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Sprachliche Anpassung

1998
978-3-8233-3008-0
Gunter Narr Verlag 
Nina Berend

Der Band behandelt die sprachliche Anpassung und Integration von rußlanddeutschen Aussiedlern, die seit Mitte der 80er Jahre nach Deutschland gekommen sind. Ihre sprachlich-soziale Situation in Deutschland ist durch eine charakteristische Mehrsprachigkeit gekennzeichnet. Die unterschiedlichen sprachlichen Formen werden anschaulich an Textbeispielen demonstriert. Es werden dialektologische und soziolinguistische Untersuchungen durchgeführt, die zeigen, wie sich die Sprechweisen einzelner Gruppen von Aussiedlern im Verlauf des Anpassungs- und Integrationsprozesses verändern, und es werden Konsequenzen für den die Integration unterstützenden Sprachunterricht aufgezeigt.

Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Nina Berend Sprachliche Anpassung Eine soziolinguistisch-dialektologische Untersuchung zum Rußlanddeutschen gflW Gunter Narr Verlag Tübingen STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 14 Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Bruno Strecker, Reinhard Fiehler und Hartmut Schmidt Band 14 • 1998 Nina Berend Sprachliche Anpassung Eine soziolinguistisch-dialektologische Untersuchung zum Rußlanddeutschen gnW Gunter Narr Verlag Tübingen Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Berend, Nina: Sprachliche Anpassung: eine soziolinguistisch-dialektologische Untersuchung zum Rußlanddeutschen / Nina Berend. - Tübingen : Narr, 1998 (Studien zur deutschen Sprache; Bd. 14) ISBN 3-8233-5144-3 Als HabiUtationsschrift auf Empfehlung der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 1998 ■ Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 ■ D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zusümmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. GesamthersteUung: Huberts Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-5144-3 INHALT 1. Zur Einführung 1 1.1 Ziele und Aufbau der Untersuchung 2 2. Sprachliche Situation im Herkunftsland 8 2.1 Historische Aspekte des Deutschen in Rußland 8 2.2 Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Sprachsituation der Rußlanddeutschen 17 2.3 Zur gegenwärtigen sprachlichen Situation im Herkunftsland 20 2.4 Zusammenfassung 31 3. Sprachliche Situation in Deutschland Interpretation der Ergebnisse der Fragebogenerhebung unter soziolinguistischen Gesichtspunkten 34 3 1 Die soziolinguistische Erhebung 34 3.2 Der Fragebogen: Erhebung, Ausgangshypothesen, Erläuterung 37 3.3 Ergebnisse der Befragung: Kurzzusammenfassung 47 3.4 Quantitative Einzelanalyse mit Berücksichtigung der Kategorien Alter, Geschlecht und Bildung 51 3 4.1 Ergebnisse Befragung zur Sprachkompetenz 55 3 4.2 Die Befragung zur Spracheinstellung 58 3.5 Qualitative Analyse: Sprachliche Varietäten aus der Sicht der Sprecher 60 3 5.1 Einstellung zum rußlanddeutschen Dialekt 61 3.5.2 Einstellung zur russischen Sprache 63 3 5.3 Einstellung zur hochdeutschen Standardsprache 64 3.5.4 Einstellung zur regionalen Varietät 65 3.6 Qualitative Analyse: Ergebnisse der Beobachtung 66 3.7 Zusammenfassung 69 4. Sprachsystematische Veränderung: Dialekt - Standarddeutsch 72 4.1 Zum Verlauf der Erhebung und Auswertung der Sprachdaten 72 4.2 Zur dialektalen Ausgangsbasis 77 4.3 Zum Situationstyp ‘Ingroup-Kommunikation’ 86 4.4 Zum Situationstyp ‘Kommunikation mit Standardsprachesprechern’ 92 4.4.1 Entrundung 92 4.4.2 Verdumpfung 97 VI 4.4.3 Monophthongierung 99 4 4 4 Senkung/ Hebung 100 4.4.5 s-Palatalisierung 100 4 4.6 Spirantisierung 103 4.4.7 «^-Assimilation 106 4.4.8 Die e- und «-Apokope 107 4.4.9 Dialekt/ Standard-Variation: Tendenzen der Anpassung 109 4.5 Zum Situationstyp ‘Kommunikation mit Regionalsprachesprechem’ 116 4.5.1 Zum Kontakt zwischen Rußlanddeutsch und Saarländisch 116 4.5.2 Die quantitativen Ergebnisse 120 4.6 Zusammenfassung 123 5. Veränderungen im Verhältnis Dialektgebrauch - Standardorientierung - Russisch 126 5.1 Sprachkontakt des Deutschen und Russischen im Herkunftsland 128 5.1.1 Lexikalische Sprachkontaktphänomene 128 5.1.2 Lautliche Sprachkontaktphänomene 133 5.1.3 Morphosyntaktische Sprachkontaktphänomene 135 5.2 Der Sprachstand zum Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland 137 5.2.1 Lexikalische Einflüsse des Russischen im Ausgangsdialekt 138 5.2.2 Entlehnungen und Code switching 140 5.2.3 Morphologisch-syntaktische Einflüsse des Russischen im Ausgangsdialekt 143 5.3 Rußlanddeutsche Alltagssprache in Deutschland 145 5.3 1 Tendenzen bei der Verwendung russischer Lexik nach zwei Jahren 146 5.3 .2 Grammatisch-syntaktische Strukturen des Russischen in der Alltagssprache 150 5.4 Rußlanddeutsches Hochdeutsch in formellen Situationen 152 5.4.1 Abbau der lexikalischen Strukturen des Russischen 152 5.4.2 Gebrauch von Internationalismen 153 5.4.3 Erhalt der grammatisch-syntaktischen Einflüsse des Russischen 157 5.4.4 Lautliche Merkmale des Russischen im Deutschen 158 5.5 Zusammenfassung 162 6 Beispieltexte 166 6.1 Transkription und Darstellung 166 6.2 Beispieltext 1: Rußlanddeutsche Ausgangsvarietät 169 6.3 Beispieltext 2: Rußlanddeutsche Alltagssprache in Deutschland 180 VII 6.4 Beispieltext 3: Rußlanddeutsches Hochdeutsch 189 7. Sprachliche Anpassung unter Gesichtspunkten des Sprachwandels .201 7.1 Zum theoretischen Rahmen 201 7.2 Allgemeine soziale und sprachliche Maximen 203 7.3 Spezielle Fragen der Maximen-Befolgung 212 7.4 Zusammenfassung 218 8. Didaktische Konsequenzen und Vorschläge 220 8.1 Anregungen zum Sprachunterricht 220 8.2 Anregungen zur Sprachgeschichte und zur Landeskunde 227 8.3 Zusammenfassung 232 9. Schlußwort 234 10. Literatur 236 Vorwort Die vorliegende Arbeit enthält Ergebnisse meiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Erfahrungen, die ich in den vergangenen fünfzehn Jahren mit dem Rußlanddeutschen sowohl in Sibirien als auch in der Bundesrepublik Deutschland gemacht habe. 1989 bin ich aus Omsk nach Deutschland übergesiedelt und habe zahlreiche Sprachaufnahmen von Sprecher/ innen des Rußlanddeutschen mitgebracht Es war ein Glücksfall, daß ich die sprachliche Integration derselben Sprecher/ innen in Deutschland weiter beobachten und untersuchen konnte. Ich habe mich bemüht, die beobachtbaren sprachlichen und soziokulturellen Anpassungsphänomene unter verschiedenen sozio- und kontaktlinguistischen Gesichtspunkten zu analysieren und zu interpretieren. Die Arbeiten wurden mir ermöglicht im Rahmen von Projekten am Institut für deutsche Sprache (Mannheim), wofür ich den Direktoren Gerhard Stickel und Rainer Wimmer (bis 1994) sehr danke. Mein Dank gilt auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Unterstützung. Rainer Wimmer hat die Arbeit während der gesamten Zeit ihres Entstehens betreut. Ich danke auch den zahlreichen anderen Mitarbeiter/ innen des Instituts, die mir mit Ratschlägen geholfen haben und die mich auch sonst in vielfältiger Hinsicht unterstützt haben. An der Universität Heidelberg konnte ich regelmäßig an den Veranstaltungen des Graduiertenkollegs „Dynamik von Substandardvarietäten“ teilnehmen. Dafür danke ich den Sprechern des Kollegs Klaus J. Mattheier und Edgar Radtke. Klaus J. Mattheier hat meine Arbeit intensiv und fördernd verfolgt, wofür ich ihm insbesondere danke. Ich danke der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg dafür, daß sie die Arbeit Ende 1997 als Habilitationsschrift angenommen hat. Für die gutachterliche Unterstützung danke ich Klaus J. Mattheier, Baldur Panzer und Oskar Reichmann Der Bibliothek des Instituts für deutsche Sprache und insbesondere ihrer Leiterin Eva Teubert danke ich für die aktive Unterstützung bei bibliographischen Recherchen. Gregor Barth danke ich für die Herstellung der Druckvorlage, ohne ihn wäre die Arbeit nicht „in die Form“ gekommen Februar 1998 Nina Berend 1. Zur Einführung Die Arbeit ist eine wissenschaftliche Untersuchung zu den sprachlichen Anpassungsprozessen bei Rußlanddeutschen in Deutschland. In diesem Rahmen wird auch die sprachlich-kulturelle Situation der Rußlanddeutschen in ihrem Herkunftsland behandelt (vgl. Kap. 2). Die Arbeit bietet aber keine Geschichte der Rußlanddeutschen, und sie behandelt auch nicht die sozialen und beruflichen Eingliederungsmaßnahmen für die Rußlanddeutschen in ihrer neuen Heimat. Zu diesen Themen sind in den vergangenen Jahren einige Arbeiten erschienen, die im Bedarfsfall zu Rate gezogen werden können (Eisfeld 1992; Bade 1993; Brandes/ Busch/ Pavlovic 1994; Graudenz/ Römhild 1996). Die Arbeit bietet auch keine Geschichte der Erforschung des Rußlanddeutschen bzw. der rußlanddeutschen Dialekte Zu einem Teil dieser Geschichte haben mein Lehrer Hugo Jedig und ich einen Überblick publiziert (vgl. Berend/ Jedig 1991). Die vorliegende Arbeit verwendet in den sprachsystematischen Teilen (vgl. Kap. 4) klassische Methoden der Dialektologie, in den pragmatisch orientierten Teilen Methoden der modernen Soziolinguistik und der Sprachkontaktforschung, und sie geht auch auf neuere Arbeiten zur Sprachwandeltheorie (vgl. Kap. 7) ein. Sie erhebt aber nirgends den Anspruch, die genannten Methoden theoretisch weiterzuentwickeln. Vielmehr geht es darum, das umfangreiche Material zu den Sprachveränderungen bei den Rußlanddeutschen, das ich bereits im Herkunftsland der Rußlanddeutschen zu erheben begonnen habe, methodisch kontrolliert und unter verschiedenen Gesichtspunkten zu analysieren. Ziel ist es, zu einem facettenreichen und wissenschaftlich abgesicherten Bild der besonderen Sprachveränderungen zu kommen, die sich gegenwärtig bei den Rußlanddeutschen vollziehen. Die Arbeit hat aufgrund dieser Zielsetzung und aufgrund der unterschiedlichen Methoden, die sinnvollerweise heranzuziehen waren, eine gewisse Heterogenität, die aber durchaus intendiert war. Aus der breiten empirischen Grundlage für diese Arbeit präsentiere ich im folgenden nur einige wenige Beispieltexte (vgl. Kap. 6), die die sprachlichen Beobachtungen exemplarisch belegen. Ich hoffe, weitere Materialien noch getrennt publizieren zu können. 2 1.1 Ziele und Aufbau der Untersuchung Die sprachliche Anpassung der Rußlanddeutschen an ihre neue Umgebung ist Teil ihrer sozialen Integration in die aufnehmende Gesellschaft. Übergreifendes Ziel der Untersuchung ist es, die Erscheinungsformen des Anpassungsprozesses auf der Basis von Langzeitstudien bei einer Reihe von Informanten zu analysieren und in ihrem Zusammenhang mit sozialen und anderen Bedingungen der gesellschaftlichen Integration zu beschreiben. Ich spreche in bezug auf die sprachlichen Veränderungsprozesse mit Bedacht von Anpassung und nicht von Integration, weil nicht damit zu rechnen ist, daß die Rußlanddeutschen (im Laufe einer Generation) in irgendeinem echten Sinne von Integration in eine neue sprachliche Umgebung eingegliedert werden. Vielmehr ist damit zu rechnen das ist ein allgemeines Ergebnis der vorliegenden Untersuchungen daß die Rußlanddeutschen mit ihren verschiedenen sprachlichen Kompetenzen, die sie aus ihren früheren Wohngebieten mitbringen, sehr differenziert auf die neue Umgebung reagieren und dabei in jedem Fall eine Reihe von sprachlichen Besonderheiten bewahren, die sie auf absehbare Zeit von den einheimischen Sprechern unterscheiden werden. Von einer sprachlichen Integration in einem einfachen Sinne zu sprechen verbietet sich auch deshalb, weil im Anpassungsprozeß viele verschiedene Teilkompetenzen aufeinandertreffen: a) Die Rußlanddeutschen sprechen ‘von Haus aus’ einen deutschen Regionaldialekt, der von verschiedenen russischen Einflüssen „infiziert“ ist, den sie selbst aber mehr oder weniger für ‘das Deutsche’ halten bzw. gehalten haben. Außerdem sprechen sie russisch in einer mehr oder weniger deutlichen Standardvariante, b) Die sprachlichen Anforderungen, mit denen die Rußlanddeutschen in ihrer neuen Umgebung konfrontiert werden, sind ebenfalls differenziert. Zum einen wird in der Nachbarschaft Regionaldialekt gesprochen, der deutlich von der deutschen Standardbzw. Hochsprache und auch deutlich vom „mitgebrachten“ Dialekt der Rußlanddeutschen unterschieden ist. Zum anderen werden die Rußlanddeutschen durch die Medien (Fernsehen und Rundfunk), aber auch durch Institutionen (Behörden) mit der deutschen Standardsprache konfrontiert. Eben durch diesen mehrfachen Varietäten- und Sprachkontakt und durch das Aufeinandertreffen von mehreren Teilkompetenzen wird eine ganz spezifische Komplexität bei der sprachlichen Eingliederung der rußlanddeutschen Aussiedler hervorgerufen. Es laufen hier differenziertere Vorgänge ab, etwa im Vergleich zu Arbeitsmigranten, für die die sprachliche Integration übergreifend formuliert den Erwerb des Deutschen als Zweit- oder Fremdsprache und somit den 3 „Aufbau“ einer Deutschkompetenz bedeutet. Als Sprecher eines deutschen Dialekts wenn auch eines stark mit Russizismen durchsetzten stehen die Rußlanddeutschen eher vor der Notwendigkeit des „Umbaus“ der Strukturen und Formen, über die sie verfugen, nach den Mustern und Regeln der Sprache der neuen Umgebung. Bei der Einreise nach Deutschland verfugen die rußlanddeutschen Aussiedler größtenteils über Sprachkenntnisse, die als Kombination ‘russische Sprache plus deutscher Dialekt’ erscheinen. Die Schwierigkeiten bei der sprachlichen Eingliederung ergeben sich daraus, daß diese beiden Kompetenzen nicht als selbständige autonome Teile oder Varietäten im Sprachrepertoire der Sprecher vorhanden sind, wie dies z.B. beim Zweitsprachenerwerb der Fall ist, wenn eine neue Varietät als getrennter Code hinzugelernt wird. Bei rußlanddeutschen Aussiedlern liegt eine Sprachkompetenz vor, wie sie aus Situationen des natürlichen Bilingualismus in vielen Regionen von Minderheitenkonstellationen bekannt ist. Es ist die aktive zweisprachige Kompetenz und die Situation des entwickelten Bilingualismus, wenn beide Sprachen gleichzeitig und nicht getrennt voneinander, sondern „gemischt“ verwendet werden. Diese Verwendungsweise wird gewöhnlich als Code switching bezeichnet und als Sonderfäll oder als Abweichung vom Normalgebrauch bzw. als besondere Sprecherstrategie beschrieben (z.B. situatives oder metaphorisches Code switching, vgl. Gumperz 1994). Für Rußlanddeutsch-Sprecher ist Code switching die „unmarkierte“, „normale“ oder „natürliche“ Form des Sprachgebrauchs, und es kommt dabei die zweisprachige deutsch-russische Kompetenz zum Ausdruck. Diese gemischtsprachige deutsch-russische Kompetenz hat für rußlanddeutsche Aussiedler vor allem in Deutschland Konsequenzen. Im gesellschaftlichkulturellen Aspekt äußert sich das in der schwierigen Identitätszuordnung: Aussiedler empfinden sich als Deutsche, werden aber von der aufnehmenden Gesellschaft vielfach nicht zuletzt aufgrund von Sprachkriterien als Russen oder Ausländer im Sinne von „Nicht-Deutschen“ identifiziert. Die Problematik von Sprache und Identität bei Rußlanddeutschen wurde in den letzten Jahren zum Thema von einigen wissenschaftlichen Abhandlungen (vgl. z.B. Rosenberg 1993a; Reitemeier 1994). Unter politisch-administrativem Aspekt wird der Problematik der Rußlanddeutschen insofern Rechnung getragen, daß sie als eine gesonderte Einwanderergruppe als „Aussiedler“ betrachtet werden. Aussiedler sind Einwanderer wie auch die anderen fremdsprachigen Einwanderer aus dem Ausland; sie sind also Ausländer, die mit der Fremdsprache 4 Russisch nach Deutschland einwandern. Gleichzeitig sind sie aber auch ihrem politischen Status nach in gewisser Hinsicht ‘Heimkehrer’, also Deutsche, und befinden sich somit gesellschaftlich an der Schnittstelle zwischen ‘eigenkultureir und ‘fremdkulturell’. Diese Schnittstellenlage äußert sich explizit im sprachlichen Aspekt. Als Einwanderer mit der dominanten Sprache Russisch (als Staats- und Landessprache im Herkunftsgebiet) stehen Rußlanddeutsche vor genau denselben Problemen wie z.B. Arbeitsmigranten in Deutschland vor einigen Jahren (vgl. Heidelberger Forschungsprojekt 1975, 1977) Sie müssen Standarddeutsch oder eine regionale Variante des Deutschen erlernen, um in der neuen Sprachgemeinschaft eine befriedigende Kommunikation fuhren zu können. Andererseits besteht zwischen Aussiedlern und Arbeitsmigranten der Unterschied, daß für letztere Deutsch die Zweit- und Fremdsprache ist, wogegen die Aussiedler oft in einer deutschen regionalen Variante sozialisiert sind, über aktive oder passive Dialektkompetenz verfugen und einen deutschen Dialekt als Muttersprache in der Kindheit erlernt haben. Aber trotz ihrer vorhandenen deutschen Dialektkompetenz können rußlanddeutsche Sprecher oft kaum oder mit Schwierigkeiten mit den Angehörigen der neuen Sprachgemeinschaft kommunizieren. Zwar handelt es sich bei den rußlanddeutschen Varietäten zweifellos um echte deutsche Dialekte. Diese sind jedoch im Laufe der Zeit zu deutsch-russischen Kontaktvarietäten geworden, die für die deutschen Gesprächspartner oft nicht verständlich sind. Außerdem enthalten diese Dialekte fossilisierte Bestandteile des Russischen, die für die hiesigen Deutschsprecher zwar erkennbar, im binnendeutschen Dialektraum jedoch nicht üblich und deswegen auffällig sind (vgl. Kap. 4). Diese und weitere Gründe (vgl. Kap. 5) verursachen die Schwierigkeiten und Probleme bei der sprachlichen Eingliederung der Rußlanddeutsch-Sprecher in Deutschland. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, diese bei der sprachlichen Integration ablaufenden Prozesse im einzelnen zu analysieren und zu beschreiben. Zunächst wird die sprachliche Situation der Rußlanddeutschen im Herkunftsland skizziert. Da einschlägige Literatur zu dieser Frage fehlt, werden kurz auch historische Aspekte des Deutschen in Rußland behandelt (Kap. 2). Eine ausführliche Charakterisierung der heutigen sprachlichen Situation der rußlanddeutschen Aussiedler in Rußland ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung jedoch nicht möglich. Es werden daher nur Eckpunkte der Sprachkontaktsituation und die Aspekte des natürlichen Bilingualismus gestreift, von denen angenommen wird, daß sie für die sprachliche Integration in 5 Deutschland relevant sein können. Im Zentrum stehen Fragen des Sprachverhaltens der Rußlanddeutschen, ihrer Zweisprachigkeit und der gegenwärtigen Sprachkontaktsituation in Rußland. Durch die Skizzierung dieser Fragen soll die sprachlich-kulturelle Ausgangsbasis der rußlanddeutschen Aussiedler zum Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland verdeutlicht werden. Durch die Umsiedlung nach Deutschland verändern sich die Sprachsituation der Rußlanddeutschen, ihr Sprachverhalten und ihre Spracheinstellung. Im dritten Kapitel werden diese Veränderungen empirisch untersucht. Die empirische Basis bilden Fragebogenaktionen und Attitüdentests (vgl. Kap. 3). Es kann angenommen werden - und diese Annahme hat sich auch bestätigt -, daß hier eine integrative Übernahme der Spracheinstellungen der neuen Umgebung vorliegt. Unter „Verhochdeutschung“ wird der Annäherungsprozeß des rußlanddeutschen Dialekts an das überdachende Standarddeutsch verstanden. Durch den Druck von außen beginnt ein Anpassungsprozeß an das Standarddeutsche; die russischen und auch dialektalen Elemente der früheren Sprachkultur werden abgelegt. Die Ausgangshypothese wird sich wahrscheinlich aber nur für ganz bestimmte Kommunikationsbereiche bestätigen: für die öffentlich-formale Sprachpraxis. Im internen rußlanddeutschen Kreis fehlen der Anpassungsdruck und vermutlich die Motivation, die gewohnte Sprechweise zu „modernisieren“, und es kann angenommen werden, daß hier noch auf nicht absehbare Zeit eine „rußlanddeutsche Sprachinsel“ (bzw mehrere kleine Sprachinseln) in Deutschland bestehen bleiben. In Kapitel 4 wird die „Verhochdeutschungshypothese“ überprüft. Als empirische Grundlage dienen Sprachaufnahmen von Informanten, die in verschiedenen kommunikativen Situationen gemacht wurden. Grundsätzlich interessien hier die Frage, ob bei den Rußlanddeutschen beim Dialekt/ Standardkontakt ähnliche Annäherungsprozesse erfolgen wie bei einheimischen Dialektsprechem, und wenn ja, auf welche Weise und in welchem Ausmaß. Die Verhochdeutschungshypothese beinhaltet: a) Abbau der dialektalen Lautung, b) Abbau der dialektalen morphophonologischen (flexivischen) Merkmale, c) Abbau der dialektalen Bestandteile der Syntax, d) Abbau der dialektalen Lexik. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt im phonologischen Bereich; hier werden auch quantitative Analysen durchgefuhrt. In Auswahl werden auch lexikalische und syntaktische Veränderungen behandelt, z.B. das Phänomen der Herausbildung von zahlreichen dialektal-russisch-standarddeutschen Lexik-Dubletten als Folge der Sprachanpassung. 6 Durch die longitudinale Komponente im Untersuchungsdesign dieses Kapitels sollen Feststellungen über die Anpassungstendenzen ermöglicht werden: In welchem Ausmaß wird die Verhochdeutschung durchgefuhrt? Zeigen die Sprecher Tendenzen des völligen Abbaus von Dialektmerkmalen oder gibt es Ansätze zu bestimmten Fossilisierungsprozessen? Es liegt nahe anzunehmen, daß der Verlauf dieser Entwicklungen auf die Dauer von den regionalen Umgebungsvarietäten bestimmt wird. Die Anpassung an das Standarddeutsche wird bei rußlanddeutschen Aussiedlern vermutlich nicht über den Sprachstand des regional geprägten Standarddeutschen hinausgehen wie auch in regionalen Alltagssprachen in Deutschland (Auer 1990). Darüber hinaus ist damit zu rechnen, daß bestimmte, im Rußlanddeutschen sehr ausgeprägte Dialektmerkmale nicht abgelegt werden können und daß diese resistenten Merkmale die rußlanddeutschen Sprecher auf längere Zeit von den einheimischen Sprechern unterscheiden werden (Kap. 4). Die rußlanddeutschen Dialekte weisen in ihren wesentlichen Zügen zweifellos Merkmale der dialektalen Varietäten im deutschsprachigen Raum auf und können auch auf großräumigen Dialektkarten lokalisiert werden (vgl. Kap. 6, Beispieltexte und Kommentare). Sie enthalten jedoch auch ausnahmslos Merkmale, die sie von den autochthonen Dialekten des deutschsprachigen Raumes unterscheiden. Diese Merkmale betreffen die Eigenschaft der rußlanddeutschen Dialekte als Kontaktvarietäten. In jahrhundertelangem Kontakt zur russischen Sprache haben diese Dialekte den fremdsprachigen Einfluß aufgenommen und allmählich fossilisiert (vgl. Kap. 5). Hinsichtlich dieses russischsprachigen Anteils wird in der vorliegenden Untersuchung die Verdeutschungshypothese aufgestellt. Es ist zu vermuten, daß die russischen Elemente in Deutschland als kommunikationsstörender Faktor auftreten und daher von den Rußlanddeutsch-Sprechern intensiv vermieden werden. Im Zentrum der Untersuchung steht jedoch nicht die umfassende Beschreibung der Zweisprachigkeitssituation der rußlanddeutschen Aussiedler in Deutschland und speziell deren zweisprachige Kompetenz. Es geht vielmehr darum, den Übergang von der deutsch-russischen Zweisprachigkeit zur deutschen Einsprachigkeit zu beschreiben und die Besonderheiten dieser Prozesse bei rußlanddeutschen Aussiedlern im Vergleich zu Deutschlernern mit russischer Primärsprache (exemplarisch am Beispiel von nichtdeutschen Ehepartnern von Rußlanddeutschen) festzustellen. Die empirische Basis für die Untersuchung der russischen Sprachkontaktphänomene (Interferenzen, Code switching, Entlehnungen u.a.) bilden ebenfalls Sprachaufnahmen in verschiedenen Kommunikationssituationen (wie in Kap. 4). 7 Die sprachlichen Veränderungsprozesse werden abschließend unter Gesichtspunkten des Sprachwandels beschrieben. In neueren Sprachwandeltheorien werden nicht nur phonologische und lexikalisch-grammatische Gesichtspunkte in Betracht gezogen, sondern es wird das ganze kommunikativ-ökologische Umfeld berücksichtigt. Die Sprachsituation der rußlanddeutschen Aussiedler bietet eine gute Möglichkeit zu Studien über Sprachwandel. Es hat sich erwiesen, daß die Sprachwandeltheorie, die die Invisible-Hand-Prozesse als Wandelfaktoren berücksichtigt (vgl. Keller 1990), sich bei der Interpretation der tatsächlichen Handlungsweisen der Rußlanddeutschen fruchtbar verwenden läßt. Das kommunikativ-ökologische Umfeld der Rußlanddeutschen kann als eine Situation des Anpassungszwangs beschrieben werden. Bewußte Entscheidungen für eine Anpassung rufen bestimmte Sprachwandelphänomene hervor. Wie weit diese Maximen im sprachlichen Bereich reichen, welche sprachlichen Veränderungen durch Maximen erklärt werden können und welche nicht, welche Zusammenhänge hier erkennbar werden diese und andere Sprachwandelfragen werden in Kapitel 7 behandelt. Natürlich ergeben sich aus der Untersuchung auch Konsequenzen für die Förderung der sprachlichen Integration (Kap. 8). Bei gezielten Sprachförderungsmaßnahmen (z.B. Sprachkurse für Aussiedler) sollte an die gewohnten Lernmethoden und Lernformen angeknüpft werden. Es sollten bestimmte spezifische Lerninhalte durch Anweisungstexte explizit vermittelt werden. Bei der Durchführung dieser Sprachkurse sollte berücksichtigt werden, daß es sich hierbei einerseits um Primärsprachdidaktik handelt; andererseits geht es nicht um einen Unterricht, der nach DaF-Methoden abgehalten werden kann. Es sollte hier ein didaktisches Konzept entwickelt werden, das speziell auf sprachliche Bedürfnisse und Ausgangskenntnisse der erwachsenen Aussiedler eingeht. 8 2. Sprachliche Situation im Herkunftsland 2.1 Historische Aspekte des Deutschen in Rußland Die Sprachgeschichte des Rußlanddeutschen und der rußlanddeutschen Sprachgemeinschaft in Rußland umfaßt zwei deutlich voneinander zu trennende Perioden: die Phase der Stabilität und kontinuierlichen Entwicklung (Phase 1) und die Phase der Instabilität und Diskontinuität (Phase 2). Die Phase 1 begann mit der Umsiedlung von Deutschen nach Rußland (1763) und dauerte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges an (1941). In dieser Phase des vergleichsweise stabilen Bestehens der kompakten deutschen Siedlungen vollzog sich die Sprachentwicklung des Rußlanddeutschen unter Bedingungen der Einsprachigkeit. Der soziolinguistische Kommunikationsgemeinschaftstyp der Rußlanddeutschen waren mononationale deutsche Siedlungen (Sprachinseln) mit einer vorherrschenden dialektalen Variante des Deutschen als Verkehrsvarietät. Die überwiegende Mehrheit der rußlanddeutschen Bevölkerung lebte in der ersten Phase in Ortschaften dieses Typs; ihrer Entstehung nach werden sie in „Mutterkolonien“ (direkt von Übersiedlern aus Deutschland gegründete Siedlungen) und „Tochterkolonien“ (gegründet von Übersiedlern aus den Mutterkolonien) unterteilt (Dinges 1923). Sprachlich-soziologisch gesehen waren diese Siedlungen soweit man dies nach dem „Wolgadeutschen Sprachatlas“ beurteilen kann weitgehend ähnlich; die sprachliche Differenz zwischen den zahlreichen Mutter- und Tochterkolonien bestand ausschließlich in der Varietätenzusammensetzung. Die Tochterkolonien wiesen in der Regel ein noch bunteres Dialektmosaik auf als die Mutterkolonien (vgl. Berend 1997). Diese typischen deutschen Ortschaften bildeten in der Regel großflächige zusammenhängende Sprachlandschaften, z.B. die Wolgadeutsche, die sibiriendeutsche oder die wolhyniendeutsche Sprachlandschaft. Bis in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es in verschiedenen Regionen der Sowjetunion eine ganze Reihe von ähnlichen deutschen Sprachlandschaften: in der Ukraine, auf der Krim, im Kaukasus, in Zentralrußland, in Sibirien und im Fernen Osten. Ende der 20er Jahre des 20. Jh. existierten in der Sowjetunion 2042 deutsche Siedlungen (Silier 1929, 67); die größte deutsche Sprachlandschaft bildete die Wolgadeutsche Sprachinsel, die sich am rechten und linken Ufer der Wolga befand, und die 1924 von der sowjetischen Regierung zur „Republik der Wolgadeutschen“ ernannt wurde (vgl. Karte „Wolgadeutsche Sprachregion“). 9 Wolgadeutsche Sprachregion (um 1925). Aus: Wolgadeutscher Sprachatlas' (wdsa) (Berend 1997). 1) Das Varietätenspektrum in Sprachinseln. Für die deutschen Sprachinseln Rußlands kamen drei Varietäten in Frage: 1. Der örtliche Dialekt, d.h. die dialektale Varietät des Deutschen, die im entsprechenden Ort als Verkehrsvarietät vorwiegend benutzt wurde. 2. Die deutsche „Literatursprache“, eine standardnahe rußlanddeutsche Variante des Flochdeutschen. 3. Die kontaktierende Umgebungssprache das Russische, das Ukrainische, das Georgische u.a. In den örtlichen Dialekten waren fast alle dialektalen Typen aus Deutschland vertreten. Es handelte sich dabei weitgehend um Basisdialekte, die ihre 10 primären und sekundären Merkmale in der neuen sprachlichen Umgebung bewahrt haben (Schirmunski 1930; Dulson 1933). Die Einwanderung der Deutschen nach Rußland ist in Schüben erfolgt. Betroffen waren dabei jeweils unterschiedliche Auswanderungsregionen. (Über die Auswanderung vgl. Stumpp 1991; Auerbach 1989.) Entsprechend der Auswanderungszeit und den Auswanderungsregionen haben sich in Rußland allmählich Sprachlandschaften konstituiert, die vorwiegend als hochdeutsche, mitteldeutsche oder niederdeutsche charakterisiert wurden. So herrschte an der Wolga der mitteldeutsche Typ vor (Dulson 1933). Süddeutsche Dialekte waren vorwiegend in der Ukraine und im Kaukasus verbreitet (Schirmunski 1926, 1930). Es ist jedoch im einzelnen schwer zu beurteilen, wie die dialektgeographische Verteilung genau war; eine historische dialektgeographische Karte der gesamten deutschen Siedlungen in Rußland existiert nicht. Eine Ausnahme bildet der Wolgadeutsche Sprachatlas, der die sprachgeographische Strukturierung der Wolgadeutschen Region dokumentiert (Berend 1997). Über die sprachliche Substanz der zu dieser Zeit gesprochenen dialektalen Varietäten, über Fragen der Dialektmischung und des Dialektausgleichs, der sich möglicherweise innerhalb der Ortschaften und Sprachlandschaften vollzogen hat, können Schlüsse nur aufgrund von einigen wenigen punktuellen Ortsuntersuchungen gezogen werden. Wichtig ist die Frage, ob die deutschen Basisdialekte in Rußland in ihrer ursprünglichen Form erhalten geblieben sind oder ob sie sich in der neuen dialektalen Umgebung mit anderen Dialekten vermischt haben. In den fränkisch-schwäbischen Siedlungen der südlichen Ukraine haben offensichtlich intensive Dialektmischungsprozesse stattgeftmden (Zirmunskij 1931, 93ff). Auch die oberhessischen Mundarten in der Nordukraine haben ihre primären Merkmale in den Tochterkolonien aufgegeben: Sie sind offenbar unter den Einfluß der wirtschaftlich stärkeren und kulturell höherstehenden Nachbarkolonie geraten (Sokolskaja/ Sinder 1930, 348) Wie intensiv jedoch diese Mischungsprozesse waren und nach welchen Gesetzmäßigkeiten sie verliefen diese Frage kann heute nicht mehr beantwortet werden, zumindest nicht, was die gesprochene Sprache betrifft Es ist jedenfalls offensichtlich, daß das von Viktor Zirmunskij entwickelte Mischungs- und Ausgleichskonzept nicht auf alle rußlanddeutschen Dialekte zutraf; für Nordbairisch und Niederdeutsch ist dies von ihm selbst hervorgehoben worden (Zirmunskij 1976, 495). Einige rußlanddeutsche Dialekte haben bis heute viele primäre Merkmale bewahrt und weisen keinerlei Mischungsanzeichen auf (vgl. 2.3). 11 Eine weitere Varietät im Registerspektrum in deutschen Sprachinseln Rußlands während der stabilen Phase war die deutsche „Literatursprache“, die nationale Variante der hochdeutschen Standardsprache in Rußland. Die deutsche Standardsprache war von Anfang an in konfessionellen Schulen Unterrichtssprache; nach der Revolution 1917 wurde sie zur Amts- und Verwaltungssprache (Eisfeld 1987, 55). Das Russische als die dritte Varietät spielte zunächst eine geringe Rolle im Varietätenspektrum. Nach der Revolution gewinnt das Russische allmählich die führende Rolle als Sprache der ‘interkulturellen’ Kommunikation und entwickelt sich von einer Kontaktsprache (Nachbarsprache) zu einer ‘Überdachungssprache’, und zwar nicht nur für das Deutsche in Rußland, sondern auch für andere Sprachen (zum Konzept der sprachlichen Überdachung vgl. Löffler 1994, 63). In der Wolgarepublik z.B. wurde Russisch als Fremdsprache unterrichtet, trotz der ukrainischen Umgebungsgesellschaft und ungeachtet der zahlreichen ukrainischen Nachbarsiedlungen im Wolgadeutschen Gebiet (vgl. Dul’zon 1927). - Die soziolinguistischen Aspekte der Kontakte der gesprochenen Sprachinselvarietät (des Dialekts), der hochdeutschen Variante und der entsprechenden Kontaktsprache der Sprache der Umgebungsgesellschaft sind nicht erforscht. Insbesondere für die Zeit vor der Revolution 1917 gibt es keine Angaben über deutsch-georgische, deutsch-ukrainische oder über deutsch-kasachische und deutsch-tatarische Sprachkontakte. Daß diese Bevölkerungsschichten in Rußland miteinander in Kontakt kamen, ist jedoch aus der Geschichtsforschung bekannt. 2) Spracheinstellungen. Es stellt sich nun die Frage, welchen Stellenwert diese Sprachvarietäten in den Kommunikationsgemeinschaften hatten. Man ist sich in der Forschung einig, daß die rußlanddeutschen Dialekte in den Kommunikationsgemeinschaften eher kein hohes Prestige genossen. Jean-Francois Bourret vergleicht etwa die Wolgadeutschen mit Bretonen: „Die damaligen Wolgadeutschen waren [. . .] nicht eben stolz auf ihren Dialekt, den sie eher als eine Bauernsprache zweiten Ranges betrachteten, vergleichbar etwa den Bretonen, die sich beinahe ihrer Sprache schämten. Für die Bretonen war das Erlernen des Französischen ebensosehr der Preis für den sozialen Fortschritt, wie es für die Wolgadeutschen das Erlernen des Russischen war“. Bourret sieht in dem mangelnden Prestige der deutschen Dialekte den wichtigsten Grund für die Verankerung des Russischen im Unterricht. Auf den ausdrücklichen Wunsch der deutschen Bevölkerung wurden zahlreiche Ministerialschulen eingerichtet, in denen die Unterrichtssprache Russisch war (Bourret 1990, 150). Aber auch in den 20er Jahren, also in der Zeit nach der Oktoberrevolu- 12 tion, wurden die deutschen Dialekte als „die Sprache der Bauern“ angesehen, und es war weitgehend die Meinung verbreitet, die Dialekte seien gar keine richtige deutsche Sprache, sondern eine verdorbene, platte Sprache, ein „Plattdeutsch“, „gefälschtes Deutsch“, „Bauernsproch“ (Ström 1928, 8), und daß in Deutschland niemand so spreche oder jemals so gesprochen habe (Dinges 1923, 60). Das Vorurteil, daß die Dialekte eine „verdorbene Schriftsprache“ sind, herrschte zu dieser Zeit in allen deutschen Regionen vor, nicht nur unter Bauern, sondern auch unter Intellektuellen (Schirmunski 1926, 45ff). Welchen Stellenwert hatte das Hochdeutsche bzw. die deutsche „Literatursprache“ in dieser ersten Phase der Sprachentwicklung in fremdsprachlicher Umgebung? Welche Überlegungen und Gründe spielten bei der Bewertung dieser Varietät mit? Es gibt in der Forschung Hinweise, daß dies von Region zu Region unterschiedlich war. Einen hohen sozialen Rang hatte die deutsche Sprache in St. Petersburg und in den baltischen Provinzen (Bourret 1990, 150). Anders war es offensichtlich unter den deutschen Kolonisten in den Sprachinseln, in denen der Standard im dortigen Schulwesen deutlich niedriger gewesen sein muß als z.B. in den baltischen Provinzen. Als Bildungssprache hatte das Hochdeutsche im Baltikum mit dem Russischen zu kämpfen. Als Sprache des sozialen Aufstiegs hatte das Russische zu dieser Zeit offensichtlich ein höheres soziales Prestige als die deutsche „Literatursprache“. Im zaristischen Rußland genoß das Baltisch-Deutsche besonders hohes Prestige und wurde von vielen für nachahmungswert gehalten. Der Lehrbuchautor Alfred Ström charakterisiert in seinem „Handbuch für Dorfschullehrer und Studierende“ diese Nachahmung des „nobel“ klingenden Baltisch-Deutschen als „Überschätzung“ (Ström 1928, 18). Die Grunde einer solchen „ungerechten Hervorhebung dieser Umgangssprache“ sieht er in dem Einfluß der Geistlichkeit (der Pastoren), die die Dorfintelligenz bildeten und die meistens im baltischen Dorpat studierten. Außerdem stammten die deutsch-russischen Gebildeten oftmals aus den Ostseeprovinzen. Die baltisch-deutsche Variante des Deutschen genoß nach Ström sogar beim nichtdeutschen baltischen Bauernstand hohes Prestige: Die Esten und Letten verleugneten nicht selten ihre Abstammung und verdeutschten ihre Familiennamen. In der Zeit nach der Oktoberrevolution sollte das Prestige der deutschen Sprache gehoben werden. Die Erhebung des Deutschen zur Unterrichts- und Verwaltungssprache hat den Stellenwert des Hochdeutschen im Vergleich zum Russischen sicherlich positiv verschoben, da nun die Aufstiegsorientiertheit auch mit dem Deutschen verbunden war. Welche Variante des Hochdeutschen das war, beschreibt sehr 13 treffend (und belegt das auch mit vielen Beispielen) Schiller. Die deutsche Sprache sollte zur „sozialistischen deutschen Sprache“ werden, und dafür wurde sie gereinigt: Nicht nur die russischen, sondern überhaupt alle „ausländischen“ Wörter sollten aus dem Deutschen entfernt oder getilgt werden. Diese Reinigung vergleicht Schiller mit der Tätigkeit der Sprachgesellschaften in Deutschland im 17. und 18 Jahrhundert (Silier 1929, 77). 3) Spracherwerb und Sprachkenntnisse. Was ist über die Erwerbsbedingungen und über die Sprachkompetenz der Rußlanddeutschen unter historischem Aspekt bekannt? Der Dialekt, das wichtigste Kommunikationsmittel in den deutschen Orten, wurde im Familienkontext erworben und erfüllte die Rolle der Mutter- und Erstsprache. Man kann annehmen, daß es in bezug auf Dialektkompetenz wohl kaum Differenzen gab, die schichtenspezifisch bedingt waren, bzw. Differenzen, die vom Alter oder von der Bildung abhängig waren. Das Hochdeutsche („das Schriftdeutsche“, das Deutsche „nach der Schrift“) wurde dagegen in der Schule erworben; die Erwerbsintensität war offensichtlich von Region zu Region, sogar von Dorf zu Dorf, verschieden. Es gab zwar in den deutschen Kolonien von Anfang an Schulen, und es ist damit zu rechnen, daß die meisten Kinder den Anfangsunterricht in Deutsch schon sehr früh erhalten haben und zumindest schreiben und lesen konnten. Eine gezielte Verbesserung des hochdeutschen Sprachunterrichts begann jedoch erst nach der Revolution, als Deutsch wieder zur Unterrichtssprache wurde. In dem schon erwähnten Handbuch für Dorfschullehrer und Studierende hat Ström folgende Aufgabe als Motto formuliert: „Ein mächtiges Kulturelement, ein Haupthebel in der Kulturrevolution ist die Sprache. Aufgabe unserer Bildungsarbeiter ist, das Niveau des deutschen Sprachgebrauchs unter den deutschen Kolonisten in der Sowjetunion zu heben“ (Ström 1928, 2). Die Einführung des Deutschen als Unterrichtssprache und die Erweiterung des Deutschunterrichts überhaupt haben offensichtlich große Schwierigkeiten mit sich gebracht. In dieser Zeit wurde das Konzept des „Deutschunterrichts in mundartlicher Umgebung“ entwickelt und auf wissenschaftlicher Grundlage behandelt (Ström 1928; Dulson 1933). (Dieses Konzept wurde in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg wieder aufgegriffen; heute wird dieser Unterricht als ‘muttersprachlicher Deutschunterricht’ in einigen deutschen Schulen in Rußland praktiziert.) Das Ziel dieses Unterrichts war unter anderem, den Erwerb des Schriftdeutschen auf den vorhandenen mundartlichen Kenntnissen aufzubauen und dadurch den Unterricht zu intensivieren. Die Mundart sollte nicht verdrängt werden; das Schriftdeutsche sollte als ein „fremdartiges Idiom“ be- 14 trachtet und angeeignet werden. Es wurde viel Wert darauf gelegt, das Schriftdeutsche zu unterrichten und nicht eine mundartlich gefärbte Sprache, d.h. eine Sprache mit „kolonistisch-hochdeutschen“ bzw. „mennonitischplattdeutschen“ Einschlägen (Ström 1928; 7, 62). Diese Bemühungen um einen verbesserten Hochdeutschunterricht haben dazu geführt, daß die Hochdeutschkompetenz der rußlanddeutschen Dialektsprecher deutlich stieg. (Über die Entwicklung der deutschen Sprachkultur und Verbreitung des Hochdeutschen in dieser Zeit vgl. auch Jedig 1990; Vaskau 1993; Serobabov 1993.) - Die Folgen der Erhöhung der Hochdeutsch-Kompetenz und der Verbesserung des Hochdeutschunterrichts wirken sich auch noch in der Gegenwart aus. Über eine wenn auch minimale - Hochdeutsch-Kompetenz verfügen nämlich nur diejenigen Rußlanddeutschen der älteren Generation, denen in der Vorkriegszeit muttersprachlicher Deutschunterricht erteilt wurde (vgl. 2.3). Weniger Bedeutung wurde in diesen Jahren des Aufblühens der deutschen Sprachkultur dem Russischunterricht beigemessen (über den Russischunterricht bis zum Ersten Weltkrieg vgl Bourret 1990). In einigen Schulen wurde Russisch überhaupt nicht unterrichtet; in anderen waren für den Russischunterricht zu wenige Stunden vorgesehen. Im Jahre 1934 hatten 30 Prozent der Schüler (5.-7. Klasse) in der Wolgadeutschen Republik unbefriedigende Noten in Russisch (Cebotareva 1993, 25). Als 1937 das Russische als Pflichtfach eingeführt wurde, begann in den deutschen Regionen eine kontroverse Diskussion. Einerseits wollte man die Russifizierung vermeiden, andererseits aber verursachte die mangelnde Russischkompetenz sehr begrenzte Aufstiegsmöglichkeiten (Cebotareva 1993, 25). Trotz der Erweiterung der Russischstunden im Jahre 1938 war die Russisch-Kompetenz der rußlanddeutschen Bevölkerung sehr mangelhaft. Dies zeigte sich auch bei der Deportation in russisch- und anderssprachige Regionen im Jahre 1941. Nur wenige Deutsche beherrschten das Russische genügend; die meisten Rußlanddeutschen besaßen nur minimale Russischkenntnisse (Jedig 1990, 211). 4) Sprachgebrauch. Bei der Charakterisierung des Sprachgebrauchs in der Vergangenheit muß betont werden, daß von einer echten Diglossie bzw. Triglossie in irgendeinem Sinne nicht die Rede sein kann. Die deutsche Sprachgemeinschaft insgesamt war nicht bilingual, sondern durchgehend einsprachig; alle Domänen waren durch die herrschende dialektale Verkehrsvarietät belegt, Schule und Kirche nicht ausgenommen. Die im Umgang verwendete Bildungssprache Hochdeutsch war stark dialektal gefärbt. Dies berichten Zeugen, die den Sprachgebrauch der Rußlanddeutschen in der Vorkriegszeit 15 erlebt haben. Auch ein Schüler von Viktor Schirmunski, der die Übergänge Dialekt-Hochdeutsch in der Wolga-Region erforschte, hat dies unterstrichen: Noch in den 30er Jahren spielt nicht die Bildung eine entscheidende Rolle für den Gebrauch des Hochdeutschen, ja nicht einmal für ein Bemühen darum: „Bis jetzt gibt es noch keinen richtigen Kampf (angefangen von der Grundschule bis zur Hochschule) für die vollständige Beherrschung der deutschen Sprache. Diejenigen, die eine Mittelschulbildung haben, aber auch die mit Hochschulbildung sprechen eine sehr lokal gefärbte Sprache“ (Bernikov 1937, 22). Insgesamt läßt sich vermuten, daß im Domänenspektrum weder für das Hochdeutsche noch für das Russische eine reale Zuordnung existierte. Das Russische hat noch eher einen differenzierteren Anwendungsbereich aufzuweisen, und zwar in der Outgroup-Kommunikation (d.h. in der Kommunikation mit Sprechern, die das Rußlanddeutsche nicht beherrschten). In dieser Domäne waren zumindest ansatzweise anderssprachige, z.B. russische, Kenntnisse erforderlich. Einige Hinweise in der Forschungsliteratur veranlassen uns zur Annahme, daß das Hochdeutsche in der Motivationshierarchie zu dieser Zeit weniger Chancen hatte als das Russische. Die stabile Sprachverwendungspraxis der deutsch-dialektalen Verkehrsvarietät ließ wenig Platz für Innovationen im alltäglichen Sprachgebrauch. Für Innovationen waren die Sprecher nicht besonders offen. Das geht deutlich aus einer Äußerung von Ström hervor, der sich im Vorwort seines „Handbuchs“ an die Zeitgenossen wendet und für die hochdeutsche Sprechweise wirbt: „Die phonetische Methode ist nichts Neues und wird heutzutage bei jeglichem fremdsprachlichen Unterricht für obligatorisch gehalten. Neu ist hier nur ihre Anknüpfüng an die Mundart und die Forderung, beim Deutschunterricht die Mundarten nicht nur zu berücksichtigen, sondern von ihnen auszugehen. Dennoch sehe ich Unzufriedenheit voraus und höre die ewige Frage: ‘Wozu das? Wir wollen auch weiter so sprechen, wie wir bis jetzt gesprochen haben! ’ Genossen! Laßt uns nie mit dem, was wir schon erreicht, genug haben. Vorwärts! ist der Ruf der Zeit, vorwärts aufjeglichem Gebiet! “ (Ström 1928, 4). Dieses von Ström beobachtete „Trägheitsphänomen“ hat vermutlich zu Beginn der Orientierung am Hochdeutschen in bestimmten Domänen einige Probleme hervorgerufen: Die staatliche Förderung der deutschen Sprachkultur und der tatsächliche Sprachgebrauch kamen hier offensichtlich in Widerspruch, insbesondere, als Deutsch 1924 als Amts- und Unterrichtssprache eingeführt wurde. Dies wird von Schiller ausführlich beschrieben (vgl. Silier 1929). 16 Einen interessanten, aber bislang unerforschten Aspekt des Sprachgebrauchs der Rußlanddeutschen in historischer Hinsicht stellt die in gewissem Sinne ‘interkulturelle’ Kommunikation der Sprecher verschiedener Dialekte miteinander dar. Politische, wirtschaftliche und kulturelle Gründe haben diese Kommunikation intensiviert und auf verschiedene Bevölkerungsschichten erweitert. Gerade in der Anfangsphase der intensiven Kontakte ist eine Lingua franca in Form von Hochdeutsch oder Russisch aus den beschriebenen Gründen nicht zu vermuten. Es liegt eher nahe, hier einen ‘polyglotten Dialog’ zu vermuten. Diese besondere Form des Sprachgebrauchs setzt passive Kompetenz in der jeweils anderen Varietät voraus. Jeder Interaktionspartner spricht jedoch seine eigene Varietät. In deutschen Sprachinseln in Rußland waren das die unterschiedlichsten deutschen Dialekte. In Gesprächen mit Vertretern der älteren Generation habe ich zahlreiche Hinweise auf eine Kommunikation in der Art des ‘polyglotten Dialogs’ bekommen. - Es wäre hier interessant festzustellen, mit welchen dialektalen Varietäten ein solcher Dialog möglich war, und Sprecher welcher Varietäten darauf zuerst verzichtet haben und zu einer Lingua franca (Russisch oder Hochdeutsch) übergingen: hochsprachenahe oder hochspracheferne Dialekte? Andererseits müßte gerade in diesem Zusammenhang das Mischungs- und Ausgleichskonzept von Schirmunski überprüft werden. Die beiden erwähnten Konzepte stellen zwei verschiedene, zum Teil einander ausschließende Sprachverhaltensweisen dar. Im Falle des polyglotten Dialogs wird die eigene Sprechweise beibehalten; im Falle der Mischung werden einzelne Merkmale der eigenen Varietät aufgegeben und einige aus der fremden Varietät übernommen. (Zum Mischungskonzept im Rußlanddeutschen vgl. besonders Zirmunskij 1931.) Im gegenwärtigen Sprachverhalten der Rußlanddeutschen lassen sich beide Tendenzen nachweisen (vgl. 2.3). 5) Sprachwissen. Die abschließende Behandlung der historischen Aspekte soll hier noch das Sprachwissen und Sprachbewußtsein der Rußlanddeutschen in der Vergangenheit beschreiben. Eine spezielle Untersuchung dazu existiert nicht. Es finden sich jedoch in verschiedenen Quellen Hinweise darauf, wie Rußlanddeutsche ihre Sprachlichkeit empfunden haben und wie sich die sprachliche Identität in eigener und fremder Reflexion widerspiegelte. Diese Hinweise deuten darauf hin, daß die alten Sprachidentifikationsmerkmale wie Pfälzer, Hessen, Schwaben u.a. zwar noch im Bewußtsein verankert waren, allmählich jedoch durch neue ersetzt wurden. Dieser Prozeß der Umorientierung hat besonders für das Sprachwissen und Sprachbewußtsein der nachfolgenden Generationen gravierende Folgen gehabt. Bezeichnungen wie Pfälzer oder Hessen nehmen neben geographischen Zuordnungen auch implizit Bezug 17 auf die entsprechende Varietät: die pfälzische, die hessische Mundart. Dieser implizite Bezug auf die Sprache ist in Rußland allmählich verlorengegangen. Zur Abgrenzung von der einheimischen russischen bzw ukrainischen Bevölkerung wurden die Rußlanddeutschen „Kolnischte“ genannt (Kolonisten); als „Kolnischte“ verstanden sich aber nur die Sprecher der Dialekte aus dem mittel- und hochdeutschen Sprachraum (vgl. Ström 1928). Die Sprecher aus dem niederdeutschen Raum wurden als „Manischte“ bezeichnet (assimilierte Form von ‘Mennoniten’). Diese Bezeichungen implizieren noch zum Teil die sprachliche Zuordnung: Rußlanddeutsche Mennoniten haben immer niederdeutsch gesprochen (nicht etwa wie in den USA, wo die meisten Mennonitengruppen pfälzisch sprechen); die anderen Kolonisten immer süd- oder mitteldeutsch. Im offiziellen Deutschunterricht wurden diese Bezeichnungen reflektiert, indem mundartliche „mennonitisch-plattdeutsche“ oder „kolonistisch-hochdeutsche“ Einschläge beseitigt werden sollten (Ström 1928, 62). Völlig verlorengegangen ist der sprachliche Bezug in den neuen Selbst- oder Fremdbenennungen, die durch geographische Differenzierungen entstanden. Namen wie ‘Jamburger’, ‘Wolgadeutsche’, ‘Schwarzmeerdeutsche’, ‘Ukrainedeutsche’, ‘Wolhyniendeutsche’, ‘Samaradeutsche’, ‘Belmeser’, ‘Krimdeutsche’ sagen nichts über die primäre autochthone Sprachlichkeit aus, sondern nur über die aktuelle regionale Zuordnung der Sprechergruppen. Es ist jedoch zu vermuten, daß in der Zeit bis zum 2. Weltkrieg (also bis zur Aussiedlung der Rußlanddeutschen in den Osten) das Wissen über die Herkunftsregionen in Deutschland und die eigene sprachliche Zuordnung in diesem Zusammenhang noch vorhanden war. Interviews mit Vertretern der älteren Generationen von Rußlanddeutschen liefern dafür zahlreiche Belege. Dieses Sprachwissen ist bei der jüngeren Generation von Rußlanddeutschen verlorengegangen (vgl. 2.3). 2.2 Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Sprachsituation der Rußlanddeutschen Die oben beschriebene Sprachentwicklung vollzog sich in der ersten Phase des Deutschen in Rußland: in der Phase der Stabilität. Die bei der Ansiedlung gegründeten Ortschaften haben sich über eine Zeit von mehr als zwei Jahrhunderten stabil und kontinuierlich weiterentwickelt; die einzige sichtbare Bewegung eines Teils der Rußlanddeutschen war die freiwillige Ostmigration die Gründung von neuen deutschen, den sog, „Tochterkolonien“ (im Gegensatz 18 zu den von Anfang an bestehenden „Mutterkolonien“) und die Ausweisung in die östlichen Gebiete zuerst im östlichen Zentral- und Südrußland und ab Anfang des 20. Jh. im Rahmen der sog. Stolypin-Reform bis nach Sibirien und Mittelasien (Eisfeld 1992, 58). Diese Ostbewegung hat jedoch die Stabilität nicht gefährdet, denn es handelte sich um eine freiwillige Auswanderung aus übervölkerten Regionen und um die Gründung von neuen deutschen Siedlungen im Osten, die in vielerlei Hinsicht - und insbesondere auch sprachlich eine Erweiterung der Auswanderungsgebiete im Westen des Landes waren Mit dem Anfang des 2. Weltkrieges beginnt die zweite Phase in der Sprachentwicklung des Rußlanddeutschen: die Phase der Instabilität und Diskontinuität, die auch in der Gegenwart noch andauert. Diese Phase war charakterisiert durch mehrfache Verwerfungen der rußlanddeutschen Minderheit und Verschiebungen von ganzen deutschsprachigen Regionen in andere Teile des Landes oder auch ins Ausland (vgl. ausführlich dazu das Kapitel „Zweiter Weltkrieg und die Rußlanddeutschen“, Eisfeld 1992). Zu den Migrationsbewegungen, die wichtigste destabilisierende Folgen für die Sprachentwicklung des Rußlanddeutschen haben, gehören Deportationen verschiedener Art von größeren Gruppen von Rußlanddeutschen. Hier ist vor allem die Deportation der Wolgadeutschen zu nennen: Die Einwohner der gesamten Wolgarepublik (vgl Karte der Wolgaregion, Kap. 2.1) wurden durch einen ‘Erlaß’ vom 28.8.1941 (Eisfeld 1992) in die Gegenden östlich des Urals (Zentral- und Ostsibirien, Kasachstan, Mittelasien) umgesiedelt. Die Rußlanddeutschen wurden familienweise in einzelnen, oft weit voneinander entfernten Orten, vorzugsweise entlang der „Transsibirischen Magistrale“, in anderssprachiger Umgebung angesiedelt. Gleichzeitig wurden Deutsche aus dem europäischen Rußland, aus Georgien und Aserbaidschan in den Osten deportiert. Dadurch entstanden neue abrupte Sprachkontakte zum Russischen, Kasachischen, Kirgisischen und anderen Sprachen Die alten Dialektkontakte zwischen Sprechern des Deutschen waren aus Entfernungsgründen nicht mehr möglich. Die Sprachsituation der deportierten Rußlanddeutschen war insofern sehr komplex, als nur wenige unter ihnen über ausreichende Russischkenntnisse verfügten (Jedig 1990). Aus der Perspektive der Sprachentwicklung bedeutete der Zwangscharakter der Umsiedlung, daß die deutsch-russischen Sprachkontakte in der neuen Gegend in einer nicht gerade ‘sprachfreundlichen’ Atmosphäre begannen und daß das Deutsche allseitig stigmatisiert war mit allen daraus für den Spracherhalt und Sprachverlust folgenden Konsequenzen. Auch die Rußlanddeutschen außerhalb der Wolgarepublik kamen in eine ähn- 19 liehe Sprachsituation: Deutsche aus dem Raum Leningrad, aus dem Südkaukasus u.a. wurden ebenfalls nach Sibirien und Mittelasien gebracht. Die meisten Ukrainedeutschen wurden aus der Ukraine nach Deutschland evakuiert, wo sie bis zum Ende des Krieges lebten. Vom sprachlichen Gesichtspunkt aus hatte das zur Folge, daß diese Gruppe der Rußlanddeutschen wenn auch nur für kurze Zeit in intensiven Kontakt zur deutschen Hochsprache kam. Viele von ihnen besuchten auch deutsche Schulen. Nach der Repatriierung aus Deutschland am Ende des Krieges wurde diese Gruppe der Rußlanddeutschen in den hohen Norden im westlichen Nordrußland deportiert, wo sie eine ähnliche zum Teil noch unfreundlichere deutsch-russische Sprachkontaktsituation erlebte wie die Wolgadeutschen in Sibirien (vgl. Eisfeld 1992). Bei der Beurteilung der Folgen des Zweiten Weltkrieges für die Sprachentwicklung darf auch das Phänomen der sog. ‘Arbeitsarmee’ nicht ohne Berücksichtigung bleiben (Eisfeld 1992, Kapitel „Sondersiedlungen und Arbeitslager“). Schon einige Monate nach der Umsiedlung in den Osten wurden alle erwachsenen Rußlanddeutschen erneut in Bewegung versetzt, diesmal in Richtung Norden, an die sog. ‘Arbeitsfront’. Sprachlich relevant war hier die Tatsache, daß in diesen Arbeitslagern für Rußlanddeutsche die gesamte deutsche Dialektlandschaft vertreten war. Dadurch kamen verschiedene Dialektkontakte zustande, die für die Vorkriegszeit nicht typisch waren. Auch das wirkte sich insgesamt destabilisierend aus, obwohl die Folgen dieser Dialektkontakte erst später zum Tragen kamen. Nach Stalins Tod verbesserte sich die Situation der Deutschen in Rußland, und mit dem Dekret vom 13.12.1955 erhielten sie eine teilweise Rehabilitierung (Eisfeld 1992). Dieser Erlaß hatte für die Sprachentwicklung der Rußlanddeutschen wichtige Auswirkungen. Sie erhielten zwar nicht das Recht auf die Rückkehr in ihre früheren Siedlungsregionen im westlichen Teil Rußlands die alten Sprachinselstrukturen konnten also nicht mehr hergestellt werden. Im Rahmen der neuen Siedlungsgebiete im Osten des Landes konnten die Rußlanddeutschen jedoch ihren Wohnsitz selbst bestimmen. Das bedeutete den Beginn eines neuen sprachlichen Konsolidierungsprozesses: In den Regionen West- und Ostsibiriens, in den mittelasiatischen Republiken und zum Teil auch in der Ural-Region begann eine intensive, diesmal vergleichweise freiwillige Migration der Rußlanddeutschen zu den neuen Wohnorten. Unter sprachlichen Gesichtspunkten hatte diese Migration insofern einen stabilisierenden Charakter, als die Wahl des neuen Wohnortes vorzugsweise nach sprachlichen Prinzipien erfolgte: Bayern siedelten zu Bayern, Wolgadeutsche zu Wolgadeutschen und Schwaben suchten sich Orte aus, in denen auch die schwäbi- 20 sehe Mundart gesprochen wurde. Eine Ansiedlung nach diesem sprachlichen Prinzip war von den Rußlanddeutschen zwar sehr erwünscht, jedoch mit vielen Schwierigkeiten verbunden und konnte nicht immer ohne weiteres durchgefuhrt werden. Es kann nicht die Rede davon sein, daß die sprachliche Entwicklung und die Sprachsituation auch annähernd die früheren Konstellationen angenommen haben. Es bildeten sich aber immerhin infolge dieser Migrationen im Laufe von ungefähr zwei bis drei Jahrzehnten nach Kriegsende mehrere Sprachinseln und Sprachinselchen, die den Erhalt der deutschen Sprache zumindest in geringem Umfang auch heute noch gewährleisten Als Stützpunkte der deutschen Sprache und als zentrale Ausstrahlungsgebiete der Ballungszentren dienten dabei die am Anfang des 20. Jh. gegründeten deutschen ‘Tochterkolonien’ in West- und Südsibirien (Omsk, Altai) und in Mittelasien (Kasachstan). Der größte Teil der deutschen Bevölkerung lebte jedoch in der Nachkriegszeit außerhalb dieser Sprachinseln in unstabilen sprachlichen Verhältnissen, was zum allmählichen Abbau der Deutschkenntnisse und zum Verlust des Deutschen geführt hat. Insgesamt kann festgestellt werden, daß die Neugliederung und Neustrukturierung der deutschen Siedlungen der Nachkriegszeit in der Sowjetunion keine Stabilität ergeben haben. Die Zeitabschnitte waren zu kurz, als daß sich ein neues stabiles Heimatbewußtsein hätte entwickeln können. Daraus resultiert auch die Wanderungsbereitschaft der Rußlanddeutschen in der Gegenwart der vorläufig letzten Phase der Instabilität, die voraussichtlich zur Aufgabe der Sprachinseln und somit auch zum endgültigen Verschwinden der deutschen Sprache in Rußland führen wird. Dies ist aber eine Entwicklung der Zukunft. In der Gegenwart leben in Rußland noch (nach der Volkszählung 1989) ca. zwei Mio. Rußlanddeutsche; es bestehen noch Sprachinseln und es werden auch neue deutsche Orte angelegt und von Deutschland aus unterstützt. Im folgenden Abschnitt wird die gegenwärtige sprachliche Situation des Rußlanddeutschen im Herkunftsland skizziert. 2.3 Zur gegenwärtigen sprachlichen Situation im Herkunftsland 1) Das Russische. Die wichtigste Rolle im Varietätensystem der örtlichen Kommunikationsgemeinschaften kommt in der Gegenwart der russischen Sprache zu. Durch Schule und Medien werden die rußlanddeutschen Sprecher kontinuierlich mit der präskriptiven Norm des Russischen konfrontiert. Dies betrifft insbesondere die schriftliche Form des Russischen. Differenzierter ist 21 die Lage beim gesprochenen Russisch. Hier muß zumindest mit zwei Ausprägungen bzw. Varianten gerechnet werden: a) mit dem gesprochenen Russisch der einheimischen russischen Bevölkerung, für die Russisch die Muttersprache ist, und b) mit dem gesprochenen Russisch der nichteinheimischen, nichtrussischen Bevölkerung, die die russische Sprache als „Nicht-Muttersprache“ benutzen. Als ‘Sprache der zwischennationalen Kommunikation’ (russ.: h'ü.ik MOKHanHoiiajibHoro oSmenna) ist das gesprochene Russisch nicht einheitlich. Das Russische weist in verschiedenen Regionen spezifische Merkmale auf. Dies belegt auch eine Äußerung des sowjetischen Soziolinguisten Krysin aus dem Jahr 1990: „Man muß kein Fachmann auf dem Gebiet der russischen Philologie sein, um zu verstehen, daß die russische Sprache sogar die Literatursprache, geschweige denn die Territorialdialekte und die einfache Sprechweise nicht dieselbe sein kann auf dem Raum vom Baltikum bis zur Tschuktschenhalbinsel, von den Chibinen bis zum Pamir. Es ist offensichtlich, daß die russische Rede, die wir in den Hauptkulturzentren Rußlands - Moskau und Leningrad hören, sich von der russischen Rede unterscheidet, die in Riga oder Alma-Ata erklingt. In diesen Städten und den entsprechenden nationalen Republiken ist erstens die russische Sprache der russischen Bevölkerung nicht dieselbe wie die russische Sprache der Letten und Kasachen (auch wenn die letzten das Russische gut beherrschen), und zweitens ist sie anders als die russische Sprache der Bevölkerung Zentralrußlands“ (Krysin 1990, 74; Übs. N.B.). Aber nicht nur in nationalen Regionen und Randgebieten ist das gesprochene Russisch variabel. Neben nationalen Varietäten des Russischen gehören zum Varietätensystem als Kontaktvarietäten des Rußlanddeutschen auch Mundarten der russischen Sprache (Dialekte und Soziolekte), die von der einheimischen russischen Bevölkerung (mit Russisch als Muttersprache) gesprochen werden. Neben vielen Dialekten in Zentral-, Nord- und Südrußland (vgl. Avanesov/ Orlova 1964) sind für das Varietätensystem der Rußlanddeutschen besonders die russischen Mundarten in ihren gegenwärtigen Wohngebieten relevant. Im Ural, in West- und Ostsibirien sind auch gegenwärtig noch russische Mundarten verbreitet, die als ‘crapoxcHJibnecKne’ (altertümliche) bezeichnet werden (zur Entstehung dieser Mundartgebiete vgl. Jaskin 1977). Der Einfluß der sibirischen Mundarten des Russischen und der sozial bedingten Subsysteme dieser Mundarten auf die Sprache der Rußlanddeutschen ist nicht erforscht; es existiert auch keine Untersuchung über die Rolle der russischen Mundarten im Varietätensystem innerhalb von örtlichen Kommunikationsgemeinschaften. Es wäre jedoch besonders aufschlußreich, z.B gemischtspra- 22 chige Orte zu untersuchen, an deren Sprachgemeinschaft wie das in Sibirien oft der Fall ist deutsche Dialektsprecher teilhaben. Interessant ist dabei das Verhalten der deutschen Dialektsprecher bei der Verwendung des Russischen. Meine eigenen Beobachtungen in gemischtsprachigen deutsch-russischen Orten in Sibirien haben gezeigt, daß deutsche Dialektsprecher aus gemischtsprachigen Orten bei ständigem Kontakt häufiger russische Mundartmerkmale übernehmen als entsprechende deutsche Dialektsprecher aus homogenen deutschen Siedlungen, die weniger Kontakt zu russischen Mundarten haben. Dabei ist offensichtlich, daß besonders oft die russischen Dialektmerkmale übernommen werden, die mit den eigenen deutsch-dialektalen Merkmalen zusammenfallen, z.B. die Spirantisierungen. Auch viele der lexikalischen Einheiten des Russischen, die als „halbmundartlich-dialektal“ (upocTopeMiio-jmaJicKxaJibHbie) gelten, konnten im Sprachgebrauch der Rußlanddeutschen belegt werden (vgl. einige lexikalische Beispiele bei Zurakovskaja 1977, 141ff ). Neben der russischen Sprache gehört in das Varietätensystem von Ortsgemeinschaften oft eine weitere Kontaktsprache (das Kasachische, das Usbekische, das Ukrainische). Das Ukrainische war in den früheren Entwicklungsphasen eine aktive Kontaktsprache für die Ukrainedeutschen. Spuren des Ukrainischen sind noch heute in der Sprache der rußlanddeutschen Sprecher in Mittelasien enthalten, sowohl in ihrem Russisch als auch im Rußlanddeutschen (Pjatova 1981, 94). Ebenso finden sich georgische und türkische Elemente im Schwäbischen von Kasachstan (Korn 1993, 43). Welchen Platz die Nationalitätensprachen der Republiken und die Sprachen von anderen Minderheiten im Varietätensystem der dort lebenden Rußlanddeutschen jedoch haben, ist insgesamt nicht erforscht. Einige Hinweise deuten darauf hin, daß diese Rolle nicht überschätzt werden darf. Man kann vermuten, daß z.B Mischehen eine bedeutende Domäne für diese Sprachen bilden. Aber auch hier wirken sich vermutlich die Sprachkontakte oft nicht zugunsten der Sprache der Region aus. Das hängt offensichtlich damit zusammen, daß die Nationalitätensprachen selbst durch das Russische bis vor kurzem „überdacht“ waren. In Tadschikistan und Usbekistan z.B. wurde den Kindern aus einer Mischehe, in der die deutsche Seite häufig durch die Frau vertreten war, oft die Nationalität der Frau zugewiesen. Aber auch in diesen gemischtsprachigen Familien sprachen die Kinder häufig trotz des Deutschen der Mutter und des Tadschikischen (Usbekischen oder Koreanischen) des Vaters nur Russisch (Pjatova 1981, 95). Es kann angenommen werden, daß mit der gegenwärtigen Verselbständigung der Republiken die Rollen der Nationalitätensprachen und des Russischen im Varietätensystem der dort lebenden Rußlanddeutschen sich wesent- 23 lieh verschieben werden. Ansätze zu solchen Veränderungen in der Gegenwart lassen sich bereits aus Gesprächen mit rußlanddeutschen Informanten ableiten. In der Forschung jedoch sind diese Tendenzen noch nicht reflektiert worden Russisch spielt z.B. nach Barotov im Varietätensystem der Chudzand-Region in Nord-Tadschikistan immer noch die führende Rolle, die übrigen Kontaktsprachen des „polyethnischen“ Milieus werden nicht hervorgehoben (vgl. Smirnizkaja/ Barotow 1993; auch Barotov 1993). 