primär verbal vorantreibt. Weiterhin zeigt der Vergleich, dass wir es hier mit einer anderen Beteiligungsstruktur der Auflösung zu tun haben. Die Transition wird nicht dadurch realisiert, dass einer der Interaktionsteilnehmer den Interaktionsraum verlässt, während der andere am Ort bleibt, wie in den ersten beiden Beispielen. Hier verlassen beide gleichzeitig den vorher gemeinsam konstituierten Raum und bewegen sich in körperlicher Nähe in die gleiche Richtung. Auch in der dritten Transition symbolisiert die Art der körperlichen Annäherung bzw. der Anbahnung wesentliche interaktive Relevanzen der Interaktion. Anders als bei beiden vorherigen Beispielen wird bei der Herstellung des Interaktionsraumes nicht der Regisseur initiativ. Vielmehr versteht die Assistentin den Orientierungslauf des Regisseurs für sie als relevant und eröffnet mit ihrer antizipatorischen Initiative eine fokussierte Interaktion mit ihm. 7. Grundstrukturen der Transitionen Wir verlassen nun die Ebene der Fallspezifik und fragen nach den Verallgemeinerungen der produzierten Befunde, die zur Konstitution eines Basismodells der multimodalen Konstitution und Transition von Interaktionsräumen führen. Dieses Modell integriert die für die Konstitution von Interaktionräumen zentralen und handlungslogisch notwendigen Strukturelemente Auflösung (1) - Anbahnung - Durchführung fokussierter Interaktion (- Auflösung (2)). Das Grundmodell mit diesen vier nach ihrer sequenziellen Logik geordneten Phasen bezieht sich zunächst nur auf den unseren Analysen zugrunde gelegten Typus von Transition, für den folgende Konstitutionsbedingungen gelten: Im Kontext bereits etablierter Kooperationsbeziehungen, für den ein territorial strukturierter Schauplatz den zentralen Relevanzrahmen darstellt, begegnen sich die Schauplatzbeteiligten im Rahmen einer gemeinsamen Orientierung auf ein übergeordnetes ‘joint project’ und unter Bedingungen wechselseitiger audio-visueller Wahrnehmung regelmäßig und in unterschiedlichen Konstellationen auf der Grundlage von interaktionsvorgängig Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 373 Schmitt_Deppermann_final. existierenden, arbeitsteilig organisierten Kooperationsbeziehungen und konstituieren dabei aus bereits existierenden Interaktionsräumen im unmittelbaren zeitlichen Anschluss neue Interaktionsräume. Wir stellen nachfolgend ein Grundmodell der Transition von Interaktionsräumen im beschriebenen Transitionskontext mit einer phasenspezifischen internen Differenzierung vor. Dabei reflektieren wir die mit den einzelnen Phasen verbundenen interaktiven Anforderungen. 1) Auflösung (1) - Abschluss (verbale Aktivitäten) - Abwendung (körperliche Aktivitäten) - Austritt (körperliche Aktivitäten, Wechsel Präsenzmodus) 2) Anbahnung - Hinwendung - Adressierung - Herstellung einer „Formation“ als Fundament der Interaktion - Eröffnung 3) Durchführung fokussierter Interaktion 4) Auflösung (2) Ein Spezifikum unserer Daten gegenüber „klassischen“ Eröffnungen ist die Tatsache prä-existenter interaktiver Strukturen und Relevanzen, in denen sich die Akteure befinden (vgl. Abschnitt 2). Diese prä-existenten interaktiven Zusammenhänge müssen aufgelöst werden, damit neue Interaktionsräume mit neuen Akteurskonstellationen und thematisch-pragmatische Relevanzen entstehen können. 7.1 Auflösung (1) Die Auflösung prä-existenter Interaktionsräume vollzieht sich in drei Etappen: Abschluss, Abwendung und Austritt. In unseren Daten wurden zur Bearbeitung der phasenspezifischen interaktiven Anforderungen schwerpunktmäßig unterschiedliche Modalitäten eingesetzt. Die Phasen haben einen unterschiedlichen Bezug auf den etablierten Interaktionsraum: Der Abschluss der Interaktion vollzieht sich noch in den Relevanzen des existierenden Interaktionsraums. Er wird primär verbal realisiert gemäß den in der Konversationsanalyse beschriebenen Prinzipien der Abschlussorganisation, Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 374 Schmitt_Deppermann_final bei denen ‘pre-closing’-Aktivitäten dem faktischen Abschluss vorausgehen. 13 Veränderungen der Körperpositur bzw. Bewegungen, mit denen die in der Interaktion eingenommene statische Körperpositur aufgelöst wird, bei jedoch noch bestehender Orientierung auf den Partner, können die verbalen Abschlussaktivitäten begleiten. Dies ist die Phase, in der die Beteiligten manifestieren, dass sie ihre fokussierte Interaktion in wechselseitiger Übereinstimmung beenden (wollen). Die Abwendung ist aufgrund der räumlichen Nähe des sich abwendenden Teilnehmers noch den Relevanzen des Interaktionsraumes assoziiert. 