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Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext

2016
978-3-8233-9059-6
Gunter Narr Verlag 
Sara Izzo

Diese Arbeit befasst sich mit dem noch wenig erforschten politischen Spätwerk des französischen Autors Jean Genet (1910-1986) aus diskursanalytischer und feldtheoretischer Perspektive. Die Singularität und Ambivalenz seines im Mai '68 einsetzenden politischen Engagements wird in einem Vergleich mit den intellektuellen Bezugsgrößen von Jean-Paul Sartre und Michel Foucault einerseits und den gegenkulturellen Positionen von Allen Ginsberg und William S. Burroughs andererseits herausgearbeitet. Durch die historisch determinierte und diskursspezifische Kontextualisierung der vor dem Hintergrund weltweiter Protestbewegungen verfassten politischen und journalistischen Schriften werden die diskursiven Problemfelder einer gesamten Protestgeneration von ihren Anfängen bis zu ihrem allmählichen Niedergang beleuchtet. Einen Wandel markiert insbesondere die retrospektive literarische Bilanz Un captif amoureux (1986), wie die darin in Form eines intertextuellen Dialoges vollzogenen Umschreibungen und Umdeutungen des politisch-journalistischen Materials aufzeigen.

lendemains Diese Arbeit befasst sich mit dem noch wenig erforschten politischen Spätwerk des französischen Autors Jean Genet (1910-1986) aus diskursanalytischer und feldtheoretischer Perspektive. Die Singularität und Ambivalenz seines im Mai ’68 einsetzenden politischen Engagements wird in einem Vergleich mit den intellektuellen Bezugsgrößen von Jean-Paul Sartre und Michel Foucault einerseits und den gegenkulturellen Positionen von Allen Ginsberg und William S. Burroughs andererseits herausgearbeitet. Durch die historisch determinierte und diskursspezifische Kontextualisierung der vor dem Hintergrund weltweiter Protestbewegungen verfassten politischen und journalistischen Schriften werden die diskursiven Problemfelder einer gesamten Protestgeneration von ihren Anfängen bis zu ihrem allmählichen Niedergang beleuchtet. Einen Wandel markiert insbesondere die retrospektive literarische Bilanz Un captif amoureux (1986), wie die darin in Form eines intertextuellen Dialoges vollzogenen Umschreibungen und Umdeutungen des politisch-journalistischen Materials aufzeigen. edition lendemains 41 ISBN 978-3-8233-8059-7 Sara Izzo Jean Genet und der revolutionäre Diskurs Sara Izzo Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext edition lendemains 41 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel), Andreas Gelz (Freiburg) und Christian Papilloud (Halle) Sara Izzo Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext Als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wil‐ helms-Universität Bonn entstanden. Umschlagabbildung: Jean Genet face à un policier, 1970. © Fondation Gilles Caron/ GAMMA RAPHO © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72 070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver‐ lages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-8059-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 0 11 1 14 1.1 14 1.1.1 14 1.1.2 20 1.1.3 28 1.2 33 1.3 37 2 43 2.1 48 2.2 57 2.2.1 58 2.2.2 78 2.3 105 2.3.1 106 2.3.2 115 2.3.3 124 2.3.4 134 2.3.5 143 2.3.6 152 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodisches Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Diskursbegriff bei Foucault und Bourdieu . . . . . . . . . Aussagenspezifische Bezugssysteme: Foucaults ‚champ de possibilités stratégiques‘ und Bourdieus ‚espace des possibles‘ im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prämissen der methodischen Anwendung: Die feldspezifische Positionierung von Jean Genet und die Bedeutung des revolutionären Diskurses . . . . . . . . . . . . . . Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jean Genet im Fokus der medialen Öffentlichkeit: Zwischen revolutionärer Emblematisierung und Anonymitätsgebot . . . . Intellektuelle Handlungsentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genet und Sartre: Der Poet und der Philosoph . . . . . . . . . Genet und Foucault: Kooperation im ‹Groupe d’information sur les prisons› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik an der Rechtsstaatlichkeit aus Sicht Genets, Sartres und Foucaults . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen ‚tribunal populaire‘ und ‚contre-procès‘ - Sartres und Foucaults Kritik an der Institution des Gerichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vor Gericht: Zur Problematik der Zeugenaussage . . . . . . «La Sentence» - Genets Kritik an der Rechtsprechung . . Zur Bedeutung strafrechtlicher Kategorien: politische Gefangene oder Strafgefangene? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . «Le Langage de la muraille» - Genets Antwort auf «Surveiller et punir» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Begriff der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 164 3 167 3.1 172 3.1.1 172 3.1.2 181 3.1.3 191 3.2 198 3.2.1 202 3.2.2 215 3.2.3 222 3.3 228 3.3.1 232 3.3.2 241 3.3.3 253 3.4 264 4 269 4.1 276 4.2 289 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genet, Ginsberg, Burroughs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genet als Inspirationsquelle für die Autoren der ‹Beat Generation› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genet, Ginsberg und Burroughs als Akteure der gegenkulturellen Öffentlichkeit in den USA . . . . . . . . . . . Genets Selbstverständnis als ‚voyageur‘ und das poetische Konzept von Revolution im Vergleich zu Ginsbergs Perspektive des Reisenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ereignis schreiben im Grenzbereich zwischen Journalismus und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varianten eines impressionistischen Journalismus: Genet und Burroughs als Reporter für «Esquire» . . . . . . . . . . . . Ereignisinspirierte Poesie: Ginsbergs Begriff der poetischen Reportage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Genets journalistischer Pastiche des literarischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antiamerikanische und antiwestliche Kritik aus der Sicht Genets, Ginsbergs und Burroughs’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Vietnamkrieg als Symptom der amerikanischen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Interpretation des Vietnamkrieges als sprachlicher Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . William S. Burroughs’ Cut-up-Methode und Genets Konzept der ‚écriture arachnéenne‘ als antiwestliche Schreibarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» Der Einfluss der journalistischen Reportage auf «Un captif amoureux» am Beispiel von „Quatre Heures à Chatila“ und die ästhetischen Prinzipien der Zeugenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autoreflexive Kritik zur eigenen Funktion in der Öffentlichkeit: die Transkription des Interviews als dialogische Selbstbefragung in «Un captif amoureux» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 296 4.4 307 4.5 317 4.6 326 5 331 335 I. 335 II. 338 III. 339 IV. 341 V. 343 VI. 344 Die Transposition des Selbstbildes als ‚voyageur‘ in eine makrokosmische Erzählperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Umdeutung des Kanons in «Un captif amoureux»: Von der revolutionären Kunstform zum kriegerisch-musikalischen Täuschungsmanöver . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Interpretation der ‚écriture arachnéenne‘ als eine erinnerungsliterarische Gegenform zur westlichen Memoriakultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriften von Jean Genet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriften von William S. Burroughs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriften von Michel Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriften von Allen Ginsberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriften von Jean-Paul Sartre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung Entstanden ist die vorliegende Arbeit als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. In Dank für die Unterstützung während der gesamten Promotion möchte ich die Arbeit meinen Eltern, meinem Bruder Sergio und Olivier widmen. Meinen herzlichen Dank möchte ich insbesondere meiner Doktormutter Prof. Dr. Mechthild Albert für ihre Zuversicht in mein Projekt und die motivierende wissenschaftliche Be‐ treuung aussprechen. Zu Dank verbunden bin ich darüber hinaus meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Paul Geyer, der Vorsitzenden meiner Prüfungskommis‐ sion Prof. Dr. Daniela Pirazzini und Prof. Dr. Michael Bernsen. Mein aufrichtiger Dank gilt Albert Dichy für unser Gespräch zu Beginn der Promotion, welches für die thematische Entwicklung des Projektes von Bedeutung war, sowie für die durch ihn ermöglichten Recherchen im Fonds Jean Genet des IMEC . Für die anregenden Diskussionen und gewinnbringenden Anmerkungen möchte ich auch allen Teilnehmern des von Prof. Dr. Mechthild Albert geleiteten Dokto‐ randenkolloquiums danken, die den Entstehungsprozess der Arbeit konstruktiv begleitet haben. Mein besonderer Dank gilt Dr. Ulrike Becker und Dr. Elmar Schmidt für die kollegiale Hilfe zu Beginn des Veröffentlichungsprozesses. Ich danke meinem Bruder Sergio darüber hinaus für die korrigierende Lektüre der Arbeit. Meinen Freundinnen Elena, Jenny und Roxana danke ich für die moralische Unterstützung, die fachlichen Ratschläge und das stets offene Ohr. 10 1 Jean Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, ohne Seitenangabe. 0 Einleitung „J. G. cherche, ou recherche, ou voudrait découvrir, ne le jamais découvrir, le délicieux ennemi très désarmé, dont l’équilibre est instable, le profil incertain, la face inadmissible, […] je cherche l’ennemi déclaré.“ 1 Mit diesen Worten, die nicht nur in den sechsten und letzten Band seiner Werke, die politischen Reden und Texte, einleiten, sondern diesem auch seinen Titel geben, lässt sich Jean Genets Einsatz im politischen Zeitgeschehen metaphorisch als eine auf der po‐ litischen Bühne der Öffentlichkeit vorgenommene Suche nach dem erklärten Feind umschreiben. Ausgehend von den Ereignissen im Mai 1968 unterstützt er insbesondere die Black Panther Party in den USA und den palästinensischen Befreiungskampf, aber auch die Immigranten in Frankreich und die Rote Armee Fraktion. Er schreibt über den Vietnamkrieg und die Friedensdemonstrationen in den USA , die Willkür des französischen und amerikanischen Justizsystems und entwirft eine Kampagne gegen die Wahl von Giscard d’Estaing 1974. Seine Haltung der Konfrontation charakterisiert die gesamten zwischen 1968 und 1983 entstandenen politischen Schriften und Interventionen, die sich im Kontext eines historisch determinierten revolutionären Diskurses situieren lassen. Fas‐ zinierend und umstritten zugleich, formen sie das Substrat, auf dessen Basis sich sein ambivalentes politisches Profil nachzeichnen lässt. Gekennzeichnet durch seine Ablehnung jedweder seine schriftstellerische und gesellschaftskritische Haltung subsumierender Kategorien, lässt sich seine Sichtweise vor allem ex negativo bestimmen: nicht Intellektueller, sondern Poet, nicht Revolutionär, sondern Vagabund oder Reisender, nicht Beobachter der Gesellschaft, sondern ihr Kontrahent. In dieser durch Abgrenzung bestimmten Selbstdefinition ist die vergleichende Grundstruktur der vorliegenden Untersuchung begründet. So kristallisiert sich Jean Genets öffentliche Position in bestimmten Personenkonstellationen be‐ sonders deutlich heraus. Seine politischen Aktivitäten in Frankreich lassen sich nicht ohne eine Kontrastierung mit Jean-Paul Sartre und Michel Foucault fassen, die dem intellektuellen Feld der sechziger und siebziger Jahre durch unter‐ schiedliche Handlungsentwürfe seine Prägung geben. In den USA ist sein öf‐ 2 Manfred Berg: „Pulverfass mit kurzer Lunte“, in: Die Zeit 20, 13. Mai 2015, aufgenommen in: Zeit Online, 27. Mai 2015, http: / / www.zeit.de/ 2015/ 20/ rassismus-usa-race-riotsbaltimore-ferguson [letztmals aufgerufen am 09. Juli 2016]. 3 Die Unruhen in Ferguson und Baltimore entfesseln sich infolge polizeilicher Übergriffe auf afroamerikanische Jugendliche. In Ferguson wird 2014 ein afroamerikanischer Ju‐ gendlicher durch einen Polizisten erschossen, in Baltimore erliegt 2015 ein afroameri‐ kanischer Jugendlicher den bei seiner Verhaftung zugefügten Verletzungen. 4 Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass die Problematik vor einer neuen Eskalation steht. Wie Bernd Ulrich hervorhebt, handelt es sich um einen anhaltenden „Kampf Schwarz gegen Blau“: Zwischen Januar und Juli 2016 seien 123 Schwarze von Polizisten erschossen worden. Vgl. Bernd Ulrich: „Warum ist da so viel Wut? “, in: Die Zeit 30, 14. Juli 2016, pp. 3-4, hier 4. fentliches Bild eng an die Autoren der Beat Generation gebunden, die als Be‐ zugsgrößen im gegenkulturellen Feld agieren. Jean Genets politische Stellungnahmen sollen folglich als Elemente bestimmter Aussagensysteme und Korrelationsräume mit jeweils spezifischen diskursiven Gegenständen, Kon‐ zepten und Argumentationsmustern beleuchtet werden. Am Beispiel seiner zwischen 1968 und 1986 entstandenen Texte lässt sich auch ein Wandel des so ermittelten Diskurses nachzeichnen, der durch die Öffnung und den Verschluss des Möglichkeitshorizontes einer umfassenden gesellschaftlichen Veränderung bestimmt wird. Insbesondere in seinem letzten literarischen Werk Un captif amoureux von 1986 zieht Jean Genet eine Bilanz seines gesellschaftspolitischen Handelns, zu einem Zeitpunkt, als er die revolutionären Bewegungen in ihrer Endlichkeit erfasst. Mit der letzten Seite von Un captif amoureux, das kurz nach dem Tod seines Autors erscheint, schließt sich symbolisch auch ein Kapitel der Zeitgeschichte, deren Entwicklungen jedoch auf die Gegenwart ausstrahlen. Es zeugt von Genets politischer Weitsicht, dass weiterhin jene Konfliktherde, auf die er in besonderem Maße sein Augenmerk richtete, ihren Platz in den aktuellen Schlagzeilen finden. Dazu zählen nicht nur der Nahostkonflikt, son‐ dern auch die jüngst wieder aufkeimenden Rassenunruhen in den USA . „Ame‐ rika diskutiert wieder über Rassismus“ 2 - mit diesen Worten leitet beispielsweise der Historiker Manfred Berg in seinen Beitrag über die Proteste gegen die Po‐ lizeigewalt in Ferguson und Baltimore ein, 3 in dem er einen direkten Vergleich mit den Unruhen in den sechziger Jahren anstellt. 4 Man würde der politischen Schlagkraft von Genets Texten jedoch nicht gerecht, wenn man sich ihnen allein mit rationalen Erklärungsmodellen, wie etwa dem Bemessungskriterium der Weitsicht, des Scharfsinns, der Richtigkeit oder auch der Falschheit, nähern wollte. Denn was seine Haltung vor allem charakterisiert, ist die Radikalität seiner Position, welche auf dem Verständnis einer poetischen Negation basiert und in seinen Augen überhaupt erst eine neue Sichtweise eröffnen kann. Diese 0 Einleitung 12 soll in der vorliegenden Arbeit mit dem methodischen Ansatz einer Verschrän‐ kung der Diskursanalyse nach Foucault und der Feldtheorie nach Bourdieu er‐ gründet werden. 0 Einleitung 13 1 Pierre Bourdieu: Ce que parler veut dire. L’économie des échanges linguistiques, Paris: Fayard 1982, p. 165. 2 Michel Foucault: L’archéologie du savoir, Paris: Gallimard 2011 [1969]. 1 1.1 1.1.1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand Methodisches Konzept Der nachfolgende Vergleich des diskursanalytischen Ansatzes nach Michel Fou‐ cault und des feldtheoretischen Analyseansatzes nach Pierre Bourdieu zielt auf eine synthetische Verknüpfung beider Theoriemodelle ab. In zwei Stufen sollen Divergenzen und Berührungspunkte gegeneinander abgewogen werden. In einem ersten Schritt soll der in beiden Theorien grundsätzlich unterschiedlich konzipierte Diskursbegriff beleuchtet werden, um dann in einem zweiten Schritt die in Bourdieus Begriff des Möglichkeitsfeldes operationalisierbare Schnitt‐ menge zu beschreiben. Der Diskursbegriff bei Foucault und Bourdieu „Il n’y a pas de science du discours considéré en lui-même et pour lui-même.“ 1 Mit dieser Aussage setzt sich der französische Soziologe Pierre Bourdieu ein‐ deutig von den methodischen Ansätzen Michel Foucaults ab. Dessen zwischen 1966 und 1970 in unterschiedlichen Phasen entwickelte Theorie der Diskurs‐ analyse will sich von traditionellen Geschichtsmodellen abheben, indem das für letztere typische Denken in großen Einheiten und Kontinuitäten (Epochen, Jahrhunderten, kollektiven Mentalitäten, Bewegungen, Schulen, Gruppie‐ rungen), die Suche nach den Ursprüngen sowie das Verständnis der Souveränität des Subjektes in Frage gestellt werden. Die bei Foucault bewusst unpräzise und variabel gehaltene Definition des Diskursbegriffs unterliegt innerhalb seines Gesamtwerks einem bedeutenden Wandel. Während Foucault den Diskursbe‐ griff in seinem Frühwerk im Kontext unterschiedlicher Themenbereiche prak‐ tisch anwendet, definiert er ihn in L’archéologie du savoir  2 in Hinblick auf die Entwicklung eines Instrumentariums für die Diskursanalyse und rückt ihn in 3 Michel Foucault: L’ordre du discours, leçon inaugurale au Collège de France prononcée le 2 décembre 1970, Paris Gallimard 2010 [1971]. 4 Auf diese spätere Phase der Verflechtung von Diskurs- und Machttheorie wird inner‐ halb des analytischen Teils in Hinblick auf die Interdependenzbeziehungen zwischen den Zeitgenossen Foucault und Genet rekurriert, so dass an dieser Stelle die auf das analytische Instrumentarium ausgerichtete Begriffsdefinition herangezogen werden soll. 5 Foucault: L’archéologie du savoir, p. 27-28. 6 Ibid., p. 110. 7 Ibid., p. 111. L’ordre du discours  3 als machtorientierte Instanz vorübergehend ins Zentrum seiner machttheoretischen Überlegungen. 4 Wie er in seiner Einleitung zu L’ar‐ chéologie du savoir darlegt, setzt er sich in diesem Werk zum Ziel, das metho‐ dologische Grundgerüst seiner Diskursanalyse auszuarbeiten, welche bereits in früheren Studien Anwendung gefunden hat: Ce travail n’est pas la reprise et la description exacte de ce qu’on peut lire dans l’Histoire de la Folie, la Naissance de la Clinique, ou Les Mots et les Choses. […] Il comporte aussi pas mal de corrections et de critiques internes. […] [D]ans Les Mots et les Choses, l’absence de balisage méthodologique a pu faire croire à des analyses en termes de totalité culturelle. 5 Foucault betont in L’archéologie du savoir die bewusste Polyvalenz seiner Dis‐ kursdefinition: Enfin au lieu de resserrer peu à peu la signification si flottante du mot ‚discours‘, je crois bien en avoir multiplié les sens: tantôt domaine général de tous les énoncés, tantôt groupe individualisable d’énoncés, tantôt pratique réglée rendant compte d’un certain nombre d’énoncés; et ce même mot de discours qui aurait dû servir de limite et comme d’enveloppe au terme d’énoncé, ne l’ai-je pas fait varier à mesure que je déplaçais mon analyse ou son point d’application, à mesure que je perdais de vue l’énoncé lui-même? 6 Denn wie er hier verdeutlicht, bezeichnet der Terminus ‚Diskurs‘ bei ihm gleichsam das allgemeine Aussagengebiet, eine individualisierbare Aussagen‐ gruppe sowie die regulierte Praxis, die von einer bestimmten Zahl von Aussagen Rechenschaft ablegt. Daraus ergeben sich die einzelnen Bestandteile seines ana‐ lytischen Werkzeugs, mithilfe dessen er auf unterschiedlichen Diskursebenen operiert. Die kleinste Einheit, auch „atome du discours“ 7 genannt, ist dabei die Aussage in ihrer Beschaffenheit als Aussagenfunktion in einem bestimmten Koexistenz- und Korrelationsraum mit anderen Aussagen, der als „champ dis‐ 1.1 Methodisches Konzept 15 8 Ibid., p. 87. 9 Ibid., p. 88. 10 Ibid., p. 148. 