2) Deutsche Dialekte. Im Varietätensystem der Rußlanddeutschen spielen neben dem Russischen die deutschen Dialekte noch immer eine wichtige Rolle. Die überwiegende Mehrzahl der rußlanddeutschen Sprecher wird im Laufe des Lebens als Sprecher oder Hörer mit deutschen Dialekten konfrontiert. Es sind gegenwärtig in den rußlanddeutschen Ortsgemeinschaften folgende dialektale Varietätentypen des Deutschen verbreitet: Hessisch, Südfränkisch, Schwäbisch, Wolhyniendeutsch, Nordbairisch, Österreichisch-Bairisch, Niederdeutsch (Jedig 1986). Es stellt sich aber die Frage, ob diese Dialekte, die vor mehr als 200 Jahren aus Deutschland mitgebracht wurden, ihre ursprüngliche Form erhalten haben oder ob sie heute alle durchweg „Mischdialekte“ sind. Gerade für russische Sprachinselverhältnisse, die ja von Schirmunski bekannterweise als „Laborverhältnisse“ charakterisiert wurden, ist dies eine grundlegende Frage der Dialektentwicklung. Sind die von den Rußlanddeutsch- Sprechern verwendeten Varietäten eindeutig bairische, pfälzische oder hessische Dialekte oder sind es dermaßen gemischte Varietäten, daß man sie nicht mehr definitiv (z.B. nach primären Merkmalen) unterscheiden kann? Denkbar wäre natürlich, daß in diesen vielfältigen bunten „Laborverhältnissen“ intensive Mischungsprozesse nicht zu vermeiden waren und daß folglich die modernen rußlanddeutschen Dialekte durchweg Mischdialekte und keine deutschen Basisdialekte mehr sind, die z.B noch eindeutig auf den Karten des DSA lokalisiert werden könnten. Zu dieser Annahme verleiten auch die dialektologischen Untersuchungen von Schirmunski in der Ukraine in den 30er Jahren (vgl. Schirmunski 1926; 1930; 1930a). Für die sibiriendeutschen Dialekte jedoch ließ sich die Koine-These von Schirmunski zumindest nach dem heutigen Untersuchungsstand nicht bestätigen. Eine strukturelle Beeinflussung der dialektalen Varietäten bzw. eine Koine-Bildung ist nicht festgestellt worden, obwohl die Bedingungen dafür vorhanden gewesen wären (Rostovcev 1973, 92; Gejnc 1968, 63). Nach meinen eigenen Beobachtungen handelt es sich bei den gegenwärtigen rußlanddeutschen Sprachverhältnissen nicht um Dialekt- oder Varietätenmischung (im Sinne von Schirmunski), mit strukturel- 24 len Veränderungen und einer Koine-Bildung, sondern eher um ein Phänomen, das als „Varietätengebrauchsmischung“ bezeichnet werden kann. Wie alle Sprachinseldialekte haben die rußlanddeutschen Dialekte ihren besonderen Entwicklungsweg hinter sich. Eine wichtige Charakteristik der rußlanddeutschen Dialekte ist ihre „Dachlosigkeit“ (Cadiot/ Lepig 1987). Es macht sich hier insbesondere der fehlende Einfluß des Hochdeutschen bzw. die fehlende „Überdachung“ durch das Hochdeutsche bemerkbar. Das rußlanddeutsche Schwäbisch wirkt „konservativer“ als das Schwäbische in Deutschland; das rußlanddeutsche Hessisch ist viel „hessischer“ als in Deutschland dies alles nach Einschätzung von Sprechern dieser Dialekte in Deutschland. Die rußlanddeutschen Dialekte vermitteln den Eindruck einer tiefen Dialektalität; dieser Eindruck basiert offensichtlich auf einer deutlich wahrnehmbaren Differenz zwischen dem Standarddeutschen und den deutschen Dialekten, die von den Rußlanddeutschen gesprochen werden. Diese Differenz zwischen den rußlanddeutschen Dialekten und Hochdeutsch wird von einem Forscher aus Usbekistan folgendermaßen beschrieben: „Ein ganz anderes Bild liegt bei der Betrachtung der Dialekte in ihrem Verhältnis zur deutschen Literatursprache vor. Die sprachlichen Differenzen sind hier von solch einer Stärke, daß sie ernste Schwierigkeiten bei der sprachlichen Verständigung zwischen den sowjetischen und ausländischen Deutschen verursachen“ (Isabekov 1990, 183). 3) Hochdeutsch. Eine wichtige Frage in bezug auf das Varietätensystem ist die nach der Rolle der deutschen Hochsprache bzw. der hochdeutschen Standardsprache. Die rußlanddeutschen Aussiedler kommen in Deutschland in unmittelbaren engen Kontakt mit dem Standarddeutschen der Bundesrepublik Deutschland in seiner geschriebenen und gesprochenen Form. Dieses moderne Standarddeutsch unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der deutschen Hochsprache, die in Rußland verbreitet ist. Man könnte von einer ‘nationalen Variante des Deutschen in Rußland’ sprechen. In ihrer schriftlichen Form ist diese Variante im (spärlichen) Schrifttum der Rußlanddeutschen vertreten. Die besondere Prägung des rußlanddeutschen Hochdeutsch ist bedingt durch: a) den Sprachkontakt mit dem Russischen und b) die dialektale Ausgangsbasis. Entscheidend ist dabei jedoch, daß Hochdeutsch eine Sprachvarietät ist, die nicht definitiv einer Sprechergruppe zuzuordnen ist. Es gibt in der rußlanddeutschen Sprachgemeinschaft keine ‘Hochdeutsch-native-speaker’-Gruppe, die in der deutschen Hochsprache sozialisiert wäre. In der Bundesrepublik gibt es eine solche Gruppe; es sind die „Nur-Standardsprachesprecher“ (Mattheier 1994, 426). In Rußland dagegen ist Hochdeutsch eine von Rußlanddeutschen 25 gesteuert erworbene Sprache, und zwar großenteils erworben im Modus ‘Deutsch als Fremdsprache’. Hochdeutsch wird nicht als Familiensprache verwendet wie die dialektalen Varietäten. Daraus folgt auch die eingeschränkte Rolle des Hochdeutschen im Varietätensystem der Rußlanddeutschen und die Begrenzung seiner Funktion auf die Rolle der Fremdsprache im Unterricht. 4) Ortstyp und Sprachkemtnisse. Für die Charakterisierung der soziolinguistischen Verhältnisse bei den rußlanddeutschen Sprechern im Herkunftsland, ihrer Sprachkompetenz und der Sprachverwendung ist das Profil der Kommunikationsgemeinschaft von besonderer Relevanz. Die meisten Rußlanddeutschen leben heute nicht mehr in deutschen Sprachinseln, sondern in Städten und in den sog. ‘Siedlungen städtischen Typs’ (russ. nocejiKH ropoflCKoro ™ na). In diesen Ortsgemeinschaften mit überwiegend oder nur nichtdeutschsprachiger Bevölkerung haben die Rußlanddeutschen an Kommunikationsgemeinschaften teil, die nicht durch die gemeinsame deutsche Sprache konstituiert werden. Der Kommunikationsgemeinschaftstyp ist in den spezifisch rußlanddeutschen Verhältnissen insofern relevant für das Sprachverhalten, als es sich hier nicht um jahrhundertelang existierende traditionelle Gemeinschaften handelt wie in der oben beschriebenen statischen Phase, sondern um relativ kurz bestehende, oft durch Zwangsansiedlung notentstandene Gemeinschaften ohne gemeinsame Wurzeln (vgl. zu dieser Frage auch Rosenberg 1993a). Die soziolinguistischen Verhältnisse in Sibirien und Kasachstan sind insgesamt durchsichtiger und zum Teil eindeutiger als in anderen Sprachinselregionen, z.B. in amischen Gemeinden in Pennsylvania (Raith 1981; Louden 1991). Die lokalen Ortsgemeinschaften, in denen die Rußlanddeutschen heute im Herkunftsland leben, können nach dem Zweibzw. Mehrsprachigkeitsprofil zunächst zu folgenden drei Typen zusammengefaßt werden: Typ 1: Stadt oder Dorf mit überwiegend nicht deutschsprachiger Bevölkerung der Assimilierungstyp, Typ 2: Ländliche Siedlungen mit sprachlich gemischter Bevölkerung der Umbruchstyp, Typ 3: Ländliche Siedlungen mit überwiegend bzw. vollständig deutschsprachiger Bevölkerung der Beharrungstyp. Die meisten Rußlanddeutschen leben in lokalen Ortsgemeinschaften des ersten Typs. Dieser Typ kann als ‘Assimilierungstyp’ beschrieben werden. Da der öffentliche Sprachgebrauch des Deutschen ausgeschlossen ist, sind die in diesen Ortsgemeinschaften lebenden Rußlanddeutschen zur Assimilation gezwun- 26 gen. Dies gilt für den größten Teil der rußlanddeutschen Bevölkerung. Ausschließlich in Städten leben nach der letzten Volkszählung etwa 50 Prozent der deutschen Bevölkerung. - Die Siedlungen des zweiten Typs sind meistens in Mittelasien verbreitet und können als ‘Umbruchstyp’ bezeichnet werden. Die Hälfte der Bevölkerung ist deutschsprachig; die andere Hälfte besteht aus Russischsprachigen einerseits und den Sprechern der entsprechenden Landessprache, z.B. Kasachisch oder Usbekisch, andererseits. - Der dritte Typ kann als ‘Beharrungstyp’ bezeichnet werden, weil hier noch am meisten am Gebrauch der deutschen Dialekte in der allgemeinen Kommunikation festgehalten wird. Das sind die sog. ‘Sprachinseln’, die am Anfang des 20 Jh von Übersiedlern aus den deutschen Siedlungen im europäischen Teil Rußlands und in der Ukraine gegründet wurden (vgl. 2.1). In jeder Sprachinsel ist eine führende deutsch-dialektale Verkehrsvarietät neben zwei oder häufig auch drei weiteren deutschen Dialekten verbreitet. Wie oben ausgeführt wurde, ist im Varietätensystem der rußlanddeutschen Sprecher das Russische die dominante Sprache. Russisch ist unabhängig vom Ortsgemeinschaftstyp die Sprache der Öffentlichkeit, Staats- und Amtssprache, Unterrichts- und Mediensprache. Rußlanddeutsche Kinder erwerben das Russische in der Schule als Muttersprache. Insgesamt kann angenommen werden, daß für die überwiegende Zahl der rußlanddeutschen Sprecher das Russische zur dominanten Sprache geworden ist, auch für diejenigen Sprecher, deren Primärsozialisation in einer Varietät der deutschen Sprache erfolgt ist (vgl. hierzu Kap. 3.3). Das geht auch aus einigen empirischen Studien hervor, die im rußlanddeutschen Sprachraum durchgeführt wurden (Boni 1982; Kirsner 1984). Eine repräsentative Umfrage wurde von der sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1991 in Westsibirien durchgeführt. In den Gebieten Omsk, Nowosibirsk und Kemerowo sind 1500 Rußlanddeutsche nach ihren Sprachkenntnissen befragt worden (Smirnova/ Tomilov 1993). Frei beherrschen das Russische nach dieser Befragung 90,8 Prozent der Rußlanddeutschen, d.h. sie können gut russisch sprechen, lesen und schreiben. Bei der Beurteilung der deutschen Sprachkenntnisse der Rußlanddeutschen muß strikt zwischen der Hochdeutsch-Kompetenz und der Dialekt-Kompetenz unterschieden werden. Denn im rußlanddeutschen Sprachraum sind die Verhältnisse anders als im binnendiglossischen bundesdeutschen Sprachraum. Das folgende Zitat beschreibt deutlich die Situation in Deutschland: „Dialekte existieren heute in modernen Gesellschaften nirgends isoliert. Es gibt wohl 27 nirgendwo noch ‘reine Dialektsprecher’ oder Regionen, in denen ausschließlich Dialekt gesprochen würde. Ein Dialekt ist in jedem Sprachwissen, in jeder Sprachkompetenz immer nur ein Teil eines umfangreichen Varietäten- Spektrums. Überall in Deutschland steht neben dem Dialekt auch noch - und sei es nur in der schriftlichen Kompetenz die deutsche Standardsprache.“ (Mattheier 1994, 414). Dieser für den bundesdeutschen Raum charakteristische enge Zusammenhang zwischen dialektaler und hochdeutscher Sprachkompetenz ist in der rußlanddeutschen Sprachgemeinschaft keinesfalls die Regel. Vorhandene deutsche Dialektkompetenz setzt bei einem rußlanddeutschen Sprecher nicht notwendigerweise eine Hochdeutschkompetenz voraus. Unter bestimmten Bedingungen ist gelegentlich sogar eine „bessere“ Hochdeutschkompetenz bei denjenigen Personen anzunehmen, die am wenigsten eine dialektale Varietät beherrschen. Dies hat das Auseinanderklaffen der Schrift- und Lesekompetenz einerseits und der Sprechkompetenz andererseits zur Folge. Bei weitem nicht jeder Deutschsprecher aus Rußland kann auch deutsch schreiben. Eine angemessene Bewertung der deutschen Sprachkenntnisse der Rußlanddeutschen erfordert auch eine differenzierte Vorgehensweise, wenn die Deutschkompetenz als Ganzes erfaßt werden soll (vgl. hierzu z.B Mattheier 1994). Es ist daher unumgänglich notwendig, bei der Ermittlung der Deutschkompetenz der Rußlanddeutschen nach der Dialektkompetenz und Standardbzw. Hochdeutschkompetenz gesondert zu fragen Dies ist insbesondere deswegen wichtig, weil die Deutschkompetenz der Rußlanddeutschen bei der Bestimmung der deutschen Identität eine entscheidende Rolle spielt. In der Alltagspraxis aber - und auch in der Forschung wird diese Tatsache jedoch nicht ausreichend berücksichtigt. Auf die Unzulässigkeit einer solchen Vorgehensweise hat zum ersten Mal nachdrücklich der deutsche Sprachwissenschaftler Harald Weydt in seinem Aufsatz „Zu den Sprachkenntnissen der Sowjetdeutschen“ hingewiesen (Weydt 1991). Weydt sieht die Situation der Dialektsprecher im westeuropäischen deutschen Sprachgebiet ganz anders als die der rußlanddeutschen Sprecher: Die rußlanddeutschen Sprecher stehen nicht in einem ständigen Kontakt mit der Standardsprache und deren Schrift wie die binnendeutschen Dialektsprecher, sie lernen diese Schrift zwar zum Teil in der Schule, aber nur in geringem Maße, sie stehen nicht unter dem Einfluß des deutschen Fernsehens, leben nicht in einer mobilen deutschen Gesellschaft und interagieren nicht mit hochdeutschen Gesprächspartnern; dies hat zur Folge, daß sie kein Hochdeutsch können, obwohl sie das Deutsche als erste und Muttersprache sprechen. „Man muß also die Rede vom Deutschen als umfas- 28 sendes Diasystem ganz ernst nehmen und sich die Situation mit allen Konsequenzen vor Augen fuhren“ (Weydt 1991, 365). Ob eine Kompetenz in der Hochsprache (lesen, schreiben und sprechen) vorliegt, hängt in erster Linie vom Alter ab. Nach der Generationszugehörigkeit kann ein entsprechendes Niveau der Hochdeutschkenntnisse vorausgesetzt werden (im Durchschnitt), weil die Erwerbskontexte vom Alterskriterium abgeleitet werden können. Hochdeutsch lesen, schreiben und sprechen kann nur die älteste Schicht der älteren Generation der Rußlanddeutschen, die ihre Schulausbildung bis 1939 in den alten deutschen Vorkriegssiedlungen absolviert hat. Das ist in der Regel die Generation der heutigen Urgroßeltern. Die Großeltern dagegen sind „die Generation im Umbruch“: Die erste Gruppe hat zwar altersgemäß ihre Ausbildung in einer deutschen Schule begonnen, aber nicht abgeschlossen; eine Fortsetzung der Ausbildung nach der Umsiedlung in den Osten blieb jedoch aus, so daß sie nur über bruchstückweise Kenntnisse im Hochdeutschen verfugen. Sie können lesen, etwas sprechen und verfugen über Schriftkompetenz, die eine Mischung zwischen Deutsch und Russisch darstellt mit Dominanz des Deutschen. Die einzige Domäne des Schriftverkehrs ist der Briefwechsel; ein Beispiel dafür stellt der Auszug aus einem rußlanddeutschen Brief dar (vgl. folgende Abbildung). Die zweite Gruppe der Generation der Großeltern verfugt über keinerlei Hochdeutsch- Kompetenz; sie können Hochdeutsch weder lesen noch schreiben oder sprechen. Sie sind zum Teil Analphabeten und verfugen nur über mündliche Dialektkompetenz. Die meisten haben aber russische Schulen besucht und können (wenn auch nur sehr mangelhaft) russisch lesen und schreiben. Die Hochdeutsch-Kompetenz der mittleren und jüngeren Generation der Deutschen im Herkunftsland ist eine ausschließlich im schulischen Kontext erworbene Kompetenz. Sie ist daher mit der Kompetenz in einer Fremd- oder Zweitsprache vergleichbar und hängt entsprechend vom Bildungsgrad ab. Deutsch ist in östlichen Gebieten der früheren Sowjetunion als verbreitetste Unterrichtsffemdsprache Pflichtfach gewesen, sowohl in Schulen als auch an mittleren und höheren Bildungseinrichtungen. Neben dem Fach „Deutsch als Fremdsprache“ bestand punktuell auch das Fach „Deutsch als Muttersprache“. Die Benennung ist jedoch irreführend und eher symbolischer Natur: Seinen Zielsetzungen nach steht dieser Unterricht dem fremdsprachlichen sehr nahe und unterscheidet sich von dem letzteren im wesentlichen nur durch die etwas 29 'ii't' tr )<f / tz-ifU, V- AZ^-L-l t'W'-M ■ Uvuti JcA^n n'ü.ZUC cLaj •i.-v/ ^ ktM^Xh dsuL rtQtü ■ wZt' ela ^plt'-H.LlL zlz aA/ \-AAS ^Olfj 'llo'tt KQnMJ^ cu4 ot<i vUk >uv-a,% -mVfru.tjh't.lL * iok 4uLU eint Ja nidt Owf, (Ul UicLt ^JU- / a**. I uHcLZÄ-Oi. ollvOjlC ~LaU 'I/ IaXjK oC<sL ~k (J-CAnckz l\JXaZexcksi/ ^ 'W'OtA acxolwl^ V-t'-t x? uUl HJil vfesd'U.iifyf' öJJs^ -SO-l JoJ\ o ßuxciv ^Ux^u UCxnJJa J^OLU ^OL'UviAf oUh iueucLx. AnÄ,<--uL KoJU La./ ccutliUkAv ^ llitLh ni-l cl{(jli '1 JJil du XtiL XX / lqJ-ux ^ uL'c-eLt xoxicX . UüQou^dviltlz^ vIcjz la Bann V-J 'lu'ÄcU.r' | ^X^ Jx-ut LaJ»^ ACl ^1/ 9 ie. Uod\. W'iolr' tyUs&i, JliX^AA-iUn UliXcJ\x cui. eUiJL ^iLdlej,^ O'd^z-'i iolJxLi Ut u Hu xxn 'XX j cy If Lju. iml) iyt t'-i-^-xJ^OueUf' iAXL? 'H.'U i ‘Brief nach Deutschland" (Auszug aus einem Original-Brief) erweiterte Stundenzahl (Jedig 1990, 214ff , Klaube 1991, 112fF). Die Hochdeutsch-Kompetenz hat bei Rußlanddeutschen zwei Ausprägungen: a) Hochdeutsch mit dialektalem Einschlag und b) Hochdeutsch ohne dialektalen Einschlag. Der Typ b) kommt bei Rußlanddeutschen kaum vor: Die meisten sprechen Hochdeutsch mit einem deutlichen dialektalen Akzent. Abgesehen vom Bildungsgrad hängt dies vor allem vom Ortsgemeinschaftstyp ab: die Variante b) (ohne oder mit wenig Dialektakzent) ist für Typ 1 und die Variante a) (mit deutlichem Akzent) besonders für Typ 3 (Sprachinseln) charakteristisch. Hochdeutsch mit dialektalem Einschlag setzt großenteils noch eine dialektale Kompetenz beim Sprecher voraus (vergleichbar mit dialektalem Einschlag in Süddeutschland). In diesem Falle liegt bei Rußlanddeutschen eine Primärsozialisation in einem deutschen Dialekt vor. 30 Wenn die Hochdeutsch-Kompetenz zumindest annäherungsweise nach den Alterskriterien und dem Bildungsstand beurteilt werden kann, so ist die Dialektkompetenz der rußlanddeutschen Sprecher eine äußerst schwer zu bestimmende Größe. Eine Befragung über die Kenntnis von Sprachvarietäten bezogen auf die gesamte Sprachlandschaft der Deutschen in Rußland ist nicht durchgefuhrt worden. Die Dialektkompetenz ist in der Forschung nur im Zusammenhang mit der Entwicklung der deutsch-russischen Zweisprachigkeit und dem Sprachverlust beschrieben worden. So hat Boni ein funfstufiges Kompetenz-Modell der Sibiriendeutschen entwickelt, das die möglichen Entwicklungsphasen zwischen der aktiven deutschen Einsprachigkeit und der aktiven russischen Einsprachigkeit umfaßt (Boni 1982). Über die Dialektkompetenz sagt dieses Modell nichts aus, ebenso wie das von Kirschner entwickelte Stadien-Modell der Zweisprachigkeit eines Sprachkollektivs (Kirsner 1984; vgl. auch Berend/ Jedig 1991, 243). Etwas mehr Auskunft über die Dialektkompetenz geben die in der letzten Zeit durchgefiihrten punktuellen Befragungen in einigen Orten Sibiriens, darunter die schon erwähnte Befragung der sibirischen Akademie der Wissenschaften (Smirnova/ Tomilov 1993). In dieser und einigen weiteren Studien (Ljutova 1978; Ragozina 1983; Pjatova 1981; Kirsner 1989) wird im Zusammenhang mit Dialektkenntnissen auch die minimale Rolle der deutschen. „Literatursprache“ (Hochdeutsch) betont, sowohl in der gesprochenen als auch in der schriftlichen Form. So sind in den deutschen Siedlungen des Fernen Ostens bei Krasnojarsk in den sog. ‘krimdeutschen’ Mundarten der Sprecher nach der Untersuchung von Ragozina keinerlei Einflüsse des Hochdeutschen feststellbar; die Befragten haben nur minimale oder überhaupt keine Hochdeutsch-Kenntnisse. Das bezieht sich nach Ragozina nicht nur auf die ältere, sondern auch auf die mittlere und jüngere Generation, die Deutsch als Fach in der Schule hatte (Ragozina 1983, 149). Auch auf die niederdeutschen Dialekte (‘Plautdietsch’) in Rußland/ Sibirien ist der Einfluß der hochdeutschen Norm relativ unbedeutend (Klassen 1992, Kanakin/ Wall 1994). Bei den Mennoniten ist noch eine Art hochdeutsche Bibel- und Kirchensprache (Lingua sacra) erhalten (vgl. Stölting-Richert 1993). Die mangelnde Kompetenz im Schriftdeutschen hat zur Folge, daß der gesamte Schriftbereich allmählich zur vollständigen Domäne des Russischen geworden ist. Dies wird in allen vorliegenden Untersuchungen hervorgehoben. 31 2 4 Zusammenfassung Ziel dieses Kapitels war, die sprachliche Situation der rußlanddeutschen Aussiedler im Herkunftsland zu skizzieren. Die hier vorgestellte Skizze erfaßt die Situation bis zur Perestroika-Ära, die danach folgenden Ereignisse, vor allem die massenhafte Abwanderung, haben die hier beschriebenen Verhältnisse noch weiter destabilisiert. Es war wichtig für die Ziele dieser Untersuchung, die Verhältnisse bis zur Perestroika darzustellen, weil sie prägend auf das sprachliche Verhalten der rußlanddeutschen Aussiedler eingewirkt haben, die jetzt nach Deutschland kommen. Im einzelnen wurden anhand der entsprechenden Forschungsliteratur und eigener Erfahrungen geschichtliche, sprachsoziologische, sprachpragmatische und kontaktlinguistische Faktoren dargestellt, die die sprachliche Situation der rußlanddeutschen Minderheit in der ehemaligen Sowjetunion konstituierten. Insgesamt stellt sich eine komplexe Sprachsituation dar, in der die verschiedenen Komponenten wie z. B. sprachliche und schulische Sozialisation, berufliche Entwicklung oder dialektale Herkunft zu einem differenzierten individuellen Muster der Sprachbiographien der Rußlanddeutschen führten. Es zeigte sich, daß in keinem Stadium rußlanddeutscher Sprachgeschichte stabile und abgeschlossene Verhältnisse zu beobachten waren. Ständig wirkten extra- und intralinguistische Faktoren, die Veränderungen und Diskontinuitäten hervorriefen. Daraus folgt, daß eine generelle Einschätzung des Sprachstandes der rußlanddeutschen Minderheit im Vergleich z.B. zu anderen deutschen Minderheiten im übrigen Osteuropa nur annähernd vorgenommen werden kann. Im folgenden werden die wichtigsten Aspekte der rußlanddeutschen Sprachsituation noch einmal zusammenfassend genannt: 1. Die hochdeutsche Standardsprache hat als Minderheitensprache einen sehr niedrigen Stellenwert. Sie ist in äußerst geringem Maße Kirchen-, Medien- oder Bildungssprache. Lediglich bei den Mennoniten in Rußland hat sich das Niederdeutsche („Plautdietsch“) zum Teil als Lingua sacra erhalten. Auch in der Schule wird Deutsch als Muttersprache nur in geringem Umfang und teilweise nur in bestimmten Regionen angeboten, wobei auf die muttersprachliche Herkunft der Schüler keine Rücksicht genommen wird. Die Methodik orientiert sich weitgehend am Fremdsprachenunterricht. Die in der Schule erworbenen Hochdeutschkenntnisse sind in der Regel sehr begrenzt. 32 2. Regionale Prägungen des Deutschen sind innerhalb Rußlands nicht erkennbar. In der gleichen Region, z.B. in Sibirien oder im Altai-Gebiet, können die verschiedensten Variationen rußlanddeutscher Sprache nebeneinander existieren. Man kann an der Sprache eines Rußlanddeutschen also nicht erkennen, ob er aus Kasachstan, aus dem Fernen Osten oder von der Wolga kommt. Die wichtigsten Typen von regionalen Deutschvarietäten sind: Hessisch, Pfälzisch, Schwäbisch, Bairisch, Südfränkisch, Wolhyniendeutsch und Niederdeutsch (Mennonitenmundarten). Vertreter der genannten Typen sind in allen Gebieten des Herkunftslandes anzutreffen. 3. Das Russische als Umgebungs- und Überdachungssprache hat sich in der Gegenwart weitgehend zur dominanten Sprache aller Rußlanddeutschen entwickelt. Das Deutsche bzw. die deutsche Mundart ist, bis auf wenige Ausnahmen, nur noch auf bestimmte Nischen in der alltäglichen Kommunikation beschränkt, besonders die Kommunikation der älteren Generation untereinander oder die Kommunikation im familiären Bereich. Das Russische hat sich jedoch, trotz seiner wachsenden Dominanz, noch nicht als ausschließliche Kommunikationsform durchsetzen können. Das zeigt sich an dem häufig zu beobachtenden Phänomen des Code switching oder der Sprachmischung, wenn in der geläufigen Kommunikation Deutsch und Russisch gleichzeitig und nebeneinander benutzt werden. 4. Spracherhalt und Sprachwechsel stellen sich bei der rußlanddeutschen Minderheit sehr differenziert dar. Als wichtiger Faktor hierfür sind Siedlungstyp und koareale Wohnbevölkerung zu erkennen. Am günstigsten für den Erhalt des Deutschen sind die Sprachinseln, die aber heute durch die intensive Abwanderung in Auflösung begriffen sind. Der Großteil der deutschen Bevölkerung lebt jedoch nicht in Sprachinseln und ist daher in ungleich stärkerem Maße dem Druck zum Sprachwechsel ausgeliefert. Günstig für den Erhalt einer Sprechergemeinschaft ist auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensgemeinde, die sich von der Religon der umgebenden Bevölkerung abgrenzt. Dies zeigt sich besonders bei den Mennonitengemeinden, die einen nennenswerten Anteil der rußlanddeutschen Bevölkerung ausmachen. Für Kinder ist die Sozialisation (Kindergarten, Kinderprogramme im Fernsehen, Schule) im Russischen die Regel; im günstigsten Falle hat das Kind über die Generation der Großeltern noch Kontakt zu einer deutschen Dialektvarietät. 5. Die Bewertung der eigenen Sprachvarietät ist in der Regel, auch bei denjenigen, die noch sehr gut in einer rußlanddeutschen Varietät zu Hause sind. 33 indifferent. Sie wird in erster Linie mit Russisch in Kontrast gesetzt und ist als eine „low variety“ definiert. Zwischen den Generationen herrschen jedoch gravierende Unterschiede. Die ältere Generation legt eher Wert darauf, daß auch die Jüngeren das Deutsche lernen und verwenden; während diese oft das Deutsche als „rückständig“ empfinden und dagegen das Russische als die Aufstiegssprache betrachten. Eine Bewertung des in Rußland verbreiteten dialektalen Deutsch gegenüber dem Hochdeutschen kommt bei Durchschnittssprechern nicht vor. Der Dialekt wird als Normalform empfunden, weil Hochdeutsch als Verkehrsvarietät nicht verwendet wird. 6. Das Wissen über die eigene Sprache und Sprachzugehörigkeit, das in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg noch vorhanden war, ist durch die Diskontinuitäten weitgehend verlorengegangen. Den Sprechern, vor allem den jüngeren, ist nicht bewußt oder bekannt, daß sie z.B. eine Umgangssprache auf hessischer oder schwäbischer Grundlage sprechen. Auch das Verhältnis zwischen ihrer eigenen Sprache und der hochdeutschen Standardsprache ist nicht reflektiert, in der Regel wird die eigene Sprechweise als Daitsch bezeichnet. Bewußt sind die Unterschiede von Ort zu Ort, die mit neuzeitlichen regionalen Kriterien bedacht werden, z.B.: Samara-Daitsch (Deutsch von Samara). 7. Die Sprachverwendung ist natürlich auch bei Rußlanddeutschen durch generationsspezifische Faktoren beeinflußt. In der Regel ist davon auszugehen, daß die ältere und älteste Generation über bessere Dialektbzw. Deutschkompetenzen verfugen als die jüngere. Es wäre jedoch falsch, diese Regel undifferenziert anzuwenden. Es gibt gleichwohl junge Sprecher, die in vielen Fällen im Rußlandeutschen wesentlich kompetenter sind als ältere. Dies hängt mit den immer wieder herausgestellten Diskontinuitäten, aber auch mit den jeweiligen Siedlungstypen zusammen. Es muß die individuelle Sprachbiographie eines jeden Sprechers betrachtet werden, auf die die unterschiedlichsten Faktoren eingewirkt haben. 34 3. Sprachliche Situation in Deutschland. Interpretation der Fragebogenerhebung unter soziolinguistischen Gesichtspunkten Der Wechsel der Sprachgemeinschaft bedeutet für rußlanddeutsche Aussiedler eine gravierende Veränderung der sprachlichen Situation. Und zwar ändert sich nicht nur die dominierende Sprache: Die Vielfalt der innerdeutschen Dialekte, die Regionalsprachen und das Phänomen der Binnendiglossie in Deutschland (Besch 1983) sind Realitäten der neuen Sprachwirklichkeit, mit denen sich jeder eingewanderte Aussiedler unabhängig von seiner sprachlichen Ausgangsbasis zurechtfinden muß. Gegenstand des vorliegenden Kapitels ist die sprachlich-kulturelle Situation, in der sich rußlanddeutsche Aussiedler in ihrer neuen Umgebung nach der Umsiedlung nach Deutschland befinden. Durch eine Fragebogenerhebung habe ich versucht festzustellen, wie die Aussiedler selbst ihre sprachliche und soziokulturelle Situation sehen. Ich habe versucht, die Erhebungsergebnisse auch im Hinblick auf Tendenzen der zukünftigen sprachlichen und sozialen Anpassung zu interpretieren. Im einzelnen werden in diesem Kapitel die folgenden Punkte erörtert: - Die soziolinguistische Erhebung (3.1) - Hypothesen und Überlegungen beim Aufbau des Fragebogens (3.2) - Kurzzusammenfassung der Ergebnisse der Befragung (3.3) - Darstellung und Interpretation der quantitativen Einzelanalyse (3 .4) - Charakterisierungen der sprachlichen Varietäten aus der Sicht der rußlanddeutschen Sprecher (3.5) - Beschreibung einiger Besonderheiten des Sprachgebrauchs der Rußlanddeutschen: Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtung (3.6). 3.1 Die soziolinguistische Erhebung Die Erhebung der soziolinguistischen Daten beruht auf traditionellen Methoden der Soziolinguistik/ Dialektsoziologie: Interviews, Beobachtungen, Befragungen und Attitüdentests. Diese Methoden sind zu verschiedenen Zwecken und in verschiedenen Untersuchungsphasen eingesetzt worden. In der Anfangsphase der Phase der Bildung von Hypothesen wurden Interviews durchgefuhrt, und es fand teilnehmende Beobachtung statt. Zur Überprüfung von Hypothesen wurde die Befragung mit einem standardisierten Fragebogen 35 eingesetzt. Abschließend wurde ein Attitüdentest durchgefuhrt. Im einzelnen beruht die Studie auf folgenden soziolinguistischen Daten: a) Befragung: Mit einem standardisierten Fragebogen sind 130 rußlanddeutsche Aussiedler befragt worden. Ausgehend von dem Ziel, die soziolinguistische Entwicklungsdynamik zu beschreiben, umfaßt der Fragebogen Fragen nach dem Sprachverhalten in zwei Phasen: vor und nach der Aussiedlung. Im einzelnen wurden zu folgenden Themen Daten erhoben: a) Primärsozialisation, aktive und passive Sprach- und Varietätenkompetenz; Spracherwerb und Sprachgebrauch im Herkunftsland; b) Spracherhalt der mitgebrachten Varietäten (rußlanddeutscher Dialekt und Russisch), Erwerb des Hochdeutschen und der Regionalvarietät, Sprachgebrauch und Varietätenwahl in Deutschland; c) Sozialdaten (vgl. 3.2). b) Interview: Mit diesem Erhebungsinstrument sind Daten in Form von Aussagen über die eigene Sprache und das Sprachverhalten (sowie das der Umgebung) erhoben worden. Der Form nach handelt es sich um „weiche“ Tiefeninterviews mit Zügen von narrativen sprachbiographischen Interviews (Löffler 1994, 46). Die Interviews waren nicht strukturiert; ein Interviewleitfaden erfaßte die anzusprechenden Themen. Schlüsselfragen zielten auf sprachrelevante Ereignisse der Biographie. c) Beobachtung: In allen Phasen der Datenerhebung ist die Beobachtung als soziolinguistisches Erhebungsinstrument eingesetzt worden; besonders die teilnehmende Beobachtung konnte ohne besonderen Aufwand erfolgreich durchgefuhrt werden. Sie wurde in folgenden Situationstypen eingesetzt: Ingroup-Kommunikation (privater Sprachgebrauch): Kommunikation in 20 rußlanddeutschen Familien während Geburtstags- und anderer Feiern; Besuch aus Rußland von rußlanddeutschen und russischen Besuchern; Kommunikation mit rußlanddeutschen Nachbarn. - Outgroup-Kommunikation (regionaler Sprachgebrauch): Kommunikation der untersuchten Familien mit einheimischen Nachbarn, Vermietern und Bekannten; nachbarschaftliche Alltagsgespräche, Feiern mit Einheimischen, Gespräche beim Kaffeetrinken mit einheimischen Bekannten, Ausflüge mit Nachbarn, Besuch bei Einheimischen. 36 Outgroup-Kommunikation (formeller Sprachgebrauch): Kommunikation im Wohnungsamt, in Sprachkursen, bei einer Taufe von einer Gruppe von Informanten; Telefongespräche mit unbekannten Gesprächspartnern; Kommunikation in Geschäften, bei Bewerbungen, beim Arzt, beim Friseur, beim Handwerkerbesuch. d) Attitüdentest: Es wurde die Methode der Einstellungsmessung mit Hilfe der Likert-Skala angewandt (vgl. dazu Agheyisi/ Fishman 1970). Die Attitüde erfüllt eine wichtige Steuerfunktion für die Verwendung von Sprachvarietäten (Deprez/ Persoons 1987), und insbesondere kann das für Umbruchsituationen in Sprachbiographien wie sie jetzt für rußlanddeutsche Sprecher typisch sind relevant sein. ‘Objekte’ der Einstellungsmessung waren die folgenden Sprachvarietäten: das Rußlanddeutsche (die jeweilige rußlanddeutsche Varietät), die russische Sprache, die hochdeutsche Standardsprache, die regionale Varietät (deutscher Basisdialekt oder deutsche Regionalsprache im neuen Wohnungsort) (vgl. dazu auch Berend 1991). Die Studie konzentriert sich schwerpunktmäßig auf ländliche Gebiete des Saarlandes. Die Kontaktaufhahme zu Aussiedlern ergab sich größtenteils im Schneeballsystem durch rußlanddeutsche Kontaktpersonen. Ausschlaggebend bei der Auswahl der Informanten war vor allem das Kriterium der Aufenthaltsdauer: Sie sollte nicht weniger als ein Jahr und nicht mehr als fünf Jahre betragen. Die Motivation zur Beteiligung an der Befragung war vergleichsweise hoch. Das Interesse wurde durch die Ankündigung erhöht, daß es bei der Befragung um sprachliche Probleme und die Verbesserung von Sprachförderungsmaßnahmen (Sprachkurse) geht. Auch die Tatsache, daß die Interviewerin zur eigenen ethnischen Gruppe gehört, scheint die Befragten in mancher Hinsicht zu offeneren Aussagen motiviert zu haben, die in anderen Interview-Konstellationen vermutlich nicht zustande gekommen wären. Um die Fremdheit zu überbrücken, bedurfte es hier keiner weitergehenden „Integration“ in die Untersuchungsgruppe (vgl. dazu Löffler 1994, 46). Die Informanten wurden in ihren Wohnungen in vertrauter Umgebung befragt. Es war oft notwendig, nach dem Interview verschiedene Fragen der Informanten aus dem praktischen Lebensbereich zu beantworten und z.B. einen Antwortbrief an eine Behörde zu formulieren oder auch ein Schreiben von der Behörde zu erklären und Ratschläge für das weitere Vorgehen zu geben. In diesen Gesprächen wurden dann in der Regel auch Termine für Interviews und Fragebogenaktionen vereinbart. 37 3.2 Der Fragebogen: Erhebung, Ausgangshypothesen, Erläuterung Im Zentrum der soziolinguistischen Untersuchung steht eine Fragebogenaktion. Der Fragebogen zum Sprachverhalten wurde von mir vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen mit Rußlanddeutschen entworfen. Insgesamt verfolgte die Befragung das Ziel, die sprachliche Entwicklungsdynamik bei rußlanddeutschen Sprechern zu erkunden. Es sollten der Sprachstand in Rußland, die soziosprachliche Konstellation und die wichtigsten, mit der Aussiedlung nach Deutschland verbundenen Veränderungen im Sprachgebrauch ermittelt werden. Dem Typ nach ist der Fragebogen überwiegend ein sog. geschlossener Fragebogen: Die meisten Fragen enthalten standardisierte Antwortkategorien. Wichtig für die Interpretation der Ergebnisse sind die zwei folgenden bei der Befragung eingehaltenen Prinzipien: a) die Befragung der Informanten ist von mir in mündlicher Form durchgefuhrt worden, b) die Informanten wurden zu Interpretationen ihrer Antwort aufgefordert. Die Interpretationen wurden notiert oder auf Band aufgenommen. Der Fragebogen besteht (ohne die Fragen nach Sozialdaten, die am Ende der Befragung gestellt wurden) aus 25 Fragen; im folgenden wird der vollständige Text des Fragebogens angeführt (die einzelnen Fragen und Antwortkategorien werden anschließend erläutert). Der Fragebogen: 1. Wie nennen Sie auf deutsch die Sprache, die von der Ansagerin in den Nachrichten (z.B. Tagesschau) gesprochen wird? 2. Wie nennen Sie den eigenen Dialekt, den Sie in Rußland gesprochen haben? 3. In welcher Sprechform/ Sprache haben Sie sprechen gelernt (rußlanddeutscher Dialekt, Hochdeutsch, Russisch) ? 4. Welche Sprache konnten Sie in Rußland am besten sprechen, kurz bevor Sie ausgereist sind (eher rußlanddeutschen Dialekt, eher Hochdeutsch, eher Russisch)? 5. Wie gut haben Sie in Rußland den rußlanddeutschen Dialekt beherrscht? 6. Wann und wo haben Sie Russisch gelernt? 7. Wie gut haben Sie in Rußland die russische Sprache beherrscht? 8. Welche Zeitschriften/ Zeitungen haben Sie in Rußland gelesen? Haben Sie sich deutsche Radiosendungen angehört? 38 9. Welche Sprache wurde in Ihrer Familie in Rußland zu Hause öfter gesprochen (deutscher Dialekt, Russisch, Hochdeutsch, eine Mischung zwischen deutschem Dialekt und Russisch) ? 10. Wie oft haben Sie in Rußlandfolgende Sprachen gesprochen? 11. Welche Sprache haben Sie in folgenden Situationen in Rußland gesprochen (im Kontor, Club, Ortsladen, Poliklinik, Schule, Bus, Zug, Selsovet [Dorfrat])? 12 Wie haben Sie häufiger mit folgenden Personen in privater Situation gesprochen, wenn Sie mit diesen Personen allein waren (mit Eltern, Kindern, Ehepartnern, Geschwistern, Verwandten, Bekannten, anderen Nationalitäten) ? 13. Wie haben Sie mit rußlanddeutschen Verwandten und Bekannten gesprochen, wenn andere Personen, die nicht deutschsprachig waren, zuhören konnten (eher rußlanddeutschen Dialekt, eher Russisch, eher andere Sprachen)? 14. Haben Sie in Rußland hochdeutsch gesprochen? 15. Welche Sprache können Sie jetzt am besten sprechen (eher rußlanddeutschen Dialekt, eher Russisch, eher Hochdeutsch) ? 16. Wie schätzen Sie Ihr Hochdeutsch jetzt ein: Verstehen, Lesen, Sprechen, Schreiben? 17. Wie gut können Sie inzwischen den Dialekt der Gegend, in der Sie jetzt leben: verstehen, sprechen? 18. Wie häufig sprechen Sie jetzt Ihrer Meinung nach folgende Sprachen: rußlanddeutschen Dialekt, Russisch, Hochdeutsch, Regionaldialekt? 19. Welche Sprache sprechen Sie jetzt häufiger mit folgenden Personen in privaten Situationen, wenn Sie mit diesen Personen allein sind: rußlanddeutschen Dialekt, Russisch, Hochdeutsch, Regionaldialekt (Eltern, Kindern, Ehepartnern, Geschwistern, Verwandten, Bekannten, hiesigen Bekannten) ? 20. Welche Sprache sprechen Sie jetzt häufiger mit rußlanddeutschen Verwandten und Bekannten, wenn Sie in einer öffentlichen Situation sind und hiesige Deutschsprecher Sie hören können: (eher rußlanddeutschen Dialekt, eher Russisch, eher Hochdeutsch)? 21. Welche Sprache sprechen Sie jetzt am liebsten ? 22. In welcher Sprache fühlen Sie sichjetzt am wohlsten? 23. Welche Sprache sprechen Ihrer Meinung nach die Einheimischen in dem Ort, in dem Sie jetzt leben (Hochdeutsch, Regionaldialekt) ? 24. Welche Sprache ziehen Sie für Ihre Kinderjetzt vor? 39 25. fVas für ein Sprachproblem haben Sie das letzte Mal gehabt? Schildern Sie die Situation. Inhaltlich besteht der Fragebogen aus zwei Teilen: dem Sprachgebrauch vor der Aussiedlung (im Herkunftsland Rußland/ GUS) (Fragen 3-14) und dem Sprachgebrauch nach der Aussiedlung in Deutschland (Fragen 15-25). Im Zentrum standen jeweils Fragen über Kompetenz, Sprachverwendung und Spracheinstellungen. Die Fragen 1 und 2 dienten der Einstimmung des Informanten auf den Befragungsgegenstand und zur Feststellung der Kenntnisse im und über den eigenen Dialekt des Befragten. Dadurch wurde eine formale Differenzierung von zwei für die Befragung relevanten Sprachvarietäten vorgenommen: Die deutsche Standardsprache als Zielvarietät in Deutschland und die in Rußland in der Vergangenheit verwendete eigene deutsche Varietät der Sprecherinnen. Bei der Frage 2 sollte außerdem durch Nachfragen im genannten Dialekt die wirkliche dialektale Varietät des Befragten festgestellt werden. Die Frage nach der sprachlichen Sozialisation (Frage 3) leitet den Rußland- Teil des Fragebogens ein. Für die Sprachbiographie und insbesondere auch für die sprachliche Integration in Deutschland ist wichtig, in welcher Sprache - Deutsch oder Russisch die sprachliche Sozialisation erfolgte. Hier ist auch die Antwortkategorie ‘Hochdeutsch’ vorgegeben, obwohl aus der Geschichte bekannt ist, daß eine Sozialisation in der deutschen Hochsprache in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg in Rußland nicht üblich war. In Frage 4 wird nach der dominanten Sprache kurz vor der Aussiedlung gefragt. Durch den Vergleich mit der Sozialisationsfrage können bestimmte Schlußfolgerungen über sprachbiographische Entwicklungen in der Periode von der Sozialisation bis zum Aussiedlungszeitpunkt gezogen werden. Daß Russisch zur dominanten Sprache der meisten Rußlanddeutschen geworden ist, ist inzwischen eine weit verbreitete Hypothese und kann nach den vorhandenen Befragungen als sicher gelten. Nach meiner Ansicht gibt es unter Rußlanddeutschen aber immer noch Personen, die besser deutsch sprechen können (in Form einer dialektalen Varietät des Deutschen) als russisch. Mit dieser Vermutung hängt die Frage 4 zusammen. Mit den Fragen 5 und 7 wird die Kompetenz (Sprachkenntnisse bzw. Sprachvermögen) in dem entsprechenden rußlanddeutschen Dialekt und in Russisch erkundet. Es wird hier somit nach der eigentlichen Kompetenz in Rußland gefragt. Für die Dialektkenntnis wird das Vermögen im Sprechen (aktive Kompetenz) und im Verstehen (passive Kompetenz) erfragt. Die Frage nach der passiven Dialektkompetenz halte ich für wichtig. Man kann in Rußland, 40 und insbesondere in sprachlich heterogenen Siedlungen, oft ein Sprachverhalten beobachten, das unmittelbar auf dem Phänomen der passiven Dialektkompetenz beruht (z.B wenn Kinder auf die von älteren Erwachsenen auf deutsch gestellten Fragen eine Antwort auf russisch geben). In der Phase der sprachlichen Integration in Deutschland könnte diese passive Deutsch-Kompetenz eine wichtige Rolle spielen. Für das Russische (Frage 7) wird auch die Lese- und Schrift-Kompetenz erfragt. Zweifellos können die jüngere und mittlere Generation russisch schreiben und lesen; bei der älteren Generation ist das jedoch sehr unterschiedlich und hängt insgesamt von den politisch bedingten biographischen Ereignissen ab, und viele Rußlanddeutsche können gar nicht oder schlecht russisch lesen und schreiben, obwohl sie das gesprochene Russisch in irgendeiner Form beherrschen. Um Differenzen in der Sprachkompetenz und Stufen der Sprachbeherrschung zu ermitteln, ist in den Kompetenz- Fragen eine Antwortdifferenzierung von gar nicht über schlecht, mittelmäßig bis gut und sehr gut vorgesehen. Bei der Ermittlung des Sprachgebrauchs in Rußland (Fragen 9 bis 14) bin ich ebenfalls von den zwei gesprochenen Varietäten ausgegangen: dem jeweiligen deutschen Dialekt und der russischen Sprache. Die Frage nach dem Gebrauch des Hochdeutschen in Rußland (vor der Aussiedlung nach Deutschland) ist nach meiner Kenntnis der Sprachsituation der Deutschen in diesem Land überflüssig. Ich habe sie aber dennoch in den Fragebogen aufgenommen (Frage 14), um bestätigen zu können, daß a) die deutsche Hochsprache in der sprachlichen Realität der Rußlanddeutschen so gut wie keine Rolle spielt, b) die einzig mögliche Domäne des Hochdeutschen die Schule war. Aus diesen Gründen habe ich die Antwort-Kategorie ‘Hochdeutsch’ auch in die Frage nach den Sprachdomänen (bzw. Sprachsituationen) aufgenommen (Frage 11), obwohl ich davon ausgehe, daß Hochdeutsch (Hochsprache, Standardform des Deutschen) als Kommunikationsmittel von den Rußlanddeutschen vor der Aussiedlung nicht verwendet wurde, sondern nur Dialekte. Um ein möglichst genaues Bild über den Sprachgebrauch Deutsch-Russisch vor der Aussiedlung zu bekommen, habe ich unterschiedliche Fragen gestellt. Zunächst entscheiden sich die Informanten, welche Sprache sie in ihrer Familie in Rußland öfter gesprochen haben: eher rußlanddeutschen Dialekt, Russisch oder Hochdeutsch? Bei dieser Frage habe ich noch eine vierte Antwortmöglichkeit vorgesehen: eine Mischung zwischen Deutsch und Russisch. Dahinter steht die Hypothese, daß eine Alternativentscheidung zwischen Deutsch und Russisch vielen Sprechern schwerfallen wird. Nach meinen Beobachtungen ist 41 die deutsch-russische Zweisprachigkeit zur Zeit in vielen ‘deutschsprachigen’ Regionen Rußlands (Sibirien und Mittelasien) in der Phase der sprachlichen Konkurrenz: Der Gebrauch des Russischen ist zwar schon sehr weit fortgeschritten, der deutsche Dialekt aber hat als Familiensprache seine Positionen durchaus noch nicht aufgegeben. Es handelt sich um eine Sprachgebrauchskonstellation in der Familie, wo nicht mehr nur deutsch gesprochen wird, aber auch noch nicht nur russisch, also um eine Art von zweisprachiger Rede (vgl. Kap. 2). Für die Konkretisierung der Gebrauchskonstellationen von Sprachen in Rußland sind die Fragen 10 und 11 vorgesehen. In Punkt 10 werden die zeitlichen Gebrauchsdimensionen erfragt, und zwar, ob die gegebenen Sprachvarietäten: a) fast immer, b) mehr als die Hälfte des Tages, c) etwa die Hälfte des Tages, d) weniger als die Hälfte des Tages oder e) so gut wie nie verwendet werden. Im Fragekomplex 11 wird der außerfamiliäre situationsspezifische Sprachgebrauch ermittelt. Um die Fragen realitätsnah zu gestalten und den Informanten die Beantwortung zu erleichtern, habe ich die landesspezifischen Benennungen von Institutionen (die die Situationstypen verkörpern) beibehalten: Kontor, Club, Rayonzentrum, Poliklinik, Selsovet u a. Ich habe dabei nur solche Institutionen/ Situationstypen gewählt, die meines Wissens fiir die Beurteilung der Sprachlichkeit und der konkreten sprachlichen Ausgangsbasis der Befragten relevant sein können. Die oben dargestellte Hypothese der zweisprachigen Rede hat unter anderem auch zur Folge, daß der Sprachgebrauch der rußlanddeutschen Sprecher weitgehend nicht mehr nach Sprachdomänen beschrieben werden kann, z.B. Domäne ‘öffentlich’ - Domäne ‘privat’ (wie das in vielen Sprachminderheitenkonstellationen noch der Fall ist). Für Rußland kann diese klare Trennung bestenfalls nur noch punktuell festgestellt werden (Rosenberg 1994, 294). Nach meinen Beobachtungen hat hier eine Verschiebung in Richtung ‘Partnerbezogenheit’ stattgefunden. Man kann nicht mehr davon ausgehen, daß in privater Situation noch nur deutsch und in öffentlicher immer russisch gesprochen wird. Relevant für die Sprachenwahl und für den Sprachwechsel ist in erster Linie der Interaktionspartner. Auf dieser Annahme basiert der Fragenkomplex 12. Hier wird die Sprachverwendung in privater Situation bei der Kommunikation mit unterschiedlichen Gesprächspartnern (ohne Anwesenheit von weiteren Gesprächspartnern) ermittelt. Und schließlich wird durch die Frage 13 noch ein brisanter Bereich des Sprachgebrauchs der Rußlanddeutschen vor der Aussiedlung berührt. Die Frage lautet: Wie haben Sie mit rußlanddeutschen Verwandten und Bekannten in der Öffentlichkeit (im Krankenhaus, im Laden, in der Schule, im Bus, im Zug, in Versammlungen usw.) 42 gesprochen, wenn andere Personen, die nicht deutschsprachig waren, zuhören konnten? Mit dieser Frage habe ich die Hypothese verbunden, daß für die sprachliche Situation der Deutschen vor der Aussiedlung die Stigmatisierung der eigenen Sprache typisch war. Man wechselte ins Russische, um nicht als Deutsche(r) identifiziert zu werden. Ob dies nicht nur in Rußland, sondern auch in anderen Regionen, z.B. in Kasachstan oder Usbekistan, geschah, sollte mit dieser Frage überprüft werden. Dafür habe ich noch eine dritte Antwortkategorie eingefuhrt: andere Sprachen (z.B. Wechsel ins Kasachische oder Usbekische) Mit der Frage 15 beginnt der zweite Teil des Fragebogens: Sprachkompetenz und Sprachgebrauch nach der Aussiedlung (nach ein bis vier Jahren Aufenthalt in Deutschland). Der Struktur nach ist dieser Teil des Fragebogens ganz ähnlich aufgebaut wie der erste Teil zum Sprachgebrauch in Rußland. Damit sollten die Vergleichbarkeit und die Möglichkeit der Feststellung von Veränderungen hergestellt werden. Das sprachliche Repertoire der Aussiedler, nach dem in diesem Teil gefragt wird, hat sich in Deutschland um zwei weitere Varietäten erweitert. Es handelt sich hier einmal um die deutsche Standardsprache/ Hochsprache, die Aussiedlern in Kursen beigebracht wird, und zum anderen um regionale Varietäten, die im Varietätenspektrum der unmittelbaren örtlichen Umgebung der Aussiedler einen wichtigen Platz einnehmen. Ich bin davon ausgegangen, daß die rußlanddeutschen Sprecher im Moment der Befragung mit beiden Varietäten Erfahrungen gemacht haben und diese gut differenzieren können. Die Sprachkompetenz in diesen Varietäten und deren Verwendung sind aus diesem Grunde getrennt erfragt worden. Neben diesen neu hinzugekommenen Varietäten ist auch das Sprachverhalten gegenüber den ‘alten’ Sprachvarietäten erfragt worden, dem rußlanddeutschen Dialekt und der russischen Sprache. Auch im zweiten Teil enthalten die Kompetenzfragen (Frage 16 und 17) dieselben Antwortkategorien: gar nicht, schlecht, mittelmäßig, gut und sehr gut Bei den Gebrauchsfragen kommt zusätzlich (im Vergleich zum ersten Fragebogenteil) noch die regionale Varietät hinzu (vgl. Fragen 18 bis 20). Die Strukturierung der Fragenkomplexe ist jedoch ohne Veränderung geblieben. So wird z.B. durch die Frage 19 der Sprachgebrauch mit denselben Interaktionspartnem erfragt wie in Frage 12: mit Eltern, Kindern, Ehepartnern, Geschwistern, rußlanddeutschen Verwandten. Doch anstatt mit Russen oder Vertretern anderer Nationalitäten kommunizieren die rußlanddeutschen Sprecher jetzt mit Deutschsprechern; entsprechend ist auch die Frage formuliert. 43 Die abschließende Frage zum Sprachgebrauch in Deutschland (Frage 20) ist mit der Hypothese verbunden, daß rußlanddeutsche Sprecher ihre Sprachverwendungsmuster aus der Zeit vor der Aussiedlung nicht verändert haben und genau wie in Rußland sich im öffentlichen Leben an die sprachliche Umgebung anzupassen versuchen, indem sie ihre gewohnte Varietät in bestimmten Situationen vermeiden. Die Frage 20 lautet ähnlich wie die entsprechende Frage 13 aus dem ersten Teil des Fragebogens: Welche Sprache sprechen Sie jetzt häufiger mit rußlanddeutschen Verwandten und Bekannten, wenn Sie in der Öffentlichkeit (z B. beim Arzt, im Bus, im Laden, in der Schule usw.) sind, wenn hiesige Deutschsprecher Sie hören können? Als abschließender Punkt der Fragebogenerhebung wurde mit jedem Informanten ein Sprach- und Varietäten-Attitüdentest durchgefuhrt. Hier kam die Methode der Einstellungsmessung mit Hilfe der Likert-Skala zum Einsatz (vgl. Agheyisi/ Fishman 1970). Entsprechend dem Dreikomponentenansatz in der Attitüdenforschung werden bei dieser Einstellungsmessungsmethode drei Typen von Items entwickelt: kognitive, affektive und konative. Mit Hilfe dieser Items sollen drei Dimensionen der Spracheinstellung erfaßt werden: a) Wahrnehmung (Wissen, cognition, knowledge), b) Bewertung (affect, feeling) und c) Verhalten (Handlungsdisposition, readiness for action, action). (Zum terminologischen Überblick über die Attitüdenkomponenten vgl. Schlieben- Lange 1991, 108). Bei kognitiven Items handelt es sich um Meinungen und Überzeugungen über die Funktionsweisen und das Wesen der Sprachvarietäten und folglich um kognitive Wissensbestände. Affektive Items sind emotionsbedingte Wertungen; konative Items implizieren potentielles Handeln in Bezug auf Sprachvarietäten. Die Items werden den Informanten mit der Anforderung präsentiert, zu der Aussage Stellung zu nehmen (ablehnen oder zustimmen). Der in der vorliegenden Untersuchung durchgefuhrte Einstellungstest betraf vier Sprachvarietäten: 1) den mitgebrachten, rußlanddeutschen Dialekt, 2) das Russische, 3) das Hochdeutsche, 4) die Regionalspräche in Deutschland. Erhoben wurden Einstellungen zum Zeitpunkt der Befragung, d.h. bezogen auf die Sprachsituation nach der Übersiedlung nach Deutschland (die Spracheinstellungen in Rußland wurden nicht untersucht). Insgesamt sind 24 Aussagen, also sechs Aussagen zu jeder Varietät, getestet worden (jeweils drei positive und drei negative) Die Antwortkategorien waren: stimme stark zu, stimme zu, unentschieden, lehne ab und lehne stark ab. Im folgenden wird der vollständige Text des Attitüdentests angeführt. 44 Der Attitüdentest: 1. Der rußlcmddeutsche Dialekt ist gemütlich. 2. Der rußlanddeutsche Dialekt istfür unser neues Lehen in der Bundesrepublik nützlich. 3. Die Eltern sollten mit den Kindern mehr rußlanddeutschen Dialekt sprechen. 4. Der rußlanddeutsche Dialekt ist abstoßend. 5. Den rußlanddeutschen Dialekt kann man in der Bundesrepublik nicht gebrauchen. 6. Den rußlanddeutschen Dialekt will ich loswerden. 7. Das Russische ist eine sehr gemütliche Sprache. 8. Das Russische können wir in der Bundesrepublik gut gebrauchen. 9. Unsere Kinder sollen das Russische nicht vergessen. 10. Das Russische ist unangenehm. 11. Das Russische ist in der Bundesrepublikfür uns nutzlos. 12. Die Kinder sollen das Russische möglichst schnell vergessen. 13. Das Hochdeutsche ist angenehm. 14. Das Hochdeutsche ist unbedingt nötigfür unser Leben hier in der Bundesrepublik. 15. Ich will das Hochdeutsche unbedingt lernen. 16. Das Hochdeutsche ist mißklingend. 17 Das Hochdeutsche kann man nicht gebrauchen im Alltagsleben. 18. Das Hochdeutsche will ich gar nicht lernen. 19. Das Saarländische ist schön. 20. Das Saarländische istfür das Leben im Saarland nützlich. 21. Ich will das Saarländische in der Zukunft lernen. 22. Das Saarländische ist häßlich. 23. Ohne das Saarländische können wir ganz gut auskommen 24. Ich will das Saarländische nicht lernen. Das Sprachverhalten der Rußlanddeutschen ist aus geschichtlichen Gründen in hohem Maße generationsabhängig und wird auch den soziolinguistischen Bedingungen im Herkunftsland entsprechend häufig vom Bildungsgrad wenn nicht determiniert, so doch stark beeinflußt (vgl. Kap. 2). Die Auswertung der Daten, die aus der Fragebogenaktion gewonnen wurden, habe ich aus diesem Grund im Zusammenhang mit drei externen Variablen durchgefiihrt: 1) dem Alter der Informanten, 2) dem Geschlecht, 3) dem Bildungsgrad der In- 45 formanten. Ich erläutere im folgenden die Überlegungen zur Rolle dieser Kategorien und die Gruppenunterschiede, die ich bei der befragten Gesamtgruppe der Rußlanddeutschen für die vorliegende Arbeit berücksichtigt habe. 1) Alter. Mit dem Alter wird in der Soziolinguistik der generationsspezifische Sprachgebrauch verbunden. Für den Sprachgebrauch der Rußlanddeutschen ist der Faktor ‘Alter’ insofern wichtig, als die für die Sprache relevanten politisch-gesellschaftlichen Ereignisse insbesondere generationstypische Auswirkungen haben. Das Alter dürfte auch bei der untersuchten Gruppe eine starke Auswirkung sowohl auf die Sprachkompetenz im rußlanddeutschen Dialekt als auch im Russischen haben. Je älter der Sprecher, desto bessere Dialektkompetenz weist er auf und desto geringer ist andererseits seine Kompetenz im Russischen. Ein solcher Zusammenhang wurde zumindest von der bisherigen Forschung behauptet. Um das generationsspezifische Sprachverhalten in der Phase der sprachlichen Integration in Deutschland festzustellen, habe ich ausgehend von den Erfahrungen einzelner Generationen (vgl. Kap. 2) in der untersuchten Gruppe vier Alterskategorien angenommen. Informanten bis einschließlich 24 Jahre zähle ich zur jungen Generation, Informanten über 55 Jahre zur älteren Generation. Dazwischen liegt die mittlere Generation, die ich in zwei Untergruppen teile: von 25 bis 39 Jahre (mittlere I) und von 40 bis 54 Jahre (mittlere II). Die Zusammensetzung der Altersgruppen innerhalb der Untersuchungsgruppe sieht folgendermaßen aus: junge Generation - 19 Informanten, mittlere (I) - 64 Informanten, mittlere (II) - 32 Informanten, ältere - 15 Informanten (insgesamt 130 Informanten) 2) Geschlecht. Es gibt in der Soziolinguistik verschiedene Hypothesen über den geschlechtsspezifischen Sprachgebrauch. Hinsichtlich des Rußlanddeutschen ist diese Frage noch nicht gestellt worden. Soviel mir bekannt ist, liegen zu dieser Frage keine hinreichenden Informationen vor. Auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen nehme ich an, daß es hinsichtlich der dialektalen und bilingualen Sprachkompetenz bei Rußlanddeutschen keine wesentlichen geschlechtsspezifischen Unterschiede gibt. Es könnte sich vielleicht ein kleiner Unterschied auf der Ebene des Gebrauchs bemerkbar machen, der in der Phase der sprachlichen Integration in Deutschland an Bedeutung gewinnen würde Rußlanddeutsche Frauen sind durch Familienrollenverteilung mehr in das gesellschaftliche Leben eingebunden, und der Kreis der verbalen Interaktionspartner von Frauen ist daher bedeutend größer als bei Männern. Um diese These zu überprüfen, habe ich 55 Männer und 75 Frauen befragt und die Aussagen daraufhin analysiert, ob der sprachliche Integrationsprozeß bei Frauen 46 intensiver verläuft als bei Männern, und wenn ja, in welchen Aspekten sich das am meisten bemerkbar macht. 3) Bildung. Obwohl es über die Auswirkung der Bildung auf das Sprachverhalten der rußlanddeutschen Sprecher einige punktuelle Untersuchungen gibt, ist es schwer, daraus Hypothesen über den Verlauf der sprachlichen Integration in Deutschland abzuleiten. Das hängt unter anderem damit zusammen, daß z.B. die Sprachkompetenz und die Sprachverwendung nicht als getrennte Kategorien betrachtet werden und somit z.B. die passive Deutschkompetenz ohne Berücksichtigung bleibt. Die passive Kompetenz ist jedoch eine wichtige Grundlage bei der Reaktivierung der deutschsprachigen Fähigkeiten in Deutschland in der Phase der Integration. Insgesamt dürfte das Bild der Auswirkung der Bildung auf die sprachliche Integration in Deutschland ziemlich komplex sein. Es sei daran erinnert, daß die Rußlanddeutschen in russischer Sprache ausgebildet wurden, und es liegt nahe anzunehmen, daß Russischkenntnisse und Bildung in direktem Zusammenhang stehen. Es kommt jedoch etwas vereinfacht formuliert auf die Russischkenntnisse bei der sprachlichen Integration in Deutschland nicht an. Es sei denn, man nimmt an, daß der Erwerb des Russischen auf Kosten des Deutschen geschah (in der Soziolinguistik das Konzept des ‘komplementären’ Bilingualismus). Dies würde zur Annahme verleiten: je höher die Bildung, desto niedriger die Deutschkompetenz. Nach meiner Erfahrung mit Rußlanddeutschen kann diese These nicht bestätigt werden. Andererseits aber vermute ich, daß die Bildung bei dem (ungesteuerten) Erwerb des Hochdeutschen in Deutschland eine wichtige Rolle spielt. Die Einteilung der gesamten Untersuchungsgruppe habe ich nach den wichtigsten Bildungstypen im Herkunftsland unternommen: Gruppe 1: Grundschule (4 Klassen) 9 Gruppe 2: 8-Klassen-Schule 34 (Vor-Abitur-Stufe) Gruppe 3: 10 Klassen / Technikum 49 (Abitur / berufliche Ausbildung) Gruppe 4: Hochschule / Universität 38 47 3.3 Ergebnisse der Befragung: Kurzzusammenfassung Bei der Auswertung der Ergebnisse zum Rußland-Teil des Fragebogens fällt zunächst die Kluft zwischen der Sprache der Sozialisation und der gegenwärtig dominanten Sprache der Befragten auf: 64 Prozent sind in einem deutschen Dialekt sozialisiert, aber nur 13 Prozent aller Befragten konnten kurz vor der Ausreise aus Rußland besser deutsch sprechen als russisch. (Mit „deutsch“ ist hier ein rußlanddeutscher Dialekt gemeint.) Einige Informanten (5,6 Prozent der Befragten) haben als Sozialisationssprache Hochdeutsch angegeben. Gezielte Nachfragen haben jedoch, wie erwartet, erwiesen, daß hier ein Dialekt gemeint war, der unter Rußlanddeutsch-Sprechern wegen seiner vermeintlichen Nähe zum Hochdeutschen oft als „hochdeutsch“ bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um einen in Rußland verbreiteten ostmitteldeutschen, und zwar um den „wolhyniendeutschen“ Dialekt (vgl. ledig 1986). Bei den Angaben über die Kompetenz im Herkunftsland schneidet das Russische deutlich besser ab. Die Russischkenntnisse (verstehen, lesen, sprechen, schreiben) wurden überwiegend mit „gut“ und „sehr gut“ bewertet; nur sieben Prozent aller Angaben bezogen sich auf die Kategorien „schlecht“ und „mittelmäßig“. Angaben „gar nicht“ bezüglich der Russischkenntnisse liegen nicht vor: Alle befragten Aussiedler können russisch lesen, sprechen und schreiben. Bei der Bewertung der Dialektkenntnisse dagegen bezogen sich 42 Prozent aller Angaben auf die Kategorien „gar nicht“, „schlecht“ und „mittelmäßig“. Differenziert bewertet wurden auch die passiven und aktiven Sprachkenntnisse (verstehen und sprechen) bezüglich des deutschen Dialekts und der russischen Sprache. Beim Dialekt sind die Verstehenskenntnisse deutlich höher bewertet als die Sprechkompetenz; beim Russischen dagegen liegen die Bewertungen der Sprech- und Verstehenskompetenz auf der gleichen Ebene. Die Befragung über den Sprachgebrauch vor der Ausreise hat meine Hypothese, daß das Rußlanddeutsche als Familiensprache seine Positionen noch nicht völlig aufgegeben hat, bestätigt. Es haben immerhin 31 Prozent der Befragten angegeben, eher das Rußlanddeutsche in der Familie öfters zu sprechen als das Russische, und 22 Prozent sprechen in der Familie vorzugsweise eine „Mischung zwischen deutschem Dialekt und Russisch“. Innerhalb der Familie wird der rußlanddeutsche Dialekt häufiger mit den Eltern und Geschwistern gesprochen, weniger häufig mit Kindern und Ehepartnern (auch wenn beide Ehepartner Deutsche sind). Mit älteren Verwandten und Bekannten wird in der Regel deutsch, mit jüngeren Verwandten in der Regel russisch gespro- 48 chen. Mit Russen und Vertretern anderer Nationalitäten (bei der befragten Gruppe waren es meistens Kasachen) wird nur das Russische als Verkehrssprache eingesetzt. Hochdeutsch wurde als Alltagssprache nicht verwendet; als Hauptdomäne der Verbreitung des Hochdeutschen in Rußland wurde die Schule genannt. Bei der Ermittlung des domänenspezifischen Sprachgebrauchs im außerfamiliären Bereich wird die Funktion des Russischen als öffentlich-formelle Staatssprache deutlich. Russisch wurde in allen Sprachdomänen verwendet. Man kann sogar sagen: Das Russische ist die „Normalsprache“ des öffentlichen Verkehrs nicht nur in Siedlungen des gemischten deutsch-russischen Typs, sondern auch in deutschen Sprachinseln (vgl. Kap. 2). Öffentlich wird der rußlanddeutsche Dialekt wenn überhaupt, dann sehr differenziert, hauptsächlich personenbezogen, eingesetzt. Z.B. hängt die Sprachenwahl im Ortsladen oder im Bus von der Nationalitätenzugehörigkeit der Verkäuferin oder des Busfahrers ab. Auch die Kommunikation mit bekannten Personen, die sonst üblicherweise deutsch verläuft, wird nach Angaben der meisten Befragten (82 Prozent) in öffentlicher Situation bei Anwesenheit von anderssprachigen Personen vorwiegend russisch geführt, auch in Kasachstan oder in anderen nationalen Regionen. Faßt man die Ergebnisse zum Rußland-Teil des Fragebogens zusammen, so erscheinen vor allem folgende Phänomene für die Sprachsituation der untersuchten Rußlanddeutschen im Herkunftsland als wichtig: 1. Obwohl das Russische zweifellos die dominante Sprache der meisten Befragten ist, sind sie doch überwiegend deutsch sozialisiert und verfügen über deutsche Dialektkenntnisse. 2. Diese Dialektkenntnisse erscheinen großenteils als Restkenntnisse, die als Spuren der Sozialisationssprache im Sprachververmögen erhalten geblieben sind. (Diese werden, wie die folgende Spachuntersuchung zeigt, bei der Reaktivierung des Deutschen nützlich sein.) 3. Der Sprachgebrauch der befragten Gruppe war im Herkunftsland zwar domänenabhängig; im einzelnen jedoch bewegte sich die Sprachenwahl eher in Richtung „Personenbezogenheit“, wobei das Merkmal „Nationalitätenzugehörigkeit“ der relevante Faktor ist. 49 4. Deutsch war im Herkunftsland stigmatisiert und wurde im öffentlichen Sprachgebrauch nach Möglichkeit vermieden bzw. unauffällig verwendet. Auch nach der Umsiedlung nach Deutschland bleibt das Russische zunächst die dominante Sprache: 70 Prozent der Befragten haben angegeben, zum Zeitpunkt der Befragung am besten russisch sprechen zu können. Mit großem Abstand folgen dann der rußlanddeutsche Dialekt und Hochdeutsch. Die Hochdeutschkenntnisse werden auf der 5er-Skala vorwiegend als „mittelmäßig“ bewertet, wobei die Lese- und Verstehenskompetenz durchgehend höher eingeschätzt wird als die Schreib- und Sprechfertigkeiten. Bei der Bewertung der Kenntnisse im Regionaldialekt der neuen Umgebung gehen die Angaben für die passive und aktive Kompetenz auseinander: für „Verstehen“ gaben 21 Prozent der Befragten „gar nicht“ oder „schlecht“ an; bei „Sprechen“ dagegen waren es 69 Prozent, die „gar nicht“ oder „schlecht“ Regionaldialekt sprechen können. Vergleicht man die Angaben über den Sprachgebrauch vor der Ausreise und in Deutschland, so wird besonders der Rückgang der Verwendung des Russischen deutlich: Wenn in Rußland 74 Prozent der Befragten fast immer oder mehr als die Hälfte des Tages (vgl. Fragebogenbeschreibung) russisch sprachen, so sind es jetzt nur noch 26 Prozent. Dagegen ist der Anstieg des Gebrauchs von Hochdeutsch für die entsprechenden Tageszeitabschnitte vergleichsweise gering: von 1,7 Prozent in Rußland (Domäne „Schule“ mitberücksichtigt) auf 16,8 Prozent in Deutschland. Das hängt sicherlich damit zusammen, daß Hochdeutsch nur mit „hiesigen“ Gesprächspartnern verwendet wird, und es gibt dafür angesichts der eingeschränkten Kontakte und Beziehungen zu der einheimischen Bevölkerung nur wenig Gelegenheiten. Trotz des Rückgangs des Gebrauchs des Russischen ist es immer noch die von den befragten Rußlanddeutschen „am liebsten“ gesprochene Sprache (65 Prozent), und die Sprache, in der sie sich zum Zeitpunkt der Befragung immer noch am wohlsten fühlen (70 Prozent). Diese noch vorhandene Vorliebe für das Russische wird jedoch schon bedeutend beeinträchtigt durch eine deutlich bemerkbare Stigmatisierung des Russischen, und zwar in Sprachsituationen, in denen Rußlanddeutsche als „Russen“ identifiziert werden könnten, wenn sie miteinander in Anwesenheit von Nicht-Rußlanddeutschen (vgl. Frage 20) kommunizieren. In dieser Situation wird meistens Hochdeutsch verwendet (52 Prozent); an zweiter Stelle wird der rußlanddeutsche Dialekt genannt (26 Prozent). Bei der Angabe „Russisch“ (22 Prozent) wurde hier von allen Informan- 50 ten hinzugefugt, daß sie in diesen Situationen russisch „sehr leise“ sprechen, „flüstern“, damit die Anwesenden sie „nicht hören können“ (vgl. dazu auch 36). Die Bewertung der einzelnen Sprachvarietäten hat sich bei den Angaben über die „Vorzugssprache“ für die Kinder in Deutschland deutlich widergespiegelt (Frage 24). An erster Stelle steht Hochdeutsch (79 Prozent); mit großem Abstand folgt der Regionaldialekt (12 Prozent). Der rußlanddeutsche Dialekt wird für Kinder als „unnütz“, ja sogar „störend“ betrachtet und abgelehnt. Das „Russische“ wird als „Zweitsprache“ und „Fremdsprache“ akzeptiert und nur in diesem Sinne als nützlich für Kinder angesehen. (Näheres zur Sprachbewertung vgl. 3.5.) Faßt man die Ergebnisse des zweiten Teils des Fragebogens zusammen, so ist folgendes noch einmal zu nennen: 1. Das Varietätenregister der Rußlanddeutschen erweitert sich in Deutschland durch die hochdeutsche Standardsprache in welcher Form auch immer (vgl. Kap. 4); zumindest ist die neue Sprachvarietät zum Zeitpunkt der Befragung im Sprachbewußtsein der Sprecher fest verankert. 2. Bezüglich des Russischen lassen sich kompetenzmäßig keine Veränderungen feststellen; Russisch ist die dominante Sprache geblieben. Eingeschränkt wurde dagegen die Verwendung des Russischen; seine fünktionale Belastung ist deutlich gesunken. 3. Die Sprachenwahl und die Domänenverteilung hat sich innerhalb von Familien und im Ingroup-Bereich der Kommunikation nicht wesentlich verändert und ist wie im Herkunftsland partnerbezogen orientiert. 4. Russisch wird in Deutschland teilweise stigmatisiert und in ähnlicher Weise wie deutsche Dialekte in Rußland in öffentlichen Situationen nach Möglichkeit vermieden und zurückgedrängt. 