14 Sie wird in unseren Beispielen durch den Einsatz non-verbaler Ressourcen bewerkstelligt (vor allem Mimik, Blickorganisation, Veränderung der Körperpositur), wobei diese auch durch verbale Aktivitäten unterstützt werden können. Der Austritt hingegen markiert eine von Rückbezug freie Phase, die primär durch den Wechsel in einen anderen (in bei unseren Beispielen dynamischen statt statischen) Präsenzmodus gekennzeichnet wird. 7.2 Anbahnung Auch die Anbahnung besteht aus einer dreiphasigen Struktur: Annäherung/ Hinwendung, Herstellung einer „Formation“ als Fundament der Interaktion und Eröffnung. In gewisser Hinsicht ist diese Struktur spiegelbildlich zur Auflösung. Auch in dieser Phase sind die eingesetzten multimodalen Praktiken je nach Ausgabenstruktur der Subphase unterschiedlich. Die Hinwendung wird in der Regel dadurch realisiert, dass Blick und Körperausrichtung zumeist aus einer gewissen räumlichen Distanz die Orientierung auf den/ die zukünftigen Interaktionspartner erkennen lassen (vgl. auch Mondada/ De Stefani in diesem Band). Bereits mit der Hinwendung ist die ‘availabilavailability’ für diejenigen deutlich eingeschränkt, die nicht durch die Hinwendung als zukünftige Interaktionspartner vor-ausgewählt sind. Mit der Hinwendung verbunden ist die Annäherung an den prospektiven Interaktionspartner. Die Abfolge von Annäherung und Hinwendung kann unterschiedlich sein. 13 Zu ‘pre-closings’ siehe Schegloff/ Sacks (1973); zu ‘closings’ allgemein beispielsweise Button (1987, 1990), Jefferson (1973) sowie Auer (1990) und Mondada (2006b). 14 Wenn wir davon sprechen, dass in der Phase der Abwendung (was eine bewusst analytisch gehaltvolle Beschreibung ist) der sich abwendende Interaktionsteilnehmer noch den Relevanzen des Interaktionsraumes assoziiert ist, dann beinhaltet dies unter anderem, dass für eine gewisse Dauer der sich abwendende Interaktionsbeteiligte für die Ansprache desjenigen/ derjenigen, mit dem er zuvor den Interaktionsraum geteilt hat, im Vergleich zur ‘availability’ für externe Beteiligte in privilegierter Weise erreichbar bzw. rückholbar ist. Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 375 Schmitt_Deppermann_final. Die wechselseitige Identifikation der Beteiligten ist in unseren Daten durch die Herstellung von Wahrnehmungswahrnehmung (vgl. Hausendorf 2001) auf Seiten aller Teilnehmer an der zu eröffnenden Interaktion gewährleistet. Wahrnehmungswahrnehmung wird durch Blick, ggf. auch akustisch in Faceto-Back-Konstellationen erreicht. Sie ist die Voraussetzung für weitere konzertierte Aktivitäten des Beginns einer fokussierten Interaktion, d.h. der Herstellung eines gemeinsamen Interaktionsraums und des Einstiegs in den verbalen Austausch. Adressierung, Begrüßung und Selbstidentifikation als eigenständige Phasen mit einer systematischen Position am Beginn des interaktiven Austauschs sind dagegen die markierte Ausnahme, die nur unter spezifischen pragmatischen Bedingungen nötig wird. Unsere Daten zeigen, dass - etwa im Vergleich zu Telefongesprächen (siehe Schegloff 1968) - weder verbale Selbstidentifikation noch Begrüßung (und damit eine die Identifikation erlaubende „Stimmprobe“) einen notwendigen Bestandteil der Eröffnung einer fokussierten Interaktion ausmachen, wenn sich die Beteiligten - außer zu Beginn ihrer gemeinsamen Tagesarbeit - bereits in kontinuierlicher Interaktion miteinander befinden. Eine darüber hinausgehende Selbstidentifikation wird nur dann nötig, wenn die Interaktionspartner nicht über das zur Identifikation des Partners notwendige Wissen bzw. den visuellen Zugang zu ihm verfügen. Die Begrüßung wird nur nach Maßgabe einer sozialen Etikette erforderlich; es reicht z.B. in unserer Gesellschaft aus, dass man einander bei der ersten Begegnung im Laufe eines Tages begrüßt, wenn man sich fortan in einem gemeinsamen räumlich abgegrenzten Setting (wie in einem Filmset oder in einem Großraumbüro) befindet. Die Adressierung ist wiederum nur erforderlich, wenn die Aufmerksamkeit und Bereitschaft eines spezifischen Partners für die initiierte Interaktion nicht gesichert scheint (wie in der untersuchten Transition 2). Die