11 Ibid., p. 162. cursif “ 8 , diskursives Feld, oder auch als „groupement discursif “ 9 , diskursive Gruppierung, beschrieben wird. Anhand dieses terminologischen Instrumenta‐ riums entwickelt Foucault schrittweise eine konkrete Definition, wonach der Diskurs sich aus Aussagen mit bestimmten Existenzmodalitäten und einem be‐ stimmten Verbreitungs- und Verteilungsprinzip - auch als diskursive Formation bezeichnet - konstituiert. Die Fixierung des Diskursbegriffs als „ensemble des énoncés qui relèvent d’un même système de formation“ 10 ermögliche daher erst die Existenz eines spezifischen Diskurses wie beispielsweise des klinischen, ökonomischen oder psychiatrischen Diskurses. Die Prämisse der Diskursanalyse nach Foucault ist jedoch die Suspendierung aller unmittelbaren und traditionellen Kontinuitätsformen - Werk, Buch, Dis‐ ziplin, Individuum bzw. Autor - und der Verzicht auf den damit verknüpften Rückbezug auf die hermeneutische Frage nach der Absicht eines sprechenden Subjektes. Foucault setzt sich hingegen zum Ziel, durch die Fokussierung von Aussagen als Ereignisse an sich, ihre Besonderheit, ihre Existenzbedingung, ihre Korrelation mit anderen Aussagen auf Basis gemeinsamer Aussagengegen‐ stände, -typen und -konzepte zu bestimmen, um sie so entsprechend ihrer dis‐ kursiven Formation neu gruppieren zu können. Die so determinierte diskursive Einheit wird folglich nicht durch die Verbundenheit einer den Aussagen bzw. den Sprechern gemeinsamen Ideologie, Theorie oder Wissenschaft hergestellt, sondern durch das rein diskursimmanente Bezugssystem. Die einzelnen Korre‐ lationskomponenten wie Aussagengegenstand, -typ und -konzept unterliegen wiederum bestimmten Existenzbedingungen, die beispielsweise auf histori‐ scher, funktionaler oder korrelativer Ebene liegen können. Foucaults minutiöse Deskription der Möglichkeiten diskursiver Regelmäßigkeiten und der Formati‐ onsregeln einzelner Aussagenfelder bleibt strikt auf der Ebene des Diskurses und verzichtet explizit auf die Rückkoppelung an jedwede psychologische In‐ dividualität oder an traditionelle Erklärungsprinzipien ideengeschichtlicher Theorien. Dennoch trägt er den kulturrelevanten Determinanten von Raum und Zeit Rechnung. So ist für Foucault die diskursive Praxis un ensemble de règles anonymes, historiques, toujours déterminées dans le temps et l’espace qui ont défini à une époque donnée, et pour une aire sociale, économique, géographique ou linguistique donnée, les conditions d’exercice de la fonction énonciative. 11 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 16 12 Vgl. ibid., p. 173-174. 13 Stefan Rieger: „Exkurs: Diskursanalyse“, in: Miltos Pechlivanos / Id. (Hgg.): Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart / Weimar: Metzler 1995, pp. 164-169, hier 164. 14 Foucault: L’archéologie du savoir, p. 174. 15 Ibid. 16 Ibid., p. 179. Hervorhebung im Original. 17 Bourdieu: Ce que parler veut dire, p. 165. Der historisch und geographisch fundierte Diskurs repräsentiert dabei stets ein begrenztes, mithin defizitäres System von Präsenzen, da nie alles Mögliche ge‐ sagt werden kann. Das Auftauchen von Aussagen, ihre Positivität, untersteht bestimmten Realitätsbedingungen, die Foucault als historisches Apriori be‐ zeichnet und von dem Begriff des Archivs abgrenzt. 12 Er unterstreicht dabei die unkonventionelle Juxtaposition, welche seinen Terminus ‚historisches Apriori‘ kennzeichnet und die Stefan Rieger als „ungewohnte Koppelung des Transzen‐ dentalen und des Historischen“ 13 interpretiert: „Juxtaposés, ces deux mots font un effet un peu criant; j’entends désigner par là un a priori qui serait non pas condition de validité pour des jugements, mais condition de réalité pour des énoncés.“ 14 Das Apriori bezieht sich in diesem Verständnis auf die „histoire […] des choses effectivement dites“ 15 , wodurch die Komponente der zeitlich be‐ stimmten Transformierbarkeit von Aussagensystemen erfasst wird. Mithilfe des Archivbegriffs beschreibt Foucault wiederum das „système général de formation et de transformation des énoncés“ 16 als ein Gesetz von Aussagemöglichkeiten. Das Archiv reguliert den Fortbestand und die Modifikation von Aussagen in der größtmöglichen Dimension, sodass es nie in seiner Totalität erfassbar ist, aber je beschreibbarer wird, desto klarer die Trennung von der Aktualität vollzogen ist. Die von Bourdieu diagnostizierte Inexistenz einer Wissenschaft des Diskurses impliziert die Kritik an Foucaults Diskursanalyse, um sich dem Diskursbegriff aus soziologisch-pragmatischer Perspektive zu nähern. Im Gegensatz zu Fou‐ cault verwehrt sich Bourdieu der terminologischen Verwendung traditioneller Analyseeinheiten nicht und postuliert die Rückbeziehung der Werke auf die Sprecher sowie ihre Einbettung in das soziale Gefüge der Gesellschaft: [L]es propriétés formelles des œuvres ne livrent leur sens que si on les rapporte d’une part aux conditions sociales de leur production - c’est-à-dire aux positions qu’occupent leurs auteurs dans le champ de production - et d’autre part au marché pour lequel elles ont été produites (et qui peut n’être autre que le champ de production lui-même) et aussi, le cas échéant, aux marchés successifs sur lesquels elles ont été reçues. 17 1.1 Methodisches Konzept 17 18 Ibid., p. 16. 19 Pierre Bourdieu: Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris: Seuil 1992, p. 321. In Bourdieus Diskursverständnis sollen die spezifischen Eigenschaften eines Diskurses analog zur sozialen Position des Sprechers bzw. Akteurs gedeutet werden, so dass der Diskurs zum einen als ein sozial bedingtes Konstrukt auf‐ gefasst wird und zum anderen aus sprachtheoretischer Perspektive hergeleitet wird. In Ce que parler veut dire entwickelt Bourdieu den Diskursbegriff maß‐ geblich in Abgrenzung zur strukturalistischen Sprachwissenschaft, indem er ‚Diskurs‘ als sozialabhängigen, stilistisch gekennzeichneten Idiolekt bezeichnet: Ce qui circule sur le marché linguistique, ce n’est pas la langue, mais des discours stylistiquement caractérisés, à la fois du côté de la production, dans la mesure où chaque locuteur se fait un idiolecte avec la langue commune, et du côté de la réception, dans la mesure où chaque récepteur contribue à produire le message qu’il perçoit et apprécie en y important tout ce qui fait son expérience singulière et collective. 18 Als sozialbedingt distinguierte Kommunikationsformen definiert, zirkulieren Diskurse nach Bourdieu innerhalb spezifischer Felder. Beispielsweise sind Dis‐ kurse einzelner politischer Gruppierungen dem politischen Feld zuzurechnen, während literarische Werke grundsätzlich im kulturellen bzw. intellektuellen Feld zirkulieren. Unabhängig von jedweder Spezifität nimmt das Feld in Bour‐ dieus Verständnis die Funktion eines Kräftefeldes ein, innerhalb dessen unter‐ schiedliche Akteure Stellung beziehen: Le champ est un réseau de relations objectives (de domination ou de subordination, de complémentarité ou d’antagonisme, etc.) entre des positions […]. Chaque position est objectivement définie par sa relation objective aux autres positions, ou, en d’autres termes, par le système des propriétés pertinentes, c’est-à-dire efficientes, qui permettent de la situer par rapport à toutes les autres dans la structure de la distribution globale des propriétés. 19 Diese Prämisse bedingt die Gliederung des Feldes in zwei zueinander homologe Bereiche, den Bereich der Stellungen (espace de positions) und den Bereich der Stellungnahmen (espace de prises de position), wodurch die Relationalität zwi‐ schen Diskurs und Akteur expliziert wird: Toutes les positions dépendent, dans leur existence même, et dans les déterminations qu’elles imposent à leurs occupants, de leur situation actuelle et potentielle dans la structure du champ […]. Aux différentes positions […] correspondent des prises de 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 18 20 Ibid., p. 321-322. Hervorhebung im Original. 21 Vgl. Pierre Bourdieu: „Le champ intellectuel: un monde à part“, in: Choses Dites, Paris: Les Éditions de Minuit 1987, pp. 167-177, hier 174-175. 22 Vgl. Markus Joch / Norbert Christian Wolf: „Feldtheorie als Provokation der Literatur‐ wissenschaft. Einleitung“, in: Id. (Hgg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissen‐ schaftlichen Praxis, Tübingen: Max Niemeyer 2005, pp. 1-25, hier 14. 23 Bourdieu: „Le champ intellectuel“, p. 175. 24 Vgl. zu diesen Termini: Laura Kajetzke: Wissen im Diskurs. Ein Theorievergleich von Bourdieu und Foucault, mit einem Geleitwort von Dirk Kaesler, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, pp. 66-73. Sie widmet dem „feldbezogenen Konzept des Diskurses“ und dem „akteurbezogenen Konzept des Diskurses“ jeweils ein kurzes Ka‐ pitel ihrer theorievergleichenden Abhandlung. position homologues, œuvres littéraires ou artistiques évidemment, mais aussi actes et discours politiques, manifestes et polémiques, etc. 20 Letztlich determiniert das Konzept des Feldes maßgeblich die Kategorisierung von Diskursen, welche im Unterschied zum diskursanalytischen Ansatz nach Foucault nicht aus sich selbst heraus gedeutet werden, sondern in Rückbindung einerseits an den individuellen Sprecher und andererseits an das feldbedingte Sozialgefüge seiner Entstehung. Erst durch diese feldspezifische Homologie‐ stellung von Stellungnahmen und Akteuren treten unterschiedliche diskursive Ausprägungen in Erscheinung. Die feldspezifische Lokalisierung und Klassifi‐ zierung von Diskursen intendiert ein Analysemodell, das unterschiedliche An‐ sätze berücksichtigt: den direkten Zusammenhang zwischen Individualbiogra‐ phie und Werk, die immanente Werkinterpretation und die ein Ensemble von Werken in Beziehung setzende intertextuelle Analyse. 21 Indem einzelne Positi‐ onsnahmen zueinander in Beziehung gesetzt werden, rücken bei Bourdieu der distinktive Antrieb bestimmter Diskurse eines Feldes sowie der Distinktions‐ wert der entsprechenden Akteure in den Vordergrund, was Joch / Wolf zu Recht als besondere Errungenschaft des feldtheoretischen Ansatzes bezeichnen. 22 Tat‐ sächlich postuliert Bourdieu die Lektüre und Interpretation „à travers le système des écarts par lequel elle [une œuvre, S. I.] se situe dans l’espace des œuvres contemporaines“ 23 , um der Singularität seiner Textualität in angemessenem Rahmen Rechnung zu tragen. Somit lässt sich der Diskurs nach Bourdieu als zweifach gefiltertes Produkt beschreiben: Als sowohl akteurwie auch feldbe‐ zogenes Konzept 24 spiegeln sich in ihm der spezifische Habitus des Sprechers sowie die für das jeweilige Feld epochenspezifischen Fragebzw. Problemstel‐ lungen. Die fundamentale Differenzierung zwischen einem Bereich der Stellung‐ nahmen und einem Bereich der Stellungen im feldtheoretischen Ansatz indiziert 1.1 Methodisches Konzept 19 25 Pierre Bourdieu: „Champ intellectuel et projet créateur“, in: Les Temps modernes 22, 246 (1966), pp. 865-906. Für die deutsche Übersetzung des Terminus „inconscient culturel“: Pierre Bourdieu: „Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld“, in: Kunst und Kultur. Kunst und künstlerisches Feld, Schriften zur Kultursoziologie 4, hg. von Franz Schultheis und Stephan Egger, aus dem Französischen von Michael Tillmann et al., Konstanz: UVK 2011, pp. 7-51, hier 42. 26 Für die deutsche Übersetzung des Terminus „espace des possibles“: Pierre Bourdieu: „Einführung in eine Soziologie des Kunstwerks“, in: Die Intellektuellen und die Macht, hg. von Irene Dölling, aus dem Französischen von Jürgen Bolder, unter Mitarbeit von Ulrike Nordmann und Margarete Steinrücke, Hamburg: VSA 1991, pp. 101-123, hier 101. 27 Vgl. Pierre Bourdieu: „Le champ littéraire. Préalables critiques et principes de méthode“, in: Lendemains 36 (1984), pp. 5-21. 1.1.2 innerhalb der methodischen Kontrastierung Bourdieus und Foucaults den es‐ sentiellen Unterschied beider Denkmodelle. Bourdieu postuliert damit die In‐ tegrität der von Foucault als zu suspendierende traditionelle Einheit bewerteten Subjektsouveränität und folglich in Hinblick auf die Literaturwissenschaft auch die Zusammengehörigkeit der Aussagen eines Autors zu einem Werk. Jene bei Foucault diskreditierten Entitäten wie Werk, Autor und Disziplin konstituieren bei Bourdieu die analytische Grundlage einer kultursoziologischen Interpreta‐ tion. Dennoch existiert zwischen beiden Ansätzen eine Schnittmenge, die im Folgenden herausgearbeitet wird. Vorausgesetzt nämlich, dass man den von Bourdieu abgesteckten Bereich der Stellungnahmen in seiner epochenspezifi‐ schen Feldbezogenheit fokussiert, lässt sich eine gewinnbringende Kombination beider Theorien rechtfertigen. Es sollen daher nun die beiden Diskurskonzepte unter dem Blickwinkel dessen betrachtet werden, was Bourdieu zunächst als „kulturelles Unbewusstes“ 25 und schließlich als „Raum der Möglichkeiten“ 26 be‐ zeichnet, um in einer daran anknüpfenden synthetischen Schlussfolgerung den besonderen Mehrwert dieser theoretischen Verknüpfung für die praktische An‐ wendung herauszustellen. Aussagenspezifische Bezugssysteme: Foucaults ‚champ de possibilités stratégiques‘ und Bourdieus ‚espace des possibles‘ im Vergleich Zunächst 1984 in einem Text zum literarischen Feld thematisiert 27 und dann in einem kultursoziologischen Vortrag 1986 an der Princeton University wieder‐ 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 20 28 Vgl. Pierre Bourdieu: „Pour une science des œuvres“, in: Raisons pratiques: sur la théorie de l’action, Paris: Seuil 1994, pp. 61-97. Eine kürzere Fassung des Vortrags hält Bourdieu 1989 im Französischen Kulturzentrum in Ost-Berlin: Bourdieu: „Einführung in eine So‐ ziologie des Kunstwerks“. 29 Bourdieu: „Pour une science des œuvres“, p. 61. 30 Ibid., p. 64. 31 Ibid., p. 62. 32 Vgl. Michel Foucault: „Réponse au cercle d’épistémologie“ [1968], in: Dits et Écrits. 1954- 1988, t. I: 1954-1969, édition établie par Daniel Defert et François Ewald avec la colla‐ boration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 696-731. 33 Vgl. Foucault: L’archéologie du savoir, p. 55. 34 Foucault: „Réponse au cercle d’épistémologie“, p. 718. aufgegriffen, 28 beschreibt Bourdieu den für die Analyse kultureller Produkti‐ onsfelder entscheidenden Raum der Möglichkeiten, den „espace des possibles“, der als Produkt der eigenen Geschichte des Feldes das „univers des problèmes, des références, des repères intellectuels (souvent constitués par des noms de personnages phares), des concepts en -ismes, bref, tout un système de coordon‐ nées“ 29 festlegt. Bourdieu leitet jenes das jeweilige Feld konstituierende gemein‐ same Bezugssystem mit den aus ihm resultierenden Frage- und Problemstel‐ lungen diachron her und beschreibt es darüber hinaus als ein netzartiges Konstrukt, das die Produzenten einer Epoche und eines Kulturraums zueinander in Beziehung setzt. Dieser gemeinsame Korrelationsraum wird von Bourdieu als gemeinsames System intellektueller Koordination, als „système de références communes, de repères communs“ 30 bezeichnet, wonach die einzelnen Positions- oder Stellungnahmen als Entscheidungen zwischen den im Feld gegebenen Möglichkeiten, nämlich als „les choix entre les possibles“ 31 , figurieren. Wenn auch Bourdieu hier Stellungnahmen bzw. Diskurse in ihrer Subjektbezogenheit determiniert und damit Foucaults Diskursanalyse diametral gegenüberzustehen scheint, so leitet er doch das mithin intertextuell fundierte Koordinationssystem basierend auf den Interdependenzbeziehungen zwischen den Werken, welches der Bereich der Stellungnahmen darstellt, unter Rekurs auf Foucault her. Dabei bezieht sich Bourdieu auf eine Erklärung Foucaults für den Cercle d’épistémo‐ logie von 1968, in der er die theoretischen Grundannahmen seiner Diskursana‐ lyse zu erhellen sucht. 32 In abgeänderter Form wird diese von Bourdieu kom‐ mentierte Textpassage zum strategischen Möglichkeitsfeld ein Jahr später von Foucault in L’archéologie du savoir wiederaufgenommen. 33 Als Kriterien zur Be‐ stimmung einer diskursiven Einheit nennt Foucault das „système des points de choix qu’il [le discours, S. I.] laisse libre à partir d’un champ d’objets donnés, à partir d’une gamme énonciative déterminée, à partir d’un jeu de concepts définis dans leur contenu et dans leur usage“ 34 . Dieses Verteilungsprinzip so genannter 1.1 Methodisches Konzept 21 35 Ibid. Hervorhebung im Original. 36 Ibid., p. 719. 37 Ibid., p. 718. 38 Foucault: L’archéologie du savoir, p. 55. 39 Vgl. ibid., pp. 47-58. 40 Im Französischen spricht Foucault in diesem Kontext von „population d’énoncés“: Ibid., p. 110. Zum deutschen Terminus „Population von Aussagen“: Michel Foucault: Archä‐ ologie des Wissens, übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, p. 116. zur Auswahl stehender Entscheidungspunkte bezeichnet Foucault als „champ de possibilités stratégiques“ 35 , als Feld strategischer Möglichkeiten, bzw. als „loi de formation et de dispersion de toutes les options possibles.“ 36 Es systematisiert die Streuung gegebener Diskursgegenstände, Diskurstypen und der diskursim‐ manenten Konzepte, anhand derer spezifische diskursive Einheiten messbar werden. Foucault betrachtet das Feld strategischer Möglichkeiten folglich als eine Komponente, welche die Neugruppierung von Aussagemengen zu diskur‐ siven Formationen ermöglicht. Im Gegensatz jedoch zu Bourdieus Verständnis eines Raums der Möglichkeiten repräsentieren die im Feld der strategischen Möglichkeiten erfassten Entscheidungspunkte keine zur Auswahl stehenden Ideen oder Meinungen, wie Foucault in seinem Artikel anhand evolutionsthe‐ oretischer Positionierungen verdeutlicht: „On aurait donc tort sans doute de chercher dans ces faits d’opinion des principes d’individualisation d’un dis‐ cours.“ 37 Foucaults Bestimmungskriterien dienen nicht so sehr der Interpretation eines kultur- und epochenspezifischen Aussageninhaltes, als vielmehr dem Er‐ fassen diskursstrukturierender Charakteristika jenseits vorab bestimmter dis‐ kursiver Einheiten. Als Formations- und Streuungsgesetz aller möglichen Op‐ tionen setzt es weniger auf Einheitlichkeit und Konsens als auf Dispersion: Ne seraient-ce pas les différentes possibilités qu’il [le discours, S. I.] ouvre de ranimer des thèmes déjà existants, de susciter des stratégies opposées, de faire place à des intérêts inconciliables, de permettre, avec un jeu de concepts déterminés, de jouer des parties différentes? Plutôt que de rechercher la permanence des thèmes, des images et des opinions à travers le temps, plutôt que de retracer la dialectique de leurs conflits pour individualiser des ensembles énonciatifs, ne pourrait-on pas repérer plutôt la dispersion des points de choix, et définir en deçà de toute option, de toute préférence thématique un champ de possibilités stratégiques? 38 Das Feld der strategischen Möglichkeiten gehört folglich neben dem Objekt der Aussage, der Form und dem Typ der Verkettung von Aussagen und dem System der Streuung von Begriffen zu den insgesamt vier Konstanten einer diskursiven Formation. 39 Diese legt so genannte „Populationen von Aussagen“ 40 unabhängig von sichtbaren Einheiten frei bzw. regruppiert sie und konstruiert somit ein 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 22 41 Bourdieu: „Le champ intellectuel“, p. 175. 42 Vgl. Bourdieu: „Pour une science des œuvres“, p. 64. 43 Foucault: „Réponse au cercle d’épistémologie“, p. 719. Hervorhebung im Original. 44 Ibid. 45 Vgl. das Kapitel „L’a priori historique et l’archive“, in: Foucault: L’archéologie du sa‐ voir, pp. 173-180. neues Beziehungssystem vormals unsichtbarer Relationen. Die auf einem System geregelter Unterschiede und Streuungen konstituierte diskursive For‐ mation postuliert auf rein diskursimmanenter Ebene jene von Bourdieu als „système des écarts“ 41 beschriebene Singularität unterschiedlicher feldspezifi‐ scher Positionen bzw. Stellungnahmen und ihre Beziehung zueinander. Trotz dieser Ähnlichkeiten in Hinblick auf die Relationalität von Aussagen bzw. Stellungnahmen beleuchten beide Theorien eine unterschiedliche Auffas‐ sung von diskursiven Korrelationsräumen, denen sie sich aus unterschiedlichen Perspektiven nähern. Dies zeigt sich unter anderem an Bourdieus Kritik an Foucaults diskursstrukturellem Erklärungsprinzip. Während Bourdieu Fou‐ caults „Feld der strategischen Möglichkeiten“ analog zu seinem eigenen Ver‐ ständnis eines „Raumes von Möglichkeiten“ in Form eines epochen- und kul‐ turspezifischen intellektuellen Bezugssystems deutet, distanziert er sich jedoch ansonsten prinzipiell von dessen Grundsätzen. 42 Anders als Bourdieu behauptet, ist das „Feld der strategischen Möglichkeiten“ bei Foucault jedoch noch keine épistème an sich, sondern eine Beschreibungs- und Identifikationskomponente einer diskursiven Formation: Et lorsque, dans un groupe d’énoncés, on peut repérer et décrire un référentiel, un type d’écart énonciatif, un réseau théorique, un champ de possibilités stratégiques, alors on peut être sûr qu’ils appartiennent à ce qu’on pourrait appeler une formation discursive. 43 Foucault beschreibt vielmehr „ce système à quatre niveaux, qui régit une for‐ mation discursive et doit rendre compte non de ses éléments communs mais du jeu de ses écarts, de ses interstices, de ses distances - en quelque sorte de ses blancs, plutôt que de ses surfaces pleines“ 44 , basierend auf der oben beschrie‐ benen Streuung von Diskursgegenständen, Diskurstypen und Diskurskon‐ zepten, als jene Positivität, die er in L’archéologie du savoir dann als historisches Apriori konzeptualisiert. 45 Die Systematisierung bestimmter Aussagenmengen zu diskursiven Formationen formt einen begrenzten Kommunikationsraum, einen espace relativement restreint, puisqu’il est loin d’avoir l’ampleur d’une science prise dans tout son devenir historique, […] mais espace plus étendu cependant que le jeu 1.1 Methodisches Konzept 23 46 Ibid., p. 173-174. 47 Ibid., p. 174. Hervorhebung im Original. 