51 3.4 Quantitative Einzelanalyse mit Berücksichtigung der Kategorien Alter, Geschlecht und Bildung Durch die quantitative Einzelanalyse werden Gruppenunterschiede im Sprachverhalten der Befragten nach den wichtigen Sozialfaktoren Alter, Geschlecht und Bildung dargestellt. Die Überlegungen und Hypothesen über die Zusammenhänge zwischen dem Sprachverhalten der Rußlanddeutschen und den Sozialfaktoren Alter, Geschlecht und Bildung habe ich bei der Erläuterung des Fragebogens in 3.2 dargestellt. Dort sind auch die Gruppenbildungen dargestellt und erläutert. Im folgenden geht es um die konkreten Zusammenhänge zwischen diesen Kategorien und dem Sprachverhalten und um die Unterschiede, die sich auf Grund dieser Zusammenhänge beobachten lassen. Es handelt sich dabei um die Sprachkompetenz (die Kompetenz im rußlanddeutschen Dialekt, im Russischen, im Hochdeutschen und in einer regionalen Variante des Deutschen); ferner um die Einstellungen der Sprecher zu diesen Varietäten. Der Ausdruck ‘Sprachkompetenz’ wird hier wie in der Soziolinguistik üblich im weitesten Sinne verwendet: Es geht um Sprachfähigkeiten und Sprachfertigkeiten (Lesen, Sprechen, Schreiben, Verstehen) bezüglich der oben aufgefuhrten Varietäten. Unter ‘Spracheinstellungen’ werden Bewertungen einzelner Sprachvarietäten durch die rußlanddeutschen Sprecher im deutschen Sprachraum verstanden. Bewertet werden ‘alte’ (Rußlanddeutsch und Russisch) und ‘neue’ Varietäten (Hochdeutsch und Regionalvariante). Die folgenden Quantifizierungen beziehen sich auf die Zusammenhänge der Kompetenz und der Einstellungen der Informanten mit den externen Faktoren Alter, Geschlecht und Bildung der Informanten. Als statistisches Hilfsmittel für diese quantitative Einzelanalyse werden die üblichen inferenzstatistischen Methoden wie Indexbildung und Mittelwertvergleich eingesetzt. Die Indexbildung wurde auf Reliabilität geprüft; die Reliabilitätsanalyse erfolgte nach dem Verfahren ‘Crombach’s alpha’. Die Reliabilitätsanalyse weist nach, ob die Fragen, die man zu einem Index zusammenfaßt, von den Informanten ähnlich beantwortet werden. Ist dies der Fall, ist der Wert für die Reliabilität hoch, d.h. die Fragen hängen inhaltlich zusammen. Einen Wert über 0,6 kann man als einen Nachweis für vorhandene Reliabilität ansehen. Die Verteilung der Indices bezüglich einzelner Teilgruppen (Geschlecht, Alter, Bildung) wurde mit Hilfe einer ANOVA-Analyse (Analysis of Variation) untersucht. Eine ANOVA-Analyse vergleicht die Variabilität von Teilgruppen der Gesamtgruppe (z.B. Männer und Frauen). Ist die Variabilität von Teilgruppen größer als die Variabilität innerhalb der Teilgruppen, kann man davon ausgehen, daß die 52 verwendete unabhängige Variable, hier Geschlecht, ein wichtiger Erklärungsfaktor für die Variabilität der Gesamtgruppe ist. Um zu prüfen, ob der Unterschied der Mittelwerte der Teilgruppen real ist oder aus einer Zufälligkeit des Samples resultiert, führt man eine Signifikanzprüfüng durch. Unterschiede in Mittelwerten können nur dann als gegeben interpretiert werden, wenn sie signifikant sind. Bei Signifikanzprüfungen ist das Signifikanzniveau auf das 5- Prozent-Niveau festgelegt. Die in den folgenden Tabellen (vgl. Tabelle 1 und 2) dargestellten Indices sind Mittelwerte, die durch Summierung aller Angaben für die entsprechenden Fragenkomplexe entstanden sind. Der Index ist ein Wert für die Kompetenz und die Einstellung zum Zeitpunkt der Befragung. Die Indices wurden nach den jeweiligen Gruppendifferenzierungen (vgl. 3.2) in Abhängigkeit von jeweils einer Variablen - Alter, Geschlecht, Bildung berechnet. Die in den Tabellen dargestellten Indices stellen zweierlei Unterschiede dar: a) Unterschiede für die einzelnen Varietäten im Hinblick auf verschiedene Alters-, Geschlechts- und Bildungsgruppen (die Gruppen sind jeweils in der linken Spalte angegeben), b) Unterschiede innerhalb der jeweiligen Altersgruppe in den vier verschiedenen Varietäten (Rußlanddeutsch, Russisch, Hochdeutsch, Regionalsprache); diese Werte sind rechts in vier Spalten dargestellt (vgl. Tabelle 1 und 2). In der Tabelle 1 werden die Werte in Prozent angegeben, da die Anzahl der Fragen für die einzelnen Sprachen variierten und nur so ein Vergleich der Daten möglich ist. 53 Tabelle 1: Ergebnisse der Befragung zur Sprachkompetenz (Angaben in Prozent) 54 Tabelle 2: Ergebnisse der Befragung zur Spracheinstellung (Atlitüdentest; x = Mittelwerte; R = Reliabilität; höchs tmöglicher Index: 30) 55 3.4.1 Die Befragung zur Sprachkompetenz Zur Tabelle 1: Ergebnisse der Befragung zur Sprachkompetenz 1) Der Einfluß der Variablen ‘Alter’ bewirkt hochsignifikante (0,0) Unterschiede der Mittelwerte bei Rußlanddeutsch und Russisch. Auch für Hochdeutsch und Regionalsprache sind die Unterschiede in der Kompetenz auf hohem Signifikanzniveau (0,0005 für Hochdeutsch und 0,0082 für Regionalsprache); Gruppe IV zeigt den höchsten Wert (63%) für Rußlanddeutsch und den niedrigsten (65%) für Russisch. Das Gegenteil liegt für beide Varietäten bei Gruppe I vor Den höchsten Wert für Hochdeutsch zeigt Gruppe III (58%), den niedrigsten wiederum die Gruppe IV (43%). Auch für Regionalsprache hat Gruppe IV den niedrigsten Wert (44%), den höchsten Wert (64%) zeigt hier die Gruppe I 2) Für die Variable ‘Geschlecht’ liegen signifikante Werte für Rußlanddeutsch (Signifikanzniveau 0,0275) und Hochdeutsch (Signifikanzniveau 0,0296) vor, dabei sind für beide Varietäten die Werte der Gruppen der Frauen höher: 46% gegenüber 36% bei Männern für Rußlanddeutsch und 51% gegenüber 46% bei Männern für Hochdeutsch. Die Werte von Russisch und Regionalsprache sind nicht signifikant. 3) Hoch signifikante Unterschiede ergeben sich für die Sprachkompetenz für den Faktor ‘Bildung’, und zwar sowohl für Rußlanddeutsch und Russisch als auch für Hochdeutsch (Signifikanzniveau = 0,0). Für Russisch und Hochdeutsch zeigt die Bildungsgruppe IV die höchsten Werte (entsprechend 93% und 59%), die niedrigsten die Gruppe I (55% und 35%). Den Höchstwert für Rußlanddeutsch zeigt Bildungsgruppe I (80%), den niedrigsten Wert - Gruppe IV (42%). Die Mittelwertunterschiede für Regionalsprache sind bei der Variablen ‘Bildung’ nicht signifikant. Die Werte für die mitgebrachten ‘Varietäten’ (Rußlanddeutsch und Russisch) entsprechen den Gesamtverhältnissen der Rußlanddeutschen, wie das auch zu erwarten war und wie aus den vorliegenden Studien zur Sprachkompetenz hervorgeht. Die Kompetenz im rußlanddeutschen Dialekt ist altersabhängig, und zwar je jünger der Sprecher, desto niedriger die Dialektkompetenz und desto höher die Russischkompetenz. Dieses Ergebnis kann man nach meiner Vermutung auf die Gesamtgruppe der rußlanddeutschen Sprachminderheit ausweiten. Das betrifft mit Sicherheit jedoch nur die ältere und die jüngere 56 Generation; bei der mittleren Generation (Gruppe II und III) ist Vorsicht geboten. Hier bewegen sich die Werte zwar zwischen den beiden äußersten Polen; es ist jedoch damit zu rechnen, daß sich die Erscheinungen des komplementären Bilingualismus nicht so deutlich auswirken wie bei der Gruppe I und IV (den jüngsten und ältesten Sprechern). In der untersuchten Gruppe gab es genügend Beispiele dafür, daß die Sprecher der mittleren Generation über gute Kenntnisse sowohl im rußlanddeutschen Dialekt als auch in der russischen Sprache verfügten. Ähnlich verhält es sich mit dem Faktor ‘Bildung’. Die Abhängigkeit der Kompetenz im rußlanddeutschen Dialekt und Russischen von dem Bildungsgrad ist nicht zu übersehen. Dieses Ergebnis entspricht im allgemeinen den bekannten Informationen zu dieser Frage. Russisch ist die Bildungssprache im Herkunftsland, und mit ihr verbindet man folglich Aufstiegsorientierungen im Gegensatz zum rußlanddeutschen Dialekt. Schon für die Gruppe mit 8-Klassen-Schule ist der Wert für die Kenntnisse des rußlanddeutschen Dialekts bedeutend niedriger als bei den Informanten, die nur Grundschulbildung haben. Genau das Gegenteil liegt bei dieser Gruppe für die Russisch-Kompetenz vor (mit ungefähr demselben Abstand, vgl. Tabelle 1). Die Gruppe der Informanten mit Hochschulbildung (Gruppe IV) bildet jedoch eine Ausnahme: Sie zeigt den gleichen Wert (mit kleiner Abweichung) wie die anderen zwei Bildungsgruppen (8- Klassen-Schule und 10-Klassen-Schule/ Technikum). Wie auch bei den beiden anderen Bildungsgruppen liegt hier ein großer Unterschied in der Rußlanddeutsch-Kompetenz nur zur Gruppe mit Grundschulbildung vor. Dieses Ergebnis kann man jedoch nach meiner Kenntnis nicht auf die Gesamtgruppe der Rußlanddeutschen übertragen, indem man z.B. annimmt, daß die Universitätsabsolventen immer eine vergleichsweise gute Dialektkompetenz aufweisen. Diese Dialektkenntnis kann man mit Sicherheit nur bei Absolventen von deutschen Abteilungen der Universität voraussetzen (die natürlich eine entsprechend bessere Hochdeutsch-Kompetenz aufweisen, vgl. Tabelle 1). Was ergibt sich aus der Befragung für die Hochdeutsch-Kompetenz? Nach dem Faktor ‘Alter’ gibt es keine eindeutige Tendenz. Man kann bei Aussiedlern nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland nicht mehr nach dem Alter deren Hochdeutsch-Kompetenz beurteilen (wie das in Rußland häufig mit dem ‘Schriftdeutschen’ möglich ist). Die niedrigsten Werte im Hochdeutschen zeigen wie auch zu erwarten war - Informanten, die über 55 Jahre alt sind Gerade diese Altersgruppe der Aussiedler hat im Herkunftsland keinen Deutschunterricht erhalten, denn ihre Schuljahre fallen in die Zeit des 2. Welt- 57 kriegs. Auch in Deutschland haben sie aus Altersgründen keinen Anspruch auf einen Sprachkurs. Die beste Hochdeutsch-Kompetenz zeigt die Gruppe III (40 bis 54 Jahre). Der Wert dieser Gruppe ist deutlich höher als der Wert der Gruppe II (25 bis 39 Jahre). Dieses Ergebnis ist durch den Faktor ‘Alter’ allein nicht zu erklären; es läßt sich hier ein Zusammenhang mit der Variablen ‘Bildung’ nachweisen. Nach den Ergebnissen der Befragung ist die Hochdeutsch-Kompetenz stark von der Bildung abhängig; das ist insbesondere am Beispiel der Gruppe IV (Hochschulabsolventen) zu ersehen. Bei der Frage nach der Kompetenz in der Regionalsprache haben sich interessante Zusammenhänge mit dem Faktor ‘Alter’ ergeben. Am wenigsten verfugt die älteste Gruppe der Informanten über Kompetenz in der Regionalsprache. Dies kann durch verschiedene Faktoren erklärt werden (z.B. durch die bei älteren Menschen in der Regel nicht so häufigen Kontakte zu den einheimischen Deutschen; durch das Fehlen von Aufstiegsorientierung und Orientierung an den regionalen Kommunikationsformen; nicht zuletzt durch psycholinguistische Gründe, z.B. durch beschränktere Möglichkeiten des Sprachenlernens im Alter). Genau das Gegenteil liegt vor bei der Gruppe der jüngeren Informanten: Sie zeigen ein deutlich besseres Ergebnis für die Regionalsprache als die anderen Altersgruppen (und insbesondere die älteste). Es darf natürlich nicht außer acht gelassen werden, daß es sich bei diesen Werten nicht um die möglicherweise ‘real existierende’ Regional-Kompetenz handelt, sondern nur um „Vorstellungen“ über diese Kompetenz. Es ist für das Gesamtbild nicht uninteressant, daß die jüngere Generation offensichtlich mehr zum Regionalen tendiert, was sich dann auch in der Beurteilung der eigenen Kompetenz niederschlägt. Im Zusammenhang mit der Regionalkompetenz sollte man auch daran denken, daß das Vorhandensein eines eigenen rußlanddeutschen Dialekts bei der älteren Generation das Aneignen des Regionalen verhindert. Dies hat z.B. der Fall der deutschen Flüchtlinge aus dem Osten in der Nachkriegszeit gezeigt; auch hier haben die erwachsenen Flüchtlinge die regionale Sprechweise nicht angenommen. Anders ist die Lage bei erwachsenen Arbeitsmigranten, die über keine eigene Dialektkompetenz verfugen und die sich off eher eine regionale Variante des Deutschen aneignen als die deutsche Standardsprache (bzw. eine stark mit Regionalismen durchsetzte hochdeutsche Varietät, vgl. Orlovic-Schwarzwald/ Schmidt 1986). Vergleichen wir die Kompetenz in den vier Sprachvarietäten untereinander, so stellen wir fest, daß die Differenzen insgesamt in typischer Weise unterschiedlich sind. Alle vier Altersgruppen zeigen für das Russische die mit Abstand 58 beste Kompetenz. Das Russische ist also auch noch nach zwei Jahren bzw. nach drei bis vier Jahren Aufenthalt in Deutschland nach eigenen Angaben die dominante Sprache der rußlanddeutschen Aussiedler (vgl. auch 3.3). Eine Tendenz der Verdeutschung der Sprachkompetenz der rußlanddeutschen Aussiedler durch den Abbau des Russischen läßt sich nicht feststellen. An zweiter Stelle steht bei allen Altersgruppen (außer bei der Gruppe IV den Informanten der ältesten Gruppe) eine ‘neue’ deutsche Varietät: entweder das Hochdeutsche (die Generation von 40 bis 54 Jahren, Gruppe III), oder die Regionalsprache (Gruppe I und II, die jüngeren Sprecher). Und nur bei der älteren Generation belegt den zweiten Platz nach dem Russischen ebenfalls eine ‘alte’ Varietät: der rußlanddeutsche Dialekt. Die neuen deutschen Varietäten liegen kompetenzmäßig mit großem Abstand hinter den alten mitgebrachten Varietäten. Bei der älteren Generation ist also ein gewisser sprachlicher ‘Stillstand’ zu verzeichnen: Es gibt keinerlei Bewegungen in Richtung Verdeutschung oder Verhochdeutschung der Kompetenz, wie das bei den anderen Gruppen der Fall ist. 3 .4.2 Ergebnisse der Befragung zur Spracheinstellung Zur Tabelle 2: Ergebnisse der Befragung zur Spracheinstellung 1) Bei der Variablen ‘Alter’ hat die Altersgruppe III die höchsten Werte für Hochdeutsch (27,28). Die Altersgruppe I zeigt die niedrigsten Werte für Rußlanddeutsch und Hochdeutsch (18,16 und 21,11). Die höchsten Werte für Rußlanddeutsch zeigt die Altersgruppe IV: 22,47. Die Mittelwertunterschiede sind für Rußlanddeutsch und Hochdeutsch hoch signifikant (entsprechend 0,0002 und 0,0009), für Russisch und Regionalsprache nicht signifikant. 2) Nur für die Regionalsprache zeigt die Variable ‘Geschlecht’ signifikante Unterschiede (0,0048); höhere Werte zeigen hier Männer (19,67 gegen 17,44 bei Frauen). Dier Unterschiede bei Russisch, Rußlanddeutsch und Hochdeutsch sind bei dieser Variablen nicht signifikant. 3) Die Bildungsgruppe IV hat den Höchstwert für Russisch (23,95); den niedrigsten Wert haben Gruppe II und Gruppe I mit kleinem Abstand (21,38 und 21,25). Die Wertunterschiede sind signifikant für: Russisch (0,001), Rußlanddeutsch (0,0075) und Hochdeutsch (0,0) Die Gruppe III 59 zeigt die niedrigsten Werte für Rußlanddeutsch (18,98) und den Höchstwert für Hochdeutsch (25,58). Die Bildungsgruppe I hat den höchsten Wert für Rußlanddeutsch (22,89). Die Unterschiede für die Regionalsprache sind nach dem Faktor Bildung nicht signifikant Betrachten wir nun die hier dargestellten Ergebnisse der quantitativen Analyse der Einstellungen einzeln für jede Sprachvarietät. Für jede der untersuchten Sprachvarietäten wurde ein Gesamt-Index gebildet (Mittelwert für die Gesamtgruppe). Der höchstmögliche Wert beträgt 30,0. Es liegen folgende Indices für die Einstellungen zu den einzelnen Varietäten vor: a) Hochdeutsch-Index - 25,92; b) Russisch-Index - 22,64; c) Rußlanddeutsch-Index - 20,32; d) Regionalsprache-Index - 18,41. a) Hochdeutsch: Unabhängig von Alter, Geschlecht oder Bildung zeigen die Befragten eine jeweils positivere Attitüde zum Hochdeutschen als zu den anderen drei untersuchten Varietäten (vgl. Tabelle 2) Der Hochdeutsch-Index liegt bei allen untersuchten Variablen über den Werten der anderen Varietäten. Signifikante Unterschiede in der Einstellung zum Hochdeutschen liegen bei den untersuchten Gruppen im Zusammenhang mit den Variablen Alter und Bildung vor. Bei der Variablen ‘Bildung’ gilt: Je höher die Bildung, desto positiver die Hochdeutsch-Attitüde (vgl. Tabelle 2). b) Russisch: An zweiter Stelle liegt bei den Befragten das Russische, die frühere offizielle Staatssprache ihres Herkunftslandes. Die Gruppenunterschiede sind hier jedoch nicht so signifikant, wie das für Hochdeutsch der Fall ist: Signifikante Unterschiede ergaben sich nur bei der Variablen ‘Bildung’. Die Variable ‘Bildung’ ist hoch signifikant (0,001) und bietet dieselben Zusammenhänge wie beim Hochdeutschen: je höher die Bildung, desto positiver ist die Russisch-Attitüde; den Höchstwert (23,95) zeigt Gruppe IV (Hochschul- / Universitätsbildung). (Vgl. dazu auch 3.5.2.) c) Rußlcmddeutsch: Der zweiten „mitgebrachten“ Varietät gegenüber dem Rußlanddeutschen haben die Befragten eine weniger positive Einstellung (Mittelwert für Rußlanddeutsch 20,32 gegen 22,64 für Russisch). Die Variable ‘Alter’ bringt keine Überraschungen: je älter der Befragte, desto höher ist der Rußlanddeutsch-Index. Die Variable ‘Geschlecht’ zeigt, daß die Unter- 60 schiede zwischen Männern und Frauen nicht signifikant sind. Interessant sind die Zusammenhänge zwischen der Variablen Bildung und der Attitüde: die höheren Werte zeigen die Bildungsgruppe I (Grundschule, 22,89) und IV (Hochschule/ Universität, 21,57) gegen 18,98 bei Gruppe III und 20,12 bei Gruppe II. Erwartbar ist der hohe Wert bei Gruppe I; insgesamt nicht erwartbar jedoch bei Gruppe IV („die intellektuelle Attitüde“, vgl. 3.5.1). d) Regionalsprache: Die am wenigsten positive Attitüde haben die Befragten zur regionalen Variante des Deutschen. Signifikante Unterschiede zeigt die Variable ‘Geschlecht’. Eine positivere Attitüde zur Regionalvariante haben Männer (19,67 gegenüber 17,44 bei Frauen).Bezüglich der Bildung und des Alters gibt es keine signifikanten Unterschiede für die Einstellung der Regionalsprache. 3.5 Qualitative Analyse: Sprachliche Varietäten aus der Sicht der Sprecher Um die in 3.3 und 3.4 dargestellten Ergebnisse der quantitativen Auswertung zu ergänzen, werden im vorliegenden Abschnitt die sprachlichen Varietäten aus der Sicht der rußlanddeutschen Sprecher charakterisiert. Als Quelle dafür werden benutzt: a) Interviews über Fragen der sprachlichen Integration in Deutschland, b) Kommentare der Informanten im Zusammenhang mit dem Fragebogen und dem Spracheinstellungstest, c) Gesprächsprotokolle anläßlich von Gruppengesprächen und Diskussionen mit Informanten. Im Zentrum der Darstellung des vorliegenden Abschnitts stehen Aussagen der Informanten bezüglich der vier Varietäten: des eigenen rußlanddeutschen Dialekts, der russischen Sprache sowie der hochdeutschen Standardsprache und der jeweiligen regionalen Umgebungsvarietät. Hier sollen die Aussagen der rußlanddeutschen Sprecher zusammengefaßt werden, die das Wissen über die genannten Sprachvarietäten verkörpern. Außerdem soll gezeigt werden, wie diese Varietäten bewertet werden und welche Verhaltensdispositionen diesen Varietäten gegenüber für die rußlanddeutschen Sprecher typisch sind. Trotz der Fülle des vorliegenden Materials kann im Rahmen dieser Arbeit kein vollständiges und detailliertes Bild hierzu erstellt werden. Ich beschränke mich auf einige ‘Streiflichter’: In knapper Form sollen die herrschenden Meinungen und Sprachreflexionen beleuchtet werden, die nach meiner Erfahrung auch für die gesamte rußlanddeutsche Sprachminderheit in Deutschland typisch sind. 61 3.5.1 Einstellung zum rußlanddeutschen Dialekt Jeder der befragten Informanten wird in seinem Alltagsleben mit dem rußlanddeutschen Dialekt konfrontiert, sei es, daß er ihn als aktiver Sprecher selbst verwendet, sei es, daß er verschiedene Dialekte hört. 64 Prozent aller Befragten haben angegeben, in einem rußlanddeutschen Dialekt sozialisiert worden zu sein. Fragt man jedoch nach dem Wissen über den eigenen rußlanddeutschen Heimatdialekt, so fällt auf, daß die Sprecher nur vage Vorstellungen davon haben, über welche Form der Sprachkompetenz sie verfugen und wie diese in das Varietätensystem der neuen Umgebung einzuordnen ist. Schon die Antworten auf die Frage nach der Benennung der eigenen dialektalen Varietät sind für einen nicht eingeweihten Hörer verwirrend und lassen keine eindeutige Zuordnung zu regionalen Varietäten in Deutschland zu. Sie sprechen samarisch, belmesisch oder jamburgisch, sie sind Latähsche (‘lutherisch’), Manischte (‘Mennoniten’) oder Wolgadaitsche, Krimdaitsche und Wolhynier. Die ältere Generation identifiziert oft den Namen ihres Dialekts mit ihrer geographischen Herkunftsregion der Vorkriegszeit oder der Herkunft der Eltern; sie plaudre marientalisch (Mariental eine deutsche Siedlung an der Wolga, die bis 1941 existierte und nach dem Krieg den Namen ‘Sovetskoe’ erhalten hat). Der jüngeren Generation fehlt auch dieses Wissen. Und wenn die Älteren noch eine Vorstellung von einer „mennonitisch-plattdeutschen“ oder „kolonistisch-hochdeutschen“ (vgl. Kap. 2) Sprache haben, so können sich die Informanten mittleren und jüngeren Alters kaum mehr etwas darunter vorstellen. Sie selbst identifizieren sich als Kasachstaner, Altaier oder Sibirjaken, ihre mitgebrachte deutsche Varietät bezeichnen sie größtenteils als Rußlantdaitsch bzw. Rußlandsdeutsch. Die emotionale Wahrnehmung des rußlanddeutschen Dialekts scheint insgesamt davon abzuhängen, wie vertraut man mit dem Dialekt ist und inwieweit er noch als praktisches Kommunikationsmittel in der Familie im Herkunftsland verwendet wurde. Diejenigen Informanten, die den Dialekt beherrschen, betonen, daß sie mit ihm aufgewachsen sind und daß er für sie einfach gewohnt ist ("npocTo npHBbiMHbift"). Bei einem Teil der Informanten zeichnet sich in der positiven Einstellung zum rußlanddeutschen Dialekt deutlich eine Komponente ab, die als ‘intellektuelle Attitüde’ aufgefaßt werden kann. Dazu gehören vor allem Informanten der höchsten Bildungsgruppe, für die es wichtig ist, daß es sich um die Sprache der Eltern handelt, um die Muttersprache, und die Muttersprache kann nicht schlecht sein ("pojtHOH H3biK ne mojkct fibiTL nJioxHM"). Betont wird hier auch die Rolle der Sprache als Mittel zum Aus- 62 druck von Zugehörigkeit zu etwas, zu einer bestimmten Region und einer bestimmten Bevölkerung ("npHHagJieacHOCTb k 'icMy-ro, k onpegejieHHOMy Mecxy, K onpegejieHHOMy HaceJieHHio"). In dieser Funktion wird der rußlanddeutsche Dialekt als ein Teil der rußlanddeutschen Vergangenheit verstanden und die Vergangenheit kann man doch nicht ganz durchstreichen ("Hejibsa xce npomjioe cobccm aauepKHyTb") In der Reflexion über den rußlanddeutschen Dialekt wird von den meisten Informanten auf seine Brückenfimktion hingewiesen. Es überwiegt die Meinung, daß der Dialekt in der ersten Phase des Aufenthalts in Deutschland sehr nützlich ist. Denn: wannscht iwehaupt net kannscht, is men fron, daß men den hat; dar wu eoo6w,e [überhaupt] niks kann, dem gehts noch viel schwärer. Nicht einig sind sich die Informanten über das weitere Schicksal des rußlanddeutschen Dialekts. Die aktiven Dialektsprecher glauben, den rußlanddeutschen Dialekt nicht mehr loskriegen zu können, und sind überzeugt, daß dieser Dialekt immer Vorgehen wird ("gnajicKT Bnepeg hhct"). Andererseits werden Meinungen ausgesprochen, daß es gut wäre, den rußlanddeutschen Dialekt loszuwerden, um sauber zu sprechen ("xo'ictch ero yöparb, uxoGbi roBopHTb hhcto"). In dieser Einstellung äußert sich ein wichtiger Ansatz zur Verhochdeutschung des Rußlanddeutschen. Die Bewertungen des Rußlanddeutschen werden dabei immer aus der Perspektive des Vergleichs mit dem hochdeutschen Standard oder zumindest der regionalen deutschen Varietät (Saarländisch) vorgenommen und nicht im Vergleich zum Russischen. Rußlanddeutsch und Russisch scheinen kaum zu konkurrieren. Oft werden auch die binnendeutschen Varietäten nicht differenziert: Man spricht von dem hiesigen Deutsch und von der Notwendigkeit, das hiesige Deutsch zu beherrschen, um sich von der sprachlichen Umgebung nicht zu unterscheiden ("jiymiic agemHHH caapjiaHgcKHH, utoö ne OTJiHvaTbc«"). Der Kontrast des Rußlanddeutschen zum Standarddeutschen scheint insbesondere den Informanten der jüngeren Generation der Rußlanddeutschen aufzufallen, die diesen Dialekt nur aus der Hörerperspektive wahrnehmen. Die Grundlage zur negativen Bewertung des rußlanddeutschen Dialekts ist sein schlechter Klang im Vergleich zum Hochdeutschen ("Mhc hc npaBHTca na cjiyx. Ecjih 3Haemb Hochdeutsch nyTb-nyTb, nocjie Hero ero cjiymaTb HenpHHTHo"). Bei der Konfrontation mit dem Rußlanddeutschen, z.B. als Zuhörer bei der Kommunikation von älteren Rußlanddeutschen, fällt den jüngeren Sprechern die Unverständlichkeit des rußlanddeutschen Dialekts auf; als Hindernis wird daher auch die deutsch-russische Mischung empfunden 63 ("cnyxaHHbift c pyccKHM"). Auch bei jungen Eltern hat der rußlanddeutsche Dialekt ein niedriges Prestige: Als mögliche Sprachvarietät für die Kinder kommt das Rußlanddeutsche keinesfalls in Frage, denn wenigstens unsere Kinder sollen richtig sprechen ("nycTi> Haum / (trra y>K paaronapHBaioT npaBHJtbHo"). 3.5.2 Einstellung zur russischen Sprache In der Reflexion über das Russische überwiegen Fragen, die mit der sprachlichen Erziehung der Kinder verbunden sind. Die Erwachsenen sind sich darin einig, daß die Kinder das Russische möglichst nicht aufgeben sollten; daß die zweisprachige Erziehung für Kinder von Nutzen ist und daß es net schlecht ist, wem sie kenne paar H3biKU [Sprachen], Die zunehmenden Geschäftsbeziehungen mit Rußland erlauben den Eltern, durch Russischkenntnisse auf berufliche Vorteile für ihre Kinder zu hoffen. Auch für spätere Besuche in Rußland sei die russische Sprache für die Kinder nötig. Als eine Domäne des Russischen in der Bundesrepublik haben viele Informanten die Aussiedler- Kommunikation genannt: das Russische ist die einzig gültige Sprachvarietät für die Ingroup-Kommunikation von einzelnen Sprechern und Sprechergruppen untereinander. Die erwachsenen Aussiedler sind überzeugt, daß sie selbst die russische Sprache niemals aufgeben werden, denn es gibt genügend Russaken hier und das Russische brauchen wir auch ("PycaxoB Tyr xBaxaex; pyccKHH xoxce nyx<cH") Es wurde schon erwähnt, daß die rußlanddeutschen Eltern sich der Vorteile der zweisprachigen deutsch-russischen Erziehung ihrer Kinder bewußt sind. Die meisten geben jedoch zu, für diese gewollte/ gewünschte Zweisprachigkeit nichts aktiv zu unternehmen, denn von ihnen hängt da wenig ab und die Kinder werden das Russische unabhängig vom Willen der Eltern sowieso vergessen ("ox MCHH 3X0 MaJio saBHCHT, bcc paBHO 3aöyAyx"). Es wird sich in der Zukunft die schon bekannte sprachliche Situation wiederholen, wie sie schon einmal im Herkunftsland stattgefünden hat: die Eltern haben die Kinder deutsch (dialektal) angesprochen, und die Kinder haben russisch geantwortet. In Deutschland jedoch mit dem Unterschied, daß wir [die Eltern] russisch sprechen und sie [die Kinder] werden deutsch antworten ("mm öyjieM nopyccKH, a OHH ßyjtyx no-HCMeuxn oxBenaxb"). 64 3.5.3 Einstellung zur hochdeutschen Standardsprache Bei der Bewertung des Hochdeutschen werden keine Vergleiche mit Russisch oder Rußlanddeutsch gezogen; alle Informanten bewerten das Hochdeutsche im Vergleich zu einer regionalen Varietät: Hochdeutsch ist besser als Platt, denn es ist verständlich Außerdem ist Hochdeutsch leichter als Platt (zu erlernen), und Hochdeutsch muß in jedem Bundesland verstanden werden („Hochdeutsch Kaxgbift hcmci.; gojiacen noHHTb! "). Hochdeutsch ist das Allerbeste, besser als Saarländisch. Nach der Meinung einiger jüngerer Informanten ist Hochdeutschfehlerfrei, in den Dialekten dagegen gibt es Fehler ("h BHXcy, KaKHe thm oiimf>KH AonycfcaioTCH"), und deshalb gefällt ihnen Hochdeutsch besser als Saarländisch. Diese Meinung wird sicherlich noch durch die Sprachförderungsmaßnahmen unterstützt: In den Sprachkursen wird die hochdeutsche Grammatik eingeübt, danach fallen die Dialekte natürlich insbesondere durch ihre ‘Fehler’ auf. Besonders auf dem Hintergrund der Vielfalt der einheimischen deutschen Dialekte und deren Unterschiedlichkeit gewinnt das Hochdeutsche als „Einheitlichkeits- und Allgemeingültigkeitsvarietät“ an Prestige; thematisiert wurde oft in diesem Zusammenhang der Fall des Umzugs in ein anderes Bundesland. Die Frage der Bewertung des Hochdeutschen ist jedoch in Wirklichkeit differenzierter, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Dies hängt mit der Komplexität der neuen sprachlichen Umgebung zusammen. Man denke hier an die binnensprachliche Diglossie im Deutschen (Besch 1983) und an die nicht selten auftretende Notwendigkeit von „binnensprachlichen Übersetzungsvorgängen“ (Löffler 1994, 43). Auch rußlanddeutschen Sprechern ist aufgefallen, daß in manchen Gegenden Deutschlands im mündlichen Bereich (im Bereich des gesprochenen Deutsch) die „Hochsprache“ kaum verwendet wird. Dieser Fall liegt z.B. im Saarland vor, wo die Saarländer nur saarländisch sprechen. Die Informanten haben ganz bestimmte Meinungen über den Sprachgebrauch der saarländischen Sprecher: Die Saarländer werden kein Hochdeutsch sprechen, sie haben es nicht nötig; sie sind der Meinung, daß der saarländische Dialekt ihnen völlig ausreicht („Saarländer CHHxaioT, xro hm xBaxaex. Ohh He öynyx roBopnxb Hochdeutsch. Ohh roBopax xojibko Saarländisch“). In dieser Situation sind die rußlanddeutschen Sprecher natürlich gezwungen, ihre eigenen Sprachstrategien zu überdenken. Dies fuhrt zur Lockerung beim Einsatz des Hochdeutschen im mündlichen Bereich. Die besondere Problematik der rußlanddeutschen Sprecher ist hier - und das wurde besonders deutlich in den Interviews die ‘Doppeldialektalität’, mit der die Sprecher in dieser 65 Kontaktsituation konfrontiert werden: einerseits die eigene, rußlanddeutsche dialektale Varietät, auf der anderen Seite die neue regionale Varietät (das Saarländische). Oft entscheiden sich die Sprecher dann doch für das Hochdeutsche, weil es leichter ist, oder sie bleiben z.T. beim Rußlanddeutschen, wenn sie der Meinung sind, daß sie verstanden werden, oder weil sie nicht anders sprechen können. 3.5.4 Einstellung zur regionalen Varietät Zu keiner der oben beschriebenen Sprachvarietäten ist die Einstellung so ambivalent wie zur regionalen Variante des Deutschen. (Ich werde mich in diesem Abschnitt auf die Darstellung der saarländischen Varietät aus der Sicht der im Saarland lebenden rußlanddeutschen Sprecher beschränken.) Auf die Frage, ob man im Saarland ohne den saarländischen Dialekt auskommen könne, wurde die Meinung geäußert, daß man auskommen könne, aber nicht ganz gut. Die meisten Sprecher sehen das Erlernen des saarländischen Dialekts nicht als ihr direktes Ziel (wie das Hochdeutsche), es wäre aber net verkehrt, ihn zu verstehen, er ist nicht überflüssig ("oh hc jihhihhh"). Aber trotz der Erkenntnis, daß das Saarländische für die Kommunikation nützlich ist, sind die meisten nicht bereit, sich gezielt mit seinem Erwerb zu beschäftigen, denn wenn sie hier im Saarland Wurzeln schlagen, dann lernen sie das von selbst ("ecjiH agecb KopHH nymy, to H3yny caMO no ceöe"). So große .ytce/ iattue [Wunsch] net, noch ein zwei Jahre, dann kann ich ihn auch so, meint ein aktiver Dialektsprecher aus Kasachstan, der seit zwei Jahren in einem saarländischen Betrieb tätig ist. So grad speziell lernt er das Saarländische nicht. Obwohl die regionale Varietät bei den Sprechern die am wenigsten positive Einstellung genießt, wäre es falsch zu behaupten, daß die Sprecher diese Varietät strikt ablehnen. Es kann nach einigen Aussagen von den Informanten angenommen werden, daß die Sprecher sogar eine gewisse regionale Loyalität den Varietäten gegenüber entwickeln. So ist z.B. das Saarländische besser als der Dialekt in Friedland; in Heilbronn ist schwäbisch, das ist noch schlechter (zu verstehen). Insgesamt sind die Sprecher jedoch über die Vielfalt der Dialekte in Deutschland und deren Unverständlichkeit überrascht. Viele empfinden das als eine nicht besonders angenehme Überraschung, und erst nach einigen Jahren Aufenthalt in Deutschland kann dieser eigenartige „Kulturschock“ überwunden werden, und es lassen sich dann Erscheinungen der oben erwähnten Dialektloyalität beobachten. Trotzdem genießt das Hoch- 66 deutsche bei den Sprechern insgesamt höheres Prestige, weil es allgemein verständlich ist. Einige Informanten haben sich ernsthaft gefragt, wozu eigentlich die Dialekte in Deutschland überhaupt nötig wären. Es gibt doch eine offizielle deutsche Staatssprache, und man könne sich doch ausgezeichnet auf Hochdeutsch verständigen. Wozu noch das Hochdeutsche umkrempeln? Und außerdem seien diese deutschen Dialekte so komisch. In Rußland gäbe es auch russische Dialekte, aber man wird in jedem Eckchen Rußlands auf russisch verstanden, ob in verschiedenen Gebieten von Wjatka, in Norilsk oder bei den Tschuktschen. In Deutschland dagegen sind die Dialekte umgekrempelt, sie klingen nicht richtig, Wörter und Buchstaben werden verschluckt und man zerbricht sich damit die Zunge ("hshk öojiht nocjie Hero"). 3.6 Qualitative Analyse: Ergebnisse der Beobachtung. Nach der Darstellung der quantitativen Ergebnisse und der Charakterisierung der Varietäten aus der Sicht der Sprecher werden im folgenden kurz die charakteristischen Merkmale der Sprachsituation der untersuchten Gruppe von Rußlanddeutschen beschrieben, die durch teilnehmende Beobachtung festgestellt wurden. Die im Rahmen dieser Untersuchung durchgefuhrte Beobachtung der Sprachsituation hatte zum Ziel, Schlußfolgerungen über das tatsächliche Sprachverhalten der Informanten in den beobachteten Situationen zu ziehen. Es handelt sich dabei nur um die typischen Merkmale des sprachlichen Alltagsverhaltens der untersuchten Gruppe, die aber nach meiner Einschätzung die Sprachsituation der Gesamtgruppe der rußlanddeutschen Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland charakterisieren. Der Familiensprachgebrauch der erwachsenen Rußlanddeutschen hat sich tendenziell in der neuen sprachlichen Situation nicht verändert. Auch hier ist noch der intergenerationelle „polyglotte Dialog“ in der Kommunikation zu beobachten: Die ältere Generation spricht deutsch-dialektal, die jüngere antwortet russisch. Dies ist besonders für Familien aus deutschen Sprachinseln oder auch aus gemischten deutsch-russischen Siedlungen typisch. In vielen Familien aus Städten ist aber auch Russisch die intergenerationelle Kommunikationssprache. Intragenerationell ist genau wie im Herkunftsland die „zweisprachige Rede“ als Modell des Sprachgebrauchs insbesondere für die mittlere Generation sehr typisch (Lüdi/ Py 1984, 102ff ). Nach dem Konzept der zweisprachigen Rede wird Code switching innerhalb von einzelnen kommunikativen Ereignissen vollzogen, ohne daß ein Partnerwechsel oder eine Gesprächskonstel- 67 lationsänderung eingetreten wären. Für diese Konstellation ist Code switching die „unmarkierte“ Form (unmarked choice) des Sprachgebrauchs (Myers- Scotton 1993, 117ff.). Sehr häufig - und dafür gibt es viele Belege findet zweisprachige Kommunikation statt, indem rußlanddeutsche Sprecher miteinander ‘deutsch-russisch’ sprechen; die Art der Verwendung des Deutschen und Russischen als eines sprachlichen Kontinuums erlaubt es, den verwendeten Code als eine autonome Sprachvarietät im konkreten Redeakt oder als zweisprachige Rede aufzufassen (vgl. dazu Kap. 6). Beide Sprachverhaltensstrategien sowohl der ‘polyglotte Dialog’ als auch die ‘zweisprachige Rede’ werden gesprächspartnerabhängig eingesetzt und konnten in allen Familien beobachtet werden, in denen der deutsche (rußlanddeutsche) Dialekt als Kommunikationsmittel nicht vollständig durch das Russische verdrängt ist. Gravierende Veränderungen sind jedoch im Sprachgebrauch außerhalb der Familie beobachtet worden. Da Russisch nicht mehr die offizielle Landessprache ist, verliert sie ihre dominante Bedeutung als High Variety, wie sie sie im zum Teil noch intakten Diglossiesystem im Herkunftsland besitzt. Verbunden ist dies mit dem Phänomen der Sprachverdrängung und der Domäneneinengung. Die Domänen des Russischen sind stark eingeengt: in allen Situationen, in denen früher im Herkunftsland nur Russisch verwendet wurde, wird heute nur Deutsch verwendet. Als Sprachverdrängung muß dieser Prozeß angesehen werden, weil diese Einengung der Domänen des Russischen letztendlich keine „freiwillige“ ist (im engeren Sinne des Wortes). Die neuen Interaktionspartner (Deutsche oder Angehörige anderer in Deutschland lebender ethnischer Gruppen, z.B. Türken, Italiener u.a.) können in der Regel kein Russisch; schon aus diesen Gründen sind rußlanddeutsche Sprecher zunächst gezwungen, auf das Russische zu verzichten. In Situationen, in denen der Verzicht nicht unbedingt notwendig ist, wird es vorerst beibehalten; z.B. wird in den russischen Läden, die von Aussiedlern unterhalten werden, Russisch gesprochen, und das ist auch für andere Aussiedler-Situationen typisch. Mit der oben erwähnten Verdrängung des Russischen sind Sprachkonflikte verbunden. Es handelt sich dabei am häufigsten um a) ‘freiwillige Überanpassung’ durch Verdrängung des Russischen in Situationen, in denen dies aus Sprachverständlichkeitsgründen nicht unbedingt nötig wäre; b) sprachliche Verunsicherung durch Verwischung der Regeln der kommunikativ angemessenen Einsetzung von Varietäten im binnensprachlichen Diglossieraum. In beiden Bereichen geht es um den Ingroup-Sprachgebrauch im öffentlichen Rahmen. Beispiele für die ‘freiwillige Überanpassung’ sind sehr 68 zahlreich; ich möchte hier ein typisches, von mir in verschiedenen Varianten mehrmals beobachtetes Beispiel anflihren. Zusammen mit dem Informanten J. und seiner Enkelin besuchte ich ein kleines Lebensmittelgeschäft im Wohnviertel Rheinau-Süd in Mannheim. Im Geschäft befand sich eine türkische Familie mit Kindern, die laut türkisch sprachen. Nach dem Verlassen des Geschäfts sagte der rußlanddeutsche Großvater streng zu seiner Enkelin, sie solle in Zukunft nicht mehr Russisch im Laden sprechen. Auf meine Bemerkung, die türkischen Kinder hätten ja auch türkisch gesprochen, sagte der Informant: „ Wir sind Deutsche, wir müssen deutsch sprechen.“ Diese Einstellung und Praxis des alltäglichen Sprachverhaltens hängt zweifellos mit der deutschen Identität der Rußlanddeutschen zusammen. Hier offenbart sich ein Konflikt zwischen der tatsächlich dominanten Herkunftssprache Russisch und der ‘gewollten’, ‘gewünschten’ Identitätssprache Deutsch. Das Gefühl, deutsch sprechen zu müssen, bestimmt das Sprachverhalten der rußlanddeutschen Sprecher in der Öffentlichkeit (wenn ihre verbale Interaktion von anderen anwesenden Personen wahrgenommen werden kann, z B. in einer Schlange im Geschäft, im Bus, beim Arzt im Wartezimmer usw ). Durch den oben angesprochenen Sprachkonflikt kommt es dann zu einem Phänomen, das ich als ‘Flüstersyndrom’ bezeichnen möchte. Dieser Konflikt findet seinen Ausdruck darin, daß die Sprecher die dominante Sprache Russisch im Flüsterton verwenden, damit ihr tatsächlicher Sprachgebrauch von der Umgebung nicht wahrgenommen werden kann. Hier äußert sich die schon im Herkunftsland angewandte Sprachregel, die eigene deutsche Sprache zu verbergen. Diese ‘alte’ Sprachverwendungsregel ist in die neue Wirklichkeit übertragen worden mit dem Unterschied, daß das ‘Verbergungsobjekt’ jetzt genau das Gegenteil ist: die russische Sprache. Das Sprachverwendungsmuster hat sich nicht verändert: im Herkunftsland wurde deutsch, in Deutschland wird russisch geflüstert. Ein anderes, auch mit der deutschen Identität verbundenes Merkmal der rußlanddeutschen Kommunikation in Deutschland ist die sprachliche Verunsicherung, die sich im Vermeiden der eigenen dialektalen Varietät äußert. Dieses Phänomen habe ich bei Sprechern beobachtet, die bei gewöhnlicher Interaktion in der Familie als Hauptkommunikationsmittel ihren rußlanddeutschen Dialekt verwenden. In einer Situation, in der ihre verbale Interaktion von hiesigen Deutschsprechern wahrgenommen werden konnte, wechselten sie in die Hochsprache; diese Hochsprache als eine Art dialektal-standarddeutsche Mischsprache wirkte jedoch sehr künstlich und enthielt zahlreiche Hyperkor- 69 rektismen (vgl. Kap. 6). Diese Ausprägung des rußlanddeutschen Sprachkonflikts möchte ich als ‘Hochdeutschsyndrom’ bezeichnen: Der Wechsel ins Hochdeutsche findet nicht nur dann statt, wenn er erforderlich ist, z.B. in formeller Amtskommunikation, aus Verständlichkeitsgründen bei der Kommunikation mit Nicht-Dialektsprechern. Auch in Situationen, in denen ein Wechsel ins Hochdeutsche nicht erforderlich wäre, bemühen sich die rußlanddeutschen Sprecher ums Hochdeutsche. Für dieses Phänomen im Sprachverhalten können viele Beispiele aus den beobachteten Situationen angeführt werden. Die eigene Sprachvarietät wird offensichtlich für den öffentlichen Gebrauch als unbrauchbar angesehen und verdrängt. Da jedoch die Normen der hochdeutschen Standardsprache von den meisten Informanten nicht erfolgreich realisierbar waren, entstand als Ergebnis bzw. Ausdruck des Hochdeutschsyndroms eine deutsch-deutsche Mischsprache aus Elementen des eigenen deutschen Dialekts und Elementen der deutschen Standardsprache (Kap. 4). 3.7 Zusammenfassung Es war das Ziel dieses Kapitels, zu untersuchen und darzustellen, a) welche Besonderheiten im Sprachgebrauch der rußlanddeutschen Aussiedler in den ersten Jahren nach der Einreise in Deutschland zu beobachten sind und b) wie sich deren sprachliche Integration in die neue sprachliche Umgebung im einzelnen gestaltet. Meine Haupthypothese war die Hypothese der soziosprachlichen Anpassung. Sie besagt, daß die Rußlanddeutschen in allen für ihre Integration relevanten Sprachsituationen versuchen werden, sich von der neuen Umgebung so wenig wie möglich zu unterscheiden. Im Rahmen der Fragestellung war auch zu untersuchen, wie sich die Sprachkompetenzen und das Sprachverhalten der Rußlanddeutschen verändern und wie sich deren Spracheinstellungen gestalten. Werden Sprachverhaltensweisen und Spracheinstellungen von der Umgebung integrativ übernommen oder werden alte Modelle in die neue Wirklichkeit übertragen ? Die Hypothese der Anpassung hat sich in meinen soziolinguistischen Untersuchungen des Sprachverhaltens bestätigt. Es hat sich gezeigt, daß Rußlanddeutsche mehr oder weniger bewußt das Ziel verfolgen, sich von der Umgebung nicht zu unterscheiden bzw. die Unterschiede nach Möglichkeit zu verringern und sich der neuen Gesellschaft sozial und sprachlich anzupassen. Man kann davon ausgehen, daß dieses Verhalten eine dauerhafte Sprachgebrauchsmaxime der Rußlanddeutschen in allen öffentlich-formellen und auch 70 informellen oder teilweise formellen Outgroup-Situationen ist. In der informellen Ingrop-Kommunikation, in der kein Anpassungsdruck besteht, bewahren die Rußlanddeutsch-Sprecher größtenteils ihre authentischen Sprach- und Kommunikationsregeln. Der allgemeine Anpassungsdruck wirkt sich hier in Form von bestimmten „Abwehrreaktionen“ aus, wodurch Nischen entstehen, in denen keine Anpassung stattfindet. Im einzelnen stellt sich die Anpassung bzw. Nicht-Anpassung freilich etwas differenzierter dar. Die wichtigsten Differenzierungen werden im folgenden noch einmal zusammenfassend genannt: 1. Es hat sich gezeigt, daß die Komplexität der sprachlichen Ausgangsbasis und die mehrfache Überschneidung der sprachlich relevanten Faktoren eine klare Differenzierung von Integrationstypen bezüglich der sprachlichen Eingliederung erschweren. Die im Kapitel dargestellten und erläuterten Gruppendifferenzierungen werden vielfach durch Sprachbewertungen überlagert, die zwar zum Teil in unterschiedlichem Maße, aber nahezu für alle untersuchten Informanten gelten und daher wahrscheinlich gruppenunabhängig sind. Man kann davon ausgehen, daß die sprachliche Integration in erster Linie durch die Aussiedleridentität und den Aussiedlerstatus geleitet wird. 2. Die sprachliche Situation der Rußlanddeutschen in Deutschland stellt sich durch eine Art „zweifacher Diglossie“ dar, mit jeweils zwei beteiligten „high und low varieties“. Es wurde deutlich, daß rußlanddeutsche Sprecher im beobachteten Zeitraum eine strikte Zuordnung der Varietäten zu „anpassungsbedürftigen“ und „anpassungsffeien“ Domänen vornehmen, wobei die Differenzierung davon abhängig ist, ob es sich um neue (standarddeutsche, regionale) oder um alte (rußlanddeutsche, russische) Kommunikationsbereiche handelt. 3. Die Vergleiche zwischen dem Sprachverhalten im Herkunftsland der Informanten und in Deutschland zeigen, daß die Rußlanddeutschen ihre früheren Sprachgebrauchsregeln in die neue Sprachsituation übertragen (z.B. das „Flüstersyndrom“). Dies ist ein Indiz dafür, daß die sprachlichen Minderwertigkeitskomplexe nicht überwunden sind. Es ist offensichtlich, daß die Rußlanddeutschen (z.B. im Gegensatz zu anderen Einwanderungsgruppen) mangelndes Selbstbewußtsein zeigen. Die sprachliche Verunsicherung, die sie im Herkunftsland internalisiert haben, bewahren sie auch in der neuen sprachlichen Situation. Es ist freilich nicht zu übersehen, daß die gegenwärtige Situation der Rußlanddeutschen in Deutschland angesichts der öffentlichen Aussiedler-Diskussion für ein solches Sprachverhalten genügend Anlässe gibt. 71 4. Die Untersuchungen sind ein Beleg für die These, daß Substandardvarietäten bei Sprechern oft niedrigeres Prestige im Vergleich zu Standardsprachen genießen. Das hat sich in der Wahrnehmung der deutschen Regionalsprachen durch die rußlanddeutschen Sprecher gezeigt. Trotz der erkannten Relevanz der Ortssprachen entscheiden sich die Sprecher bewußt für eine „neutralere“ Anpassungsvarietät, das Standarddeutsche. Hier spielt möglicherweise auch das Vorbild der relativ dialektfreien russischen Standardsprache mit, die als offizielle Sprache der „zwischen-nationalen“ Kommunikation hohes Prestige genoß und deren Autorität als der einzig anerkannten „staatlichen“ Sprache in der Sowjetunion unangefochten war. 5. Die Situation der zweifachen Diglossie ist für rußlanddeutsche Sprecher in Deutschland konfliktträchtig. Die Hypothese der Verdeutschung hat sich, wie erwartet, nur für die „anpassungsbedürftigen“ Domänen bestätigt. Anders stellt sich die Ingroup-Kommunikation dar. Es hat sich gezeigt, daß das Russische unverhältnismäßig öfter als Familiensprache angewendet wird. Dies ist dadurch zu erklären, daß der Anpassungsdruck, unter dem die Rußlanddeutschen in der Outgroup-Kommunikation stehen, Abwehrreaktionen hervorruft, die zum vermehrten Gebrauch des Russischen, also zum Zustand des „Sich- Gehen-Lassens“ in privaten Kommunikationsbereichen führt. 6. Die Situation der zweifachen Diglossie hat auch die Verminderung der Rolle des rußlanddeutschen Heimatdialekts und seine geringere Bewertung verursacht. Hier wird unter anderem die Differenzierung zwischen Standard- und Substandardvarietäten im Bewußtsein der Sprecher noch einmal sehr deutlich. Das im Herkunftsland als Sprache („Daitsch“) wahrgenommene Rußlanddeutsch wird nun mit Entschiedenheit in den Substandardbereich („nicht richtiges Deutsch“) verschoben. Man kann davon ausgehen, daß hier eine integrative Übernahme von Dialekteinstellungen im binnendeutschen Diglossieraum vorliegt, die die rußlanddeutschen Sprecher sich nach dem Muster und Vorbild der einheimischen Regionalsprachesprecher zu eigen machen. 72 Sprachsystematische Veränderung: Dialekt - Standarddeutsch 4. Im vorhergehenden Kapitel wurde die soziolinguistische Situation der rußlanddeutschen Aussiedler in Deutschland dargestellt. Es wurde gezeigt, welches Ausmaß und welche Formen die Anpassung an die neue sprachkultureile Umgebung hat und welche Einstellungen rußlanddeutsche Sprecher in der neuen Sprachgemeinschaft entwickeln. Im Zentrum des vorliegenden Kapitels steht die Beschreibung der Varietätenkontaktphänomene, die in der Sprache der Rußlanddeutschen in der Integrationsphase in Deutschland im Bereich Dialekt - Hochsprache zu beobachten sind. Es geht darum zu zeigen, welche Veränderungen ein rußlanddeutscher Dialekt erfährt, wenn er in unmittelbaren Kontakt mit der hochdeutschen Standardsprache kommt bzw. durch sie „überdacht“ wird. Es soll hier gezeigt werden, welche Anpassungserscheinungen in der Alltagssprache der Rußlanddeutschen in Deutschland stattfinden und welches Ausmaß die Dialekt-ZStandard-Variation annimmt, wenn Rußlanddeutsche in „öffentlichen“ bzw. „gehobenen“ Situationen die hochdeutsche Standardsprache sprechen. Um diese Veränderungen möglichst genau zu beschreiben, werden exemplarische Quantifizierungen bezüglich einzelner häufig vorkommender prozeßhafter Variablen vorgenommen. Im einzelnen werden in diesem Kapitel folgende Punkte erörtert: - Verlauf der Erhebung und Auswertung der Sprachdaten (4 .1) - Beschreibung der dialektalen Ausgangsbasis der Informanten (4.2) - Die sprachlichen Veränderungen im Ingroup-Bereich („Alltagssprache“, 4.3) - Die sprachlichen Veränderungsprozesse bei der Kommunikation mit Standardsprachesprechern („Rußlanddeutsches Hochdeutsch“, 4.4) - Die Varietätenkontaktsituation zwischen der rußlanddeutschen und der saarländischen Varietät (4.5). 4.1 Zum Verlauf der Erhebung und Auswertung der Sprachdaten 1) Sprachaufnahmen und Situationstypen. Eines der Ergebnisse der soziolinguistischen Untersuchung ist die Feststellung des situationstypischen Sprach- 73 gebrauchs der Rußlanddeutschen in der Bundesrepublik. Je nach Situation wechseln die Sprecher aus einer Sprache/ Varietät in die andere, z.B. aus dem rußlanddeutschen Dialekt ins Hochdeutsche oder aus dem Hochdeutschen ins Russische. Dabei wurde deutlich, daß die relevante konstituierende Komponente der Sprachsituation für die rußlanddeutschen Sprecher der Interaktionspartner ist. Für die Varietätenwahl ist der Faktor ‘Interaktionspartner’ entscheidend; der Situationstyp konstituiert sich fast ausschließlich im Zusammenhang damit, ob der Interaktionspartner ein Angehöriger der neuen Sprachgemeinschaft ist oder ob es sich um einen rußlanddeutschen Interaktionspartner, also um einen Partner aus der „alten“ (früheren) Sprachgemeinschaft handelt. In Übereinstimmung damit wurde auch die Sprachdatenerhebung situationsabhängig bzw. situationstypisch aufgebaut. Bei der Sprachdatenerhebung knüpfe ich an das methodische Verfahren des Erp-Projekts (Besch 1981, Mattheier 1982) an, und zwar in seiner weiterführenden Variante, die zum ersten Mal im rheinischen Ort Kelzenberg angewandt wurde (Jünger-Geier 1989). Bei dieser Aufhahmemethode werden Sprachdaten in Situationen erhoben, die den natürlichen Situationen möglichst nah sind. Erreicht wird eine solche Situation dadurch, daß am Gespräch keine dritten Personen (z.B. der Aufnahmeleiter) teilnehmen. Ein weiteres Prinzip dieser Aufhahmemethode besteht darin, daß ein und derselbe Sprecher in verschiedenen kommunikativen Situationen (privat und öffentlich) in Interaktion mit verschiedenen Gesprächspartnern (vertrauten und unbekannten) aufgenommen wird Mit einigen Modifikationen ist diese Aufhahmemethode auch in der vorliegenden Untersuchung angewandt worden. Ich unterscheide Sprachdaten aus der Ingroup- und Outgroup-Kommunikation. Sprachdaten aus der Ingroup-Kommunikation sind Gespräche zwischen rußlanddeutschen Interaktionspartnern, ohne Anwesenheit von Angehörigen der neuen Sprachgemeinschaft. Die intendierte deutsche Sprachvarietät ist in dieser Situation der rußlanddeutsche Dialekt; entscheidend ist dabei, wie schon erläutert, die Rolle des rußlanddeutschen Gesprächspartners. Diese Aufnahmen wurden in einer den Informanten vertrauten Umgebung durchgeführt: Privatwohnungen oder Wohnungen in Übergangswohnheimen. Die oben erläuterten zwei Prinzipien wurden von mir bei dieser Erhebung konsequent eingehalten: a) ich war bei diesen Aufnahmen nicht anwesend; nach dem Aufstellen des Geräts habe ich den Aufhahmeraum für die Dauer der Aufnahme verlassen und b) zu einer Aufnahme wurden grundsätzlich nur vertraute und 74 auch sonst miteinander oft kommunizierende Gesprächspartner zusammengefuhrt. Da die Themen nicht vorgegeben wurden, konnte die angesteuerte Ungezwungenheit der Unterhaltungen erreicht werden, und es entstanden natürliche Aufnahmen, die die rußlanddeutsche Kommunikation in der Ingroup- Situation dokumentieren. Bei der Outgroup-Kommunikation handelt es sich um Kommunikation, wie sie bei Amtsbesuchen stattfindet, in der Regel mit Interaktionspartnern, die Hochdeutsch oder eine dem Hochdeutschen/ Standarddeutschen angenäherte deutsche Varietät sprechen. Die Sprachdatenerhebung in Situationen solchen Typs ist in Form von Interviews durchgefuhrt worden. Dieselben Rußlanddeutsch- Sprecher sind von ihnen unbekannten Interviewern im Standarddeutschen in formeller Situation befragt worden. Das Ziel war dabei, die Sprachvarietät der Informanten in einer öffentlichen Situation zu dokumentieren. Durch eine gewisse Formalität der Situation (Büro als Aufhahmeraum) und einen den Informanten unbekannten. Standarddeutsch sprechenden Interviewer waren die Informanten in eine Kommunikationssituation versetzt, die sich im Alltagsleben z.B. bei einem Amtsbesuch ergibt. Diese Situation stellt einen wichtigen Teil der gegenwärtigen Lebenssituation der Befragten und somit auch einen bedeutenden Teil ihrer alltäglichen Kommunikationspraxis dar. Das von Labov beschriebene ‘Interviewer-Paradoxon’ war in dieser Aufhahmesituation nicht ein „störender“, sondern ein erwünschter Faktor: Die Situation sollte nach Möglichkeit offiziell bzw. formal und bei den Informanten mit einer gewissen Spannung verbunden sein. Auch bei diesen Aufnahmen war ich nicht im Aufnahmeraum anwesend. Themen der Interviews waren Sprachförderungsmaßnahmen (Sprachkurse) für rußlanddeutsche Aussiedler und ihre sprachliche Integration in Deutschland. Die Sprecher waren nicht darüber informiert, daß das Ziel des Interviews in erster Linie die Sprachdatenerhebung war, und nicht die erwähnten Inhaltsfragen. Der zweite Typ der Outgroup-Kommunikation sind „Nachbarschaftsgespräche“: Gespräche mit einheimischen deutschen Dialekt- und Regionalsprachesprechern. Hier handelt es sich nicht um offizielle Gespräche wie bei den Interviews, sondern um informelle Kommunikation mit Angehörigen der neuen Sprachgemeinschaft. Auch hier sollten Sprachdaten von Aufnahmen mit Interaktionspartnern dokumentiert werden, die auch sonst üblicherweise miteinander kommunizieren und nicht nur zum Zweck der Aufnahme miteinander in Kontakt gebracht wurden. Das Aufnahmedesign ist somit für diesen Situationstyp dem der Ingroup-Kommunikation sehr ähnlich. Die Aufnahmen wur- 75 den wie auch die Aufnahmen der Ingroup-Kommunikation in Privatwohnungen der mßlanddeutschen Informanten gemacht. Die Sprecher waren miteinander vertraut und unterhielten zum Zeitpunkt der Erhebung freundschaftliche Nachbarschaftsbeziehungen. Hier ist anzumerken, daß die Auswahl an saarländischen Gesprächspartnern für diesen Situationstyp nicht groß war: Es gab jeweils nur zwei, seltener drei Sprecher des Saarländischen aus der Nachbarschaft, die im Rahmen des Aufnahmedesigns als Gesprächspartner in Frage kamen. Auch hier waren während der Aufnahme nur die Gesprächspartner (eine rußlanddeutsche und eine saarländische Sprecherin) anwesend; ich befand mich nicht im Aufnahmeraum, um die Kommunikationssituation nicht zu beeinflussen. Die Untersuchung ist longitudinal angelegt (Denz 1987; Wintermantel 1988). Die erste Sprachaufnahme wurde kurz nach der Einreise, meistens im Laufe der ersten Aufenthaltswoche in Deutschland, gemacht. Das Gespräch mit Informanten wurde im rußlanddeutschen südfränkischen Dialekt geführt und wird im folgenden als „Basisaufnahme“ (BA) bezeichnet. Die Sprachdaten der Basisaufnahmen dienen der Analyse und Beschreibung der dialektalen Ausgangsbasis der untersuchten Informanten. Nach einem Jahr wurden dann mit denselben Sprechern in den oben beschriebenen Situationstypen drei weitere Aufnahmen gemacht. Zeitlich gesehen erfolgten diese Aufnahmen nach der Absolvierung des Sprachkurses. Nach zwei Jahren wurden erneut Aufnahmen in den drei Situationstypen gemacht. Zum Zeitpunkt der zweiten Aufnahmeserie hatten die Informanten ihre Kontakte zur Berufswelt in der Regel aufgenommen bzw. hatten schon eine berufliche Beschäftigung. Übersicht über die Sprachaufnahmen: Bei der Einreise - Basisaufnahme (BA) Nach einem Jahr - El (privat, rußlanddeutscher Gesprächspartner) Aufenthalt 1/ 2 (regional, saarländischer Gesprächspartner) E3 (formal, Standarddeutsch-Interviewer) Nach zwei Jahren - IE 1 (privat, rußlanddeutscher Gesprächspartner) Aufenthalt IE2 (regional, saarländischer Gesprächspartner) IE3 (formal, Standarddeutsch-Interviewer) 2) Die untersuchte Sprechergruppe. Für die exemplarische Analyse der Sprachanpassung im engeren (linguistischen) Sinne sind aus der Gesamtgrup- 76 pe der Informanten (vgl. Kap. 3) fünf typische rußlanddeutsche Sprecherinnen des südffänkischen Dialekttyps (mit einigen pfälzischen und hessischen Merkmalen) ausgewählt worden. Das Südfränkische ist die am meisten verbreitete deutsche Varietät im Herkuftsland der rußlanddeutschen Aussiedler, es wird in Kasachstan und in Sibirien gesprochen. Dialektgeographisch kann dieser Dialekt im deutschsprachigen Raum in das südfränkisch-rheinfränkische Übergangsgebiet eingeordnet werden. Die untersuchten Sprecherinnen gehören der mittleren Altersgruppe an (27 bis 35 Jahre) und stammen aus südfränkischhessisch-pfälzischen Sprachinseln in Sibirien, wo sie im südfränkischen Dialekt primär sozialisiert wurden. Die Erstsprache der Informanten ist somit eine dialektale Variante des Deutschen; bis zur Einschulung waren alle dialektaleinsprachig und benutzten in ihrem Elternhaus den rußlanddeutschen Dialekt als dominante Familiensprache. Die Eltern der Informanten sind einsprachig: Sie verfügen nur über Dialektkompetenz, die Russischkenntnisse der Eltern sind rudimentär. Die untersuchten fünf Sprecherinnen sind im Sprachstand repräsentativ für die Rußlanddeutschen, die aus den deutschen Sprachinseln in Sibirien nach Deutschland kommen. Nach meiner Einschätzung stellen sie den Normalfall der Sprachkompetenz der Deutschsprecher in Sibirien dar. Die sprachliche Ausgangsbasis weicht zum Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland nicht vom Durchschnitt ab. Alle untersuchten Informanten waren zum Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland zweisprachig. Neben der dialektalen südfränkischen Variante des Deutschen verfügten die Sprecherinnen über Kenntnisse des Russischen in seiner gesprochenen und geschriebenen Form. Die russische Sprache wurde in der russischen Schule der jeweiligen deutschen Sprachinsel ab dem siebten Lebensjahr erworben und wurde allmählich zur dominanten Sprache der Informanten. Neben dem Russischen und dem deutschen Dialekt gehörte zum Varietätenspektrum der Informanten auch das Hochdeutsche. Die Hochdeutschkenntnisse der Informanten waren in Rußland jedoch minimal: Zum Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland verfügten die Sprecherinnen über Hochdeutschkenntnisse, die im Durchschnitt den Deutschkenntnissen der Absolventen einer sowjetischen 8-Klassen-Schule entsprechen. Sie haben Deutsch als Fremdsprache nach dem üblichen Programm einer russischen Schule von der 5. Schulklasse an gelernt. Eine Schule mit dem sog. Deutschals-Muttersprache-Programm (MDU, vgl. Kap. 2) existierte in der Herkunftsregion der Informanten nicht. Die Informanten haben in Deutschland einen Sprachkurs absolviert (Dauer: sechs Monate) und waren zum Zeitpunkt der letzten Sprachaufnahme berufstätig oder nahmen an Umschulungsmaßnahmen 77 teil. Die von den untersuchten Informanten in Deutschland ausgeübten Berufe sind die gleichen wie im Herkunftsland. 3) Zur Datenauswertung und -analyse Die Datenauswertung umfaßte folgende Abschnitte: a) Verschriftlichung und Transkription der Basisaufhahmen mit besonderer Berücksichtigung der konstanten Dialektmerkmale und Feststellung der Differenzen zum Hochdeutschen; b) Transkription der Aufnahmen in formeller Situation mit besonderer Berücksichtigung der Differenzen zur Basisaufnahme; c) Bewertung der Differenzen entlang der Dialekt/ Standard- Dimension und Feststellung von Variationsphänomenen; d) Quantifizierung der Variationsphänomene: Wie hoch ist der standardsprachliche Anteil bei der Realisierung der Variablen? Wie oft wird ein variables Merkmal als dialektales oder als standardsprachliches realisiert? Die Analyse der Sprachanpassung/ Sprachvariation erfolgte im vorliegenden Kapitel mit Hilfe der üblichen statistischen Verfahren wie Varianzanalyse und Individual- und Mittelwertvergleich. Als linguistisches Verfahren zur Variationsbeschreibung wird das Variablenregeln-Modell von Labov eingesetzt. (Eine ausführliche Beschreibung für dieses Verfahren und bibliographische Angaben dazu finden sich bei Klein 1976.) Bei der graphischen Darstellung (Säulendiagramme) sind die Werte so transformiert, daß sie zwischen 0 und 1 variieren können; dabei repräsentiert 0 die maximale Dialektrealisierung, 1 die maximale Standardannäherung (vgl. 4.4). Punktuell werden auch Prozentangaben gemacht (vgl. 4.3). Ich orientiere mich bei diesen Darstellungen an den Dialekt/ Standard-Untersuchungen im deutschsprachigen Raum mit ähnlichen Fragestellungen (vgl. z.B. Mattheier 1987, Auer 1990 u.a ). 4.2 Zur dialektalen Ausgangsbasis Der mitgebrachte rußlanddeutsche Dialekt ist in Kapitel 6 durch einen Auszug aus dem Gesamtkorpus dokumentiert (vgl. Beispieltext 1: Ausgangsvarietät). Dialektgeographisch läßt sich die von den untersuchten Sprecherinnen verwendete Ausgangsvarietät, wie schon erwähnt, in das südfränkisch-rheinfränkische Übergangsgebiet einordnen. Besonderes Merkmal des Südffänkischen gegenüber den rheinfränkischen Mundarten (Hessisch, Pfälzisch) ist die Verschiebung von p zur Afffikate: Apfel, Kopf Pfund. Die Zugehörigkeit zum Südfränkischen läßt sich auch durch die Heimatbestimmung der Vorfahren der Sprecher und die dialektale Charakterisierung ihrer Herkunftsregion bestätigen 78 (vgl. Komol’ceva 1979). Im Vergleich zu den südfränkischen Varietäten in Deutschland fällt der südfränkische Dialekt der untersuchten Rußlanddeutsch- Sprecher in erster Linie sicherlich durch die eingestreute russische Lexik auf (vgl. Beispieltext 1, Kap. 6). Faßt man jedoch nur den dialektalen Teil ins Auge, ohne Berücksichtigung des russischen Einflusses, so stellt man fest, daß die rußlanddeutsche Basisvarietät vielfach Merkmale aufweist, die für das südffänkisch-rheinffänkische Übergangsgebiet typisch sind. Dies betrifft sowohl die Lautung und Lexik wie auch die Morphologie und Syntax. Auffällig sind die Unterschiede und Differenzen im Vergleich zur hochdeutschen Standardsprache. Im Bereich des Wortschatzes läßt sich die Verwendung von dialektalen Lexemen feststellen, die gegenwärtig im Hochdeutschen als veraltet/ dialektal gelten, sich durch eine andere Semantik auszeichnen oder aber überhaupt nicht verwendet werden. Einige Beispiele. lu: ro lauern ‘warten’ Jarfscharf ‘schnell’ Jtub - Stube ‘Zimmer’ Java schaffen 1 arbeiten ’ Jtrik - Strick ‘Seil’ gelri : v9 gelbe Rüben ‘Karotten’ Jmand - Schmand ‘ Sahne’ vaizo weisen ‘zeigen’ raitva yo - Reitwagen ‘Fahrrad’ Im syntaktischen Bereich ist der Einfluß der russischen Syntax auf den Dialekt bedeutend (vgl. Kap. 5). In gewissem Sinne kann hier von einer eigenartigen Konvergenz des deutsch-dialektalen und russischen Syntax-Systems die Rede sein. Dennoch lassen sich deutliche grammatikalische Strukturen feststellen, die als großräumige regionale Eigenheiten des Deutschen oder Eigenheiten des gesprochenen Deutsch gelten. Im folgenden seien nur einige dieser Eigenheiten genannt: - Verwendung des Perfekts statt Präteritum, ich habe gesungen statt ich sang. - Verwendung des Doppelperfekts {habe gekocht gehabt) statt Plusquamperfekt. - Verbgefuge mit tun {tut schreiben statt schreibt). 79 - Perfekt mit sein statt haben bei sitzen, stehen, liegen. - Konjunktiv-Ersatz durch Modalverbgefiige oder tun + Infinitiv: ich täte schreiben statt ich würde schreiben. - Auflockerung des Satzrahmens durch Ausklammerungen: ich bin gegangen in die Schule. - Spitzenstellungen des finiten Verbs im Hauptsatz: kann man doch nicht immer, wie man will. - Zweitstellung des finiten Verbs in vielen Nebensätzen, insbesondere mit weil, z.B.: weil ich wußt net] aber auch in daß-, wenn-, wo-, wie-, ob- und was-Nebensätzen. - Verwendung des possessiven Dativs statt des Genitivs, z.B.: meiner Mutter ihrer Schwester ihr Haus. Am auffälligsten jedoch sind die dialektalen Differenzen der rußlanddeutschen Basisvarietät im lautlichen und morphophonologischen (flexivischen) Bereich ausgeprägt. Es handelt sich hier um systematische Differenzen zwischen Dialekt und Standarddeutsch, die eher einen großräumigen (mitteldeutschen und zum Teil süddeutschen) Charakter aufweisen und die auch für binnendeutsche Dialekte typisch sind Folgende Erscheinungen werden nachstehend erörtert: Monophthongierung, Senkung, Verdumpfung, Entrundung, Spirantisierung, Palatalisierung von s, »^-Assimilation, e- und »-Apokope. 