Herstellung eines Fundaments im Sinne einer fokussierten und körperlich aufeinander orientierten Interaktion (vgl. Kendon 1990 und Mondada/ De Stefani in diesem Band) zeichnet sich durch einen Wechsel des zentralen Präsenzmodus aus. Die für die Annäherung konstitutive Bewegung im Raum findet ihren Abschluss und die Interaktionsbeteiligten positionieren sich zueinander in einer Weise, die die Durchführung einer Interaktion ermöglicht. Solche Formation variieren von einer Face-to-Face-Konstellation über Sideby-Sidebis zu Face-to-Back-Formationen. Die Eröffnung besteht in den ersten thematischen verbalen Beiträgen. In der Eröffnung verdeutlichen sich die Beteiligten den Grund für ihre fokussierte Interaktion, produzieren dabei Hinweise auf die relevante Interaktionsmodali- Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 376 Schmitt_Deppermann_final tät (ernsthaft, spaßig, problematisch etc.; siehe Kallmeyer 1979; Müller 1984) und projizieren zudem die zu erwartende Dauer des interaktiven Austauschs sowie das damit verbundene Beteiligungsprofil. 7.3 Durchführung fokussierter Interaktion Die thematisch-pragmatische Durchführung der fokussierten Interaktion muss so weit rekonstruiert werden, dass sie zum einen gestattet, die Frage zu beantworten, inwieweit die bei der eröffnenden Transition etablierten Projektionen auch tatsächlich eingelöst werden. Zum anderen kann der Beginn der multimodalen Realisierung der folgenden beendenden Transition nur vor dem Hintergrund der Kernaktivität adäquat rekonstruiert werden. 7.4 Auflösung (2) Die Auflösung (2) weist die gleiche Phasenstruktur wie Auflösung (1) auf. 7.5 Zum Status des Modells Die hier postulierte Vier-Phasen-Struktur der Anbahnung und Auflösung von Interaktionsräumen gilt zunächst nur für den von uns analysierten Typ von Transitionen, der sich durch die in Abschnitt 2.2 dargelegten Umstände interaktiv vorgängiger Strukturen wechselseitiger Verfügbarkeit auf einem Schauplatz auszeichnet. Sie ist zudem in folgendem Sinne eine Idealisierung: Die postulierte Struktur wird nicht immer in all ihren Bestandteilen realisiert. Zum einen können sich zwei Phasen so ineinander schieben, dass es bei der Analyse nicht möglich oder sinnvoll ist, einen klaren segmentalen Schnitt anzusetzen. So kann beispielsweise unter Bedingungen wechselseitiger audiovisueller Wahrnehmung und räumlicher Nähe der Austritt aus dem alten Interaktionsraum nahtlos mit dem Eintritt in einen neuen zusammenfallen. Solche Fälle von ‘smooth transition’ sind als spezielle Fälle ins Modell integrierbar. Die Struktur ist auch eine Simplifizierung: Bereits zeitgleich mit der Auflösung eines existenten Interaktionsraumes können Vorbereitungen für die Neukonstitution eines folgenden Interaktionsraumes vollzogen werden (vgl. Schegloff 1998). Dies führt zu einer wesentlich komplexeren Struktur, bei der auf zwei Interaktionsräume (den alten, noch existierenden, und den neuen, projizierten) bezogene interaktive Arbeit simultan realisiert wird. Andererseits gibt es „Zwischenphasen“, wie das kurze Intermezzo zwischen Aufnahmeleiter und Regisseur (nur noch zwei minuten, siehe 6.2), die zwischen der Beendigung des alten und der Anbahnung des neuen Interaktionsraums liegen. Im Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 377 Schmitt_Deppermann_final. Hinblick auf solche Zwischenphasen ist jeweils zu klären, wie sie sich im Einzelnen prospektiv und retrospektiv in Bezug auf vorangehende und folgende Interaktionsräume verhalten. Es bleibt weiteren systematischen und kollektionsbasierten empirischen Analysen vorbehalten, unsere Einsichten, die auf der Grundlage unserer fallbasierten und minimal kontrastierenden Untersuchungen produziert wurden, hinsichtlich ihres allgemeinen Aussagegehalts zu hinterfragen. Dies betrifft zum einen die Abfolge von Basisanforderungen an die Interaktionsbeteiligten. Zum anderen berührt es die Frage, inwieweit bei der Bearbeitung einzelner Anforderungen systematisch bestimmte modale Ressourcen eingesetzt werden und von welchen Bedingungen die Notwendigkeit bestimmter Phasen und der zu ihrer Bearbeitung eingesetzten multimodalen Ressourcen abhängt. 