48 Bourdieu: „Pour une science des œuvres“, p. 63-64. 49 Vgl. ibid., p. 64. des influences qui a pu s’exercer d’un auteur à l’autre, ou que le domaine des polémiques explicites. 46 Die Kommunikation erfolgt Foucault zufolge über die Positivität der Aussagen, welche durch das Konzept des historischen Apriori beschreibbar wird. Die von Bourdieu evozierte épistème schlägt sich in ebendiesem von Foucault beschrie‐ benen Positivitätsparadigma von Aussagen nieder, dem gegenüber die Aussa‐ genproduzenten keinerlei Bewusstseinsvermögen haben, wie Foucault im Fol‐ genden verdeutlicht: Les œuvres différentes, les livres dispersés, toute cette masse de textes qui appartiennent à une même formation discursive, - et tant d’auteurs qui se connaissent et s’ignorent, se critiquent, s’invalident les uns les autres, se pillent, se retrouvent, sans le savoir et entrecroisent obstinément leurs discours singuliers en une trame dont ils ne sont point maîtres, dont ils n’aperçoivent pas le tout et dont ils mesurent mal la largeur - toutes ces figures et ces individualités diverses ne communiquent pas seulement par l’enchaînement logique des propositions qu’ils avancent, ni par la récurrence des thèmes, ni par l’entêtement d’une signification transmise, oubliée, redécouverte; ils communiquent par la forme de positivité de leurs discours. Ou plus exactement cette forme de positivité (et les conditions d’exercice de la fonction énonciative) définit un champ où peuvent éventuellement se déployer des identités formelles, des continuités thématiques, des translations de concepts, des jeux polémiques. Ainsi la positivité joue-t-elle le rôle de ce qu’on pourrait appeler un a priori historique. 47 Das Feld strategischer Möglichkeiten dient der eigentlichen Analyse von Aus‐ sagen und der Konstituierbarkeit von Diskursen, wohingegen das historische Apriori auf die Realitätsbedingung von Aussagenpräsenzen abzuheben ver‐ sucht. Innerhalb des Kommunikationsraums bleibt das historische Apriori für die in ihm befindlichen Aussagenproduzenten eine unreflektierbare Variable. Bourdieu deutet Foucaults „champ de possibilités stratégiques“ insofern seinem eigenen Ansatz entsprechend, als darin kein Werk „en dehors des rela‐ tions d’interdépendance qui l’unissent à d’autres œuvres“ 48 existiere, kritisiert aber an Foucaults Ansatz die absolut autonome Struktur jener von ihm als Mög‐ lichkeitsfeld gedeuteten épistème. 49 Durch Foucaults Annahme der Autonomie und Transzendenz des Systems würden nämlich „les oppositions et les antago‐ nismes qui s’enracinent dans les relations entre les producteurs et les utilisateurs 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 24 50 Ibid., p. 64-65. 51 Ibid., p. 65. 52 Ibid., p. 69-70. 53 Vgl. zu diesen Kritikpunkten an Foucaults Diskursanalyse: Birgit Neumann: „Kultu‐ relles Wissen und Literatur“, in: Marion Gymnich et al. (Hgg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Lite‐ ratur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2006, pp. 29-53, v. a. 42-48. 54 Vgl. Bourdieu: „Champ intellectuel et projet créateur“, pp. 896-905. des œuvres considérées“ 50 in den Ideenhimmel verlagert. Die von Foucault di‐ agnostizierte Autoreferentialität des diskursiven Systems verwehre die Berück‐ sichtigung möglicher Veränderungen, „à moins de lui accorder une propension immanente à se transformer, comme chez Hegel, par une forme mystérieuse de Selbstbewegung.“ 51 Bourdieu hingegen versteht den Raum der Möglichkeiten als ein für die Akteure eines Feldes verschiedene Problemstellungen und intellek‐ tuelle Orientierungspunkte bereithaltendes System, dessen Dynamik nicht al‐ leine im Bereich der Stellungnahmen liegt, sondern der Positionierung der ein‐ zelnen Akteure zukommt. Bourdieu verknüpft folglich in seiner Feldtheorie verschiedene theoretische Methoden miteinander, wie er selbst erklärt: C’est ainsi que l’on peut conserver tous les acquis et toutes les exigences des approches internalistes et externalistes, formalistes et sociologistes en mettant en relation l’espace des œuvres […] conçu comme un champ de prises de position qui ne peuvent être comprises que relationnellement, à la façon d’un système de phonèmes, c’est-à-dire comme système d’écarts différentiels, et l’espace des écoles ou des auteurs conçu comme système de positions différentielles dans le champ de production. […] Ainsi se trouvent d’emblée résolus plusieurs problèmes fondamentaux et en premier lieu le problème du changement. 52 Triebfeder der Veränderung ist bei Bourdieu das Subjekt als Produzent von Dis‐ kursen, womit er sich bewusst von Foucault abgrenzt und sowohl der Pluralität und Konkurrenz von Ordnungsstrukturen zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt, als auch der historisch bestimmten prozessualen Transformation derselben Rechnung trägt. 53 Tatsächlich betrachtet Bourdieu die Akteure als aufeinander einwirkende Kräfte im Feld, wodurch sich eine konfliktive Grund‐ situation zwischen jenen die Feldstruktur stützenden einerseits und jenen sie destabilisierenden Elementen andererseits abzeichnet. Das durch den Raum der Möglichkeiten festgelegte Universum der Probleme, der Bezugnahmen, der in‐ tellektuellen Orientierungspunkte verbindet die Akteure einer Epoche, wobei Bourdieu jene epochenmarkierende Kategorie in einem frühen Text von 1966 vermittels des Konzeptes des kulturellen Unbewussten noch anders definiert. 54 Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt konstatiert er den Rekurs auf einen Kodex 1.1 Methodisches Konzept 25 55 Ibid., p. 897. Hervorhebung im Original. 56 Pierre Bourdieu: „Mais qui a créé les créateurs“, in: Questions de sociologie, Paris: Éditions de Minuit 1980, pp. 207-221, hier 215-216. Hervorhebung im Original. 57 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Hans Beck 1992, p. 140. Hervorhebung im Original. von Gemeinsamkeiten in Problemen, Tagesfragen, Denkstilen und Wahrneh‐ mungsformen innerhalb eines Feldes in einer bestimmten Epoche, jedoch über‐ wiegt hier die implizite kulturelle Basis einer stillschweigend vorausgesetzten Axiomatik der Verständigung und des Fühlens, welche die Grundlage der „in‐ tégration logique d’une société et d’une époque“ 55 instituiert. Bourdieu unter‐ scheidet zwischen den stillschweigend vorausgesetzten und den ausdrücklich postulierten Credos, welche den Bodensatz epochenspezifischer Stellung‐ nahmen konstituieren. In der Entwicklung seiner theoretischen Axiome inver‐ tiert er dann die Prädominanz beider die Epoche charakterisierenden Kompo‐ nenten: Nicht mehr das kulturelle Unbewusste als Verinnerlichung geistiger Schemata, sondern die gemeinsame Problematik in Form der Gesamtheit der Stellungnahmen unifizieren eine Epoche: „Ce qui fait l’unité d’une époque, c’est moins une culture commune que la problématique commune qui n’est autre chose que l’ensemble des prises de position attachées à l’ensemble des positions marquées dans le champ.“ 56 Mit anderen Worten: Die Einheit einer Epoche wird durch den gemeinsamen Raum der Möglichkeiten konstituiert. Die in diesem Zitat postulierte Präponderanz der gemeinsamen Problematik gegenüber der Kultur zeigt, dass Bourdieu sich stärker auf die diskursiv manifeste Zirkulation des gemeinsamen Kodex einer Epoche, Gesellschaft oder Generation konzent‐ riert als auf jene Bewusstseinskategorie, die man mit Assmann als identitätssi‐ chernde, mentale Disposition bezeichnen könnte, nämlich der in gemeinsamer Sprache, gemeinsamem Wissen und gemeinsamer Erinnerung ko‐ dierte und artikulierte kulturelle Sinn, d. h. der Vorrat gemeinsamer Werte, Erfah‐ rungen, Erwartungen und Deutungen, der die ‚symbolische Sinnwelt‘ bzw. das ‚Welt‐ bild‘ einer Gesellschaft bildet. 57 Bourdieu hierarchisiert hier den expliziten und den impliziten Referenzhorizont einer Epoche. Die gemeinsame, im Interdependenzsystem des Feldes der Stellungnahmen manifeste und explizit fassbare Problematik einer Epoche unterliegt in Bour‐ dieus Vorstellung einem konstanten Wandel, da sich der Raum der Stellung‐ nahmen durch das Hinzutreten eines Akteurs modifiziert: Concrètement, cela signifie que […] son existence ‚pose, comme on dit, des problèmes‘ aux occupants des autres positions, que les thèses qu’il affirme deviennent 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 26 58 Bourdieu: „Mais qui a créé les créateurs“, p. 216. 59 Bourdieu: „Pour une science des œuvres“, p. 61. 60 Foucault: L’archéologie du savoir, p. 55. un enjeu de luttes, qu’elles fournissent l’un des termes des grandes oppositions autour desquelles s’organise la lutte et qui servent à penser cette lutte. 58 Durch die strukturell angelegte Möglichkeit des Wandels existiert der Raum der Stellungnahmen selbst im Modus der Potentialität. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Bourdieu bei der Definition seines feldspezifischen Möglichkeitsraums als „univers des problèmes, des ré‐ férences, des repères intellectuels“ 59 an Foucaults diskursstrukturierendem For‐ mations- und Verteilungsgesetz möglicher zur Wahl stehender Punkte („points de choix“ 60 ) orientiert, dabei jedoch Foucaults Konzept des Feldes der strategi‐ schen Möglichkeiten mit der diesem übergeordneten Vorstellung einer diskurs‐ ordnenden épistème vermischt. Die durch die Gesamtheit aller Stellungnahmen indizierten Konfliktbereiche eines Feldes determinieren die Zugehörigkeit zu einer Epoche, wobei sich das Feld der Stellungnahmen als netzartiger Korrela‐ tionsraum und Bezugssystem präsentiert. Wenn auch grundsätzlich ver‐ gleichbar mit Foucaults Vorstellung der Positivität von Aussagen innerhalb einer diskursiven Formation, wird bei Bourdieu allerdings nicht die Bedingung von Aussagen in Form eines historischen Apriori fokussiert, sondern vermittels der Aktivität und Dynamik der zugehörigen Akteure bzw. Autoren und deren feld‐ spezifischer sowie gesellschaftlicher Positionierung. Kombiniert man das dis‐ kursanalytische Konzept Foucaults mit dem feldtheoretischen Bourdieus, kann man sagen, dass sich innerhalb des Feldes der Stellungnahmen diskursive For‐ mationen eruieren lassen. Der sich dadurch konstituierende sowohl implizite als auch explizite Kommunikations- und Korrelationsraum determiniert die ge‐ meinsame Zugehörigkeit der Akteure zu einer bestimmten Epoche. Die Stel‐ lungnahmen entfalten in ihrer Positivität eine Einheit durch die Zeit hindurch, welche mit Foucault als historisches Apriori bezeichnet werden kann. Obgleich sich die Gruppierung der Stellungnahmen bei beiden Theoretikern unter‐ scheidet, soll in der nachfolgenden Analyse das Prinzip der feldspezifischen Eingrenzung und der diskursiven Formation miteinander verflochten werden. Berücksichtigt werden muss dabei die unterschiedliche Auffassung der Mög‐ lichkeitsdynamiken bestimmter Aussagenpositionen im Korrelationssystem, die sich in der praktischen Anwendung jedoch als durchaus vereinbar erweisen. Denn während Foucault unabhängig von den durch Subjekte, Werke, Diszip‐ linen, etc. gegebenen Einheiten aus einem Gesamtdiskurs entsprechend der Korrelation gemeinsamer Diskursgegenstände, -typen und -konzepte diskursive 1.1 Methodisches Konzept 27 61 Vgl. zum Konzept der objektiven Möglichkeit: Thomas R. Flynn: „Foucault as Philoso‐ pher of the Historical Event“, in: Marc Rölli (Hrsg.): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München: Wilhelm Fink 2004, pp. 209-234, hier 215-216. 62 Foucault: L’archéologie du savoir, p. 177. 63 Ibid. 64 Flynn: „Foucault as Philosopher of the Historical Event“, p. 215. 1.1.3 Formationen herausarbeitet, nimmt Bourdieu eine feldspezifische Eingrenzung von Stellungnahmen vor, die homolog zu den zugehörigen Akteuren deutbar wird. Der Raum der Möglichkeiten wird bei Bourdieu daher durch die einzelnen Akteure selbst erweitert und steht daher im Modus der Potentialität, wohin‐ gegen bei Foucault der Aussagenpositivität durch ihr charakteristisches Merkmal als Ereignis ein Möglichkeitspotential zukommt. Was bei Bourdieu sozialpragmatisch als subjektbezogene Möglichkeit reguliert ist, muss bei Fou‐ cault transzendent als objektive Möglichkeit beschrieben werden. 61 Foucaults Fokussierung (positiv) realisierter Aussagen impliziert gleichsam die Negativ‐ positionen, nämlich jene nicht realisierten Aussagen, welche einen Bereich des Unsagbaren beschreiben. Die Trennung zwischen dem zu einem gegebenen Zeitpunkt Sagbaren und Unsagbaren lässt sich alleine durch die regulierende Instanz des Archivs in seiner Funktion als „loi de ce qui peut être dit“ 62 , als „système qui régit l’apparition des énoncés comme événements singuliers“ 63 , kurzum als System der Aussagbarkeit erklären. Als „repository of the historical a priori of a given period which conditions the practices of exclusion and inc‐ lusion that are ingredient in all social exchange“ 64 , so Flynn, kommt dem Archiv eine rein strategische oder strukturelle Funktion zu. Es aktiviert keine Aussa‐ genmöglichkeiten, sondern ermöglicht aus einer zeitlich von der diskursiven Realisierung abgehobenen Perspektive die Beschreibung von nicht mehr der Aktualität zugehörigen Diskursen. Dynamiken werden folglich nicht ge‐ schaffen, sondern anhand der Beschreibung von diskursiv realisierten Brüchen und Zäsuren sichtbar gemacht. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie sich die beiden theoretischen Ansätze in der themenspezifischen praktischen An‐ wendung zusammenfügen und für die Analyse nutzbringend auswerten lassen. Prämissen der methodischen Anwendung: Die feldspezifische Positionierung von Jean Genet und die Bedeutung des revolutionären Diskurses Die beiden unterschiedlichen Konzepte des Möglichkeitsfeldes finden bei Fou‐ cault und Bourdieu in der Vorstellung eines aussagenspezifischen Korrelations‐ 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 28 raums eine Schnittmenge, die den Ausgangspunkt für die sich anschließende Analyse formen soll. Die textuelle Grundlage bildet ein Korpus politischer, teils journalistischer, teils literarischer, Schriften Jean Genets, sodass sich die Unter‐ suchung um eine Autorenpersönlichkeit innerhalb der gesellschaftspolitisch ereignisreichen Jahrzehnte der 1960er und 1970er Jahre zentriert. Anhand seiner zwischen 1968 und 1983 entstandenen Texte soll ein historisch determiniertes Aussagensystem herausgearbeitet werden, das auf der Basis tex‐ tueller Interdependenzbeziehungen in Erscheinung tritt. Trotz dieser Autoren‐ zentrierung, welche den diskursanalytischen Prämissen entgegenläuft und daher einen flexiblen Umgang erfordert, können Foucaults Bestimmungskrite‐ rien nutzbar gemacht werden: Gemeinsame Diskursobjekte, -konzepte und -typen repräsentieren wichtige Marker einer diskursiven Einheit. Die histori‐ sche Situierung von Genets Stellungnahmen erfolgt durch das Erfassen von In‐ terdependenzverhältnissen sowohl auf der personalen, als auch auf der textu‐ ellen Ebene. Die interpersonalen Relationen ergeben sich aus dem zeithistorischen und biographischen Kontext und determinieren auch die tex‐ tuellen Referenzen. So werden in einem ersten Schritt beispielsweise ausge‐ wählte, in konkreten, zeitpolitischen Situationen entstandene Schriften Genets mit vor demselben historischen Hintergrund verfassten Texten Michel Fou‐ caults und Jean-Paul Sartres einerseits sowie solchen Allen Ginsbergs und Wil‐ liam S. Burroughs’ andererseits kontrastiert. Der so abgesteckte Kommunikati‐ onsraum zwischen den Autoren soll in Analogie zu Bourdieus Konzept feldspezifisch strukturiert werden. Genets politische Positionsnahmen werden daher in einem ersten Teil im intellektuellen Feld in Frankreich und in einem zweiten Teil im gegenkulturellen Feld in den USA situiert. Insbesondere jener Aspekt aus Bourdieus Feldanalyse, wonach stets der Einzelpersönlichkeit ein feldspezifischer Distinktionswert zuerkannt und der Bereich der Stellung‐ nahmen in Homologie zu den Einzelpositionen betrachtet wird, erweist sich in Hinblick auf die so komplexe und schillernde Autorenpersönlichkeit eines Jean Genet als gewinnbringend. Wie die Analyse aufzeigt, kennzeichnet sich seine Positionierung in beiden Feldern tatsächlich durch eine ostentative und strate‐ gische Desertion. Genet betritt die politische Bühne Frankreichs erstmals während der studen‐ tischen Unruhen im Mai 1968, erwehrt sich jedoch von Beginn an einer öffent‐ lichen Funktionalisierung seiner Persönlichkeit für bestimmte politische Ziel‐ setzungen. Obgleich er sich im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen bewusst von seinem literarischen Werk distanziert, beansprucht er auch wei‐ terhin die Denomination als Poet für sich, die ihm gegenüber Sartre und Foucault als Differenzierungsmodell dient. So berichtet Edmund White in seiner monu‐ 1.1 Methodisches Konzept 29 65 Edmund White: Genet, London: Chatto & Windus 1993, p. 653. 66 Sylvain Dreyer: „Une blessure encore à vif: la réception du dernier Genet“, in: Méthode! Revue de littératures 19 (2011), pp. 117-123, hier 118. 67 Vgl. dazu das 12. Kapitel „Das ‚kritische Moment‘: Mai 68 in Frankreich“ in: Ingrid Gilcher-Holtey: Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Wei‐ lerswist: Velbrück Wissenschaft 2007, pp. 306-331, hier vor allem 314. Das Kapitel fasst die Thesen einer vorherigen Studie der Autorin zusammen: Ingrid Gilcher-Holtey: „Die Phantasie an die Machte“. Mai 68 in Frankreich, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. Darin definiert sie die Mai-Bewegung in Frankreich als soziale Bewegung mit einer gesamt‐ gesellschaftlichen Zielsetzung. Vgl. dazu insbesondere ihr methodisches Kapitel zu „So‐ zialen Bewegungen als Forschungsstand“, pp. 15-43. mentalen Biographie, dass Genet die Publikation eines zeitkritischen Artikels mit den Worten verweigert: I don’t want to publish anything about France. I don’t want to be an intellectual. If I publish something about France, I’ll strike a pose as intellectual. I am a poet. For me to defend the Panthers and the Palestinians fits in with my function as a poet. If I write about the French question I enter the political field in France - I don’t want that. 65 Genets Sonderweg spiegelt sich entsprechend in seinen zwischen 1968 und 1983 publizierten, aber auch unveröffentlichten Texten und Werken wider, die von diesem essentiellen Spannungsverhältnis zwischen einem rein poetischen An‐ spruch und der politischen Intentionalität zeugen, wodurch die ohnehin kom‐ plizierte Verortung seines Werks erschwert wird. Innerhalb der Untersuchung seiner Position im intellektuellen Feld wird die offensive Abkehr von etablierten intellektuellen Modellen problematisiert, welche in seinem Verhältnis zu Sartre und Foucault erkennbar wird. So betont Sylvain Dreyer beispielsweise die be‐ wusst auf Dissens angelegte Verteidigung der palästinensischen Zielsetzungen und das in ihr zum Ausdruck gebrachte problematische Verhältnis zu Sartres Persönlichkeit sowie zu seinem Konzept des Engagements: „La question pales‐ tinienne semble attirer l’écrivain d’abord par sa puissance de dissensus. Il est permis de penser qu’elle constitue notamment l’occasion de rompre avec son mentor Sartre, en soldant une relation complexe et ambivalente […].“ 66 Darüber hinaus muss auch dem Bedeutungswandel der gesellschaftlichen Funktion des Intellektuellen insgesamt Rechnung getragen werden. Die sich ab Mitte der 1960er Jahre abzeichnende Krise des französischen Universitätswesens mani‐ festiert sich in einem allgemeinem Infragestellen etablierter Autoritäten, da‐ runter der Lehrenden und der universitären Intellektuellen, erklärt aber die Es‐ kalation der studentischen Protestbewegung im Mai 1968 nicht hinreichend. 67 Das spontane Aufbegehren stellt den Kulminationspunkt eines unterschiedliche weltpolitische Geschehnisse umfassenden gesellschaftlichen Umbruchs dar. Die 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 30 68 Vgl. Pascal Ory / Jean-François Sirinelli: Les intellectuels en France. De l’affaire Dreyfus à nos jours, Paris: Perrin 2004, pp. 335-352. 69 Vgl. ibid., p. 339. 70 Vgl. Jean-Paul Sartre: „L’ami du peuple“ [1970], in: Situations VIII. Autour de 68, Paris: Gallimard 1972, pp. 456-476, hier 467. 71 Vgl. Michel Delon: „XVIII e siècle“, in: Jean-Yves Tadié (Hrsg.): La littérature française: dynamique & histoire, t. II, Paris: Gallimard 2007, pp. 9-273, hier 74-76. Vgl. zur Inter‐ pretation der Intervention Voltaires in der Affäre Calas als intellektuelles Handlungs‐ muster: Gilcher-Holtey: Eingreifendes Denken, pp. 15-39. in ihrer Vehemenz überraschenden Proteste drängen die französischen Intel‐ lektuellen nicht nur zu einer Positionierung, sondern auch zu einer Beleuchtung ihrer eigenen Rolle und Funktion innerhalb der Protestbewegung. Die Inter‐ vention der Intellektuellen lässt sich daher mit Ory / Sirinelli über den soziokul‐ turellen Wandel der französischen Gesellschaft deuten, der sich wiederum auf diskursiver Ebene in den Stellungnahmen einzelner Intellektueller nieder‐ schlägt. 