1) Monophthongierung. Im Vergleich zur hochdeutschen Standardsprache werden im südfränkischen Basisdialekt in einigen Lexemen die Diphthonge im Wortstamm als Monophthonge realisiert. Diese Monophthongierung betrifft zwei Diphtonge, und zwar mhd. km/ und / ei/ . Dieses Merkmal ist für das Südfränkische und einige andere deutsche Dialekte charakteristisch (vgl. Wiesinger 1983b). Schirmunski schreibt dazu. „Der Streifen mit -aist nach allen Richtungen hin für mhd. ou bedeutend breiter als für mhd. ei. Außer den pfälzischen und hessischen Mundarten umfaßt er das Südfränkische, einen großen Teil des Ostffänkischen und einen bedeutenden der bairischen Mundarten“ (Schirmunski 1962, 235). Es handelt sich hierbei um das alte mhd. ou, das in der Standardsprache zu au geworden ist wie in Frau, kaufen, Staub, laufen, auch usw. Die entsprechenden Formen werden im rußlanddeutschen Basisdialekt mit dem Monophthong a\ realisiert: la: va ‘laufen’, ka: vd ‘kaufen’, a: x ‘auch’, gla.bft ‘glaubst’,/ ra: ‘Frau’, ba: m ‘Baum’. Die monophthongierte 80 Realisierung dieses Diphthongs ist konstant (nicht variabel), sowohl in lexikalischer Hinsicht als auch sprecherbezogen: Alle Sprecher des Dialekts verwenden in den betreffenden Lexemen den Monophthong / a: / ; die diphthongierte Form wird dialektal nicht verwendet. Die Realisierung des standardsprachlichen Diphthongs ei, ai [ai] (aus altem mhd. / ei/ ) dagegen weist sowohl hinsichtlich der einzelnen lexikalischen Einheiten als auch hinsichtlich einzelner Sprecher Variationen auf. Der Ursprung dieser Variationen ist aus heutiger Sicht schwer festzustellen. Es handelt sich vermutlich um Sprachmischungen, die bereits in den gemischten Sprachinseln stattgefunden haben. Andererseits kann die unterschiedliche Aussprache auch auf unterschiedliche Herkunft der rußlanddeutschen Vorfahren zurtickgehen, z.B. auf das e-Gebiet (Gegend bei Zweibrücken) oder auf das aaz-Gebiet (Gegend bei Bruchsal) (Post 1992, 76). Für die vorliegende Untersuchung ist wichtig festzuhalten, daß einige Lexeme wie z.B. ‘Fleisch’, ‘breit’, ‘Seife’, ‘heißt’, ‘Weizen’ im Basisdialekt teilweise eine monophthongierte, teilweise eine diphthongierte Realisierung aufweisen. (Aus diesem Grund wird der Annäherungsprozeß des Dialekts an den Standard für dieses Monophthongierungsphänomen im folgenden nicht quantifiziert; dies wird nur für die Variable a/ au vorgenommen; vgl. 4.3 und 4.4.) 2) Senkung Der rußlanddeutsche Basisdialekt zeigt deutlich in einigen Bereichen sprachgeschichtlich ältere Formen als die hochdeutsche Standardsprache. Zu dieser älteren dialektalen Schicht gehören Lexeme, die sich nicht wie im Standarddeutschen entwickelt haben, sondern bei der mhd. Form geblieben sind: sume (mhd. sumer) ‘Sommer’, sun (mhd. sunne) ‘Sonne’, sunft (mhd sus[t], sunst) ‘sonst’, drugig, drugh ‘trocken, trocknen’ (mhd trucken, vertruckenen, vgl. ReichmannAVegera 1993, 47). In den aufgezählten Beispielen ist die im Hochdeutschen durchgeführte u > o-Senkung im Dialekt ausgeblieben. In Position vor Nasal zeigt der Dialekt in weiteren Lexemen oft einen Vokal u (statt o), also std. o > dial, u: fun ‘schon’, fun ‘von’, gfvums ‘geschwommen’, dunet ‘donnert’, dmw ‘Donner’. Vergleichsweise gut verbreitet ist im Basisdialekt auch die Senkung von z, ü > ä vor r [i, y] > [e, te]: kddg ‘Kirche’, hse r n ‘Hirn’, vm r d ‘wird’, vse r Jt ‘wirst’, tsvse r n ‘Zwirn’, ndgans ‘nirgends’,/ aftaf ‘vierzig’, fda/ zz ‘stürzen’. In diesen Lexemen wird z zu se vor r gesenkt. Die Senkung von u > o vor r ist im Basisdialekt eine seltene Erscheinung, die auf Reliktformen beschränkt ist: vdjt ‘Wurst’, dofi ‘Durst’. 81 3) Verdumpfung: Das alte mhd. Ia: l wird im rußlanddeutschen Basisdialekt, ähnlich wie in einigen anderen deutschen Dialekten, verdumpft ausgesprochen. (Verdumpfung wird auch als Hebung und Rundung von a: > o: o: bezeichnet, vgl. Schirmunski 1962, 212; ReichmannAVegera 1993, 54). Dabei wird ein starker Verdumpfungsgrad zu kurzem oder langem geschlossenen Monophthong o erreicht. Im größten Teil der hochdeutschen Mundarten wird im Rußlanddeutschen zu einem offenem p verdumpft. Geschlossenes ö wird nach Schirmunski im Rheinfränkischen erzeugt (vgl. Schirmunski 1962, 212). Das dadurch entstehende o: wird im rußlanddeutschen Dialekt zu o“ diphthongiert: flo u vd ‘schlafen’, gfhfvd ‘geschlafen’, frdfd ‘fragen’, gfro u gt ‘gefragt’, ftro u s ‘Straße’, brd'da ‘braten’, fo u f ‘Schaf, no u x ‘nach’, dro u t ‘Draht’, fpro u x ‘Sprache’, fno“k ‘Schnake’ Verdumpfung zu kurzem o ist in Wörtern •wie gabroxt ‘gebrachfund Jnorqte ‘schnarchen’ zu beobachten. Bei der Variante des hochdeutschen Lexems ja mit verdumpftem a hat sich eine selbständige lexikalisch-semantische Bedeutung entwickelt: jou wird im Dialekt nur in Bedeutung von doch gebraucht. Die hochdeutsche Entsprechung ‘doch’ ist den Sprechern in dieser Bedeutung unbekannt. 4) Entrundung. Den standardsprachlichen gerundeten Vokalen ö, ü, eu/ äu [0, y, oy] entsprechen im Basisdialekt entrundete (delabialisierte) Vokale e, i, ai [e, i, ai]. Die Entrundung ist im Basisdialekt obligatorisch: Sie wird durchgängig durchgefiihrt, gerundete Vokale kennt der rußlanddeutsche Basisdialekt nicht. In der Kommunikation mit deutschen Standardsprachesprechern müssen die rußlanddeutschen Sprecher falls sie „Hochdeutsch“ sprechen wollen die neuen, für sie ungewöhnlichen Laute ö, ü, eu/ äu erzeugen. Es wäre nun denkbar, daß die Annäherung an den Standard eben dadurch gehemmt werden könnte, im Vergleich z.B zur Diphthongierung a: > au, bei der die Sprecher ja nicht einen völlig neuen Laut erzeugen müssen, sondern einen, der auch im Dialekt in verschiedenen ähnlichen Lexemen vorhanden ist, wie z.B. in Kraut, laut, Maulfaul, brauchen. 5) Spirantisierung: Ein Merkmal des Konsonantensystems des rußlanddeutschen Basisdialekts sind seine zahlreichen Spirantisierungen von Plosiven. Spirantisiert werden die Plosive b und g, im Falle des d ist im rußlanddeutschen Basisdialekt die Spirantisierung ausgeschlossen. Teilweise fallen die Spirantisierungsregeln mit denen der hochdeutschen Standardsprache zusammen: Nach / am Wort- oder Silbenfmale und vor Konsonanten wird im Dialekt wie im Standard spirantisiert: 82 Jta: vi9 e'klig e'vig dregig levendig lebendig staubig eklig ewig ru: ig venig gneidigt dreckig genötigt ruhig wenig In diesem Punkt fällt also der rußlanddeutsche Basisdialekt beim Vergleich mit der deutschen Standardsprache nicht auf. Dafür werden Aussiedler in Gegenden auffallen, wo in diesem Kontext im Standard nicht spirantisiert wird (König 1989). Teilweise ist im Rußlanddeutschen im Wortfinale wie auch im Standarddeutschen sowohl spirantisierte als auch nichtspirantisierte Realisierung zu beobachten: ta: x / ta: g ‘Tag’, klu.x/ klu.g ‘klug’, i$ sa: x ' sa: g ‘(ich) sage’, ve: g / ve: g ‘Weg’, tsu: x / tsu.g ‘Zug’, aux / aug ‘Auge’. Auch postvokalisch vor Konsonanten wird nicht kategorisch spirantisiert: Die Realisierung ist lexemgebunden und sprecherabhängig: sa.xt / sa.gt ‘sagt’, naigle.gt naigle.gt ‘hineingelegt’, gfrouxt / gfrougt ‘gefragt’. Die Spirantisierung in diesem Kontext ist aber auch nicht auffällig, da sie auch im Standarddeutschen sowohl diatopisch als auch diastratisch und diaphasisch zu beobachten ist. Initial ist Spirantisierung im rußlanddeutschen Basisdialekt, wie im Standarddeutschen, nicht üblich, und die Plosive werden durchgehend bewahrt. Auffällig ist dagegen im Vergleich zur hochdeutschen Standardsprache eine stabile Kontrastrealisierung der Plosiven b und g als Spiranten in zwei linguistischen Kontexten: intervokalisch und bei Liquidakontakt: Dabei werden verschiedene Spirantisierungsstufen, bis hin zum Schwund des Plosivs, erreicht, wie folgende Beispiele zeigen: 83 -v/ b- -K gleben heben eben raitvayo Reitwagen sa: yo sagen krigo kriegen gelrivo (gelbe) Rüben gflo u yo geflogen ge'l o u vant livsft fae r v9 kelvB Abend lieber färben Kälber gelb 6) Palatalisierung von s. Ein vom Standard abweichendes Merkmal einiger deutscher Dialekte ist der Übergang zu / nicht nur vom anlautenden s vor Konsonanten, sondern auch im In- und Auslaut. Dies ist auch ein sehr typisches Merkmal des Rußlanddeutschen. In at)ft ‘Angst’, ge'ft ‘gehst’, luft ‘Lust’, poft ‘Post’, bruft ‘Brust’, fefl ‘Fest’, samftag ‘Samstag’, di: nftag ‘Dienstag’, duneftag ‘Donnerstag’ und ähnlichen Lexemen, die die Verbindung von .s mit den Plosiven 1 enthalten, wird die ^-Palatalisierung regelmäßig durchgefiihrt (nicht aber bei fvests), ebenso wie der Übergang von rs > rf: wofli ‘Wurst’, doft ‘Durst’, anflft ‘anders’. Auch in den Superlativformen wird das v ausnahmslos palatalisiert: dd klenftd ‘der Kleinste’, d,t fenfta ‘der Schönste’, ,v me.nfta ‘das meiste’, 5 befta ‘das beste’, .v haupfta ‘das haupteste’ (‘das wichtigste’). Lexeme mit der Verbindung von s mit -pim Wortinnem ist im Korpus wegen starken Rückgangs der Verwendungshäufigkeit der entsprechenden Lexeme praktisch nicht belegt. Die .v-Palatalisierung ist im rußlanddeutschen Basisdialekt auch in den Flexionsformen von Verben zu beobachten, die ein s im Wortstamm vor der Flexionsendung aulweisen. Das trifft aber nur für die 2. Pers Sing, zu: du left ‘du liest’, aber er lest, du laft ‘du läßt’, aber er last, du kift ‘du küßt’, aber er kist u.a. (Post 1992, 102). Eine Art der von Auer beschriebenen „falschen Verdopplung“ (Auer 1990, 58) ist im rußlanddeutschen Basisdialekt regelmäßig bei der Realisierung von Flexionsformen der 2. Pers. Sing, im konjunktionalen Satzgefüge zu beobachten. Zwischen die Konjunktion und die reduzierte Form der 2. Pers. Sing, des Personalpronomens (d < du) wird jeweils ein redundantes palatalisiertes .v eingeschoben: va: ift nox, vi: -f-d-haft ime wnowKU (pljuski) gabaga? ‘Weißt du noch, wie du hast immer Brötchen ge- 84 backen? ’ Diese redundante Realisierung einer Quasi-/ ^-Verbindung ist nur in der Verbalform 2. Pers. Sing, zu beobachten. 7) Assimilation. Die Assimilation nd/ nt > n wird im rußlanddeutschen Basisdialekt vor allem im Wortinnem durchgefuhrt. Dabei wird die Konsonantengruppe nd/ nt assimiliert, d.h. daß der Dental völlig schwindet: kine ‘Kinder’, find ‘finden’. Der Anwendungsbereich dieser Regel ist lexikalisch begrenzt, durch die hohe Frequenz der betroffenen Lexeme trägt dieses Merkmal aber zum tieferen Dialektalitätseindruck der Sprechweise bei. Die Assimilation ist im Basisdialekt auf die intervokalische Stellung begrenzt. Im Auslaut bleibt nd (nt) weitgehend erhalten, wie in hand ‘Hand’, hund ‘Hund’, ftund ‘Stunde’, vand ‘Wand’, framd ‘Freund’, kind ‘Kind’. 8) e- und n-Apokope. Ein sehr typisches Merkmal des untersuchten rußlanddeutschen Basisdialekts ist die Apokope des auslautenden -e oder des Endkonsonanten -n (vgl. Komol’ceva 1988, 87). Diese Apokopierung ist für fast alle ober- und westmitteldeutschen Dialekte typisch (Auer 1990, 74; Post 1992, 115). In den untersuchten rußlanddeutschen Basistexten ist die endungslose Form die Regel bei Substantiven auf -e (kn; ‘Küche’) und bei Pluralformen auf -e: vent ‘Wände’. Auch bei Konjugationsformen des Verbs findet die e-Apokope statt, z. B. 1. Pers. Sing. Präs.: / f fraib ‘ich schreibe’, oder in einigen im Präteritum erhaltenen Formen der 1., 3. Pers. Sing.: / y volt ‘wollte’. Apokope findet sich auch in der Endung -en, bei der stets das -n schwindet, z. B.: la.vd ‘laufen’, ha.zd ‘Hasen’. Sprachhistorisch gesehen dürfte man für das Rußlanddeutsche hier nicht von einer Apokope sprechen, denn dieser rußlanddeutsche Dialekt hat als gesprochene Varietät des Deutschen die Endung -e in den genannten Kontexten nicht gekannt: Die e-Apokope hat sich in den Ausgangsgebieten des Dialekts in Deutschland (Westmittel- und Oberdeutschland) schon sehr früh durchgesetzt: Schon im Frühneuhochdeutschen „war die Apokope der Endung -e, besonders im Oberdeutschen, auch im Westmitteldeutschen, bis zum frühen 16. Jh. so weit vorangeschritten, daß in diesen Schreiblandschaften endungslose Formen die Regel waren“ (Polenz 1991, 163). Durch die Auswanderung im 18. Jh. und die Minderung der Rolle des Schriftdeutschen als Überdachungssprache hat das „lutherische -e“ sich in rußlanddeutschen Dialekten nicht durchsetzen können, d.h. daß „die Wiedereinsetzung sprechsprachlich längst geschwundener Flexive“ (Polenz 1994, 254) im Rußlanddeutschen nicht stattgefimden hat. 85 Die oben beschriebenen, besonders auffälligen und systematischen Unterschiede des rußlanddeutschen Dialekts zum Standarddeutschen im lautlichen Bereich sind hier übersichtshalber noch einmal zusammengefaßt: a) Vokale: - Entrundung: Den standardsprachlichen gerundeten Vokalen ö, ü, eu/ äu [0, y, oy] entsprechen im Dialekt systematisch völlig entrundete (delabialisierte) Vokale e, i, ai. - Monophthongierung: In einigen Lexemen im Wortstamm werden Diphthonge systematisch als Monophthonge realisiert (cm als a: ). - Verdumpfung: Das alte mhd. / a: / wird im Dialekt (im Unterschied zum Hochdeutschen) verdumpft ausgesprochen (als o). - Senkung/ Hebung: In Position vor Nasal erscheint der Vokal u statt o, also keine Senkung zu o wie im Hochdeutschen). b) Konsonanten: - Spirantisierung: Im Dialekt sind die Plosive b und g intervokalisch und bei Liquidakontakt spirantisierte Laute v und y bzw. 5. - Palatalisierung: Im Dialekt ist die .v-Palatalisierung in den Konsonantenverbindungen st und rs verbreitet. - Assimilation: Die Lautverbindung -nd wird im Dialekt im Wortinneren häufig zu -n assimiliert. c) Wegfall des Endsilbenvokals (e-Apokope) und des Konsonanten -n (n- Apokope): in der 1. Pers. Sing. Präs, (ig kox ‘ich koche’). alle wortbildenden -e (kig ‘Küche’). - Pluralformen auf -e (vent ‘Wände’). bei Konjugationsformen 1., 3., Pers. Sing. Prät. (ig volt ‘ich wollte’). - Pluralformen auf -en (bu: vs ‘Buben’). - Infmitivsuffix -en (sa.yd ‘sagen’). 86 Verbale Endung -en (1., 3. Pers. PL): koma ‘kommen’. Partizipialendung -en. gfvumd ‘geschwommen’. 4.3 Zum Situationstyp ‘Ingroup-Kommunikation’ In diesem Abschnitt wird die Frage beantwortet, ob die oben beschriebenen Dialektmerkmale in der Ingroup-Kommunikation der Rußlanddeutschen in Deutschland abgebaut oder beibehalten werden. Im Zentrum der Untersuchung stehen die lautlichen Veränderungen, weil sie am auffälligsten sind; diese werden im vorliegenden Abschnitt (und Abschnitt 4.4) auch quantifiziert. Zur Demonstration der sprachlichen Varietät der Rußlanddeutsch-Sprecher in der Ingroup-Kommunikation ist der Beispieltext 2 (Kap. 6) angeführt. Wenn die Dialektmerkmale nicht abgebaut werden, dann bleiben die oben beschriebenen Differenzen zur deutschen Standardsprache bestehen. In diesem Fall findet keine Annäherung an das Hochdeutsche statt und die rußlanddeutsche südfränkische Varietät bleibt in der Ingroup-Kommunikation in ihrer früheren Form erhalten. Wenn die Dialektmerkmale abgebaut werden, dann findet auch in der Ingroup-Kommunikation ein sprachlicher Anpassungsprozeß statt, und man kann mit dem allmählichen Verschwinden der rußlanddeutschen Dialekte rechnen. In der folgenden Tabelle sind die Gesamtergebnisse der Auswertung für die Ingroup-Kommunikation zusammengefaßt (Mittelwerte für fünf untersuchte Sprecherinnen). In den beiden linken Spalten sind die untersuchten Variablen und Beispiele dafür enthalten; die mittlere Spalte gibt die Anzahl der untersuchten Fälle für die jeweilige Variable an. Die beiden Spalten rechts enthalten die Angaben über den quantitativen Anteil der standardsprachlichen Realisierungen für die Phase I und II: 87 Untersuchte Variablen Beispiel Gesamtanzahl Phase I in % Phase II in % Entrundung e/ o Entrundung i/ y Entrundung: ai/ oy Verdumpliing a/ o Spirantisierung y.f/ g Spirantisierung v/ b Monophthongierung a/ au Palatalisierung s/ f Assimilation nei n Senkung/ Hebung u/ o fe: n> schön gri: n > grün lait > Leute ftro. s > Straße va.yd > Wagen le'vd > Leben fra: > Frau voft > Wurst fins > finden sunw > Sommer 136 194 111 317 114 376 160 189 131 212 0,0 0,0 0,0 4.0 3.0 1.0 12,0 0,0 0,0 0,08 0,0 1,0 6,0 11,0 0,0 4,0 29 4.0 1.0 0,11 Tab. 1: Der prozentuale Anteil der standardsprachlichen Neuerungen in der Ingroup- Kommunikation (Phase I und II) 1) Entrundung. Im Hinblick auf die entrundeten c-Laute hat sich wie der Tabelle 1 zu entnehmen ist das Verhalten der Sprecher in der Ingroup- Kommunikation weder nach dem ersten noch nach dem zweiten Aufenthaltsjahr verändert. Es wurde in allen entsprechenden Kontexten ein e verwendet. Trotz des zweijährigen Kontakts mit der deutschen Standardsprache konnte hier keine Anpassung im Ingroup-Bereich festgestellt werden. Die Sprecher verhalten sich zum Abbau der entrundeten e-Vokale (im Vergleich zu anderen Merkmalen, vgl. Tabelle) zögernd: gerundete o-Laute kommen im dialektalen Ingroup-Gebrauch nicht vor. Eine Tendenz, die entrundeten / -Laute abzubauen, ist in der Ingroup-Kommunikation ebenfalls nicht zu beobachten: Weder in der ersten noch in der zweiten Aufnahmephase sind hier Veränderungen festzustellen. Die Sprecher bleiben bei ihren gewohnten Dialektrealisierungen und zeigen nach einem Jahr Aufenthalt keine / / >-Variation In der Phase II sind nur einige Fälle der Wortübernahme mit gerundeten Vokalen aus dem Standard belegt (ein Prozent). Das sind einzelne im Dialekt fehlende - Wörter wie Gemüse oder Grünsalat. Im Falle von Grünsalat ist der gerundete Vokal -yparallel zu zahlreichen ungerundeten Realisierungen in gri: n (als Einzelwort) verwendet. 88 Ähnlich wie zu entrundeten c-und / -Lauten verhalten sich die Sprecher auch im Hinblick auf den entrundeten Diphthong ai. Es kommen nur vereinzelt Wörter vor, die einen nicht entrundeten Diphthong ai enthalten (sechs Prozent). Das sind standarddeutsche Entlehnungen (wie z.B. Flugzeug und freundlich). Es besteht z.B. offensichtlich keine assoziative Verbindung zwischen dialektalem tsaig (als einzelnem Wort) und dem verwendeten standardsprachlichem -zeug in Flugzeug, {-zeug ist hier eindeutig eine Wortübernahme (einschließlich des gerundeten -oy-) aus dem Standard. Im Basisdialekt ist das Lexem nicht gebräuchlich. Seine Funktion wurde durch die russische Entlehnung caMOMm (samolet) ‘Flugzeug’ erfüllt.) Als Wortübernahme ist auch das Lexem froyndlig zu interpretieren. Die Variante des Lexems fraindfaft ist im Dialekt in der Bedeutung Verwandte/ Verwandschaft gebräuchlich. Es finden sich auch in sehr geringer Zahl, vorwiegend im Zitat, gerundete Realisierungen in deutsch (dialektal daitf), euch (dialektal aig), heut (dialektal haif). (Im Falle von heut ist die Rückrundung mit der c-Apokope verbunden, die nicht rückgängig gemacht worden ist.) 2) Monophthongierung. Im Bereich der Variablen alau zeigen die Sprecher sowohl nach einem als auch nach zwei Jahren Aufenthalt so gut wie keine Veränderungen in bezug auf die Realisierung dieser lautlichen Entsprechungen. Die dialektale Realisierung a: wird nicht durch die Standardrealisierung au ersetzt. Eine Ausnahme bildet das Lexem Frau, das mehrmals in Standardrealisierung in Verbindung mit einem Eigennamen belegt ist. Es handelt sich hier offensichtlich aber nicht um eine Transformierung des dialektalen Monophthongs a: in den standardsprachlichen Diphthong au - und somit um eine Rückbildung der dialektalen Monophthongierung -, sondern um eine Standardneuerung, die auf dem Wege der einfachen lexikalischen Adaptation des oft verwendeten Lexems ‘Frau’ als Anrede zustande gekommen ist. Auch longitudinal zeigen sich hier kaum Veränderungen: Nach zwei Jahren Aufenthalt sind alle entsprechenden Lexeme mit au im Standard in der rußlanddeutschen Ingroup-Kommunikation mit dialektaler monophthongierter Realisierung belegt. Das Steigen der standardsprachlichem Neuerungen von zwölf Prozent in der Phase I bis auf 29 Prozent in der Phase II basiert ebenfalls auf häufigerem Gebrauch des standardsprachlichen Lexems Frau als Anrede. 3) Verdumpfung. Bei der Variablen ‘Verdumpfung’ sind die Standardneuerungen (vier Prozent in der Phase I und elf Prozent in der Phase II) in der Ingroup-Kommunikation im wesentlichen auf den Abbau des verdumpften a in den Wörtern mo: l ‘Mal’ und / oe ‘Jahr’ zurückzuführen, die die häufigsten zur 89 Rücknahme von Verdumpfungen in den Texten sind. In anderen Kontexten wird die Verdumpfung mit der darauffolgenden Diphthongierung regelmäßig mit seltenen Ausnahmen von Übernahmen aus dem Standarddeutschen durchgefuhrt. In hochdeutschen Entlehnungen wird die dialektale Variante mit Verdumpfung nicht realisiert. (Die einzige belegte Ausnahme von dieser Regel ist das hochdeutsche Lexem Schlafzimmer, das im Text einmal als flouftsma belegt ist.) Das im Basisdialekt lexikalisierte jou ‘doch’ ist mit einem nicht verdumpften Vokal kein einziges Mal belegt: Die Lexikalisierung setzt für den Lautwandel ou > a offensichtlich Grenzen, die in der Ingroup-Kommunikation nicht überwunden werden. Eine Lexikalisierungstendenz läßt sich auch im dialektalen dou vermuten. Dieses in der Ingroup-Kommunikation äußerst häufige Lexem teilweise in Bedeutung von hier, teilweise entsemantisiert im Kompositum douletft ‘letztens’ ist nur mit der verdumpft diphthongierten Vokalvariante belegt. 4) Senkung. Die in den Ingroup-Texten meist verwendeten Wörter mit gesenktem Vokal sind fun und fun. Die Mittelwerte der Standardneuerungen betragen acht Prozent nach einem Jahr und elf Prozent nach zwei Jahren Aufenthalt und gehen größtenteils auf die beiden Lexeme schon und von zurück Es ist zu vermuten, daß den Informanten der Lautunterschied in f fun]/ [fon] und [fun]/ [fon] nicht auffällt. Anders als im Fall ‘Frau’ gebrauchen sie das standardsprachliche schon eher unbewußt, weil sie die Differenzierung offensichtlich kaum wahrnehmen. Der vergleichsweise hohe standardsprachliche Anteil in beiden Aufnahmephasen (abgesehen von der Diphthongierung, deren hoher Anteil durch Wortübernahme zu erklären ist) könnte damit verbunden sein, daß die beiden Lexeme [fun] und [fon] für die Sprecher offensichtlich keine eindeutige Zuordnung zum Dialekt bzw. zum Standarddeutschen aufweisen. Mit geringer Verwendungshäufigkeit sind die Lexeme gddrugdlt ‘getrocknet’, gnuma ‘genommen’, sundax ‘Sonntag’, trukh ‘trocknen’, drugig ‘trocken’, sume ‘Sommer’, dunet ‘donnert’ belegt. In der Ingroup- Kommunikation der zeitlich folgenden Aufnahmen sind keine von dem Basisdialekt in Richtung Hochdeutsch abweichenden Realisierungen dieser Lexeme belegt worden. 5) Variablen im konsonantischen Bereich. Im Verhalten der Informanten zu dialektalen spirantisierten Lauten konnten keine Anpassungstendenzen in der Ingroup-Kommunikation festgestellt werden. Die Plosive -b- und -gwerden in den untersuchten Kontexten intervokalisch und bei Liquidakontakt durchgehend spirantisiert, wie auch sonst im Dialekt. Nur in Wortübernahmen aus 90 der Standardsprache wie Tagesinternat oder Arbeitgeber ist die nichtspirantisierte Standardvariante realisiert. Die nichtspirantisierte Realisierung der Plosive, die in laga ‘Lager’ und probiats (2. Pers. PI ‘probiert es! ’) vorliegt, kann nur bedingt als Annäherung an die Standardsprache gedeutet werden. Zu der ursprünglichen spirantisierten Dialektform provr.ra ‘probieren’ kam allmählich das etymologisch verwandte ebenfalls spirantisierte prouva ‘proben’ hinzu möglicherweise als russische Entlehnung, häufig mit für das Russische aspektmäßigen Unterschieden wie prouva/ paprouva (russ. npoßoeamt (probovat') (imperfektiv) / nonpoöoeamb (poprobovat ’) (perfektiv). Für die Imperativform im Plural werden zwei Synonymformen pronbt! und probiert! verwendet. Das nichtspirantisierte -bist am ehesten durch den russischen Einfluß zu erklären. Ebenfalls durch Einfluß des Russischen ist das -gin Lager zu erklären (russ. naeepb [fager’]) Die dialektale .v-Palatalisierung wird in der Ingroup-Kommunikation sehr konsequent durchgefuhrt und auch nicht ansatzweise rückgängig gemacht. Der quantitative Anteil des nichtpalatalisierten .s beträgt in der zweiten Aufhahmephase 4 Prozent. Auch die Assimilierung n < nd ist in der Ingroup-Kommunikation nicht abgebaut worden. Der quantitative Anteil der Standardneuerungen liegt hier nur bei einem Prozent. 6) Andere Dialektbesonderheiten: Die in 4.2 skizzierten Besonderheiten des rußlanddeutschen Dialekts (Basisvarietät) im lexikalischen und morphologisch-syntaktischen Bereich haben sich nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland nicht verändert. Das hat die punktuelle Analyse von ausgewählten Passagen der jeweiligen Ingroup-Texte ergeben. Die Texte der Ingroup- Situation nach zwei Jahren und der Basisaufnahme sind weitgehend ähnlich: Die genannten Merkmale (dialektale Wörter, Besonderheiten der Morphosyntax, Wortstellung, Tempusgebrauch) finden sich unverändert in beiden Texttypen. Die einzige nennenswerte Innovation in der Ingroup-Kommunikation der Rußlanddeutsch-Sprecher nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland besteht in der zusätzlichen Verwendung von einzelnen standarddeutschen Wörtern wie zur Bezeichnung von Realien der neuen Umgebung, z.B. Stau, Mark, Lachs, Paprika (vgl. Beispieltext 2, Kap. 6). Bei der Verwendung werden diese neuen Lexeme oft interpretiert, z.B. durch Umschreibung (‘Lachs’ ist ein ‘roter Fisch’ die gewöhnliche Bezeichnung in Rußland) oder durch Übersetzung ins Russische. Z.B. wird ‘Paprika’ oft als ‘Knackmais’, russ. xpycmmpaM Kyrcypysa (chrustjascaja kukuruzd) bezeichnet. Aber auch hinsichtlich dieses neuen Wortschatzes sind die Rußlanddeutsch-Sprecher in der Ingroup-Situation nicht besonders innovativ: Sie wechseln auch bei den Bezeichnungen für die Realien der neuen Umgebungsgesellschaft gern ins Russi- 91 sehe, insbesondere wenn es um sog. Internationalismen geht, z.B. asmoöaH (avtoban) ‘Autobahn’. (Vgl. dazu Beispieltext 2, Kap. 6.) 7) Zusammenfassung. Im vokalischen Bereich sind die entrundeten e- und i- Laute für die Sprecher offensichtlich die Laute, die am wenigsten Veränderungen ausgesetzt sind. Weder in der ersten noch in der zweiten Aufnahmephase wurden Entrundungen rückgängig gemacht. Weniger sicher sind die Sprecher gegenüber den «/ -Entrundungen Nach zwei Jahren Aufenthalt sind immerhin sechs Prozent der entsprechenden Lexeme mit gerundetem Vokal realisiert. Noch etwas höher liegen die Werte bei Verdumpfung und Senkung: Entsprechend vier Prozent und acht Prozent in der ersten und elf Prozent in der zweiten Aufhahmephase. Die höchsten absoluten Werte des Standardanteils zeigen die Sprecher bei der Realisierung der Variable Monophthongierung a/ au. zwölf Prozent nach einem Jahr und 29 Prozent nach zwei Jahren Aufenthalt sind standardsprachliche Realisierungen. Die lexikalische Analyse hat gezeigt, daß die standardsprachlichen Neuerungen in der Ingroup-Kommunikation ausschließlich auf lexikalische Substitution (lexical diffusion), zurückzufuhren sind und daß es sich hier nicht um kontaktbedingten Lautwandel handelt. Bei Wortübernahme aus dem Standard wird auch die jeweils entsprechende standardsprachliche Variante der entsprechenden Laute eingesetzt. Das ist besonders gut am Beispiel der a > «/ / -Diphthongierung zu sehen. Ähnliche Ergebnisse sind auch für die konsonantischen Variablen festgestellt worden. Auch hier sind standardsprachliche Realisierungen nur im Zusammenhang mit Wortübernahme belegt. Abschließend kann festgehalten werden, daß die Sprecher in der Ingroup- Kommunikation keine deutlichen Tendenzen aufweisen, ihre Sprechweise zu verändern. Die gewohnte dialektale Realisierung wird in der Kommunikation miteinander beibehalten. Das hat sich auch bestätigen lassen durch punktuelle Untersuchungen von Sprechern, die schon länger in Deutschland leben. Stichprobenweise Analysen von einigen Rußlanddeutsch-Sprechern mit längerem Aufenthalt in Deutschland (bis zu fünf Jahren) hat das oben festgestellte Ergebnis bestätigt. Die untersuchten Variablen wurden auch von diesen Sprechern in der Ingroup-Kommunikation dialektal realisiert. Nur in deutlichen Wortübernahmen, aus der Standardsprache oder bei Zitaten wurde das Dialektale durch Standardsprachliches ersetzt. Auf dem Hintergrund dieses Ergebnisses kann angenommen werden, daß die rußlanddeutschen Dialekte in Deutschland ihre Funktion in der Kommunikation der Rußlanddeutschen untereinander zumindest für die erwachsenen rußlanddeutschen Dialektspre- 92 eher erhalten werden und daß das Schwinden dieser Dialekte erst mit generationsbedingtem Sprachwechsel zu erwarten ist. 4.4 Zum Situationstyp ‘Kommunikation mit Standardsprachesprechern’ Im vorliegenden Abschnitt wird die sprachliche Anpassung im Situationstyp ‘Outgroup-Kommunikation’ analysiert, und zwar bei der Kommunikation der Rußlanddeutsch-Sprecher mit Sprechern des Standarddeutschen (vgl. 4.1) in formeller Situation. Auch hier werden die untersuchten Variablen im Hinblick auf ihre dialektale und standardsprachliche Realisierung dargestellt. Der in Kap. 6 präsentierte Beispieltext 3 dokumentiert die Sprechweise der Informanten in formeller Situation nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland. Schon die erste Übersicht des Textes zeigt, daß in dieser Situation im Unterschied zur Ingroup-Kommunikation eine weithin ans Hochdeutsche angenäherte Varietät verwendet wird und daß die oben beschriebenen Dialektmerkmale der Ingroup-Kommunikation hier zum großen Teil abgebaut werden. Andererseits ist unübersehbar, daß diese Varietät ein ‘dialektbasiertes Hochdeutsch’ ist: Viele der in 4.2 beschriebenen Unterschiede zur deutschen Standardsprache sind im vorliegenden Text überhaupt nicht oder nicht vollständig abgebaut worden Welche Strategien die Sprecher verfolgen, wenn sie ‘Hochdeutsch’ sprechen, wie sie sich zu den einzelnen Dialektmerkmalen verhalten, welche lexikalischen Einheiten betroffen sind, diese Fragen werden im folgenden behandelt. 4.4.1 Entrundung Die Ergebnisse der Auswertung der Variation von entrundeten und gerundeten Vokalen ist in den Abb. 1 bis 3 in Säulendiagrammen dargestellt. Es handelt sich um die entrundeten Vokale e, ; [e, i] und den Diphthong ai [ai], die im Dialekt immer nur in entrundeter Form anstatt der standardsprachlichen gerundeten ö, ii [0, y] und eu/ äu [oy] verwendet werden. In der Kommunikation mit Standardsprachesprechern beginnt ein Prozeß des teilweisen Ersatzes der gewohnten dialektalen Laute durch standardsprachliche. Das heißt, daß bei denselben Lexemen zum Teil noch alte, dialektale und zum Teil schon neue, standardsprachliche Realisierungen stattfinden. Im folgenden werden die entrundeten Laute einzeln betrachtet. Die Variable e/ o ist in der ersten Phase zu 58% und in der zweiten Phase zu 55% standardsprachlich realisiert wor- 93 den. Die Dialekt- oder Standardrealisierung der Variablen e/ o ist in folgenden Lexemen belegt: Dialektlexem Standardvariante tsvelf Jen ble'des se'n ei keno uf d hsi gegve'nt Jtek haero zwölf schön blödes Söhne Öl können aufdie Höhe gewöhnt Stöcke hören Dialektlexem Standardvariante eftes me? t tepf rek levol fe'fol daervn me'glig gre'sro lefE öfters möchte Töpfe Röcke Löffel Vögel Dörfer möglich größere Löcher Wie sich die einzelnen Sprecher zu e-Entrundungen verhalten, ist der Abb. 1 zu entnehmen. Die Abbildung zeigt die Individualwerte der einzelnen Sprecher fiir die standardsprachliche Realisierung der Variablen e/ o. Daraus wird deutlich, wie hoch der Anteil der 0-Realisierungen ist, das heißt wie oft die Sprecher die Dialektvariante aufgegeben und ihr eine standardsprachliche Variante vorgezogen haben. Die Werte liegen vergleichsweise hoch; mit Ausnahme von einem Sprecher (mit dem Wert 0,38) beträgt der Anteil der Standardvarianten bei den übrigen Sprechern die Hälfte oder mehr als die Hälfte aller Realisierungen der Variablen c/ ö-Entrundung. D. h., daß die Sprecher die Möglichkeit der Anwendung der Regel e > o \n mehr als der Hälfte der vorgenommenen Fälle auch benutzt und somit eine Rundung der entrundeten Vokale vorgenommen haben. Ein Vergleich mit der Realisierung der entsprechenden Lexeme in der Ingroup-Kommunikation verdeutlicht den Kontrast im situativen Sprachgebrauch im Hinblick auf die Variable e-Entrundung. In der Ingroup- Kommunikation liegt kein einziger Fall von Verwendung eines gerundeten Lautes vor, weder in der ersten noch in der zweiten Phase. Aus dem Säulendiagramm (Abb. 1) ist auch das Ergebnis der Longitudinalanalyse zu ersehen, und zwar wie die einzelnen Sprecher sich zur c-0-Variablen im Laufe der zwei Aufnahmephasen verhalten. Drei Sprecher zeigen sinkende, zwei Sprecher steigende Werte. Die Differenzen zwischen den Werten von Phase I und Phase II betragen durchschnittlich zwölf Prozent 94 Abb. 1: Anteil der standardsprachlichen Realisierungen der Variablen e/ 0 Abb.2: Anteil der standardsprachlichen Realisierungen der Variablen i/ y Abb.3: Anteil der standardsprachlichen Realisierungen der Variablen ai/ 'jy 95 Die Variable / ^-Entrundung zeigt in den Ergebnissen der durchgefuhrten quantitativen Analyse ein weniger homogenes Bild als die oben beschriebene e/ 0-Variable. Hier sind die Differenzierungen sowohl im Hinblick auf die einzelnen Sprecher als auch auf den longitudinalen Aspekt relativ hoch. Nur zwei Sprecher haben in der ersten Phase in deutlich mehr als der Hälfte aller möglichen Fälle die standardsprachliche ^-Variante realisiert (0,76 und 0,71); die Werte der anderen Sprecher sind deutlich niedriger (der niedrigste Wert liegt bei 0,18). Die Sprecher mit den Höchstwerten für die Standardrealisierung zeigen longitudinal stabile, etwas gestiegene Werte (0,76 > 0,81; 0,71 > 0,73). Die drei Sprecher, die in der ersten Phase mehr als die Hälfte aller möglichen Fälle noch dialektal realisiert haben (d.h. die Regel < > y nicht angewendet und weiterhin ein entrundetes ; gebraucht haben), zeigen auch in der Phase II a) niedrigere und b) differenzierte Werte (vgl. Abb 2). Diese Instabilität beim Gebrauch von dialektalen und hochdeutschen Varianten zeigt sich deutlich in den Differenzen zwischen den Werten der Phase I und II. Diese Differenzen betragen bei den untersuchten Sprechern zwischen 2 und 41 Prozent, und zwar im einzelnen 2, 3, 5, 19 und 41. Auch hier zeigt der Vergleich mit der Ingroup-Kommunikation deutliche Kontraste: Die gerundeten Vokale sind in der Ingroup-Kommunikation nur in der Phase II mit einem Minimalwert von 0,01 belegt (vgl. 4.3). Im folgenden werden Lexeme mit dem / > y-Wandel angeführt, die in den untersuchten Texten belegt sind (Ableitungen und Zusammensetzungen nicht berücksichtigt): 96 Dialektlexem Standardvariante bli.a ki: pl gobrilt ki: gfpint Jizl vinzo .[id3 bri: abfitlo rumrixa miga ivBgevs fi: s jlizl fakilt bi: fB JtigB frin blühen Küchlein gebrüllt Kühe gespürt Schüssel wünschen schütten Brühe abschütteln rumrühren Mücken übergeben Füße Schlüssel verkühlt Bücher Stücker früher Dialektlexem Standardvariante finaf ivnha: p hivs ivBral mi: d mista ji# 3 Jtik driva rivB tsurik ivBnaxto ki? tiifB ivB nivB gelri: v3 fri: grims finf überhaupt hüben überall müde müßten jüngste Stück drüben rüber zurück übernachten Küche Tücher über hinüber gelbe Rüben früh grüne Betrachten wir nun den letzten Typ der belegten Entrundung/ Rundung- Variation: den ai > ay-Wandel. Schon in der Ingroup-Kommunikation (vgl. 4.3) waren die Werte für diesen Wandel etwas höher im Vergleich zur e- und / -Entrundung und erreichten 0,06 (gegenüber 0,0 und 0,01 bei e- und i- Entrundung) (vgl. 4.3). Das entsprechende Bild des Anstiegs der Werte für die standardsprachliche Realisierung zeigt auch die Analyse dieser Variablen in der Kommunikation mit Standardsprachesprechern. Hier handelt es sich aber um einen sehr starken Anstieg der Werte (vgl. Abb. 3). In der ersten Phase erreichen drei Sprecher den Höchstwert (1,0); d.h. sie haben in allen möglichen Fällen auf die Dialektvariante ai verzichtet und die neue, standardsprachlichen Variante oy verwendet. Die Gesamtzahl aller möglichen Fälle ist für diese Variable auch bedeutend höher als für die oben beschriebenen. Die Häufigkeit bei allen Sprechern im Vergleich: - Variable e/ o: Phase I - 42; Phase II - 47; insgesamt 89; - Variable i/ y: Phase I -64; Phase 11-71; insgesamt 135; 97 - Variable ai/ oy. Phase 1-104; Phase II - 113; insgesamt 217. Die in der ersten Phase erreichte Stabilität bleibt auch in der zweiten Phase insgesamt erhalten. Eine Senkung der Werte für diese Variable zeigt nur ein Sprecher (1,0 in der ersten und 0,81 in der zweiten Phase). Bei einem Sprecher steigt der Gebrauch von standardsprachlichen Varianten von 0,93 in Phase I auf 0,97 in Phase II. Zwei Sprecher zeigen wie auch schon in der ersten Phase den Höchstwert (1,0), d.h. sie haben keine Dialektvarianten verwendet. Die Regelanwendung ai > oy ist in den untersuchten Texten in folgenden Lexemen belegt: Dialektlexem Standardvariante ai? aira fain mais betsaic lait fraindli? kraits haiva euch eure Feuer Mäuse Bettzeug Leute freundlich Kreuz Häufen Dialektlexem Standardvariante naino nah daitj hait graigedi taie haizB fraindjaft daitjlant neun neue deutsch heute geräucherte teuer Häuser Freundschaft Deutschland 4.4.2 Verdumpfung Im Hinblick auf dieses Dialektphänomen wurde für die Ingroup-Kommunikation ein Abbau von vier Prozent in der ersten und von elf Prozent in der zweiten Phase festgestellt (vgl. 4.3). In der Kommunikation mit Standardsprachesprechern hat sich diese Tendenz deutlich verstärkt. In der Aufnahmephase I haben die meisten Sprecher in mehr als der Hälfte aller möglichen Fälle der Verdumpfung eine Standardrealisierung vorgezogen sie haben also einen unverdumpften Vokal a anstatt des verdumpften o (a < d) verwendet. Nur bei einem Sprecher liegen die «-Werte etwas unter der Hälfte aller Realisierungen (0,47). Die Longitudinalwerte lassen keine gemeinsamen Tendenzen hinsichtlich der Anpassung bei dieser Variablen ableiten. Drei Sprecher zeigen deutlich sinkende, zwei deutlich steigende Werte für Phase II (vgl. Abb. 4). Die Bedeutung der Variablen a/ o ist durch ihre Häufigkeit bedingt. In den untersuchten Texten zeigt diese Variable die Höchstzahl der absoluten Häufigkeit 98 (Monophthongierung) Abb.6: Anteil der standardsprachlichen Realisierungen der Variablen u/ o (Senkung) 99 aller untersuchten vokalischen Variablen. Die Zahl der möglichen Fälle für die Anwendung der Regel o > a (Rücknahme der Verdumpfung) beträgt 361. Das ist weit mehr als die Häufigkeit der anderen Variablen. Die lexikalische Basis für die Anwendung der Regel o > a ist aber vergleichsweise schmal; einige Lexeme werden jedoch sehr häufig verwendet: jo u ‘doch’, do" ‘da’, mo: l ‘mal’. Letzteres weist einige Wort- und Formbildungen auf, die ebenfalls sehr verbreitet sind und die oben besprochene Häufigkeit der Variablen begründen (z.B. nayamod ‘noch einmal’, e: mo: l ‘ein-mal’, sehsmod ‘jenesmal’ u.a ): Dialektlexem Standardvariante Dialektlexem Standardvariante jo noyomo: ! 3mo: l sebsmol jon do“ (so) gobroxt gflo u v3 jlo u f ja/ doch noch einmal einmal jenesmal Jahr da, hier gebracht geschlafen Schlaf o u vont broMo gobroMonos Jb u fftal (nörgle no u x fro u ya gfro u gt jtro u s Abend braten gebratenes Schafstall schnarchen nach fragen gefragt Straße 4.4.3 Monophthongierung Eine noch weitaus schmalere lexikalische Basis steht für die Anwendung der Regel a: > au (Monophthongierung/ Diphthongierung) zur Verfügung. Es sind in den untersuchten Texten nur einige wenige Lexeme belegt, die einen regelmäßigen Lautwandel a: > au aufzeigen: Das sind: a: x ‘auch’, gla.bft ‘glaubst’ (mit allen dazugehörigen Formen), ka.vs ‘kaufen’, Ia: vs Taufen’, ba: m ‘Baum’,/ ra.' ‘Frau’. Für das Gesamtbild der Anpassung ist diese Variable jedoch insofern wichtig, als ihre absolute Vorkommenshäfigkeit sehr hoch ist. Die Gesamtzahl der belegten Fälle beträgt 297 (dreimal so viel wie e- Entrundungen und zweimal soviel wie / -Entrundungen). Die quantitative Analyse zeigt hier wie auch bei der vorhergehenden Variablen kein eindeutiges Bild. Die insgesamt hohen Werte für die Phase I (mit Ausnahme eines Sprechers mit dem Wert 0,16) haben differenzierte Entsprechungen in der Phase II: ein nur schwacher Anstieg bei einem Sprecher (0,90 > 0,91) oder ein gleichbleibender Wert bei einem weiteren Sprecher (0,65); starker Anstieg bei einem Sprecher (0,16 > 0,57); starkes Absinken der Werte bei einem Sprecher 100 (0,85 > 0,26) oder ein weniger starkes Absinken bei einem weiteren Sprecher (0,85 > 0,63). Aus diesen Ergebnissen der Longitudinalanalyse läßt sich keine einheitliche Tendenz für die Weiterentwicklung der Anpassung im Hinblick auf die Variable a > au ableiten (vgl. Abb. 5). 4.4.4 Senkung/ Hebung Die schmälste lexikalische Basis hat in den untersuchten Texten die hier als letzte zu besprechende vokalische Variable gezeigt die Senkung (w 'o). Auch hier sind nur einige Wörter zu verzeichnen, die einen regelmäßigen u o- Wandel aufweisen: vu: ‘wo’, fun ‘schon’, fun ‘von’, gnuma ‘genommen’, sundax ‘Sonntag’, trugig ‘trocken’ (und dazu: trukld ‘trocknen’), sume ‘Sommer’, dunvt ‘(es) donnert’. Durch die hohe absolute Häufigkeit (298) hat die Variable jedoch einen vergleichsweise breiten Anwendungsbereich und spielt für die Ausprägung der gesprochenen Varietät aus diesem Grunde eine nicht zu unterschätzende Rolle. Und zwar ist dies die Variable, für die der quantitative Anteil der verwendeten Dialektvarianten insgesamt noch höher ist als der Anteil der realisierten Standardvarianten (vgl. Abb. 6). Mit Ausnahme eines Sprechers haben alle Informanten in der ersten und in der zweiten Phase in deutlich weniger als der Hälfte aller möglichen Fälle die Dialektvariante vorgezogen (darunter zeigt nur ein Sprecher in der Phase I den Wert 0,52, also etwas mehr als die Hälfte). Bei dem zuletzt genannten Sprecher sinken die Werte auf 0,24 in der zweiten Phase. Andererseits steigen bei zwei Sprechern mit niedrigen Werten in der ersten Phase diese Werte in der zweiten Phase deutlich an: von 0,12 auf 0,28 und von 0,17 auf 0,32. Insgesamt läßt sich auch hier aufgrund der quantitativen Analyse der Vorkommenshäufigkeit der dialektalen und standardsprachlichen Varianten kein deutliches Bild der Anpassungstendenzen ableiten, dazu sind die Streuungen der Individualwerte für beide Phasen zu hoch und die Differenzen zwischen einzelnen Sprechern zu groß. Nur im Vergleich mit anderen Variablen wird die Rolle des Senkungs-ZHebungs-Merkmals für die noch vorhandene Dialektalität deutlich (vgl. Kap. 7). 4.4.5 .v-Palatalisierung Bei den konsonantischen Variablen geht es um die Spirantisierung y g und v/ b in intervokalischer Position und um die s-Palatalisierung und die «rZ-Assimi- 101 lation. In der Ingroup-Kommunikation sind bei der Realisierung dieser Variablen kaum Veränderungen festgestellt worden: keine Entspirantisierung bei y g (0,0) und kaum eine bei v/ b (0,04 in Phase II); geringe Werte für Nicht- Assimilierung von nd (nur 0,01 aller möglichen Fälle wurde nicht assimiliert) und geringe Werte für eine standardsprachliche Nicht-Palatalisierung von 5 (also du gehst anstatt des früheren dialektalen du ge.ft) (vgl. 4.3). Betrachten wir nun die Veränderungen, die mit den konsonantischen Variablen in der Kommunikation mit Standardsprachesprechern stattfinden. Die Ergebnisse der Auswertung für die konsonantischen Variablen sind in Abb. 7, 8 und 9 dargestellt. Im Vergleich zu den Variablen im vokalischen Bereich ist die Regelanwendung des Konsonantenwandels insgesamt auf eine breitere lexikalische Basis gestützt. Das betrifft in erster Linie die/ ^-Variable In der unten angeführten Liste ist die lexikalische Klasse für den / > s-Wandel in den untersuchten Texten dargestellt. Nicht in dieser Liste aufgeführt sind die regulären Formen der 2. Pers. Sing. Präs., die quantitativ gesehen der Hauptanwendungskontext der Regel sind: du sa.gft ‘du sagst’, du farjft ‘du fängst’, du fa.ft ‘du fährst’ usw. Wie in 4.2 beschrieben, wird im untersuchten Dialekt praktisch jedes .v vor Plosiv (als Flexiv in der 2. Pers. Sing. Präs.) palatalisiert. Dies geschieht auch bei Doppelmarkierung der Form, wie in venft komft, sa.gft obft ge.ft ‘wenn du kommst, sagst (du), ob du gehst’ (die redundanten Doppelmarkierungen mit assimiliertem s sind unterstrichen). Zu den weiteren in den Texten belegten Lexemen mit / > .v-Wandel gehören: Dialektlexem Standardvariante Dialektlexem Standardvariante aeft geft hajt bejta annjto fenjtn vi: Jt vo r Jt vanjt vailjt objt vi: Jt jiftfta mu/ t erst Gäste hast (du) beste anders Fenster wüst Wurst wenn (du) weil (du) ob (du) wie (du) jüngste mußt (du) arift bi/ t va'/ t mani/ to klen/ ta lu/ t ko/ t te‘/ t ge/ t« kri/ kindl fonn/ tn o u b/ t fe/ t let/ to Angst bist (du) warst (du) Mennotüten kleinste Lust kostet tätest (du) gestern Christkindl vorderste Obst fest letzte 102 Die quantitative Analyse der Vorkommenshäufigkeit des palatalisierten .v im rußlanddeutschen Standarddeutsch hat gezeigt, daß besonders in der ersten Phase dieses dialektale Merkmal stark abgebaut und die nichtpalatalisierte Standardform vorgezogen wurde. Drei Informanten haben dabei den Höchstwert 1,0 erreicht, d.h. daß in allen möglichen Fällen, in denen eine .s-Palatalisierung hätte stattfinden können, ein nichtpalatalisiertes .y realisiert wurde. Die Werte des vierten Informanten liegen etwas niedriger (0,83), und nur ein Informant hat einen extrem niedrigen Wert für die Standardvariante: dieser Informant hat nur in 25% aller möglichen Fälle die palatalisierte Dialektvariante durch eine nichtpalatalisierte hochdeutsche ersetzt. Aus der unten angeführten Tabelle der Realisierung der Variablen f/ s wird ersichtlich, daß die Vorkommenshäufigkeit der standardsprachlichen nichtpalatalisierten Variante .v in der zweiten Phase nur bei einem Sprecher stabil auf der Ebene des Höchstwertes (1,0) bleibt. Die anderen Sprecher gebrauchen wieder vermehrt die Dialektvariante und zeigen somit deutlich weniger standardsprachliche Realisierungen, d.h. sie palatalisieren das .v wieder häufiger als in Phase I: Sprecher Phase I Phase II 1 2 3 4 5 0,25 1,00 1,00 1,00 0,83 keine Belege 1,00 0,43 0,96 0,57 Die Gesamtzahl der absoluten Vorkommenshäufigkeit der Variablen f/ s in den untersuchten Texten beträgt 95 und ist im Vergleich zu den anderen konsonantischen Variablen niedrig. (So ist die Variable y/ g-Spirantisierung 122mal und die vA-Spirantisierung 445mal belegt; die Zahl der belegten nd- Assimilierung beträgt 130.) Aufgrund der niedrigen Vorkommenshäufigkeit der / / y-Variablen könnte angenommen werden, daß sie für den Gesamteindruck des rußlanddeutschen Hochdeutschen relativ unbedeutend ist. In Wirklichkeit ist jedoch genau das Gegenteil der Fall: Die Vorkommenswahrscheinlichkeit dieser Variablen ist wie oben schon ausgeführt wurde insbesondere in der Form der 2. Pers. Sing, vergleichsweise sehr hoch, wenn zwei Gesprächspartner in der Interaktion verbale Formen dieses Typs gebrauchen. In den hier analysierten Aufnahmen (Interviews in öffentlich-formeller Situation mit einem den Informanten unbekannten Interviewer) handelt es sich jedoch 103 um eine Textsorte, die die Verwendung dieser Formen einschränkt: Die Informanten gebrauchen in dieser Gesprächssituation grundsätzlich andere Verbalformen als die oben genannte 2. Pers. Sing. (Sie verwendeten die Höflichkeitsform der Anrede.) Dadurch ist auch die vergleichsweise niedrige Gesamtzahl der / / 'v-Variablen in den untersuchten Hochdeutsch-Texten zu erklären. 4.4.6 Spirantisierung Ein konstantes und häufig vorkommendes Merkmal des untersuchten rußlanddeutschen Dialekts sind die spirantisierten Plosive b und g (in Kontexten, in denen sie in der Standardsprache nicht verkommen) (vgl. 4.2). Die diesbezügliche Analyse der Ingroup-Kommunikation hat die Stabilität der Spirantisierungsgewohnheiten bekräftigt. In der ersten Phase der Aufnahmen in der Ingroup-Kommunikation sind keine entspirantisierten Varianten belegt worden; auch in der zweiten Phase kommen in den entsprechenden Kontexten nur selten nichtspirantisierte Plosive vor (hier sind insgesamt in nur vier Prozent aller möglichen Fälle nichtspirantisierte Laute realisiert worden) (vgl. 4.3). In der Kommunikation mit Standardsprachesprechern ist die Situation etwas anders. Bei der Analyse wird deutlich, daß die Spirantisierungen der Plosiven zwar abgebaut werden, dank der vergleichsweise breiten lexikalischen Basis und der vergleichsweise hohen Vorkommenshäufigkeit jedoch insgesamt der Anpassungsgrad nicht besonders hoch und dadurch der Effekt der ‘Verhochdeutschung’ nicht besonders stark ist. Außerdem wird deutlich, daß die beiden Spirantisierungsvariablen y g und v/ b auch untereinander quantitative Unterschiede aufweisen, sowohl in der Vorkommenshäufigkeit als auch darin, wie Informanten sich zu den beiden Variablen vom longitudinalen Gesichtspunkt aus verhalten. Wegen der Übersichtlichkeit sollen auch hier die lexikalischen Klassen für die beiden Spirantisierungs-Variablen angeführt werden, die alle belegten Lexeme enthalten, und zwar zunächst für a) die weitaus häufiger vorkommende Variable v/ b (Gesamtzahl 445) und danach b) die weniger häufige Variable y/ g (122 Belege): 104 Abb.7: Anteil der sprachlichen Realisierung der Variablen v/ h (Spirantisierung) Abb.8: Anteil der standardsprachlichen Realisierungen der Variablen y/ g (Spirantisierung) Abb.9: Anteil der standardsprachlichen Realisierungen der Variablen n/ nd (Assimilation) 105 a) Lexikalische Klasse fur die v/ A-Spirantisierung: Dialektlexem Standardvariante Dialektlexem avn gjri: v3 rivB hivo neVn gevo e'vot drovo gjtorvo ivn hava blaivs bu: v3 le'vo levendi? he‘v3 Jvo u v3 arvait aber geschrieben rüber hüben neben geben eben oben gestorben über haben bleiben Buben leben lebendig heben Schwaben Arbeit o vom gobli: vo drivo nivB gelrivo tsvivol li: v3jt fi: vo Jraivo ovo selvB halvB sivo fae r vo lo u vo sauvE gra: vo knovlox b) Lexikalische Klasse für die y/ g-Spirantisierung: Dialektlexem Standardvariante Dialektlexem doge'go ve'^o fro^o aigoni re'fot re’^o g3tso u yo sa: yo gflo u yo auyo dagegen wegen fragen eigene regnet Regen gezogen sagen geflogen Augen Jvi: 93eltEn Jla: yo H93 mor93 kri93 hinle‘93 gae r 9Bt gotra: yo fli: 90 bi9lo Standardvariante Abend geblieben drüben hinüber gelbe Rüben Zwiebel liebst schieben schreiben oben selber halber sieben färben loben sauber graben Knoblauch Standardvariante Schwiegereltern schlagen liegen morgen kriegen hinlegen geärgert getragen fliegen bügeln 106 Die Unterschiede bei der Realisierung der zwei Spirantisierungsvariablen und die Individualwerte der Sprecher für jede Variable sind den Abb. 7 und 8 zu entnehmen. Bei der Variablen v/ b (Abb. 7) sinken die Werte für die b- Variante, die Standardrealisierungen gehen also zurück und es werden mehr Dialektvarianten realisiert als in der ersten Phase. Interessant ist auch, daß die Individualwerte für die ^-Variante bei allen Sprechern sinken. Etwas anders fallen die Individualwerte bei der y/ g-Variablen aus (Abb. 8). Hier gibt es für die zweite Phase nicht nur sinkende, sondern auch gleichbleibende oder steigende Werte. 4.4.7 «J-Assimilation Die hier zuletzt zu behandelnde konsonantische Regel ist die nd > «-Assimilation im Dialekt und die ‘Rückdissimilierung’ im hochdeutschen Standard (Abb. 9). Auch zu diesem Merkmal haben die rußlanddeutschen Dialektsprecher ein dezidiertes Sprachverhalten insbesondere in der ersten Phase gezeigt: Mit Ausnahme eines Sprechers liegen alle Individualwerte für die Standardvariante (also runter statt rutw, Kinder statt kme usw.) weit über fünfzig Prozent. In der zweiten Phase sinken die Individualwerte für die Standardvariante wiederum mit Ausnahme von einem Sprecher. Das bedeutet, daß die Sprecher in der zweiten Phase wieder vermehrt die Dialektvariante kine, rune oder gftana verwenden. Die Lexemklasse für die mögliche Anwendung der Regel n > nd ist beschränkt; die Vorkommenshäufigkeit ist jedoch in den untersuchten Texten höher als die Häufigkeit der J/ s- oder der y/ g-Variablen. Die in den Texten belegten Lexeme werden im folgenden aufgelistet: Dialektlexem Standardvariante anro hino uno gftano runn gfüno kinn alminann andere hinten unten gestanden runter gefunden Kinder alle miteinander Dialektlexem Standardvariante annthalb druno hunnt nunn / tun gftano fino auzonann anderthalb drunten hundert hinunter Stunde gestanden finden auseinander 107 4.4.8 Die e- und «-Apokope Das auslautende [a] wird im untersuchten rußlanddeutschen Dialekt in vielen morphologischen Kontexten apokopiert (vgl. Beispieltexte 1 und 2, Kap. 6). Ausnahmen für die e-Apokope bilden morphologische Kontexte der n-Apokope: Im Falle einer vorausgegangenen w-Apokope bleibt das [a] erhalten, z.B. gaija ‘gegangen’. Eine Einschränkung der Regel der e-Apokope im Dialekt existiert nicht: Diese Regeln können jedes Lexem im entsprechenden morphologischen Kontext betreffen. Wie sich die untersuchten Sprecherinnen zu dem Merkmal ‘e-Apokope’ in öffentlich-formellen Kommunikationssituationen verhalten, ist der Abb. 10 zu entnehmen. Da alle Sprecher für diese Variable identische Werte aufweisen, sind die Ergebnisse der Auszählung in der folgenden Abbildung in Mittelwerte für fünf Sprecher zusammengefaßt. Quantifiziert wurde die Variation von a/ e in folgenden Kontexten: - 1. Pers. Sing. Präs.: ig kox > ich koche, - Feminina auf -e: kig > Küche, - Substantive im Plural: vent > Wände, e-Synkope im Partizipialpräfix: gfprurja > gesprungen. □ -e □ -0 Phase I l.Ps.Sg.Prs. Wortbildendes -e Plural/ Subst. Synkope/ P. II Phase II 1. Ps. Sg. Prs. Wortbildendes -e Plural/ Subst. Synkope/ P. II 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Abb. 10: Standardsprachliche (-e) und dialektale (-0) Realisierung des finalen fo] (Mittelwerte) Die Sprecher zeigen hohe Werte für die standardsprachliche Realisierung, d.h. daß das [o] in öffentlich-formellen Situationen nicht mehr apokopiert wird wie im Dialekt, sondern in allen analysierten Kontexten in hohem Maße realisiert 108 wird. (Eine Ausnahme bildet die Verwendung des a-Lautes in der 1. Pers. Sing. Präs., z.B. ich koche.) Die e-Apokope wird auch nach zwei Jahren Aufenthalt mit gleicher Beständigkeit unterlassen: Vom longitudinalen Aspekt aus gesehen haben sich die Tendenzen nicht verändert. Die Rußlanddeutsch- Sprecher betrachten das Weglassen von -e in den untersuchten Kontexten offensichtlich als ein rein dialektales Phänomen und versuchen es zu vermeiden, wenn sie Hochdeutsch sprechen. Auch in der zweiten Phase wird das Weglassen von -e nur in der 1. Pers. Sing. Präs, als ‘zulässig’ angesehen (vgl. Abb. 10, Phase II). Die Ergebnisse der Analyse der n-Apokope sind in Abb. 11 dargestellt. Hier habe ich die Realisierung bzw. Nicht-Realisierung des finalen -n in folgenden morphologischen Kontexten analysiert: - Verben in der 3. Pers. PL: miv fraiva ‘wir schreiben’, - Partizip Perfekt (Suffix -n bei starken Verben): gfri. va ‘geschrieben’, - Infinitiv (Suffix -«): fraiva ‘schreiben’, - Substantive im Plural: bu.va ‘Buben’. D -n □ -0 Phase 1 Abb. 11: Standardsprachliche (-/ ? ) und dialektale (-0) Realisierung des finalen -n (Mittelwerte) Die standardsprachlichen Werte der «-Realisierung bewegen sich zwischen 50 und 80 Prozent und fallen somit im Vergleich zur e-Apokope etwas niedriger aus (mit Ausnahme der e-Apokope in der 1. Pers. Sing. Präs ). Das Weglassen 109 des finalen -n ist anscheinend für die Sprecher doch weniger auffällig als das Weglassen des finalen -e. Insgesamt ist jedoch auch der standardsprachliche Realisierungsgrad des finalen -n sehr hoch man denke daran, daß im Dialekt das finale -n praktisch fehlt. Auch bei dieser Variablen fällt der kaum merkbare Unterschied der Mittelwerte für die erste und zweite Phase auf. Die Situation bezüglich dieses Phänomens scheint wie im übrigen auch für die c-Apokope sich schon nach dem ersten Aufenthaltsjahr stabilisiert zu haben. Zu der 0/ «-Variablen ist noch anzumerken, daß die Rußlanddeutsch-Sprecher offensichtlich im Zuge ihrer Anpassung häufig dazu neigen, ein finales -n auch dann zu verwenden, wenn es nicht erforderlich ist (Hyperkorrekturen; vgl. Beispieltext 3, Kap 6). 4.4.9 Dialekt/ Standard-Variation: Tendenzen der Anpassung 1) Vergleich der Anpassung in den beiden Untersuchungsphasen: Die Ergebnisse der quantitativen Analyse der dialektalen und standardsprachlichen Realisierungen der untersuchten Variablen (Individualwerte) sind in den entsprechenden Abschnitten in Form von Säulendiagrammen dargestellt (vgl. Abb. 1 bis 9). In diesen Diagrammen sind die Ergebnisse für beide Untersuchungsphasen getrennt dargestellt. Daraus ist leicht zu entnehmen, ob der quantitative Anteil der dialektalen oder standardsprachlichen Varianten gestiegen oder gesunken ist. In der unten angeführten Tabelle werden die Individualwerte der Informanten in bezug auf die einzelnen untersuchten Variablen zusammenhängend dargestellt. Steigende, sinkende oder gleichbleibende Werte der Untersuchungsphase drücken Tendenzen der Anpassung an: Es handelt sich entsprechend um: a) fortschreitende Tendenz der Verhochdeutschung in der zweiten Phase, b) „Rückanpassung“ (bzw. Abnahme oder Rückgang der Verhochdeutschungstendenz) in der zweiten Phase und c) keine Unterschiede in der ersten und zweiten Phase („Anpassungsstillstand“). Die Tendenzen werden durch entsprechende Zeichen angegeben: Das Zeichen (+) bedeutet, daß der Wert der Phase II im Vergleich zur Phase I höher ist; das Zeichen (-) bedeutet, daß der Wert niedriger ist und das Zeichen (0) steht für gleichbleibende Tendenz. 110 a) vokalische Variablen: Entrundung e/ o Entrundung i/ y Entrundung ai/ oy Verdumpfung o/ a Monophthongierung a/ au Senkung/ Hebung u/ o Spr. 1 + + b) konsonantische Variablen: Spirantisierung Spirantisierung Palatalisierung Assimilation H'S vfb / A n/ nd Spr. 1 + keine Belege c) morphonologische Variablen: Apokope/ Synkope o/ e: 1. Pers. Sg. Präs, (e) wortbildendes e (e) Plural/ Subst. (e) Synkope/ Part. II ge- Spr. 1 + O Apokope o/ n: 1,3. Pers. PI. Part. II-Suff. Infinitiv-Suff. Plural-Suffix (en) + (en) (en) + (en) Spr. 2 Spr. 3 + + 0 + + + Spr. 2 Spr. 3 O O + Spr. 2 Spr. 3 + + + O + Spr. 4 Spr. 5 + + + + O + + o + Spr. 4 Spr. 5 + - Spr. 4 Spr. 5 + + + + + + + + O + + Nach den in der Tabelle dargestellten Ergebnissen wird deutlich, daß die meisten Werte (50,6 Prozent) gesunken sind, d.h. daß die Verhochdeutschung im Vergleich zur ersten Phase zurückgegangen ist. Zunahme der Verhochdeutschung zeigen 39,3 Prozent aller Werte, und „Stillstand“ ist in 10,1 Prozent zu verzeichnen. Die Ergebnisse dieses Vergleichs zeigen somit in der zweiten Untersuchungsphase keine deutliche Steigerung der Verhochdeutschung. Es ist bei der Ver- Ill wendung der standardsprachlichen Varianten (anstatt von dialektalen) zum Teil ein Stillstand eingetreten, zum Teil sogar eine „Rückanpassung“, und nur begrenzt hat eine weitere Verhochdeutschung des Rußlanddeutschen stattgefunden. Die Dialektvarianten werden vielfach weiterhin verwendet und scheinen wie auch bei den einheimischen Sprechern in ein Konkurrenzverhältnis mit den standardsprachlichen Varianten einzutreten. Dies ist vermutlich in erster Linie dadurch zu erklären, daß die entsprechenden Dialektvarianten mit der umgebenden Regionalsprache kompatibel sind und auch in der hochdeutschen Standardsprache der Umgebung („saarländisches Hochdeutsch“) als variable Merkmale fungieren. Ebenso wie in den Umgangs-, Regional- und Alltagssprachen in Deutschland könnte dies zum Zustand der dauerhaften Variabilität auch im Rußlanddeutschen fuhren. D.h. daß das „regionale Hochdeutsch“ der Rußlanddeutschen sich auf „hiesigem“ Niveau stabilisiert: Die Rußlanddeutschen sind keine potentiellen Hochdeutschsprecher, sondern sie werden sich allmählich zu Sprechern von „Regionalhochdeutsch“ entwickeln. 2) Vergleich mit der Ingroup-Kommunikation In 4.3 wurde festgestellt, daß in der Kommunikation der Rußlanddeutschen untereinander (Ingroup- Situation) keine Veränderungen in Richtung ‘Anpassung an das Standarddeutsche’ stattfinden. Ansätze zur Verhochdeutschung des Dialekts in dieser Sprachsituation fehlen; lediglich vereinzelte lexikalische Entlehnungen, meistens Realienbezeichnungen des neuen Lebens häufig auch als Ersatz für Russizismen deuten auf die Überdachung des Dialekts durch die deutsche Standardsprache hin. Sprachwandel durch Lautersatz in schon bekannten gebräuchlichen Dialektlexemen des Rußlanddeutschen wurde in der Ingroup- Kommunikation nicht festgestellt: In dieser Wortschatzschicht findet keine Dialekt/ Standard-Variation statt. In der Outgrop-Kommunikation wird dagegen auch der alte, rußlanddeutsche Wortschatz verändert, indem die typischdialektalen Laute (vgl. 4.2) durch standarddeutsche Laute ersetzt werden. Die betroffenen lexikalischen Klassen sind in den entsprechenden Abschnitten für jede Variable getrennt angeführt (vgl. oben). Die aufgezählten Lexeme werden anders als in der Ingroup-Kommunikation nicht nur dialektal, sondern zum Teil auch schon standardsprachlich realisiert. In dieser teilweisen Standard- Realisierung manifestiert sich die sprachliche Verhochdeutschung des rußlanddeutschen Dialekts in formeller Situation, die in der Ingroup-Kommunikation fehlt. Diese Verhochdeutschung wird in der Kommunikation mit Standardsprachesprechern noch durch massive lexikalische Entlehnungen aus der Hochsprache 112 unterstützt. In der Ingroup-Kommunikation wurden die Entlehnungsvorgänge, wie schon erwähnt, aus dem Standarddeutschen auf die Realienbezeichnungen aus dem neuen Leben oder auf einige andere im rußlanddeutschen Dialekt fehlende Wörter beschränkt. Welche Unterschiede sich in lexikalischer Hinsicht in der Kommunikation mit Standardsprachesprechern ergeben, zeigt der Beispieltext 3 (vgl. Kap. 6), der die öffentlich-formelle Sprechweise der Rußlanddeutschen dokumentiert. Es ist unübersehbar, daß gravierende Veränderungen im Vergleich zur Ingroup-Kommunikation auf die Verwendung von hochdeutscher Lexik zurückgehen. Das wird auch an der Entstehung von lexikalischen Dubletten sehr deutlich. Andererseits zeigt der Beispieltext 3 - und das bestätigen auch stichprobenweise Analysen -, daß die morphologischsyntaktischen Strukturen denen der Ingroup-Kommunikation sehr ähnlich sind und sich im Vergleich zum Beispieltext 2 kaum oder gar nicht verändert haben (vgl. Beispieltext 2, Kap. 6). Dies wird ersichtlich z.B. am Gebrauch von Nebensätzen mit Verbzweitstellung, an verschiedenen dialektbasierten Satzstrukturen, Verbspitzenstellungen nach und, an Mischungen bei Kasusgebrauch und vielen anderen Phänomenen (vgl. Kommentar zu Beispieltext 3, Kap. 6), die den Sprechern offensichtlich nicht als „Dialektmerkmale“ bzw. als Abweichungen auffallen und daher auch nicht verändert werden (vgl. dazu auch Kap. 7.3). 3) Vergleich der untersuchten Sprecher. Durch die in den Abschnitten 4.4.1 bis 4.4.3 dargestellten Ergebnisse der quantitativen Analyse wird deutlich, daß die sprachliche Anpassung des Rußlanddeutschen an das Standarddeutsche nicht unsystematisch verläuft, sondern daß sich dabei bestimmte Tendenzen abzeichnen, die für die Sprecher des hier untersuchten rußlanddeutschen Dialekts typisch sind. Die Quantifizierungen haben gezeigt, daß die Individualwerte der Informanten bezüglich des standardsprachlichen Anteils ihres Hochdeutschen zwar Unterschiede aufweisen und daß die Sprecher verschiedene Grade der Standardannäherung erreichen. Diese Differenzen scheinen jedoch innerhalb der individuellen Streuung zu liegen und bedürfen daher keiner besonderen Deutung, denn: Faßt man das Gesamtbild der untersuchten Phänomene ins Auge, so wird deutlich, daß die Veränderungen in typischer Weise unterschiedlich sind. D.h. daß die Sprecherinnen bei der Verhochdeutschung, zwar in unterschiedlichem Maße, aber dieselben Dialektmerkmale abbauen und dabei bezüglich der einzelnen Laute ganz ähnliche Abstufungen aufweisen und daß sich dadurch ein für Rußlanddeutsche typisches Bild der Dialekt/ Standard-Variation ergibt, z.B. der fast vollständige Abbau der ai- Entrundungen, der hohe Grad des Erhalts der Hebung/ Senkung-Variablen 113 oder der v-Spirantisierungen usw. (vgl. Säulendiagramme). Die Erklärung dafür liegt meines Erachtens nicht an den Variablen als solchen, sondern an der Relevanz des betreffenden Wortschatzes und an dem unterschiedlichen Grad der Bewußtheit, die durch den Wortschatz bei Sprechern aktualisiert werden (vgl. Kap. 7). 