8. Zur Relevanz interaktiver Vorgängigkeit Die Vergleichsperspektive auf Situationseröffnungen und Transitionen (des hier untersuchten Typs) als prototypische Realisierungen fokussierter Interaktion thematisiert grundsätzlich die Bedeutung, die vorgängige interaktive Zusammenhänge als Projektion, Motivierung, Restriktion und Ressource für die Herstellung fokussierten Interaktion besitzen: Es geht um die strukturierende Relevanz und die Ressourcenqualität interaktiver Vorgängigkeit als Realisierungs- und Interpretationsrahmen für das Folgende und um die multimodalen Verfahren, mit denen sich die Beteiligten diese Relevanz wechselseitig anzeigen und sich daran orientieren. Die Unterschiede zwischen klassischen Situationseröffnungen und Transitionen von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation weisen auf die konsequenzenreiche Rolle interaktiver Vorgängigkeit für die Herstellung fokussierter Interaktion hin. Der Aspekt der interaktiven Vorgängigkeit hat nicht nur Implikationen für die Datenkonstitution und die Wahl des für die Analyse relevanten Ausschnitts. Sie besitzt auch weitreichende interaktionstheoretische Implikationen. Interaktionstheoretisch ist es sinnvoll, die Relevanz interaktiver Vorgängigkeit als ubiquitär anzunehmen (vgl. etwa Bakhtin 1986). Unser analytischer und konzeptueller Umgang mit Interaktion als klar segmentierten und eigenständigen, hinsichtlich ihrer Grenzen klar definierten Stücken ist zum Großteil das Ergebnis einer durch technologische Bedingungen konstituierten und wissenschaftsgeschichtlich tradierten Form der Datenkonstitution. Dieser Stücke-Charakter wird konzeptuell beispielsweise Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 378 Schmitt_Deppermann_final durch die Analyse und Theoretisierung von Handlungsmustern und Schemata verfestigt. Wenn man sich von dieser Sicht auf Interaktion durch die Fokussierung der komplexen Übergänge löst, wird deutlich: Jede soziale Interaktion steht - verbunden über unterschiedliche Bezüge - in einem globalen Zusammenhang permanenter interaktiver Bewegung (‘interaction flow’). Auch wenn vor- und nachgängige Interaktionen in der Regel nicht als Teil der Datenbasis vorliegen und somit der Analyse nicht zur Verfügung stehen, sollte Vor- und Nachgängigkeit bei der Gegenstandskonstitution angemessen berücksichtigt werden. Dabei lassen sich zwei Formen interaktiver Vorgängigkeit voneinander abgrenzen: interaktive Vorgängigkeit als individuelle Vorgeschichte und interaktive Vorgängigkeit als partiell gemeinsame Vorgeschichte. 8.1 Individuelle Vorgeschichte Bei diesem Fall aspektualisieren sich vorgängige Interaktionsgeschichten individuell. Die einzelnen Beteiligten kommen aus voneinander unabhängigen Interaktionszusammenhängen. Diese verfügen über jeweils eigene thematische, interaktionsstrukturelle und soziale Relevanzen, aus denen sich die Beteiligten herauslösen müssen, um eine neue fokussierte Interaktion mit anderen Beteiligten herzustellen. Wenn man Einzelnen in ihrem Interaktionsalltag lückenlos folgt, 15 wird deutlich, dass sie kontinuierlich vor der Aufgabe stehen, aktuelle Interaktionen aufzulösen und in neue einzutreten. Auch der Ratsuchende, der im Tondokument erstmals durch ein Klopfen an der Tür des Vertreters einer Institution oder erst mit der wechselseitigen Begrüßung „datenkundig“ und damit analysierbar wird, kommt aus einem immer auch interaktiv strukturierten vorgängigen Zusammenhang, der für ihn mit bestimmten Implikationen verbunden ist. Gleiches gilt natürlich auch für den Vertreter der Institution. Auch er kommt in das Beratungsgespräch aus einem anderen vorgängigen Interaktionszusammenhang, der auch für ihn spezifischer Weise implikativ ist. 8.2 Partiell gemeinsame Vorgeschichte Bei diesem Fall verfügt ein Teil der Interaktionsbeteiligten über eine der aktuell konstituierten Interaktion vorgängige gemeinsame Interaktionsgeschichte. Die aktuelle fokussierte Interaktion stellt hinsichtlich der Beteiligtenstruktur, 15 Eine solche ‘sampling’-Strategie wurde bei der Zusammenstellung des British National Corpus ( BNC ) verfolgt. Vgl. auch die Untersuchung von Barker (1968), der einzelnen Personen auf ihrem Gang durch ihren Alltag folgte, um zu untersuchen, ob sie sich in Abhängigkeit ihrer sozial-ökologischen Umgebung unterschiedlich verhalten. Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 379 Schmitt_Deppermann_final. der Kernaktivität, des relevanten Interaktionsraums, der pragmatisch-sozialen Implikationen eine faktisch neue Situation dar. Als solche muss sie aus dem Fluss der interaktiven Vorgängigkeit herausgelöst und als neue und eigenständige Interaktion von den Beteiligten hergestellt werden. Je nach Kontext und organisationsstrukturellem Zusammenhang können sie für die Konstitution des aktuellen Interaktionszusammenhangs in unterschiedlicher Weise auf die gemeinsame interaktive Vorgeschichte zurückgreifen (vgl. Schmitt/ Deppermann 2007). Diese Rückgriffsmöglichkeit ist entscheidend für die Bearbeitung der interaktiven Anforderungen bei der Transition. Bei der Entwicklung einer der faktischen Komplexität von Interaktion angemessenen Interaktionstheorie ist also aus unserer Sicht dringend die Frage der Bedeutung interaktiver Vorgängigkeit zu berücksichtigen. Die Ausarbeitung „interaktiver Vorgängigkeit“ zu einem interaktionstheoretisch gehaltvollen Konzept muss sich auf die empirische Rekonstruktion relevanter Formen interaktiver Vorgängigkeit gründen. Sie muss klären, welche Formen und Dimensionen des Rückbezugs auf vorgängige Relevanzen sich finden lassen und in welcher sprachlich-interaktiven Form diese vorgängigen Relevanzen in Abhängigkeit von den Zielen und strukturellen Bedingungen in der aktuellen Situation wirksam und zum Ausdruck gebracht werden. Es ist zu klären, welche Verfahren eingesetzt werden (wie z.B. Formulierungsaufnahme, Zitat, Ellipse, Kontextexplikation) und wie diese sich beispielsweise zu Kontextualisierungshinweisen (Gumperz 1982, 1992a, b) verhalten, deren Funktion eventuell gerade im interaktiven Verfügbarmachen vorgängiger Relevanzen besteht, auch unabhängig und jenseits kultureller Prägungen. 9. Schlussbemerkung Situationseröffnungen und Transitionen als zwei prototypische Realisierungstypen der Herstellung fokussierter Interaktion zu konzeptualisieren, führt nicht nur zur wechselseitigen Konzeptschärfung. Die Kontrastierung eröffnet darüber hinaus auch neue Einsichten in grundlegende Konstitutionsprozesse fokussierter Interaktion. Der analytische Blick auf die Herstellung fokussierter Interaktion wird durch eine solche Vergleichsperspektive auf einen wichtigen Punkt gelenkt, der bei einem auf klassische Situationseröffnungen fokussierten Erkenntnisinteresse nicht in den Blick kommt. Es handelt sich um die Bedeutung, die vorgängige Interaktionen als Projektion, Motivierung und Restriktion für die Herstellung einer nächsten fokussierten Interaktion besitzen. In den Blick geraten also Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 380 Schmitt_Deppermann_final Folgen und Konsequenzen der vorgängigen Interaktion für die Art der Situationseröffnung, die damit verbundenen Anforderungen und die Durchführung und Interpretation der folgenden Interaktion. Allgemeiner geht es um die strukturierende Relevanz und die Ressourcenqualität interaktiver Vorgängigkeit als Realisierungs- und Interpretationsrahmen für das Folgende und um die multimodalen Verfahren, mit denen sich die Beteiligten diese Relevanz wechselseitig anzeigen. Eine solche Sicht auf die Herstellung fokussierter Interaktion schärft das Bewusstsein für eine forschungspraktische Idealisierung unseres Gegenstandes und dessen empirischer Repräsentanz: Interaktionen sind in der Regel keine klar abgegrenzten Stücke mit sauberen Anfängen und Enden. Diese idealisierte Eigenschaft erhält Interaktion oft erst durch den Forschungsprozess selbst. Der Stückecharakter interaktiver Realität ist eine intendierte und oft auch nicht-intendierte Folge von reflektierten oder nicht reflektierten Auswahlentscheidungen, welche Situationen wir zwecks nachfolgender Analyse dokumentieren wollen, und der Art und Weise, wie wir diese Situationen konkret dokumentieren. Darüber hinaus ist er eine Implikation dessen, wie und als was wir diese Interaktionsdokumente dann in unserer Analyse und der Präsentation unsere Ergebnisse behandeln (vgl. auch Ford 2004). Im faktischen Interaktionsalltag und aus der Perspektive der Beteiligten sind Interaktionen zeitlich selbsttranszendent, sie verfügen immer über Rückbezüge und Vorverweise. Dies gilt beispielsweise auch für Eröffnungen von Telefongesprächen, bei denen Teilnehmer zum wiederholten Mal an einem Tag miteinander kommunizieren und Aspekte dieser Kommunikationsgeschichte als Ressource für die spezifische Eröffnung des aktuellen Gespräches nutzen. Die Vorstellung des Stücke-Charakters als ubiquitäre Konstitutionseigenschaft von Interaktionen