68 So beschreiben Ory / Sirinelli die veränderte Haltung der Intellektu‐ ellen am Beispiel Sartres, 69 der 1970 die ‚Auflösung‘ des Intellektuellen als Ver‐ teidiger universeller Werte und die Hinwendung zum ‚konkreten Universellen‘, d. h. einer Überwindung des intellektuellen Separatismus, postuliert. 70 Der Wandel des intellektuellen Feldes zeichnet sich aber auch insbesondere durch das Auftreten Michel Foucaults ab, der mit seinem Konzept des spezifischen Intellektuellen dem in der Figur Jean-Paul Sartres verkörperten moralischen Universalitätsanspruch das Prinzip des intellektuellen Expertentums entgegen‐ stellt. Es lassen sich folglich unterschiedliche intellektuelle Handlungsentwürfe identifizieren, welche als feldspezifische Orientierungspunkte fungieren. Die Gegenüberstellung von Genet, Sartre und Foucault lässt sich auch durch die Solidarisierung dieser drei Akteure in gemeinsamen Projekten und Aktionen rechtfertigen. Ihre Interventionen beispielsweise im Rahmen unterschiedlicher Strafprozesse gegen politische Dissidenten beruhen auf der epochenspezifisch determinierten Kritik an der Rechtsstaatlichkeit und lassen sich wiederum zu einer diskursiven Formation gruppieren. Sie bedienen vor dem Hintergrund der Übertragung von strafrechtlichen Problemstellungen in den öffentlichen Dis‐ kussionsraum den fundamentalen Topos des intellektuellen Engagements, der in Frankreich bis zu Voltaires öffentlichen Stellungnahmen zu bestimmten Prozessen, wie etwa der Affäre Jean Calas im 18. Jahrhundert, zurückreicht und auch vor allem in der Dreyfus-Affäre als Geburtsstunde des Intellektuellen ver‐ ankert ist. 71 Jean Genets Verortung im gegenkulturellen Feld in den USA , das aus dem Anspruch erwächst, ein alternatives Wertesystem zu begründen, lässt sich als ambivalent beschreiben. Auf politischer Ebene kann seine Haltung durch eine 1.1 Methodisches Konzept 31 72 Véronique Lane: „Beat Generation“, in: Marie-Claude Hubert (Hrsg.): Dictionnaire Jean Genet, Paris: Honoré Champion 2014, pp. 79-81, hier 81. grundsätzlich dissoziative Position charakterisiert werden, insofern er die poli‐ tische Axiomatik seines öffentlichen Engagements für die Black Panthers negiert und eine Typisierung als Revolutionär zurückweist. Indem er aber seine poeti‐ sche Entpflichtung unter Bezugnahme auf den Existenzentwurf des Vaga‐ bunden begründet, bedient er damit zugleich einen gegenkulturellen Topos, der seine Bezugsgrößen in den amerikanischen Autoren der Beat Generation hat. Wie jene wird Genet als Vordenker und Akteur der Gegenkultur wahrge‐ nommen. Im Unterschied zu seinem dissensuellen Verhältnis zu den französi‐ schen Intellektuellen verbindet Genet und die amerikanischen Autoren Allen Ginsberg und William S. Burroughs das literarische Schaffen, wie auch Vér‐ onique Lane hervorhebt: „De tous les leaders de mouvements révolutionnaires qu’il [Genet, S. I.] ait connus (Fraction armée rouge, Black Panthers, Palesti‐ niens), Burroughs et Ginsberg sont en effet, les seuls ‚littéraires‘.“ 72 Dieser kre‐ ative Berührungspunkt determiniert auch die gemeinsame Berichterstattung über den demokratischen Parteitag in Chicago im August 1968, welche proto‐ typisch die besondere Problematik der poetischen Codierung innerhalb der dem Wesen nach der objektiven Sachlichkeit verschriebenen journalistischen Texte bei Genet abbildet. Im textuellen Bezugssystem zwischen Genet, Ginsberg und Burroughs kristallisiert sich maßgeblich eine antiamerikanische und antiwest‐ liche Kritik heraus, die als diskursive Formation repräsentativ für das gegen‐ kulturelle Feld ist, insofern sich dieses nämlich in Opposition zur normativen Kultur der amerikanischen Gesellschaft definiert. Gemeinsamer Diskursgegen‐ stand ist dabei vor allem der Vietnamkrieg, der als Ausdruck der amerikanischen Gesellschaft verstanden wird und als Vehikel dient, um deren Ablehnung zu manifestieren. Genets feldspezifische Positionierung wird folglich sowohl im Kontext der historischen Entwicklungen, als auch im Verhältnis zu anderen politisch aktiven Persönlichkeiten vorgenommen. Deren vor dem Hintergrund der weltweiten Proteste - gegen beispielsweise den Vietnamkrieg, den Imperialismus, den Ka‐ pitalismus, soziale Missstände und freiheitsunterdrückende Machtinstituti‐ onen - hervorgebrachte Stellungnahmen bilden ein gemeinsames epochenspe‐ zifisches, textuelles Referenzsystem. Was hier als revolutionärer Diskurs bezeichnet werden soll, lässt sich folglich über die zeithistorisch bedingten Problemstellungen eines spezifischen Feldes der Stellungnahmen definieren und differenziert sich in unterschiedliche Teildiskurse mit charakteristischen Dis‐ kursgegenständen aus, wie etwa die Kritik an der Rechtsstaatlichkeit, die anti‐ 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 32 1.2 amerikanische Kritik oder die Diskussion einzelner Interventionsformen. Es muss jedoch betont werden, dass dieser revolutionäre Diskurs nicht mit einem Revolutionspostulat gleichgesetzt werden darf. Hinsichtlich der Analyse der Texte soll grundsätzlich keine Abkoppelung vom jeweiligen Autor stattfinden. Einzelne Positionsnahmen können interrefe‐ rentiell als positiv oder negativ rekurrierbare Problemstellungen fungieren. Be‐ rücksichtigt werden muss dabei auch die Transformierbarkeit des revolutio‐ nären Diskurses, der beispielsweise zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Genets Artikel über die Rote Armee Fraktion 1977 aus rezeptionskritischer Per‐ spektive manifest wird. Es soll daran gezeigt werden, wie die für die in den frühen 1970er Jahren typische Argumentationsstruktur einer Kritik an den machtstaatlichen Institutionen unter Bezugnahme auf das Gewaltkonzept in den Bereich des Unsagbaren absinkt und somit eine gesellschaftliche Umkehr indiziert wird. Somit wird die Dynamik des diskursiven Wandels sowohl durch Bourdieus Prinzip einer subjektbezogenen Möglichkeit beschrieben, insofern sich der feldspezifisch abgegrenzte Kommunikationsraum als Möglichkeitsfeld durch die Stellungnahmen einzelner Akteure durchgliedert und transformiert, als auch durch Foucaults Konzept der objektiven Möglichkeit, welches die his‐ torischen Brüche und Diskontinuitäten epistemologisch aufzeigt. In einem abschließenden Kapitel liegt der Schwerpunkt schließlich auf der Entwicklung einzelner diskursiver Konzepte, die in Genets letztem Werk Un captif amoureux von 1986 eine literarische Aufarbeitung erfahren und in einem metatextuellen Verweissystem transformiert werden. Es soll die These aufge‐ stellt werden, dass seine im Kontext des revolutionären Diskurses entstandenen Interventionen innerhalb literarischer Rahmenbedingungen metaisiert werden. Voraussetzung ist dabei die zeitliche Distanz zu den eigenen politischen Akti‐ vitäten, welche aus einer rückblickenden Perspektive bespiegelt werden. Durch werkexterne Verweise auf textuelle Interventionen werden Konzepte aus dem politischen Kontext kommentiert und umgeschrieben. Mit dieser literarischen Bilanz seines eigenen Engagements besiegelt Genet seinen Austritt aus der po‐ litischen Öffentlichkeitssphäre. Korpus Das Korpus der vorliegenden Untersuchung umfasst vornehmlich zwischen 1968 und 1986 redigierte, veröffentlichte sowie unveröffentlichte Schriften Jean Genets und konstituiert die analytische Grundlage für seine Situierung im in‐ tellektuellen sowie im gegenkulturellen Feld dieser Zeit. Dabei wird auch eine 1.2 Korpus 33 73 Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. 74 Jean Genet: Un captif amoureux, Paris: Gallimard 2004 [1986]. 75 Vgl. Jean Genet: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens choisis 1970-1983, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 2010. 76 Jean Genet: La Sentence, suivi de J’étais et je n’étais pas, Paris: Gallimard 2010. 77 Vgl. Elisabeth Boyer / Jean-Pierre Boyer (Hgg.): Genet, exposition présentée au Musée des Beaux-Arts de Tours du 8 avril au 3 juillet 2006, Tours: Farrago 2006. Vielzahl bislang kaum beachteter Texte und Manuskripte erschlossen. Daneben wird auf die inzwischen zum Kanon der politischen Untersuchungen zu Genet gehörenden Werke L’Ennemi déclaré  73 und Un captif amoureux  74 rekurriert. L’Ennemi déclaré wurde 1991 zum ersten Mal publiziert und versammelt als sechster Band der bei Gallimard erschienenen Werkausgabe Genets zwischen 1964 und 1985 entstandene politische, aber auch literaturkritische Artikel, Schriften und Interviews. Diese ist in jedem Fall der Vollständigkeit wegen der 2010 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums bei Gallimard erschienenen Ta‐ schenbuchausgabe vorzuziehen. 75 In einem Anhang enthält diese umfassende Ausgabe beispielsweise zwei wichtige, nur noch im Englischen existierende und daher ins Französische rückübersetzte Artikel Genets, die zusätzlich in der eng‐ lischen Fassung betrachtet werden sollen. Die in L’Ennemi déclaré vereinten Texte unterscheiden sich nicht nur entsprechend ihrem politischen Entste‐ hungskontext, sondern weisen auch stilistische Differenzen auf. Pragmatische Texte alternieren mit literarischen Texten, journalistischen Berichterstattungen und Interviews, die alle eine differenzierte Lektüre verlangen, da ihnen unter‐ schiedliche Kommunikationssituationen und -strategien zugrunde liegen. Der vermutlich Mitte der 1970er Jahre entstandene, erst 2010 unter dem Titel La Sentence  76 bei Gallimard veröffentlichte Text repräsentiert eine weitere wich‐ tige und noch kaum interpretierte Textquelle. Dieser ursprünglich titellose Text wird in einer Gegenüberstellung des Originalmanuskripts als Faksimile und seiner transkribierten Fassung illustriert. Es handelt sich bei La Sentence um einen fragmentierten Text, der bereits einige Textpassagen inkludiert, die Genet später in Un captif amoureux integriert. Er ist daher sehr aufschlussreich für die schriftstellerische Methode und Herangehensweise sowie für die im dritten Teil der Arbeit analysierte literarische Rekontextualisierung von politischen Dis‐ kursobjekten. Weitere zu Genets Lebzeiten unveröffentlichte Artikel bzw. Briefe oder Essays befinden sich als Faksimiles in dem anlässlich des 20-jährigen Todestages von Jean Genet publizierten Ausstellungskatalog. 77 Es handelt sich hier teilweise um 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 34 78 Teilweise wurden diese Texte bereits in transkribierter Form in anderen Sammelbänden bzw. Werken aufgenommen. In diesem Fall erfolgt der Hinweis auf die im Ausstel‐ lungskatalog katalogisierten Bildquellen sowie auf die transkribierte Fassung. 79 Vgl. Philippe Artières et al. (Hgg.): Le Groupe d’information sur les prisons. Archives d’une lutte, 1970-1972, Postface de Daniel Defert, Paris: Éditions de l’IMEC 2003. Mein Dank geht an Albert Dichy, der mir diese Publikation mit Jean Genets Texten für den G. I. P. schenkte und mich somit auf die Texte aufmerksam machte. 80 Der Abdruck der wenigen direkten Zitate erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Albert Dichy, dem ich auch die Konsultation des Manuskriptes zu verdanken habe. politische, teilweise um kunstbzw. literaturkritische Reflexionen, die ebenfalls Eingang in die nachstehende Analyse finden werden. 78 Die vom IMEC publizierte Dokumentensammlung zum G. I. P., dem von Fou‐ cault initiierten Groupe d’information sur les prisons, in dem sich auch Genet für eine kurze Zeitspanne engagierte, hält drei weitere kaum rezipierte, teilweise zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlichte Schriften bereit. 79 Diese erweisen sich gerade für die intertextuelle Aufarbeitung der komplexen Relation zwi‐ schen Genet und Foucault als äußerst gewinnbringend. Als Analysegrundlage fungiert ebenfalls eines der unveröffentlichten, im IMEC befindlichen Drehbücher mit dem Titel Le Langage de la muraille aus dem Jahre 1981. Dieses nicht publizierte Werk markiert einerseits Genets Distanzie‐ rung von einer literarisch-künstlerischen Werkproduktion in der Folge von Mai ’68, nimmt aber andererseits in Hinblick auf die Aufarbeitung des diskursiven Bezugssystems und der Positionierung im intellektuellen Feld eine Schlüssel‐ stelle ein. Aufgrund der komplizierten Autorenrechte müssen Inhalte dieses Werks vor allem paraphrasiert werden. 80 Bei der Auswertung des hier präsentierten Korpus muss zum einen die je‐ weilige Textgattung berücksichtigt werden. Zum anderen muss dem Anspruch Rechnung getragen werden, wonach auch die journalistischen Schriften Genets ein poetisches Potential besitzen. Diese stehen jedoch zugleich im Kontext be‐ stimmter editorischer Zielsetzungen und erschließen einen spezifischen Leser‐ kreis. So müssen beispielsweise die politischen Leitlinien der jeweiligen Zeitung, ihre Adressaten und der Entstehungskontext bei der Deutung bemessen werden. Die gesamten politisch intentionierten Publikationen lassen sich zudem als öf‐ fentliche Interventionen charakterisieren. Unabhängig von ihrer Funktion als Reportage, persönlicher Kommentar oder themenorientierter Essay liefern sie nicht einfach einen Beitrag zu bestimmten zeithistorischen Ereignissen oder Fragestellungen, sondern tragen vor allem zu ihrer diskursiven Konstruktion bzw. Dekonstruktion bei. Darunter thematisieren einige Artikel die spezifische Verknüpfung von Poesie und Politik und nehmen daher eine Schlüsselposition ein. 1.2 Korpus 35 81 Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, ohne Seitenangabe. Neben den pragmatischen und journalistischen Interventionen finden auch die als literarisch zu klassifizierenden Texte Betrachtung. Grundsätzlich vonei‐ nander zu unterscheiden sind dabei Genets bewusst unveröffentlichtes Dreh‐ buch und das kurz nach seinem Tod erschienene Werk Un captif amoureux. Während Le Langage de la muraille eine teilweise fiktionale, teilweise doku‐ mentarische Bedeutung zukommt, ist das Genre seines letzten Werks hingegen nur schwer zu benennen. In seiner gattungsspezifischen Hybridität zwischen autobiographischem Roman über das Zusammenleben mit den Palästinensern, literarischer Reportage über die politischen Ereignisse und Ziele ausgewählter revolutionärer Gruppierungen, symbolischem Reisebericht in Form einer Odyssee durch das politische Zeitgeschehen und Liebesgedicht eines Barden der palästinensischen Revolution vermischen sich unterschiedliche Erzählhal‐ tungen und -stile. Durch die retrospektive Erzählperspektive wird nicht nur auf Sujets und Fragestellungen einzelner journalistischer Texte rekurriert, sondern die politischen Stellungnahmen selbst werden zugleich implizit reflektiert. Diese metadiskursive Betrachtungsweise lässt sich als konstitutive Komponente dieses letzten Werks von Jean Genet beschreiben und greift ein Vorhaben auf, das der Autor hinsichtlich der Publikation ausgewählter politischer Schriften und Reden seiner letzten Lebensjahre 1984 bei Claude Gallimard vorbrachte und das in einem kurzen Vorwort in L’Ennemi déclaré erläutert wird: Une fois rassemblés et redactylographiés la plupart de ces écrits ou de ces interventions orales, dont la publication s’était échelonnée sur une vingtaine d’années, son intention était d’opérer un choix et, en quelque sorte, de les refondre sans tenir compte de la chronologie, pour mettre en lumière les réflexions et convictions qui avaient orienté ses prises de position. Plutôt que le ralliement à une idéologie, référant à une morale politique, il évoquait plus volontiers le hasard et la curiosité. Jean Genet n’a jamais donné une forme définitive à ce projet. Mais d’y avoir songé l’a sans doute incité à chercher la composition originale d’une œuvre où viendraient s’inscrire, comme les pièces d’un puzzle, les notes prises durant ses voyages et ses longues périodes de solitude, inspirées de ses observations, de ses rencontres et de sa perception, lucide, d’un monde en mouvement; d’où son dernier ouvrage, Un captif amoureux […]. 81 Nicht nur die Idee einer strukturellen Vernetzung einzelner Textfragmente spielt jedoch eine entscheidende Rolle, sondern auch die rückblickende Betrachtung seiner politischen Interventionen. Der Faktor der zeitlichen Distanz repräsen‐ tiert dabei das Fundament eines autoreferentiellen und selbstkritischen Kom‐ mentars, anhand dessen der Wandel des revolutionären Diskurses fassbar wird. 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 36 82 Vgl. zur Problematik des Engagements, der Rhetorik, der Genealogie, des Gefängnisses und des Todes: Nathalie Fredette: „Genet politique, l’ultime engagement“, in: Études françaises 29, 2 (1993), pp. 83-102; zur Dichotomie zwischen Freundschaft und Feind‐ schaft: Patrice Bougon / Jean-Michel Rabaté: „Genet et la politique: un entretien“, in: Études françaises 31, 3 (1995), pp. 103-110. 83 Vgl. David H. Walker: „Un captif amoureux: Poetry and Politics“, in: Forum for Modern Language Studies 31, 1 (1995), pp. 312-325. 84 Vgl. Nathalie Fredette: „Jean Genet: les pouvoirs de l’imposture“, in: Études françaises 31, 3 (1995), pp. 87-101. 85 Patrice Bougon: „Editor’s Introduction“, in: L’Esprit créateur 35, 1 (1995), pp. 3-4, hier 3. 1.3 Forschungsstand Grundsätzlich handelt es sich bei der Aufarbeitung des politischen Engagements von Jean Genet um einen verhältnismäßig jungen Untersuchungsgegenstand, der sich mit Erscheinen der beiden Werke Un captif amoureux 1986 sowie L’En‐ nemi déclaré 1991 entwickelt. Neben einigen frühen Untersuchungen zu essentiellen - stilistischen und motivischen - Leitgedanken der politischen Schriften 82 kristallisiert sich vor allem die Frage nach der Situierung dieses letzten Werks von Jean Genet inner‐ halb seines Gesamtwerks heraus. Dabei liegt der Schwerpunkt zunächst vor‐ nehmlich auf der Relektüre des bereits etablierten Roman- und Dramenwerks, ausgehend von den noch wenig erforschten politischen Werken. In diesem Sinne sind die Studien zum Motiv der Revolution in Genets Werk bzw. vor allem in seinen Dramen 83 und zu seiner Strategie des Betrugs zu lesen, die Fredette ver‐ mittels der vergleichenden Lektüre von Un captif amoureux und Pompes funèbres beschreibt. 84 Auch die in einer Spezialausgabe des Esprit créateur vereinten Bei‐ träge zur Tagung „Jean Genet, littérature et politique“ verfolgen diese Zielset‐ zung und wählen daher eine zwischen den politischen Texten und ausgewählten Dramen und Romanen vergleichende Perspektive, wie der Herausgeber Patrice Bougon betont: It seems today, that such posthumous texts will allow us to reread Genet’s complete work under a different light. If the majority of the contributions in this issue concern Un captif amoureux and L’Ennemi déclaré, other texts are also called upon where their political and ethical dimensions are seen as dominant. 85 Auch die Sonderausgabe der Yale French Studies zum Thema Genet: In the language of the Enemy verfolgt einen ähnlichen Ansatz, wobei jedoch hier der Stel‐ lenwert der politischen Schriften in einzelnen Beiträgen stärker untermauert 1.3 Forschungsstand 37 86 Vgl. v. a. Patrice Bougon: „The Politics of enmity“, in: Yale French Studies 91 (1997), pp. 141-159; Scott Durham: „The Deaths of Jean Genet“, in: Yale French Studies 91 (1997), pp. 159-184. 87 Vgl. Barbara Read / Ian Birchill (Hgg.): Flowers and Revolution. A Collection of Writings on Jean Genet, Middlesex: University Press 1997. 88 Pascale Gaitet: Queens and Revolutionaries. New Readings of Jean Genet, Newark: Uni‐ versity of Delaware Press 2003. 89 Vgl. zur Verbindung von Politik und Theater v. a.: Clare Finburgh et al. (Hgg.): Jean Genet: Performance and Politics, New York: Palgrave Macmillan 2006; Carl Lavery: The politics of Jean Genet’s late theatre: Spaces of revolution, Manchester / New York: Uni‐ versity Press 2010. 90 Vgl. Didier Eribon: Une morale du minoritaire. Variations sur un thème de Jean Genet, Paris: Fayard 2001. 91 Vgl. Hadrian Laroche: Le dernier Genet. Histoire des hommes infâmes, édition revue et augmentée, Barcelona: Flammarion 2010; Hadrian Laroche: Le dernier Genet. Histoire des hommes infâmes, Paris: Seuil 1997. wird. 86 Mehr noch gilt dies für den im selben Jahr erschienenen Sammelband Flowers and Revolution, der zudem einige Reden, Interviews und einen Brief von Genet an Allen Ginsberg beinhaltet, 87 sowie für die Untersuchung von Pascale Gaitet mit dem Titel Queens and Revolutionaries  88 . Obwohl sich eine allmähliche Ausdifferenzierung der literaturwissenschaftlichen Untersuchung des Spät‐ werks nachzeichnen lässt, repräsentiert auch die Annäherung zwischen Spät‐ werk und Dramen einerseits bzw. Romanen andererseits in Hinsicht auf die Politik weiterhin einen wichtigen Forschungsschwerpunkt. 