4) Vergleich mit der binnendeutschen Sprachvariation: Aus den untersuchten Materialien haben sich auch Unterschiede zur binnendeutschen Dialekt-/ Standard-Variation ergeben, die auf die Besonderheiten der Sprachveränderungsprozesse der Rußlanddeutschen hinweisen und die die Eigenschaften und Auffälligkeiten der von den Rußlanddeutschen gesprochenen hochdeutschen Standardsprache verursachen. Ich möchte im folgenden auf zwei solcher Besonderheiten näher eingehen, und zwar: a) auf die unterschiedlichen Anwendungsbereiche der Variationsvorgänge und b) auf die besonderen „Zwischenformen“ die für das rußlanddeutsche Hochdeutsch bzw. Standarddeutsch typisch sind. Der erste Unterschied betrifft die Anwendungsbreite der oben beschriebenen Regeln. Bei einheimischen Sprechern besteht die Tendenz, diese Regeln des vokalischen und konsonantischen Lautwandels auch auf Lexeme zu übertragen, die durch Wortsubstitution (Entlehnung aus dem Hochdeutschen) alltagssprachlich gebraucht werden und die keine unmittelbaren Entsprechungen mit den mittelhochdeutschen lexikalischen Klassen mehr haben (Auer 1990, 155). Bei den rußlanddeutschen Sprechern hingegen ist die Anwendung der oben beschriebenen Regeln des Lautwandels nur auf Lexeme beschränkt, die im untersuchten rußlanddeutschen Südfränkischen in der Gegenwart noch gebräuchlich sind. Diese lexikalischen Klassen sind in Abschnitt 4.4 getrennt für jede Variable angeführt. Eine Anwendung der Regeln auf hochdeutsche Lexik wie das für die einheimischen Sprecher der Fall ist ist für Rußlanddeutsch- Sprecher nicht belegt. Bei der Verhochdeutschung des Rußlanddeutschen finden zwei verschiedene, in der Sprachkontaktforschung und Dialektologie als ‘Lautwandel’ und ‘Wortentlehnung’ bekannte Prozesse statt. Durch Lautwandel findet Lautersatz statt, z.B. gri: n > gry: n\ durch Wortentlehnung werden Wörter einschließlich neuer Laute entlehnt, z.B. y.burj ‘Übung’. Beide Pozesse haben im Rußlanddeutschen im Unterschied zur binnendeutschen Kontaktsituation verschiedene Anwendungsbereiche. Lautwandel wird auf bekannte, auch in der Ingroup-Kommunikation verwendete, lexikalische Schichten angewendet; Entlehnung erfaßt nur ‘neue’, unbekannte Lexeme: Realienbe- 114 Zeichnungen des neuen Lebens oder Lexeme, die als Ersatz für russischen Wortschatz aus dem Standarddeutschen entlehnt wurden. Die bei der Verhochdeutschung des Rußlanddeutschen beobachtbare Gesetzmäßigkeit besteht in der Präferenz der Wortentlehnung gegenüber dem Lautwandel, und zwar werden die Regeln des Lautwandels nicht auf die entlehnten Lexeme ausgeweitet. Das fuhrt dazu, daß die ‘neuen’ standardsprachlichen Lexeme von Rußlanddeutsch-Sprechern nicht variabel, sondern konstant gebraucht werden: Es findet in den aus dem Standarddeutschen entlehnten Lexemen keine elo- oder / / ^-Variation statt, z.B. Übung/ i. vtiy oder natürlich/ nati: elig, wie das bei einheimischen Sprechern möglich ist. In der Nicht- Übertragung des Lautwandels auf neue Lexeme äußert sich die oben erwähnte lexikalische Präferenz dem Lautwandel gegenüber, welche eine wichtige Besonderheit des Rußlanddeutschen ist und deswegen auch in gesteuerten Erwerbsprozessen berücksichtigt werden sollte (vgl. Kap. 8). Ein weiterer wichtiger Unterschied des Rußlanddeutschen zu binnendeutschen Veränderungsprozessen entlang der Dialekt-ZStandard-Dimension ist die Art des Zusammenhangs der verschiedenen dialektalen und standardsprachlichen Variablen untereinander und die dadurch entstehenden Zwischenformen bzw. Kompromißbildungen zwischen Dialekt und Standard. Für die binnendeutsche Situation ist ja im allgemeinen mit verschiedentlichen Kookurrenzen in der Beziehung der Variablen zueinander zu rechnen. Die Sprachvariation wird dann als ein geordnetes „Geflecht von Einzelvariablen“ beschrieben, und für jeden einzelnen Sprecher läßt sich ein Variationsraum konstituieren (Auer 1990, 178ff ). Man spricht auch von einem „Variantenset“ und davon, daß „ganze Serien von Variablen implikativ einander zugeordnet sind“ (Mattheier 1990, 5). Das Rußlanddeutsche bietet in diesem Aspekt ein ganz anderes Bild. Die Analyse der Texte hat gezeigt, daß bei der Annäherung des rußlanddeutschen Dialektes an die Hochsprache so gut wie keine ‘natürliche’, ‘gewachsene’ Variablen-Kombinationsmöglichkeit besteht. ‘Natürlich’ ist z.B. eine im rußlanddeutschen Dialekt übliche Kombination von dialektalen Merkmalen wie Entrundung und e-Apokope (z.B. kiq ‘Küche’). Die Zwischenformen zwischen Dialekt und Hochdeutsch entstehen dadurch, daß einige Dialektmerkmale ‘rückgängig’ gemacht bzw. ‘verhochdeutscht’ werden, die anderen dagegen nicht. So wird z.B. bei der verhochdeutschten Form kiqa die dialektale Entrundung beibehalten, das im Dialekt fehlende finale -e wird jedoch angefügt. Bei der Form kyq ist umgekehrt die Entrundung beseitigt, das finale -e dagegen nicht angehängt. In den analysierten Texten sind ungewöhn- 115 liehe Merkmalkombinationen belegt, die dem rußlanddeutschen Hochdeutsch insgesamt einen eigentümlichen „adhoc-Charakter“ verleihen und die man sonst, in ‘natürlichen’ Varietäten, nicht antreffen kann. Die folgenden Beispiele sollen das Gesagte verdeutlichen. In der linken Spalte sind die Dialektlexeme angeführt; die mittlere Spalte stellt dieselben Dialektlexeme dar, aber in einer an das Hochdeutsche angepaßten Form: rußlanddeutsch: standarddeutsch: gfuno > gofunon, gfundo gefunden gevo > gevon geben foj'tano > fo/ tando verstanden meft > meijts möchte kent > kento könnte ivohapt > üvohaupt überhaupt jirift > jirifto jüngste ghae r t > gohae r t gehört keno > köno, kenon können gla: v-i9 > glauv-ig glaube {ich) frouyo > frayan fragen Aus den hier angeführten Beispielen ist zu ersehen, daß in ein und demselben Wort einige Dialektmerkmale aufgegeben werden, andere jedoch erhalten bleiben. Die Kombinationsmöglichkeiten sind dabei unterschiedlich. So ist z.B. bei der partizipialen Form gafunan die dialektale e-Synkope aufgehoben worden (g > ga-Regel). Auch die dialektale »-Apokope ist rückgängig gemacht worden durch die Verwendung von -n (0 > »-Regel). Trotzdem ist noch ein dialektales Merkmal in diesem Wort erhalten geblieben: die nd > / / -Assimilation. So entstand ein gemischtes dialektal-standarddeutsches Lexem gafunan, eine Zwischenform, die weder der dialektalen Varietät noch dem Standarddeutschen angehört. Für dasselbe Lexem ist auch noch die Zwischenform gfunda belegt, die wiederum eine andere Kombination von dialektalen und standardsprachlichen Merkmalen präsentiert. In der Tabelle sind einige weitere Beispiele von solchen Kompromißformen angeführt, die in den Texten häufig belegt sind In diesen Zwischenformen sind sowohl noch dialektale als auch schon standardsprachliche Merkmale vorhanden. Diese Reihe kann durch viele weitere Belege beliebig erweitert werden. Zahlreiche Zwischenformen verschiedenen Typs sind ein wichtiges 116 prägendes Merkmal der rußlanddeutschen hochdeutschen Varietät. Diese Anhäufung von ungewöhnlichen Merkmalkombinationen, wie sie für das Rußlanddeutsche typisch ist, ist durch den intensiven kurzzeitigen Verhochdeutschungsprozeß zu erklären. Die rußlanddeutschen Sprecher bewältigen hier in kurzer Zeit Veränderungen, die im binnendeutschen Sprachraum über Jahrzehnte hinweg in langsamer Annäherung an das Hochdeutsche vor sich gegangen sind. 4.5 Zum Situationstyp ‘Kommunikation mit Regionalsprachesprechern’ 4.5.1 Zum Kontakt zwischen Rußlanddeutsch und Saarländisch Die Einstellungen der Sprecher zu regionalen Varietäten wurden in Kap. 3 beschrieben. Es wurde festgestellt, daß die untersuchten Sprecher das Standarddeutsche der regionalen Variante vorziehen, jedoch nicht ganz abgeneigt sind, das regionale Deutsch der Umgebung zumindest verstehen zu lernen. Im vorliegenden Abschnitt werden die sprachlichen Veränderungen skizziert, die sich in der Sprache der Rußlanddeutsch-Sprecher durch den Kontakt mit dem regionalen Deutsch in den ersten zwei Aufenthaltsjahren in Deutschland vollziehen. Es handelt sich dabei um die sprachliche Kommunikation der rußlanddeutschen Sprecher mit Sprechern der saarländischen Dialekte. Die in dieser Arbeit untersuchten rußlanddeutschen Informanten leben in ländlichen Gemeinden im Saarland (vgl. Karte der Ansiedlungsorte der Gewährsleute im Saarland). Die Informanten haben aus verschiedenen Gründen im untersuchten Zeitraum zweibis dreimal den Wohnort gewechselt innerhalb des auf der Karte dargestellten Sprachgebiets. Durch diese Umsiedlungen und durch rege Kontakte zu Rußlanddeutschen, die in anderen Orten des Saarlandes ansässig sind, haben sie eine eigene Vorstellung über das Gesamtbild der Sprachlichkeit im Saarland entwickelt 117 Ansiedlungsorte der rußlanddeutschen Sprecher im Saarland im Übergangsgebiet zwischen Mosel- und Rheinfränkisch Diese Vorstellungen fallen interessanterweise weitgehend mit denen der saarländischen Sprecher selbst zusammen. Sowohl die rußlanddeutschen als auch die zur Sprache im Saarland befragten saarländischen (Dialekt-)Sprecher reflektieren in erster Linie die Differenziertheit der Sprachlichkeit im Saarland. Den Sprechern ist bewußt, daß „in jedem Ort anders gesprochen wird“. Bei Nachfragen nach den konkreten Unterschieden stellt sich jedoch heraus, daß das Wissen über sprachliche Realisierungen dieser Unterschiede in den betreff 118 fenden Orten bei rußlanddeutschen Sprechern wie bei Saarländern oft nicht über zwei bis drei konkrete Merkmale hinausgeht. Die rußlanddeutschen Sprecher nehmen auch die primären, vom Hochdeutschen sehr abweichenden Merkmale der saarländischen Dialekte im einzelnen nicht wahr, z B. die Erscheinungen von Lambdazismus und Rhotazismus, die für das Saarländische vielerorts typisch sind. Diese Nichtwahrnehmung der Abweichungen des Saarländischen durch Rußlanddeutsch-Sprecher kann meines Erachtens zum Teil darauf zurückgefiihrt werden, daß die Saarländer in der Kommunikation mit rußlanddeutschen Gesprächspartnern die basisdialektalen Formen vermeiden und in eine dem Standarddeutschen angenäherte Variante des Deutschen wechseln. Das haben die Aufnahmen mit Saarländern aus Holz, Bergweiler, Hüttersdorf, Gresaubach und Lebach gezeigt (vgl. Karte). Die Saarländer sprechen mit Rußlanddeutschen bewußt ein „abgeschwächtes“ Saarländisch. Ich kann auf diese Frage in der vorliegenden Arbeit nicht näher eingehen. Ich möchte nur noch auf eine Beobachtung hinweisen, die mir für die allgemeine Charakterisierung der rußlanddeutsch-saarländischen Kommunikation als wichtig erscheint, und die ich im übrigen auch in anderen Teilen Deutschlands gemacht habe: Die Deutsch- Sprecher verwenden mit rußlanddeutschen Aussiedlern niemals das sog. „Foreigner Talk“, eine spezielle Varietät, die von Deutschen in der Kommunikation mit Gastarbeitern eingesetzt wird (vgl. Hinnenkamp 1982). Durch gezieltes Nachfragen in den Interviews und bei der Fragebogenaktion und insbesondere durch Beobachtung der Kommunikation vor Ort konnte ich keine Anzeichen für ähnliches Sprachverhalten feststellen. Eine „aussiedlerspezifische“ Entsprechung für dieses „Foreigner Talk“ scheint das eben erwähnte „abgeschwächte“ Saarländisch zu sein, das von Deutschen offensichtlich aus Gründen der besseren Verständlichkeit in der Kommunikation mit Rußlanddeutschen bewußt eingesetzt wird. Zu einzelnen Orten der untersuchten Region existieren dialektologische Abhandlungen (Bonner 1986; Groß 1990; Peetz 1989; Reuter-Quirin 1989). Eine besonders aufschlußreiche Übersicht über die sprachlichen Verhältnisse des gesamten Untersuchungsgebiets gibt die Darstellung von Ramge (vgl. Ramge 1982). Sprachlich gesehen ist das Gebiet uneinheitlich; es wird als Grenzbereich bzw. als Übergangszone zwischen Mosel- und Rheinffänkisch charakterisiert. Obwohl in diesem Gebiet die Isoglosse „das/ dat“ verläuft, können zwischen einzelnen Orten keine klaren Trennlinien gezogen werden. Vielerorts sind die Lokaldialekte als Übergangsmundarten vom Rheinfränkischen zum 119 Moselfränkischen oder umgekehrt einzustufen; einige Mundarten (z.B. die von Wiesbach) liegen „in der Mitte“ zwischen Rhein- und Moselfränkisch. Der Übergang vom Moselffänkischen zum Rheinfränkischen im Ort Hüttersdorf wird wie folgt beschrieben: „Die ursprünglichen Regeln für das Vorhandensein bzw. Fehlen des „beweglichen «“ werden nicht mehr konsequent eingehalten, phonemische Akzente gibt es nicht oder möglicherweise nicht mehr, einige rheinfränkische Wörter, z.B. das als Entsprechung für die Konjunktion daß sind, zumindest als Nebenformen, in das Sprachsystem eingedrungen, und auch im Bereich der Grammatik zeigt sich in einigen Bereichen der Verlust ursprünglich typisch moselfränkischer Erscheinungen, z.B. die nicht mehr konsequente Einhaltung der alten Verteilungsregeln für die Zahlwörter / tsvni/ , / tsvo: / und / tsve: n/ für zwei. All dies charakterisiert die Mundart von Hüttersdorf als immer noch eindeutig moselfränkische Mundart mit Tendenz zum Rheinffänkischen“ (Groß 1990, 99). Ähnlich werden auch andere Ortsmundarten der untersuchten Region beschrieben. Es kann angenommen werden, daß zwei Faktoren die sprachliche Anpassung an die regionale Varietät für die Rußlanddeutschen erschweren. Das ist zum einen die stark vom Hochdeutschen abweichende linguistische Struktur des Moselfränkischen. Die rußlanddeutschen Sprecher können in der Regel die moselffänkischen Formen nicht erkennen und können das Saarländische auch nicht mit dem Standarddeutschen oder dem eigenen Rußlanddeutschen identifizieren. So bleibt ihnen zunächst verborgen, daß hinter dem Ausdruck luniol ‘hör mal, warte mal, schau mal’ das in ihrer rußlanddeutschen Mundart oft verwendete htren ‘warten, lauern’ steht. Zum anderen trägt der oben dargestellte Übergangscharakter der saarländischen Ortsmundarten zur Komplexität der Sprachkontakte in dieser Region bei; vor allem vermutlich die vorhandene moselffänkisch-rheinffänkische Lexik- und Formenvarianz (Groß 1990, 88ff ). Als Folge dieser komplexen Sprachverhältnisse kann sicherlich die Tatsache gedeutet werden, daß die Rußlanddeutsch-Sprecher in der untersuchten Periode kaum Annäherungen an das regionale Deutsch ihrer neuen Umgebung aufweisen. In den Texten, die die Gespräche mit Saarländern der beiden Aufnahmephasen dokumentieren, konnten nur vereinzelte und unsystematisch verwendete Elemente des regionalen Ortsdialekts belegt werden. Dabei handelt es sich um Merkmale, die im Ortsdialekt besonders häufig Vorkommen und als primär eingestuft werden können, z.B. das Hilfsverb han statt des rußlanddeutschen hen ‘haben’ oder die endungslose Form des Partizip Perfekt (Groß 1990, 162) statt der rußlanddeutschen südfränkischen Form mit der 120 Endung -a: mir han gess statt mir hen gezd ‘wir haben gegessen’. Sporadisch werden von den Informanten einzelne Lexeme verwendet, die in Ortsdialekten üblich sind, z.B. [hob] ‘holen’ statt des hochdeutschen ‘nehmen’, auch in Zusammensetzungen und Ableitungen: abhoh statt abnema ‘abnehmen’ im Rußlanddeutschen. Insgesamt kann jedoch nicht davon die Rede sein, daß die rußlanddeutschen Sprecher sich intensiv die Formen der Ortsmundarten aneignen und an die regionale Variante anpassen. Zumindest für die untersuchte Zeitphase kann das nicht behauptet werden. Auch die von Orlovic-Schwarzwald/ Schmidt (1986) beobachtete Auffüllung des Gastarbeiterdeutsch durch mundartlichdialektale „Versatzstücke“ konnte bei rußlanddeutschen Sprechern im Saarland nicht festgestellt werden. Auch in der Kommunikation mit einheimischen Regionalsprachesprechern in privater Gesprächssituation wird von Rußlanddeutschen die hochdeutsche Standardsprache ‘angestrebt’ und auch verwendet, und zwar dieselbe hochdeutsche Standardvarietät mit rußlanddeutschdialektalen Elementen, wie sie von rußlanddeutschen Sprechern auch in öffentlich-formalen Kommunikationssituationen verwendet wird. 4.5.2 Die quantitativen Ergebnisse Daß die rußlanddeutschen Sprecher in der Kommunikation mit saarländischen Dialektsprechern sich gleich verhalten wie auch in der Kommunikation mit Sprechern, die eindeutig Hochdeutsch sprechen, hat die quantitative Analyse gezeigt. Der Vergleich von Texten aus dem Situationstyp 2 (Kommunikation mit Regionalsprachesprechem) und dem Situationstyp 3 (Kommunikation in öffentlich-formellen Situationen) weist kein stark differenziertes Verhalten bezüglich der untersuchten Merkmale nach. Die Ausgangshypothese für den regionalen Sprachgebrauch war, daß die Rußlanddeutsch-Sprecher in der Kommunikation mit Saarländern die für beide Seiten gemeinsamen Merkmale beibehalten und sie nicht durch hochdeutsche Entsprechungen ersetzen, wie in der öffentlich-formellen Situation, - oder zumindest nicht so häufig, wie das in der Kommunikation mit Standardsprachesprechern der Fall ist. Diese Hypothese hat sich durch die quantitative Analyse nicht bestätigen lassen. Die untersuchten Sprecher haben sowohl in der ersten als auch in der zweiten Aufnahmephase in den Gesprächen mit ihren saarländischen Nachbarn die dialektalen Merkmale wie Entrundung, Verdumpfüng, Spirantisierung usw. genauso behandelt wie in den Interviews mit unbekannten Standardsprachesprechern. 121 Dieser Abbau von Dialektmerkmalen wäre jedoch gemäß der oben formulierten Hypothese aus Gründen der Verständlichkeit nicht notwendig gewesen: Merkmale wie Spirantisierung, Verdumpfung, Entrundung sind auch in den meisten untersuchten saarländischen Ortsmundarten vorhanden und wären daher den saarländischen Gesprächs- und Interaktionspartnern ohne weiteres verständlich. Trotzdem haben die Informanten auch in dieser Situation die standardsprachlichen Varianten oft vorgezogen. In der Abb. 12 ist der quantitative Anteil der standardsprachlichen Varianten in regionalen und öffentlichformalen Kommunikationssituationen vergleichend dargestellt. Abb. 12: Vergleich des Anteils der standardsprachlichen Realisierung der vokalischen Variablen im regionalen und öffentlichen Sprachgebrauch (Mittelwerte für fünf Sprecher) Der Abb. 12 ist zu entnehmen, daß die untersuchten Rußlanddeutsch-Sprecher in der Kommunikation mit regionalen Gesprächspartnern ihre rußlanddeutschen Dialektmerkmale fast genauso oder noch konsequenter abbauen als in der Kommunikation mit Standardsprachesprechern. Das betrifft besonders die Merkmale / / ^-Entrundung und a/ aw-Monophthongierung. Obwohl das nicht für alle Merkmale der Fall ist, kann jedoch meines Erachtens auf der Grundlage dieses Befundes grundsätzlich der Schluß gezogen werden, daß die rußlanddeutschen Sprecher in dieser Phase die regionale und standardsprachliche Kommunikation hinsichtlich der genannten Merkmale nicht auseinanderhalten, obwohl sie alle Voraussetzungen dazu hätten. Sie müßten sich nur nicht bemühen, hochdeutsch zu sprechen, dann wären sie in der Kommunikation mit Saarländern der örtlichen Varietät viel näher, als es bei der dokumentierten Sprechweise der Fall ist. 122 Einer der Gründe, warum sich die Rußlanddeutsch-Sprecher dem Saarländischen nicht anpassen, liegt möglicherweise darin, daß sie die einzelnen Merkmale nicht wahrnehmen, auch wenn diese mit den rußlanddeutschen Merkmalen zusammenfallen. Dialektmerkmale kommen nicht einzeln vor, sondern werden oft in festen Zusammenhängen miteinander kombiniert (vgl. Kookkurrenz, 4.4.9). Verschiedene dialektale Varietäten sind daher durch unterschiedliche, aber für sie charakteristische Merkmalkombinationen gekennzeichnet. Man kann auf dem Hintergrund der vorliegenden Ergebnisse vermuten, daß das Erkennen und die Wahrnehmung eines fremden Dialekts insgesamt nicht auf der Ebene der einzelnen Merkmale liegt, wie z.B. Spirantisierung der Plosiven oder die Entrundung von gerundeten Vokalen. Die Wahrnehmung liegt viel mehr auf der Ebene von Formen oder Lexemen als Gestalttypen mit ganzheitlichem Charakter. Auch wenn das Rußlanddeutsche vielfach dieselben Merkmale aufweist wie eine saarländische oder rheinffänkische Mundart, unterscheiden sich die beiden Varietäten letztendlich häufig durch die Merkmalkombination. Das äußert sich dann auf der Ebene der Lexeme und übt einen verfremdenden Effekt aus, durch den die Wortformen nicht wahrgenommen werden können. Ein Beispiel: saarländisch: gsval rußlanddeutsch: gival hochdeutsch: gi: bal ‘Giebel’ Obwohl das hochdeutsche Giebel in beiden dialektalen Varietäten das spirantisierte v enthält, erkennen die rußlanddeutschen Sprecher dieses saarländische Wort entweder überhaupt nicht oder sie identifizieren es mit dem Lexem ga: bal ‘Gabel’ (rußlanddeutsch: gaval). Solche und ähnliche Schwierigkeiten erschweren den sprachlichen Anpassungsprozeß an das Regionaldeutsche oder machen ihn in der ersten Aufenthaltszeit sogar unmöglich. Die Ergebnisse der Beobachtung der rußlanddeutsch-saarländischen Kommunikation in dieser ersten Anfangsphase sind meines Erachtens ein Beleg dafür, daß die Annäherung oder Anpassung einer dialektalen Varietät an eine andere dialektale Varietät ein langwieriger und in der untersuchten Zeitspanne offensichtlich kaum durchführbarer Prozeß ist und daß sich dieser Anpassungsprozeß nur über eine dritte Stufe die Hochsprache vollziehen kann. 123 4.6 Zusammenfassung Es war das Ziel dieses Kapitels, zu untersuchen und darzustellen, a) welche sprachlich-dialektale Ausgangsbasis die Rußlanddeutschen bei der Einreise mit in die Bundesrepublik Deutschland bringen, b) ob sich diese dialektale Varietät nach der Übersiedlung in der Ingroup-Kommunikation verändert und c) welche Veränderungen und in welchem Ausmaß in der Outgroup-Kommunikation stattfinden. Meine Haupthypothese bezüglich der Veränderungen war die Hypothese der Verhochdeutschung des Rußlanddeutschen. D.h., es wurde angenommen, daß die dialektalen Merkmale des Rußlanddeutschen abgebaut, „verhochdeutscht“ werden, indem sie durch hochdeutsche Komponenten ersetzt werden. Im Rahmen der Fragestellung war auch zu untersuchen, welche Dialektkomponenten in welchem Ausmaß abgebaut werden. Werden die dialektalen Merkmale vollständig abgebaut oder bleiben sie zum Teil erhalten, und entwickelt sich die Konstellation der dauerhaften Dialekt/ Standard- Variation? Die Verhochdeutschungshypothese des Rußlanddeutschen hat sich in meinen Langzeituntersuchungen des Sprachgebrauchs der Informanten voll bestätigt. Es hat sich gezeigt, daß die dialektalen Merkmale im untersuchten Zeitraum in öffentlich-formellen Kommunikationssituationen teilweise abgebaut und durch hochdeutsche Komponenten ersetzt werden, was zur intensiven Dialekt-ZStandard-Variation geführt hat. D.h. daß sich die früheren konstanten Dialektmerkmale nach der Übersiedlung in variable Merkmale verwandeln. Das betrifft jedoch mehr die öffentlich formelle Kommunikation mit Nicht- Rußlanddeutschen. Für die Ingroup-Kommunikation, also die Kommunikation der rußlanddeutschen Gesprächspartner unter sich, kann man davon ausgehen, daß die Dialektmerkmale auf absehbare Zeit erhalten bleiben und nicht durch hochdeutsche Komponenten ersetzt werden. Für diese Situation ist auf die Dauer wahrscheinlich eher eine „Regionalisierung“ des künftigen Sprachgebrauchs zu erwarten. Im einzelnen stellt sich der Verhochdeutschungsprozeß etwas differenzierter dar Die wichtigsten Differenzierungen werden im folgenden noch einmal zusammenfassend genannt: 1. In öffentlich-formellen Situationen, d. h. in Situationen, in denen die Sprecher/ innen direkt mit Gesprächspartnern konfrontiert sind, die a) kein Rußlanddeutsch können und b) einheimische Deutsche sind, d.h. von ihrem sozialen Status und von ihrer sozialen Rolle her eine Herausforderung darstellen, vermeiden die Rußlanddeutschen die dialektalen Varianten der eigenen deut- 124 sehen Varietät, die sie als solche erkennen können, und ersetzen sie durch hochdeutsche Komponenten. Es scheint klar, daß hier ein situationstypspezifischer Registerwechsel vorliegt, der unter dem Anpassungsdruck stattfindet und der sich bewußt auf die sprachlichen Phänomene richtet, die als rußlanddeutsch-dialektal erkennbar sind. 2. Durch die quantitative Analyse der Dialekt/ Standard-Variation im lautlichen Bereich hat sich gezeigt, daß die Verhältnisse bezüglich der untersuchten Lautvariablen deutlich unterschiedlich sind. Während z.B. das dialektale Merkmal „^/ -Entrundung“ bei allen untersuchten Informanten fast vollständig abgebaut wird, zeigt sich das Merkmal „Senkung“ dem Abbau gegenüber ebenfalls bei allen Sprechern vergleichsweise resistent. Ähnliche Typisierungen haben sich auch bezüglich der anderen exemplarisch untersuchten Variablen ergeben. Es wird deutlich, daß die Anpassung der dialektalen Lautphänomene an das Hochdeutsche bei den Rußlanddeutschen relativ identisch verläuft. Das ist möglicherweise ein Indiz dafür, daß bei den Sprechern bezüglich der einzelnen Variablen identische Bewußtheitsgrade bzw. -stufen (Kap. 7) vorliegen, durch die identische Differenzierungen entstehen. Es scheint klar, daß die jeweilige „Verarbeitung“ der entsprechenden Phänomene in typischer Weise unterschiedlich ist. 3. Anders als in öffentlich-formellen Situationen stellen sich die Verhältnisse in der Ingroup-Kommunikation dar. Die Vergleiche zwischen den Aufnahmen, die bei der Einreise gemacht wurden (als Basisaufnahmen), und den Aufnahmen, die in Abständen bis zu einem Zeitraum von zwei Jahren nach der Einreise entstanden sind, zeigen, daß sich der Sprachgebrauch der Rußlanddeutschen in dieser Gesprächskonstellation nicht verändert hat, zumindest nicht im Rahmen der Fragestellung dieses Kapitels. D.h. daß mit rußlanddeutschen Gesprächspartnern weiterhin dieselbe deutsch-dialektale (rußland-deutsche) Varietät verwendet wird wie bei der Einreise. Alle Dialektmerkmale sind in vollem Umfang erhalten geblieben und wurden nicht aufgegeben, weder zugunsten des Standarddeutschen noch zugunsten der regionalen Umgebungsvarietät (Saarländisch). Für diese mehr private Kommunikationssituation kann man davon ausgehen, daß das Rußlanddeutsche auf absehbare Zeit „inselmäßig“ weiterhin verwendet wird. Es ist anzunehmen, daß diese spezifischen „rußlanddeutschen Sprachinseln“ in Deutschland bestehen bleiben und daß das Verschwinden der rußlanddeutschen Dialekte bei Ausiedlern in Deutschland erst im Zusammenhang mit generationsbedingtem Sprachwechsel zu erwarten ist. 125 4. Die Untersuchungen sind ein Beleg für die These, daß deutsche Dialekte auch bei lang andauernder Inselexistenz in fremdsprachiger Umgebung die Merkmale des Deutschen bewahren, obwohl sie besonders in lexikalischer Hinsicht sicherlich als „Kontaktvarietäten“ beschrieben werden können. Bei der Annäherung des Rußlanddeutschen an die standarddeutsche Varietät finden vielfach dieselben Spracherscheinungen statt, wie sie auch im deutschsprachigen Raum bei Dialekt/ Standard-Interaktionen zu beobachten sind. Diese Ähnlichkeit betrifft nicht nur die im engeren Sinne sprachlichen, d.h. strukturellen Vorgänge, sondern vielfach auch die Dialekteinstellungen und Sichtweisen der Sprecher (vgl. Auer 1990). 5. Es liegt auf der Hand, daß aufgrund der unter 4 genannten Gleichartigkeit der Dialekt/ Standard-Interaktion die rußlanddeutsche Anpassungsvarietät nicht als Pidgin- oder Lemervarietät beschrieben werden kann, wie das oft in Sprachkontakt- und Spracherwerbsituationen der Fall ist, z. B. die Lernervarietäten der Arbeitsmigranten in Deutschland („Gastarbeiterdeutsch“, „Pidgin- Deutsch“) u a. Das rußlanddeutsche Hochdeutsch ist den Ergebnissen der Untersuchung nach eine Übergangsvarietät zwischen Dialekt und Standarddeutsch und eben in diesem Sinne eine Interimsvarietät wie auch die deutschen Substandardvarietäten, Alltagssprachen und Umgangssprachen. Ob die rußlanddeutsche Anpassungsvarietät wie die deutschen Umgangssprachen längerfristig ihren Interimscharakter behält (Munske 1983), ist noch nicht abzusehen. 126 5. Veränderungen im Verhältnis Dialektgebrauch - Standardorientierung - Russisch Im vorausgehenden Kapitel ist das Phänomen der sprachlichen Anpassung unter varietätenlinguistischen Gesichtspunkten untersucht worden. Im Zentrum der Analyse stand die Interaktion des ‘mitgebrachten’ sibiriendeutschen Dialekts mit der Kontaktvarietät der neuen sprachlichen Umgebung: der deutschen Standardsprache oder einer ihrer regionalen Varianten. Untersuchungsgegenstand waren somit ausschließlich Varietätenkontaktphänomene der Übergangsdynamik von einer deutschen Varietät zur anderen. Kontaktlinguistische Phänomene, die mit der deutsch-russischen Zweisprachigkeit der rußlanddeutschen Sprecher Zusammenhängen, wurden bisher nicht untersucht. Diese Fragen werden in dem vorliegenden Kapitel behandelt. Auch hier wird die mitgebrachte sibiriendeutsche Varietät der Ausgangspunkt der Analyse sein. Es stehen jetzt aber nicht die dialektalen Eigenschaften dieser Varietät und ihr Wandel bei der Anpassung an das Standarddeutsche oder das regionale Deutsch der Umgebung im Mittelpunkt, sondern es werden Phänomene untersucht, die als Folge des deutsch-russischen Sprachkontakts zu einem wesentlichen Teil der rußlanddeutschen Varietät geworden sind. Diese deutsch-russischen Sprachkontaktphänomene möchte ich zunächst übergreifend als ‘Russizismen’ bezeichnen. Gemeint sind damit alle Arten des russischen Einflusses, die sich linguistisch in der mitgebrachten rußlanddeutschen Varietät feststellen lassen. Die Aufgabe dieses Kapitels besteht in der Beschreibung der Veränderungen, denen Russizismen in der neuen Sprachkontaktsituation ausgesetzt sind. Es soll untersucht werden, ob Russizismen in der Konstellation der deutschen Einsprachigkeit beibehalten oder abgebaut werden. Die zentrale Hypothese, die angesichts der möglichen Entwicklungsprozesse der Russizismen in Deutschland aufgestellt wird, ist die Hypothese der Verdeutschung des rußlanddeutschen Dialekts durch den Abbau des russischen Anteils in der sprachlichen Kommunikation. Unter ‘Verdeutschung’ wird dabei ein sprachlicher Anpassungsprozeß der rußlanddeutschen Varietät an die deutsche Sprachstruktur verstanden, indem russische Merkmale abgebaut und durch deutsche ersetzt werden. Diese Annahme wird auf dem Hintergrund der soziolinguistischen Ergebnisse der Untersuchung gemacht. Die soziolinguistische Analyse des Sprachverhaltens der rußlanddeutschen Sprecher in Deutschland hat gezeigt, daß die Sprecher sich des russischen Anteils in ihrem Heimatdialekt sehr 127 wohl bewußt sind und daß ein wesentlicher Teil der Anstrengungen in der Anfangsphase der sprachlichen Integration in der Gestaltung des eigenen Verhaltens gegenüber dem russischen Element im eigenen sprachlichen Repertoire besteht. Die dominante Maxime des Sprachverhaltens der rußlanddeutschen Aussiedler in Deutschland lautet: „Sprich so, daß deutsche Gesprächspartner die Russizismen nicht heraushören können“ (vgl. Kap. 7). Das Verhalten zu den Russizismen hat sich in Deutschland im Vergleich zum Herkunftsland der Aussiedler, wie die soziolinguistische Befragung gezeigt hat, grundsätzlich geändert. Im Herkunftsland wurden Russizismen frei, leicht und ohne Bedenken in die rußlanddeutsche Kommunikation aufgenommen. Sie befanden sich in einer gewissen ‘Förderungskonstellation’: Der russische Einfluß war produktiv, wurde nicht gehemmt und es bestanden keine wesentlichen Hindernisse zum Eindringen in die deutsch-dialektale Struktur (vgl. Kap. 2). In der deutschen Kommunikationsgemeinschaft dagegen fallen die Russizismen auf und werden aus geschichtlichen Gründen teilweise stigmatisiert. Es kann angenommen werden, daß die Russizismen aus einer Förderungskonstellation im Herkunftsland in der Bundesrepublik unter ‘Druck’ und in eine ‘Stigmatisierungskonstellation’ geraten. Vor diesem Hintergrund stehen die Sprecher bewußt und unbewußt (vgl Kap. 7) vor der Aufgabe, gewisse Strategien hinsichtlich der russischen Merkmale zu entwickeln, die ihnen erlauben, in Deutschland eine zumindest teilweise erfolgreiche und nicht stigmatisierende Kommunikation zu fuhren. Entsprechend dem Aufgabenbereich werden in diesem Kaptel folgende Fragen beschrieben: - Skizze der Ergebnisse des Sprachkontakts des Deutschen und Russischen in Rußland / der Sowjetunion (5.2) der linguistisch beobachtbare russische Einfluß in der deutschen Varietät der rußlanddeutschen Sprecher zum Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland (5.3) - Veränderungen in bezug auf den russischen Einfluß in der Ingroup-Kommunikation (‘rußlanddeutsche Alltagssprache’, 5.4) - Veränderungen in bezug auf den russischen Einfluß in der Outgroup- Kommunikation (rußlanddeutsches Hochdeutsch, 5.5) Die linguistische Analyse des russischen Einflusses, der Anpassungs- und Verdeutschungsprozesse erfolgt aufgrund authentischer Sprachaufnahmen, die verschriftlicht wurden und in Form von transkribierten Texten vorliegen (vgl. 128 Kap. 6). Die Sprachaufnahmen sind systematisch in spezifischen sozialen Kommunikationssituationen der rußlanddeutschen Sprecher gemacht worden. Für die linguistische Analyse in diesem Kapitel verwende ich (ähnlich wie in Kap. 4) drei Typen von Sprachaufnahmen: a) Basisaufnahmen (Ermittlung des Sprachstandes bei der Einreise), b) Aufnahmen der rußlanddeutschen Ingroup- Kommunikation mit rußlanddeutschen Gesprächspartnern und c) öfFentlichformelle Kommunikation mit Gesprächspartnern aus der neuen Sprachgemeinschaft Der Beispieltext 1 (vgl. Beipieltexte in Kap. 6) dokumentiert die sog. Basisaufhahmen. Sie sind unmittelbar nach der Einreise gemacht worden. Das Ziel der Aufnahmen war es, das Ausmaß des russischen Einflusses im Heimatdialekt der Sprecher festzustellen. Für die Beschreibung der Alltagskommunikation der rußlanddeutschen Sprecher untereinander wurden Sprachaufnahmen in der Ingroup-Situation gemacht (Beispieltext 2). Diese Aufnahmen dokumentieren die rußlanddeutsche Alltagssprache nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland. Die Analyse dieser Aufnahmen wird es ermöglichen festzustellen, ob die Verdeutschungsprozesse auch in der Alltags-Ingroup-Kommunikation stattfinden. Der dritte Typ der Sprachaufnahmen (Beispieltext 3), die in diesem Kapitel ausgewertet werden, dokumentiert den öffentlichformellen Sprachgebrauch und Anpassungsprozesse in der Kommunikation mit Sprechern der deutschen Standardsprache. Die drei Beispieltexte werden in Kap. 6 mit dem Ziel präsentiert, dem Leser einen Eindruck und Überblick zu verschaffen über die Art und Weise und das Ausmaß der Verwendung von Russizismen in rußlanddeutschen Varietäten. 5.1 Sprachkontakt des Deutschen und Russischen im Herkunftsland 5.1.1 Lexikalische Sprachkontaktphänomene Der lexikalische Einfluß einer Sprache auf die andere ist bei Sprachkontakten immer am offensichtlichsten, da er oft im „unmittelbaren Transfer der Phonemfolge von einer Sprache in eine andere“ besteht (Weinreich 1977, 69). Oft ist das auch der Grund dafür, daß die lexikalischen Einflüsse wissenschaftlich vollständiger untersucht sind, wie das z.B. in bezug auf das Rußlanddeutsche der Fall ist. Der intensive Einfluß des Russischen auf das Deutsche begann unmittelbar nach der Einwanderung der Deutschen nach Rußland (ab 1763) und nahm in den folgenden zwei Jahrhunderten in Abhängigkeit von gesell- 129 schaftlichen Ereignissen verschiedene Intensitätsgrade an (Silier 1929). Aufgrund von schriftlichen Quellen ist nachgewiesen worden, daß nach 150 Jahren (1764-1914) in der deutschen Varietät der Wolgadeutschen (vgl. Karte Kap. 2) 800 Russizismen fest etabliert waren. In den Revolutionsjahren (1914- 19) sind noch 700 Russizismen übernommen worden, die so gebräuchlich wurden, daß sie als Entlehnungen betrachtet werden können. Im Jahr 1929 waren im Wolgadeutschen nach Schiller 1000 russische Lehnwörter in Gebrauch (Silier 1929, 87). Auch aus anderen Kontaktsprachen sind lexikalische Einheiten entlehnt worden, z.B. aus dem Ukrainischen (Pogorelskaja 1931). Als wichtigster Grund der Entlehnung von lexikalischen Einheiten aus der Kontaktsprache wird das in der Sprachkontaktforschung geläufige Konzept der Ausfüllung von Lücken genannt, das in Sprachinseln häufig durch intensive Entlehnungen von Realienbezeichnungen der neuen Umgebung verwirklicht wird, insbesondere in den Anfangsphasen des Bestehens der Sprachinsel. Es handelt sich dabei um die Entlehnung von Begriffen zusammen mit den entsprechenden Wörtern. Dieser Prozeß findet in allen Sprachkontaktsituationen statt und wird als wichtiger Grund für Entlehnungen und Spracheinfluß durch sachlichen Kulturimport auch für verschiedene sprachgeschichtliche Perioden als relevant angesehen (Polenz 1994, 85). Für das Rußlanddeutsche hat Dinges aber bereits 1917 festgestellt, daß Russizismen auch dann entlehnt wurden, wenn im deutschen Dialekt für den entsprechenden Begriff bereits ein semantisch äquivalenter Ausdruck existierte; verantwortlich dafür macht er „vernunftmäßige Gründe“ bzw. Gründe, die auf „emotionale Erlebnisse des Sprechenden“ zurückzuführen sind (Dinges 1917). Diese Entlehnungen führten zur Entstehung von Wortpaaren (lexikalischen Dubletten), die im Rußlanddeutschen zum Teil noch bis heute fortbestehen. In der schon erwähnten Abhandlung hat Dinges aufgrund einer umfangreichen Materialbasis die gebräuchlichsten russischen Lehnwörter nach Sachgruppen aufgelistet. Die wichtigsten sind: a) Realien des Staatslebens, b) Handel und Gewerbe und c) Realien der russischen Kultur und des russischen Lebens (Dinges 1917; diese Arbeit ist nicht veröffentlicht; ausführliche Besprechung in Berend/ Jedig 1991, 37-50). Eine wichtige Folge dieser frühen Entlehnungsprozesse war die Integration der entlehnten russischen Lexeme in die deutsch-dialektale Sprachstruktur. Die Russizismen wurden phonemisch, morphemisch und syntaktisch an das Deutsche angepaßt bzw. in das Deutsche integriert. Die Arten und Grade der Integration in dieser Phase der Einsprachigkeit der rußlanddeutschen Sprach- 130 gemeinschaften sind von Schiller in der oben erwähnten Arbeit beschrieben worden (Silier 1929). Als Materialquelle benutzte er Alltagsgespräche der Wolgadeutschen. Er stellte fest, daß der russische Lehnwortschatz in dieser Phase weitgehend integriert wurde. Somit ist auf einen produktiven Aneignungsprozeß von seiten des deutschen Dialekts und der rußlanddeutschen Dialektsprecher zu schließen. Es ging hier nicht nur um die Anpassung an das indigene deutsche Sprachsystem, sondern auch darum, daß der entlehnte russische Wortschatz am regulären Lautwandel des deutschen Dialekts beteiligt wurde. Das geht aus einigen von Schiller präsentierten Beispielen hervor. Einige der in dieser Arbeit als Beispiele angeführten russischen Lexeme weisen Merkmale der deutsch-dialektalen Spirantisierung auf, die für den westmitteldeutschen Dialekt der Wolgadeutschen sehr typisch war: gavak, russ. gabak (v<b); savaka, russ. sctbaka (v<b) (Silier 1929, 77). Nach dem dialektalen Muster des Deutschen werden auch in russischen Lehnwörtern bestimmte Konsonanten (hier der Plosiv -b-) in intervokalischer Position spirantisiert. Für das Wolgadeutsche waren nach Schiller folgende Integrationsvorgänge bei russischen Entlehnungen typisch: - Ersatz der vokalischen Endungen bei allen Wortarten durch reduziertes -a; - Ersatz der Flexion -yj (russ. -biü) bei russischen nomina actionis durch -er, - Verwendung des deutschen Verkleinerungssuffixes -chen (dial, -je) als Wortbildungselement mit russischen Lehnwörtern; auch Zweifach-Suffigierung möglich (-eben + -lein), - Gebrauch der russischen Substantive mit entsprechenden Artikeln nach dem Muster des Deutschen; systematischer Ersatz der russischen Pluralbildungssuffixe durch deutsche; - Konjugation der russischen Verben nach deutschen Konjugationsmustem (im Präsens und Perfekt). Auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der allmählichen Aufgabe der Einsprachigkeit und mit der zunehmenden Zweisprachigkeit, wird über einen fortdauernden Gebrauch von integrierten russischen Lehnwörtern berichtet. Die verdeutschte Aussprache von zahlreichen Russizismen ist auch in der Gegenwart noch immer weitgehend die Norm des alltäglichen rußlanddeutschen Sprachgebrauchs, insbesondere bei der älteren Generation. Auch 131 die morphosyntaktische Anpassung sowie die Wortbildungsintegration verlaufen heute noch im wesentlichen nach den von Schiller festgestellten Modellen. Die Integration der Russizismen scheint nach den vorliegenden Untersuchungen ohne Differenzierung bezüglich der rußlanddeutschen Basisdialekte und der Sprachkontaktregion zu verlaufen. Im Niederdeutschen vom Ural, in Mittelasien und im Altai sind dieselben Integrationsarten festgestellt worden wie im Wolhyniendeutschen in Kasachstan und in hessischen, pfälzischen oder bairisch-schwäbischen Dialekten in Sibirien (Klassen 1969; Lakman 1977; Boni 1982; Kirsner 1984). Mit der Situation der nahezu globalen Zweisprachigkeit treten aber in der Frage der Integration des entlehnten russischen Wortschatzes ins deutsche Sprachsystem signifikante Veränderungen ein. Neben den integrierten Entlehnungen werden im Rußlanddeutschen gegenwärtig zunehmend Russizismen verwendet, die beim Transfer ins Deutsche keinerlei Veränderung erfahren. Diese Russizismen werden in einer nichtintegrierten, autochthonen russischen Originalform vorwiegend von Zweisprachigen verwendet, d.h. von Sprechern, die sowohl den deutschen Dialekt als auch das Russische gut beherrschen. Sie sind in der Forschung als „Gelegenheitsentlehnungen“ oder „Okkasionalismen“ beschrieben worden (Klassen 1969; Kirsner 1984). Diese Russizismen werden nicht als ‘feste’, sondern als ‘zufällige’, ‘okkasionelle’ Entlehnungen betrachtet. Als Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen festen und okkasionellen Entlehnungen wird die Integration bzw. Nicht-Integration in die deutsche Dialektstruktur betrachtet. Nach Kirschner ist zu unterscheiden zwischen „Entlehnungen“ und „systemhaften Entlehnungen“: Während die „systemhaften Entlehnungen“ voll integriert sind und die russischen Merkmale vollständig aufgegeben haben, behalten die „Entlehnungen“ die russischen Merkmale. Er stellt fest, daß 90% der von ihm analysierten Lehnwörter von den wolhyniendeutschen Sprechern in Kasachstan in nichtintegrierter Form verwendet werden (Kirschner 1986, 89). In der Forschung wurde außerdem festgestellt, daß bei der Verwendung russischer Lexik in modernen rußlanddeutschen Dialekten nicht nur einzelne nichtintegrierte ‘Okkasionalismen’ eingesetzt werden, sondern ganze russischsprachige Ausdrücke, die als ‘Zitate’ betrachtet werden können. Dabei handelt es sich nach Kirschner nicht um Entlehnungen, sondern um „okkasionell gebrauchtes fremdsprachliches Wortgut auf der Stufe der Rede“ (Kirschner 1986, 87). Er weist daraufhin, daß „auf der Redeebene“ häufig „Umschaltungen“ verkommen, „verschiedensprachige Sätze innerhalb einer Äußerung“ 132 (Kirschner 1986, 87). (In der Terminologie der modernen Sprachkontaktforschung handelt es sich hier um Code switching.) Die Umschaltungen von Deutsch zu Russisch und umgekehrt sind nach Kirschner alters- und situationsbedingt, und ihre Häufigkeit hängt vom Gesprächsthema ab. Die russischen Zitate werden eingesetzt, um a) stärkere Expressivität im Vergleich zu muttersprachlichen Äußerungen zu erlangen und b) wegen der eigenartigen russischen Färbung der Aussage, z.B. denk ig, mt jejo v ban 'u ‘denke ich zum Teufel mit ihr’ (Kirschner 1986, 87). Außerdem wird nach Kirschner zur Wiedergabe direkter Rede ins Russische umgeschaltet. Auch andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen (Klassen 1969; Boni 1982). In diesem Zusammenhang ist für den Rahmen der vorliegenden Arbeit die Behauptung wichtig, daß die russischen Zitate bzw. Okkasionalismen „parallel mit Mundartwörtem existieren“ und daß die Verwendung dieser russischen lexikalischen Schicht von Deutschsprechern noch kein Beweis dafür sei, daß „die entsprechenden mundartlichen Äquivalente in Vergessenheit geraten sind“ (Klassen 1969, 591). Nach den Beobachtungen von Kirschner sind die untersuchten Sprecher in der Lage, die entsprechenden Sachzusammenhänge auch auf deutsch zu formulieren (Kirschner 1986, 88). Die Sachgebiete der russischen Entlehnungen sind nach letzten Zusammenstellungen im gegenwärtigen Rußlanddeutschen viel breiter gestreut als in früheren Perioden des deutsch-russischen Sprachkontakts (vgl. Dinges 1917). Nach Ausführungen von Klassen sind es vor allem Wörter aus dem gesellschaftlichen Leben, die entlehnt werden; danach kommen Bezeichnungen für Gegenstände der Wirtschaft, des Dorflebens, Realien und Berufsbezeichnungen (Klassen 1969, 591). Die Themen ‘menschlicher Körper’ und ‘Kleidung’ lassen nach Klassen weniger den Ersatz durch Russizismen zu. Nach anderen Untersuchungen sind aber auch diese Themen Russizismen gegenüber nicht verschlossen; auch Verwandtschaftsbeziehungen und Naturerscheinungen werden durch entlehnte Wörter aus dem Russischen bezeichnet (Kirsner 1984, 124). Allgemein wird die starke Zunahme der gesellschaftlich-politischen und technisch-terminologischen Entlehnungen betont. Obwohl das Interesse am deutsch-russischen Sprachkontakt und speziell an den lexikalischen Entlehnungen rege war und zu einer Reihe von Untersuchungen geführt hat auch zu quantitativen Auszählungen -, ist es doch schwierig, die verschiedenen Korpora quantitativ miteinander zu vergleichen. Dies resultiert nicht nur aus unterschiedlichen Kriterien der Datenerhebung, sondern auch aus den jeweils unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der Da- 133 tenauswertung. Die folgende Tabelle zeigt Ergebnisse von drei Studien hinsichtlich der Verteilung der Wortarten im entlehnten russischen Wortschatz (Klassen 1969; Kirsner 1984; Vejlert 1985): Wortarten Niederdeutsch Klassen (1969) Wolhyniendeutsch Kirsner (1984) Hessisch-Pfälzisch Vejlert (1985) Substantive Verben Adjektive Adverbien Pronomina Konjunktionen Partikeln Modalwörter Interjektionen Präpositionen Numeralien 61% 5,9% 11% 14,8% keine Angabe 1,7% 70,2% 14,4% 6,7% 5,7% 3% 75,1% 3,1% 9,9% 4,3% 1,1% 1,3% 3,4% keine Angabe 0,2% 0,7% 0,9% Obwohl die Ergebnisse unter dem oben erwähnten Gesichtspunkt nur eine bedingte Vergleichbarkeit besitzen, läßt sich zusammenfassend feststellen, daß im entlehnten Wortschatz Substantive den größten Anteil haben; Verben, Adjektive und Adverbien folgen mit großem Abstand mit unterschiedlichen Prozentsätzen je nach Studie, wobei Schwankungen bis zu 10% zu verzeichnen sind. Pronomina und Numeralien werden ähnlich wie in früheren Untersuchungsperioden (Silier 1929) kaum entlehnt; der Anteil der Funktionswörter wie Konjunktionen, Partikeln, Modalwörter, Interjektionen und Präpositionen ist gering und steigt im allgemeinen nicht über vier Prozent. 5.1.2 Lautliche Sprachkontaktphänomene Die Beeinflussung des Lautsystems der rußlanddeutschen Dialekte durch das Russische als Folge von deutsch-russischen Sprachkontakten wird unterschiedlich bewertet. Dabei sind die Differenzen in der Einschätzung der Bedeutung der lautlichen Sprachkontaktphänomene in erster Linie darauf zurückzufuhren, welchen Status die Autoren den entlehnten russischen Lexemen 134 (und somit auch den russischen, im Deutschen nicht vorkommenden Lauten) einräumen, und zwar ob diese Lexeme dem System der Mundart als zugehörig betrachtet werden oder nicht. Klassen stellt fest, daß die niederdeutschen Dialekte des Urals keine russischen Lautentlehnungen aufweisen; die russischen Laute werden dem Lautsystem der Mundart angepaßt. Er geht davon aus, daß ein Phonem erst dann als entlehnt betrachtet werden kann, wenn es in „ureigenen“ Lexemen vorkommt. Das konnte er aber nicht feststellen (Klassen 1969, 593). - Auch in zwei anderen Studien über das Niederdeutsche im Altai und im Omsker Gebiet wird kein Ersatz der deutschen Laute durch russische festgestellt (Avdeev 1965; Triniv 1972). Im Niederdeutschen des Omsker Gebiets macht sich nach Triniv die Tendenz zur Erweiterung des Funktionsbereichs bestimmter konsonantischer Oppositionen bemerkbar, z.B. t’/ t, d'/ d, n ’/ «, die er durch Übertragung von russischen Sprechgewohnheiten und Hinzukommen der Entlehnungen (palatalisierte russische Konsonanten) aus dem Russischen erklärt. Der Einfluß des Russischen auf das Lautsystem des deutschen Dialekts wirkt sich somit nach Triniv nicht in der Bildung von neuen Oppositionen aus, sondern in der Aufgabe von einzelnen Gliedern schon bestehender Oppositionen durch diejenigen Gruppen von Dialektsprechern, die besonders intensiv am deutsch-russischen Sprachkontakt beteiligt sind, und in einer größeren Häufigkeit einzelner Laute, die sowohl im Deutschen als auch im Russischen verkommen. Er stellt bei diesen Sprechern das Schwinden sowohl vokalischer als auch konsonantischer Phonemvarianten fest (Triniv 1972, 8). Auch im Niederdeutschen des Altai-Gebiets werden durch den deutschrussischen Sprachkontakt keine neuen phonologischen Oppositionen ausgebildet. Hier ist aber die Tendenz zur Veränderung der Qualität einzelner Laute zu beobachten. Den Verlust der Stimmhaftigkeit der Konsonanten im Auslaut fuhrt Avdeev unter anderem auf den russischen Einfluß zurück (Avdeev 1965, 8). Ähnliche lautliche Sprachkontaktphänomene werden auch für hochdeutsche Mundarten in verschiedenen Regionen der Sowjetunion festgestellt (Dongauzer 1980; Korn 1993). Die beiden zuletzt genannten Autoren gehen aber davon aus, daß der entlehnte Wortschatz neben dem indigenen Wortschatz dem System der Mundart angehört. So schreibt Dongauzer dazu: "OaxT (pyHKItHOHHpOBaHHH B HeMegKOH pC'ffl pyCCKHX CJIOB, BbipajKaroigHX SaHMCTBOBaHHbie (H HC TOJIbKO SaHMCTBOBaHHbie) HOHHTHH, CBHgeTCJIbCTsycT o npHHagJie>KHOCTH 3THX cjiob fjjpaiiKCKOMy roBopy" (Übersetzung: „Die Tatsache des Funktionierens in der deutschen Rede von russischen Wörtern, die entlehnte (und nicht nur entlehnte) Begriffe bezeichnen, beweist 135 die Zugehörigkeit dieser Wörter zur fränkischen Mundart“. (Dongauzer 1980, 10). Von diesem Gesichtspunkt aus werden auch russische Laute, die im indigenen Wortschatz des Deutschen nicht verkommen, zum Lautsystem des deutschen Dialekts gerechnet. Für das Fränkische im Ural werden von Dongauzer 41 Phoneme als deutsche beschrieben. - Auch Korn stellt für das Schwäbische fest, daß als Ergebnis des Sprachkontakts des schwäbischen Dialekts mit dem Russischen in das Lautsystem des Schwäbischen Konsonanten eindringen, die in der schwäbischen Mundart des Ausgangsgebietes nicht vorhanden sind (Korn 1993, 44). 5.1.3 Morphosyntaktische Sprachkontaktphänomene Im Bereich von Morphologie und Syntax der rußlanddeutschen Dialekte sind die Sprachkontaktphänomene in Form von russischem Einfluß nicht so häufig und nicht so auffällig wie in der Lexik oder auch im lautlichen Bereich. In den rußlanddeutschen Dialekten der Gegenwart sind entlehnte form- oder wortbildende Elemente festgestellt worden. Gebundene Morpheme des Russischen werden grundsätzlich nicht entlehnt, sondern vielmehr dem deutschen Form- und Wortbildungssystem angepaßt (Lakman 1977, 8; Grineva 1979, 19; Klassen 1969, 593). Die Entlehnung von analytischen Elementen des Russischen ist jedoch möglich. Im niederdeutschen Dialekt des Altai ist die Entlehnung der russischen Modalpartikel by, russ. 6bl, zum Ausdruck von Irrealität festgestellt worden. In Verbindung mit dem Hilfsverb tun hat sich diese Irrealität- Konstruktion zur Ersatzform der deutschen Ausdrucksmöglichkeiten entwikkelt, allerdings nur bei jüngeren Sprechern. Die morphologisch nicht gebundene Partikel by fügt sich nach Grineva leicht in das mundartliche System ein (Grineva 1979, 11). Als weitere Veränderungen, die zum Teil sporadischen Charakter haben, werden von Grineva folgende genannt: - Wandel der nicht-reflexiven Verben in reflexive, - Veränderung des grammatischen Geschlechts, - Weglassung des Artikels vor rassischen Entlehnungen, - Übergang in die Gruppe der Pluraliatantum, synonymer Gebrauch der Vergangenheitsformen Präteritum, Perfekt und Plusquamperfekt, 136 teilweise Veränderung der Wortfolge nach russischen Mustern. Dabei ist eine der häufigsten Interferenzerscheinungen nach Grineva das zuletzt genannte Merkmal: die Beeinflussung der Wortstellung. Die Auswirkung des Russischen ist hier besonders bei den Sprechern der jüngeren Generation zu beobachten. Sie äußert sich in der Veränderung der Wortstellung: im einfachen Satz und in Nebensätzen, in Fragesätzen ohne Fragewort und in einigen anderen Fällen. Das fuhrt zur Strukturveränderung des Satzes, z.B. zum Weglassen des Pronomens es in unpersönlichen Sätzen und folglich zur Verletzung des Prinzips der Zweigliedrigkeit des deutschen Satzes (Grineva 1979a, 119). Auf ähnliche Phänomene im syntaktischen Bereich weist auch Hugo Jedig hin, der einen systematischen Vergleich der Wortstellung im Russischen und im niederdeutschen Dialekt des Altai-Gebietes durchgefiihrt hat (Edig 1971, 24ff.). Insgesamt hat der mundartliche Satz nach Jedig keinen Einfluß des Russischen erfahren. Doch stellt er fest, daß sich besonders in der Rede der jüngeren Generation Erscheinungen bemerkbar machen, die „unverkennbar durch den Einfluß des Russischen hervorgerufen worden sind“ (Berend/ Jedig 1991, 182). Es werden dabei für das Niederdeutsche folgende Erscheinungen genannt: - Gebrauch des kopulativen Verbs zäna ‘sein’ in Verbindung mit der Präposition bi: ‘bei’ und einem Personalpronomen im Objektkasus: bii: o.nst zän dräi t in 's ‘bei uns sind drei Kinder’ statt ‘wir haben drei Kinder’ < russ. y nac xpoe gcTeft; - Gebrauch des Hilfsverbs vo: ms ‘werden’ in der Bedeutung ‘bleiben’: cm ve: e vo: ed mät-dt t int ‘und wer wird mit das Kind? ’ statt ‘und wer bleibt bei dem Kind’ < russ. a kto ßygcT c peßeHKOM? die Konstruktion Personalpronomen der 1. Pers. PI. + Präposition mal ‘mit’ + Possessivpronomen + Substantiv zum Ausdruck des Subjekts: än vi: mät mi: n drug jin ’a nie; mdt ‘und wir mit mein Freund gingen nicht mit’ statt ‘und ich und mein Freund gingen nicht mit’ < russ. a mli c gpyroM ne noiujiH, - Gebrauch des Hilfsverbs vo.vra ‘werden’ statt ‘mögen’: vo: est dy tdi ‘wirst du Tee? ’ statt ‘willst du Tee? ’ < russ. naio ßy^euib? In allen Untersuchungen im syntaktischen Bereich wird jedoch ausdrücklich auf diaphasische Unterschiede hingewiesen. Im Sprachgebrauch der jüngeren 137 Sprecher ist der russische Einfluß tendenziell viel deutlicher zu beobachten als in der Sprache der älteren Generation. Das wird in den erwähnten Untersuchungen sowohl durch den Spracherwerb als auch durch die zunehmende Zweisprachigkeit erklärt. 5.2 Der Sprachstand zum Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland Die Analyse und Beschreibung der Veränderungen in der sibiriendeutschen Varietät nach der Einreise nach Deutschland erfolgt in zwei voneinander zu trennenden Schritten. In einem ersten Schritt sollen auf dem Hintergrund der in 5.2 skizzierten Forschungsergebnisse die russischen Sprachkontaktphänomene im hier untersuchten sibiriendeutschen Dialekt festgestellt werden. Die Frage, die sich hier stellt, ist folgende: Was ist ‘russisch’ an der deutschen Basisvarietät der rußlanddeutschen Sprecher zum Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland? Es handelt sich dabei um die sprachlichen Folgen des dauerhaften Kontakts zweier Sprachvarietäten, des deutschen Dialekts und der russischen Sprache, in Sibirien, der Herkunftsregion der untersuchten Sprecher. - In einem zweiten Schritt soll dann beschrieben werden, welche Veränderungen sich mit den festgestellten russischen Merkmalen in der neuen Sprachkontaktsituation vollziehen: Werden sie abgebaut, fossilisiert oder möglicherweise ausgebaut? Im Abschnitt 5.3 beschäftige ich mich zunächst mit der ersten Frage. Hier soll beschrieben werden, in welcher Art und Weise und in welchem Ausmaß die deutsche Basisvarietät der untersuchten Sprecher durch das Russische beeinflußt ist. Dafür wird exemplarisch eine längere Basisaufnahme ausgewertet und interpretiert. Diese Basisaufnahme dokumentiert die gegenwärtige Sprechweise der rußlanddeutschen Sprecher in Sibirien und zum Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland (vgl. Beispieltext 1, Kap. 6). Die Analyse soll exemplarisch den Sprachgebrauch eines Durchschnittssprechers der mittleren Generation zeigen. Ein Vergleich dieses Basistextes mit anderen ähnlichen Texten, die im Rahmen der Basisaufhahmen entstanden sind, und mit Aufnahmen, die in Rußland/ Sibirien gemacht wurden, zeigt, daß der Text hinsichtlich des russischen Einflusses als repräsentativ für die rußlanddeutsche Varietät betrachtet werden kann. Die festgestellten Sprachkontaktphänomene sind bei allen untersuchten Sprechern belegt. 138 5.2.1 Lexikalische Einflüsse des Russischen im Ausgangsdialekt Ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung des fremdsprachigen Einflusses auf die lexikalische Struktur einer Varietät sind, wie in 5.2 beschrieben, die Arten und Grade der strukturellen Integration bzw. Anpassung der fremden Lexik. Für die hier vorliegende Untersuchung ist die Frage, ob russische lexikalische Entlehnungen in die deutsch-dialektale Struktur integriert sind oder nicht, aus folgenden Gründen wichtig. Es kann angenommen werden, daß die integrierten Elemente des Russischen sich so sehr im Dialekt verfestigt haben, daß der Abbauprozeß solcher Russizismen in Deutschland viel komplexer und schwieriger verlaufen wird als der Abbau der nicht integrierten Elemente. Es liegt nahe anzunehmen, daß für die Verdeutschung der integrierten Russizismen weniger günstige Voraussetzungen vorliegen als für die nichtintegrierten Russizismen. Im untersuchten Text stellt sich das Problem der Integration der Russizismen folgendermaßen dar. 1) Lautliche (phonemische) Integration: Fremdsprachige Phoneme (Lautwerte) oder Phonemverbindungen werden durch nächstähnliche Phoneme/ Phonemverbindungen des deutschen Lautsystems ersetzt (Lautsubstitution). Im untersuchten Text kommt dieses Phänomen nicht (oder kaum) vor: Nur zwei Russizismen sind lautlich vollständig integriert und auf deutscher Artikulationsbasis verwendet: lafka, russ. lavka = Jianxa ‘kleiner Laden’; pomadoura, russ. pamidory = noMHflOpbi ‘Tomaten’. Bei einer Reihe von Russizismen läßt sich eine lautliche Stufenintegration beobachten. Es handelt sich dabei um eine gemischte deutsch-russische Artikulationsbasis. Bei einer vollständigen lautlichen oder auch bei Stufenintegration handelt es sich meistens um den ‘ererbten’ Wortschatz, d.h. den russischen Wortschatz im Rußlanddeutschen, der von Kindern als ‘rußlanddeutscher’ erworben wird und daher von den Sprechern oft nicht als ‘russisch’ empfünden wird (vgl. Kap. 7). Der größte Teil der Russizismen ist in diesem Text jedoch wie auch zu erwarten war lautlich nicht integriert und wird auf der Basis der russischen Aussprache verwendet, d.h., sie werden ohne lautliche Veränderungen in die deutschdialektale Rede integriert. Im Beispieltext 1 sind diese Russizismen mit * markiert (vgl. Kap. 6, Beispieltext 1). 2) Flexivische Integration: Fremdsprachige Flexionen (Pluralendungen von Lehnwörtern, Flexionen von russischen Substantiven und Verben u.a.) werden durch entsprechende deutsche Flexionen ersetzt. Es handelt sich hier um Morphemsubstitution. Diese Art von Verdeutschung der Russizismen ist für die 139 untersuchte Basisvarietät weitaus typischer als die lautliche. Für den untersuchten Text ist die flexivische Integration bei Verben am höchsten: Aus der Gesamtzahl der im Korpus verwendeten russischen Verben sind 94,6% nach dem verbalen Substitutionsmodell in das deutsche Flexionssystem integriert. Die Zahl der integrierten Substantive beträgt dagegen nur 11,8%. Integrierte Entlehnungen, die anderen Wortarten angehören, sind nicht belegt. Einige Beispiele: - Substitution des Pluralmorphems (Nom. PI ): d'ivana, russ. d'ivany (<? <y, i) ‘/ (HBaubi’ (Diwane); KCiowiema (kabineta) ‘Büros’; - Substitution des Femininum-Flexivs (Nom. Sing.): bal'n'itsa, russ. bal n 'itsa (ß < a) ‘Romunma’ (Krankenhaus); - Substitution des Flexivs der Verben (Infinitiv und Partizip II): zakazyvajt, russ. zakazyval (t < 1) AaKasbiBaji’ (‘bestellt’); zakazyvaja, russ. zakazyvat' (ja < tj ‘saKaabinaTb’ (‘bestellen’); omMenaut (otmecajt) ‘registriert’; ympaMÖyüa (utrambuja) ‘feststampfen’. 3) Wortbildungs-Integration, russische Lehnelemente werden in das deutsche Wortbildungssystem integriert, indem sie mit deutschen Wortbildungselementen kombiniert werden: - Substitution der Präfix-Morpheme des Russischen durch deutsche: aikl'utfaja , russ. vkljutfaja (ai < v) ‘BKjno'iaTb’ (‘einschalten’). 4) Syntaktische Integration. Russische Lehnelemente werden nach syntaktischen Regeln in das deutsche Sprachsystem eingebettet. Alle im untersuchten Text verwendeten Lehnwörter sind den syntaktischen Regeln des deutschen Dialekts angepaßt, z.B.: ig kox hait epemeean Kawa (grecnevaja kasa). ‘Ich koche heute Buchweizenbrei’ (Das Objekt steht im Nom., weil dieser im Deutschen dem Akk. entspricht.) Im Russischen wäre die Form apenweyto Kütuy (grecnevuju kasu) erforderlich. Zusammenfassend kann im Hinblick auf die strukturelle Integration der russischen Elemente festgehalten werden, daß die Integrationsfähigkeiten des untersuchten Dialekts im Vergleich zu früheren Phasen der deutsch-russischen Sprachkontakte (Silier 1929) bedeutend nachgelassen haben. Das betrifft insbesondere die lautliche Integration. Die meisten russischen Wörter werden im Redestrom ohne lautliche Veränderung gebraucht; lautliche Integration ist für 140 die untersuchten Sprecher der jüngeren und mittleren Generation nicht mehr typisch. Wenn lautlich integrierte oder halbintegrierte Wörter verwendet werden, dann handelt es sich meist um den sog. ‘Erbwortschatz’, integriertes rußlanddeutsches ‘Erbgut’, d.h. russische Wörter, die im Bewußtsein der Sprecher als ‘rußlanddeutsch’ fungieren. Nahezu das Gegenteil stellt die flexivische Integration dar. So ist die flexivische Integration der russischen Verben regelrecht zu einem charakteristischen Merkmal des modernen Rußlanddeutschen geworden (vgl. Beispieltext 1, Kap. 6). 5.2.2 Entlehnungen und Code switching Ein weiterer wichtiger Beschreibungsgesichtspunkt des lexikalischen Einflusses einer Sprache auf die andere bei Sprachkontakten ist die Unterscheidung zwischen den ‘Entlehnungen’ und dem ‘Code switching’. In der modernen Sprachkontaktforschung ist diese Unterscheidung eine der zentralen Diskussionsfragen. Dabei stehen die Kriterien zur Unterscheidung von Entlehnungen und Code switching im Zentrum der Diskussion. In Untersuchungen wird freilich auch die Frage gestellt, ob eine solche Differenzierung für Konstellationen des stabilen Bilingualismus sinnvoll und überhaupt möglich ist (vgl. dazu Haust 1993). Im Rahmen meiner Untersuchung ist diese Unterscheidung aus folgenden Gründen von Interesse. Man kann annehmen, daß die russischen Entlehnungen von den Sprechern schwieriger abgebaut werden, weil sie möglicherweise weniger ‘zufällig’ sind als Code switching. Um dieser Frage nachzugehen, habe ich die Gesamtzahl der im Text verwendeten Russizismen in zwei Gruppen eingeteilt: in die Gruppe der Entlehnungen und die des Code switching, wobei es als zweckmäßig erschien, bei der Einteilung das Modell von Poplack (1988) zu verwenden. Nach Poplack sind jene fremdsprachigen Lexeme ‘Lehnwörter’, die a) einzeln verkommen und b) die Flexionen oder die gleichen syntaktischen Positionen der entsprechenden Wörter in der Empfängersprache annehmen können. Unter ‘Code switching’ versteht Poplack „Multi-word L2 sentence fragments which remain morphologically and syntactically unadapted to recipient language patterns“ (Poplack et al. 1988, 53). Das wesentliche an diesem Modell ist, daß generell einzeln vorkommende Wörter, die nicht der Sprache des restlichen Satzes angehören, als Entlehnungen betrachtet werden. Diese Wörter werden als „Nonce-Borrowing“ bezeichnet. Sobald es sich aber um mehr als einzelne Wörter (Syntagmen, Kollokationen) handelt, werden sie als ‘Code switching’ klassifiziert. Das Modell von Poplack wurde für die Ziele und Zwecke der vorliegenden Untersuchung 141 wegen seiner Plausibilität gewählt. Es leuchtet ein, zunächst die einzeln vorkommenden Russizismen als Entlehnungen und alle anderen, über dieses Kriterium hinausgehenden russischen Verwendungen als Code switching zu klassifizieren. Die Ergebnisse der Auszählung sind in folgender Tabelle dargestellt (nach Wortarten und Type/ Token-Relationen geordnet): Wortarten Entlehnungen: Code switching: Substantive Verben Adjektive Adverbien Pronomen Numeralien Konjunktionen Partikeln Präpositionen Modalwörter Interjektionen Type 93 47,2% 18,8% 3,04% 15,2% 2,5% 37 6 30 5 8,3% 4,1% 2,5% 3,0% Token 210 61 6 60 21 33 38 22 6 Type 34 21,0% 19,1% 3,09% 17,3% 31 5 28 24 16 9 5 8 2 14,8% 9,9% 5,5% 3,1% 4,9% 1,2% Token 43 84 5 38 75 21 24 47 18 5 Gesamtsumme 197 457 162 360 Die Gesamtwortzahl des untersuchten Textes beträgt 9346 Lexeme, davon sind 817 Russizismen (= 8,7%). Von den 817 Russizismen (Tokens) sind 457 als Entlehnungen (= 55,9%) und 360 als Code switching (= 44,1%) verwendet worden. Quantitativ ergeben sich beim Vergleich der Gruppen untereinander kaum Unterschiede (± 2%) für folgende Wortarten: Verben, Adjektive, Adverbien, Konjunktionen, Partikeln und Modalwörter. Numeralien und Präpositionen kommen nur in Code switching-Sequenzen vor und sind als Entlehnungen wie auch zu erwarten war nicht belegt. Auch bei Pronomina ist der prozentuale Anteil innerhalb von Code switching-Sequenzen bedeutend höher gegenüber den Entlehnungen (14,8% gegenüber 2,5%). Interjektionen dagegen sind nur als Entlehnungen verwendet worden. Auffällig sind die Frequenzunterschiede beim Substantiv. Die Type/ Token-Relation zeigt, daß Substantive innerhalb von Code switching-Sequenzen vorwiegend nur einmal Vorkommen (34: 43); als Entlehnungen dagegen werden Substantive mehrmals ver- 142 wendet (93: 210). Die Verteilung der einzelnen Wortarten in den beiden Gruppen ist, abgesehen von einigen punktuellen Unterschieden, insgesamt sehr ähnlich. Für die Entlehnung beträgt sie: 47,2% Substantive, 18,8% Verben und 15,2% Adverbien. Die Zahl der entlehnten Adjektive ist mit 3,0% bedeutend niedriger. Der Anteil der Funktionswörter (Partikeln, Pronomina, Konjunktionen, Modalwörter und Interjektionen) erreicht nur 5%. In Code switching-Sequenzen übersteigt der prozentuale Anteil der Substantive kaum den der Verben, Adverbien und Pronomina (21% bei Substantiven gegenüber 19,1% Verben, 17,3% Adverbien und 14,3% Pronomina). Die Frequenz der Funktionswörter (außer Pronomina und Numeralien) ist hier ähnlich wie bei Lehnwörtern bedeutend niedriger. Die Sachgruppen der im Basistext verwendeten Russizismen sind sowohl hinsichtlich der Entlehnungen als auch hinsichtlich des Code switching sehr breit gestreut. Praktisch werden im ganzen Text themenunabhängig Russizismen verwendet. Als wichtigstes Gebrauchsmotiv erscheint dabei die Ausfüllung von Lücken, und zwar sowohl für die Gruppe der Entlehnungen als auch für Code switching. Eine Zusatzbefragung hat ergeben, daß 77% der Gruppe der substantivischen Entlehnungen kein deutsch-dialektales Äquivalent besitzen und zum Zweck der Ausfüllung von lexikalischen Lücken im Wortfeld des Dialekts benutzt werden. Es gibt im Repertoire der Sprecherin hierfür keine semantisch äquivalenten deutschen Ausdrücke. Die von Klassen und Kirschner aufgestellte These über das parallele Funktionieren von russischen und deutschen Lexemen hat sich für den untersuchten rußlanddeutschen Dialekt nicht bestätigen lassen (vgl. Klassen 1969, 591; Kirschner 1986, 88) Nur bei den restlichen 23% der im Text verwendeten Russizismen handelt es sich um lexikalische Substitution: Ein vorhandenes deutsches Lexem wird durch ein russisches ersetzt. Dadurch entstehen deutsch-russische lexikalische Dubletten, wie sie auch von Klassen und Kirschner beschrieben wurden. Interessant ist, daß annähernd die ganze Gruppe der Substantive, die keine semantisch äquivalenten Ausdrücke im Dialekt haben, sowohl als Entlehnungen als auch innerhalb von Code switching-Sequenzen verwendet wurde. Einige verbreitete Beispiele: russ. öunembi (bilety) ‘Fahrkarten’; russ. Mü(f)U}i (mafija) ‘Mafia’; russ. (v; zcr)‘Visum’; russ. (ocem/ )‘Schlange’; russ. cy^M/ c« (otwA-/ )‘Tragetaschen’; 143 mss. ocmaHoeica (ostanovka) ‘Haltestelle’; mss. xojioduAbHUK (cholodil’nik) ‘Kühlschrank’; mss. nacnopm (pasport) ‘Personalausweis’, ‘Paß’. 