ist eine Idealisierung, die in ihren Konsequenzen für die Gegenstandskonstitution und Konzeptentwicklung noch gar nicht abzusehen ist. Untersuchung von Situationen, in denen die Beteiligten im Rahmen präexistenter übergeordneter Strukturen und unter deren systematischer Berücksichtigung situativ fokussierte Interaktionen herstellen, ermöglichen jedoch die analytische und konzeptuelle Ausdifferenzierung der beiden Konzepte „Situationseröffnung“ und „Transition“. Dies führt darüber hinaus zur Entwicklung und Formulierung von Definitionskriterien, die solche Transitionen, die wir untersucht haben, präziser von anderen Formen der Interaktionsveränderung unterscheidbar machen, bei denen sich die Interaktionsstruktur nur aspektuell (beispielsweise thematisch, beteiligungs- oder handlungsstruktu- Die Transition von Interaktionsräumen als Eröffnung einer neuen Situation 381 Schmitt_Deppermann_final. rell, örtlich) verändert. Dadurch wird es möglich, das Varianzspektrum und die Konstituenten fokussierter Interaktion als Kontinuum zwischen klassischen Situationseröffnungen und den unterschiedlichen Formen von Transitionen genauer auszuloten. Im Kontext der Analyse multimodaler Interaktion werden zudem modalitätsspezifische Ungleichzeitigkeiten deutlich, die sich hinsichtlich der Segmentierung des Geschehens auswirken. Zum einen gibt es Fälle des Schonbzw. Noch-woanders-Seins, bei der die multimodalen Ressourcen im Sinne einer Doppelorientierung eingesetzt werden (siehe beispielsweise Schegloff 1998 zu „body torque“). Zum anderen besitzen die einzelnen Modalitätsebenen ihre jeweils eigene Zeitlichkeit, die dazu führen kann, dass oft kein glatter Schnitt alle Ausdrucksebenen simultan an der gleichen Stelle betrifft. Dass die Frage, wann eine Situation eröffnet ist und wann ein bestimmter Aktivitätszusammenhang anfängt, manchmal auch nach eingehenden Analysen nicht definitiv beantwortet werden kann (und unter einem bestimmten Erkenntnisinteresse als Analyse leitende Frage vielleicht sogar irreführend sein kann), zeigt der Beitrag von Hausendorf/ Schmitt (in diesem Band) anhand der Analyse einer Gottesdiensteröffnung. Solche Einblicke in die weitgehend unreflektierte „Stücke-Idealisierung“ und die damit zusammenhängenden Möglichkeiten und Beschränkungen werden möglich, wenn man die Herstellung und Auflösung fokussierter Interaktion auf der Grundlage von Videodokumenten in komplexen Zusammenhängen untersucht und sich auf den Austausch von Interaktanten, die wechselseitig füreinander latent (oft sogar permanent) auf einem Schauplatz verfügbar sind, konzentriert. Charakteristisch für all diese Kontexte ist, dass die Interaktionsverfügbarkeit und die Interaktionsbereitschaft einmalig (meist zu Beginn des Tages) durch eine Situationseröffnung mit Begrüßung etabliert worden ist und für die restliche Zeit einen „continuing state of incipient talk“ (Schegloff/ Sacks 1973, Schegloff 2002a) konstituiert. Allerdings muss man im Unterschied zu den von Schegloff/ Sacks (1973, S. 224-325) genannten Beispielen: „members of a household in their living room, employees who share an office, passengers together in an automobile“ betonen, dass auf dem Filmset die Kontinuität wechselseitiger Wahrnehmungswahrnehmung nicht in vergleichbarer Weise gegeben ist. Das Geschehen am Set zerfällt vielmehr sehr weitgehend in temporär ko-existente, teilautonome und eigenrelevanzstrukturierte Zusammenhänge, die die Gesamtheit der Setmitarbeiter über längere Phasen hinweg voneinander isolieren - obwohl sich alle Beteiligten auf dem gleichen Setting befinden. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 382 Schmitt_Deppermann_final Zudem wird das Setgeschehen viel weniger durch verbale Interaktion bestimmt, sie ist nicht der eigentliche Handlungszweck. Vielmehr stellt die Situation als Arbeitsplatz einen Kooperationszusammenhang dar, der auf die Herstellung eines nicht sprachlich definierten Objektes aus ist, nämlich die Herstellung verschiedener Filmaufnahmen für die spätere Montage im Schneideraum. Hinsichtlich dieses Aspektes handelt es sich eher um einen ‘continucontinuing state of incipient action’, mit all seinen Konsequenzen für die situative Herstellung fokussierter Interaktion in Form der von uns untersuchten Transitionen. Untersucht man solche Kontexte, wird die Frage nach den spezifischen Aufgaben der situativen