89 Grundsätzlich lässt sich das gesamte Werk Jean Genets in verschiedener Hinsicht als politisch einstufen, wobei jedoch für die vorliegende Untersuchung insbesondere jene Studien von Bedeutung sind, die den Fokus auf Genets Spätwerk legen. Dies schließt natürlich nicht die Rezeption prägnanter Studien zu Teilaspekten aus, die sich eher dem Frühwerk widmen, jedoch auch einen Gültigkeitsanspruch für das zu untersuchende Korpus haben. Exemplarisch zu nennen wäre hier das Werk des Foucault-Spezialisten Didier Eribon, das wichtige Hinweise für die Inbezugsetzung Foucaults und Genets offenbart. 90 Hinsichtlich der politischen Schriften im engeren Sinne sind die nachfol‐ genden Untersuchungen hervorzuheben. Eine eigentümliche Verquickung bio‐ graphischer, historiographischer und literaturwissenschaftlicher Gesichts‐ punkte prägt Hadrian Laroches zunächst 1997 unter Leitung Jacques Derridas geschriebene und veröffentlichte Dissertation, die 2010 in der Reihe Champs Biographie in einer überarbeiteten Fassung neu aufgelegt wurde. 91 Laroche be‐ schreibt Jean Genets politisches Engagement chronologisch innerhalb des his‐ torischen Kontextes unter Bezugnahme auf die politischen Grundsätze der re‐ volutionären Bewegungen der Black Panthers in den USA und der Palästinenser, 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 38 92 Vgl. Gourgouris Stathis: „A lucid drunkness (Genet’s poetics of revolution)“, in: The South Atlantic Quarterly 97, 2 (1998), pp. 413-456. 93 Vgl. Jérôme Neutres: Genet sur les routes du Sud, Paris: Fayard 2002. 94 Vgl. Éric Marty: Bref Séjour à Jérusalem, Paris: Gallimard 2003; daraus erschien das zweite Kapitel vorab in Les Temps modernes: Éric Marty: „Jean Genet à Chatila“, in: Les Temps modernes 622 (2003), pp. 2-72. 95 Vgl. Éric Marty: Jean Genet, post-scriptum, Lagrasse: Verdier 2006, p. 10; Éric Marty: „Jean Genet, tabou“, in: Nicolas Weill (Hrsg.): Que reste-t-il de nos tabous? 15 e forum Le Monde Le Mans 24 au 26 octobre 2003, Rennes: Presses universitaires 2004, pp. 105- 209. 96 Arnaud Malgorn: „Le seul bien qu’il avait reçu à sa naissance, le seul héritage qu’il avait pu faire fructifier, son nom, Jean Genet“, in: La Quinzaine littéraire 1031 (2011), pp. 4- 5. welche Genet unterstützte. Allerdings handelt es sich nicht um eine Biographie, sondern vielmehr um eine leitmotivische Aufarbeitung bestimmter, für Genets Engagement paradigmatischer Charakteristika. Somit trägt Laroche der Singu‐ larität des Werks Rechnung, ohne seine historische Bedingtheit zu ignorieren. In Hinblick auf eine Situierung Jean Genets im politischen Zeitgeschehen ist Hadrian Laroches Werk im Vergleich zu anderen Studien mit einem analogen Konzept herausragend. Eine wesentlich kürzere, kaum berücksichtigte Unter‐ suchung von Gourgouris Stathis verfolgt einen ähnlichen Ansatz, wobei die historische Situierung stärker auf geschichtstheoretischen Grundlagen basiert und dadurch einen Perspektivwechsel eröffnet. 92 Eine überzeugende Untersu‐ chung einzelner politischer Texte in Hinblick auf das Motiv des Reisens realisiert Jérôme Neutres, obgleich seine sich auf Genets Gesamtwerk stützende Studie eine prozessuale Entwicklung seiner nationalen Entfremdung zum Ausgangs‐ punkt nimmt. 93 Neutres bezieht sich darin auch auf die unveröffentlichten Dreh‐ bücher und leistet damit einen wichtigen Beitrag in Hinblick auf die Analyse dieser schwer zugänglichen Texte. Negative Kritik an Genets politischen Schriften übt Éric Marty. Seine umstrittene Abhandlung über Genets vermeint‐ lichen Antisemitismus 94 gibt Anlass zu einer weiteren umfassenderen Studie, in der Marty Genet die Unmöglichkeit einer positiven politischen Haltung attes‐ tiert, die nicht mit dem traditionellen Nihilismus der Intellektuellen zu ver‐ wechseln sei. 95 Marty kritisiert Genets Versuch, Ethik und Verantwortung durch die Poesie zu substituieren und kontrastiert seine Haltung mit der Sartres und Camus’. Malgorns Einschätzung, „[l’]année du centenaire apporte peu de révéla‐ tions“ 96 , muss in Anbetracht der Vielzahl erschienener Publikationen und Ver‐ anstaltungen sicher relativiert werden. Zur publikationsnahen Rezeption von Un captif amoureux ist 2010 unter Leitung von Agnès Fontvieille-Cordani und Dominique Carlat die sehr hilfreiche Zusammenstellung einer Art Pressespiegel 1.3 Forschungsstand 39 97 Vgl. Agnès Fontvieille-Cordani / Dominique Carlat (Hgg.): Jean Genet et son lecteur. Autour de la réception critique de Journal du voleur et Un captif amoureux, dossier de presse établi et annoté par Hélène Baty-Delalande, Saint-Etienne: Publications de l’U‐ niversité de Saint-Etienne 2010. 98 Vgl. Pierre-Marie Héron: „Un captif amoureux et le genre des mémoires“, in: Littérature 159 (2010), pp. 53-63. 99 Vgl. Melina Balcázar Moreno: Travailler pour les morts. Politiques de la mémoire dans l’œuvre de Jean Genet, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle 2010. 100 So repräsentiert beispielsweise die unkommentierte und unter den Leitthemen der Zeit, Transzendenz und Ästhetik angeordnete Anthologie einzelner Textfragmente aus L’Ennemi déclaré und Genets kunstästhetischen Schriften, die Marie-Claude Hubert in einer Art Ausblick ans Ende ihrer Studie zu Genets Ästhetik im Roman- und Dramen‐ werk stellt, ein erstes implizites Zeugnis dieser Forschungsrichtung. Vgl. Marie-Claude Hubert: „Anthologie“, in: Id.: L’esthétique de Jean Genet, Liège: Sedes 1996, pp. 151- 180. entstanden, der eine wichtige Auswahl kritischer Kommentare des Werks be‐ reithält, 97 und beispielsweise eine rezente Studie zur kaum untersuchten gat‐ tungstheoretischen Einordnung dieses Werks angeregt hat. 98 Anzuführen ist vor allem auch Balcázar Moreno, der mit einer Fokussierung der Trauerarbeit und der Erinnerungspolitik in Genets Gesamtwerk eine originelle Annäherung an das Politische und das Poetische gelingt. 99 Ihr Forschungsansatz richtet sich so‐ wohl gegen eine Entpolitisierung von Genets Werk zugunsten einer rein ästhe‐ tischen Deutung, als auch gegen eine zu starke Gewichtung des politischen En‐ gagements und versucht die Kategorie des Politischen als eine spezifische Form von Gemeinschaft umzudeuten. Diese Umdeutung des Politischen in einem spe‐ zifisch Genet’schen Sinne stellt, unabhängig von der Thematik des Todes und der Erinnerung, einen gewinnbringenden Anstoß dar. Auch die Initiative der Reevaluierung der politischen Schriften unter Rekurs auf die ästhetischen Schriften konstituiert einen innovativen Ansatz. Der Gedanke einer Zusam‐ menführung von Politik und Poesie beherrscht auch das unter Leitung von Al‐ bert Dichy und Véronique Lane organisierte Symposium von 2010 mit dem Titel „Jean Genet politique, une éthique de l’imposture“, welches die sich auch auf rhetorisch-literarischer Ebene abzeichnende Strategie des Verrats und Betrugs zum Schlüsselmoment eines näheren Verständnisses des politischen Engage‐ ments erhebt. Die Vorträge kennzeichnen sich vornehmlich durch Reflexionen zur Problematik von Ethik und Politik. Betont werden muss, dass die Verqui‐ ckung von Politik und Poesie keine grundsätzlich neue Erkenntnis darstellt, 100 aber den gegenwärtigen Forschungstenor bestimmt. Davon zeugt auch der unter der Herausgeberschaft von Ralph Heyndels erschienene Sammelband, welcher die Bereiche der Ästhetik und Politik unter dem Leitgedanken der Passion zu‐ 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 40 101 Vgl. Ralph Heyndels (Hrsg.): Les Passions de Jean Genet. Esthétique, poétique et politique du désir, Fasano / Paris: Schena Editore / Alain Baudry 2010. Eine Einzelstudie von Heyndels zu dieser Thematik ist angekündigt. 102 Vgl. Matthias N. Lorenz / Oliver Lubrich (Hgg.): Jean Genet und Deutschland, Gifken‐ dorf: Merlin 2014. 103 Bedeutende rezente Sammelwerke, in denen unter anderem wichtige Publikationen zum politischen Engagement von Jean Genet veröffentlicht wurden, sind: Hadrian La‐ roche (Hrsg.): Pour Genet. Les Rencontres de Fontevraud, (25 et 26 juin 2010), Saint-Naz‐ aire: meet 2011; Marie-Claude Hubert / Michel Bertrand (Hgg.): Jean Genet. Du roman au théâtre, Aix-en-Provence: Presses universitaires 2011; Nathanaël Wadbled (Hrsg.): Métamorphoses de Jean Genet, Dijon: Éditions universitaires 2013. 104 Vgl. Sylvain Dreyer: Révolutions! Textes et films engagés. Cuba, Vietnam, Palestine, Paris: Armand Colin 2013. 105 Vgl. zur Terminologie: Ibid., p. 29. sammenführt und eine Vielzahl interessanter Untersuchungen zur übergeord‐ neten Thematik einer Politik des Verlangens bei Genet vereint. 101 Die anlässlich des Jahrestages 2010 veranstaltete Tagung „Jean Genet und Deutschland“ legt einen Schwerpunkt auf die rezeptionsgeschichtliche Aufar‐ beitung von Genets Werk in Deutschland. 102 Insbesondere die Beiträge zu Genets Artikel über die Rote Armee Fraktion sowie zu seinem Interview mit Hubert Fichte 1975 werden in der vorliegenden Untersuchung an entsprechender Stelle berücksichtigt werden. Dies gilt auch für weitere sehr nutzbringende Artikel zu einzelnen für die Analyse relevanten Fragestellungen. 103 Daneben sollen hier noch einige kürzlich publizierte Werke näher Betrachtung finden. Zum intel‐ lektuellen Engagement in Frankreich vor dem Hintergrund der Revolutionen in Kuba, Vietnam und Palästina liefert Sylvain Dreyer einen wichtigen Beitrag, obgleich er sich in seiner Untersuchung zur literarischen und filmischen Auf‐ arbeitung dieser Revolutionen auf ein umfangreiches Korpus, bestehend aus einer Vielzahl von Werken unterschiedlicher Autoren und Regisseure, stützt. 104 Genet wird bei ihm im Kontext des palästinensischen Freiheitskampfes im Lichte von Un captif amoureux rezipiert, wohingegen die übrigen politischen Schriften von Jean Genet nicht zum Korpus zählen. Innerhalb seiner Untersu‐ chung kommt Un captif amoureux insofern ein bedeutender Stellenwert zu, als Dreyer das Werk als Endpunkt einer Entwicklung des literarischen Engage‐ ments in Frankreich bewertet, die sich in einer allmählichen Abkehr von Sartres Modell als selbstkritische Form des Engagements herausbildet. Seine Unter‐ scheidung zwischen den in der Tradition Sartres benannten „œuvres engagées“ und dieser neuen Form der „œuvres engagées critiques“ wird in dem sich an‐ schließenden analytischen Teil diskutiert. 105 Genannt werden muss auch die Arbeit von Tang mit dem vielversprechenden Titel May 68 and French Literary Production: A Periodization of Modern Revolutionary Writing in the Works of 1.3 Forschungsstand 41 106 Arthur F. Tang: May 68 and French Literary Production: A Periodization of Modern Re‐ volutionary Writing in the Works of Conrad Detrez, Monique Wittig, and Jean Genet. Online publiziert unter: http: / / scholarlyrepository.miami.edu/ oa_dissertations [letzt‐ mals aufgerufen am 18. Juni 2015]. 107 Marie-Claude Hubert (Hrsg.): Dictionnaire Jean Genet, Paris: Honoré Champion 2014. 108 Vgl. Mairéad Hanrahan: „Le cru et les cuisses: écrire à l’adresse de l’Amérique“, in: Études françaises 51, 1 (2015), pp. 29-42; Alex Lussier: „Jean Genet à Chicago: de la vision du même à l’autre“, in: Études françaises 51, 1 (2015), pp. 15-28. Conrad Detrez, Monique Wittig, and Jean Genet  106 . Tang betont die Bedeutung von Mai ’68 im Werk dieser drei Persönlichkeiten, konzentriert sich bei Genet aber ebenfalls vornehmlich auf Un captif amoureux, das allerdings aus einer rückblickenden und distanzierten Haltung verfasst wird. Da Tang damit argu‐ mentiert, dass die revolutionären Schriften aus dem Zeitgeist von Mai ’68 er‐ wachsen, sich in Un captif amoureux aber vielmehr ein Umschwung nach‐ zeichnet, ist Dreyers Ansatz dahingehend kohärenter und kann daher für die nachfolgende Analyse besser nutzbar gemacht werden. Erwähnenswert für die Forschung über Genet ist auch der kürzlich von Marie-Claude Hubert herausgebrachte Dictionnaire Jean Genet  107 . Die vielsei‐ tigen und facettenreichen Einträge behandeln beispielsweise auch einzelne po‐ litische Texte, die bislang kaum aufgearbeitet wurden, und bieten daher inner‐ halb der Analyse einige wichtige Impulse. Eine umfassende historisch determinierte und diskursspezifische Kontextualisierung gerade der politischen Texte und Reden von Jean Genet liegt bislang nicht vor. Die Tatsache, dass ge‐ rade in den jüngsten wissenschaftlichen Veröffentlichungen, wie beispielsweise von Mairéad Hanrahan und von Alex Lussier, 108 zu spezifischen journalistischen Texten Einzelanalysen vorgenommen werden, zeigt die Notwendigkeit und Re‐ levanz einer näheren Betrachtung dieses heterogenen Textkorpus. Dabei ist auch das gegenwärtige Forschungsdesiderat einer Annäherung von Poesie und Politik in Genets Spätwerk von Bedeutung, da sich innerhalb dieses Spannungs‐ bereichs Genets politischer Sonderweg konturieren lässt. Die diskursive Ein‐ ordnung des Spätwerks ausgehend von einer Gegenüberstellung von Genet und Michel Foucault sowie Jean-Paul Sartre einerseits und der amerikanischen Au‐ toren Allen Ginsberg sowie William S. Burroughs andererseits soll aufzeigen, dass Genets politische Texte innerhalb eines bestimmten Möglichkeitsfeldes bzw. diskursiven Bezugssystems zu situieren sind. Diese Inbezugsetzung ist bis‐ lang weitestgehend unerforscht. Genets Rückschau auf die eigene Positionie‐ rung bzw. die metadiskursive Betrachtung seines eigenen politischen Diskurses in Un captif amoureux erweisen sich zudem auch in gattungsspezifischer Hin‐ sicht als Erkenntnis bringend. 1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand 42 1 Gilcher-Holtey: Eingreifendes Denken, p. 9. 2 Vgl. Bourdieu: Les règles de l’art. 3 Hubert Wissing: Intellektuelle Grenzgänge. Pierre Bourdieu und Ulrich Beck zwischen Wissenschaft und Politik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, p. 15. 4 Jean-Paul Sartre: „Plaidoyer pour les intellectuels“ [1965 / 1970], in: Situations VIII. Au‐ tour de 68, Paris: Gallimard 1972, pp. 373-455, hier 378. Hervorhebung im Original. 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich Wie die Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey in ihrer Studie zur Wirkungschance von Intellektuellen in Ereignis- und Handlungskonstellationen der deutschen und französischen Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert unter Bezug‐ nahme auf Max Weber und Pierre Bourdieus Feldtheorie herausstellt, problematisieren die Konstellationsanalysen die Rolle des Intellektuellen als Vor‐ denker und Vermittler von Deutungs-, Wahrnehmungs- und Klassifikationsschemata der sozialen Welt. Sie rekonstruieren politische Interventionsschemata sowie Dis‐ tinktions- und Definitionskämpfe um das Mandat des Intellektuellen. 1 Nach Bourdieu besteht eine Interdependenz zwischen der Autonomisierung des literarischen bzw. kulturellen Feldes im 19. Jahrhundert und der Genese des In‐ tellektuellen, nämlich in Form des den Anschluss an soziale und politische Ge‐ sellschaftsproblematiken suchenden Schriftstellers oder Künstlers. 2 So erklärt er, dass sich auch die Frage nach dem literarischen Engagement erst konkreti‐ siert, nachdem sich die völlige Trennung zwischen Kunst bzw. Literatur und dem sozialen und politischen Bereich der Gesellschaft vollzogen und sich ein autonomes literarisches Feld ausgeprägt hat. Das gesellschaftspolitische Enga‐ gement konstituiert somit „eine Erweiterung eines spezifischen kulturellen Handlungsspektrums“ 3 . In diesem Sinn bezeichnet Sartre die Intellektuellen als une diversité d’hommes ayant acquis quelque notoriété par des travaux qui relèvent de l’intelligence (science exacte, science appliquée, médecine, littérature, etc.) et qui abusent de cette notoriété pour sortir de leur domaine et critiquer la société et les pouvoirs établis au nom d’une conception globale et dogmatique (vague ou précise, moraliste ou marxiste) de l’homme. 4 Betrachtet man daran anlehnend den Intellektuellen, dessen Begriffsdefinition sich aufgrund seiner historisch, sozial und situativ determinierten Präsenz stets 5 Paul Aron: „Engagement“, in: Id. et al. (Hgg.): Le dictionnaire du Littéraire, Paris: Presses universitaires de France 2002, pp. 177-178, hier 177. 6 Vgl. Benoît Denis: Littérature et engagement. De Pascal à Sartre, Paris: Seuil 2000, pp. 10-12. 7 Ibid., p. 20. in einem prozessualen Wandel befindet, im vorliegenden Fall als einen Vertreter aus dem literarischen Bereich, der sich unter Berufung auf eine spezifische Auf‐ fassung des Menschen oder ein etabliertes Wertesystem als Gesellschaftskritiker engagiert, so erklärt sich, dass sich das literarische Phänomen des Engagements dennoch auf alle Epochen erstrecken kann und somit weiter zurückreicht als bis ins 19. Jahrhundert: L’‚engagement‘ est le phénomène littéraire, présent à toutes les époques, par lequel les écrivains donnent des ‚gages‘ à un courant d’opinion, à un parti, ou de manière plus solitaire, s’impliquant par leurs écrits dans les enjeux sociaux et, notamment, politiques. 5 Was hier im übertragenen Sinne als ‚Einsatz‘ bzw. ‚Pfand‘ beschrieben wird, bedeutet im Konkreten den Einsatz des in seiner Domäne erworbenen Prestiges. Eine vermittelnde Stellung zwischen dieser gegensätzlichen Auffassung einer historisch begrenzten und einer überzeitlichen Form des literarischen Engage‐ ments eröffnet Benoît Denis, indem er den Terminus der „littérature engagée“ dem für ihn mit der Dreyfus-Affäre einsetzenden 20. Jahrhundert vorbehält, wohingegen er die in jeder Epoche existente gesellschaftskritische und politisch intentionierte Literatur als „littérature d’engagement“ bezeichnet. 6 Das literari‐ sche Engagement konstituiert insofern eine Sonderform, als der engagierte Schriftsteller das Medium der Literatur nicht unbedingt verlässt, um sich als Gesellschaftskritiker zu engagieren: [I]l y a ‚intervention de l’intellectuel‘ lorsqu’un agent, utilisant et mettant en jeu le prestige et la compétence acquis dans un domaine d’activité spécifique et limité (littérature, philosophie, sciences, etc.), s’autorise de cette compétence qu’on lui reconnaît pour produire des avis à caractère général et intervenir dans le débat sociopolitique. La fonction intellectuelle tend dès lors à se superposer aux fonctions traditionnellement dévolues à l’écrivain et à l’écriture. Il s’opère une redistribution des rôles, au terme de laquelle la littérature voit paradoxalement son prestige renforcé (l’écrivain qui fait œuvre d’intellectuel reste un écrivain et c’est ce prestige-là qu’il met en jeu dans son intervention), alors même que sa distance à l’actualité politique et sociale s’accuse encore, puisque l’intellectuel accapare le champ de l’intervention sociopolitique. 7 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 44 8 Jacques Julliard / Michel Winock: „Introduction“, in: Id. (Hgg.): Dictionnaire des intel‐ lectuels français. Les personnes, les lieux, les moments, Paris: Seuil 2009, pp. 11-18, hier 12. 9 Michel Winock: „Die Intellektuellen in der Geschichte Frankreichs“, in: Frankreich-Jahr‐ buch 11 (1998), pp. 53-63, hier 53. 10 Julliard / Winock: „Introduction“, p. 12. 11 Vgl. Winock: „Die Intellektuellen in der Geschichte Frankreichs“, p. 54. Auch bei Michel Winock gehören die bereits erworbene gesellschaftliche An‐ erkennung, die Positionierung in der Öffentlichkeit und die Erweiterung des kulturell spezifischen Handlungsbereichs, die von ihm als „transfert de notoriété“ 8 bezeichnet wird, zu den Hauptmerkmalen des Intellektuellen, der eine Reputation erworben hat oder anerkannte Kompetenzen im kognitiven oder kreativen, wissenschaftlichen, literarischen oder künstlerischen Bereich besitzt und seinen Status benutzt, öffentlich zu Fragen Stellung zu nehmen, die nicht sein Spezi‐ algebiet, sondern die gesamte politische Gemeinschaft betreffen, der er angehört. 9 Winock begrenzt in seiner Definition das intellektuelle Engagement auf die öf‐ fentliche Stellungnahme zu gesellschaftspolitisch relevanten Fragen, wohin‐ gegen Sartre das Engagement als Form der Gesellschaftskritik auf der Basis einer philosophisch fundierten Auffassung vom Menschen beschreibt. Julliard / Wi‐ nock konkretisieren das gesellschaftspolitische Engagement unter Berufung auf die Intentionalität des Engagements in einer weiteren Beschreibung des Intel‐ lektuellen als „un homme ou une femme qui, à travers cette activité, entend proposer à la société tout entière une analyse, une direction, une morale que ses travaux antérieurs le qualifient pour élaborer.