5.2.3 Morphologisch-syntaktische Einflüsse des Russischen im Ausgangsdialekt Die mssischen Auswirkungen im morphologisch-syntaktischen Bereich des Dialekts sind bei weitem nicht so offensichtlich wie im lexikalischen Bereich, und zwar deshalb nicht, weil es sich hier um den Transfer von grammatischen Relationen handelt und nicht um direkten Transfer der Phonemfolge autochthoner mssischer Wörter. Die in den Basistexten belegten Einflüsse des Russischen sind unter anderem folgende: - Verwendung des Kopulativs sein anstelle der Wendung es gibt bzw. in der Bedeutung ‘haben’. - Vermehrter Gebrauch des Hilfsverbs tun, insbesondere in Verbindung mit entlehnten Verblexemen. - Verzicht auf den Artikel vor entlehnten Substantiven. - Gebrauch des Doppelperfekts (im Dialekt: Synonym für das Plusquamperfekt) als einfache Vergangenheitsform, nicht als Markiemng der Vorvergangenheit (in Anlehnung an die einfache Vergangenheitsform im Russischen). - Ansätze zur Aspektwiedergabe des Russischen mit deutschen lexikalischen Mitteln. - Übertragung von mssischen Wortbildungsmodellen (Lehnwortbildung). - Wortstellung: nur partieller Satzrahmen, Kontaktstellungen und Ausklammemngen, Verbspitzenstellung des finiten Verbs im Hauptsatz, keine Verbendstellung in Nebensätzen. - Häufige Übertragung der mssischen Rektions-Muster auf das Deutsche. - Verbreitete Anwendung der Doppelbzw. Mehrfach-Negation. - Eine relativ hohe Frequenz von unbestimmt-persönlichen Satzkonstmktionen (wie im Russischen). 144 - Pronomengeneralisierung. - Verwandlung von nichtreflexiven deutschen Verben in reflexive, dadurch Erweiterung der Gruppe der Reflexivverben. Diese im Text vorkommenden Sprachkontaktphänomene können in zwei Typen eingeteilt werden: Typ 1 - Strukturveränderungen und Typ 2 - Häufigkeitswandel. Zum ersten Typ gehören Merkmale, die zweifellos auf den Kontakt mit dem Russischen zurückzufuhren sind. So handelt es sich z.B. bei der Übertragung von russischen Wortbildungsmodellen oder bei Bildung von Reflexivverben aus Nichtreflexiven um offensichtliche Sprachkontaktphänomene, die auf Strukturveränderungen zurückzuführen sind. Auch die Verwendung von bestimmten Rektionsmustern ist sprachkontaktbedingt und macht die Orientierung an russischen syntaktischen Strukturen deutlich. Es handelt sich dabei um Veränderungen, die im deutschen Sprachgebiet als Fremdheitsmerkmale empfunden werden, da sie weder in den dialektal-regionalen Varietäten des Deutschen noch in der hochdeutschen Standardsprache verkommen Weniger eindeutig ist die Auswirkung der Kontaktsprache bei Phänomenen, die der zweiten Gruppe zugeordnet werden können (Verbspitzenstellung, Nichtvorhandensein bzw. Nichteinhaltung der Verbalklammer, Kontaktstellungen und Ausklammerungen, keine Verbendstellung in Nebensätzen, Meldung des Passivs). Es handelt sich um syntaktische Erscheinungen, die auch im deutschen Dialekt Vorkommen können. Durch die Kontaktsprache Russisch, die ähnliche Merkmale aufweist, werden diese im deutschen Dialekt schon vorhandenen Strukturen unterstützt und in ihrer Vorkommenshäufigkeit beeinflußt. Es vollziehen sich hier aber keine Strukturveränderungen, wie das in der oben genannten Gruppe 1 der Fall ist. Es handelt sich hier um Häufigkeitswandel; denn man kann die Zunahme von bestimmten schon vorhandenen Strukturen beobachten, z.B. im Vergleich mit früheren Entwicklungsphasen des Dialekts. Das legt die Hypothese nahe, daß sich dieser Häufigkeitswandel unter dem Einfluß der Kontaktsprache Russisch vollzogen hat. Abschließend kann zur mitgebrachten deutschen Ausgangsvarietät festgehalten werden: a) Die meisten verwendeten Russizismen sind in autochthoner russischer Form verwendet und nicht der deutsch-dialektalen Struktur angepaßt; b) ein Teil der Russizismen wird variabel gebraucht, also sowohl in integrierter (ans Deutsche angepaßter) als auch in nicht integrierter, autochthoner Form; c) eine Einteilung des Wortschatzes in Entlehnungen und Code switch- 145 ing ist nach strukturellen Merkmalen nicht möglich und wahrscheinlich auch nicht sinnvoll; d) der Anteil der verschiedenen Wortarten an den verwendeten Russizismen hat sich im Vergleich zu früheren Perioden nicht verändert; auffällig ist jedoch die stark gestiegene Zahl der verwendeten russischen Verben; e) eine Einteilung der verwendeten Russizismen nach Sachgruppen ist nicht sinnvoll: Russizismen werden themenunabhängig gebraucht; f) morphologischsyntaktische Sprachkontaktphänomene sind selten und nicht gravierend. 5.3 Rußlanddeutsche Alltagssprache in Deutschland Die Analyse der soziolinguistischen Kommunikationssituation und des Sprachgebrauchs der Rußlanddeutsch-Sprecher in Deutschland hat gezeigt, daß die Sprecher im beobachteten Zeitraum deutlich zwischen In- und Outgroup- Kommunikation unterscheiden (vgl. Kap. 3). Die Sprachenwahl hängt in erster Linie von den beteiligten Gesprächspartnern ab; dabei wird vor allem zwischen ‘alten’ und ‘neuen’ Gesprächspartnern unterschieden. In der Kommunikation mit Angehörigen der neuen Kommunikationsgemeinschaft wird Hochdeutsch bzw. Hochdeutsch mit regionalen lexikalischen Einsprengseln gesprochen. In der Kommunikation mit Gesprächspartnern, die ebenfalls aus Rußland kommen, wird nach gewohnten Sprachgebrauchsregeln gehandelt Russisch ist als Lingua franca fiir die Kommunikation in allen möglichen Ingroup- Situationen und mit allen rußlanddeutschen und russischen Gesprächspartnern geeignet. Der deutsche Dialekt (bzw die deutsch-russische Mischsprache) wird auch weiterhin in gewohnter Weise bei der rußlanddeutschen Interaktion verwendet. Die Befragungen der rußlanddeutschen Sprecher und Beobachtungen haben aber gezeigt, daß auch in der Ingroup-Kommunikation, d.h., wenn Angehörige der neuen Sprachgemeinschaft nicht an der Kommunikation teilnehmen, interessante soziosprachliche Verschiebungen stattfinden, die die Alltagskommunikation der Sprecher in Deutschland prägen (vgl. Kap. 3). Im vorliegenden Abschnitt werden die im engeren Sinne sprachlichen (linguistischen) Folgen dieser soziolinguistischen Veränderungen dargestellt In Zentrum der Analyse steht die in 5.3 beschriebene ‘mitgebrachte’ sibiriendeutsche Varietät, die bei der Einreise als ‘Basisdialekt’ dokumentiert wurde. Dieser Basisdialekt ist neben dem Russischen die Grundlage der rußlanddeutschen Ingroup-Kommunikation in Deutschland und wird im folgenden als ‘deutsche Alltagssprache’ der Rußlanddeutschen in Deutschland aufgefaßt. Es ist hier zu untersuchen, ob und wie sich die mitgebrachte rußlanddeutsche 146 Varietät in Deutschland in der Ingroup-Kommunikation verändert, und zwar wie sich die Sprecher zum russischen Anteil in ihrer Alltagssprache verhalten. Gibt es Ansätze, diesen russischen Teil in der Ingroup-Kommunikation abzubauen, oder sind solche Tendenzen nicht zu beobachten? Die zentrale Hypothese ist die der Verdeutschung des Rußlanddeutschen in Deutschland. D.h., es wird angenommen, daß der russische Einfluß abgebaut wird. Dieser Abbau vollzieht sich allmählich oder abrupt, schnell. In dem vorliegenden Abschnitt soll überprüft werden, ob auch in der Ingroup-Kommunikation, d.h., wenn keine einheimischen Sprecher anwesend sind, eine solche Verdeutschung stattfmdet, und wenn ja, wie und in welchem Ausmaß? Die empirische Basis bilden Sprachaufnahmen mit fünf rußlanddeutschen Sprechern nach zweijährigem Aufenthalt in Deutschland Die aufgenommenen Alltagsgespräche zwischen Rußlanddeutschen dokumentieren deren übliche deutsche Alltagssprache. In Kapitel 6 ist ein Auszug aus einem Gespräch zwischen zwei rußlanddeutschen Sprecherinnen zur Demonstration angeführt (vgl. Beispieltext 2, Kap 6). 5.3.1 Tendenzen bei der Verwendung russischer Lexik nach zwei Jahren Bei der Differenzierung des russischen Wortschatzes in Entlehnungen und Code switching halte ich mich wieder an das Modell von Poplack (1988) (s o ). Von den in den untersuchten Texten belegten 832 Russizismen sind 234 als Entlehnungen (= 28,1%) und 598 als Code switching (= 71,9%) verwendet worden. Eine nähere Betrachtung der Entlehnungen macht deutlich, daß diesbezüglich bei den Sprechern keine gravierenden Veränderungen eingetreten sind. Das zeigt sich anhand von zwei wichtigen Kriterien des Funktionierens der Entlehnungen, die konstant geblieben sind, und zwar a) der Verteilung der Wortarten innerhalb der Gruppe der Entlehnungen und b) der Arten und Grade der strukturellen Integration. In der folgenden Tabelle wird die Verteilung der Wortarten zu zwei Vergleichszeitpunkten veranschaulicht. 147 Entlehnungen in der BA Entlehnungen nach 2 Jahren Type Token Type Token Substantive 93 47,2% 210 Verben 37 18,8% 61 Adjektive 6 3,04% 6 Adverbien 30 15,2% 60 Pronomina 5 2,5% 21 Konjunktionen 7 8,3% 33 Partikeln 8 4,1% 38 Modalwörter 5 2,5% 22 Interjektionen 6 3,0% 6 86 58,1% 159 15 10,1% 16 10 6,8% 12 19 12,0% 24 6 4,0% 7 6 4,0% 7 3 2,0% 3 3 2,0% 6 Gesamt 197 457 148 234 Die Verteilung der Wortarten innerhalb der entlehnten Lexemgruppe ist ähnlich wie in der Basisaufhahme (vgl. 5.3) Die größte Gruppe der Entlehnungen sind immer noch Substantive (58,1%). Etwas gesunken ist der prozentuale Anteil der Verben (von 18,8% auf 10,1%). Der Anteil der Funktionswörter (einschließlich der Adverbien) ist etwas niedriger geworden, dagegen ist die Zahl der Adjektive etwas höher (5,1% gegenüber 1,3%). Präpositionen und Numeralien wurden, wie früher, nicht entlehnt. Der gesunkene Anteil der Verben ist vermutlich nicht durch den Zeit-, sondern durch den Themenfaktor zu erklären Im Gespräch bei der Einreise wurden vorzugsweise vergangenheitsbezogene Sachverhalte thematisiert, was die Entlehnung der russischen Verben in der Form des Partizips der Vergangenheit begünstigte. Nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland werden in den Alltagsgesprächen sichtlich mehr gegenwartsbezogene Themen behandelt; dies fuhrt zu einem verminderten Gebrauch der Verben in der Vergangenheitsform und zur Senkung des Anteils von Verben überhaupt und somit auch zur Verminderung des Gebrauchs von russischen Verben. Die Arten und Grade der strukturellen Integration des entlehnten russischen Wortschatzes haben, wie auch die Wortarten, im wesentlichen dieselben Dimensionen beibehalten wie bei der Einreise. Bei den Integrationsstrategien konnten keinerlei Unterschiede festgestellt werden gegenüber denselben in der Basisaufnahme. Es wurden die gleichen Modelle verwendet wie vor zwei Jah- 148 ren. Die zwei wichtigsten belegten Integrations- und Verdeutschungsmodelle sind: - Substantive: Bei der Verdeutschung der Substantive handelt es sich nur um die Substitution des Endvokals durch einen Schwa-Laut Betroffen von diesem Integrationsmodell sind Substantive weiblichen Geschlechts auf -a bzw. Substantive mit dem Pluralsuffix -i/ y (russ. 6/ ); es lassen sich hier keinerlei Unterschiede zur Basisaufhahme feststellen (vgl. 5.3); - Verben: Bei der Verdeutschung der Verben wird die russische Verbalflexion durch die entsprechende deutsche ersetzt. Die Liste der verwendeten verbalen Lexeme macht deutlich, daß durch diese inzwischen im Rußlanddeutschen anscheinend routinisierte ‘Operation’ praktisch jedes russische Verb ‘verdeutscht’ werden kann. Das wird unter anderem auch dadurch deutlich, daß die auf diese Weise strukturell an das Deutsche angepaßten russischen Verben keine geschlossene Gruppe bilden. Die Gruppe ist offen: Jedes russische Verb kann auf diese Weise verdeutscht werden. Hier einige Beispiele aus dem untersuchten Korpus: russisch: rußlanddeutsch: deutsch: Infinitiv: KOMandoeamb komandovat' nbuiecocumb -pylesosit' eomoeumb gotovit' ebiöupamb vybirat' oöeoHumb obgonjat' 3K0H0Mumb ekonomit' Perfekt/ Partizip II: uiamcui satal nepeMeiuaji peremesal enumcui(cfi) vpital(sja) 3aKa3bieaa zakazyval npoeepsui proverjal moponuji(cfi) toropil(sja) komandovajd pylesosijd gotovija vybirajd obgonjaja ekonomija hatfatajt hat peremefajt hat vpitajt (sich) hat zakazyvajt hat proverjajt hat sich toropijt kommandieren staubsaugen kochen wählen überholen sparen hat gewackelt hat verrührt ist eingesickert hat bestellt hat geprüft hat sich beeilt 149 Es hat sich gezeigt, daß nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland auch das deutsch-russische Code switching immer noch ein wichtiges relevantes Merkmal der rußlanddeutschen Ingroup-Kommunikation ist. Es ist in allen erhobenen Texten und bei allen Sprechern belegt. Der Anteil des Code switching im Gesamtkorpus beträgt 71,9% (gegenüber 28,1% Entlehnungen). Wie auch bei der Einreise kommen in der rußlanddeutschen Alltagssprache zwei strukturelle Typen von Code switching vor (vgl. Poplack 1980, 605ff.): 1) ‘inter-sentential switching’ (einzelne Sätze gehören verschiedenen Sprachen an, der Wechsel vollzieht sich an Satzgrenzen bzw. zwischen Sätzen oder Satzteilen); 2) ‘intrasentential switching’ (der Wechsel vollzieht sich innerhalb von Sätzen). Im untersuchten Korpus gehören 65,7% der Code switching-Sequenzen zu dem Typ des ‘inter-sentential switching’; Wechsel innerhalb von Sätzen kommt weniger vor. Die Analyse von Texten macht deutlich, daß die Strategie des Code Switching sehr variabel ist, nicht nur in Bezug auf verschiedene Sprecher, sondern auch bei ein und demselben Sprecher im Laufe eines Gesprächs. Der Wechsel kann sogar zu einem Sprachwechsel fuhren, und es wird z.B. nicht mehr deutsch gesprochen, sondern russisch mit deutschen Einsprengseln oder umgekehrt. In der Kommunikation mit älteren Sprechern wird weniger ins Russische gewechselt als mit gleichaltrigen. Für die untersuchte Zielgruppe mittlerer Generation mit deutsch-dialektalem Hintergrund ist Code switching ein charakteristisches Merkmal der Ingroup-Kommunikation. Die Alltagssprache dieser Gruppe kann aufgrund des lexikalischen Sprachgebrauchs oft gleichmäßige Verwendung von deutscher und russischer Lexik und häufiges Switchen aus einer Sprache in die andere mit dem Konzept ‘zweisprachige Rede’ (Lüdi/ Py 1984, 103) beschrieben werden. Grundvoraussetzung für dieses Sprachverhalten ist die im wesentlichen gleichartig strukturierte Zweisprachigkeit: ähnliche Kompetenz im Deutschen und Russischen für alle rußlanddeutschen Interaktionspartner. Belege für die zweisprachige rußlanddeutsche Alltagssprache und unmarkiertes Code switching sind dem Beispieltext 2 zu entnehmen (vgl. Kap. 6). Neben der beschriebenen Konstanz im Gebrauch von Entlehnungen und im deutsch-russischen Code switching lassen sich jedoch auch in der Alltagssprache gewisse Tendenzen feststellen, die auf eine zunehmende Instabilität des dialektal-russischen Vokabulars deuten Nach zwei Jahren Aufenthalt gibt es in der rußlanddeutschen Alltagssprache Ansätze zur lexikalischen Variabilität. Die alten ‘dialektal-russischen’ lexikalischen Dublettenreihen werden durch hochdeutsche Lexeme ergänzt und es entstehen ‘dialektal-russisch-hochdeutsche’ lexikalische Reihen wie z.B. KyKypysa (kukuruza) - Welschkoni - 150 Mais. Gerade im Bereich der Alltagssprache kommen die alten Wortschatzstrukturen mit den neuen in besonders intensiven Kontakt. Es gibt hier sowohl das ‘alte’ Russisch sowie das ‘neue’ Deutsch. In der Alltagssprache fehlt der normierende Einfluß oder Druck des Standarddeutschen. Anders als in öffentlichen Kommunikationssituationen wird hier frei und ungezwungen das Russische, der rußlanddeutsche Dialekt oder die russisch-deutsche Mischvarietät gesprochen. Die russischen und rußlanddeutschen Lexeme werden nicht abgebaut, sondern sie werden weiterhin benutzt; daneben aber kommen hochdeutsche Varianten in Gebrauch, denn die für die neue Umgebung relevanten Begriffe werden auch neu bezeichnet. Dadurch entsteht ein hoher Grad an lexikalischer Variabilität, der ein charakteristisches Merkmal der analysierten Texte ist. Die Innovation im lexikalischen Bereich der Alltagssprache besteht somit in der Ausweitung des Code switching: dialektal-russisches Code switching verwandelt sich in dialektal-russisch-hochdeutsches switching, z.B.: KpcM {krem)smia ‘ Schmiere’ - Creme CJIU8KU (slivki)smand, ra: m ‘Schmand, Rahm’ - Schlagsahne nepeu, (perec) -peve ‘Pfeffer’ - Paprikaschoten) 360Humb (zvonit ’) klirjh ‘klingeln’ anrufen 5.3.2 Grammatisch-syntaktische Strukturen in der Alltagssprache Bei der Analyse der syntaktischen Struktur ist überprüft worden, ob die in der Basisaufnahme belegten syntaktischen Sprachkontaktphänomene aus dem Russischen in der rußlanddeutschen Alltagssprache noch aufzufinden sind. Die Analyse hat ergeben, daß sich im syntaktischen Bereich kaum Veränderungen vollzogen haben. Alle Phänomene, die in der Basisaufnahme belegt sind, finden sich bei allen Sprechern nach zwei Jahren wieder. Insgesamt ist ein weitgehend übereinstimmendes Bild der syntaktischen Organisation des Textes bei der Einreise und nach zwei Jahren Aufenthalt dokumentiert. Kein einziges russisches Merkmal der Basisaufnahme fehlt in den nach zwei Jahren erhobenen Texten (vgl. Abschnitt 5.3). Die Orientierung an russischen syntaktischen Strukturen äußert sich insbesondere in der Vermischung von deutschen und russischen Elementen in einem Aussagerahmen; dabei sind Mischkonstruktionen belegt, die weder dem Russischen noch dem Deutschen zuzuordnen sind und die ihrem Wesen nach als ‘Dritte-Weg-Neuerungen’ anzusehen sind. Es handelt sich dabei um die Mi- 151 schung auf der Syntax-Ebene; dabei entstehen Mischkonstruktionen, die im Endeffekt zur Verfestigung von neuen Teilsystemen in der Syntax der Alltagssprache fuhren wie im folgenden Beispiel der deutsch-russischen Negations- Verschmelzung: In der rußlanddeutschen Äußerung sind die Negationsstrukturen des Deutschen und Russischen zusammengefuhrt, und dadurch entsteht eine Doppel- oder Mehrfachverneinung, die für das Rußlanddeutsche sehr typisch ist. In der Alltagssprache der rußlanddeutschen Sprecher sind neben den oben aufgezählten auch alle anderen syntaktischen Sprachkontaktphänomene belegt, die in der mitgebrachten rußlanddeutschen Basisvarietät dokumentiert wurden. Sie werden hier aus diesem Grunde nicht weiter erörtert (vgl. 6.3). Es lassen sich somit kaum Anpassungstendenzen an das syntaktische System des Hochdeutschen feststellen. Die russischen syntaktischen Einflüsse sind fester Bestandteil der rußlanddeutschen Alltagssprache. Man kann festhalten, daß sich Veränderungsprozesse in Richtung Verdeutschung im syntaktischen Bereich auch nach zwei Jahren Aufenthalt nicht durchsetzen. Zur rußlanddeutschen Ingroup-Kommunikation nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland kann abschließend festgehalten werden: - Hinsichtlich des Gebrauchs von Russizismen (Entlehnungen und Code switching) hat sich die Ingroup-Kommunikation der untersuchten Sprecher in Deutschland nicht verändert. - Eine feststellbare Veränderung in der Ingroup-Kommunikation vollzieht sich in Form einer Erweiterung des lexikalischen Registers durch Übernahme von hochdeutschen Bezeichnungen, vorzugsweise für Realien der neuen Umgebung. - Die Übernahme von hochdeutschen Lexemen erfolgt nicht auf Kosten des Russischen: Russische Äquivalente bleiben weiterhin bestehen; das fuhrt zur Bildung von lexikalischen Reihen aus dialektal-russisch-hochdeutschen rußlanddeutsch: deutsch: russisch: ich habe kein Brot gebacken ich (habe) Brot nicht gebacken (h xjic6 ne crpunajia / ja chleb ne strjapala) ich habe kein Brot nicht gebacken 152 Komponenten und entsprechend zur Erweiterung des alten dialektal-russischen Code switching zu einem neuen dialektal-russisch-hochdeutschen Code switching. - In der morphologisch-syntaktischen Struktur lassen sich keine Veränderungen feststellen. 5.4 Rußlanddeutsches Hochdeutsch in formellen Situationen Im Abschnitt 5.5 wird dargestellt, wie sich die untersuchten Sprecher gegenüber russischen Merkmalen in formellen (öffentlichen) Situationen verhalten. Die Fragestellung lautet: Werden russische Sprachkontaktphänomene der rußlanddeutschen Varietät, die bei der Einreise und in der Ingroup-Kommunikation nachgewiesen wurden, in formellen Kommunikationssituationen abgebaut oder werden sie beibehalten? Überprüft werden soll die These der Verdeutschung des Rußlanddeutschen. D.h., es wird angenommen, daß die rußlanddeutsche Varietät an das Hochdeutsche angepaßt, d.h. ‘verhochdeutscht’ wird. Man kann vermuten, daß die formelle Situation für diese Fragestellung die interessanteste ist, denn hier kommen die Russizismen unter echten ‘Abbau-Druck’. Als empirische Grundlage für die Analyse dienen Aufnahmen von interviewähnlichen Gesprächen mit Interviewern, die den rußlanddeutschen Informanten unbekannt sind und die die deutsche Standardsprache sprechen. Diese Interviews sind in einer formellen Situation in Institutionen durchgefuhrt worden. Die so entstandenen Aufnahmen dokumentieren die formelle Sprechweise der rußlanddeutschen Aussiedler nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland. Diese Sprechweise wird im folgenden als ‘rußlanddeutsches Hochdeutsch’ bezeichnet und ist durch einen Auszug aus Aufnahmen dieses Typs veranschaulicht (Beispieltext 3, Kap. 6). 5.4.1 Abbau der lexikalischen Strukturen des Russischen Eine der bemerkenswertesten Erscheinungen, die bei der sprachlichen Integration bzw. Anpassung des Rußlanddeutschen zu beobachten sind, ist der abrupte Abbau der russischen Lexik im formellen Sprachgebrauch. Aus dem angeführten Beispieltext 3 ist zu ersehen, daß von den Informanten keine russische Lexik verwendet wird. Dies ist ein deutlicher und relevanter Unterschied zum Sprachgebrauch in der Ingroup-Kommunikation: Die russische 153 Lexik wird in der Kommunikation mit einheimischen Standardsprachesprechern konsequent abgebaut und vermieden. Das ist sicherlich zunächst auf die deutsche Einsprachigkeit der Gesprächspartner zurückzufiihren und auf ihre fehlende russische Kompetenz. Die rußlanddeutschen Sprecher sind gezwungen, auf die russische Lexik zu verzichten, um verstanden zu werden. Andererseits ist es erstaunlich angesichts der oben beschriebenen Sprachkontaktphänomene -, wie abrupt der Abbau der russischen Lexik vollzogen wird. Es scheint keine Rolle zu spielen, ob ein russisches Lexem vollständig in die deutsche Struktur integriert ist (phonetisch, grammatikalisch, syntaktisch), oder ob es gewöhnlich in nicht integrierter Form gebraucht wurde. Es werden sowohl integrierte als auch nichtintegrierte Entlehnungen abgebaut, sogar unabhängig davon, ob sie zum ererbten, alten rußlanddeutschen Wortgut gehören, oder ob sie lediglich ‘Nonce-Borrowing’ bzw. ‘Adhoc-Transferenzen’ sind. Bei dem Abbau scheint auch nicht relevant zu sein, ob das russische entlehnte Lexem eine Lücke im Dialekt ausgefullt hat und semantisch bzw. lexikalisch als fester Bestandteil des Dialekts fanktionierte, oder ob das russische Lexem neben einem deutsch-dialektalen Wort verwendet wurde. Die oben formulierte These über den längeren Erhalt von lexikalischen Entlehnungen und den schnellen Abbau von Lexemen des Code switching kann also aufgrund der Analysen nicht bestätigt werden. 5.4.2 Gebrauch von Internationalismen Neben den russischen Lexemen, die in der öfFentlich-formellen Kommunikation vollständig abgebaut werden, gibt es aber in der deutschen Varietät der Rußlanddeutsch-Sprecher eine lexikalische Schicht des Russischen, die nur unvollständig und zögernd abgebaut wird und an der man erkennen kann, daß es sich bei der hochdeutschen Varietät der Rußlanddeutschen um eine ‘russische’ Variante des Deutschen handelt. Das sind die sog. Internationalismen (Braun/ Schaeder/ Volmert 1990). Der Anteil der Internationalismen im gesamten Wortschatz ist zwar nicht hoch; eine sprecherbezogene Analyse hat ergeben, daß ein rußlanddeutscher Sprecher im Durchschnitt 1,5% Internationalismen verwendet. Trotz des niedrigen Anteils am gesamten Wortschatz ist gerade die Art und Weise der Verwendung dieser Klasse von Lexemen jedoch ein Indiz für die nicht abgeschlossene sprachliche Integration bzw. Anpassung an das deutsche lexikalische System. (Ich spreche hier natürlich in erster Linie von struktureller Anpassung, semantische Aspekte der Internationalismen bzw. Europäismen (Reichmann 1993) kann ich hier nicht berücksichtigen.) 154 Das zeigt sich oft in der teilweisen Beibehaltung der russischen Aussprache und deutet auf einen nur unvollständigen Abbau der russischen phonologischen Merkmale hin. Bei den Internationalismen, die im Deutschen und Russischen eine völlig identische formale Struktur aufweisen, kann nur nach relevanten phonologischen Merkmalen entschieden werden, ob ein russisches oder ein deutsches Lexem vorliegt. Zu diesen phonologischen Merkmalen zählen Merkmale des Russischen wie Palatalisierung, Reduktion von unbetonten Vokalen oder distinktive Länge/ Kürze der Vokale und zahlreiche weitere Merkmale, die die deutsche und russische Artikulationsweise unterscheiden (vgl. dazu Panzer 1991, 1995) und die bei Beibehaltung daraufhinweisen, daß hier das Russische noch nicht abgebaut ist. Die Analyse der Texte hat gezeigt, daß die internationalen Wörter der Teil des russischen Wortschatzes sind, der am spätesten abgebaut wird. Ein Grund dafür liegt möglicherweise darin, daß sowohl den rußlanddeutschen Sprechern selbst als auch ihren deutschen Gesprächspartnern der Unterschied in der Aussprache vielfach gar nicht auffallt. Wiede hat gezeigt, daß von den deutschen Russischlernern der Unterschied zwischen palatalisierten und nicht palatalisierten russischen Konsonanten zunächst nicht wahrgenommen wird (Wiede 1981, 22), weil dieses distinktive Merkmal der russischen Sprache im Deutschen fehlt. Dies legt nahe anzunehmen, daß die Nicht-Wahrnehmung der Palatalisierung bei russisch-deutschen Zweisprachigen auch in umgekehrter Richtung funktioniert, und man kann vermuten, daß sie aus diesem Grunde auch nicht abgebaut wird. Ein Beispiel dafür ist z.B. das Wort Dialekt. Aus 18 Verwendungen dieses Wortes in einem abgeschlossenen Text eines Informanten ist in 15 Fällen ein palatalisiertes d' realisiert worden, wie im russischen Wort dua/ ieKm (dialekt), in den anderen drei Fällen handelt es sich um eine ‘Zwischenrealisierung’ zwischen einem palatalisierten und nicht palatalisierten d Ähnlich gehen die Sprecher auch mit anderen Merkmalen um wie z.B. der Reduktion der unbetonten Vokale (vgl. unten). In Abhängigkeit von der formalen Struktur zerfallen die Internationalismen in zwei Gruppen Zur ersten Gruppe gehören Lexeme gemeinsamen Ursprungs, die jedoch in beiden Sprachen eine zum Teil andere formale Struktur aufweisen. Bei der Anpassung dieser Lexeme an das Deutsche also an die deutsche Form der Internationalismen müssen die Sprecher bestimmte Formveränderungen vornehmen. Die Verdeutschung der russischen Form der Internationalismen umfaßt folgende Vorgänge: a) Substitution der russischen form- und 155 wortbildenden Morpheme durch deutsche, b) Apokope von russischen Endungen, c) Addition von deutschen Morphemen. Einige Beispiele: Substitution: a > um a> e ka > in y > e cijia > tion ceski > sch cnyj > sch russ. npcucmwca, praktikq > Praktikum russ. 6U3ü, viza > Visum russ. euMUCfiUH, gimnazija > Gymnasium russ. spynna, gruppa > Gruppe russ. me/ iecpOHUcmtca, telefonistka > Telefonistin russ. penenmbt, recepty_> Rezepte russ. npofmeMbi, problemy_> Probleme russ. onepau,UH, operaciia > Operation russ. npatcmuHecKU, praktic&ik\ > praktisch russ. aemoMammecKU, avtomaticeski > automatisch russ. munuMHbtü, tipicny] > typisch Apokope: -fl > 0 -/ / 6/ M > 0 -HO > 0 russ. nepcoHü, persona > Person russ. epaMMamwca, grammatika > Grammatik russ. MysbiKa, muzyka > Musik russ. npofmeMa, problema > Problem russ. coi^UüJtbHbiü, social'nyl > sozial russ. HopMCUtbHO, normal 'np > normal Addition: 0> er 0>e 0 > um russ. mexHUK, texnik > Techniker russ. unmepec, interes > Interesse russ. KJtacc, klass > Klasse russ, ueump, centr > Zentrum Zur zweiten Gruppe gehören Lexeme, die im Russischen und Deutschen die gleiche formale Struktur aufweisen. Bei der Verdeutschung dieser Lexeme bestehen keine strukturellen Gründe zur Durchführung der oben aufgezählten Prozesse. Man kann die Zuordnung zu Deutsch bzw. Russisch nur aufgrund der Phonologie vornehmen. Einige Beispiele für diese Gruppe: 156 russisch: deutsch: ducuieicm (dialekt) Dialekt menetpOH (telefon) Telefon iue(p (sef) Chef KOMnbwmep (komp juter) Computer ßaeepb {lager ’) Lager duruiOM {diplom) Diplom KOHmatcm {kontakt) Kontakt rutan (plan) Plan eudeotpUAbM (videofil ’m) Videofilm mema (temd) Thema Kypc (kurs) Kurs MOMenrn (moment) Moment cepeuc (servis) Service npomoKOA (protokol) Protokoll aKneum (akcent) Akzent cnopm (sport) Sport MCitpM (mafija) Mafia Meöenb (mehel ’) Möbel Es stellt sich nun die Frage, ob zwischen diesen beiden Gruppen ein Unterschied besteht im Hinblick auf die Verdeutschung: Werden bei Lexemen der ersten Gruppe der Internationalismen zusammen mit strukturellen Veränderungen auch die phonologischen Merkmale des Russischen eher abgebaut als in der zweiten Gruppe der Internationalismen, die bei der Verdeutschung keine strukturellen, sondern nur phonologische Veränderungen erfordern? Die Analyse zeigt, daß eine strukturelle Integration nicht automatisch auch die phonologische Integration mit sich bringt; russische phonologische Merkmale bleiben oft auch bei strukturell an das Deutsche angepaßten Lexemen erhalten. Es läßt sich keine Korrelation zwischen strukturell-grammatischer und phonologischer Anpassung nachweisen, und es gibt auch folglich zwischen beiden Anpassungsstrategien keinen Zusammenhang. Es konnte jedoch eine Tendenz festgestellt werden, daß die verschiedenen Merkmale des Russischen zu verschiedenen Graden abgebaut werden; das legt die Hypothese nahe, daß die Merkmale auf verschiedene Weise im Bewußtsein der Sprecher verankert sind. Dies wird beim Vergleich von zwei typischen russischen Merkmalen deutlich: der Palatalisierung von Dentalen und der Reduktion der unbetonten 157 Vokale. Die rußlanddeutschen Sprecher selbst scheinen nicht wahrzunehmen, daß sie die Vokale o, e in unbetonter Position reduzieren und entsprechend als a bzw. i aussprechen. (Diese Darstellung ist etwas vereinfacht; vgl. ausführlich dazu Panzer 1991a.) Dieses Merkmal wird kaum abgebaut: in 89% aller Verwendungen ist die Reduktion dieser Vokale beibehalten: program, russ. pra^ grama ‘Programm’. Auch bei struktureller Anpassung an das Deutsche bleibt die Reduktion des unbetonten Vokals erhalten: narma. I, russ. normal'no ‘normal’; telefqnistin, russ. t’elefqn’istka ‘Telefonistin’. Bei Verschiebung des Wortakzents wird ein im Russischen nicht reduzierter Vokal im Deutschen reduziert: russ. (f)omoKonuH, fotokdpija dt. fotokapi: (o>a). Es handelt sich hier also nicht um einen Abbau, sondern um einen Transfer von Artikulationsgewohnheiten des Russischen ins Deutsche. Nicht grundsätzlich, aber zumindest quantitativ anders verhält es sich bei der Palatalisierung: sie ist nur in 64% aller Verwendungen erhalten geblieben, wobei die strukturell angepaßten Lexeme zwar nicht durchgehend, aber überwiegend die Palatalisierung aufgegeben haben {typisch, automatisch, Mathematik, Interesse, praktisch). Insgesamt kann die Schlußfolgerung gezogen werden, daß bei dem Abbau der russischen Lexik die Sprecher nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland im Bereich der internationalen Lexik am wenigsten fortgeschritten sind. Die lexikalische Schicht der internationalen Entlehnungen, die im Russischen und Deutschen zumindest teilweise dieselbe Form und Struktur haben, scheint den rußlanddeutschen Sprechern bei der Kommunikation in öffentlichen Situationen mehr Schwierigkeiten zu bereiten als die autochthone russische Lexik. Die autochthonen Entlehnungen werden, wie wir gesehen haben, restlos abgebaut. Der Gebrauch der Internationalismen dagegen ist unsicher. Russische Merkmale werden nur teilweise abgebaut, russische und deutsche Varianten werden zögernd eingesetzt. Es entsteht der Eindruck, daß die Sprecher über diese Wörter ‘stolpern’. Es wird deutlich, daß gerade bei Internationalismen der ‘Mischungscharakter’ des rußlanddeutschen Hochdeutschen zum Ausdruck kommt und daß die Anpassung und Integration an die neue sprachliche Umgebung in diesem lexikalischen Bereich noch nicht weit vorangeschritten ist und den Sprechern am meisten Schwierigkeiten bereitet. 5.4.3 Erhalt der grammatisch-syntaktischen Einflüsse des Russischen Eine den lexikalischen Prozessen entgegengesetzte Entwicklung ist im grammatisch-syntaktischen Bereich zu beobachten. Während die russische Lexik, 158 wie wir gesehen haben, durchgehend abgebaut wird (ausgenommen die Internationalismen), so ist das für die syntaktischen Phänomene nicht der Fall. In allen hochdeutschen Texten, die von den untersuchten Sprechern produziert wurden, ist immer noch die starke Orientierung am russischen syntaktischen System bemerkbar. Beim Analysieren dieser Texte entsteht sogar der Eindruck, daß die Orientierung am Russischen (im Vergleich zur Basisvarietät bei der Einreise) in der jetzigen Phase noch zugenommen hat. Das äußert sich aber wie sich gezeigt hat nicht in Strukturveränderungen der Sprachkontaktphänomene oder in der Herausbildung von neuen Typen von syntaktischen Sprachkontaktphänomenen im rußlanddeutschen Hochdeutschen. Der schrittweise Vergleich aller syntaktischen Merkmale, die als russische Sprachkontaktphänomene in der rußlanddeutschen Alltagssprache und in den Basisaufnahmen belegt sind, mit der Syntax des rußlanddeutschen Hochdeutschen hat ergeben, daß der russische Einfluß im Hochdeutschen mit dem russischen Einfluß in der Alltagssprache in qualitativer Hinsicht identisch ist. In den hochdeutschen Texten, die von den Informanten nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland produziert wurden, sind dieselben syntaktischen Sprachkontaktphänomene festgelegt worden wie in der mitgebrachten Basisvarietät. Ansätze zum Abbau dieser Merkmale sind nicht vorhanden; die Orientierung an russischen syntaktischen Strukturen bleibt erhalten. Es lassen sich aufgrund der punktuellen Analyse der syntaktischen Struktur der hochdeutschen Texte der Rußlanddeutschen keine Unterschiede zur Syntax der Alltagssprache feststellen. 5.4.4 Lautliche Merkmale des Russischen im Deutschen Für die Analyse der sprachlichen Anpassung im phonetisch-phonologischen Bereich ist die Hörerperspektive gewählt worden (zur auditiven Phonetik vgl. Panzer 1995, 24fF). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist es wichtig, die Auswirkung des Rußlanddeutschen auf die Hörer zu ermitteln und darzustellen. Zu fragen ist dabei, welche Merkmale der lautlichen Struktur von den Interaktionspartnern wahrgenommen werden und dadurch Relevanz besitzen für die sprachliche Integration der rußlanddeutschen Sprecher in der neuen Sprachgemeinschaft. Es geht also darum, festzustellen, durch welche ‘ungewöhnlichen’ Elemente (und hier handelt es sich ja um russischen Einfluß) die Rußlanddeutsch-Sprecher in deutschsprachiger Umgebung auffallen. Die Materialbasis für die folgende Darstellung besteht aus drei Quellen: 1) subjektive Aussagen und Beurteilungen von Standardsprachesprechern, die im Laufe 159 der Longitudinaluntersuchung die Interviews mit rußlanddeutschen Sprechern geführt haben, 2) subjektive Aussagen und Beurteilungen von Dialekt- und Regionalsprachesprechern, die mit Rußlanddeutschen kommunizierten und 3) eigene Beurteilungen. Die Rezipienten wurden gebeten, ihre Eindrücke über die Sprache der rußlanddeutschen Gesprächspartner zu schildern (‘phonetischer Perzeptionstest’). Im Zentrum stand die Frage danach, welche lautlichen Merkmale ihnen besonders aufgefallen sind. Das Ziel dabei war, festzustellen, ob aus der Aussprache der rußlanddeutschen Sprecher Rückschlüsse auf ihre Herkunft möglich sind, und wenn ja, an welchen Merkmalen das zu ersehen ist. Die Ergebnisse dieser Befragung sollen im folgenden kurz dargestellt werden. Die Aussagen, die auf der Hörerperspektive beruhen, machen deutlich, daß zunächst nicht einzelne segmentale Merkmale auffallen, sondern vor allem Suprasegmentalia. Eine besondere Wirkung übt auf die Zuhörer die Intonation des Rußlanddeutschen aus. Zur Intonation im weiteren Sinne werden die Lautstärke, die Dauer von Segmenten, das Timbre (Klangfarbe), die Pausengliederung und die Tonbewegung gezählt. Am auffälligsten für die einheimischen Sprecher scheint im Rußlanddeutschen die Dauer von Segmenten zu sein. Das Russische hat eine vom Deutschen abweichende Wortakzentstrukturierung. Der russische Wortakzent wird als „qualitativ-dynamisch“ klassifiziert. Die Hervorhebung der betonten Silbe erfolgt primär durch die Vergrößerung ihrer Quantität, also ihrer Dauer (russ.: y/ uiHireHHC rjiacnoro neirrpa) (Gabka 1987; Velickova 1989). Die Hauptakzentsilbe wird von rußlanddeutschen Sprechern wie in der russischen Sprache durch eine Dehnung der betonten Silbe besonders gekennzeichnet. Diese Dehnung ist ein hervorstechendes Merkmal und wird von Deutsch-Sprechern als Markierung des Russischen eingestuft. Die Dehnung ist im Russischen die wichtigste Markierung der betonten Silbe: "... b pyccKOM nabiKe yAJiHiieiine HMeeT ocoßyio (pyiiKgHio. Oho hbjihctch caMOH HpKOH h bh>khoh MapKHpoBKOH ygapHoro cjiora" (Übersetzung: ... in der russischen Sprache hat die Dehnung eine besondere Funktion. Sie ist die am meisten auffallende und wichtige Markierung der betonten Silbe, vgl. Velickova 1989, 110). Auf dieser Grundlage vollzieht sich die Zuordnung des Rußlanddeutschen zum russischen Herkunftsgebiet, und es wird gegebenenfalls auch auf die russische Herkunft der Sprecher geschlossen. Nach dem Empfinden der einheimischen Deutschsprecher werden die zu betonenden Laute im Rußlanddeutschen ‘gedehnt’ (bzw. ‘gezogen’ mmym\) 160 So sehr auch die Intonation des Rußlanddeutschen aus der Hörerperspektive markiert und der Intonation der einheimischen Dialekte nicht ähnlich ist, so ist es doch erstaunlich, wie wenig einige Artikulationsbesonderheiten auffallen. Das betrifft z.B. die Palatalisierungsgewohnheiten. Die palatalisierten Konsonanten treten im System des russischen Konsonantismus als Oppositionspartner der nicht palatalisierten Konsonanten auf und differenzieren Bedeutungen (Panzer 1991, 7). Da diese Opposition im Deutschen fehlt, ist dieses Merkmal den Deutschsprechern nicht bewußt und fällt ihnen in der rußlanddeutschen Sprache zunächst auch gar nicht auf, so wie die deutschen Russischlerner den Unterschied palatalisiert/ nicht palatalisiert zunächst gar nicht wahrnehmen (Wiede 1981, 22). Aber nicht nur von den Gesprächspartnem/ Rezipienten, sondern auch von den Sprechern selbst scheint dieses Merkmal nicht bewußt wahrgenommen zu werden. In allen hochdeutschen Texten ist eine variable Realisierung der „palatalisierfähigen“ Konsonanten zu verzeichnen. Diese Variabilität in der Realisierung der Konsonanten scheint eine Besonderheit der Rußlanddeutsch- Sprecher zu sein. Sie basiert meiner Ansicht nach auf der ‘zweidimensionalen Beschaffenheit’ der Artikulationsbasis der rußlanddeutschen Sprecher, im Unterschied zur Artikulationsbasis der Sprecher mit russischer Muttersprache. Nach der Einschätzung von Wiede ist es für Russen ungewohnt, „beim Sprechen von Konsonanten in der Stellung vor Vokalen der vorderen Reihe die Mittelzunge nicht zum Palatum anzuheben. Diese Artikulation wird automatisch vollzogen, auch beim Deutschsprechen“ (Wiede 1981, 131). Es liegt nahe anzunehmen, daß bei rußlanddeutschen Sprechern, die einen deutschen Dialekt als Erstsprache erlernt haben, die Palatalisierungsgewohnheit nicht in solchem Maße automatisiert ist wie bei russischen Muttersprachlern. Die Analyse der rußlanddeutschen hochdeutschen Texte hat diese Annahme bestätigt. Es hat sich gezeigt, daß für das Merkmalspaar ‘palatalisiert/ nicht palatalisiert’ bei den rußlanddeutschen Sprechern in der Realisierung freie Variabilität besteht; bei den sporadisch untersuchten russischen Ehepartnern wird dagegen immer ein palatalisierter Laut realisiert. Aus dieser Beobachtung ergeben sich interessante Unterschiede zwischen rußlanddeutschen Sprechern und russischen Muttersprachlern, die z.B. für den Hochdeutscherwerb Konsequenzen haben können: 161 hochdeutsch: rußlanddeutsch: russische Muttersprachler: die tief verdient Tisch tif fadi: nt di: verd'int d'i t'if trf tif Nieren ni.ra did tr.a fcediq nigt n iren dir Tür fertig fert ix n ixt dir tur nicht Am Beispiel der Palatalisierung können folgende Unterschiede der Realisierung bei russischen Muttersprachlern und Rußlanddeutsch-Sprechern festgehalten werden: - Unterschiede nach der Anwendungsfrequenz: Russische Muttersprachler verwenden grundsätzlich häufiger palatalisierte Konsonanten. Die Palatalisierung im Deutschen ist bei russischen Sprechern ‘kategorisch’ (d.h sie wird in allen möglichen Fällen durchgefuhrt); bei rußlanddeutschen Sprechern ist die Palatalisierung im Deutschen variabel und somit bedeutend weniger häufig; - Unterschiede nach dem Anwendungsobjekt: Vor den Vokalen der vorderen Reihe wird auch der Konsonant n von russischen Muttersprachlern palatalisiert (n ’ixt ‘nicht’); in hochdeutschen Texten, die von rußlanddeutschen Sprechern produziert wurden, findet sich dafür kein einziger Beleg (ausgenommen Eigennamen, z.B. n’idorsakson ‘Niedersachsen’); - Unterschiede nach dem Anwendungsbereich: Für russische Muttersprachler gibt es Anwendungsbereiche der Palatalisierung, die für rußlanddeutsche Sprecher nicht in Frage kommen (z.B. bestimmte lexikalische Schichten, die im aktiven dialektalen Sprachgebrauch waren; vgl. Tabelle). Die Unterschiede zwischen rußlanddeutschen Sprechern und russischen Muttersprachlern beim Erwerb des Hochdeutschen fallen besonders auch auf der syntaktisch-grammatischen Ebene auf. Als häufige und typische Fehler beim 162 Erlernen des Deutschen auf der Basis des Russischen als Muttersprache sind nach Berdicevskij: a) Interferenzen durch falsche Stellung des Prädikats im einfachen erweiterten Satz, b) Interferenzen durch falsche Position trennbarer Präfixe, c) Interferenzen durch falsche Stellung der Negation „nicht“, d) Interferenzen durch falsche Stellung nichtverbaler Satzglieder und e) Interferenzen durch falsche Wortstellung im Nebensatz (Berdicevskij 1985, 112). Diese Interferenzfehler wurden in den von mir untersuchten rußlanddeutschen Texten nicht belegt. Rußlanddeutsche Sprecher, die dialektal-deutsch sozialisiert sind, unterscheiden sich von den russischen Muttersprachlern durch das vollständige Beherrschen der grundsätzlichen syntaktischen Regeln des Deutschen. Von den von Berdicevskij angegebenen Inteferenzfällen ist bei Rußlanddeutschen lediglich der letzte Typ vorhanden, und zwar die ‘falsche’ Wortstellung im Nebensatz. Das betrifft besonders daß-, weil- und oZ>-Nebensätze. Man kann jedoch hier die Hypothese vertreten, daß diese syntaktische Besonderheit der rußlanddeutschen Sprecher nicht eine Interferenz aus dem Russischen ist, sondern daß sie auf dialektaler Basis entstanden ist. Dies ist ganz ähnlich wie im gesprochenen Deutsch der Gegenwart in bestimmten Regionen. Es handelt sich hier eher um eine Besonderheit des deutschen syntaktischen Systems, das womöglich bei rußlanddeutschen Sprechern durch den Einfluß des Russischen noch etwas verstärkt wird. Als Beweis für diese These gilt meines Erachtens die Tatsache, daß die anderen oben aufgelisteten typischen Interferenzfehler bei rußlanddeutschen Sprechern, die über dialektale Kompetenz verfugen, durchgängig fehlen. 5.5 Zusammenfassung Es war das Ziel dieses Kapitels, zu untersuchen und darzustellen, a) in welchem Maße russischer Lehneinfluß in der rußlanddeutschen Varietät vorhanden ist, die die Sibiriendeutschen mit in die Bundesrepublik Deutschland bringen und b) wie sich diese russischen Anteile des Rußlanddeutschen nach der Übersiedlung verändern. Meine Haupthypothese war die der Verdeutschung des Rußlanddeutschen. D.h., es wurde angenommen, daß der russische Anteil im Heimatdialekt der Rußlanddeutschen abgebaut, ‘verdeutscht’ wird, indem er durch deutsche ‘Entsprechungen’ seien dies standarddeutsche oder auch regionalsprachliche Komponenten ersetzt wird, oder daß russischer Lehneinfluß ersatzlos verschwindet. Im Rahmen der Fragestellung war auch zu untersuchen, was mit den russischen Anteilen des Rußlanddeutschen in der 163 neuen sprachlichen Umgebung im einzelnen geschieht. Werden die russischen Anteile vollständig abgebaut, oder gibt es auch Fossilisierungen? Die Verdeutschungshypothese hat sich in meinen Langzeituntersuchungen des Sprachgebrauchs der Informanten nicht bestätigt. Es hat sich gezeigt, daß die russischen Anteile im Rußlanddeutschen nicht abgebaut oder ersetzt werden zumindest nicht in einem Zeitraum bis zu 5 Jahren. Sie bleiben vielmehr erhalten und tendieren zur Fossilisierung. Für mehr öffentlich-formelle Kommunikationssituationen kann man davon ausgehen, daß Rußlanddeutsche russische Lehnwörter sowie anderen russischen Lehneinfluß soweit er ihnen bewußt ist lediglich vermeiden, ohne daß man sagen könnte, daß die Vermeidungsstrategie des Russischen zu einer dauerhaften Maxime würde. Im einzelnen stellt sich der Erhalt bzw. die Fossilisierung der russischen Anteile im Rußlanddeutschen freilich etwas differenzierter dar. Die wichtigsten Ergebnisse werden im folgenden noch einmal zusammenfassend genannt: 1. Die Vergleiche zwischen den Aufnahmen, die mit den Informanten vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland bzw. kurz nach ihrer Einreise (als Basisaufnahmen) gemacht wurden, und den Aufnahmen, die danach in Abständen bis zu einem Zeitraum von zwei Jahren nach der Einreise gemacht wurden, zeigen, daß alle russischen Anteile im Rußlanddeutschen in ihrer anfänglichen Form und in ihrem anfänglichen Umfang erhalten geblieben sind. Die für diese Diagnose maßgeblichen Aufnahmen stammen natürlich aus Situationen, in denen die Sprecher davon ausgehen konnten, daß auch auf der Rezipientenseite eine russische Kompetenz vorhanden ist. 2. In öffentlich-formellen Situationen, d.h. in Situationen, in denen die Sprecher direkt mit Gesprächspartnern konfrontiert sind, die a) keine Russischkompetenz haben und b) von ihrer sozialen Rolle und von ihrem sozialen Status her eine Herausforderung darstellen, vermeiden die Rußlanddeutschen jegliche russische Lexik, die sie als solche erkennen können. Es scheint klar, daß hier ein situationstypspezifischer Registerwechsel vorliegt, der unter dem Anpassungsdruck entsteht und der bewußt auf jene sprachlichen Phänomene gerichtet ist, die für die Informanten als „russisch“ erkennbar sind. 3. Die Verhältnisse sind deutlich unterschiedlich im Bereich der Lexik einerseits und im Bereich der Phonologie/ Phonetik, Morphologie und Syntax andererseits. Die Informanten kontrollieren die Lexik bewußt und vermeiden deshalb in formellen Gesprächssituationen auch solche russischen Wörter, die 164 aufgrund ihrer Lautung und Flexion relativ gut als Lehnwörter in das Rußlanddeutsche integriert sind. Anders liegen die Verhältnisse auf den anderen genannten sprachlichen Ebenen: Diejenigen (jüngeren) Rußlanddeutschen, die in ihren Heimatdialekt die russische Palatalisierung von Dentalen übernommen haben, behalten diese in allen Kommunikationstypen bei. Ähnlich verhält es sich bei morphologisch-syntaktischen Phänomenen. Wer beispielsweise russische Wortstellungseigentümlichkeiten auch für das Rußlanddeutsche internalisiert hat, behält sie in allen Kommunikationstypen bei. (Beispiel: „Wie leben Sie hier? “ - „Leben wir gut! “). Die Eigentümlichkeiten werden nicht als spezifisch russisch wahrgenommen. 4. In informellen oder teilweise informellen Situationen, in denen die Probanden die Möglichkeit sehen, russische Lehnwörter zu gebrauchen, aber auch neu erlernte standarddeutsche oder regionale Wörter anzuwenden, stehen russische Lehnwörter und die deutschen Ersatzwörter als Dubletten nebeneinander. Dies ist ein Indiz dafür, daß die sprachliche Kompetenzveränderung der Rußlanddeutschen als Kompetenzerweiterung vor sich geht: Die neu erlernte Lexik tritt neben die mitgebrachte Lexik, verdrängt diese aber nicht. Die russischen Anteile der Sprachkompetenz bleiben als fossilisierte virulent. Man kann in dem beobachteten Zeitraum nicht von einem Sprachverlust bezüglich der russischen Komponenten sprechen 5. Die Untersuchungen sind ein Beleg für die These, daß lexikalische Einheiten von Sprechern in Sprachkontaktsituationen vorzugsweise als soziolinguistisch markiert angesehen werden (im Unterschied zu phonologischen, morphologischen und syntaktischen Einheiten; vgl. GumperzAVilson 1971). Wegen der erkannten Markiertheit setzen die Informanten die Lexik auch bewußt und sogar strategisch ein, wenn sie unter Anpassungsdruck stehen. Die hier deutlich werdende Rolle der Lexik in Sprachkontaktsituationen sollte in der Sprachdidaktik noch stärker berücksichtigt werden. 6. In Sprachkontaktsituationen werden häufig auch lautliche Eigentümlichkeiten als soziolinguistisch markiert wahrgenommen. Bezüglich der vom Russischen herkommenden Besonderheiten im Rußlanddeutschen (z.B Palatalisierung von Konsonanten oder Reduktion von unbetonten Vokalen) stellt sich die Situation jedoch so dar, daß a) die Phänomene bei den meisten rußlanddeutschen Sprechern (vor allem bei den älteren) nicht so deutlich ausgeprägt sind und b) diese Besonderheiten von Deutschsprechenden ohne Russischkompetenz kaum oder gar nicht wahrgenommen werden (d.h., sie sind unauf- 165 fällig). Auch in der Wahrnehmung der rußlanddeutschen Sprecher haben die russischen Lautbesonderheiten für die Sprachkontaktsituation, in der sie sich befinden, wahrscheinlich keine Relevanz. Die Situation scheint übrigens deutlich anders zu sein bei Ehegatten der Rußlanddeutschen, die das Russische als Muttersprache haben. 166 6. Beispieltexte Im vorliegenden Kapitel werden drei Beispieltexte aus einem größeren Korpus von rußlanddeutschen Texten präsentiert. Die Beispieltexte sind jeweils mit einer standarddeutschen Übersetzung versehen; außerdem werden die sprachlichen Besonderheiten in knapper Form kommentiert. Die Texte wurden in verschiedenen Kapiteln dieser Arbeit als Beispiele benutzt; sie haben exemplarischen Charakter: Der erste Text steht für den Dialekt, den die Rußlanddeutschen bei ihrer Aussiedlung sprechen (Text 1: Basisvarietät); der zweite Text demonstriert den Sprachstand in der Ingroup-Kommunikation zwei Jahre nach ihrer Aussiedlung (Text 2: Rußlanddeutsche Alltagssprache); und der dritte Text zeigt den nach zwei Jahren erreichten standarddeutschen Sprachstand in „offiziellen“ Kommunikationssituationen (Text 3: Rußlanddeutsches Hochdeutsch). 6.1 Transkription und Darstellung Die dokumentierten Beispieltexte werden in einer phonetischen Umschrift transkribiert, wobei, den Fragestellungen dieser Arbeit entsprechend, vor allem jene phonetischen Phänomene genauer erfaßt sind, die hier einer linguistischen Analyse unterzogen werden. Der phonetischen Umschrift liegt das IPA- Alphabet zugrunde, wobei aus Gründen der Lesbarkeit eine relativ weite Umschrift gewählt wurde. In Fällen, die fiir die Auswertung ohne phonetische Bedeutung sind, orientiere ich mich an der standardsprachlichen Orthographie. Dies betrifft die Plosive b, d, g und p, t, k im Auslaut und im Anlaut, die unabhängig von ihrer tatsächlichen Realisierung in Anlehnung an die schriftsprachliche Orthographie wiedergegeben werden: ftub ‘Stube’ aber trep ‘Treppe’; geld ‘Geld’ aber gelt ‘gelt’ (Bestätigungsfloskel); sa: g ‘sage’ aber sak ‘Sack’; im Anlaut: hlo zd ‘blasen’ aber plats ‘Platz’; drika ‘drücken’ aber trirjga ‘trinken’, gri: va ‘Grieben’ aber kriga ‘kriegen’. In intervokalischer Position wird Lenisierung gekennzeichnet: wede ‘wider’ und wede ‘Wetter’, baga ‘backen’, trugig ‘trocken’, trirjga ‘trinken’ usw. Stimmhaftigkeit von Konsonanten wird bei [s] und [z], [j] und [3], [f] und [v], [x] und [y] unterschieden. Die Zeichen b, d, g stehen grundsätzlich für stimmlose Lenes. Aspiration bei Plosiven wird nicht angegeben. 167 Die Kürze der Vokale bleibt unbezeichnet, Länge wird durch nachgestellten Doppelpunkt markiert. Oft werden Vokale unter dem Einfluß des Russischen gedehnt, z. B : fti.gd ‘Stücker’. Die Diphthongierungen von langem o und e, die für den hier beschriebenen rußlanddeutschen Dialekt typisch sind, werden als [o u ] und [e‘] transkribiert. Die Öffhungsgrade der Vokale werden nur beim e unterschieden: [e], [e] und [ae]. Bei den Reduktionsvokalen werden [a] und [e] unterschieden. Im Beispieltext 3 (Hochdeutsch) wurden Endungen häufig ohne Reduktionsvokal notiert, weil die Sprecher eine überdeutliche (hyperkorrekte) Aussprache zeigten. Also: fpi.len, nicht fpi.hn, fpiln. Dies betrifft auch die Endung -er, die entweder als [-er], als [-ar] oder [-a] artikuliert wird, selten auch die im Deutschen übliche Lautung [-e]. So können z. B. für „Fehler“ folgende Formen notiert sein: fe: ler, fe: ter, fe: te, fe: le. Der Wortakzent wird nur in Ausnahmefällen, in denen er vom üblichen Stammsilbenakzent abweicht, angegeben. Satzintonation wird nicht markiert. Deutliche Sprechpausen werden durch einen Gedankenstrich ( - ) markiert. Kontraktionen von unbetonten Kleinwörtern mit einem vorangehenden oder darauffolgenden Wort, die als Einheit gesprochen werden, sind in einem Wort geschrieben, z. B.: simp ‘sind wir’, henza ‘haben sie’, bizi ‘bis sie’, dazi ‘daß sie’. Zum besseren Verständnis werden jedoch voranstehende, zum Wort gezogene Artikel u. a. mit einem Bindestrich getrennt, z. B.: d-ro.za ‘die Rosa’ Wort- oder Satzabbruch wird durch einen Schrägstrich ( / ) wiedergegeben Nicht transkribierte Stellen sind durch Punkte in eckigen Klammern [...] kenntlich gemacht. Undeutliche, unverständliche oder übersprochene Textpassagen werden durch eingeklammertes Fragezeichen (? ) markiert. Die Beispieltexte werden in zwei Spalten präsentiert: auf der linken Seite befindet sich der phonetisch transkribierte rußlanddeutsche Text, dem auf der rechten Seite eine Wort-für-Wort-Übersetzung gegenübergestellt wird. Dabei wurde grundsätzlich das etymologisch entsprechende hochdeutsche Wort gewählt, auch wenn es semantisch vom Rußlanddeutschen abweicht. Bei auffälligen semantischen Differenzen wird eine Worterklärung in eckigen Klammern hinzugefugt, z. B.: Maschine [Auto], Bei Ellipsen, Satzabbrüchen u. ä. wurden zum besseren Verständnis die fehlenden Wörter in runden Klammern hinzugefügt. Die in den Texten vorkommenden authentischen (nicht eingedeutschten) Russizismen werden im Transkript und in der Übersetzung mit einem Asterisk (*) markiert, z. B.: *nodapKU ‘Geschenke’; die eingedeutschten mit doppeltem 168 Asterisk ( ** ), z. B.: **ebt6upaüd ‘heraussuchen’, **npocuüt ‘gebeten’. Bei sprachlichen Einheiten, die russische und deutsche Elemente aufweisen (markiert mit **), wird der russische Teil in kyrillischen, der deutsche in lateinischen Buchstaben wiedergegeben, wie obige Beispiele zeigen. Russizismen (markiert mit *) werden grundsätzlich orthographisch wiedergegeben und durch Kursivschrift hervorgehoben. 169 6.2 Beispieltext 1: Rußlanddeutsche Ausgangsvarietät 1 I: vi: -dB said do has: E koma — 2 saide glai in frar)kfurt un dan saide 3 donthin nox nymberg ja 4 5 L: ja not sino mB *3mo / va: ro mB 6 dot axt ta: x 7 8 I: vi said iE do u hae: koma 9 10 L: no do u has: sina mB koma vi: — 11 miB hen / sin di **Ka6uHema al 12 dori? gai]3 glai da o u vand da anro 13 ta: x — des va: da mo u ndax un da 14 dknjtax ha-di: li: na gaklirplt hat 15 gsaxt ro: za [...] **npocuüt aif hae: B 16 n-za: riant — no n-dem land nax 17 leibax — no no rigti? vi mB di is gandza *Ka6uHembi sin imB 19 doricgaija no hsn za imB gfroUxt vu: 20 ra-miB naus vela — no hen za dan 21 dox den *KOMnbwmep des do alas 22 — no un dan vi: ra-mB da letjta 23 *Ka6uHem va: ra no hat sa gsa: xt 24 des vaibja iB komt nox leibax *ho 25 des geh ain/ t bis mo u ndax hat sa 26 gsa: xt komda hse: b un tud-ai? 27 **ow J we‘«2Ma noyamol [.. .] 28 29 I .: no va: dB da samjtag sundag 30 31 L: i? hab gsat doEt is di tsait so lar) 32 gvest — vas *miKyda sina mB net 33 hingarp gra: d in di **jiaeK3 do [...] 34 des vaB jo so lar) bis di tsvai ta: x 35 rom sin garja — van do u unB di vox 36 si-mE *xomb garja nivB n-dem 37 **6oAbHUU,9 do u odB vi: r -i? des 38 nena sol — 39 no is dox *KaK-mo di *epeMH alas 40 JasrvB garja 41 42 I : no un vas hede dan vaidB gmaxt Wie ihr seid da hergekommen, seid ihr gleich in Frankfurt und dann seid ihr dorthin nach Nürnberg, ja? Ja, dann sind wir *mn / waren wir dort acht Tage. Wie seid ihr da her gekommen? Na, daher sind wir gekommen wie? Wir haben / sind die **Büros alle durchgegangen, gleich den Abend, den anderen Tag. Das war der Montag und der Dienstag hat die Lina geklingelt, hat gesagt: Rosa **bittet euch her in Saarland, na, in dem Land nach Lebach. Na. dann richtig, wie wir die ganzen *Büros sind immer durchgegangen, dann haben sie immer gefragt, wo wir hinauswollen. Dann haben sie dann doch den *Computer das da alles. Na und dann, wie wir (in) dem letzten *Büro waren, dann hat sie gesagt, das Weibchen: Ihr kommt nach Lebach, *aber das geht erst bis Montag, hat sie gesagt. Kommt ihr her und tut euch **cmmelden noch einmal. Dann wart ihr den Samstag, Sonntag? Ich hab gesagt, dort ist die Zeit so lang gewesen. Was? *Nirgenchvo sind wir nicht hingegangen, grade in die **Verkaufsstelle da. Das war ja so lang bis die zwei Tage rum sind gegangen. Wenn da, unter die Woche, sind wir *wenigstens gegangen hinüber in dem **Krankenhaus da oder wie ich das nennen soll, dann ist doch *irgendwie die *Zeit alles schärfer [schneller] gegangen. Na und was habt ihr dann weiter gemacht? 170 43 no uns dan do mo u ndax sins mn do 44 moront garp — m-halb sivs soldo 45 mn Jun drivo sin n-dem / no sino mn 46 ax mvn gaip no hcno mn glunt bis 47 siv3 48 no hen zo ufgmaxt uno hen zo uns 49 **omMenaüt — in ge>t nax le'bax 50 —hen zo uns di [...] alos si **omnpaemüt bis nox dem 52 ba: nhof do u — sino mn font 53 54 I: saidn vol bis bin 55 56 L: *ou if sa: dox min hen so 57 *nepecadicu gmaxt *jiadHO min sin 58 nox jur) *u mo mi hsn-s net 59 **ycneeaüt nino — veifo e' 60 *ocmaH08Ka *mn ne ycnemi 61 naigeo iz-n abgario 62 63 I: no ja: saidn mim anro gfa: ro 64 65 L: no musto me o gandzi Jtund nout 66 lu: ro bizo me n-anro tsu: x / des gu t 67 di ge: o so alo Jtunt ode alo halvo 68 Jtunt vi-r-if sa: yo sol net vi ba uns 69 in ruslant drivo 70 71 I: do beds o gandzi **cymKs gsezo 72 73 74 L: ja: — hedn me nox lerjn fnlaift 75 fa: ro mizo un do u simn fon 76 *KaKOÜ-mo finfJtunt va: ro me do u 77 — *ho avn if sa: do must mn avn 78 gra: d **ycneeaÜ3 naijmaizo [...] 79 80 I: no barift dif vo: l 81 82 L: if bar) mif nox di ki: nino — 83 *mn / miß ge: o do u on aldi ge: o me 84 ime n-d **Jia6K9 un dort is dox on 85 *(pepMep — jets voids mo bait vide 86 ge: o felaift henzo arvait foB uns 87 [...] Na und dann, den Montag sind wir den Morgen gegangen, um halb sieben sollten wir schon drüben sein, in dem / Darm sind wir auch hinübergegangen, dann haben wir gelauert [gewartet] bis sieben, dann haben sie aufgemacht und dann haben sie uns **registriert. Ihr geht nach Lebach. Haben sie uns die alles **aufden Weg gebracht, bis nach dem Bahnhof da, sind wir fort. Seid ihr wohl bis hin? *Ach, ich sage doch, wir haben so *Umsteigungen gemacht, *na gilt, wir sind noch jung *und da wir haben's nicht * ^geschafft, Nina. Wegen einer *Haltestelle *wir haben es nicht geschafft hineinzugehen, ist er abgegangen. Naja, seid ihr mit dem anderen gefahren? Dann mußten wir eine ganze Stunde noch lauem [warten], bis wir einen anderen Zug / das ist gut, die gehen so alle Stunde oder alle halbe Stunde, wie ich sagen soll. Nicht wie bei uns in Rußland drüben. Da hättet ihr einen ganzen * Tag and Nacht gesessen. Ja, hätten wir noch länger vielleicht fahren müssen und da sind wir für *ungefähr fünf Stunden waren wir da. *Aber aber, ich sage: Da mußte man aber grade **{es) schaffen hineinzuschmeißen. Na bangst [sehnst] dich wohl? Ich bange [sehne] mich nach den Kühen, Nina. *Wir / wir gehen da in den Aldi, gehen wir immer in das **Geschäft und dort ist doch ein ^Farmer. Jetzt wollten wir heute wieder gehen, vielleicht haben sie Arbeit für uns. 171 88 I: doEt iz an *(pepMep — *a do 89 miste mol hinge: a 90 91 L: no moul frouya *mo.Mem ece- 92 paem hen za felaigt *KaKOÜ- 93 HUÖydb arvait — *xoma 6n da 94 nomidax hav-i? gsa: t van if ge 1 un 95 tu *xomfi 6bi di ki: anguga hav-if 96 gsaxt — if bar) mif no u x na [ . ] 97 98 \.*a fiin vu wist m das daee doet is 99 bairn aldi 100 101 L: *a des se: t ma alas nina — min 102 hen di ki: Jun gse: a un alas — mie 103 hen naigagukt daee hat / daec hat so 104 a *3damie dost gro: s alas so-n 105 **mpaKm3 un alas so vi: / vi-s 106 *noAOMetio — selva hide dox vol io? sif ha: i mays *cunoc un alas — 108 doBt is ne'vadran is so tsva: i gro u za 109 Jifta *cmoc *m tsugadekt net vi ba no uns if hab gsaxt guga mol vas dox in an *nopudoK do u is hav if gsaxt 112 bai di daitja — bai uns van za des in *cwioc hin / **ympaMC>ya za-s 114 nema za-s veg Jmaiza-s veg — s- 115 kan dox lifa *a do 11 is so vas net lie do u is *nopudoK un se: t mo net das in di ki: hen uvn ho u f 118 119 1 do mistR mol naigea tsu dena 120 121 L: no mi a vela mol hingea — di hen 122 an hund so-n arfa gro u z a — do u 123 va: r-e haus iz-E geifa da elvira gaga 124 und maxt d-elvira hav if mid-am uf 125 ruzij *noweji eon — mo: l hat si: uf 126 daitj— 127 no u t iz-E ax bai bai-re ba dae: ra 128 *X03MÜKa no maxt d-elvira — do u 129 ax di hunda vajte: a alas daitj—hav 130 if gsat noja *npaeunbuo vas — 131 mie sin des gagvehit mie vetse'la Dort ist ein *Farmer r ! Ach da müßt ihr mal hingehen. Na, mal fragen. Vielleicht doch haben sie vielleicht irgendeine Arbeit, Wenigstens den Nachmittag, habe ich gesagt, wenn ich gehe und tue Wenigstens die Kühe angucken, habe ich gesagt. Ich bange [sehne] mich nach ihnen. *Doch von wo wißt ihr, daß der dort ist beim Aldi? *Doch das sieht man alles, Nina. Wir haben die Kühe schon gesehen und alles. Wir haben hineingeguckt. Der hat / der hat so ein *Gebäude dort, groß alles. So einen **Traktor und alles, so wie / wie es *sich gehört. Selber tut er doch wohl sich Heu machen, *Silofutter und alles. Dort ist nebendran ist so zwei große Schichten *Silofutter, *aber zugedeckt, nicht wie bei uns. Ich habe gesagt. Guck einmal, was doch eine *Ordnung da ist, habe ich gesagt, bei die Deutsche. Bei uns, wenn sie das *Silofutter hin / **feststampfen sie es, nehmen sie es weg, schmeißen es weg es kann doch hegen. *Doch da ist so was nicht, da ist *Ordnung. Und sieht man nicht, daß die Kühe haben auf den Hof. Da müßt ihr mal hineingehen zu denen. Na, wir wollen mal hmgehen. Die haben einen Hund, so einen argen, großen. Da [letztens] war er heraußen, ist er gegen die Elvira gegangen. Und. macht [sacht] die Elvira, habe ich mit ihm auf russisch *geh weg (zugerufen). Auf ein Mal hat sie auf deutsch, dann ist er auch bei, bei ihr. bei der * Wirtin. Dann macht die Elvira da! Auch die Hunde verstehen alles deutsch, habe ich gesagt: Naja, *richtig was. Wir sind das gewöhnt, wir erzählen 172 132 ruzij un ax dobai glai des daitjb — 133 *a glai vi i? bin fon 134 * TiOMCHb do u haiiBgstsouyo in / no 135 alas uf ruzij mai ksenls di hsn net e> 136 voet uf daitj gokent 137 138 I: vaildB unB ruzo va: Bt 139 140 L: no alas uf ruzijhen miB vatseilt mi —un dan vi ra niE sin hinkoma no u 142 *ydaabHoe no van 19 als hab 143 fEtse'lt uf daitj no maxt main 144 * Boaa no mama du — uf ruzij 145 hadB-s imB gsa: xt *mbi 146 paszoeapueaeuib, mate cmciuho 147 cmanoeumca — das 19 uf daitj 148 fBtseila tu *eom so kins sin des 149 150 I: ja 151 152 L: un jetsBt daee kan Jun so: fil daitja 153 vaendn — *ecAU oh müdem 154 cemac e lunony hav-i9 gsaxt *£My 155 jiezKO 6ydem, ecm oh mojibtco ne 156 npoiu.aenaem odm ypoK hav-i9 157 gsaxt 158 159 l vi: *oduH ypoK 160 161 L: van-B net hor9a tu: t — van b net 162 hor9t glai ei 163 *meua van-B-s net vBjteit nina 164 *ece oh omcmanem *eom so u is 165 des an kaenl — avB dseB is *ywAbtu 166 dasB kan gra: d *eom i9 sits un 167 vBtseU-s un kan-B-s alas minanB 168 **nepeeodud 169 no I: ja 171 172 L: ja - *eom so u an / an *naMamb 173 hat d£BB. russisch und auch dabei gleich das Deutsche. *Doch gleich wie ich von *Tjumenj da hergezogen in / na alles auf russisch. Meine Kerls, die haben nicht ein Wort auf deutsch gekonnt. Weil ihr unter Russen wart? Na alles auf russisch haben wir erzählt. Und dann, wie wir sind hingekommen nach *Udalnoje, dann wenn ich als habe erzählt auf deutsch, dann macht mein *Vova [Personenname]: na Mama, du auf russisch hat er's immer gesagt *du sprichst, es ist so komisch. Daß ich auf deutsch erzählen tu, *also so Kinder sind das. Ja? Und jetzt, der kann schon so viel deutsche Wörter. *Wem er jetzt in die Schule geht, habe ich gesagt, *er wird es leicht haben, wenn er nur nicht versäumt eine Stunde, habe ich gesagt. Wie *eine Stunde? Wenn er nicht horchen [gehorchen] tut. Wenn er nicht horcht [gehorcht], gleich ein *Thema, wenn er es nicht versteht. Nina *Schluß dann bleibt er zurück. *Also so ist das ein Kerl. Aber der ist *pfiffig, der kann gerade, *also ich sitze und erzähle es und kann er es alles miteinander [zusammen] **übersetzen. Ja? Ja. *Also so ein / so ein *Gedächtnis hat der. 173 Kommentar Z. 1: vi: -dE said do has s komo „wie ihr seid dahergekommen" Wie steht dialektal für std. als. Der bei wied angehängte Dental ist eine redundante Realisierung der Flexionsendung der 2. Pers. PI. („falsche Verdopplung“ Auer 1990, 58). Die Wortstellung weicht von der in std. üblichen Wortstellung in Fragesätzen ab. Das Partizip von kommen ist ohne das Präfix gegebildet und zeigt am Ende n- Apokope, eine für das Rußlanddeutsche und für viele ober- und mitteldeutschen Dialekte typische Erscheinung. Ebenso: gayd (12, 123), va: rd (23), vaibja (24), fa: ra (75), miza (75), nema (114). Z. 2: saido „seidihr" Das unbetonte nachgestellte Pronomen ihr kontrahiert mit dem Verb Ebenso: va: de „wart ihr “ (29). Z. 3: nosi „nach" Verdumpfung von std. a = dial. o. Ebenso: gfro u xt (19), mo: l „mal" (125). Z. 5: not „nachher, dann" Kontraktion mit Verdumpfung und Kürzung des Stammvokals von nachert > nochert > nocht > not. Vgl. auch Zeile 127: mwt. Häufig im Südwestdeutschen, vgl. Pfälzisches Wörterbuch V, 12ff. Z. 8: douhte: komo „daher-, hierhergekommen" Diphthongierung von o: > o", typisch für das Rußlanddeutsche. Im deutschen Sprachgebiet ist dieses Phänomen vor allem im ost-, süd-, und rheinfänkischen Dialektraum bezeugt, s. Wiesinger (1970, Karte 8). Ebenso: mo^ndax (13), do« (52). Paralell dazu läuft die Diphthongierung e: > ei, ge‘t (49), le'bax (49), ve'fa (59). Z. 11: miß hcn " wir haben“ Umlautvariante zu mhd. hän, die in rhein- und südfränkischen Dialekten verbreitet ist, vgl. Pfälzisches Wörterbuch III, 542; Badisches Wörterbuch II, 517. 