Herstellung fokussierter Interaktion im Falle raumzeitlich kontinuierlicher, latent verfügbarer Kopräsenz im Unterschied zu klassischen Situationseröffnungen deutlich. Mit dem Vorschlag, Transitionen als ‘Eröffnungen’ zu konzeptualisieren, lassen wir uns von der komplexen Struktur von Interaktion als per se multimodalem Ereignis leiten. Wir lösen uns damit hinsichtlich der Konstitution relevanter Gegenstände stärker von den konzeptuellen Wurzeln der Konversationsanalyse und deren gegenstands- und materialspezifischen Grundlagen der Konzentration auf primär verbale Interaktion. Wir tun dies - und dies sei an dieser Stelle in aller Deutlichkeit formuliert -, ohne damit gleichzeitig auch ihre Methodologie aufzugeben, deren grundlegende Vorgehensweisen unseres Erachtens auch für die Analyse multimodaler Interaktion wegweisend bleiben wird. 10. Literatur Atkinson, Maxwell J. / Heritage, John (Hg.) (1984): Structures in social interaction. Studies in conversation analysis. Cambridge. Auer, Peter (1990): Rhythm in telephone closings. In: Human Studies 13, S. 361-392. Auer, Peter (2006): Increments and more. 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In: Social Problems 35, S. 551-75. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Die Untersuchung präsentier t die multimodale Struktur und Komplexität eines besonderen Kooperationstyps, des „Pitchings“. Dabei handelt es sich um eine Mischfor m aus Arbeits- und Lehr-Lern-Diskurs, bei der vier Studierende gemeinsam mit zwei Dozenten Filmideen entwickeln. Als empirische Grundlage dient ein Datenkorpus von 72 Stunden Videoaufnahmen, das methodisch mit einer Kombination aus ethnographischer Gesprächsanalyse, ethnomethodologischer Konversationsanalyse und deren Er weiterung um eine multimodale Analyseperspektive untersucht wird. Dabei wird detailliert der komplexe Gesamtzusammenhang von Verbalität, Mimik, Gestik, Körperpositur und anderen körperlichen Ausdrucksformen in seiner Bedeutung für die gemeinsame Arbeit ersichtlich. Basierend auf den beiden zentralen Konzepten „Kooperation“ und „Handlungsschema“ werden die spezifischen Situationsmerkmale des Pitchings sowie die typischen Aufgaben und Probleme rekonstruiert, die von den Interaktionsbeteiligten durch unterschiedliche Ver fahren bearbeitet werden. Aufgrund einer longitudinalen Perspektive gibt die Untersuchung zudem Einblicke in die Professionalisierung der Studierenden im Studienverlauf. Daniela Heidtmann Multimodalität der Kooperation im Lehr-Lern-Diskurs Wie Ideen für Filme entstehen Studien zur deutschen Sprache, Band 50 2009, 340 Seiten, €[D] 78,00/ SFr 132,00 ISBN 978-3-8233-6471-9 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Die Beiträge der Festschrift für Rainer Wimmer anlässlich seines 65. Geburtstags dokumentieren die Vielschichtigkeit seines sprachwissenschaftlichen Wirkens: Eine große Anzahl der Artikel widmet sich einer seiner zentralen Forschungstätigkeiten, der Sprachkritik. Seine interdisziplinären und anwendungsorientierten Arbeitsfelder sowie seine frühen Arbeiten zu Eigennamen werden durch spezifische Beiträge ebenso gewürdigt, wie in einem Themenblock hervorgehoben wird, dass es „die“ Sprache nicht gibt, sondern dass Sprachen nur neben Sprachen, d.h. in einem Miteinander, existieren können. Auf diese Weise entsteht ein Einblick in die wichtigsten Strömungen und Ansätze der zeitgenössischen interpretativen Semantik, zu deren Entwicklung Rainer Wimmer durch sein Schaffen wesentlich beigetragen hat. Wolf-Andreas Liebert Horst Schwinn (Hrsg.) Mit Bezug auf Sprache Festschrift für Rainer Wimmer Studien zur deutschen Sprache, Band 49 2009, 584 Seiten, €[D] 98,00/ SFr 165,00 ISBN 978-3-8233-6470-2 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de In der Mitte Europas gelegen, lebt das Deutsche nicht zuletzt vom Kontakt mit anderen Sprachen; diese Kontakte sind vielfältig, und sie hinterlassen ihre Spuren. Nur im Kontakt mit seinen großen europäischen Nachbarn ist das Deutsche zu der europäischen Kultursprache geworden, die es ist. Gleichwohl ist die Gesellschaft im mehrheitlichen Bewusstsein der Sprecher stark einsprachig geprägt - und zwar selbst dort, wo durch Migration und durch die Entwicklungen, die man gemeinhin mit dem Schlagwort Globalisierung belegt, in Wirklichkeit mehrere Sprachen koexistieren. Die Beiträge in diesem Band gehen der