“ 10 Orientiert an der Einbindung des intellektuellen Engagements in den gesellschaftspolitischen Kontext unter‐ scheidet Winock in einer idealtypischen Klassifizierung zwischen drei mögli‐ chen Interventionsformen, repräsentiert durch den kritischen Intellektuellen, der die politische, rechtliche und religiöse Autorität in Frage stellt, den organi‐ schen Intellektuellen, der das etablierte Regime verteidigt, und den parteilichen Intellektuellen, der einem neuen Regime bzw. einer neuen Partei zum Aufstieg verhelfen will. 11 Winocks Darstellung der intellektuellen Intervention als öf‐ fentliche Stellungnahme setzt zudem eine in der Öffentlichkeit diskutierte Fra‐ gestellung oder Thematik oder ein Ereignis voraus, das den Intellektuellen in einen Diskurs involviert, in dem er eine für die Gesellschaft richtungsweisende Perspektive vorzugeben anstrebt. Nach Franzmann handelt es sich um eine Krise 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 45 12 Andreas Franzmann: „Der Intellektuelle als Protagonist der Öffentlichkeit“, in: Id: Der Intellektuelle als Protagonist der Öffentlichkeit. Krise und Räsonnement in der Affäre Dreyfus, Frankfurt a. M.: Humanities Online 2004, pp. 15-20, hier 16. 13 Ory / Sirinelli: Les intellectuels en France, p. 336. 14 Ibid., p. 339. 15 Ibid., p. 339-340. des öffentlichen Konsenses, der sich der Intellektuelle mit seinem spezifischen „Krisendiskurs“ 12 zuwendet. Die Interdependenz zwischen Intellektualität und Öffentlichkeit manifestiert sich vor dem Hintergrund öffentlicher Transformationsprozesse. Wie eingangs skizziert, löst Mai ’68 einen Funktionswandel der Intellektuellen aus und reprä‐ sentiert einen Bruch mit der Rolle, die sie bislang in der Gesellschaft wahrge‐ nommen haben. Als spezifische Krise des französischen Universitätssystems und damit der französischen Intelligenz beschreiben Ory / Sirinelli das Aufbe‐ gehren der Studierenden als „surrection de la jeunesse intellectuelle contre ses pères les plus officiels, mais qui, portée par l’exemple de quelques maîtres bien précis, reçut le ralliement fasciné de plusieurs grands noms de la haute intelli‐ gentsia établie“ 13 . Dazu zählen für die beiden Verfasser insbesondere Jean-Paul Sartre, „se situant une fois de plus au centre des tendances intellectuelles du temps“ 14 , und in dessen Folge beispielsweise Michel Foucault, Maurice Clavel und Jean Genet, auch wenn durch diese undifferenzierte Inbezugsetzung zu Sartre deren Wechselbeziehungen und geistiger Austausch nur angedeutet werden: Mais un tel raisonnement [celui de Sartre, S. I.], partagé dans les premières années qui suivirent Mai par un Maurice Clavel (1920-1978), un Michel Foucault ou un Jean Genet (1910-1986), pour ne citer que trois personnalités assez représentatives de trois différentes légitimités intellectuels - un ‚journaliste‘, un ‚philosophe‘, un ‚poète‘ - n’était pas sans influer à son tour sur l’œuvre même de ses personnages. 15 Als Trias unterschiedlicher intellektueller Legitimitäten dargestellt, muss zum einen die damit verbundene Differenzierung deren Funktionen im öffentlichen Raum und zum anderen die jeweilige persönliche Entwicklung und Haltung gegenüber der Rolle des Intellektuellen berücksichtigt werden. So betreten Fou‐ cault und Genet im Gegensatz zu Sartre in den années 68 zum ersten Mal die politische Bühne, schaffen jedoch jeweils eine Rückbindung an ihr bis dahin veröffentlichtes Werk und theoretisieren ihr Engagement entsprechend ihrem spezifischen Interessenbereich. 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 46 16 Vgl. Gilcher-Holtey: Eingreifendes Denken, p. 309-310. 17 Ibid., p. 310. 18 Ibid. 19 Vgl. ibid., p. 14. Gilcher-Holtey betrachtet Mai 1968 als soziale Bewegung, deren kognitive Konstitution nicht allein durch eine Universitätskrise determiniert wird. 16 In ihrem Verständnis beziehen die Trägergruppen einer Bewegung ihre kognitive Identität prozessual durch „die Herausbildung einer internen Kommunikati‐ onsstruktur, eines symbolischen Systems der Selbstverständigung und der Selbstgewissheit, die Handlungsrichtung und intersubjektive Handlungsbereit‐ schaft bestimmen.“ 17 Diese Form des Austausches bezeichnet sie als „kognitive Praxis“, die „durch Ordnungsentwürfe von Intellektuellen und ihre Umsetzung in handlungsrelevante Zielvorstellungen“ 18 determiniert werde. Wenn auch die Rolle der etablierten Intelligenz im Mai 1968 als sekundär zu bezeichnen ist - weder Sartre noch Foucault oder Genet waren in der Bewegung -, so greift sie doch Teilelemente der Bewegung auf und führt sie weiter, wie beispielsweise die Schaffung des G. I. P. und des darin symbolisierten neuen Interventions‐ schemas zeigt. Im Lichte von Winocks Klassifizierung unterschiedlicher intel‐ lektueller Interventionsformen legen sie als Befürworter der sozialen Umbrüche und Proteste ihre eigene Funktion grundsätzlich entsprechend der des kritischen Intellektuellen aus, indem nämlich politische und vor allem rechtliche Autori‐ täten angezweifelt werden. Dabei zielen sie jedoch unter Einwirkung der öf‐ fentlichen Transformationsprozesse darauf ab, neue Handlungskonzepte zu entwerfen. Gilcher-Holteys Ausführungen in Eingreifendes Denken zufolge werden die Distinktions- und Positionskämpfe im intellektuellen Feld am Ende des 20. Jahrhunderts durch drei konkurrierende Typen des Intellektuellen de‐ terminiert, die den Diskurs maßgeblich prägen: der ‚allgemeine‘, der ‚revoluti‐ onäre‘ und der ‚spezifische‘ Intellektuelle. 19 Diese intellektuellen Handlungs‐ entwürfe entstehen in Reaktion auf die gesellschaftliche Situation des Umbruchs und vermitteln unterschiedliche Deutungs- und Wahrnehmungsformen der so‐ zialen Welt. Im Gegensatz zu Sartres durch die Maiereignisse transformierter Rolle des ‚universellen‘ Intellektuellen und Foucaults Ideal des ‚spezifischen‘ Intellektuellen, welche auf theoretisch fundierten und hergeleiteten Konzepten des politischen Engagements basieren, bleibt Genets Reaktionsform nur schwer klassifizierbar, wie in der sich anschließenden vergleichenden Analyse ermittelt werden soll. Julliard und Winock widmen ihm einen Artikel im Dictionnaire des intellectuels français, in dem die Unabhängigkeit als Schlüssel seines politischen Engagements benannt wird: „L’indépendance est la clé de son parcours intel‐ lectuel. […] Il renouvelle le modèle sartrien de l’écrivain engagé en refusant de 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 47 20 Florence Tamagne: „Genet, Jean“, in: Jacques Julliard / Michel Winock (Hgg.): Diction‐ naire des intellectuels français. Les personnes, les lieux, les moments, Paris: Seuil 2009, pp. 631-632, hier 632. 21 Vgl. Denis: Littérature et engagement, p. 21. 2.1 se substituer aux hommes politiques et en choisissant les causes qu’il défend pour des raisons intimes et personnelles.“ 20 Genets politisches Engagement muss an jenen Merkmalen ausgerichtet werden, die den Intellektuellen allgemein kennzeichnen, nämlich an seinem in einem anderen Bereich erworbenen Pres‐ tige und an dessen zielorientiertem Transfer in die politische Öffentlichkeit zu‐ gunsten einer gesellschafts- und handlungsrelevanten Richtungsweisung. Dabei müssen seine Haltung zum eigenen Prestige und zu dessen Wirkungskraft in der Öffentlichkeit ebenso beleuchtet werden wie seine Positionierung zur in‐ tellektuellen Interventionsform und ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Jean Genet im Fokus der medialen Öffentlichkeit: Zwischen revolutionärer Emblematisierung und Anonymitätsgebot Die gesellschaftlichen Veränderungen, welche sich in den Protestbewegungen der 1960er und 1970er widerspiegeln und durch diese vorangetrieben werden, zwingen die Intellektuellen zu einer Redefinition ihrer eigenen Funktion. Ein Widerspruch der sich auflehnenden Generation ist die offensive Ablehnung jedweder Autoritäten und Idole einerseits und der Prozess der Emblematisie‐ rung einzelner Persönlichkeiten zu Ikonen und Leitbildern der Protestbewe‐ gungen andererseits. Es wird ein grundsätzlicher Verzicht auf Idole und theo‐ retische Ideengeber postuliert, die als Produkte der Konsumgesellschaft wahrgenommen werden. Dieses eigentümliche Paradox des Oszillierens zwi‐ schen der Ablehnung des Personenkultes und der Ikonisierung politischer und lebensweltlicher Vorbilder wird auch in Genets frühen politischen Reflexionen thematisiert und kennzeichnet somit seinen Eintritt in die gesellschaftspoliti‐ sche Öffentlichkeit im Mai 1968. Die Unterstützung verschiedener revolutio‐ närer Bewegungen mittels seines als Autor erworbenen Prestiges, wie sie unter anderem bei Benoît Denis als typisches Merkmal der intellektuellen Intervention beschrieben wird, 21 bedingt die Furcht vor einer Instrumentalisierung seiner Person zu politisch-ideologischen Zwecken sowie vor der Defiguration seines Namens. Diese Problematik ist Gegenstand eines frühen journalistischen Kom‐ mentars über Genets Haltung zur Studentenrevolte von Mai 1968, der ein In‐ terview mit Jean Genet im Rahmen seiner Einladung durch das comité d’agita‐ 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 48 22 Vgl. Jean Lebouleux: „Genet: non aux idoles, oui à l’homme“, in: Combat, 31. Mai 1968, p. 13. 23 Vgl. das Manifest des CACR (comité d’agitation culturelle révolutionnaire): „Qu’est-ce que le comité d’agitation culturelle révolutionnaire“, 13. Mai 1968, Notice n° 523, http: / / www.cme-u.fr/ commune68/ affich.notice.php? id_notice=523, [letztmals aufgerufen am 09. Juli 2016]. 24 Lebouleux: „Genet: non aux idoles, oui à l’homme“, p. 13. 25 Vgl. zum Auftritt Sartres an der Sorbonne: Annie Cohen-Solal: Sartre. 1905-1980, Paris: Gallimard 1985, pp. 589-591. 26 Nicole Duault: „La visite-surprise de Jean Genet à la Sorbonne“, in: France-Soir, 31. Mai 1968, p. 3. Sartre hatte am 20. Mai 1968 im besetzten Amphitheater der Sorbonne eine Ansprache an die Studenten gehalten. Vgl. Michel Contat / Michel Rybalka: Les Écrits de Sartre, chronologie, bibliographie commentée, Paris: Gallimard 1970, pp. 465-466. 27 Lebouleux: „Genet: non aux idoles, oui à l’homme“, p. 13. tion culturelle der Sorbonne beinhaltet. 22 Das Aktionskomitee wurde am 13. Mai 1968 mit dem Ziel der Schaffung einer neuen Kultur gegründet und fordert von allen Kunstschaffenden die „auto-élimination“. 23 Der Autor des in der Zeitung Combat erschienenen Artikels, Jean Lebouleux, betont in einem lobenden Kom‐ mentar, dass Genet sich des Versuchs der Instrumentalisierung seiner Person zu einem Idol der Studentenbewegung mit den Worten „[j]e ne veux pas être une idole, je suis un homme comme tout le monde“ 24 erwehrt. Genets Zurückhaltung während der Studentenunruhen wird sehr positiv aufgenommen, wie auch folgender Vergleich eines anwesenden Studenten mit Sartre belegt, der sich am 20. Mai im Auditorium der Sorbonne den Studierenden zum Dialog zur Verfügung gestellt hatte: 25 „Sartre était un opportuniste, Genet est un poète.“ 26 Lebouleux kritisiert das Phänomen der Emblematisierung als einen der Konsumgesellschaft inhärenten Prozess: L’idole est un des produits de la société de consommation remise en question par les événements actuels. Il était donc normal que la révolution, si révolution il y a, supprime ce mythe. Or la conduite du comité d’agitation culturelle de la Sorbonne ou du moins de l’un de ses membres apparemment influent, hier, envers Jean Genet, est une véritable tentative de récupération. On veut montrer l’idole aux peuples, une idole de la liberté sans doute, mais un personnage mythique que chacun voulait approcher. 27 Der Versuch einer Instrumentalisierung Genets zum enragé geht jedoch auch von der Zeitschrift Combat selbst aus, die ihm während der Demonstrationen im Mai mehrere Artikel widmet, so dass Lebouleux’ Artikel als Kulminations‐ punkt dieser Problematik betrachtet werden kann. Die Zeitung beansprucht für sich eine singuläre und wegbereitende Positionierung innerhalb der 68er Be‐ wegung, wie aus folgendem Leseraufruf ersichtlich wird: 2.1 Jean Genet im Fokus der medialen Öffentlichkeit 49 28 „Lecteurs“, in: Combat, 13. Mai 1968, p. 1. 29 Vgl. beispielsweise M. E.: „Comment on fabrique un enragé“, in: Combat, 11.-12. Mai 1968, p. 10. 30 J.A.P.: „Saint-Genet, l’enragé“, in: Combat, 28. Mai 1968, p. 16. 31 Ibid. 32 J.A.P.: „A propos de Genet“, in: Combat, 29. Mai 1968, p. 13. Seul de tous les journaux parisiens, Combat a compris, a expliqué, a soutenu le grand mouvement contre lequel le pouvoir a jeté ses matraques. […] Nous sommes contre tous les Springer, contre ceux de l’Argent et du Dogme, nous sommes devenus nous aussi une ‚poignée d’enragés‘. 28 Das Attribut des enragé, welches sich die Zeitung als autoreferentielles Merkmal selbst zuschreibt und in der Berichterstattung des Monats Mai auch vor allem die Opfer polizeilicher Übergriffe bezeichnet, 29 wird in einem Artikel mit dem Titel „Saint-Genet, l’enragé“ auch Genet zuteil. Darin ergeht ein expliziter Ap‐ pell an den Autor, zu einer symbolischen Figur der Barrikadenkämpfe zu avan‐ cieren: „Je demande à Genet d’être notre Courbet.“ 30 Der Artikel präsentiert Bruchstücke verschiedener Äußerungen Genets, die seine Teilnahme an den studentischen Demonstrationen belegen. Dabei lässt der Verfasser des Artikels Genets Zitate mit deskriptiven Einschüben über den Gesang eines „jeune ter‐ roriste [qui] chante, tel Néron, les flammes qui réjouissent la Ville“ 31 alternieren. Neben der metaphorischen Verankerung Genets in der Revolutionsgeschichte durch den Vergleich mit der historischen Persönlichkeit Courbets erfolgt seine Instrumentalisierung somit über die Selektion und Verknüpfung ausgewählter Aussagen, welche als Aufruf zur Demolierung der Stadt Paris inszeniert werden. Das sich in diesem Mechanismus widerspiegelnde diffuse, assoziative Wissen über dessen Persönlichkeit transformiert ihn zu einer Projektionsfläche revo‐ lutionärer Zielsetzungen. Das Emblem des enragé lehnt Genet jedoch ab, wie aus der am darauffolgenden Tag publizierten Rektifikation des Journalisten her‐ vorgeht: [ J’]ai publié, hier, sous le titre de „St. Genet l’Enragé“ [sic! ] des bribes de phrases contre lesquelles Genêt [sic! ] a protesté. Parce qu’il ne veut pas désavouer le rôle joué par «Combat» dans cette Révolution, et parce qu’il ne veut pas de la ‚niche‘ que je lui faisais à travers ces quelques phrases, Jean Genet a refusé le rôle de terroriste inquiétant et solitaire. Parce que je comprends le sens de sa démarche, parce que la probité intellectuelle l’exige et parce que, surtout, je suis militant de notre lutte, je me désavoue moi-même. 32 Genets Verzicht auf eine Sonderbzw. Nischenstellung innerhalb der Protest‐ bewegung wird als Wunsch nach intellektueller Rechtschaffenheit gedeutet. In 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 50 33 Lebouleux: „Genet: non aux idoles, oui à l’homme“, p. 13. 34 Ibid. 35 José Monleón: „La visita de un escritor maldito: San Genet“, in: Triunfo (Madrid), 8. November 1969, pp. 18-23, hier 21. In Auszügen wurde das Interview in französischer Sprache im Programmheft des Théâtre de la Cité Internationale im Dezember 1969 ver‐ öffentlicht. seinem Artikel über Genets Besuch in der Sorbonne am 30. Mai 1968 stellt Jean Lebouleux bezeichnenderweise den Aspekt des Personenkultes in den Vorder‐ grund seines Berichtes. So zitiert er in verkürzter Form, was Genet als Essenz der Revolution präsentiert, nämlich das Ausmerzen der sozialen Phänomene des Geldes und des Namens: J’ai compris le sens plus profond de ce qui n’était qu’une révolte et devenait le sens même de la révolution c’est à dire [sic! ] la remise en question de toutes les formes sociales dans lesquelles nous vivons. Mon avis? Je crois qu’il faut supprimer deux éléments importants: l’argent et le nom. 33 Vermittels der in diesem Artikel bereits angerissenen Problematik des Namens reflektiert Genet seine eigene Rolle und Funktion in der gesellschaftspolitischen Öffentlichkeit. Das Geld und der Name als Symbole des Prestiges und der öf‐ fentlichen Anerkennung werden hier im Kontext der Kritik an der einengenden Charakteristik von Symbolen und Emblemen problematisiert: „Le fait d’avoir un nom même peu célèbre m’opprime. Hélas, je ne sais pas comment changer cela. Quant à l’emblème, il ferme, il clot [sic! ], même s’il exalte.“ 34 In einem Interview mit José Monleón der spanischen Zeitschrift Triunfo von 1969 anläss‐ lich einer Inszenierung seines Theaterstücks Les Bonnes durch Victor Garcia und die spanische Theatergruppe Nuria Espert im Théâtre de la Cité Internationale konkretisiert Genet diesen Zusammenhang: El problema que me plantea mi nueva situación es terrible. ¿Qué hacer para deshacerme de todo el dinero que recibo? ¿Qué hacer para deshacerme de un nombre que resulta cada vez más abrumador? Ese es mi gran problema actual. Yo creo que para un hombre existen dificultades que proceden del dinero. Cuando lo tiene en cantidad se convierte en dominador. Si, además, posee un nombre repetido a menudo en todas partes, ese nombre se hace tiránico. 35 Genet beschreibt die negativen Auswirkungen des Geldes und der Berühmtheit auf die Persönlichkeit, welche einen sozialbedingten Transformationsprozess des Individuums auslösen: Es wird zum Herrscher und zum Tyrann. Die Ty‐ rannei des Namens betrachtet er auch als Grundlage seines eigenen Interviews: „Un ejemplo podría ser lo que está pasando aquí ahora; se yo no me llamase Jean 2.1 Jean Genet im Fokus der medialen Öffentlichkeit 51 36 Ibid. Die Anführungszeichen befinden sich im Original. 37 Vgl. Jean Genet: „Lettre à la société des auteurs“ [1969], in: Elisabeth Boyer / Jean-Pierre Boyer (Hgg.): Genet, exposition présentée au Musée des Beaux-Arts de Tours du 8 avril au 3 juillet 2006, Tours: Farrago 2006, Bild 127-129, hier 127. 38 Jean Genet: „Lettre à Antoine Bourseiller“ [1969], in: Arnaud Malgorn: Jean Genet. Portrait d’un marginal exemplaire, Paris: Découvertes Gallimard 2002, pp. 116-117, hier 116. Im Folgenden wird der Text dieser transkribierten Version zitiert. Genet, ustedes no estarían conmigo. ‚Ejerzo, pues, sobre ustedes, una especie de tiranía debido a mi nombre. Y eso necesito destruirlo‘.“ 36 Die Funktion des Ei‐ gennamens wird von Genet einerseits in Bezug auf seine Rolle als öffentliche Autorität problematisiert, andererseits aber auch in Hinblick auf den Autor-Werk-Konnex im spezifisch literarischen Bereich, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits bewusst von der Publikation literarischer Texte absah. So er‐ weitert er diese Problematik auf das Konzept des literarischen Eigentums in einem Brief, der laut dem Ausstellungskatalog aus Tours zunächst an die Société des auteurs adressiert war, 37 welche im Mai 1968 aus der Société des gens de lettres mit Standort im Hôtel Massa hervorgegangen ist. Das Konzept des literarischen Eigentums vereint das Zusammenspiel von gesellschaftlicher Anerkennung und Besitzverhältnissen, welches Genet bereits in seiner frühen Kritik unter den Schlagwörtern des Geldes und des Namens resümiert hat. Malgorn kontextua‐ lisiert diesen auch bei ihm abgedruckten Brief im Zusammenhang zweier The‐ aterinszenierungen und stellt ihm einen Brief an den mit Genet befreundeten Regisseur Antoine Bourseiller voran: Victor Garcia vient me voir. Afin de lui faciliter les moyens d’obtenir de l’argent pour jouer Le Balcon à Paris, il me demande, et je lui donne mon accord, selon les règles que nous récusons, je le fais et ce n’est qu’un tour de passe-passe, et je vous préviens, parce qu’autour de vous, tout va tenter de maintenir la fiction d’une pseudo propriété artistique ou théâtrale, protégée par le nom de l’auteur, par la signature de l’auteur. Il est donc possible que je galvaude encore cette signature de ‚l’œuvre‘. Pour vous, pour Garcia et pour moi, la seule réalité de nos rapports est là, dans ce texte que j’ai signé avec vous et votre troupe le 19 février 1969. 38 Der Brief an die Société des auteurs steht folglich im Kontext der Inszenierung des Stückes Le Balcon durch Antoine Bourseiller in Marseille 1969 und stellt den Begriff des literarischen Eigentums in Frage, welches in der Signatur und no‐ minalen Zuschreibung eines Werks zum Ausdruck kommt. Unklar bleibt jedoch, warum Genets und Bourseillers Text sich an die Société des auteurs richtet. Ge‐ nets kritisches Verhältnis zu dieser Gesellschaft manifestiert sich in seinem iro‐ nischen Kommentar zur Besetzung der Vorgängerinstitution durch einige be‐ kannte Autoren: „[À] quoi bon occuper un cimetière? À moins de remplacer de 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 52 39 P.: „Saint-Genet, l’enragé“, p. 16. 40 Christian Charrière: Le printemps des enragés, Paris: Fayard 1968, p. 248. 41 Ibid. 42 Genet: „Lettre à Antoine Bourseiller“, p. 116. 43 Ibid., p. 117. 44 Ibid. 45 Roland Barthes: „La mort de l’auteur“ [1968], in: Œuvres complètes, t. III: 1968-1971, nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty, Paris: Seuil 2002, pp. 40- 45. vieux morts par de jeunes morts.“ 39 Wie Christian Charrière in ebenso scharf‐ züngigem Tonfall berichtet, besetzen unter anderem Michel Butor und Nathalie Sarraute das Hôtel Massa, „réalisant enfin le vieux rêve des intellectuels de marier l’action et la pensée […] pour manifester leur solidarité avec les étudiants et les ouvriers.