174 Z. 11: Z. 12: Z. 12: Z. 12: Z. 14 Z. 14: Z. 15: Z. 15: **Ka6uHema (kabmets) „Büros", wörtl. Kabinette. Deutsch-russische Mischform mit deutschem Pluralsuffix -a Das Wort wird auch in autochthon russischer Form *Ka6uHembt (kabmety) (18) verwendet. dorig „durch" Reguläre Senkung von u> o vor r. Ebenso Zeile 19. da ouvand „der/ den Abend" Gemeinschaftskasus Nom.-Akk. Spirantisierung des intervokalischen bzw. postliquiden b m v. Ebenso: nive (36), siva (44), drivs (45), halva (67), ave (77), arvait (86), selve (106), hav-ig „habe ich" (111). da anra ta: x „der/ den andere(n) Tag" Assimilierung von nd/ nt > n. Ebenso: kine „Kinder" (148). ha-di: li: na „ hat die Lina..." Personenname wird mit bestimmtem Artikel gebraucht. Ebenso: delvira (124, 128). di: n|tax „Dienstag" ^-Palatalisierung vor t. Ebenso: seeft (25). **npocuüt (prosijt) aig „bittet euch" **npocuüt (prosijt) aig: Deutsch-russische Mischform mit / -Suffix der 2. Pers. PI. Übertragung der Reflexivität aus dem Russischen: sich bitten. Vergleichbare dt.-russ. Mischformen mit / -Suffix sind: **omMenaüt (otmecajt) (49), **omnpa6Jinüt (otpravljajt) (51), **ycneeaüt (uspevajt) (59). Ebenso: Deutsch-russische Mischformen mit -a-Suffix (Infinitiv, Pluralformen der Verben): **ympaM6yüa (utrambujd) za-s „feststampfen sie es" (113), **nepeeodud (perevodija) „übersetzen" (Inf.) (168). hae: n n-za: riant „her in Saarland" Auslassung des Artikels vor Saarland, durch den Einfluß des Russischen. Ebenso: an aldi „ in den Aldi “ (83). 175 Z 16: n-dem land " in das Land Mischung der Kasus Dativ vs. Akkusativ. Vergleichbar: une di: vox „unter der Woche“ (35), nox di ki: „nach den Kühen“ (82), hai di daitfa „bei den Deutschen“ (112), uvn ho“/ „auf dem Hof“ (117), ge'ga da elvira „gegen die Elvira “ (123). Z. 17: vi me di gandzo *Ka6unembi (kabinely) sin imn dori^gaip „wie wir die ganzen Büros sind immer durchgegangen “ Keine Verbendstellung im Nebensatz; typische Erscheinung im Rußlanddeutschen. Ebenso: bis di tsvai ta: x rom sin garja (34f ); *aglai vi ig binfon *TroMeHb (Tjumen) dou hie: t? gatso u ya (133f); vi.ra me sin hinkoma (141); no van ig als habfetsedt ufdaitf (142f ). Z. 19 gfrouxt" gefragt Im unbetonten Präfix wird -esynkopiert. Ebenso: gsa.xt (23), gse.a (102). Z. 19 vu: ro-mie naus vela „wo wir hinauswollen “ Der Einschub des ra ist wohl artikulationsphonetisch begründet. Ebenso vi: ra-me „wie wir“ (22), vi: r-ig „wie ich“ (37). Die Form vela (zu mhd. wellen) findet sich ebenfalls im Westmitteldeutschen, vgl Pfälzisches Wörterbuch, Karte 440. Z. 22: da letjta *Ka6uHem (/ cabinet) „Der letzte Kabinett (Büro) “ Der Russizismus wird mit dem bestimmten deutschen Artikel verwendet, wobei das Genus der russischen Vorlage entspricht. Z. 24: des vaibja „das Weibchen “ Weib ist generelle Geschlechtsbezeichnung für weibliche Personen. Diminutivgebrauch vermutlich durch den Einfluß des Russischen begründet. Z. 26: tud-aif ** L omMe l iaüa (otmecaja) „tut euch anmelden“ Deutsch-russische grammatische Mischform, dt. tut + russ. Infinitiv (mit dt. Infinitivendung). Häufig im Rußlanddeutschen. Auch mit Modalverben: must ma **ycneeaüa (uspevaja) (78), kan-n-s alas minann **nepeeodua (perevodija) (167f ). 176 Z. 32: gvsst „gewesen“ Das Partizip von sein in der Form gewest ist u. a. im Rhein- und Südfränkischen verbreitet, vgl. Pfälzisches Wörterbuch, Karte 346. Z. 33: di **naeK3 (lavks) „die Verkaufsbude", russ. Jiaeica (lavka) Russizismus mit deutschem Artikel entsprechend dem russ. Genus, mit auslautendem wortbildendem -e für Feminina. Ebenso: **6o/ ibnuu,3 (bol’nicd) (37). Z. 35: di vox „die Woche" Apokope des auslautenden -e. Ebenso: tsvai ta: x „zwei Tage" (34), ftund (65). Z. 36: si-mB „sindwir" Kontraktion des enklitischen Pronomens mit Assimilation sin-me > sime. Idiolektal findet sich auch: sind-nw (5, 10, 43). Z. 36: nivB „hinüber" Entrundung y > i, mit Spirantisierung des intervokalisehen b. Weitere Entrundungen: driva „drüben" (45), mizs „müssen" (75), finf „fünf" {16), ki: „Kühe" (95). Ebenfalls Entrundung o > e: gagve'nt „gewöhnt" (131), vseede „Wörter" (152,). Ebenfalls Entrundung oy > ai: hait „heute" (85), ha: i „Heu" (107), daitjd „Deutsche “ (112). Z. 39: di *epeMfi (vremja) Russizismus mit Anpassung des Artikels an deutsch Zeit, *epeMfi (vremja) ist russ. Genus n. Z. 40: JaervE „schärfer" Die Bedeutung „schnell“ für scharf findet sich heute vor allem in hessischen Mundarten, vgl. Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch III, 97. Z. 43: da morant „ der/ den Morgen “ Das auslautende epenthetische -t findet sich im Westmitteldeutschen ebenfalls häufig, vgl. Pfälzisches Wörterbuch IV, 1422. Der Guttural 177 Z. 45: Z. 45: Z. 46: Z. 52: Z. 56: Z. 57: Z. 60: ist über eine Spirantisierungsstufe geschwunden: moryand > maraud. Ebenso: if sa: „ich sage “ (77). Jun „schon" Hebung von o > u vor Nasal sin „sein" Der Infinitiv des Hilfsverbs sein in der Form sin findet sich in verschiedenen Teilen des Westmitteldeutschen, vgl. Pfälzisches Wörterbuch VI, 40. gluBt „gelurt=abpassen, warten" Partizip zu einem Verbum mhd. lüren, das zu nhd. lauern gehört. Südhessisches Wörterbuch IV, 449; Wörterbuch der elsäss. Mda. I, 608; Pfälzisches Wörterbuch IV, 1073. ha.nhof „Bahnhof" Entlehnung aus dem Hochdeutschen. *oü (oj) „ach" Interjektion aus dem Russischen. Interjektionen, gesprächssteuernde Partikeln werden häufig aus dem Russischen übernommen: *aadHO (ladno)(57), *u mo (i to) (58), *KaKOÜ-mo (kakoj-to) (76), *ho (no) (77), *xonw 6bi (chotja hy) (95), *a (98), *eom (vot) (148, 164, 166, 172), *npaeuAbHO (pravU’no) (130). *nepecadtcu (peresadki) gmaxt „ Umsteigungen gemacht" Teillehnübersetzung; das erste Element ist in russischer Form verblieben, während das zweite ins Deutsche übersetzt ist. Umgekehrt: vi-s *noAoatceHO (polozeno) (105f). *Mbt ne ycnenu (my ne uspeli) „ wir haben es nicht geschafft" Code switching-Sequenz. Ebenso: *Moatcem ece-paeno (mozet vse-ravno) (91f). *mbt pazeoeapueaeuib, mate cmciuho emauoeumen (ty razgovarivaes’, taksmesno stanovitsja) (145ff). *eaiu oh noüdem cemac e utKony hav-i? gsaxt *eMy jiezKO öydem, ecMt oh mojibKO ne npouißenaem odm ypotc 178 (esh on pojdet sejcas v skolu ... emu legko budet, es/ i on toi'ko ne proslepaet odin urok) (153ff ). *ece oh omcmaHem (vse on otstauet) (164) Z. 65: a gandzi Jtund „ eine ganze Stunde “ Der Erhalt des vollvokaligen -/ im Auslaut von feminin-flektierten Adjektiven ist ein Reflex des mhd. -in (ganziu) und im Westmitteldeutschen wie auch im Rußlanddeutschen deutlich ausgeprägt. Z. 68: sa yo „sagen " Spirantisierung von g > / in intervokalischer Position. Ebenso: fro u ya (91), hce: egstsouya (134). Nach Palatalvokalen oder Liquiden zu j oder g: ligs „liegen" (115), arga „arger" (122). Z. 71: 3 gandzi **cymKd (sutka) „eine ganze Tag- und Nacht-Dauer" Russisches plurale tantum, hier als Femininum mit Artikel verwendet. Z. 80: baqjt di? „ bangst dich " Semantische Sonderentwicklung, bedeutet nicht „sich ängstigen“, sondern nur „sich sehnen“. Z. 83: aldi „Aldi“ Name einer Supermarktkette. Z. 85: *(pepMep (fermer) „Farmer = Bauer, Landwirt" Entlehnung aus dem Russischen. Z. \0\: sz\ ms „sieht man" Die 3. Pers. Sing, bildet den Stammvokal nach dem Infinitiv; dies ist auch bei anderen Verben im Rußlanddeutschen häufig, z.B. nemt „nimmt", gebt „gibt", le: st „liest" usw. Z 106: seiVE tudB dox vol si? ha: i mays „selber tut er doch wohl sich Heu machen “ Wort-fiir-Wort-Übersetzung aus dem Russischen. Z. 116: un se: t ms net das di ki: hen uvn houf „ und sieht man nicht, daß die Kühe haben aufdem Hof" Verbspitzenstellung nach und. Ebenso: und maxt d-elvira (124); un kan-ü-s ahs minane **nepeeodud (perevodijd) (167f). 179 Z. \23: ha.us „drauß“ Wörtlich haußen, aus hie + außen, vgl. Pfälzisches Wörterbuch III, 724; Südhessisches Wörterbuch III, 188; Badisches Wörterbuch II, 584. Z. 127: bai-rB „Z>e/ / Tw“ Bedeutet jedoch „zu ihr"; zur Verteilung von bei und zu vgl. Pfälzisches Wörterbuch, Karte 29. Z. 131: gogve‘nt" gewöhnt Doppeltes Präfix gabei der Partizipbildung: gegewöhnt. Z. 131: vßtse'b „ verzählen “ Die Verwendung des Präfixes varstatt standardsprachlichem er- oder zerist im Rußlanddeutschen häufig, z B.: varfrr.ra „erfrieren", varraiza „zerreißen Z. 152: jetsßt „jetzt" Wörtlichjetzert, aus älterem jetzund entstanden, vgl. Pfälzisches Wörterbuch III, 1349. Z. 153: Code switching-Sequenz; vgl. Kommentar zu Zeile 60. 180 6.3 Beispieltext 2: Rußlanddeutsche Alltagssprache in Deutschland 1 I: no vu: saidn dan hin 2 3 0: no simn tsurik simc nai nox 4 *nodapKU — [...] un si hat gsagt 5 min sela ge: s sela **euöupaüa 6 *nodapKU uns vas iub zi? ka va 7 seb — no va: ro mß glovo va: ro — 8 jets [...] hat d-rouzo gsagt miß vizo 9 jo net vifi: l dazi vil — ode foß 10 fünf mark odß foß tsvandzi? odß 11 foß drai — miß vizs / miß vusto jo 12 net foß vifsl mo zu; do u 13 **6bioupaüd sei — ax hsme glaxt 14 hemß gsagt *a mu cemac no is 6ymwiKe luaMnmcKoeo foß unsn 16 menß *3aKaM‘£M — uns va: ß sou 17 gra: i? Bd3s fla: ijgle'go — so Jti: gß 18 — gro u zi Jti: gß — un va: ß / di va ro 19 dox vol net gants gra: iQßt odß vas 20 di va: rs am *u } eAorpaH dringvest — 21 no must ma za dox vol ins 22 **dyxo8K9 nox naijtela — 23 no va: ra ma hin un hae: glova *mo 24 au seb mß-s nema *mo au net 25 26 I: no hedß vol vas gaka: ft 27 28 0: no va: ra me la: r) la r) / 29 miß sin dra: i odß fie mol sime rund- 30 rum glova in das: re gants **aci6K3 31 bizi mol e: mol koma is — 32 no izi koma Jasrve / serve Jasrvß 33 *nado examt 34 ks tsait ke tsait — no hsme ax 35 Jasrvß — no hat si gaka: ft ha/ t net 36 gsea — je: dam a fla/ 37 **uiciMnancKd hat si gnuma — no 38 je: dam fa dena fij roudi do ro u di fij 39 do — laks do — no hat si gaka: ft 40 jedam a **naHKd *neneHbe — 41 je: dam kind 42 dan a *ded Mopo3 je: dam kind Na, wo seid ihr dann hin? Dann sind wir zurück, sind wir hinein nach *Geschenken. Und sie hat gesagt, wir sollen gehen, sollen **auswählen *Geschenke uns, was wir sich kaufen sollen. Darm waren wir gelaufen, waren, jetzt hat die Rosa gesagt, wir wissen ja nicht, wie viel daß sie will: Oder für fünf Mark oder für zwanzig oder für drei. Wir wissen / wir wußten ja nicht, für wieviel man sich da **auswählen soll. Ach haben wir gelacht, haben wir gesagt: *Ach wir jetzt jeweils eine Sektflasche für unsere Männer bestellen. Und dann war so geräuchertes Fleisch gelegen, so Stücker, große Stücker. Und war / die waren doch wohl nicht ganz geräuchert oder was? Die waren in *Plastik dringewesen, dann mußte man sie doch wohl in den **Heizofen noch hineinstellen. Dann waren wir hin und hergelaufen, *oh wir es nehmen sollen oder *ob nicht ? Dann habt ihr wohl was gekauft? Dann waren wir lange, lange / wir sind drei oder vier Mal, sind wir rund herum gelaufen, in diesem ganzen **Geschäft, bis sie mal einmal gekommen ist. Dann ist sie gekommen, schärfer [schneller], schärfer, schärfer, *man muß fahren, keine Zeit keine Zeit. Dann haben wir auch schärfer [schneller]. Dann hat sie gekauft, hast du nicht gesehen? jedem eine Flasche *Sekt hat sie genommen, dann, jedem von denen Fischen, roten da, rote Fische da, Lachs da. Dann hat sie gekauft jedem eine **Packung *Kekse, jedem Kind. Dann einen * Weihnachtsmann jedem Kind, 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 181 *neHeHWiUKU je: dom kind nox so **K,aH(peK un — vas hat si dan nox — *a. nox do so * 'jmo paprika do di *xpycmmu,ue do di vi *Kyicypy3a do S0I91 hat si goka: ft jeidom [.. .] un vas hat si dan nox — hafto Jim gse: o dai *nodapoK — dains hajt Jim gse a — I: kuiyo is vol a: dabai gvest ja 0: tsvai kuiyones sin dobai [...] *Hy jiaÖHO hsmn gsa: gt [...] no simn in d-anrn **JiaeK3 nai simn hin hemn Jnel gnumo un sime font — simn raus tun das: ro **/ iaeK3 hen za d **JiaeK3 Jun tsu: gmaxt [. .] no simn / vu simn dan hingaija — no hat si d **MaiuuH hingjtelt sime gaip eza — s-vaB Jun tsvai min vara Jun hurjri? — da morant so fri: s-van halb seks heme geza ghat — no hin un hjeiE *eom si het kena uns *e pecmopan ave ke tsait i? hab gsagt m-fis ue muz-i? tsshaus sai — no hav-19 gsa: gt ne: ne: ne: kom *Kyda- Huöydb das ma net gra: d / si volt nd **MaiuuH drin eza vas ka: va fon n-d **MauiUH — hemE gsa: t nei — miB kena jo eza avB si kan jo dan net eza hine / *3a pyjieM kama dox net — no hat si gsagt kom ge: a ms Jarf nai n-d pitsari: a — sime nai — no hat si je: dam pitsa **3aKa3bieaüt no hems *pa3Hbie copma gaka: ft no hems geza ghat — hat so gu: t gjmekt [...] I: no saidB lo u s gfa: ra *Kekschen jedem Kind, noch so **Konfekt, und was hat sie denn noch? *Ach, noch da so *das Paprika da, die *knirschenden da, die wie *Mais da, solche hat sie gekauft jedem und was hat sie dann noch? Hast du schon gesehen dein *Geschenk r ! Deines? Hast du schon gesehen? Kuchen ist wohl auch dabeigewesen, ja? Zwei Kuchen sind dabei. *Nun gut, haben wir gesagt. Dann sind wir in das andere **Geschäft hinein. Sind wir hin, haben wir schnell genommen und sind wir fort. Sind wir raus von diesem **Geschäft. Haben sie das **Geschäß schon zugemacht. Dann sind wir / wo sind wir dann hmgegangen? Dann hat sie die **Maschine [Auto] hingestellt, sind wir gegangen essen. Es war schon zwei. Wir waren schon hungrig. Am Morgen so früh, es war halb sechs, haben wir gegessen gehabt. Dann hin und her, *also sie hätte können uns *in ein Restaurant, aber keine Zeit. Ich habe gesagt, um vier Uhr muß ich zu Hause sein. Darm habe ich gesagt, nein nein nein. Komme *irgendwo hin, daß wir nicht gerade / sie wollte in die **Maschine drin essen, was kaufen für in die **Maschine. Haben wir gesagt: nein, wir können ja essen, aber sie kann ja dann nicht essen hinter / *am Steuer kann man doch nicht. Dann hat sie gesagt: komm, gehen wir scharf [schnell] hinein in die Pizzeria. Sind wir hinein, dann hat sie jedem Pizza **bestellt, dann haben wir Verschiedene Sorten gekauft. Dann haben wir gegessen gehabt. Hat so gut geschmeckt. Dann seid ihr losgefahren? 182 88 O: [...] dan simn gfa: r3 tsnhaus — 89 no siniE gfa: ro — henza angfarja 90 papb bis hin un hje: b — 91 iq hab mi? gra: d nunBgle: gt ghat — 92 mig vaB-s *no-mo so uf e: mol 93 siegt hav-ig gadepkt jets leig-ig mig 94 a bizl hin [ .. .] hav ig 95 mig gra: d nunBgle: gt gug ig — 96 izi fBbaigfa ra — un d-rouzo laxt 97 sitst un laxt uf dte: rs sait hivs [... ] 98 uvm *aemo6aH vaB *ede-mo 99 decxmb KmoMempoe vaB Jtau 100 gvest — no hat d-rouzs glaxt — di im Jte: 3 un miß ken3 fairs — uf eimol 102 *KUHyjiacb miB fairs ga: net / des / 103 ga net dost hin vu mB mezs — jets 104 musts mB uf selrs sait vu ds tsem 105 kilomeidB Jtau is musts mB 106 tsurik fairs - 107 108 I: ax ax 109 no O: ig hab gsagt ne: miB fairs / 111 miB suys n-anrs — veig — 112 no simB durig gfairs durig *Kaicou- 113 mo eopod gants ffemdB — bis miB 114 eimol gftins hen *HunpRMUK iz-sn ns kurtsB veig — simB rune heme-n 116 nimi gfuns — must si vide druf-do in *aemo6an must si vaide fairs 118 119 I: des vae vas 120 121 O: no no simB rausgfairs — vairs 122 me Jun do gants foens n-ds 123 **6oAbHUU,9 vairs me do Jun gvest 124 no vae ei *noeopom — volt / 125 hav-ig gsagt nei *CAedymw,uu 126 noeopom 3ae3.Rcaü un *neped 127 omuM noßopomoM geh veg ein 128 veig uf da *aemoßycHaH 129 **cmoaHK9 — un hat si gsdeijkt 130 des is ds *noeopom Dann sind wir gefahren zu [nach] Hause. Dann sind wir gefahren, haben sie angefangen babbeln. Bis hin und her, ich habe mich gerade hinuntergelegt gehabt, mich war es ^irgendwie so auf einmal schlecht, habe ich gedacht, jetzt lege ich mich ein bißchen hin. Habe ich mich gerade hinuntergelegt, gucke ich, ist sie vorbeigefahren. Und die Rosa lacht, sitzt und lacht. Auf der Seite hüben, auf der *A utobahn, war ^ungefähr zehn Kilometer war Stau gewesen. Dann hat die Rosa gelacht: die stehen und wir können fahren. Auf einmal *schau ich: wir fahren gar nicht / das / gar nicht dorthin, wo wir müssen. Jetzt mußten wir auf selbiger [jener] Seite, wo der Zehn-Kilometer-Stau ist, mußten wir zurückfahren, ach, ach! Ich habe gesagt: Nein! Wir fahren / wir suchen einen anderen Weg. Dann sind wir durchgefahren durch *irgendeine Stadt, ganz fremde, bis wir einmal gefiinden haben, *geradeaus ist ein kurzer Weg. Sind wir runter, haben wir ihn nicht mehr gefunden. Mußte sie wieder drauf auf die *Autobahn, mußte sie weiter fahren. Das war was! Dann, dann sind wir rausgefahren, waren wir schon da ganz vorne, an dem **Krankenhaus waren wir da schon gewesen, dann war eine *Kurve, wollte / habe ich gesagt: Nein! *Die nächste Kurve fahre ab, und *vor dieser Kurve geht weg ein Weg auf die *Bushaltestelle und hat sie gedacht, das ist die *Kurve, 183 bi izi do 1 - 1 uf di *cmomKd douhin *ita 132 maKoü CKopocmu — hat si? dox 133 **moponut miB hsn aiift ghat da 134 gene vasd fcldo — 135 no izi / uf o: mal se: t sa das des ne **ocmaH08K3 zi? **Komaüt mus 137 ma Jun *8bie3Dtcamb un vuhin — 138 hina koma d **MauiuH3 an un 139 fonna un da *cmon6 — mie hen so ho glaxt *3mo yotcac — s-van so: so: mi vaen za vedn gja: gt vedn dan 142 *cmon6 Kommentar Z. 3: tsurik „zurück“ Entrundung^ > i. Ebenso: fimf (10), fti: ge „Stacker" (64), hivs „hüben" (97). Entrundung 0 > e: kens „können" (66). Entrundung oy > ai: gra.igedas „geräuchertes" (17). Z. 5: min selo „wir sollen" Die Form seilen ist in Teilen des Rheinffänkisehen und weiter im Westoberdeutschen verbreitet, vgl. Pfälzisches Wörterbuch, Karte 352. Z. 5: **8bi6upaÜ3 (vybirajd) „auswählen" Deutsch-russische Mischform: russ. Infinitiv + dt. Suffix -d. Auch Zeile 13. Alternativ dazu: vgl. Zeile 137: mus ma Jun *8bie3Jicamb (vyezzat ’), hier ist das russische Verb in der Infinitivform des Russischen verwendet, also nicht integriert. Z. 6f.: vas me zig ka.va sela „was wir sich kaufen sollen “ Reflexivität aus dem Russischen übernommen (sich statt uns) Bei nw liegt Formenneutralisation zwischen der 1. Pers. PI. und und dem unbestimmt-persönlichen Pronomen man vor. Ähnlich wie in vielen dt. Dialekten, vgl. Panzer 1983a, 1173. Z. 6: ka: vo „kaufen" Monophthongierung au > a: ist sie da auf die *Haltestelle dahin, *mit solcher Geschwindigkeit. Hat sich doch **beeilt, wir haben Angst gehabt, der Gena fPersonename] wird schelten. Dann ist sie / auf einmal sieht sie, daß das **Haltestelle sich **endet, muß man schon *rausfahren, und wohin? Hinten kommen die *Autos an und vorne, und der *Pfosten. Wir haben so gelacht! *So ein Schrecken\ Es war so, so, wäre sie widergejagt, wider den *Pfosten. 184 Z. 7: no va: ra mn glovs va: r9 „dann waren wir gelaufen, waren “ Die Reduplikation von va: ra ist nach dem Russischen, das mit der Verdopplung des Verbs einen durativen, iterativen Aspekt ausdrückt (russ.: Mbl xodunu, xoöuau (my chodili chodili)). Z. 7: glovo „gelaufen" Diese Form ist auch in den Ausgangsmundarten des Rußlanddeutschen belegt, vgl. Pfälzisches Wörterbuch, Karte 273. Die Lenisierung/ > v ist typisch für das Rußlanddeutsche, auch in anderen Positionen, z. B. viza (S),fcen>p (32). Z. 9ff: jo „ja“ Verdumpfung von a > o. Ebenso do: (39), e.mol (31), manchmal mit sekundärer Diphthongierung: cfo« (12). Z. 9: odn fon fünf mark ode foe tsvandzif odn fon drai „oder ... oder ... oder“ Der Konjunktionalgebrauch in der Aufzählung folgt dem russ. Muster, auch bei anderen Konjunktionen üblich. Z. 11: min viza / min vusta „wir wissen / wir wußten “ »-Apokope, regelmäßig bei allen Flexiven auf -en, z. B. ra.ra (20), seid (24), gnumd (37), ezd (62). Z. 14: heme gsagt *a Mbl cemac no dymbuwe uiaMnaucKozo (a my sejcas po butylke sampanskogo) fon unsri mann * jükümccm (zakazem). Code switching-Sequenz, zitiert wird die eigene russische Aussage. Ebenfalls ein Zitat vgl. Zeile 33f: no izi komo JaervB JasrvE JaervB *Hado examb (nado echat ’). Im Text kommen zahlreiche Einzelwort- Code switching-Fälle vor. Vgl. Zeilen 4, 20, 40, 42, 43, 46, 49, 67, 70, 75, 80, 98f, 102, 112f, 114, 137, 140. Z. 15: foB unsri msnE „fiir unsere Männer“ Die volle Endung -i bei attributiv gebrauchten Lexemen im Plural ist in osteuropäischen Siedlungsdialekten häufiger zu beobachten. Es handelt sich hier offensichtlich um eine Weiterbildung der attributiv gebrauchten Feminina des Sing. Typus: e gu: di Fra: Weitere Beispiele: gro^zi fti.ge (18), roudifif (38), solgi (47). 185 Z. 16: so“ „so “ Diphthongierung von langem o > o“. Ebenso: gro“zi (18), ro^di (38). Diphthongierung von langem e > e‘. Ebenso: gle'gs (17), ve>g (127). Z. 17: „gelegen“ Spirantisierungg > f. Ebenso: le'g-ig „lege ich“ (93). Spirantisierung b > v: avn „aber“ (68). Ebenso: hav-ig (69), htva „hüben “ (97). Z. 17: Jti: gB „ÄKdrer" Hier ist der Vokal i auf russische Art gedehnt. Z. 20: dringvest „dringewesen“ Vgl. Kommentar Beispieltext 1, Zeile 32. Z. 22: * * dyxoeKd {duchovkd" in den Heizofen Dt.-russ. Mischform. russ. Wortstamm mit dt. Feminin-Endung -a (russ. a > dt -e). Ebenso: **AaeKd (lavkd) (30, 56, 59), **naHKd ipacka) (40), **6onbHUU i 3 (bol’nica) (123), **cmoHHKs (stojankd) (129, 131), **ocmaHoeK3 (ostanovks) (\36). Z. 23: *mo nu {to li) sein mc-s nemo *mo jtu {to li) net „ob wir es nehmen sollen oder ob nicht? “ Verwendung von russ. Konjunktionen im deutschen Satz, hier nicht übersetzt (vgl. Zeile 9). Typisch für das Rußlanddeutsche, auch bei anderen Wortarten (gesprächsteuernde Partikel, Interjektionen u. a ): *a. (45), *omo {eto) (45), *ny nadno {nu ladno) (54f.), *eom {vot) (66), *HO-mo {öo-to) (92), *3mo yvcac {eto uzas) (140). Z. 32: JtervE „schärfer“ Vgl. Kommentar Beispieltext 1, Zeile 40. In dem vorliegenden Text wird daneben schon schnell verwendet (57). Z. 36: ^„Flasche“ e-Apokope. Auch in großen Teilen des Ober- und Westmitteldeutschen. Ebenso: fif „Fische“ (38), sait „Seite“ (97), must „mußte“ (116). 186 Z. 37: gnumo "genommen" Hebung von o > u vor Nasal. Ebenso: Jun (49), fwt (58). Vgl. auch Kommentar Beispieltext 1, Zeile 45. Z. 38: no je dom fa dena fi/ ro u di do roudi fij'do — laks do „dann, jedem von denen Fischen, roten da, rote Fische da, Lachs da “ Die aus dem russ. stammende Bezeichnung rote Fische (Kpacnau pbißa (krasnaja ryba) „Lachs“) wird durch dt. Lachs erklärt. Die parallele Verwendung von alten und neuen Lexemen zeigt die Übergangsituation (Sprachwechsel) an. Weiteres Beispiel: *a nox do so *amo (eto) paprika do di *xpycmmu,ue (chrustjasäe) do di vi *KyKypysa (kukuruzd) do solfi (45ff ). Im Text werden weitere hochdeutsche Entlehnungen (Realienbezeichnungen) verwendet, pitsori.a (77), pitsa (78), ftau (99). Z. 50: haft „hast“ Palatalisierung s > f vor Dental. Ebenso: ayft „Angst“ (133) Z. 54: tsvai ku: yanes „zw/ '/ TKc/ ten“ In Fällen, in denen Sing, und PI. die gleiche Form aufweisen, besteht die Tendenz, den PI. durch ein besonderes Morphem zu markieren (Aufhebung der Formenneutralisation). Hier durch die häufig im Wolhyniendeutschen vorkommende Bildung auf -s. Diese Strategie findet vor allem bei russischen Lehnwörtern Anwendung, z.B. **/ iaeK3n3s (lavksnas) „Geschäfte“, **manK3n3s (tapkduds) „Schlappen (Hausschuhe)“. Z. 57: heme fnel gnumo un simn font „haben wir schnell genommen und sind wirfort“ Spitzenstellung des Verbs sein nach und. Vgl. Kommentar zu Beispieltext 1, Zeile 116. Ebenso: un hat si goderjkt des is da *noeopom (povorot) (129f ). Z. 64: morant „Morgen“ Vgl. Kommentar Beispieltext 1, Zeile 44. Z. 65: heme gezo ghat „haben wir gegessen gehabt “ Doppelperfekt, wird häufig als Ersatzform für das im Dialekt fehlende 187 Plusquamperfekt verwendet. Ebenso: / f hab miQ gra: d twnegle.gi ghat (91). Z. 72: n-d **MawuH (masin) drin „in der Maschine drin " Dat. Sing. vgl. Z. 72f: fon n-d **MaiuuH (masin) „für in die Maschine" Akk. Sing. Gemeinschaftskasus Dat = Akk. Vgl. Kommentar Beispieltext 1, Zeile 12. Z. 75: hine „hinter" Assimilation nd > n. Ebenso: nnne (91), anrd (111), gfnna (114), rune (115). Vgl. Kommentar Beispieltext 1, Zeile 12f. Z. 78: hat si je: dam pitsa **3aKa3bieaüt (zakazyvaji) „hat sie jedem Pizza bestellt" Dt.-russ. Mischform. **3aica3bieaüt (zakazyvajt) = russ. Wortstamm mit dt. Endung des schwachen Partizips Perfekt. Die Vergangenheitsform ist nach dem dt. Perfekt-Muster gebildet: hat **3aKa3bieaüt (zakazyvajt). Ebenso: Zeile 132f: hat si<? dox **moponut (toropit) „hat sich doch beeilt". Z. 88: gfa ra „gefahren " Synkope desVokales im unbetonten Präfix. Regulär im Rußlanddeutschen. Vgl. Kommentar Beispieltext 1, Zeile 19. Ebenso: ghat (91), gvest (100), gfnna (116). Z. 93: godeqkt „gedacht " Schwache Partizipbildung. Bes. häufig bei Verben mit sog. „Rückumlaut“, z.B. gebrennt, gekennt, gerennt, genennt u. a. Auch in den Ausgangsmundarten verbreitet. Z. 104: uf selro sait „aufselbiger (jener] Seite" Selb, selber, selbe als hinweisendes Pronomen im Sinn von „dieser, jener“ ist im Westmitteldeutschen ebenfalls gut belegt. Z. 112: simE durig gfa ro durig *KaKOÜ-mo eopod (kakoj-to gorod) „sind wir durchgefahren, durch irgendeine Stadt " Die Konstruktion durch durch entspricht dem russ. Satzmuster: npoexamb (proechatj „durchfahren", uepes (cerez) „durch". 188 Z. 129: un hat si godeqkt des is da *noeopom (povoroi) „undhat sie gedacht, das ist die Kurve “ Verbspitzenstellung: Vgl. Zeile 57. Z. 136: zi9 **Komaüt (koncajt) „sich endet“ Dt.-russ. Mischform. Reflexivität (sich) aus dem Russischen. 189 6.4 Beispieltext 3: Rußlanddeutsches Hochdeutsch 1 I: Sie haben ja, als Sie von 2 Rußland herkamen, einen 3 Sprachkurs machen müssen. 4 Können Sie davon erzählen? 5 6 S: so fil i? mig nox erinor — jou vie 7 ha bon Jpra: xkurs gamaxt axt 8 monata — i? un main man 9 tsuzaman — n-di hauptjtad za: r- 10 bryken — vi: E zint jo ftim za: rlant 11 — g-vais nigt — mm ha-des nigt so 12 Jvas: gefalan — vail di Jpra: xa / vi: b 13 ha: ban tsu hauza gajproxan doytj 14 un aux main man zo — un di doytje is Jpra: xa vac aux in di Ju: la ba uns 16 tsvai ma: l n-di voxa ha: ban vie 17 doytj gehabt — un da hab-ig 18 gale: zan un ax gejri: ban und s-hat 19 ma nigt so Jveb: gefalan — ave fi: la 20 fon unsra Jpra: xkurs di ha: ban nur 21 rusij / dena vaß-s J'vae: — und ax 22 aus po: len di aux so 23 24 I: Also aber dieser Kurs war 25 praktisch nurftir Leute, die aus 26 Osteuropa jetzt nach Deutschland 27 gekommen sind? 28 29 S: ne: das van / in unsram 30 Jpra: xkurs va: ra nun so fum 31 ka: zaxstan aus rusland aus po: len 32 un das va: e-s aux 33 34 I: Und war das so richtiger 35 Unterricht, der morgens 36 angefangen hat oder wie lang war 37 der am Tag? 38 39 S: jo u das hat angafapan firtal nax 40 axt unzB untarigt bis firtal nax tsvai 41 un das va: B-s am snda dan — Soviel ich mich noch erinnere. Ja. wir haben Sprachkurs gemacht, acht Monate Ich und mein Mann zusammen. In die Hauptstadt Saarbrücken. Wir sind ja vom Saarland. Ich weiß nicht, mir hat das nicht so schwer gefallen, weil die Sprache / Wir haben zu Hause gesprochen deutsch, und auch mein Mann so. Und die deutsche Sprache war auch in die Schule bei uns, zweimal in die Woche haben wir Deutsch gehabt. Und da habe ich gelesen und auch geschrieben, und es hat mir nicht so schwer gefallen. Aber viele von unserem Sprachkurs, die haben nur russisch / denen war es schwer. Und auch aus Polen, die auch so. Nee, das war / In unserem Sprachkurs waren nur so, von Kasachstan, aus Rußland, aus Polen und das war’s auch Ja, der hat angefangen viertel nach acht, unser Unterricht, bis viertel nach zwei, und das war es am Ende dann. 190 42 und ha: ban vie aux pauza gehabt 43 und so am fry: / tukspauza vi imn 44 und van alas dabai 45 46 I: Und Sie haben ja da praktisch 47 lernen müssen sprechen und 48 schreiben auch, nicht? 49 50 S: ja ja vir ha: ban tsvai le rn ghat 51 urban und — hav-i? Jun fngesa di 52 le: rarin — das urban hat prakti/ mit 53 uns imn gejproxan und fi: les srtsedt 54 fun das le: ban n-doytjland und hat 55 aux zo: **duKma: t gamaxt un zo: 56 — abn di almut rsstjraiburj — 57 ha: ban vin fast imn regtjraibuij 58 gemaxt mi-di almut un — if vais 59 nift 15 hab ax pry: fui] gemaxt mit so mai-man un *cepmu(f)UKam un ax 61 grundbauJtain un des gip alas des 62 van gu: t 63 64 I: Und man macht am Abschluß, 65 also je nachdem wie weit man 66 kommt, eine Prüfung? Und eine 67 Prüfling heißt Grundbaustein oder 68 was? 69 70 S: kan man zslbst ve: len — 71 grundbauJtain di va 1115t zo Jve: n vi 72 *cepmu(pUKam und kont man 73 zslbst ve: len — odn baida odn aina 74 und vas: n-s ni5t so gants gu: t konta 75 hat grundbauftain gemaxt 15 vais 76 ni? t ob sa alas ala hsn gejaft das — 77 aba da le: rB hat gsa: xt 15 kan das 78 maya und ax das tsvaita maxen — 79 so hav-i^-s ax gemaxt — und-s van so ax gants gu: t 81 82 I: Ich meine, Leute, die dann in den 83 Berufgehen wollen, für die ist es 84 ja besonders wichtig, daß sie 85 relativ gut in Wort und Schrift die Sprache können und so, nicht? Und haben wir auch Pause gehabt und so eine Frühstückspause wie immer, und war alles dabei. Ja ja, wir haben zwei Lehrer gehabt, Urban und / habe ich schon vergessen, die Lehrerin. Der Urban hat praktisch mit uns immer gesprochen und vieles erzählt von das Leben in Deutschland. Und hat auch so, **Diktat gemacht und so. Aber die Almut: Rechtschreibung, haben wir fast immer Rechtschreibung gemacht mit die Almut. Und ich weiß nicht, ich habe auch Prüfung gemacht mit mein Mann, und *Zertifikat und auch Grundbaustein, und das ging alles, das war gut. Kann man selbst wählen. Grundbaustein, die war nicht so schwer wie *Zertifikat und konnte man selbst wählen. Oder beide oder eine. Und wer es nicht so ganz gut konnte, hat Grundbaustein gemacht. Ich weiß nicht, ob sie alles alle haben geschafft das. Aber der Lehrer hat gesagt, ich kann das machen, und auch das zweite machen. So habe ich es auch gemacht. Und es war auch ganz gut. 191 86 S: jou jou ha bon ghat in unsrom 87 Jpra: xkurs — vie va: r3 fast ab juip 88 l'jyto — abs vir ha: ban nox jyrioro 89 ghat und ni? t farhairatato vu voltn so vaitB leman un di bruxtan das 91 datsu: da-zi di pryfui] maxan das 92 jraiban da-zi ksna Jraibon un lc: zan 93 un ax fajte: an vas ( ? ) gafproxan 94 vaad [...] 95 96 I: Und wo Sie in Rußland waren, 97 haben Sie in der Schule auch so 98 ein bißchen Deutsch gelernt? 99 100 S: jo: tsvai jtunda in di voxa ha: ban 101 vin doytjgehabt — ha: ban vib 102 gejri: ban un galc: zan un abs 103 gejproxon un das van nox — vis 104 va: ran jo im dorf vo zi ab doytjo los va: ra deshalb vaB-s-ba uns nigt so io« — mi-di eltBn doytjgefproxan un 107 mi-di kindB / ava di kinds maini 108 sind klain un do hsn di — fajtana 109 ava niQt gejproxon — s-vb a: x avB no s-vb dox lai? tB als van ma gas in niks fafteU 112 113 I: Also es war so, daß die Kinder im [...] nur russisch gesprochen [...] 115 aber zu Hause haben Sie doch ne gehört wie Großmutter spricht und in haben doch das eine oder andere ns verstanden? 119 120 S: umbodir]t di gro: smuto hat jo nuB 121 doytj mit i: non gejproxon — si 122 ha: bon jo ni? ts ango / f-rusij 123 angevortot — abo si ha: bon abs 124 fojtano — und vi ma toxtB in di 125 Ju: b is gagaipn hiE di ersta 126 klaso no va: des gaB nigt so 127 Jvi rig vail di des hat fojtano — 128 avB des le: zon hat-si si? dan un des 129 Jpregen hat si? golaent Jaja, haben gehabt in unserem Sprachkurs. Wir waren fast alle junge Leute. Aber wir haben noch jüngere gehabt, und nicht verheiratete, wo wollten weiter lernen, und die brauchten das dazu, daß sie die Prüfung machen, das Schreiben. Daß sie können schreiben und lesen und auch verstehen, was gesprochen wird. Ja, zwei Stunden in die Woche haben wir Deutsch gehabt. Haben wir geschrieben und gelesen und alles gesprochen und das war noch, wir waren ja im Dorf, wo sie alle Deutsche waren, deshalb war es bei uns nicht so. mit die Eltern deutsch gesprochen und mit die Kinder / aber die Kinder meine sin klein und da haben die verstanden, aber nicht gesprochen. Es war auch, aber es war doch leichter, als wenn man gar nichts versteht. Unbedingt. Die Großmutter hat ja nur deutsch mit ihnen gesprochen. Sie haben ja nichts ange(fangen), auf Russisch geantwortet, aber sie haben alles verstanden. Und wie meine Tochter in die Schule ist gegangen, hier, (in) die erste Klasse, dann war das gar nicht so schwierig, weil die das hat verstanden, aber das Lesen hat sie sich dann und das Sprechen hat (sie) sich gelernt. 192 bo \.Ja und was würden Sie sagen isl bi denn das Schwierigste, wenn man 132 so kommt und Deutsch lernen will, 133 wo haben Sie sich am schwersten 134 getan? 135 136 S: Jve: B vebs va-mo must m-amt 137 gea mim / preßen vas man mi di ns byta / man braux odß van di 139 vas hen gefra: gt mi-di: za ausdryka 140 al mi-di: za un dan bajaid odB hi vas bekoman — das van Jve: a fy 142 mi? — van if nst ab vorta / miß 143 hsn jo doytj gehabt avß das vae nuB 144 zo: nift zo vi hiB — un di fi: la 145 fremdvortar das vaB am Jve: rsta da 146 hat ma zi ni? t riftif gele: zan un dan 147 hav-if-s a nox nift fajtana 148 ab — des vaB am Jve: rsta van i? m- 149 amt must ge: a bai di baho: rda so — iso ava mi di / zelbst mi da byta di 151 hen jo den * dua/ ietcm fast vi min 152 tsu hauza hen gejprochan — da van 153 des nift zu Jve: n 154 155 I: Aber so beim Ausfiillen von 156 Formularen [...] 157 158 S: odB va-ma zelbst mus dan nox 159 vas Jraiban — zo aina erkle: rui] oda 160 vas das vaB dan / *a dez-a jets 161 nox Jvi: rif foB mif do vais man 162 nift vi das riftif dan ge/ ri: ban 163 mus das mankain fe: b hat 164 odB das ma-s das net — daza-s 165 net faljfejte: an dan — dez-if bis 166 jets nox — dez-is Jvi: ri? — 167 amzonstan i? za: do mi da byte zo 168 vu if mi di naxbam hab-if fast 169 kaina Jvi: rifkaiten ghat gir) ales [... ] 170 171 I: Und haben die Kinder sich jetzt 172 schon einigermaßen eingewöhnt 173 oder ist es immer noch schwierig? Schwer war es, wenn man mußte im Amt gehen, mit dem Sprechen, was man mit den Leuten / man braucht oder wenn die was haben gefragt, mit diesen Ausdrücken allen, mit diesen, und dann Bescheid oder was bekommen (hat), das war schwer für mich. Wenn ich nicht alle Wörter / Wir haben ja Deutsch gehabt, aber das war nur so, nicht so wie hier. Und die vielen Fremdwörter, das war am schwersten. Da hat man sie nicht richtig gelesen und dann habe ich sie auch noch nicht verstanden, alle. Das war am schwersten, wann ich im Amt mußte gehen, bei die Behörden so. Aber mit die / selbst mit den Leuten, die haben ja den *Dialekt fast wie wir zu Hause haben gesprochen, da war das nicht zu schwer. Oder wenn man selbst muß dann noch was schreiben. So eine Erklärung oder was das war, dann, *ach das ist auch jetzt noch schwierig für mich. Da weiß man nicht, wie das richtig dann geschrieben (werden) muß, daß man kein Fehler hat, oder daß man es, daß nicht, daß sie es nicht falsch verstehen dann. Das ist bis jetzt noch, das ist schwierig. Ansonsten, ich sage, da mit den Leuten so, wo ich, mit den Nachbarn habe ich fast keine Schwierigkeiten gehabt, ging alles. 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 193 S: ne: ba dana niQt — visan zi zi tua tsu hauza tsuzaman Jpi: len und Jprefan zi alas doytf— da muz-if dan Jteanblaiva un mus hor^a — i: nan is jets Jun lai^tn doytf Jprcfen als rusij I: Aber am Anfang haben sie immer versucht, russisch zu reden, weil sie das ja leichter konnten? S: ja: ja: un ax im kindegarten vi zi sin garp un da hsn zi ax rusij gejproxen mi-di ertsrarin da hat za dan ime galaxt hat si gsa: gt i? kan / nein rusij als zi doytf— ave jets hat si bis jets nox ni? t rusij galemt ave mai kins [preßen Jun doytf do laxt si jets nox imn — avs i: nan is Jun / am zoma vasd-s fin ja: ra un do is Jun lai? ta i: nan doytj tsuzaman tsu drit Jpre9en als rusij un di hsn zi? ax gants gu: t aingele: bt — di hen fi: la froynda di nastja di hat — des mai toxta — di hat fast ala Jylerin in ira klasa / ( ? ) dez-in / ba dena van za Jun tsu hauza — un di sin ala ffoynden — mis gefeit das un i? bin ax gants tsufrfdan [ ] I: Aber Sie möchten wohl auch, daß vielleicht Ihre Kinder doch noch weiter Russisch behalten? S: jo: i? mo^tajo: des vasujom — aba visen zi: — di kena ni? t Jraiban di / un di / den alfabe: t kena zi aux ni? t — nur j’pre? en — da hav-i? gaza: t van zi-s bahaltan un Jprcyen — da hab-if ga: niks dage gan — aba i? hab / vib ha: ban ain Nein, bei denen nicht. Wissen Sie, sie tun zu Hause zusammen spielen und sprechen sie alles deutsch. Da muß ich dann stehenbleiben und muß horchen, ihnen ist jetzt schon leichter deutsch sprechen als russisch. Ja, ja, und auch im Kindergarten, wie sie sind gegangen und da haben sie auch russisch gesprochen mit die Erzieherin, da hat sie dann immer gelacht, hat sie gesagt, ich kann schneller russisch, als sie deutsch. Aber jetzt hat sie bis jetzt noch nicht russisch gelernt, aber meine Kinder sprechen schon deutsch Da lacht sie jetzt noch immer. Aber ihnen ist schon / am Sommer wird es vier Jahre, und da ist (es) schon leichter ihnen deutsch zusammen zu dritt sprechen, als rassisch. Und die haben sich auch ganz gut eingelebt. Die haben viele Freunde. Die Nastja, die hat, das ist meine Tochter, die hat fast alle Schülerin in ihrer Klasse / ( ? )das (ist) in / bei denen war sie schon zu Hause, und die sind alle Freunden. Mir gefällt das, und ich bin auch ganz zufrieden. Ja. ich möchte, ja. Das wäre schön. Aber wissen Sie, die können nicht schreiben, die / und die / den Alphabet können sie auch nicht, nur sprechen. Da habe ich gesagt, wenn sie es behalten und sprechen, da habe ich gar nichts dagegen Aber ich habe / wir haben ein 194 217 *6udeo(pu/ ibM gekauft am rusijes 218 meirfen — un da vae-s ins larjvaili? 219 — ha-dasB klensts hat gsza: gt if 220 fojtc; nift ales un do vaiz-if net — 221 des gfelt mir ax nift — do vaer-if 222 avB / hav-if gsaxt oje: if hab 223 gsdaxt if max i: ns froyds vas 224 rusijss — EB hat gsa: xt ne: des vil- 225 if net — dasB klainsts vaB 226 tsvaisnhalb ja: rs und hat asn fast / 227 das hat nox venif go/ proxen rusij 228 und jets abs doytj—if glaub dass 229 fsgest-s bal van viE aux aufho: ren 230 — dan is fsbai mi-dom rusijs 231 avB if meft das aux nift ha: bsn 232 233 I: Ja ich meine, wem man das ja 234 schon mal gekonnt hat und da 235 war 's ja gut, wenn man das am 236 Rande dann noch mitpflegt, denke 237 ich. 238 239 S: ja: das vffiB gut jo: [. . .] 240 241 I: Ja und die Saarländer, haben Sie 242 sich gleich gut verständigen 243 können oder war das schwierig, 244 weil die ja meistens auch Dialekt 245 reden oder wie war das da? 246 247 S: vison zi: nift ab unsro naxbarin 248 di: hav-if gu: t fn/ tandon — avs 249 velfo vanro / andoro byte di hsn 250 vas anros nox dat vat di: zas hav-if 251 net fojtana — so vi zi: gsjproxen — 252 ainigs ha: ban gants gu: t doytlif un 253 di andoro van-s dan Jnel / dan hav- 254 if / must if — bito nox ainma: l — 255 odo van if vaB neiveodran und van 256 so tsvai-drai tsuzaman tsvai drai 257 byto un hen unto zif gojproxon dan 258 hav-if fast nifts fo/ tandon — das 259 gir) Jnel un zo: — do *duajieKm 260 dan hav-if fast nifts fojtandon *Videofllm gekauft, ein russisches Märchen, und da war es ihnen langweilig. Hat der Kleinste hat gesagt, ich versteh nicht alles und da weiß ich nicht, das gefallt mir auch nicht. Da war ich aber / habe ich gesagt: Oje! Ich habe gedacht, ich mache ihnen Freude, was Russisches, er hat gesagt: nem, das will ich nicht. Der Kleinste war zweieinhalb Jahre und hat er fast / der hat noch wenig gesprochen russisch und jetzt alles deutsch. Ich glaube, der vergißt es bald. Wenn wir auch aufhören, dann ist es vorbei mit dem Russischen, aber ich möchte das auch nicht haben. Ja, das wäre gut, ja. Wissen Sie, nicht alle, unsere Nachbarin, die habe ich gut verstanden. Aber welche waren / andere Leute, die haben was anderes noch, „dat, wat". dieses habe ich nicht verstanden, so wie sie gesprochen (haben). Einige haben ganz gut, deutlich, und die anderen, wenn es dann schnell, / dann habe ich / mußte ich: „Bitte, noch einmal 1 '. Oder wenn ich war nebendran und war so zwei drei zusammen, zwei drei Leute und haben unter sich gesprochen, dann habe ich fast nichts verstanden. Das ging schnell und so, der *Dialekt. dann habe ich fast nichts verstanden. 195 261 jo jo abo va-ma tsuzamen tsu tsvait 262 un da dan da\tligo 263 larjzamR [ | Ja, ja aber wenn wir zusammen, zu zweit (waren), und da (war es) dann deutlicher, langsamer. Kommentar Z. 6: erinor „ erinnere' ‘ Wie im Dialekt e-Apokope, 1. Pers. Sing. Das Wort ist aus dem Hochdeutschen übernommen, mit Apokope an die Mundart angepaßt. Weitere Beispiele für Apokope 1. Pers. Sing.: / f max (223), me0 (231). Z. 6: jou„7Uf'‘ Verdumpfung von a > o, hier mit sekundärer Diphthongierung o: > ou. Zum Teil ist diese Verdumpfung nicht mehr durchgefuhrt, es existieren Varianten. o-Varianten: y'o(10, 104, 120, 122, 210); rfo (161, 192, 194). a-Varianten: ja (50, 185, 239); da (145, 213); gefragt (139); ja: ra (194, 226), ainma.l (254), fpra.xa (12); nax (40). Z. 7: habon „haben" Lexikalische Varianz zwischen ha. ban und hsn, wobei in diesem Text hen öfter verwendet wird. Beispiele: ha: ban (86, 88, 101, 123) hen (108, 139, 143, 151, 152, 186, 196, 249, 257). Z. 7: gomaxt ./ gemacht “ Die im Dialekt übliche Synkope des e im Präfix wird unter dem Einfluß des Hochdeutschen teilweise unterlassen. Außerdem finden sich Hyperkorrektismen als deutlich ausgesprochene e-Artikulationen. Beispiele: gamaxt, gemaxt (7, 59, 74); gefalan (12); gefafl (75); gefra.gt (139), gehabt (\1, 101). Mit Synkope: gsa.xt (76), ghat (86, 89, 169). Z 8: monato "Monate'‘ Keine e-Apokope im PI., wie im Standarddeutschen. 196 Z. 9f.: n-di hauptjtad za: rbryken „ in der Hauptstadt Saarbrücken “ Verwendung des Akk. in der Dativflinktion. In diesem Text weitgehend wie in der Mundart durchgehalten, z. B.: in dt fu.ls „in der Schule “ (15); fan das le. bsn „ von dem Leben “ (54); in di vox3 „ in der Woche " (100); mi di hyta „mit den Leuten“ (137f ); mi-di: zd ausdryka „mit diesen Ausdrücken “(139); Weitere Belege s. Zeilen 19, 58, 106, 107, 148f„ 149, 163, 168, 187. Z 9f.: za: rbryken " Saarbrücken' ‘ Entrundungen werden teilweise rückgängig gemacht: Entrundungy/ i: jyrjsrs (88), / >' mig (141f ). Entrundung 0/ e: Join (210), aufao.rdti (229), voetd (142). Entrundung oy/ ai: doytf (13), hytd (88, 249), froydd (223), doytlig (252). Teilweise werden Wörter sowohl mit gerundetem als auch entrundetem Vokal ausgesprochen: mogta (210), aber ig megt (231). Teilweise ist Entrundung erhalten: ksna (211,212). Aus dem Hochdeutschen entlehnte Wörter werden ohne Entrundung gebraucht: fry: ftukspauz3 (43), pry: fur) (59), ausdryka (139), bdhorda (\49),froynd3 (\9S),fy: larin (200). Z. 10: vi: n „wir“ Lexikalische Varianz, hd. wir und dial. mir. Beispiele: vi: e (6, 87, 101,216), mir? (151). Z. 10: fum „vom“ Variation w/ o bei Senkung/ Hebung ist vereinzelt belegt: / «/ » (54), aber fon (20); vu: (89, 168), aber vo: (104). Z. 11: nigt „nicht“ Lexikalische Varianz nigt, dial, net, niks häufig nebeneinander, z. B. 142, 220. 197 Z. 11: des „das" Lexikalische Varianz des das. Entgegen der Mundart, die nur des kennt, finden sich unter hd. Einfluß hier oft «t/ .v-Formen, Zeilen 75, 90, 103, 141, 143. Z. 12: Jpra: x9 „Sprache“ Die in der Mundart typische c-Apokope bei femininen Substantiven wird hier nicht mehr angewendet: fu: h (15), voxa (16, 100), klasa (126). Z. 14: mx „auch" Die im Dialekt mit Monophthong a: gebrauchten Wörter werden unter dem Einfluß des Hd. mit au realisiert: gekauft (217), glaub (228). Nur aux und ax zeigen Variation 14, 55, 212, 229, 59, 77, 78, 109, 197, 221. Z. 17: hab-ig „habe ich" Die Spirantisierung unterbleibt unter dem Einfluß des Hd. zum Teil: abe (56, 211, 216 u. a), gefri.ban (18), fraiban (92), aber: fteanblaiva (177), ave (143, 150, 190, 193, 222 u. a.). Z. 30: vsl.ts „waren" Die «-Apokope bei Verben wird zum Teil beibehalten: maya (77), kena {92), faftana (124), tu: a (174). Aber: gefproxan (53), velan (69), bruxten (90), fraiban (92, 211), lernan (90), fpreqan (137). Beide Varianten kommen auch im gleichen Satz nebeneinander vor: moya maxen (77) und va: ra/ va: ran (104f ). Z. 42: und ha bon vin aux pauza gehabt „ und haben wir auch Pause gehabt “ Die im Dialekt vorkommende Verbspitzenstellung nach und wird beibehalten. Ebenso: undkont man zelbst ve: len (71f ); visan zi zi tua tsu hauza tsuzaman fpitlen und fpregan zi alas doytf (174fr.) Spitzenstellung des Verbs ohne und: ha.ban vie fast ime rsgtfratburj gemaxt (57f). kan man zelbst ve. len (69). 198 Z. 5 5: * * dunrna: t (diktat" Diktat “ Internationalismus, d wird palatalisiert > dj wie im Russischen. Weitere Internationalismen: *cepmu(pUKam (sertifikat) (71), *duajieicm (dialekt) (151, 259), *eudeotpUAbM (videofil'm) (217). Z. 57: fast ..fast" Zahlreiche, in der Mundart gängige Wörter werden durch hd. Entsprechungen ersetzt. Beispiele aus diesem Text: fast (57) fur dial, baina „ beinahe “ fprechan (13) für fetseda „erzählen" fnel (189, 253) fur dial, farf„scharf ‘ deshalb (105) für dial. dasdave: gat „desderwegen“ di: za (139) für dial, sela „selbige " hi: e (125) für dial, dou „da" bakoman (141) statt dial, knqa „kriegen" Z. 69: zdbst „selbst" Im Dialekt übliche Palatalisierungen s > f vor Dental werden nicht realisiert, statt dessen hd. Lautstand in: ersta (125), amzonstan, dial. sunft (\67). Z. 72: ode baida odn aina „oder beide oder eine “ Übersetzung von russ. Konjunktionen. Vgl. Kommentar Beispieltext 2, Zeile 23f. Z. 90: bruxtan" brauchten ‘ ‘ Mundartliches bnata wird mit dem hochdeutschem Flexiv -en an das Standarddeutsche angepaßt. Z. XOl.Vhnfa „Kinder" Die dial. Assimilation nd > nn bleibt aus. Ebenso: feftandan (248), andara (249, 253), unta (257). Aber: kinv (191), faftana (108, 124, 147), anras (250). Variation auch im gleichen Satz nebeneinander, vgl. 249-250. Z. 107: maini „meine (Kinder)" Zur Endung -/ vgl. Beispieltext 2, Zeile 15. 199 Z. 124: und vi ma toxtt? in di Juda is gogatpn „und wie meine Tochter in die Schide ist gegangen" Im Gegensatz zum Hd. keine Endstellung des finiten Verbs im Nebensatz. Diese auffällig vom Hd. abweichende Wortstellung ist großenteils auf die russ. Syntax zurückzufuhren, aber auch wie im Fall des relativen Anschlusses (yu voltn vaite lenidn Z. 89f.) auf die Ausgangsdialekte. Beispiele für abweichende Syntaxphänomene: ob S3 ahs ata hen gefqft das (75) vu voltn vaite lernan (89f.) vaü di des hatfdftand (127) va-ma must m-amt ge a (136f) van di vas hen gefra.gt (13 8f.) van ff m-amt must ge: a (148f.) va-ma zelbst mus dan nox vas fraiban (158f.) vi zi sin gaya (185f.) van ig vae neiveadran (255). Z. 128: un des Jpre^en hat sig golasnt „ und das Sprechen hat sich gelernt “ Gebrauch des Verbs lernen mit der ins Dt. übersetzten Reflexivpartikel (sich), russ. Humamb Haymnacb (ätat ’ nauälas ’). Z. 142: min hen jo doytj gehabt „wir habenja Deutsch gehabt “ Dialektal-standarddeutsches Code switching. Die erste Hälfte des Satzes ist rein dialektal, der zweite rein hochdeutsch. Z. 177: Jfe3nblaivo „stehenbleiben" Dialektal-standardsprachliches Mischwort, eine Komponente mit, die andere ohne «-Apokope. Erhalt der Spirantisierung in bleiben. Z. 178: i: non is jets Jun laigtn doytj Jpregen als rusij „ihnen ist jetzt schon leichter deutsch sprechen als russisch “ Konstruktion nach russischem Vorbild. Typische Wort-für-Wort- Übersetzung (ihnen stattfür sie). Z. 202: gefeit „gefällt" Anpassung des dial, gfalt an das Hochdeutsche. 200 Z. 202: froynden „Freunde“ Hyperkorrekte Pluralendung; falsches Rückgängigmachen der w-Apokope. Z. 219: klsnst9 „kleinste“ Auf mhd. ei zurückgehendes ei wird in der Mda. sporadisch zu e, £ monophthongiert und ist hier realisiert, aber es finden sich auch Anpassungen an das Hd.: klainsta (225). Z. 223: godaxt „gedacht“ Anpassung des dial, gaderjkt an das Hochdeutsche 201 7. Sprachliche Anpassung unter Gesichtspunkten des Sprachwandels 7.1 Zum theoretischen Rahmen Die in den vorausgehenden Kapiteln beschriebenen Phänomene sind zum großen Teil Phänomene des Sprachwandels. Nicht bei allen behandelten Einzelphänomenen konnte jedoch Wandel festgestellt werden; da aber in allen Zusammenhängen die bewußte oder unbewußte sprachliche Anpassung der Rußlanddeutschen an ihre neue sprachliche und soziale Umgebung das übergreifende Thema war, standen stets Veränderungen und Wandelphänomene im Mittelpunkt der Betrachtung. Bei den Beschreibungsversuchen sind dabei immer schon implizit Sprachwandeltheorien benutzt worden, vor allem solche, die methodisch auf Sprachsystemvergleiche abheben (vgl. z.B. Lüdtke 1988). Es liegt auf der Hand, daß die Veränderungen, die das dialektale Rußlanddeutsch bei den Aussiedlern in den Jahren nach der Aussiedlung erfahren hat, zunächst einmal als Sprachsystemwandel deskriptiv erfaßt werden kann. Interessanter als die Systemwandelfragen so grundlegend und methodisch wichtig sie für deskriptive Bestandsaufnahmen sein mögen sind aber vielleicht noch Fragen nach der Erklärbarkeit und nach der linguistisch-soziologischen Interpretierbarkeit von einmal festgestellten Veränderungen sofern gängige Sprachwandeltheorien überhaupt über Probleme der Deskription hinausgehen und Erklärungsversuche in den Blick nehmen. Im folgenden sollen nun nicht alle möglichen Sprachwandeltheorien im Hinblick auf Erklärungsmodelle untersucht und für die sprachliche Anpassung der Rußlanddeutschen herangezogen werden. Vielmehr soll (in relativ bescheidenem Rahmen) versucht werden, die Invisible-Hand-Theorie bzw. die Evolutionstheorie des Sprachwandels für die Erklärung der in den vorhergehenden Kapiteln beschriebenen Phänomene fruchtbar zu machen (vgl. Keller 1990). Dies bietet sich meines Erachtens deswegen an, weil das Invisible-Hand-Design in besonderer Weise die ökologischen Umfeldbedingungen bzw. die Intentionsfelder, aus denen heraus Sprachwandel entsteht, zum Mittelpunkt der Betrachtung macht. Ich hoffe, daß die Ausführungen in diesem Kapitel einen solchen Versuch rechtfertigen. Die Invisible-Hand-Theorie bzw. Evolutionstheorie des Sprachwandels, so wie sie von Keller (vgl. Keller 1990) konzipiert worden ist, ersetzt bekanntlich in keiner Weise herkömmliche bzw. traditionelle, deskriptive, strukturalistisch oder auch anders fündierte Untersuchungen des konkreten Sprachwandels. Sie stellt traditionelle Darstellungen lediglich in einen größeren Rahmen; d.h., es 202 handelt sich in gewisser Weise um eine Metatheorie, die das Ziel hat, den Zusammenhang zwischen den individuellen Sprachhandlungsintentionen der einzelnen Sprecher/ innen einerseits und dem makrostrukturell festzustellenden Sprachwandel andererseits zu explizieren. Es ist banal, festzustellen, daß Sprachwandel letztlich auf die Sprachhandlungen einzelner Sprecher zurückzufuhren ist und daß alle Sprecher (schon qua Definition dessen, was man unter einer Sprachhandlung versteht) intentional handeln. Ebenso banal ist es, festzustellen, daß die Intentionen der einzelnen Sprecher (z.B.: „Handle erfolgreich! “) überhaupt nicht darauf ausgerichtet sind, einen (makrostrukturell feststellbaren) Sprachwandel herbeizufuhren. Es liegt nicht in der Absicht der Sprecher, einen Sprachwandel zu produzieren. Das Design der Invisible- Hand-Theorie über den Sprachwandel zielt darauf ab, die Distanz zwischen den individuellen Sprachintentionen und den linguistisch feststellbaren Sprachwandelergebnissen zu überbrücken. Die Invisible-Hand-Theorie erreicht das auf folgende Weise: 1. Sie nimmt an, daß sich die Intentionen der einzelnen Sprecher unter bestimmten, generalisiert zu formulierenden Maximen zusammenfassen lassen, z.B.: „Handle so, daß Du in Deiner sprachlichen Umgebung nicht auffällst! “ 2. Die Befolgung solcher Maximen (bewußt oder unbewußt) fuhrt zu bestimmten Trends in der Sprachentwicklung, z B. werden bestimmte Ausdrucksweisen bevorzugt, andere Ausdrucksweisen werden vermieden 3. „Wie mit unsichtbarer Hand“ (Invisible-Hand-Prozeß) führt die Maximenbefolgung zu einem Sprachwandelprozeß und zu einem Sprachwandelergebnis, das linguistisch und makrostrukturell feststellbar und beschreibbar ist. Mich interessiert im Rahmen des angedeuteten Theoriedesigns der Zusammenhang zwischen individuellen Sprachhandlungsmaximen und deren Folgen für die Sprachentwicklung. Ich möchte im folgenden keinen Beitrag zur Weiterentwicklung der Invisible-Hand-Theorie des Sprachwandels leisten. Vielmehr möchte ich die Invisible-Hand-Theorie nutzen, um meine Erfahrungen mit den Handlungsmaximen der Rußlanddeutschen in die Erklärung des Anpassungsprozesses, der Gegenstand dieser Arbeit ist, einzubringen. Für mich ist augenfällig, daß die Sprachveränderungen, denen die Sprache der Rußlanddeutschen in ihrer neuen Heimat unterliegt, tatsächlich einen Zusammenhang mit individuellen Handlungsmaximen haben. Diesen Zusammenhang möchte ich im folgenden erläutern. 203 7.2 Allgemeine soziale und sprachliche Maximen Der allgemeine sozial-ökologische Erklärungsrahmen, der durch das Design der Invisible-Hand-Theorie eröffnet wird, ist gekennzeichnet durch die Konstruktion eines Zusammenhangs zwischen sozialen Handlungsweisen und sprachlichen Handlungsweisen. Es gibt allgemeine soziale Handlungsmaximen, die sprachliche Handlungsweisen wenn nicht determinieren, so doch in der zum Teil auch bewußten - Perspektivierung von Handlungszielen und Sprachverwendungsmustem bestimmen. Keller (1990, 138) nennt eine Supermaxime des sozialkommunikativen Handelns: „Rede so, daß du sozial erfolgreich bist“. Diese allgemeine Maxime gilt sicher auch für das sozialsprachliche Handeln der Rußlanddeutschen. Unter dem zum Teil bewußten, zum Teil intuitiv gespürten Anpassungsdruck, unter dem die Rußlanddeutschen in ihrer neuen Umgebung stehen, spezifiziert sich diese Generalmaxime zu der normativen Regel: „Verhalte dich möglichst so wie die Einheimischen“. Diese Regel wird von den Rußlanddeutschen zum Teil auch bewußt befolgt und entsprechend artikuliert. In den Interviews zum soziolinguistischen Teil dieser Arbeit (Kap. 3) gibt es zahlreiche Hinweise auf eine bewußte Befolgung dieser Regel. So äußern die Rußlanddeutschen etwa folgende Wünsche und Ziele: - Ich bemühe mich sehr, höflich, aufmerksam und zuvorkommend zu den Leuten zu sein, mit denen ich arbeite. Ich möchte so höflich sein wie die Deutschen. Ich will so selbstbewußt und unabhängig werden wie die deutschen Frauen. - Ich möchte mich an das Tempo des Lebens und des Gesprächs anpassen (hier wird schneller gesprochen). Mir gefällt, wie die hiesigen Deutschen sich zueinander verhalten und wie freundlich sie sind, das möchte ich mir auch aneignen. - Ich möchte meine Freizeit so verbringen können wie die Deutschen das tun (Radtouren und Wanderungen machen, Essen gehen lernen usw.). - Die deutschen Frauen schminken sich nicht, aber sie pflegen sehr ihre Frisuren und geben dafür viel Geld aus. Für mich ist das zu teuer, aber ich möchte meine Frisur auch so pflegen können und so aussehen wie die deutschen Frauen. Es wäre gut, so sicher und selbstbewußt zu werden wie meine Kollegen. 204 Ich habe gemerkt, daß alle deutschen Männer Hobbys haben und in einem Verein sind. Das möchte ich auchfür meinen Mann. Ich möchte meine Kinder auch so erziehen wie die Deutschen das tun. Die deutschen Kinder haben mehr Aufmerksamkeit von Erwachsenen. Die Kinder werden als Erwachsene behandelt. Das gefällt mir. Die Leute nehmen ihre kleinen Kinder in die Kirche mit, und wenn die Kinder dort laut weinen, so werden sie nicht zur Ordnung aufgefordert. Niemand sagt, das Kind soll aufhören zu weinen und sich ruhig verhalten. Die Kinder hier sind nicht nervös, reagieren auf ein Gespräch, fügen sich leicht, sprechen ihre Meinung aus und haben keine Angst vor Fremden. Ich möchte, daß die rußlanddeutschen Kinder auch so sind. Mir gefällt, daß die Deutschen viel Blumen und verschiedene Kleinigkeiten in ihren Häusern haben und daß sie viel Obst und Gemüse essen und viel Kräuter verwenden, wenn sie kochen. Ich bemühe mich sehr, das so ähnlich zu machen, wie ich es bei meinen bekannten Deutschen gesehen habe. Das folgende Beispiel aus den Interviews illustriert konkret die Anpassungsperspektive der Rußlanddeutschen: Beispiel 1 (I: Interviewer; S: Rußlanddeutsche Informantin S.) I: Sie haben zur Kirche in Rußland keine Kontakte gehabt? S: Ja da warja keine Kirche. I: Da war keine und sie hatten gar keine Möglichkeit? S: Die Frauen, die älteren Frauen, haben sich mal gesammelt bei einer und haben da bißchen gebetet, so gesungen so Lieder, aber wir Jungen haben da nichts mitgekriegt. Undjetzt wollten wir uns taufen lassen. Haben gesagt, wir sind nach Deiäschland gekommen und wir wollen jetzt machen, so, wie die Deutschen das machen. Aber wir wußten ja nichts vom Glauben oder so. Und als mein Kind zur Welt gekommen ist, habe ich gedacht, es mußjetzt sein wie hier und haben wir es auch gleich taufen lassen. Nach meinen persönlichen Erfahrungen konzentrieren sich die sichtbaren sozialen Anpassungsleistungen der Rußlanddeutschen auf drei Bereiche: 205 1) Wohnraumgestaltung und -einrichtung. Wie richte ich mein Wohnzimmer ein? Was gehört zur Kücheneinrichtung? Wie gestalte ich den Vorgarten meines Hauses? 2) Persönliches Erscheinungsbild. Wie kleide ich mich am besten ein 9 Welche Frisur paßt zu meinem Typ? Brauche ich eine besondere Kleidung für Feiertage? Welche Kleidung brauche ich an meinem Arbeitsplatz? 3) Verhalten; soziale Beziehungen. Wie verhalte ich mich in einem Supermarkt? Wie begrüße ich meine Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz? Wie verabschiede ich mich? Wie eröffne und beende ich ein Gespräch mit meiner Nachbarin? Wie sind die Gesprächsregeln beim Telefonieren? Was darf ich über mein früheres Leben (wann, wo, wie) erzählen? Der erste der genannten Bereiche bietet den Rußlanddeutschen nach meinen Beobachtungen noch die geringsten Schwierigkeiten. Das hängt damit zusammen, daß a) die Wohnraumgestaltungen und die häuslichen Einrichtungen in den Lebenszusammenhängen, in die die Rußlanddeutschen in der Regel eingegliedert werden (z.T. ländliche Umgebung; wenig anspruchsvoller Lebensstil), relativ normiert, gut beobachtbar und relativ leicht nachahmbar sind und b) die Rußlanddeutschen in diesen Gestaltungsräumen relativ gut ihre mitgebrachten praktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten einsetzen können. - Zum Punkt 2): Die Rußlanddeutschen entwickeln nach meinen Erfahrungen relativ schnell vielleicht sogar erstaunlich schnell einen scharfen Blick für das Erscheinungsbild der Deutschen in der neuen Umgebung. Dieser Blick richtet sich vor allem auf die Kleidung, die Körperpflege und die Stilisierung des persönlichen Erscheinungsbildes insgesamt. Hier geht es keineswegs nur um kurzlebige Modephänomene, die natürlich auch wahrgenommen werden, sondern vielmehr um die für die meisten Rußlanddeutschen völlig neue Erfahrung, daß das persönliche Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, aber auch in relevanten persönlichen und familiären Zusammenhängen von großer sozialer Bedeutung ist und einer bewußten Gestaltung bedarf. Man muß sich vor Augen halten, daß das äußere persönliche Erscheinungsbild in den Herkunftsgebieten der Rußlanddeutschen als völlig irrelevant eingeschätzt wurde und allein durch die ökonomischen Bedingungen bzw. konkret durch den Warenmangel diktiert war. Um ein Beispiel zu nennen: Viele rußlanddeutsche Frauen reagieren auf den Beobachtungsschock bezüglich der Frisurengestaltung und -Vielfalt, indem sie sich zunächst eine „russische“ Dauerwelle zulegen Dies ist 206 die russische Einheitsfrisur für „gehobene“ Ansprüche, die sich durch ihre chemieunterstützte Dauerhaftigkeit und Einheitsgestaltung auszeichnet; der russische Ausdruck ist entsprechend „Chimka“ (russ. xumkü). Nach meiner Beobachtung schaffen die rußlanddeutschen Frauen nach kurzer Zeit diese Chimka-Frisur dann wieder ab und versuchen, die Frisur durch eine individuelle Gestaltung (vor allem durch einen individuellen Schnitt) entsprechend ihren Beobachtungen bei deutschen Frauen in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz zu ersetzen. Das Beispiel steht für eine hohe Flexibilität und Anpassungsbereitschaft in Mode und Erscheinungsbildgestaltung. - Der dritte Komplex (Verhalten, soziale Beziehungen) bietet für die Rußlanddeutschen in der alltäglichen „Bearbeitung“ vergleichsweise die größten Schwierigkeiten, weil man sich hier bezüglich der relevanten sozialen Daten nicht an gegenständlichen Beobachtungen orientieren kann, sondern angewiesen ist auf Interpretationen von Verhaltens- und Handlungsweisen. Die kommunikative Verhaltenskultur der Rußlanddeutschen in ihren Herkunftsregionen war so kann ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen sagen durchweg und im wesentlichen durch die folgenden Merkmale bestimmt: Unmittelbarkeit, Direktheit, Konkretheit. Dies soll heißen, daß die Rußlanddeutschen im persönlichen Umgang mit anderen daran gewöhnt waren, auf unvermittelte Kenntnisse und Erfahrungen mit den jeweiligen Gesprächspartnern in relativ überschaubaren Kommunikationssituationen aufbauen zu können. Sie waren daran gewöhnt, daß ihre Gesprächspartner in wesentlichen Lebensbereichen das gesprächsrelevante Sach- und Erfahrungswissen mit ihnen teilten. Die Kommunikation war im wesentlichen sach- und gegenstandsorientiert. Für die Elaborierung von „metakommunikativen“ Beziehungsaspekten in der Kommunikation bestand wenig Notwendigkeit (Watzlawick et al. 1972). Aufgrund solcher mitgebrachter Orientierungen haben Rußlanddeutsche in ihrer neuen Umgebung beispielsweise große Probleme, an sog. Small-Talk-Kommunikationen teilzunehmen, die die Funktion haben, soziale Beziehungen (auf oberflächlicher Art) aufzubauen, zu entwickeln und zu strukturieren. So erkennen Rußlanddeutsche in einem Verkaufsgespräch in einem Lebensmittelladen bzw. Supermarkt zwar, daß sie sich in Begrüßungs- und Kennenlerngesprächen abweichend verhalten, sie erkennen aber nicht ihre eigenen kommunikativen Defizite. Oft bleiben sie stumm, wenn eine Beziehungsfloskel erwartet wird; oft verstehen sie nicht, „worüber“ eigentlich gesprochen wird, wenn sich Nachbarn und flüchtig miteinander Bekannte im Small Talk ergehen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Situation, in der ich in Deutschland zum erstenmal den Abschiedsgruß „Schönes Wochenende“ hörte. Die Formel war 207 mir absolut fremd. Zum einen spielt das Konzept „Wochenende“ in meiner Heimat Omsk keinerlei Rolle im Alltag; ich fand nicht einmal ein russisches Wort für den Begriff mit all seinen positiven Assoziationen (‘Freizeit’, ‘Erholung’, ‘Entspannung’). Zum anderen war mir ein Abschiedsgruß, der sich auf das zukünftige Wohlbefinden des relativ unbekannten Gegenübers bezieht, sehr fremd. Den drei angesprochenen allgemein-sozialen Anpassungsleistungen der Rußlanddeutschen entsprechen allgemeine Anforderungen an das sprachliche Verhalten. Diese Anforderungen können auch generell unter dem Konzept der Anpassung betrachtet werden. Zwar formulieren Rußlanddeutsche in den soziolinguistischen Interviews (vgl. Kap. 3) natürlich nicht abstrakte Maximen über ihr eigenes Sprachverhalten, aber sie äußern sich zu konkreten Sprachgebräuchen und zu eigenen sprachlichen Beobachtungen, die man unter allgemeinere Regeln subsumieren kann. Ich liste im folgenden einige Äußerungen bzw. Äußerungstypen auf, die sich in den Interviews finden: Wir sindjetzt hier und wir müssen so reden wie die Deutschen hier reden. - Hier in Deutschland ist die Sprache höher und sauberer. Ich würde gern höher und sauberer sprechen. Lieber saarländisch sprechen als rußlanddeutsch, um sich nicht zu unterscheiden. Ich bin der Meinung, daß alle hochdeutsch sprechen müssen (auch die einheimischen Deutschen). Der rußlanddeutsche Dialekt ist gut, aber wir müssen uns den Leuten hier anpassen. Ich spreche immer hochdeutsch, um nur nicht aufzufallen. - Im Laden sprechen wir immer sehr leise russisch oder wir flüstern, damit die anwesenden Deutschen uns nicht hören russisch sprechen. Wir wollen das nicht, wir wollen nicht auffallen. Wir müssen zeigen, daß wir Deutsche sind, indem wir deutsch sprechen und nicht russisch. Ich will mich nicht von den anderen unterscheiden, und deswegen vermeide ich lieber überhaupt zu sprechen, um nicht aufzufallen. 