Frage nach, welche Rolle das Deutsche unter diesem Gesichtspunkt - als europäische Kultursprache, als Mehrheits- und als Minderheitssprache in mehrsprachigen Gesellschaften - spielte und spielt und wie die Sprecher des Deutschen in den verschiedenen Konstellationen mit dem jeweils Fremden umgegangen sind und umgehen. Ludwig M. Eichinger Albrecht Plewnia (Hrsg.) Das Deutsche und seine Nachbarn Über Identitäten und Mehrsprachigkeit Studien zur deutschen Sprache, Band 46 2008, 184 Seiten + CD €[D] 72,00/ SFr 121,00 ISBN 978-3-8233-6437-5 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Der Band enthält die Beiträge eines Kolloquiums am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, in dem das komplexe und moderne Werk sowie das systematische Arbeiten Johann Christoph Adelungs gewürdigt wurde. Die Beiträger und Beiträgerinnen stellen das kulturgeschichtliche Denken Adelungs, sein lexikographisches Werk, seine grammatischen, orthographischen und stilistischen Arbeiten unter spezifischen Fragestellungen dar: Adelungs durch Herder inspiriertes Verständnis von Kulturgeschichte bildet gleichsam das Prinzip seiner Arbeit. In Beispielen wird die Adelung-Rezeption ebenso beschrieben wie die Bedeutung seines Werks für die heutige sprachhistorische Forschung. Dass Adelung mit seinen Arbeiten in verschiedene Spannungsfelder einzuordnen ist, machen diejenigen Beiträge deutlich, die ihn als Traditionalisten und als Vertreter der beginnenden Moderne zeigen, als Sprachgelehrten mit präskriptiven und deskriptiven Anliegen, als konservativen Denker und Aufklärer zugleich. Insgesamt gibt der Band einen Überblick über die Komplexität von Adelungs Schaffen und über den aktuellen Stand der Forschung. Heidrun Kämper / Annette Klosa / Oda Vietze (Hrsg.) Aufklärer, Sprachgelehrter, Didaktiker: Johann Christoph Adelung (1732-1806) Studien zur deutschen Sprache, Band 45 2008, 293 Seiten, €[D] 72,00/ SFr 121,00 ISBN 978-3-8233-6401-6 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Nachdem die Erforschung der Wortbildungsregularitäten des Deutschen in den zentralen Bereichen zu erheblichen For tschritten und weithin konsensfähigen Ergebnissen geführt hat, wendet sich die Forschung in den letzten Jahren verstärkt neuen Aspekten zu, wobei textlinguistische und in verschiedener Weise anwendungsorientierte Fragen eine erhebliche Rolle spielen, daneben aber auch andere, häufig theoriespezifischere Herangehensweisen gewählt werden. Wie viele andere Bereiche der Sprachwissenschaft hat sich auch die Wortbildungsforschung mit der neuen Möglichkeit auseinanderzusetzen, elektronische Korpora als empirische Basis zu nutzen. Ludwig M. Eichinger / Meike Meliss / Maria José Dominguez Vázquez (Hg.) Wortbildung heute Tendenzen und Kontraste in der deutschen Gegenwartssprache Studien zur deutschen Sprache 44 2008, 356 Seiten, €[D] 72,00/ Sfr 121,00 ISBN 978-3-8233-6386-6 Der Band führt aus einer multimodalen Perspektive in die Analyse von Situationseröffnungen ein. Auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen unterschiedlicher sozialer Situationen analysiert er die multimodalen Verfahren, mit denen die Beteiligten sich schrittweise auf eine koordinierte Interaktion orientieren, diese vorbereiten und schließlich herstellen. Kontrastiv zu etablierten Untersuchungen verbaler Gesprächseröffnungen am Telefon wird das spezifische Anforderungsprofil der multimodalen Situationsherstellung verdeutlicht. Der Band enthält sechs empirische Untersuchungen verschiedener Situationstypen: Filmset, Arbeitssitzungen, Videokonferenzen, Raclette- Essen unter Bekannten, Wegauskünfte, zufällige Treffen im Supermarkt und ein Gottesdienstanfang. Die Analysen fokussieren die für den jeweiligen Situationstyp konstitutiven Aspekte der Situationseröffnung: die von den Interaktionsbeteiligten gemeinsam hergestellte Ordnungsstruktur, deren sequenzielle und segmentale Spezifik, das interaktive Anforderungsprofil und die eingesetzten multimodalen Verfahren. Neben der Dichte simultan stattfindender Koordinationsleistungen wird in den Beiträgen vor allem die Bedeutung derjenigen Interaktionsprozesse hervorgehoben, die der Herauslösung und Vorbereitung der Situation dienen und der formellen Eröffnung vorausgehen. Die Untersuchungen verweisen so ganz grundsätzlich auf die Relevanz „interaktiver Vorgängigkeit“. ISBN 978-3-8233-6438-2