“ 40 Ziel dieser neu gegründeten Autorengemeinschaft sollte die Verbin‐ dung der Literatur mit den als revolutionärer Prozess wahrgenommenen Be‐ wegungen sein. So zitiert Charrière das Credo der Société des auteurs: „Ouverte à tous ceux qui considèrent la littérature comme une pratique indissociable du procès révolutionnaire actuel [c]ette Union sera un centre permanent de con‐ testation de l’ordre littéraire établi.“ 41 In seinem Brief problematisiert Genet die von ihm als feudales System be‐ schriebene Beziehung zwischen dem Autor und seinem Werk, welche auf der Unterschrift bzw. dem Namen des Autors basiert und dessen Substitution er anstrebt: „C’est par une voie plus subtile que celle qui s’établit à partir d’une prétendue propriété littéraire - ou dramatique, ou artistique - que nous allons essayer d’instaurer entre un très aléatoire auteur et notre troupe, un accord différent.“ 42 Die Tyrannei des Namens scheint für Genet aus einer semiotischen Geschlossenheit des Eigennamens zu resultieren, den er metaphorisch als „une sorte de repaire, un silo à grain, un sanctuaire chinois, où personne d’autre que le signataire ne pourrait tirer avantages“ 43 charakterisiert. Die von Genet als gefährlich geschilderte, sich proportional zum Erfolg verhaltende ‚Aufladung‘ des Eigennamens wird in diesem Text in Bezug auf das Konzept des literarischen Eigentums bewertet, das er als unzeitgemäß beschreibt: „De plus en plus, elle [la propriété littéraire, S. I.] se rattache à un nom (le nom de l’auteur) alors que le nom recouvre de moins en moins une œuvre originale, si l’on accepte qu’‚un esprit de l’époque‘ soit à l’origine de toute œuvre originale.“ 44 Denn obwohl die Vorstellung eines gemeinsamen Geistes der Epoche die Originalität von Indivi‐ dualwerken grundsätzlich widerlege, würden einzelne Werke stärker denn je mit Autorennamen in Verbindung gebracht. Genets Kritik kann unter diesem Gesichtspunkt in Bezug zu Barthes’ in dessen gleichnamigem Artikel beschrie‐ benem Postulat der „mort de l’auteur“ 45 gesetzt werden, in dem er die durch die 2.1 Jean Genet im Fokus der medialen Öffentlichkeit 53 46 Vgl. ibid., p. 45: „[L]a naissance du lecteur doit se payer de la mort de l’Auteur.“ 47 Genet: „Lettre à Antoine Bourseiller“, p. 117. 48 Ibid., p. 116. 49 Ibid., p. 117. kapitalistische Ideologie fundierte tyrannische Zentrierung der Literatur um den Autor kritisiert. Ähnlich wie auch Barthes, für den im Tod des Autors die Geburt des Lesers liegt, 46 kritisiert Genet, dass der mandarinale Respekt vor dem Ei‐ gennamen des Schriftstellers die Qualitäten und Mängel seines Werks für den Leser verberge. Stattdessen plädiert Genet für die künstlerische Anonymität, welche die Sensibilität des Publikums schärfe: [Q]u’en face d’accords nouveaux, et d’une œuvre non signée, le public y gagnera en sensibilité, nous le savons bien, nous […] qui avons visité des musées Chinois et Japonais et qui après les plus beaux tableaux nous avons cherché la signature et n’avons découvert que cette mention „anonyme“ du XVIᵉ siècle, et que notre émotion en était augmentée. 47 Genets Vision einer neuen (literarischen) Übereinkunft, die nicht mehr auf der Autorität des Unterzeichnenden beruht, sondern auf einer Steigerung der Be‐ deutung des Betrachters, muss als Synthese seiner im Mai ’68 einsetzenden Re‐ flexion über die oppressive Macht des Namens und des Prestiges verstanden werden und weist, wie gezeigt werden soll, Analogien zu Foucaults Vorstellung des Autors auf. Das Gebot der Anonymität versteht Genet als Grundlage jener neuen Beziehung, die er im ersten Satz des Briefes als „accord différent“ zwi‐ schen jenem „très aléatoire auteur et notre troupe“ 48 ankündigt. Die Konzepte der Anonymität und der Zufälligkeit, die hier von Genet als Substitute der In‐ dividualität und Authentizität des Autors postuliert werden, lassen einen be‐ wussten Pakt zwischen Autor und Leser gar nicht erst zu, wobei die Vorstellung eines Paktes sich grundsätzlich Genets ästhetischen und moralischen Grund‐ sätzen widersetzt, wie der nur in Malgorns Transkription erscheinende, ab‐ schließende Satz untermauert: Tous les accords que j’ai pu signer jusqu’à aujourd’hui doivent être considérés comme nuls et non avenus: en accordant sa propre liberté à ce que j’ai pu écrire (pièces de théâtre), je reprends ma liberté à l’égard d’une société dont je dénoncerai tous les pactes. 49 In seiner Essenz behandelt der Brief weniger kunstästhetische Aspekte als die Funktion und Bedeutung des Autors und seines Namens. Diese Thematik steht auch im Zentrum von Foucaults Text „Qu’est-ce qu’un auteur? “ von 1969, in dem die Indifferenz gegenüber der Identität des Autors als ethisches Prinzip 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 54 50 Vgl. Michel Foucault: „Qu’est-ce qu’un auteur? “ [1969], in: Dits et Écrits. 1954-1988, t. I: 1954-1969, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 789-821, hier v. a. 789 und 793. 51 Vgl. ibid., p. 789-790. 52 Ibid., p. 796-797. 53 Vgl. Foucault: L’ordre du discours, pp. 23 sowie 28-30. 54 Vgl. Foucault: „Qu’est-ce qu’un auteur? “, p. 799-800. 55 Ibid., p. 812. behandelt wird. 50 Foucault diskutiert die Teilaspekte des Namens („le nom d’au‐ teur“), der Aneignung des Werks durch den Autor („le rapport d’appropriation“), der Zuweisung des Gesagten zu einem Werk („le rapport d’attribution“) und der Position des Autors in einem Diskurstyp oder einem diskursiven Feld („la posi‐ tion de l’auteur“). 51 Hinsichtlich des Namens konstatiert Foucault, dass er weder eine reine Bedeutung habe noch das Äquivalent einer Beschreibung sei, sondern „entre ces deux pôles de la description et de la désignation“ 52 zu situieren sei, wobei sich jedoch der Autorenname vom Eigennamen durch seinen besonderen Status unterscheide. Über den Status der Autorität hinaus, kommt dem Auto‐ rennamen innerhalb eines Diskurses eine ordnende Funktion zu, insofern er nämlich die Gruppierung, Eingrenzung und Gegenüberstellung von Texten er‐ laubt. Der Name des Autors charakterisiert einen bestimmten Diskurstyp und fundiert die Bedeutung dieses Diskurses innerhalb der Gesellschaft, der ihn von jenem alltäglichen, flüchtigen und konsumierbaren Diskurs differenziert. Diesen Zusammenhang wird Foucault ein Jahr später in L’ordre du discours im Kontext der die Ereignishaftigkeit und Zufälligkeit des Diskurses bändigenden internen Prozeduren weiter ausführen, wonach der Autor als Prinzip der Grup‐ pierung von Diskursen verstanden und als solches abgelehnt wird. 53 Eng mit der Bedeutung des Eigennamens verknüpft ist auch für Foucault die Frage nach dem literarischen Eigentum bzw. der Verflechtung von Autor und Werk, welches sich in Foucaults Verständnis als Paradigma einer sich im 17. und 18. Jahrhundert abzeichnenden Wende des Literaturverständnisses herauskristallisiert. 54 Wäh‐ rend zuvor der Autorenname eine geringere Rolle für die Rezeption bestimmter Texte spielte, avancierte die literarische Anonymität dann zu einem nicht länger akzeptierbaren Faktum. Das Verständnis des Namens als Marker der Individu‐ alität und Identität charakterisiert über das Verhältnis des Autors zu seinem als Einheit konzipierten Werk hinaus den literarischen Diskurs und dessen Bedeu‐ tung. Die von Foucault aus diskurshistorischer Perspektive beschriebene Au‐ toren-Funktion gleicht aufgrund der historischen Transformationsprozesse keinem Fixum, sondern räumt der Anonymität, jenem „anonymat du mur‐ mure“ 55 , stets eine Möglichkeitsexistenz ein. Foucault diagnostiziert vielmehr - 2.1 Jean Genet im Fokus der medialen Öffentlichkeit 55 56 Ibid., p. 796. ähnlich wie auch Barthes - einen mit Mallarmé einsetzenden Prozess des Ver‐ schwindens jener durch die Autoreninstanz gesicherten Charakteristika, näm‐ lich der Individualisierung des schreibenden Subjektes, wodurch ein neues ethi‐ sches Prinzip in der Literatur hervortrete. Während Foucault die Entwicklung der Funktion des Autors und des litera‐ rischen Eigentums diskursanalytisch determiniert, tritt in Genets Stellung‐ nahme stärker die Charakteristik der Forderung nach der Auflösung der Auto‐ reninstanz in Hinblick auf seine persönliche Stellung in der Öffentlichkeit in den Vordergrund. Der Autorenname hat eine autoritäre Funktion und indiziert die Bedeutung des Werks für die Gesellschaft vermittels seiner beschreibenden Charakteristik, so Foucault: Quand on dit ‚Aristote‘, on emploie un mot qui est l’équivalent d’une description ou d’une série de descriptions définies, du genre de: ‚l’auteur des Analytiques‘, ou: ‚le fondateur de l’ontologie‘, etc. Mais on ne peut pas s’en tenir là; un nom propre n’a pas purement et simplement une signification; quand on découvre que Rimbaud n’a pas écrit La Chasse spirituelle, on ne peut pas prétendre que ce nom propre ou ce nom d’auteur ait changé de sens. 56 Der Name als Äquivalent einer Zuschreibung einschlägiger, aus dem Leben oder dem literarischen Werk des Autors geschöpfter Merkmale, birgt die Gefahr der Deformation in sich und gleicht zudem für Genet einem die künstlerische Be‐ deutung einschränkenden Qualitätssiegel. Im Vordergrund seiner Reflexionen steht der Verzicht auf die dem Namen des Autors eingeschriebene Autorität, welcher er durch die Distanzierung von seinem literarischen Werk Rechnung trägt. Die Autorität resultiert stets aus einer gesellschaftlich erworbenen Anerken‐ nung, welche auch zu jenen Grundmerkmalen gehört, die eine intellektuelle Intervention ermöglichen. Problematisch erscheint daher die Ablehnung der durch den Namen gesicherten Autorität in Hinblick auf Genets Eintreten in das intellektuelle Feld und seine öffentliche Funktion als Sprachrohr bestimmter revolutionärer Gruppierungen wie beispielsweise der Black Panthers oder der palästinensischen Freiheitsbewegung. Denn sein Einsatz in der Öffentlichkeit lässt die Möglichkeit eines Verzichtes auf den Gebrauch der eigenen Reputation fraglich erscheinen. Sein Misstrauen gegenüber der medialen Öffentlichkeit und ihrer Prozesse der Instrumentalisierung zeichnet sich somit bereits in seinen frühesten politischen Stellungnahmen ab. Tatsächlich repräsentiert auch Genets erster politischer Artikel jenen medienkritischen Standpunkt, wobei die Kritik 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 56 57 Vgl. Jean Genet: „Les maîtresses de Lénine“ [1968], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 29-31. 58 Vgl. insbesondere die Ausführungen zur deformierenden Wirkung des Mythos in „Le mythe, aujourd’hui“ in: Roland Barthes: Mythologies, Paris: Seuil 2010 [1957], p. 202. 59 Vgl. Jean Genet: „J’ai peur de mon nom“ [1976], Lesung im Rahmen des Atelier Jean Genet durch André Marcon und Daniel Mesguich am 23. November 2010 im Théâtre de l’Odéon, Paris. Unveröffentlichter Text. 2.2 an den Deformationsmechanismen der Öffentlichkeit in diesem Text nicht au‐ toreferentiell, sondern in Hinblick auf Daniel Cohn-Bendits medial konstru‐ iertes Image geäußert wird. 57 Durch die Einschreibung des eigenen Namens in den medialen Diskurs wird der Name mit Bedeutung und Autorität aufgeladen, wodurch es zu seiner Verselbständigung und Deformation kommt, ein Prozess, der an Barthes’ Konzept des Mythos erinnert. 58 In einem unveröffentlichten Text von 1976 mit dem programmatischen Titel „J’ai peur de mon nom“ zeigt sich, dass diese Thematik der medialen Defiguration auch weiterhin von Genet re‐ flektiert wird. 59 Die sich in Genets Kritik an der Einschreibung des Eigennamens in den medialen Diskurs abzeichnende Reflexion über die eigene Position in der Öffentlichkeit kann grundsätzlich als für das intellektuelle Feld der 1960er und 1970er Jahre symptomatisch eingestuft werden, in dem die Intellektuellen auf‐ grund der sozialen Umwälzungen zu einem kritischen Überdenken ihrer eigenen Autorität und Funktion in der medialen Öffentlichkeit sowie ihres Verhältnisses zu den revolutionären Gruppierungen veranlasst wurden. Intellektuelle Handlungsentwürfe Genets Verortung im intellektuellen Feld orientiert sich an jenen beiden Per‐ sönlichkeiten, die dieses Feld in den 1960er und 1970er Jahren in Frankreich maßgeblich bestimmt haben und zu denen Genet in einem ambiguen Verhältnis stand: Jean-Paul Sartre und Michel Foucault. Daher soll bei der Analyse die In‐ terdependenz zwischen Genet, Foucault und Sartre im Vordergrund stehen. Ge‐ nets Verhältnis zu den beiden Philosophen kann als unstet und problematisch bezeichnet werden. Während Genets Beziehung zu Sartre auf die Anfänge seiner eigenen literarischen Schaffensphase zurückführt, beschränkt sich seine Bezie‐ hung zu Foucault auf jene kurze Zusammenarbeit in dem von Foucault gegrün‐ deten Groupe d’information sur les prisons in den frühen 1970er Jahren sowie im Rahmen anderer politischer Aktionen für die Rechte der Immigranten in Frank‐ reich, an denen auch Sartre beteiligt war. Trotz der offenen Distanzierung von den beiden Philosophen müssen sie als Bezugsgrößen betrachtet werden und 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 57 60 Vgl. Dreyer: „Une blessure encore à vif “, p. 118. 61 Vgl. White: Genet, pp. 307-310. 2.2.1 sollen nicht einfach als Negativfolie zur Bestimmung der Stellung Genets im intellektuellen Feld dienen. Aufgrund der Solidarität in gemeinsamen militanten Aktionen sowie der Erfahrung derselben historischen Ereignisse und Begeben‐ heiten einerseits und der impliziten, teilweise auch expliziten Bezugnahme zu‐ einander andererseits lassen sich thematische und motivische Parallelen he‐ rausfiltern. Unter Berücksichtigung der interpersonalen sowie intertextuellen Dialogizität werden thematische Schwerpunkte untersucht, die sich als beson‐ ders relevant auszeichnen und welche die Basis jenes gemeinsamen diskursiven Bezugssystems bilden, das nicht auf Konsens abzielt, sondern Freiraum für jenen offenen Dissens lässt, den Sylvain Dreyer als prototypisch für Genets politische Positionierung herausstellt. 60 Ursprung dieses Dissenses ist allerdings, wie Dreyer in seinem Beitrag behauptet, nicht alleine Genets Engagement für die Befreiung der palästinensischen Gebiete, wodurch er sich bewusst von Sartres pro-israelischer Haltung distanziert, sondern tatsächlich vor allem die grund‐ sätzliche Poetisierung des Politikverständnisses, welche Genet beispielsweise im palästinensischen Kampf realisiert glaubt. Die Bedeutung und Funktion des Intellektuellen in der Öffentlichkeit, die damit verbundenen Handlungsmuster sowie die Kritik am Rechtssystem bilden die drei thematischen Hauptachsen. Die Herausbildung einer gemeinsamen diskursiven Formation der Kritik an der Rechtsstaatlichkeit kennzeichnet sich durch spezifische Diskursobjekte und -konzepte, die in einem weiteren Schritt näher beleuchtet werden. Genet und Sartre: Der Poet und der Philosoph Gemäß Edmund Whites biographischer Rekonstruktion traf Genet im Mai 1944 Sartre zum ersten Mal im Café Flore und war dem Philosophen als letzte Entde‐ ckung Jean Cocteaus bekannt. 61 Gemeinsam mit Cocteau, durch dessen Bezie‐ hungen Genet bereits einmal einer lebenslangen Gefängnisstrafe entgangen war, richtete Sartre 1948 ein Gesuch an den französischen Präsidenten, um eine erneute Inhaftierung aufgrund einer noch nicht abgesessenen Strafe abzu‐ 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 58 62 Vgl. Albert Dichy / Pascal Fouché: Jean Genet, matricule 192.102. Chronique des années 1910-1944, Paris: Gallimard 2010, pp. 421-427. Wie hieraus hervorgeht, drohte Genet zu diesem Zeitpunkt keine lebenslange Gefängnisstrafe mehr, sondern es wurde im Nachgang an eine noch nicht vollständig abgesessene Strafe vom Dezember 1940 ein Prozess neu aufgerollt: „Or il semble qu’une certaine confusion ait alors régné quant à la condamnation qui menaçait Genet. La lettre de Sartre et Cocteau fait peut-être réfé‐ rence aux suites du jugement du 6 novembre 1943 qui auraient pu, en effet, entraîner la peine de la relégation. Mais, en réalité, Genet ne fait à ce moment l’objet de poursuites judiciaires qu’en fonction de la peine de deux ans de prison, prononcée par la cour d’appel de Paris le 27 décembre 1940 et confirmée le 18 mai 1946 (peine dont il ne lui reste plus qu’une dizaine de mois à exécuter).“ 63 Simone de Beauvoir: La cérémonie des adieux suivi de Entretiens avec Jean-Paul Sartre: août-septembre 1974, Paris: Gallimard 1981, p. 348. 64 White: Genet, p. 315. 65 Sartre widmete 1947 Genet seine Biographie über Baudelaire und Genet wiederum widmete Sartre und Simone de Beauvoir sein Journal du Voleur. Vgl. zum Dialog über die Homosexualität: White: Genet, pp. 439-444. Genets aufschlussreicher Brief ist erst‐ mals bei White veröffentlicht und in Originalsprache bei Arnaud Malgorn abgedruckt. Vgl. Arnaud Malgorn: Jean Genet. Portrait d’un marginal exemplaire, Paris: Découvertes Gallimard 2002, pp. 108-110. Während Sartre die Freiheit und Verantwortung als Prä‐ misse eines sich selbst durch die eigenen Handlungen bestimmenden Individuums auch auf die Wahl der eigenen Sexualität projiziert, betrachtet Genet die Homosexualität als Ursprung eines lebensverneinden Instinktes. 66 Vgl. Cohen-Solal: Sartre, pp 325-428. 67 Jean-Paul Sartre: Saint Genet, comédien et martyr, Paris: Gallimard 2010 [1952]. wenden. 62 Sartre beschreibt seine Beziehung zu Genet stets in Abgrenzung zu Cocteau: „[N]os rapports à l’égard de Genet étaient très différents; moi je l’en‐ courageais à être seul, comme j’étais, seul; je ne veux pas dire abandonné de tous, mais ne cherchant aucun parrain pour entrer dans la littérature, alors que Cocteau l’aurait volontiers parrainé.“ 63 Die Beziehung zwischen Genet und Sartre ist durch einen gegenseitigen geistigen Austausch über Literatur und Kunst geprägt, wie White betont: „They shared an interest in all literary forms (theatre, cinema, fiction), although Sartre was no poet and Genet no biogra‐ pher.“ 64 Von diesem offenen Dialog zeugen beispielsweise auch die gegenseitigen Textwidmungen sowie der Schriftwechsel über die Konzeption der Homosexu‐ alität, eine Frage, die Sartre in besonderem Maße faszinierte. 65 Der intensive Austausch zwischen Sartre und Genet ist in jener historischen Phase zwischen 1945 und 1956 zu situieren, die mit Annie Cohen-Solal als die „années Sartre“ zu bezeichnen sind, in welcher der Philosoph sein Konzept des literarischen Engagements ausarbeitet. 66 Er kulminiert in Sartres monumentaler, existentia‐ listisch-psychoanalytischer Biographie Saint Genet, comédien et martyr  67 , die von Sartres Interesse an Genets Leben und Persönlichkeit Zeugnis ablegt und für die weitere Beziehung ein richtungsweisendes Fundament darstellt. Sartre 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 59 68 Vgl. Beauvoir: La cérémonie des adieux, p. 349. 69 Ibid., p. 350. 70 Cohen-Solal: Sartre, p. 412. 71 Ibid. 72 Die Redaktion des Magazins Playboy wollte Interviews mit zwei bekannten französi‐ schen Persönlichkeiten publizieren und entschied sich zunächst für Jean-Paul Sartre und Brigitte Bardot. Letzteres wurde jedoch schließlich durch das Interview mit Genet ersetzt, sodass Sartres und Genets Stellungnahmen symbolisch einander gegenüber‐ stehen. Vgl. dazu Albert Dichys Annotationen zum Interview mit Madelaine Gobeil in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 332. 73 Jean Genet: „Entretien avec Madelaine Gobeil“ [1964], in: Œuvres complètes, VI: L’En‐ nemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 11-27, hier 22. 74 Vgl. Jean Genet: „Entretien avec Bertrand Poirot-Delpech“ [1982], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 227-241, hier 236. erinnert sich, dass Genet selbst ihn um ein Vorwort zur in Planung befindlichen Gesamtausgabe seiner Werke bei Gallimard bat. 68 Ursprünglich als Vorwort ge‐ dacht, bildet sie schließlich den ersten Band der Gesamtausgabe und übersteigt mit ihren rund 600 Seiten die Leseerwartungen eines Vorwortes. Sartre inter‐ pretiert Genets negative Reaktion auf das Werk als Effekt eines Spiegels, der ihn auf sich selbst zurückgeworfen habe: [Q]uand j’ai eu fini, je lui ai donné le manuscrit, il l’a lu, et une nuit, il s’est levé, il est allé jusqu’à une cheminée et il a pensé le jeter au feu. Je crois même qu’il a jeté des feuilles et qu’il les a reprises. Ça le dégoûtait parce qu’il se sentait bien tel que je l’avais décrit. 69 Sartres Biographie, „objet bâtard, obèse, énorme, monstrueux“ 70 , wie Cohen-Solal affirmiert, beschließt eine Kanonisierung des Werks und erhebt Genet zum Protagonisten seiner existentialistischen Philosophie: „Et Jean Genet sera enfermé, entre ces pages, dans le rôle du plus sartrien des personnages sartriens, du héros sartrien par excellence.“ 71 Genet selbst betont die sterilisie‐ rende Wirkung des Werks in einem 1964 entstandenen Interview mit Madelaine Gobeil: 72 „[ J’]ai mis un certain temps à m’en remettre. J’ai été presque incapable de continuer d’écrire. […] Le livre de Sartre a créé un vide qui a permis une espèce de détérioration psychologique.