208 Jetzt lehne ich ab, daß die Eltern mit den Kindern nißlanddeutsch sprechen, sie hätten das in Rußland machen sollen. Jetzt so wie hier! - Ich würde saarländisch gern lernen und können. Wir leben hier! Die zitierten Beispieläußerungen aus den Interviews belegen unter anderem folgendes: a) Es besteht unter den Rußlanddeutschen ein ausgeprägtes Normbewußtsein. Dies orientiert sich einerseits an dem, was als Hochsprache angesehen und angesprochen wird, andererseits aber auch an der Regionalsprache (Saarländisch), b) Die erkannte sprachliche Norm der Kommunikationsumgebung wird positiv bewertet, und zwar vor allem deswegen, weil normgerechtes Sprachverhalten integrative Funktion hat, es erlaubt, „nicht aufzufallen“, und weil es gestattet, ein erkennbares Maß für die als notwendig erachtete Anpassungsorientirung zu entwickeln, c) Natürlich erkennen alle Rußlanddeutschen sehr schnell, daß ihre Russisch-Kompetenz in ihrer neuen Umgebung keinen kommunikativen Stellenwert hat. Russisch ist nur verwendbar in der „Ingroup“-Kommunikation unter Rußlanddeutschen; es trägt das Merkmal „Andersartigkeit“ und wird deshalb in Situationen, in denen nicht nur Rußlanddeutsche anwesend sind, vermieden, unterdrückt und sogar verheimlicht. (Die unter Anpassungsgesichtspunkten negative Bewertung des Russischen fällt natürlich in den von mir betrachteten westdeutschen Dialektgebieten deutlicher aus als vielleicht in Ostdeutschland, wo die Rußlanddeutschen wenigstens zum Teil mit Russischkenntnissen der einheimischen Bevölkerung rechnen können.) Meine Interviews zeigen recht deutlich, daß die Rußlanddeutschen sehr gut (und mit einem relativ hohen Grad an Bewußtheit und Sprachreflexion) die Mehrsprachigkeitssituation, in der sie sich befinden, erfassen. Sie wissen sehr wohl zu unterscheiden zwischen den verschiedenen Domänen, in denen ihre unterschiedlichen Sprachkompetenzen gefragt sind. Je nach Situationstyp folgen sie Regeln, die bestimmte Bereiche ihrer Sprachkompetenz „aufrufen“. Entsprechende Maximen lassen sich aus dem empirischen Material der Interviews abstrahieren. Ich formuliere im folgenden eine Reihe von Maximen, für die es mehr oder weniger explizite Belege in den Interviews gibt. Ich ordne sie nach den sprachlichen Kompetenzanforderungen. 209 Hochdeutsch/ Standarddeutsch: Verwende Hochdeutsch/ Standarddeutsch, wann immer es möglich ist. Beachte, daß Hochdeutsch/ Standarddeutsch überall in Deutschland verstanden wird. Sprich (unter Gesichtspunkten der Reisemöglichkeiten und evtl. Wohnortwechsel) möglichst viel Hochdeutsch/ Standarddeutsch. - Bemühe Dich um Hochdeutsch/ Standarddeutsch aus Gründen a) des beruflichen Aufstiegs, b) der Verbesserung der Schrift sprach-Kompetenz und c) der Orientierung an überregionalen Medien. Regionalsprache / Saarländisch: Versteh’ und sprich möglichst die Sprache der Region, in der Du lebst Zeige den Menschen Deiner Umgebung Deine sprachliche Kooperationsbereitschaft. Gib Signale, daß Du die Regionalsprache positiv bewertest (beispielsweise durch Übernahme auch isolierter Elemente). Beachte, daß die Regionalsprache im Vergleich zum Hochdeutschen/ Standarddeutschen „fehlerhaft“ ist („Saarländisch ist umgekrempelt“). Rußlanddeutsch. Versichere Dich des Rußlanddeutschen als Basis der Sprachkompetenz für das Deutsche. Verwende das Rußlanddeutsche immer dann, wenn es (als solches) nicht auffällt. Vermeide Rußlanddeutsch, wann immer Du eine hochdeutsch/ standarddeutsche oder regionalsprachliche Alternative hast. - Sprich mit Kindern kein Rußlanddeutsch, sondern Hochdeutsch/ Standarddeutsch (wann immer es geht) oder allenfalls Regionalsprache. 210 Russisch: Zeige Deine Russischkenntnisse nicht. Vermeide Russisch vor allem in der Öffentlichkeit. Verwende Deine Russischkompetenz nur, wenn es der Zufall will und nahelegt. Beachte, daß Russisch Dir noch einmal nützlich sein könnte. Die Maximen machen deutlich, daß die Rußlanddeutschen die vier Kompetenzbereiche, die sie im übrigen durchaus bewußt voneinander trennen können, unterschiedlich bewerten. Die Interviewpartner sind zum Zeitpunkt der Interviews mindestens bereits ein Jahr in Deutschland, in der Regel aber zwei bis drei Jahre. Das heißt, daß sie bereits Erfahrungen bezüglich der Verwendungsmöglichkeiten ihrer sprachlichen Fähigkeiten gesammelt haben, und sie sind in ihrer Einschätzung der eigenen Fähigkeiten wenigstens in rudimentärer Weise durch Sprachkurse gefördert worden. Klar ist, daß das Hochdeutsche/ Standarddeutsche durchweg als Leitvarietät anerkannt und entsprechend positiv bewertet wird. Die Rußlanddeutschen erkennen fast ausnahmslos, daß das Hochdeutsche/ Standarddeutsche für sie aufgrund seiner überregionalen Verwendbarkeit, aufgrund seiner zentralen Bedeutung in Verwaltung und Institutionen sowie aufgrund seines Gewichts im beruflichen Vorwärtskommen die entscheidende Leitvarietät ist. Etwas ambivalenter wird bereits die Regionalsprache beurteilt. Zwar wird erkannt und anerkannt, daß die Regionalsprache für die Kommunikation im näheren sozialen Umfeld (Nachbarschaft) einen hohen Wert hat, gleichzeitig wird aber ein „defizitärer“, „fehlerhafter“ Gebrauch festgestellt. Bezüglich des Rußlanddeutschen zeigen und artikulieren die Interviewpartner bereits deutlich negative Einstellungen hinsichtlich seiner Verwendbarkeit. Vermeidungsstrategien werden angesprochen; es wird erkannt, daß Merkmale des Rußlanddeutschen bei Einheimischen als Fremdheitssignale auffallen. Bezüglich des Russischen ist zu beachten, daß die von mir untersuchten Informanten ihre Deutschlanderfahrungen im Westen gemacht haben und erkennen, daß Russischkenntnisse in der heimischen Bevölkerung nicht vorhanden sind. Möglicherweise würde eine Untersuchung in Ostdeutschland andere wenn vielleicht auch nur geringfügig veränderte - Ergebnisse bringen; auch in Ostdeutschland hat das Rußlanddeutsche keinen hohen sozialen Bewertungsrang. Aufgrund der sprachlichen Verhältnisse in ihrer neuen Umgebung zeigen die Rußlanddeutschen in ihrer Outgroup- 211 Kommunikation (Kommunikation mit Nicht-Rußlanddeutschen) eine sehr strikte Vermeidungshaltung; das Russische „verrät“ sie als Fremde. In der Ingroup-Kommunikation erscheint das Russische nach meinen Erfahrungen dagegen sogar als aufgewertet: Russisch ist in diesen Situationen häufig das Kommunikationsmittel, das mit dem Merkmal „Heimat“ verbunden erscheint. So sprechen Lebenspartner, die in ihrem Herkunftsland zuhause miteinander deutsch gesprochen haben, in ihrer neuen Heimat oft russisch miteinander. Aus der Kommentierung der Maximen geht hervor, daß es im einzelnen durchaus divergierende, vielleicht sogar widersprüchliche Orientierungen im Sprachverhalten der Rußlanddeutschen gibt. Am deutlichsten wird dies in den Kompetenzbereichen „Rußlanddeutsch“ und „Russisch“. Es wird aber ebenso klar, daß die sprachlichen Einstellungen der Rußlanddeutschen unter einem übergeordneten Ziel stehen, das am besten durch die Interviewäußerungen zu der Leitvarietät Hochdeutsch/ Standarddeutsch ausgedrückt wird, das aber auch beispielsweise den Hintergrund für die Maxime bildet: „Vermeide Rußlanddeutsch, wann immer Du eine hochdeutsch/ standarddeutsche oder regionalsprachliche Alternative hast“. Das Ziel heißt Anpassung. Im Sinne der Maximen der Rußlanddeutschen bedeutet Anpassung keine nur situationsspezifische Orientierung, die darauf aus ist, spezielle Kommunikationssituationen zu meistern; vielmehr geht es um eine Orientierung, die auf das Sprachverhalten generell und insgesamt zielt und die sich allenfalls nach Sprachdomänen oder allgemeineren Situationstypen differenzieren läßt. Allein schon die Tatsache, daß sich aus den soziolinguistischen Interviews (vgl. Kap. 3) übergreifende Handlungsmaximen induktiv gewinnen lassen, zeigt, daß „Anpassung“ hier nicht in erster Linie situational verstanden werden kann. Entsprechend verwende ich den Begriff der „sprachlichen Anpassung“ in dieser Arbeit nicht sprachpsychologisch-situationsbezogen, sondern soziolinguistisch-sprachkompetenzbezogen. „Anpassung“ in diesem Sinne kennzeichnet also nicht eine situationale Strategie (die ihre Basis in einem allgemeinmenschlichen, sprachpsychologisch zu beschreibenden Verhalten hat), sondern vielmehr eine Spracheinstellung, die Sprachkompetenzbereiche reflektiert und entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten mehr oder weniger bewußt auch einsetzt. Anpassung ist hier also nicht im Sinne der sprachpsychologischen „speechaccomodation“-Theorie von Giles und auch nicht im Sinne einer „short term accomodation“-Theorie Trudgills (vgl. Trudgill 1986; Giles/ Robinson 1990) zu verstehen; allenfalls könnten meine Überlegungen mit Trudgills „long term accomodation“-Vorstellungen in Verbindung gebracht werden Einen wichtigen Hinweis auf die hier einschlägige Art der sprachlichen Anpassung finde 212 ich in der von mir immer wieder gemachten Beobachtung, daß Rußlanddeutsche in spezifischen Kommunikationssituationen gerade nicht (sprach-psychologisch und -soziologisch) relevante Merkmale wie sozialen Status, Rolle, Bekanntheitsgrad, Willenskraft u.ä. der Gesprächspartner in Rechnung stellen, sondern sich von ihrer Sprachkompetenzeinschätzung leiten lassen. Diese ist situationstypspezifisch bzw. auch situationsübergreifend und beruht auf sprachtypisierenden Merkmalen und Charakteristika (vgl. Kap. 3). Die Anpassungsleistung ist nicht auf das Individuum des Gegenübers im Gespräch gerichtet, sondern auf die Sprachkompetenzanforderung, die das Gegenüber repräsentiert. 7.3 Spezielle Fragen der Maximen-Befolgung Eine wichtige Frage ist die der Reichweite der Maximen, unter denen die Rußlanddeutschen ihre Anpassungsleistungen vornehmen. Inwieweit kann man aufgrund der empirischen Befunde dieser Arbeit (sowohl im soziolinguistischen als auch im varietätensprachlichen Teil) sagen, daß a) Rußlanddeutsche den von ihnen z.T. selbst auch formulierten Regeln/ Maximen tatsächlich folgen und b) die wissenschaftlichen (im Sinne der Invisible-Hand-Theorie des Sprachwandels formulierten) Maximen den beobachteten Anpassungsprozeß tatsächlich betreffen sei es, daß die Maximenformulierungen den beobachteten Anpassungsprozeß zu beschreiben helfen, sei es, daß sie zur Erklärung der Anpassungsleistungen dienen können? Diese beiden hier angesprochenen Aspekte werfen natürlich weitreichende theoretische Probleme auf, die von sprechakttheoretischen, bewußtseinsphilosophischen und psychologischen bis hin zu linguistischen, kompetenztheoretischen Fragen reichen. Diese Fragen können und sollen hier nur erwähnt, aber nicht behandelt werden. Mir geht es allein darum, begründete und plausible Erwägungen über meine empirischen Befunde anzustellen. Mit der Frage der Reichweite der Maximen ist fast notwendig die Frage der Bewußtheit der Maximen und der Bewußtheit des sog. sprachlichen Wissens verknüpft. Denn bestimmte Maximenbefolgungen scheinen nur auf dem Wege über bewußt reflektiertes Wissen möglich, andere Maximenbefolgungen scheinen auch möglich, wenn die Regeln des sprachlichen Handelns von den Sprechern im einzelnen nicht explizit reflektiert werden. So ist beispielweise die erwähnte Vermeidung der Verwendung von Russisch als Sprache in Outgroup-Kommunikationen die Folge einer bewußt reflektierten Maxime und 213 einer entsprechenden Sprecherintention. Vermeidungen von bestimmten Dialekteigenschaften des Rußlanddeutschen (z.B. Vermeidung von n- und e- Apokope am Wortende) werden dagegen nicht als solche explizit reflektiert, sondern „passieren“ eher als Folge der übergreifenden Maxime: „Passe Dich an! “ Ich unterscheide für meine Zwecke drei Aspekte des Bewußtheitsbegriffs bezüglich sprachlichen Regelwissens: 1. In einem rudimentären Sinn ist jede sprachliche Fähigkeit bzw. jede Sprachkompetenz als geistiges Phänomen „bewußt“. „Bewußt“ heißt in dieser Verwendung lediglich: „kann explizit gemacht werden, ist aber normalerweise nicht explizit und ist genau in diesem Sinne implizit“. Dies bedeutet auch: Jedem Sprachbenutzer kann seine implizite Sprachbeherrschung prinzipiell auch explizit gemacht bzw. vorgestellt werden. 2. Bewußtheit von sprachlichem Wissen auf einer höheren als der rudimentären Stufe heißt, daß die Sprecher über die Regeln ihres sprachlichen Handelns reflektieren. Das setzt einen bestimmten Grad von Explizitheit voraus. Die sprachlichen Handlungsregeln müssen in welcher Form auch immer formuliert werden können; und sie sind in genau diesem Sinne explizit. 3. Außer der Stufe der expliziten Reflektierbarkeit sprachlichen Wissens unterscheide ich die Stufe der Kontrollierbarkeit der Sprachkenntnisse im Handeln (vgl. auch Auer 1990, 218). Nicht jedes von den Sprechern wahrgenommene, erkannte und auch als solches reflektierte Sprachphänomen (z.B. Spirantisierung von Plosiven) kann von den Sprechern tatsächlich auch in der Praxis kontrolliert werden. Oft tritt der Fall ein, daß in bezug auf eine bestimmte sprachliche Eigenschaft zwar bei den Rußlanddeutschen ein Anpassungswille besteht, dieser aber in der Praxis nicht umgesetzt werden kann. Die unterschiedlichen Reichweiten der Maximen und die damit zusammenhängenden Bewußtheitsstufen der sprachlichen Handlungsregeln lassen sich gut an den Ergebnissen der Kap. 3, 4 und 5 demonstrieren. Auffällig ist zunächst einmal, daß man von einer Kontrollierbarkeit (Bewußtheitsstufe 3) der Handlungsregeln und -maximen eigentlich nur in bezug auf lexikalische Phänomene bzw. auf Fragen der Verwendung von Wortschatzeinheiten sprechen kann. 214 während die phonologischen und morphologisch-syntaktischen Phänomene im wesentlichen im Impliziten bleiben und allenfalls punktuell in den Bereich der Reflexion (Bewußtseinsstufe 2) gehoben werden. Wegen dieser Auffälligkeit gebe ich im folgenden zunächst Beispiele, die die Anpassung in der Lexik betreffen, und komme danach auf Beispiele aus den Bereichen der Phonologie und Morphologie bzw. Syntax zu sprechen. Unter der Maxime „Ersetze jedes russische Wort durch ein deutsches! “ handeln Rußlanddeutsche oft in der Outgroup-Kommunikaion insgesamt und besonders auch in formellen Situationen. Augenfällige Beispiele bietet die Gegenüberstellung von rußlanddeutschen Texten der Ingroup-Kommunikation, in denen zahlreiche russische Lexeme Vorkommen, mit anderen Texten in Kap. 6 (vgl. Beispieltext 1, 2 und 3). Ich weiß aus vielen Interviews, daß die Rußlanddeutschen in solchen Fällen kontrolliert russische Wörter durch deutsche (standarddeutsche oder auch seltener regionalsprachliche) ersetzen. Hier handelt es sich m.E. um klare Fälle, in denen ein enger Zusammenhang besteht zwischen den von den Rußlanddeutschen selbst formulierten Anpassungsmaximen und dem tatsächlichen sprachlichen Handeln. Dieser enge Zusammenhang ist möglich, weil für die Alltagssprecher die Fremdheit bzw. Andersartigkeit der russischen Wörter in der neuen Sprachumgebung unmittelbar auffällig, erkennbar und in Ansätzen auch reflektierbar ist. Die Rußlanddeutschen lassen sich in solchen klaren Fällen von für sie erkennbar notwendigen Lexemsubstitutionen offenbar im wesentlichen durch die Wortbedeutungen (im hier gegebenen Fall natürlich stark unterstützt durch die russischen Wortformen) leiten. Die Richtigkeit dieser Beobachtung wird gestützt durch Beobachtungen zum Umgang der Rußlanddeutschen mit sog. Internationalismen wie Thema, Interesse, Problem, normal, Zentrum, Dialekt usw. (vgl. 5.5.2). Der Gebrauch der sog. Internationalismen durch die Rußlanddeutschen in ihrer neuen Umgebung ist dadurch gekennzeichnet, daß die russische Lautung bzw. Lautstruktur beibehalten wird (z.B Problem [prablem], Thema [t'ema]). Dies geschieht aufgrund der Ununterscheidbarkeit der Bedeutungen von russ. Thema (meMä) und dt. Thema. Es wird an diesen Beispielen deutlich, daß die expliziten Anpassungsmaximen der Rußlanddeutschen sich wesentlich am Erkennen von Bedeutungen orientieren und nicht so weit reichen, daß lautliche bzw. lautstrukturelle Differenzen einbezogen werden könnten. In aller Regel werden lautstrukturelle Differenzen von den Rußlanddeutschen nicht reflektiert; Lautstrukturen bleiben für die Sprachbenutzer normalerweise nur rudimentär bewußt (Bewußtheitsstufe 1). 215 Einen besonderen Fall stellen Beispiele rußlanddeutscher Alltagslexik dar, die Rußlanddeutsche mit Selbstverständlichkeit als „ererbtes“ Wortgut ansehen, die aber alte Lehnwörter aus dem Russischen sind. Zum Beispiel halten Rußlanddeutsche Wörter wie die Lafke (‘der Laden’), die Banke (‘das Glasgefäß’), prostes (‘einfaches’), das Polke (‘das Regal’), die Harbus (‘die Wassermelone’), das Patschke (‘der Stapel’), die Bolnize (‘das Krankenhaus’) für dem rußlanddeutschen Wortschatz zugehörig und sehen daher keine Notwendigkeit einer Substitution (vgl. Kap. 7). Zugrunde liegen aber russische Lehnwörter (LddkdAaeKa, Banke/ fozw/ cö, prostes/ «/ )ocmoe, Polke/ mi/ co, Harbudapöys, Patschke/ / 7fl‘/ / ca, Bolnize/ &Mb«w^fl), die von den Rußlanddeutschen nicht mehr als solche erkannt werden können, weil sie (auch formal) vollständig in das Rußlanddeutsche integriert sind. Die Anpassungsmaximen können in diesen Fällen natürlich nicht greifen. - Bei diesen Beispielen wie auch bei den anderen in diesem Kapitel vorgestellten Beispielen ist natürlich immer zu berücksichtigen, daß sie mehr oder weniger charakteristisch sind für unterschiedliche Gruppen von Rußlanddeutsch-Sprechern. Ich nehme in diesem Kapitel in der Regel keine Differenzierungen nach Sprechergruppen vor, so daß die Aussagen zuweilen etwas zu pauschal erscheinen mögen. In bezug auf die hier erörterten russischen Lehnwörter ist es angebracht, differenzierend zu bemerken, daß die Phänomene typischerweise bei der älteren Generation zu beobachten sind und auch generell bei Sprechern, die das Russische nicht so gut beherrschen. Das ist leicht zu erklären: Perfekte Russisch-Sprecher bemerken das russische Lehnwortgut natürlich leichter. Im Bereich der Lautstruktur werden die im Zuge einer Anpassung an das Standarddeutsche zu verändernden Merkmale des mitgebrachten Rußlanddeutsch und des auch beherrschten Russisch von den Sprechern nicht so deutlich bemerkt wie im Bereich der Lexik. Generell kann man davon ausgehen, daß die Merkmale nur in Ausnahmefällen von den Sprechern reflektiert, geschweige denn kontrolliert werden. Der Bewußtheitsgrad der Phänomene liegt normalerweise zwischen der 1. und der 2. Stufe (vgl. oben). Es gibt mehrere Merkmale der rußlanddeutschen und auch der russischen Lautstruktur, die die Rußlanddeutschen in ihrer neuen Umgebung beibehalten und teilweise sogar auf neu erlernte standarddeutsche Wörter übertragen Diese Konservierung bzw. Übertragung von Merkmalen zeigt natürlich an, daß die Phänomene für die Sprecher unbemerkt bleiben; bewußt reflektierte Anpassungsmaximen können nicht greifen. Ein gutes Beispiel für ein solches 216 Merkmal ist das Phänomen, daß in dem von mir untersuchten rußlanddeutschen Dialekt eine generelle Tendenz besteht, lange Vokale im Ansatz zu diphthongieren, also e>e\ö>o u beispielsweise in Wörtern wie [fe‘n] ‘schön’, [ko u l3] ‘Kohle’. Die Rußlanddeutschen behalten diese Diphthongierungstendenz generell bei und übertragen sie sogar auf standarddeutsche Wörter, z.B [le'bax] Ortsname Lebach. Ein interessantes Beispiel für Lehn-einfluß aus dem Russischen ist die Aussprache des standarddeutschen Wortes Kopie. Das russische Konua ['kopija] wird mit der standarddeutschen Lehn-Endsilbenbetonung versehen: [ko'pi: ]; daraufhin tritt die im Russischen geltende Reduktion von Vokalen in unbetonten Silben ein, so daß es letztlich zu der Aussprache [ka'pi: ] kommt, die (in der ersten Silbe) als sekundär-russisch bezeichnet werden könnte. Es gibt Merkmale der rußlanddeutschen Lautstruktur, für die die Anpassungsmaximen wenigstens zum Teil greifen. Ein Beispiel dafür ist das Rückgängig-Machen der dialektalen Entrundung unter dem Einfluß des Standarddeutschen; das Phänomen ist oben in Kapitel 4.4 ausführlich dargestellt und erörtert worden. Es geht um die Veränderung von e> ö (schön), i > ü (über), ai > eu (deutsch), a > au (Frau), o > a (Straße), u > o (schon). Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, daß diese lautstrukturelle Anpassung nicht durchgängig durchgeführt wird. Aus den in Kap. 4 dargestellten Ergebnissen geht hervor, daß die Regel ai > eu fast durchgehend befolgt wird, während u > o nur bei einem geringeren Teil der Vorkommen durchgeführt wird. Die Frage nach einer Begründung solcher Unterschiede wirft eine komplexe Problemlage auf, die in der einschlägigen Literatur entsprechend aspektreich erörtert und mit unterschiedlichen Ergebnissen diskutiert wird (Schirmunski 1930; ReifFenstein 1976; Scheutz 1985, Moosmüller 1987, Schlobinski 1987; Auer 1990). Das von mir untersuchte Material legt hier auch keine einfache und eindeutige Antwort nahe. Mein Material scheint jedoch die Interpretation nahezulegen, daß die Anwendung der Veränderungsmaxime von der Einschätzung der kommunikativen Relevanz der betroffenen Wortschatzeinheiten abhängt. Ich habe in Kap. 4.4 dargelegt, daß die Umsetzung u > o nur relativ wenige und im alltäglichen Kommunikationsfluß relativ unauffällige Wörter betrifft, z.B. die Abtönungspartikel schon. (Nicht relevant ist hier die Häufigkeit der Vorkommen in Texten.) Die „Unauffalligkeit“ der Wörter befördert die Konservierung mitgebrachter Lautstrukturregeln und verhindert eine durch Reflexion motivierte Anwendung von Anpassungsmaximen. Dagegen betrifft die Umsetzung ai > eu (wie ebenfalls in 4.4 dargelegt) einen Wortschatz (deutsch, heute, Leute, Häuser, Freundschaft, euch, 217 neue, teuer, Kreuz, Feuer, Deutschland), der von den Rußlanddeutschen selbst auch immer wieder als kommunikativ relevant eingeschätzt wird mehr oder weniger bewußt, jedenfalls auf einer höheren Bewußtheitsstufe als der Stufe 1. Man könnte also sagen, daß die Veränderungsmaximen vorzugsweise auf den in der Alltagskommunikation als relevant erkannten Wortschatz angewendet werden. Im Unterschied zur Lexik werden nach meinen Untersuchungsergebnissen und Erfahrungen syntaktische Phänomene von den Rußlanddeutschen so gut wie gar nicht reflektiert. Dies glaube ich feststellen zu können, obwohl es eine Vielzahl von syntaktisch-morphologischen Erscheinungen im Sprachgebrauch der Rußlanddeutschen gibt, die dem sprachwissenschaftlich geschulten Beobachter, aber auch den nicht-rußlanddeutschen Kommunikationspartnern auffallen und die charakteristisch für den Anpassungsprozeß zu sein scheinen. Die Syntax gilt ja auch traditionellerweise als ein Kernbereich der Sprachkompetenz, der der direkten Reflexion und Kontrolle durch die normalen Sprachbenutzer weitgehend entzogen ist, was nicht heißt, daß es keinen Syntaxwandel gibt und bezogen auf unsere Thematik keinen Wandel durch Anpassung. Verglichen mit dem Kernbereich der Syntax sind auch lautlich-phonologische Phänomene der Reflexion noch relativ zugänglich wie oben erörtert weil jegliche Materialisierung von Sprache im Lautlichen natürlich auch in der normalen Wahrnehmung relativ leicht fokussiert werden kann. Insofern fallen Sprachbenutzern natürlich auch solche syntaktischen Phänomene leicht auf, die sich in der Wortgestalt „widerspiegeln“, z.B. in der Flexion, in der Auswahl von Artikelformen, Konjunktionen und Präpositionen. Die meisten syntaktischen Relationen liegen aber nicht auf eine solche Weise „offen zutage“. Es fällt beispielsweise häufig auf, daß Rußlanddeutsche eine aus dem Russischen entlehnte Reflexivität im Prädikat erst dann bemerken, wenn sie von Gesprächspartnern darauf aufmerksam gemacht werden. Beispiele sind: „Ich habe mich beleidigt“ (für „ich bin beleidigt“); „Er lernt sich schön“ (für „Er lernt gut bzw. schön“). Der aus dem Russischen entlehnte reflexive Gebrauch des Verbs beleidigen hat bei Einheimischen Verstehensschwierigkeiten ausgelöst. Auffällig für einheimische Gesprächspartner, jedoch meistens unbemerkt für die rußlanddeutschen Sprecher selbst ist auch die ebenfalls aus dem Russischen entlehnte Spitzenstellung des Verbs, beispielsweise in „Gehe ich jetzt heim“ (für: „Ich gehe jetzt heim“) Auch die doppelte Negation in Sätzen wie: „Ich habe kein Brot nicht gebacken“ interpretiere ich als auf russischen Einfluß zurückgehend: Obwohl die deutsche Negation mit kein gebraucht wird, wird doch die russische Negation nicht aufgegeben. (Für weitere Beispiele vgl. 218 Kap. 5.) Nach meinen Beobachtungen passen die Rußlanddeutschen selbst so auffällige Erscheinungen wie die erwähnte Verbspitzenstellung nicht an die standarddeutsche Syntax an, weil die syntaktischen Phänomene für sie keinen höheren Bewußtheitsgrad erlangen und deshalb von ihnen nicht kontrolliert werden können. Diese generelle Feststellung schließt nicht aus, daß man vereinzelt Bemühungen zu syntaktischen Veränderungen beobachten kann. Zum Beispiel hat eine Rußlanddeutsche auf einer Familienfeier den Satz gebraucht: „Die haben sie immer eingeladen gehabt ghat“ (für: „Die hatten sie immer eingeladen“). Hier wird das Doppelperfekt („haben eingeladen ghat“) noch nicht als ausreichende Ersatzform für das Plusquamperfekt empfünden und deshalb noch einmal durch „gehabt“ erweitert. Dies kann man als einen fehlgeschlagenen Versuch einer Annäherung an das standarddeutsche Plusquamperfekt ansehen. Das letzte Beispiel wirft auch ein charakteristisches Licht auf die Anstrengungen, die die Rußlanddeutschen unternehmen, um sprachliche Anpassungsleistungen zu vollbringen. Insgesamt kann man sagen, daß die Rußlanddeutschen in allen Fällen, in denen ihnen Abweichungen ihres eigenen Sprachgebrauchs bewußt werden, tatsächlich versuchen, Anpassungen vorzunehmen. Sie handeln häufig nach Maximen wie „Streng Dich an! “, „Sei nicht bequem! “, „Gib Dein Bestes! “ Die Anstrengungen führen oft auch zu typischen Hyperkorrekturen. Solche Hyperkorrekturen sind zum Beispiel übertriebene Beibehaltung von Endungsformen, die auch im Standarddeutschen normalerweise „abgeschliffen“ werden, oder hyperkorrekte (und auch falsche) Pluralformen. So verwenden Rußlanddeutsche unter Anpassungsdruck oft Formen mit mangelnder Reduktion der Endbzw. Nebensilben, z.B. [fpi: len] statt [fpi: ln], [gemaxt] statt [gsmaxt] (vgl. auch Auer 1990, 211). Und es kommen Pluralformen vor wie in: „Ich habe viele Freunden“ (statt: „Freunde“). Die Hyperkorrekturen zeigen, daß der große Anpassungsdruck, unter dem sich die Rußlanddeutschen häufig fühlen, auch eine Tendenz gegen das allgemeine Prinzip der Ökonomie im Sprachgebrauch mit sich bringt. 7.4 Zusammenfassung Das Anpassungsstreben der Rußlanddeutschen kann formuliert werden in Form von bestimmten Handlungsmaximen, denen die Sprecher folgen. Maximen wie „Rede so wie deine Nachbarn“ tragen zu einer Sprachveränderung in einer bestimmten Richtung bei und sind zugleich Ausdruck bzw. Anzeichen 219 eines bestimmten Veränderungsprozesses. Maximen, denen die Rußlanddeutschen in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch folgen, lassen sich ableiten aus den Ergebnissen meiner soziolinguistischen Untersuchungen (vgl. Kap. 3). Einigen sprachorientierten Handlungsmaximen folgen die Rußlanddeutschen durchaus bewußt, was für ihren ausgeprägten Anpassungswillen spricht. Ich unterscheide zwischen allgemeinen Maximen und spezifischen Ausprägungen von Maximen, ferner zwischen verschiedenen Bewußtheitsgraden, in denen die Sprecher ihr Sprachverhalten mehr oder weniger kontrollieren können. Die Ergebnisse meiner sprachsystematischen Untersuchungen (vgl. Kap. 4 und 5) zeigen, daß die Maximen unterschiedliche Reichweiten im Hinblick auf potentielle Phänomene der Sprachveränderung haben. So „wirken“ die Maximen insbesondere im Bereich des Wortschatzes, der der bewußten Aufmerksamkeit der Sprecher zugänglich ist, während Phänomene der Syntax, der Morphosyntax und der Phonologie kaum bzw. weniger erreicht werden. 220 8. Didaktische Konsequenzen und Vorschläge In den vorausgehenden Kapiteln wurde versucht, ein Bild der sprachlichen Situation der rußlanddeutschen Aussiedler in der Eingliederungs- und Integrationsphase in Deutschland zu entwerfen. Im Zentrum der Untersuchung stand die Aufgabe, die Phänomene zu erfassen, die die Komplexität und Schwierigkeit der sprachlichen Integration dieser Einwanderungsgruppe in Deutschland zur Folge haben. Dabei handelt es sich um zweierlei Erscheinungstypen der Eingliederungsphänomene: um gesellschaftlich-kulturelle Sprachprobleme (soziolinguistische) und Probleme im konkreten sprachlichen Bereich (linguistische im engeren Sinne). Die gesellschaftlich-kulturellen Probleme der rußlanddeutschen Aussiedler sind in Kap. 3 beschrieben worden. Dabei wurde festgestellt, daß bei der Eingliederung in die neue Sprachumgebung im wesentlichen die Spracheinstellungen den Verlauf der Integration bestimmen. Der Übergang von einer Sprachkultur zur anderen bekommt bei rußlanddeutschen Aussiedlern durch ihre deutsche Identität eine ganz besondere Ausprägung, die bei anderen Einwanderungsgruppen nicht zu beobachten ist. Im engeren sprachlichen Bereich ergeben sich besondere Probleme linguistischer Art, die mit der dialektalen Kompetenz der Aussiedler verbunden sind und die entlang der Standard/ Dialekt-Dimension anzusiedeln sind (Kap. 4). Darüber hinaus haben Rußlanddeutsche Sprachprobleme und Sprachschwierigkeiten, die auch sonst üblicherweise bei Migranten auftreten, und zwar Probleme, die mit der Herkunftssprache, in diesem Fall Russisch, verbunden sind. In Kap. 5 werden die für den Integrationsprozeß in Deutschland relevanten Ausprägungen der russisch-deutschen Bilingualität/ Zweisprachigkeit beschrieben 8.1 Anregungen zum Sprachunterricht Die Ergebnisse der Analyse der sprachlichen Anpassung im engeren linguistischen Sinne (Kap. 4 und 5) haben die Annahme bestätigt, daß Aussiedler, die mit dialektaler Deutschkompetenz nach Deutschland kommen, eine spezifische, ihren Sprachdefiziten angepaßte Sprachförderung benötigen. Bezüglich der zu behandelnden Inhalte sei hier in erster Linie darauf hingewiesen, daß nach den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung diese Zielgruppe besondere Defizite im lexikalischen Bereich aufweist und aus diesem Grunde auch auf einen Sprachunterricht mit Schwerpunkt auf lexikalischen Inhalten angewiesen ist. Die Sprachproblematik der rußlanddeutschen Aussiedler in Deutschland ergibt sich weniger aus Schwierigkeiten im phonetischen oder 221 morphosyntaktischen Bereich. Dank der deutsch-dialektalen Sozialisation unter Bedingungen des natürlichen Bilingualismus sind die phonetisch-morphologischen und syntaktischen Grundlagen für eine wenn auch nur zum Teil befriedigende - Kommunikation in Deutschland ausreichend gefestigt. Im lexikalischen Bereich jedoch ist der Sprachstand der rußlanddeutschen Aussiedler auf einem Niveau, das für eine auch nur zum Teil befriedigende Kommunikation nicht ausreichend ist. Diese Konstellation hat sich sowohl durch die deutsch-russische Zweisprachigkeit als auch durch die Entwicklungen entlang der Dialekt/ Standard- Dimension bzw. durch das Fehlen des deutschen Standards in Rußland ergeben. Das lexikalische Reservoir wurde immer mehr durch russische Lexeme aufgefüllt, und zwar sowohl als Erweiterung des Wortschatzbestandes mit Russizismen durch Benennung von neuen Realien (wie im Beispiel Sputnik) als auch als Erweiterung des Wortschatzbestandes durch allmähliche Verdrängung der deutschen Lexeme durch russische. Bei der Entwicklung einer Konzeption für den lexikalischen Unterricht sollte der Gesamtwortschatzbereich, über den die Aussiedler verfügen und den sie in den neuen Sprachbedingungen erwerben müssen, einer genauen Strukturierung unterzogen werden. Dabei sollten lexikalische Klassen gebildet werden, die von Aussiedlern systematisch erworben werden müssen. Ich möchte im folgenden einen auf den Ergebnissen der Untersuchung basierenden Vorschlag für eine solche Strukturierung des von den rußlanddeutschen Aussiedlern zu erlernenden Wortschatzes machen. Aufgrund der Analyse lassen sich folgende Gruppen von Lexemen aussondern, die den Aussiedlern Sprachschwierigkeiten bereiten und ihre sprachliche Integration erschweren: - Interferenzen: Typische Lehnübersetzungen von Wörtern und Wendungen aus dem Russischen, die im rußlanddeutschen Dialekt Vorkommen; - Phraseologismen: Deutsche Entsprechungen für russische phraseologische Wendungen; - Internationalismen: Wörter gemeinsamen Ursprungs, die im Deutschen und Russischen gleiche oder ähnliche Formen haben; - Russizismen: Russische Wörter, für die keine deutsch-dialektalen Äquivalente im Rußlanddeutschen existieren und die nur in russischer Form gebraucht werden; 222 - Verben: Russische Verben, die bei der Kommunikation der rußlanddeutschen Sprecher in eingedeutschter Form am häufigsten Vorkommen; - Dialektalismen: Deutsche Wörter mit abweichendem Gebrauch, der auf dialektale Normen zurückzuftihren ist; - Neue Lexik: Hochdeutsche bzw. standarddeutsche Lexeme für Realien aus der neuen Umgebung. Bei den aufgezählten lexikalischen Klassen handelt es sich um Lexeme, deren Gebrauch mit unterschiedlichen Schwierigkeiten verbunden ist. Oft handelt es sich um Fälle, bei denen Aussiedler von den einheimischen Sprechern nicht verstanden werden können. Das liegt z B. bei Interferenzen vor: Dieser Typ von Lexemen, die von rußlanddeutschen Sprechern häufig gebraucht werden, ist nur auf dem Hintergrund der Kenntnis des Russischen verständlich. Der Gebrauch von solchen Lexemen basiert auf falschen Übertragungen aus dem Russischen. Einige Beispiele: russisch: rußlanddeutsch: deutsch: Mcuebie u,eembi zivye cvety noHtnoebie MapKU poäovye marki Hocoeoü naamoK nosovoj platok H oöude/ iai ja obidelsja HucmbiMU deHbeaMU ästymi den 'garni HepHopaöonuü öernoraboäj Kpacunibca krasit 'sja ebiümu na paöomy vyjti na rabotu lebendige Blumen Postmarken Nastuch ich habe mich beleidigt mit sauberem Geld Schwarzarbeiter (ohne Beruf) sichfärben rausgehen aufdie Arbeit frische Blumen Briefmarken Taschentuch ich war beleidigt bar ungelernter Arbeiter sich schminken die Arbeit antreten 223 Durch den typischen Gebrauch von Internationalismen werden rußlanddeutsche Aussiedler sofort als Sprecher mit russischem Hintergrund identifiziert (Beispiele für Internationalismen vgl Kap. 5). Besondere Schwierigkeiten bereitet der Gebrauch von Internationalismen den rußlanddeutschen Sprechern jedoch nicht: Sie verwenden im Redefluß den Internationalismus oft automatisch (nicht bewußt) in russischer Form. Beträchtliche Schwierigkeiten haben die Sprecher jedoch bei der Verwendung der lexikalischen Klasse der Russizismen. Hier geht es um die gebräuchlichste Schicht der Alltagslexik, die von den Sprechern im Herkunftsland zwar in russischer Form aber immer eingedeutscht verwendet wird. Diese russischen Lexeme haben keine deutsch-dialektalen Äquivalente und werden von den Sprechern häufig als „deutsche“ gehandhabt. Man kann die Lexeme dieser Gruppe daran erkennen, daß sie nicht nur von der jüngeren Generation, sondern auch von allen älteren rußlanddeutschen Sprechern verwendet werden. Die heutige ältere Generation hat einen Teil dieser lexikalischen Schicht oft schon als sprachliches „rußlanddeutsches Erbgut“ in ihrer Kindheit erworben und an die nächste Generation weitergegeben. Einige verbreitete Beispiele: russisch: rußlanddeutsch. deutsch: mwkü ~ lavka (popmoHKa -fortocka eapeme varen 'e myMÖOHKa tumboäca miouiKa pljuska öüHKa banka nojiKa ~ polka apöys arbuz KJiadoeKa kladovka nciHKü packa lajkd fortotskd varen e tumbotsks pluska banka polka harbu.s kladovka patska Laden, Geschäft Klappfenster Eingemachtes Beistelltischchen russ. Brötchen Glasgefäß Regal Wassermelone Vorratskammer Stoß, Stapel Neben diesem „ererbten“ rußlanddeutschen Wortschatz gehört aber zur Gruppe der Russizismen auch eine lexikalische Schicht, die Realien aus dem modernen Leben in Rußland bezeichnet und deren deutsche Bezeichnung den Sprechern auch nicht bekannt ist. Diese Gruppe ist praktisch unbegrenzt, und die Aufgabe besteht darin, die gebräuchlichsten und für das Leben in Deutschland relevanten Lexeme auszusondern und zum gesteuerten Erwerb 224 vorzuschlagen. Eine ganz besondere Gruppe von Russizismen bilden hier die Verben. Es hat sich gezeigt, daß die rußlanddeutschen Sprecher sowohl die Jüngeren als auch die Vertreter der älteren Generation in der Ingroup- Kommunikation in nahezu jedem Satz ein russisches Verb in eingedeutschter (d.h. dem Deutschen angepaßter) Form verwenden, und zwar vorwiegend in der Form des Infinitivs bzw. des Präteritalpartizips (vgl. Kap. 5). Diese Gebrauchsweise der russischen Verben ist ein Indiz fiir die fortgeschrittene aktive Zweisprachigkeit und ist in dieser Form in vielen Konstellationen des natürlichen Bilingualismus dieses Stadiums belegt, z.B. auch im amerikanischen Deutsch (Berend 1995). Auch hier sollte eine Liste die gebräuchlichsten russischen Verben enthalten, die von allen Sprechern, und in erster Linie auch von den älteren Sprechern, verwendet werden und was man an ihre Stelle setzt. Einige Beispiele: russisch: fl axo ne pasöupaio (ja eto ne razbiraju) rußlanddt.: Ich pasöupaü (razbiraj) des net deutsch: Ich verstehe das nicht russisch: fl nac ne Syny fiojibme mpeeoMumb (Ja vas ne budu bol’se trevozit ’) rußlanddt.: Ich wär aich net waide mpeeoMCUÜe (trevozije) deutsch: Ich werde euch nicht weiter beunruhigen russisch: xaM, rfle nenciiK) Hcmuc/ iHtom (tarn, gde pensiju mäsljajut) rußlanddt.: dort, wo sie die neuen« Hanuenuue (pensija naäsljaje) tue deutsch: dort, wo die Rente berechnet wird russisch: nxo xbi sacmynaeuibcn na nero! (cto ty zastupaes ’sja za nego! ) rußlanddt.: was tuscht dich sacmynaüe (zastupaje) für den! deutsch: was setzt du dich fiir den ein! russisch: ohh yxe doeoeopmucbl (oni uze dogovorilis ’? ) rußlanddt.: haben sie sich wohl schon doeoeapueaüm (dogovarivajt)? deutsch: haben sie sich wohl schon abgesprochen? russisch: saeadamb nara^Ky (zagadat ’ zagadku) rußlanddt.: e aarajpce saeadaüe (zagadke zagadaje) deutsch: ein Rätsel aufgeben 225 russisch: rußlanddt.: deutsch: nocmynumb b hhcthtyt (postupit' v institut) in den HHcra-iyr nocmynaüe (institut postupaje) sich immatrikulieren russisch: rußlanddt: deutsch: oh mchh npocTo npoecpu/ i (on menja prostoproveril) er hat mich iipocxo npoeepnüm (prosto proverjaji) er hat mich einfach (nur) geprüft Eine bedeutende Schicht des Wortschatzes der rußlanddeutschen Sprecher sind Dialektismen, d.h. regional bedingte lexikalische Varianten, die Differenzen zum Hochdeutschen aufweisen (vgl. Kap. 4). Daß bestimmte Lexeme Regionalismen oder Dialektismen sind, ist den rußlanddeutschen Sprechern zunächst nicht bewußt, und sie empfinden sie als typische rußlanddeutsche Wörter (Maul ‘Mund’, luren ‘warten’, Schmand ‘Sahne’, Stube ‘Zimmer’, weisen ‘zeigen’, sich bangen ‘sich sehnen’). Diese Lexeme sollten im Sprachförderungsprozeß nicht einfach verdrängt oder ignoriert werden, sondern sie sollten, neben dem Erwerb der neuen hochdeutschen Lexik, einem bewußten Differenzierungsprozeß unterzogen werden. Die Sprecher sollten für die dialektale Lexik in ihrem sprachlichen Repertoire die richtige Zuordnung finden. Bei der neu zu erlernenden hochdeutschen Lexik sind in erster Linie die Realienbezeichnungen des neuen Lebens relevant. Es sollte hier eine Liste von Bezeichnungen für fehlende Begriffe zusammengestellt werden, auf deren Basis man dann didaktische Konzepte erarbeiten kann. Bei der Erstellung dieser Liste sollte die kulturelle Relevanz des Wortschatzes berücksichtigt werden, d.h., es sollten zunächst die Lexeme erlernt werden, die zur Bewältigung des kommunikativen Alltags in der ersten Aufenthaltszeit in Deutschland unentbehrlich sind. Beispiele für solche Realien sind Lexeme wie Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Gemeinde, Wochenende, Termin u.a. Eine ganz wichtige Untergruppe dieser Liste sind die in Deutschland in der Alltagskommunikation weit verbreiteten Fremdwörter, meist Anglizismen wie Blazer, Manager, Teenager, T-Shirt, Sweatshirt, Pullover, Computer, Layout, Software, up-to-date, Make-up, Job, City. Alle befragten Aussiedler haben auf Kommunikationsprobleme bezüglich dieser lexikalischen Schicht hingewiesen. 226 Die Analyse der transkribierten hochdeutschen Texte hat gezeigt, daß die rußlanddeutschen Sprecher im grammatischen und insbesondere syntaktischen Bereich des Deutschen bedeutend weniger Probleme haben als z.B. ihre russischen Ehepartner, die „normale“ Lerner des Deutschen sind und keine deutsch-dialektale Ausgangsbasis besitzen. Die Sprecher mit einer deutschdialektalen Basis verfugen über gefestigte syntaktische Regeln, die den Regeln des gesprochenen Deutschen sehr nahe kommen. Die wichtigen Regeln, z B die Zweigliedrigkeit des deutschen Satzes oder die Wortstellung im Nebensatz werden von Sprechern mit dialektaler Ausgangsbasis nicht verletzt, während bei russischen Deutschlemem dies der häufigste syntaktische Fehler ist. Die Einübung der syntaktischen Aspekte ist im Sprachkurs angesichts der beschränkten Förderungszeit nicht unbedingt erforderlich; es sollten auch hier wiederum eher lexikalische Klassen von speziellen Wortarten eingeübt werden, und zwar speziell die Konjunktionen, die unter starkem Interferenzeinfluß des Russischen stehen und von den Sprechern praktisch nicht beherrscht werden, wie die folgenden Beispiele zeigen: Rußlanddeutsche Konjunktionen sind Übersetzungen aus dem Russischen. russisch: ujiu u/ iu (i/ i - Ui) u u{i~i) mo amo, mo mo {to eto, to to) rußlanddeutsch: oder - oder und - und mo des mo selles deutsch: entweder - oder sowohl als auch bald dies baldjenes Durch die Aufteilung des Wortschatzes in geordnete Listen besteht eine realistische Möglichkeit, in der knappen Zeit der Sprachförderungsmaßnahmen den Aussiedlern auch Inhalte der landeskundlichen Thematik mit bestimmten Schwerpunkten zu vermitteln. In Lehrmaterialien für Aussiedler wird das zur Zeit ansatzweise auch schon getan. Doch sollten diese Inhalte nicht im Hintergrund von grammatischen Übungen und nicht in Form von zufälligen Mitteilungen zu finden sein, wie das häufig in den vorliegenden Lehrmaterialien zu beobachten ist. Die Vermittlung von speziellen Aspekten der landeskundlichen Thematik sollte in Form von expliziten zusammenhängenden (thematischen) Darstellungen oder Informationsblöcken erfolgen. Das Ziel solcher Informationsblöcke sollte dann die Einübung der relevanten Lexik zu dem jeweiligen Thema sein. Gründe für die explizite systematische Vermittlung von Kenntnissen sind folgende: 227 - Rußlanddeutsche Aussiedler haben in der Regel ein sehr defizitäres Wissen über bestimmte Aspekte des Landes „Deutschland“; auch eine beschränkte, aber systematische Vermittlung von lebenswichtigen Informationen würde schon zu einer besseren Integration beitragen. - Als Absolventen von sowjetischen Schulen sind rußlanddeutsche Aussiedler an die Methode der expliziten Vermittlung von systematischem Wissen gewöhnt und würden sicherlich diese Informationen für ihre Integrationsbemühungen nutzen können. - Wenn rußlanddeutsche Aussiedler einen deutschen Dialekt sprechen können, dann ist eine übermäßige Einübung der hochdeutschen Grammatik angesichts der knappen Zeit der Sprachförderungsmaßnahmen nicht nutzbringend; sprachliche Defizite bestehen in erster Linie im lexikalischen Bereich. 8.2 Anregungen zur Sprachgeschichte und zur Landeskunde Im Laufe der sechsmonatigen Sprachkurse sollten Aussiedler in bestimmten relevanten Fragen der Landeskunde unterrichtet werden. Es ist ja mittlerweile bekannt, und es ist in zahlreichen (wissenschaftlichen und anderen) Untersuchungen und in den Medien mehrmals thematisiert worden, daß Rußlanddeutsche ein „naives Heimkehrerbewußtsein“ haben, daß sie „Fremde im Westland“ sind und daß sie außerdem auch noch ein „fatalistisches Weltbild“ haben (Gehrke 1993, 97fF). Es ist auch von Sprachkurslehrern oftmals festgestellt worden, daß rußlanddeutsche Aussiedler obwohl sie gut verstehen und sprechen können in Sprachkursen jedoch regelmäßig bei der Bewertung das unterste Drittel bilden (Marx 1991). Daß Rußlanddeutsche häufig gut sprechen und verstehen können und trotzdem oftmals ‘sprachlos’ werden, ist vielen Sprachkurslehrern bekannt und wird von ihnen vor allem auf besondere Sprachdefizite zurückgefiihrt, die mit der dialektalen Kompetenz und deutschrussischer Zweisprachigkeit Zusammenhängen. Das haben Interviews mit Sprachkurslehrern in einer Pilotstudie in Mannheim gezeigt (Berend 1993, 155fF). Daß die Rußlanddeutschen oftmals eine Sprachkompetenz besitzen, die sich nicht in die gewohnten Vorstellungen einordnen läßt, haben auch erste Kontakte von deutschen Sprachwissenschaftlern mit rußlanddeutschen Spre- 228 ehern gezeigt (vgl. dazu Untersuchungen von Harald Weydt und Peter Rosenberg; hierzu besonders Weydt 1991; Rosenberg 1993). Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, daß die ‘Sprachlosigkeit’ der Rußlanddeutschen sich nicht auf Erfahrungen in Sprachkursen beschränkt. Dieses Phänomen wurde in verschiedenen Varianten in unterschiedlichen Kommunikationssituationen beobachtet (vgl. Kap. 3). Ich habe bereits ausgefiihrt, daß nach den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung bei Rußlanddeutschen vor allem lexikalische Defizite vorliegen und habe Vorschläge gemacht, welche lexikalischen Schichten, Wortgruppen und Wortklassen in erster Linie behandelt werden sollten. Durch das Erlernen des Wortschatzes sollte ein Teil der Sprachdefizite der rußlanddeutschen Aussiedler beseitigt werden. Ich möchte im folgenden noch einen Vorschlag zur Organisation des landeskundlichen Teils der Sprachkurse machen. Es geht hier um Informationen, die den Aussiedlern in expliziter Weise vermittelt werden sollten. Diese Themen haben sich während der Befragungen mit Aussiedlern herauskristallisiert und erweisen sich bei Integrationsbemühungen als besonders schwierig. Sie sollten möglichst in getrennten ‘Einfiihrungskursen’ vermittelt werden. Thematisch sind folgende Einfuhrungskurse vorzuschlagen: - (Sprach)geschichtlicher Einfuhrungskurs: Vermittlung von Kenntnissen über die Konstellationen der Auswanderung aus Deutschland/ Einwanderung in Rußland unter sprachgeschichtlichem Aspekt. - Dialektologischer Einfiihrungskurs: Vermittlung von Kenntnissen über dialektal-regionalen Sprachgebrauch in Deutschland. - Soziolinguistischer Einfuhrungskurs: Vermittlung von Kenntnissen über Dialekt/ Standard-Variation, Diglossie und angemessenen üblichen Sprachgebrauch. - Gesellschaftlich-politischer Einfiihrungskurs: Vermittlung von Kenntnissen über die gegenwärtige gesellschaftlich-politische Situation in Deutschland. Die genannten thematischen Bereiche lassen sich natürlich nicht strikt voneinander trennen. Bei der Durchführung der genannten Kurse sollten jeweils drei Schritte eingehalten werden, und zwar: a) Informationsvermittlung zum ge- 229 nannten Thema, b) Einbindung der jeweiligen Aussiedlerperson und der gesamten Aussiedlerbzw. rußlanddeutschen Minderheit in den aktuellen Fragenkomplex und c) Einübung der relevanten Lexik. Von den üblichen landeskundlichen Angeboten im Fremdbzw. Zweitsprachenunterricht unterscheidet sich das genannte Verfahren durch die systematische Einbeziehung der Aussiedlergruppe und jedes einzelnen Aussiedlers in das Thematik. Es soll also ein Bezug zwischen den behandelten Themen und den Rußlanddeutschen hergestellt werden. Beim sprachgeschichtlichen Einfuhrungskurs geht es um die Vermittlung von Kenntnissen über die Auswanderung der Vorfahren der Rußlanddeutschen aus Deutschland im 18. und 19 Jahrhundert. Dabei sollten folgende Fragen behandelt werden: In welcher Zeitphase, aus welchen Gebieten und aus welchen Gründen sind Deutsche nach Rußland ausgewandert? Wie war die sprachliche Situation zum Zeitpunkt der Auswanderung? Mit welchen Auswanderungsgebieten identifizieren sich welche Sprechergruppen der Rußlanddeutschen? Nach der Vermittlung dieser Informationen sollten Versuche unternommen werden, die Auswanderungsgebiete der Vorfahren der betreffenden Rußlanddeutschen nach sprachlichen Merkmalen zu ermitteln: Nicht als Selbstzweck, sondern zur Entwicklung von Motivation zur Erforschung der eigenen Vergangenheit und zum Finden gemeinsamer Wurzeln mit der neuen/ alten Heimat. Nach der Einübung der lexikalischen Klasse zu dieser Thematik sollte jeder Aussiedler, der einen Sprachkurs absolviert hat, über die Auswanderungsgeschichte der rußlanddeutschen Vorfahren einen kurzen Bericht erstellen können. Wichtig ist aber auch die Verbindung mit der Gegenwart, und dazu sollte der dialektologische Einfuhrungskurs durchgefuhrt werden. Beim dialektologischen Einfuhrungskurs geht es um die Vermittlung von Kenntnissen über den regionalen Sprachgebrauch in Deutschland. Hier soll Verständnis für die Vielfalt der Dialekte in Deutschland entwickelt und die anfängliche Überraschung darüber beseitigt werden (Berend 1991). Die regional-territoriale Verbreitung der Dialekte sollte anschaulich, am besten am Beispiel einer Dialektkarte, verdeutlicht werden. Als Begleitmaterial zur Demonstration von Dialekten kann die von Inter Nationes hergestellte Reihe „Deutsche Dialekte“ verwendet werden (erhältlich auch im Deutschen Spracharchiv am Institut für deutsche Sprache in Mannheim). Auf der Grundlage des Vergleichs sollten die wichtigsten Merkmale der einzelnen Dialekte herausgestellt werden. 230 Der nächste Schritt ist die Feststellung der eigenen dialektalen Basis bzw. der dialektalen Basis der Eltern oder Großeltern der Aussiedler. Die Untersuchung hat gezeigt, daß die rußlanddeutschen Sprecher eine vage Sprachorientierung haben und daß ihnen die eigene dialektale Zuordnung in der Regel nicht bekannt ist. Sie können ihre Sprechweise nicht als hessisch oder pfälzisch identifizieren. Dies ist aus sprachlichen Gründen vielleicht auch nicht nötig. Zahlreiche Gespräche mit Informanten haben gezeigt, daß dies aus ganz anderen Gründen für die rußlanddeutschen Aussiedler wichtig sein kann, und zwar zur Entstigmatisierung der eigenen deutschen Varietät. Wie im Laufe der Untersuchung deutlich geworden ist, halten die Sprecher ihren Heimatdialekt für eine deutsch-russische Mischsprache; und das ist der Grund der Stigmatisierung der eigenen Primärsprache. Außerdem wird der rußlanddeutsche Dialekt von den Sprechern selbst als „unmodern“ eingestuft und in der Kommunikation vermieden, was zu erheblichen Schwierigkeiten verschiedenen Typs führen kann (vgl. Kap. 3). Die bewußte Aufwertung der rußlanddeutschen Varietät zu einem deutschen Dialekt kann zum Aufbau und zur Stabilisierung der eigenen Identität der (dialektsprechenden) rußlanddeutschen Aussiedler führen und ein positives Sprachbewußtsein bei ihnen entwickeln. Das würde zur Minderung der sprachlichen Selbstwertdefizite und zur Emanzipation der Gruppe beitragen. Der soziolinguistische Einführungskurs hat zur Aufgabe, auf die binnendeutsche Diglossie einerseits und die innere Mehrsprachigkeit andererseits hinzuweisen und sie den Aussiedlern deutlich zu machen. Sie müssen wenigstens theoretisch eine Vorstellung davon haben, wie, wann, warum und wozu es Diglossie (Besch 1983) gibt, warum nicht alle Deutschen immer hochdeutsch sprechen (vgl. Kap. 3) und warum die verschiedenen deutschen Dialekte so unterschiedlich sie auch sind in der Kommunikation nicht als Verständigungshindernis auftreten. Es muß hier die Rolle der hochdeutschen Standardsprache und der regionalen Varianten im Kommunikationsprozeß verdeutlicht werden. Auch die Problematik der inneren Mehrsprachigkeit des Deutschen (Wimmer 1994) sollte hier beleuchtet werden, ebenso das für rußlanddeutsche Aussiedler sehr schwierige Problem der fremdsprachigen Einflüsse im Deutschen. Dem Erlernen der lexikalischen Schicht der im Deutschen weit verbreiteten Anglizismen sollte eine Begründung der Übernahme dieser lexikalischen Klasse vorausgeschickt werden. Diese Thematik (unverständlicher fremdsprachiger Einfluß im Deutschen! ) wurde von vielen Informanten in den Interviews angesprochen, und es besteht hier ein großer Erklärungsbedarf. 231 Zuletzt habe ich noch einen Einfuhrungskurs vorzuschlagen, der auf den ersten Blick nichts mit Sprache oder Spracherwerb zu tun hat: den gesellschaftlich-politischen Einfuhrungskurs. Ich betrachte die sprachliche Anpassung der Rußlanddeutschen an ihre neue Umgebung als Teil ihrer sozialen Integration in die aufnehmende Gesellschaft. Und es gibt viele Bereiche des gesellschaftlich-politischen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland, die zwar unmittelbaren Bezug zur Aussiedlerproblematik haben, aber von den Aussiedlern selbst insbesondere in der ersten Phase ihres Aufenthalts in Deutschland als fraglich, unverständlich, problematisch und widersprüchlich empfunden werden. Dabei geht es oft auch um existentielle Dinge, deren Kenntnis für eine gelungene Integration - oder auch nur für den Anfang einer Integration unabdingbar ist. Oft kommen Aussiedler wegen dieser Kenntnisdefizite in Situationen, in denen sie völlig orientierungslos sind. Man sollte diese aussiedlerspezifischen Themen in Sprachkursen ganz explizit behandeln, d.h. den Aussiedlern über die brisanten Bereiche, die unmittelbar mit ihrer Existenz zu tun haben, explizit und systematisch Kenntnisse vermitteln. Im Laufe meiner Untersuchung haben sich einige Fragenkomplexe herauskristallisiert, die den Aussiedlern in ihrer ersten Aufenthaltsphase in Deutschland (also auch zur Zeit der Sprachförderungsmaßnahmen) als besonders relevant erschienen. Dazu gehören: NationalitätenbegrifT- Differenzierungen in Ost- und in Westeuropa; Vertriebenen-ZFlüchtlingsproblematik; Gastarbeiter-/ Arbeitsmigranten- Problematik; Asylanten- und Asylbewerberffagen; politische Parteien/ Wahlen in der Bundesrepublik, u.a. Diese Themen müssen in Sprachkursen mit explizitem Bezug zur Aussiedlerproblematik behandelt werden. Meine Vorschläge könnten den Eindruck vermitteln, daß ich zu hohe Ansprüche an die sprachorientierten und „landeskundlichen“ Förderungsmaßnahmen für rußlanddeutsche Aussiedler stellen will. Dies liegt aber überhaupt nicht in meiner Absicht. Vielmehr geht es mir darum, a) der Bedürfnislage der Rußlanddeutschen zu entsprechen und b) an die Erfahrungen anzuknüpfen, die die Rußlanddeutschen mitbringen. Die Rußlanddeutschen müssen in den für sie vorgesehenen Integrations- und Förderungsmaßnahmen bei ihren bisherigen Lebenserfahrungen „abgeholt“ werden, wie Didaktiker es zu formulieren pflegen. Dementsprechend denke ich bei den Einführungen in sprachhistorische und dialektologische Zusammenhänge natürlich nicht an theoretische Seminare irgendwelcher Art, sondern an beispielorientierte Erläuterungen, Kommentare und Gespräche. Die Rußlanddeutschen bringen, wenn sie nach Deutschland kommen, eine große Erwartungshaltung mit, der man durch eine Aufklärung über ihre historische Situation entgegenkommen sollte. Die Erwartungshai- 232 tung der Rußlanddeutschen wird begleitet von einem großen Anpassungswillen, aus dem sich auch eine starke Motivation zum Verstehen ihrer soziokulturellen Situation in ihrer neuen Heimat ergibt. Ein Hauptproblem meiner Vorschläge liegt nicht in den gestellten Anforderungen, sondern in den Umsetzungsmöglichkeiten. Natürlich fehlen (nach wie vor) geeignete Unterrichtsmaterialien, die auf die Ausgangslage der Rußlanddeutschen hinreichend eingehen; und natürlich mangelt es an Personal, das einen solchen Unterricht durchführen könnte. Dieses Personal müßte nämlich eine originäre Kompetenz in den rußlanddeutschen Dialekten, im Russischen und im Standarddeutschen haben. Auf diese Schwierigkeiten in der Umsetzung der Vorschläge kann ich im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht näher eingehen. Aber das Aufweisen von Schwierigkeiten kann Richtungen andeuten, in denen weiter nachgedacht werden kann. Ich möchte noch auf eine didaktisch-kommunikative Besonderheit in der Erfahrung der Rußlanddeutschen aufmerksam machen. Die Rußlanddeutschen haben in den Schulen ihrer alten Heimat einen (aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland) autoritären Erziehungsstil erfahren. Das heißt, es gab in Rußland keinen kommunikativen Sprach- und Kulturunterricht, der im Erziehungsstil und in der Vermittlung von Kenntnissen in besonderer Weise auf die Alltagserfahrungen und alltäglichen Lebenserfahrungen der „Schüler/ irmen“ eingegangen wäre. Dies ist sicher ein Defizit; aber man muß diese mitgebrachten Unterrichtserfahrungen der Rußlanddeutschen bei den Integrations- und Förderungsmaßnahmen berücksichtigen. Die Rußlanddeutschen erwarten, wenn sie nach Deutschland kommen, direkte (und „frontale“) Kenntnis- und Informationsvermittlung über Inhalte, die für sie relevant sind. Diesem Erfordernis werden bisherige Förderprogramme meistens nicht gerecht. Dies zu sagen bedeutet aber keineswegs ein Plädoyer für einen autoritären, nicht kommunikativen Unterricht. Im Gegenteil; ich weiß, daß die Aussiedler es begrüßen, daß ihre in Deutschland geborenen Kinder hier kommunikativ und in einem anderen Erziehungsstil unterrichtet werden als in Rußland. Mein Hinweis bezieht sich allein auf die Aussiedler, die ihre Erziehungserfahrungen in Rußland gesammelt haben. 8.3 Zusammenfassung Es ist kein vorrangiges Ziel der vorliegenden Arbeit, didaktische oder gar speziell didaktisch-methodische Vorschläge zu erarbeiten. Trotzdem ergeben 233 sich aus den Untersuchungen inhaltliche Konsequenzen, die für eine didaktische Umsetzung in Integrationsförderungsmaßnahmen wichtig sind. Die Konsequenzen beziehen sich auf zwei Bereiche: a) den Bereich des Sprachunterrichts im engeren Sinne (Kap. 8.1) und b) den Bereich der kulturhistorischen und sozio-kulturellen Erfahrungen (Kap. 8.2). In bezug auf den sprachunterrichtlichen Bereich habe ich vorgeschlagen, daß sich die Bemühungen auf die Wortschatzerweiterung konzentrieren sollten. Es wird eine Klassifikation der Wortschatzbereiche vorgelegt, die besondere Aufmerksamkeit verlangen. In bezug auf den sozio-kulturellen Bereich wird vorgeschlagen, relevante Informationen aus der Sprach- und Kulturgeschichte, aus der Dialektologie, aus der Soziolinguistik für die gegenwärtige Sprachsituation in Deutschland und aus der Landeskunde bereitzustellen. Wesentliche Leitidee ist, daß bei allen Maßnahmen an die Ausgangslage der rußlanddeutschen Aussiedler angeknüpft wird. 234 9. Schlußwort Die vorliegende Arbeit hat die sprachlich-kulturelle Anpassung der rußlanddeutschen Aussiedler an ihre neue Umgebung in Deutschland zum Gegenstand. Diese Anpassung geschieht in vielerlei Hinsicht unter ganz besonderen Voraussetzungen und Bedingungen verglichen mit anderen sprachlichen Anpassungsprozessen, die von Linguisten und Soziolinguisten beobachtet und beschrieben wurden. Nicht nur die besondere Mehrsprachigkeitssituation der rußlanddeutschen Aussiedler ist bemerkenswert: Viele sprechen ihren rußlanddeutschen, fossilisierten Dialekt und halten diesen für das Deutsche schlechthin; viele sprechen daneben russisch und bewegen sich im Russischen fast wie in ihrer Muttersprache, und schließlich bemühen sich alle um das Standarddeutsche und lernen außerdem noch den deutschen Regionaldialekt ihrer neuen Heimat. Die sprachliche Anpassung der Rußlanddeutschen steht abgesehen von dieser besonderen Mehrsprachigkeitssituation unter dem Vorzeichen eines besonderen Anpassungswillens und eines besonderen Anpassungsdrucks. Die Aussiedler kommen mit einem ungewöhnlichen Anpassungswillen nach Deutschland und unterscheiden sich dadurch von vielen anderen fremdsprachigen und fremdkulturellen Minderheiten Das Ziel vieler Rußlanddeutscher war über Jahre (und manchmal auch Jahrzehnte) hinweg, nach Deutschland auszuwandern, um hier ihre „Muttersprache“ wirklich zu sprechen und ihre eigentliche Identität als Deutsche zu finden. Das heißt, die meisten Rußlanddeutschen leben in ihrer neuen Heimat mit einem fast „natürlich“ zu nennenden Anpassungswillen. Dieser Anpassungswille wird von der Bundesregierung seit Jahren systematisch unterstützt; man fast kann von einem komplementären Anpassungsdruck sprechen. Die Bundesregierung unterstützt die sprachlich-kulturelle Integration der Rußlanddeutschen massiv, und zwar sowohl ideell als auch finanziell; dabei wird die sprachliche Anpassung immer wieder auch explizit als eine wesentliche Voraussetzung der wirtschaftlich-kulturellen Integration hervorgehoben und gefordert (vgl. z.B. Waffenschmidt 1996). Anpassungswille und Anpassungsdruck werden sprachlich bei den rußlanddeutschen Aussiedlern wahrscheinlich zu folgenden Veränderungen führen: 1. Der rußlanddeutsche Dialekt wird von der Generation der Aussiedelnden großenteils noch gut aktiv beherrscht. Er wird in der darauffolgenden Generation aussterben. Reste des Rußlanddeutschen und charakteristische 235 dialektale Spuren werden sich in der Sprache der folgenden Generation erhalten, und sie werden ein „Identitätssignal“ bleiben. 2. Das Russische als von den Aussiedelnden mitgebrachte Verkehrssprache wird sich in dieser Funktion nicht in die nächste Generation übertragen. Die Kinder der Aussiedler werden von dem Russisch ihrer Eltern nur insofern profitieren, als sie wenn sie denn Russisch als Fremdsprache lernen russisch sprechende Gesprächspartner haben. 3. Die Kinder der Aussiedler werden eine Mischung aus Standarddeutsch und Regionaldialekt (ihrer neuen Heimat) sprechen. Nur einzelne Merkmale des Rußlanddeutschen werden als „Identitätssignale“ in ihrer Sprache überleben. Die Rußlanddeutschen empfinden diese Veränderungen nicht als Verlust zum großen Teil wegen ihres erwähnten, historisch gut erklärbaren Anpassungswillens. Der Ausdruck „Anpassung“ hat für die meisten Rußlanddeutschen keinen negativen „Klang“. Die Rußlanddeutschen brauchen in ihrer neuen Umgebung sprachliche Anpassungshilfe (vgl. Kap. 8). Darüberhinaus brauchen die Rußlanddeutschen zugleich aber auch eine Stärkung ihres Selbstvertrauens. 236 10. Literatur Das Literaturverzeichnis hat zwei Teile. Der erste Teil umfaßt die Sekundärliteratur, der zweite die russischsprachige (nicht übersetzte) Literatur. 10.1 Sekundärliteratur Agheyisi, Rebecca/ Fishman, Joshua A. (1970): Language Attitude Studies. A Brief Survey of Methodological Approaches. In: Anthropological Linguistics 11, 137-157. Althaus, Hans P (1967): Lehnwortgeographie und Entlehnungsvorgang. In: Zeitschrift für Mundartforschung 34, 226-239. Ammon, Ulrich (1983): Soziale Bewertung des Dialektsprechers: Vor- und Nachteile in Schule, Beruf und Gesellschaft. In: Besch et al. (Hg.). 1499- 1509. Ammon, Ulrich/ Dittmar, Norbert/ Mattheier, Klaus J. (Hg.) (1987/ 88): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 2 Halbbände). Berlin/ New York. Anders, Kerstin (1993): Einflüsse der russischen Sprache bei deutschsprachigen Aussiedlern (= Arbeiten zur Mehrsprachigkeit 44). Hamburg. Atteslander, Peter (1988): Befragung. 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Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Weitere Bände der Reihe: Daniel Bresson / Jacqueline Kubczak (Hrsg.) Abstrakte Nomina Vorarbeiten zu ihrer Erfassung in einem zweisprachigen syntagmatischen Wörterbuch Band 10, 1997, 300 Seiten, DM 120,-/ / ÖS 876,-/ SFr 108,- ISBN 3-8233-5140-0 In diesem Band werden die Ergebnisse eines deutsch-französischen Kooperationsprojekts vorgestellt. Im Zentrum steht ein Konzept für die Behandlung abstrakter Nomina in einem zweisprachigen syntagmatischen Wörterbuch deutsch-französisch/ französisch-deutsch. Die Nomina werden als Prädikate mit Argumentstrukturen betrachtet, die zusammen mit Stützverben (verbes supports) den Kern eines Satzes bilden. Neben der ausführlichen syntaktischen und semantischen Charakterisierung der Argumente wird besonders auf die angemessene Behandlung von Kollokationen, idiomatischen Phrasemen und Komposita Wert gelegt. Wolfgang Teubert (Hrsg.) Neologie und Korpus Band 11, 1998, 170 Seiten, DM 68,-/ ÖS 496,-/ SFr 65,- ISBN 3-8233-5141-9 Der Sammelband enthält ausgewählte und umfassend überarbeitete Beiträge eines Kolloquiums über Möglichkeiten und Probleme einer korpusbasierten Neologismenlexikographie. Das in der Germanistik lange vernachlässigte Thema der Neologie und des lexikalischen Wandels wird in theoretischen, methodologischen und praktischen Aspekten beleuchtet. Angelika Storrer / Bettina Harriehausen (Hrsg.) Hypermedia für Lexikon und Grammatik Band 12, 1998, 275 Seiten, DM 96,-/ ÖS 701,-/ SFr 86,- ISBN 3-8233-5142-7 Die Beiträge des interdisziplinär ausgerichteten Sammelbandes behandeln aus theoretischer und aus anwendungsbezogener Perspektive die neuartigen Gestaltungsmöglichkeiten, die Hypermedia in den Bereichen Lexikographie, Terminographie und Grammatikschreibung eröffnet. Textlinguistische, informationswissenschaftliche und mediendidaktische Fragestellungen werden am Beispiel konkreter Anwendungen diskutiert. Der Band behandelt die sprachliche Anpassung und Integration von rußlanddeutschen Aussiedlern, die seit Mitte der 80er Jahre nach Deutschland gekommen sind. Ihre sprachlich-soziale Situation in Deutschland ist durch eine charakteristische Mehrsprachigkeit gekennzeichnet. Die unterschiedlichen sprachlichen Formen werden anschaulich an Textbeispielen demonstriert. Es werden dialektologische und soziolinguistische Untersuchungen durchgeführt, die zeigen, wie sich die Sprechweisen einzelner Gruppen von Aussiedlem im Verlauf des Anpassungs- und Integrationsprozesses verändern, und es werden Konsequenzen für den die Integration unterstützenden Sprachunterricht aufgezeigt. ISBN 3-8233-5144-3