“ 73 Tatsächlich erkalten die Beziehungen zwischen Sartre und Genet im Folgenden. Zu einem späteren Zeitpunkt be‐ streitet Genet, das Buch jemals bis zum Ende gelesen zu haben, da es ihn lang‐ weile. 74 Auch Genets Wertschätzung für den Philosophen bleibt zwiespältig, wie sich bereits im Interview von 1964 zeigt: „Sartre se répète. Il a eu quelques grandes idées et les a exploitées sous diverses formes. En le lisant, je vais souvent 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 60 75 Genet: „Entretien avec Madelaine Gobeil“, p. 21. 76 Ibid. 77 Vgl. zum Dissens der französischen Gauchisten: Michel Winock: „Der arabisch-israeli‐ sche Konflikt“, in: Id.: Das Jahrhundert der Intellektuellen, aus dem Französischen von Judith Klein, Konstanz: UVK 2003, pp. 707-717. 78 Edward Said: „On Genet’s Late Works“, in: Grand Street 36 (1990), pp. 26-42, hier 31. 79 Ibid. Edward Said selbst kritisiert in diesem Zusammenhang Sartres politische Stel‐ lungnahme im Nahost-Konflikt sehr missfällig. 80 White: Genet, p. 316. 81 Beauvoir: La cérémonie des adieux, p. 350. Auf diesen Aspekt verweist auch White. Vgl. White: Genet, p. 316. plus vite que lui.“ 75 Hier jedoch zollt er Sartre eine gewisse Sympathie und An‐ erkennung, indem er betont: „J’aime Sartre parce qu’il est drôle, amusant, et qu’il comprend tout.“ 76 Das hier nur implizit zu Tage tretende Konkurrenzver‐ hältnis erstarkt in den Jahren des politischen Engagements und insbesondere durch den Dissens in Hinblick auf den Nahost-Konflikt, welcher, wie Winock herausstellt, das linke Lager mehr als jede andere Krise in Frankreich spaltete. 77 So erinnert sich auch Edward Said, dass nicht so sehr Sartres monumentale Bi‐ ographie Unfrieden gestiftet habe, die Genet mit den ironischen Worten kom‐ mentiert habe: „If the guy wanted to make a saint of me, that’s fine.“ 78 Vielmehr sei es aufgrund der pro-israelischen Haltung Sartres zu einem Zerwürfnis zwi‐ schen den beiden gekommen, wie die Wiedergabe des nachfolgenden Zitates von Genet belegen soll: „He’s [Sartre, S. I.] a bit of a coward for fear that his friends in Paris might accuse him of anti-Semitism if he ever said anything in support of Palestinian rights.“ 79 Möglicherweise ist das Spannungsverhältnis auch darauf zurückzuführen, dass Genet, so White, seinen politischen Akti‐ vismus an Sartres Modell ausrichtete: „Although he [Genet, S. I.] did not turn actively to politics until the late 1960s, he certainly modelled his political acti‐ vism on Sartre’s.“ 80 Dabei erscheint vor allem Genets Negation seines eigenen Status als Intellektueller bemerkenswert und es muss hinterfragt werden, in‐ wieweit sich diese gegen Sartres Modell richtet. Die Distinktion zwischen der Rolle des Poeten und des Philosophen beschäftigt Genet bereits zum Zeitpunkt der Publikation von Saint Genet, comédien et martyr, wie Sartre in seinen Erin‐ nerungen evoziert: „Il [Genet, S. I.] se prenait pour le poète et me prenait pour le philosophe et il a beaucoup usé de cette distinction qui n’était pas dite, mais on la sentait; il disait des choses sur le poète, il disait des choses sur le philo‐ sophe […].“ 81 Während der Phase seines politischen Aktivismus beansprucht Genet dann den Status des Poeten in Abgrenzung zur Funktion des Intellektu‐ ellen. 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 61 82 Vgl. Alexandre Romanès: „Genet et le cirque“, Kolloquium Jean Genet politique, une éthique de l’imposture, 24. November 2010 im Théâtre de l’Odéon, Paris. Unveröffent‐ lichter Beitrag. In seiner Biographie interpretiert Sartre das Konzept der Heiligkeit bei Genet als eine Form der Widerständigkeit, da die conditio humana an sich angefochten werde. Vgl. insbesondere das Kapitel „Le couple éternel du criminel et de la sainte“ in: Sartre: Saint Genet, pp. 89-158, hier 104. 83 Vgl. Aristoteles: Poetik, griechisch / deutsch, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 2010, p. 29. 84 Vgl. Platon: Der Staat (Politeia), übersetzt und herausgegeben von Karl Vretska, Stutt‐ gart: Reclam 2001, pp. 431-467. 85 Ibid., p. 449. 86 Jean-Pierre Bertrand: „Poète“, in: Paul Aron et al. (Hgg.): Le dictionnaire du Littéraire, Paris: Presses universitaires de France 2002, pp. 448-450, hier 448. 87 Ibid. In Genets Verständnis bedeutet ‚Poet‘, wie Alexandre Romanès betont, neben der religiös-ethischen Figur des Heiligen, des saint, die höchste Auszeichnung, welche Genet wenigen Auserwählten - beispielsweise Albert Einstein - zuteil‐ werden ließ. 82 Etymologisch aus dem Griechischen stammend bezeichnet poïétès den Schöpfer bzw. Erfinder. Bei Aristoteles wird seine Aufgabe von der des Ge‐ schichtsschreibers unterschieden, insofern letzterer in seinem in Prosa ver‐ fassten Geschichtswerk das wirklich Geschehene mitteilt, wohingegen der Dichter in Versform kommuniziert, was geschehen könnte. 83 Darüber hinaus grenzt er mit seinen Werken zur Poetik und Rhetorik die Dichtkunst und die Redekunst gegeneinander ab und wendet sich mit seiner Poetik gegen Platons Verurteilung der Dichtung, wie dieser sie insbesondere im zehnten Buch seiner Ausführungen über den Staat verlautbart. 84 Über gattungsspezifische Kontrastierungen hinaus begründet Platon seine Vorstellung einer traditionellen Feind‐ schaft zwischen Philosophie bzw. Wissenschaft und Poesie, jenes „alte[n] Streit[s] zwischen Philosophie und Dichtung“ 85 unter Rekurs auf die ästheti‐ schen und gesellschaftspolitischen Ansprüche beider Disziplinen. Während der Philosoph die Wahrheit sucht und Ideenkonzepte bildet, schafft der Poet ent‐ sprechend der platonischen Ideenlehre nur Illusionen und Trugbilder, indem er nämlich stets nur das Abbild eines Abbildes hervorbringt. Auf dieser Logik wird eine dichotome Struktur begründet, innerhalb welcher sich Wahrheit und Ima‐ gination bzw. Täuschung, Vernunft und Emotion, Wesenhaftigkeit und Abbilder einander gegenüberstehen. Platon fundiert in Ion und Politeia seine Vorstellung des Dichters als „inspiré des dieux, et donc en tant que tel, porteur d’images incontrôlables, sources des mouvements passionnels violents“ 86 und „fauteurs de désordre potentiels“ 87 , den es aus seinem Idealstaat zu vertreiben oder zu‐ mindest durch die Philosophen zu kontrollieren gilt. Genets bewusste Anknüp‐ fung an die Funktion des Poeten und nicht des Philosophen oder Intellektuellen 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 62 88 Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la littérature? , Paris: Gallimard 2011 [1948]. 89 Vgl. ibid., p. 24. 90 Ibid., p. 29 91 Vgl. Jean-Paul Sartre: „L’écrivain et sa langue“ [1965], in: Situations IX, mélanges, Paris: Gallimard 1972, pp. 40-82, hier 58-62. 92 Denis: Littérature et engagement, p. 30. 93 Sartre: Qu’est-ce que la littérature? , p. 84-85. entpflichtet ihn von jener gesellschaftspolitischen Verantwortung, die mit dieser Rolle traditionell verbunden ist, und distanziert ihn von Sartres Modell des li‐ terarischen Engagements. Bereits zum Zeitpunkt der Entwicklung jenes Kon‐ zeptes in Qu’est-ce que la littérature?   88 zeichnet sich ab, dass Sartre sein Ver‐ ständnis von Kommunikation als sprachlich realisierte Beziehung zum Anderen durch den gattungsspezifischen Kontrast zwischen Prosa und Poesie kenn‐ zeichnet. Die Möglichkeit eines poetischen Engagements schließt er aus. 89 Ziel des engagierten Autors nach Sartre ist die Enthüllung der Welt und des Men‐ schen, um den Prozess der Bewusstwerdung und die Übernahme der Verant‐ wortung des Individuums in der Gesellschaft voranzutreiben: „[L’]écrivain a choisi de dévoiler le monde et singulièrement l’homme aux autres hommes pour que ceux-ci prennent en face de l’objet ainsi mis à nu leur entière responsabi‐ lité.“ 90 Dieser enthüllenden Funktion von Literatur und Sprache stellt er die au‐ toreferentiellen Literatur- und Kunstformen gegenüber, zu denen für ihn die Poesie zählt. Sartre klassifiziert die Poesie als negative Kunstform, insofern sie niemals Teil einer Aktion sei, sondern sich selbst genüge. Daraus resultiert seine Kritik an der gesellschaftlichen Abgeschiedenheit und Einsamkeit des Dichters, welche durch jene negativen Charakteristika der Nichtmitteilung und des Nar‐ zissmus determiniert werden, die Sartre der Lyrik auch noch Mitte der 1960er Jahre attestiert. 91 Nur die Prosa werde durch ihre Öffnung zur Gesellschaft hin jenem ethischen Imperativ gerecht, den Sartre in seiner Kongruenz zu dem von ihm erhobenen ästhetischen bzw. prosaischen Imperativ als Grundlage des li‐ terarischen Engagements versteht. Benoît Denis definiert den engagierten Autor in diesem Verständnis zu Recht als „celui qui a pris, explicitement, une série d’engagements par rapport à la collectivité, qui s’est en quelque sorte lié à elle par une promesse et qui joue dans cette partie sa crédibilité et sa réputation.“ 92 Die kontextuelle Unmittelbarkeit des literarischen Engagements schafft eine historisch fundierte Interaktion zwischen dem Autor und seinen Zeitgenossen, wobei der Autor die Funktion eines Mediators einnimmt: „L’écrivain est média‐ teur par excellence et son engagement c’est la médiation.“ 93 Im Unterschied zu Roland Barthes unterscheidet Sartre daher auch nicht zwischen „Écrivains et 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 63 94 Roland Barthes: „Écrivains et écrivants“ [1960], in: Essais critiques, Paris: Seuil 1964, pp. 147-154. 95 Vgl. zur Kongruenz von Intellektuellem und Schriftsteller den Abschnitt „L’écrivain est-il un intellectuel“ in: Sartre: „Plaidoyer pour les intellectuels“, pp. 430-455. 96 Ibid., p. 455. Hervorhebung im Original. 97 Vgl. ibid., p. 377. 98 Vgl. ibid., p. 397. 99 Vgl. ibid., p. 404. 100 Ibid., p. 374. Hervorhebung im Original. 101 Ibid., p. 373. 102 Sartre, „L’ami du peuple“, p. 467. écrivants“ 94 , also zwischen Schriftsteller und Schreibendem, als welchen Barthes den Intellektuellen bezeichnet, sondern untermauert die Kongruenz jener beiden Standpunkte des Schriftstellers und des Schreibenden bzw. des Intellek‐ tuellen aufgrund der identischen Funktion als gesellschaftlicher Mediator ver‐ mittels eines ethischen Gebrauchs von Sprache. 95 Für Sartre repräsentiert der Schriftsteller die Funktion des Intellektuellen „par essence“ 96 . Die Mediatorenfunktion kennzeichnet folglich auch Sartres Konzept des uni‐ versellen Intellektuellen, dessen funktionellen Wandel er bereits 1965 konsta‐ tiert, der dann jedoch mit Mai ’68 seine vorläufige Vollendung findet. 97 Sartres Definition des Intellektuellen basiert auf der Unterscheidung zwischen Experten und Intellektuellen, wobei er jedoch jeden so genannten „technicien du pouvoir pratique“ als potentiellen Intellektuellen betrachtet, insofern er nämlich seinen Kompetenzbereich überschreitet. 98 Eigentümlich sei daher für den Intellektu‐ ellen das ständige Spannungsverhältnis zwischen spezifischem und univer‐ sellem Wissen, wobei jedoch für Sartre der Intellektuelle seine Funktion erst als „technicien de l’universel“ erfüllt. 99 Wenn auch Sartre die Inkarnation jenes ‚universellen Intellektuellen‘ repräsentiert, so lässt sich im Nach-Mai gerade auch ein Transformationsprozess seiner Vision des intellektuellen Engagements konstatieren, welcher sich in seinem Bestreben äußert, „[de] nier le moment intellectuel pour tenter de trouver un nouveau statut populaire.“ 100 Er postuliert die Auflösung des klassischen universellen Intellektuellen durch die Hinwen‐ dung zu dem, was er in seiner Einleitung zum Plädoyer für den Intellektuellen als „compagnon radicalisé des forces populaires“ 101 und in einem Interview von 1970 als universelles Konkretes, als „universel concret“ 102 , bezeichnen wird: Il faut d’abord qu’il [l’intellectuel, S. I.] se supprime en tant qu’intellectuel. Ce que j’appelle intellectuel donc c’est la mauvaise conscience. Il faut qu’il mette ce qu’il a pu retirer des disciplines qui lui ont appris la technique de l’universel directement au 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 64 103 Ibid. 104 Vgl. ibid., pp. 456-458. 105 Vgl. ibid., p. 464. 106 Ibid. 107 Vgl. ibid., p. 467. service des masses. Il faut que les intellectuels apprennent à comprendre l’universel qui est désiré par les masses, dans la réalité, dans le moment, dans l’immédiat. 103 Sartre argumentiert, dass der klassische bzw. universelle Intellektuelle sich als Theoretiker des praktischen Wissens stets in einem Spannungsverhältnis zwi‐ schen dem Universellen und dem Spezifischen befand 104 und dass sein Univer‐ salitätsanspruch nur noch durch seine Verbindung zur universellen Gesellschaft, nämlich den Massen, gesichert werden könne: 105 [I]l faut que ceux d’entre eux [les intellectuels, S. I.] qui ont vraiment changé se rendent compte qu’il n’y a plus d’autre possibilité d’avoir une fin universelle que de se mettre en liaison directe avec ceux qui réclament une société universelle, c’est-à-dire avec les masses. Mais ça ne veut pas dire qu’ils doivent, comme les intellectuels classiques, ‚parler‘ au prolétariat, bref faire de la théorie, soutenue par les masses dans l’action. 106 Sein Verständnis des Intellektuellen basiert folglich auf einer Kooperation des Intellektuellen mit den Massen, die jedoch dessen Rolle als Sprachrohr be‐ stimmter Gruppierungen überschreitet. So lehnt Sartre auch die Ansprache an die Arbeiterschaft ab und befürwortet stattdessen den kommunikativen Aus‐ tausch. Diesen sieht er in La cause du peuple, dem Presseorgan der maoistischen Gauche prolétarienne ( GP ), dessen Herausgabe er 1970 auf Anfrage Pierre Victors nach der Inhaftierung der Herausgeber Le Dantec und Le Bris wegen Verbrechen gegen die Staatssicherheit nominell übernimmt, durch die journalistische Zu‐ sammenarbeit der Intellektuellen mit der breiten Masse realisiert. 107 Sartre be‐ schreibt seine veränderte Wahrnehmung und Vorstellung der gesellschaftlichen Funktion des Intellektuellen als einen seiner Zusammenarbeit mit den Maoisten entspringenden inhärenten Prozess: Les premiers temps, je ne faisais pas grand-chose au journal, mais si j’avais voulu y écrire, ils m’auraient ouvert les pages. On a travaillé davantage ensemble, et petit à petit, je me suis gauchi, en ce sens que le travail avec eux m’obligeait - sans qu’ils fassent la moindre pression sur moi - à me contester comme intellectuel. L’intellectuel en partie bourgeois, que le P. C. acceptait sans le changer comme compagnon de route-potiche, ne pouvait pas travailler avec les maos sans découvrir ses contradictions 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 65 108 Philippe Gavi et al.: On a raison de se révolter, Paris: Gallimard 1974, p. 95-96. Vgl. zur Beziehung zwischen Maoisten und Intellektuellen insbesondere Kapitel VI: „Les maos et les intellectuels“ [Dezember 1972], pp. 94-106. 109 Vgl. ibid. 110 Ibid., p. 105. 111 Julliard / Winock: „Introduction“, p. 12. et sans vouloir en sortir. Il ne fallait pas que l’intellectuel se prît pour un conducteur du peuple, mais qu’il regagne au plus vite, la place qui l’attendait dans le peuple. 108 Dennoch betrachtet er sein fortgeschrittenes Alter als Hindernis für die Voll‐ endung des Transformationsprozesses des Intellektuellenmodells, wonach der Intellektuelle in der Masse aufgehen soll. Denn als „victime de la division du travail“, so die marxistische Auslegung der Maoisten, müsse der Intellektuelle zusätzlich eine handwerkliche Arbeit verrichten. 109 Für Sartre koexistieren daher beide Modelle, das des klassischen Intellektuellen und das jenes neuen, „polyvalenten“ Intellektuellen in ihm: Ma contradiction profonde en tant que j’écris L’Idiot de la famille, c’est que celui qui écrit est un intellectuel classique qui se casse les os de la tête pour vous suivre et qui, déjà, sur certains plans, quand il va chez Renault caché dans un camion, ou qu’il fait irruption dans l’immeuble des Câbles de Lyon, se rapproche un peu de l’intellectuel polyvalent que vous imaginez […]. Les deux types d’intellectuel coexistent chez moi, et, d’une certaine façon, ils se contredisent et, en même temps s’appuient l’un sur l’autre. 110 Während Sartre in Reaktion auf die zeitpolitischen Ereignisse seine Funktion in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu redefinieren versucht, hält Genet trotz seiner Distanzierung vom literarischen Feld an seiner Denomination als Poet fest. Dabei postuliert er jedoch niemals die Aktionsform eines Engagements, das durch die literarische Gattung der Poesie vermittelt würde. Genets Verständnis von Poesie umfasst vielmehr eine über die Gattungsspezifizität hinausgreifende Form der öffentlichen Kommunikation und Positionierung, die an die tradierte Vorstellung der gesellschaftlichen Ungebundenheit anknüpft und sich dadurch von Sartres Konzept der littérature engagée distanziert. Wie sich auch in Genets Misstrauen gegenüber einer medialen Vereinnahmung seines Namens und damit seines im literarischen Bereich erworbenen gesellschaftlichen Prestiges widerspiegelt, macht Genet durch das Festhalten an seiner Rolle als Poet jenen von Winock als „transfert de notoriété“ 111 bezeichneten Überschreitungsprozess vom literarischen zum intellektuellen Feld unkenntlich. Trotz dieser offenkun‐ digen Distanzierung vom intellektuellen Feld weist Genets Interventionsform 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 66 112 Vgl. Jean Genet: „Sur deux ou trois livres dont personne n’a jamais parlé“ [1974], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 121-124. 113 Ibid., p. 122. 114 Ibid. 2.2.1.1 in der Praxis Analogien zu Sartres Verständnis des Engagements auf, die im Anschluss analysiert werden sollen. Genet und die Funktion des intellektuellen Mediators Genets Relation zum intellektuellen Engagement kommt besonders ausgeprägt in einem scheinbar unverfänglichen Artikel von 1974 über zeitgenössische maghrebinische Autoren zum Ausdruck. 112 Darin legitimiert er seine eigene In‐ tervention durch die mangelnde Präsenz der Intellektuellen und grenzt sich vi‐ rulent von Sartre ab, den er in insgesamt vier Textpassagen offensiv kritisiert: Il faut donc que je parle, et je reparlerai de ces voix plus lucides que plaintives puisque nos intellectuels, ceux qu’on appelle encore bêtement nos maîtres à penser, se dérobent, ceux qu’on supposait les meilleurs se taisent, l’un des plus généreux, Jean-Paul Sartre, semble avoir fait faillite, se complaire dans sa faillite. Il n’ose pas prononcer un mot, un nom qui pourrait aider ces voix de Tahar Ben Jelloun et d’Ahmed. Il avait pourtant si admirablement commenté le livre de Fanon. Il semble refuser de dire les paroles non d’apaisement mais celles qui apporteraient une aide réelle. Il refuse de parler d’eux, comme s’il avait peur, ma parole, d’en avoir les mains sales! Mais Sartre n’est déjà plus le maître à penser de personne sauf d’une très pittoresque bande déjà débandée. 113 Genets hier geäußerter Vorwurf, dass Sartre seiner Funktion als Intellektueller nicht nachkomme und sich in Hinblick auf die Probleme der Immigranten in Stillschweigen hülle, mündet in einer Entthronung des Intellektuellen schlechthin. Mit der impliziten Anspielung auf den Begriff der mauvaise foi und Sartres Theaterstück Les mains sales, „comme s’il avait peur […] d’en avoir les mains sales“ 114 , in dem der Konflikt zwischen politischem Pragmatismus und revolutionärer Ideologie behandelt wird, unterstellt er Sartre mit ironischem Unterton ein inkonsequentes und in Sartres Verständnis inauthentisches Ver‐ halten. Genet bewertet das fehlende Engagement der Intellektuellen als Zu‐ stimmung zur Situation der Unterdrückung, in welcher die Immigranten in Frankreich lebten, und betont die Ersetzbarkeit der Intellektuellen: Évidemment, les intellectuels aussi ont un rôle dans une situation semblable, mais en refusant de hurler avec les opprimés, ils hurlent avec les loups. Mais puisque aucun écho, aucune résonance ne vient d’eux pour porter les voix, les faire entendre à ceux qui ont presque la même vie, les mêmes misères, il faut bien qu’on s’adresse 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 67 115 Ibid., p. 122-123. 116 Ibid., p. 123. 117 Ibid. 118 Ibid., p. 121. 119 Ibid., p. 123. 120 Vgl. Albert Dichys Annotationen zum entsprechenden Text in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 363. directement au public: Sartre ne compte plus. Qu’il ne parle pas, que d’autres esthètes du silence ne parlent pas: on se passera d’eux. 115 Genet stellt in Aussicht, dass die gesellschaftliche Funktion Sartres bzw. des Intellektuellen substituiert werden müsse und eine direkte Kommunikation mit der Arbeiterschicht jenseits einer intellektuellen Transferinstanz stattfinden solle, wie durch die Aussage „il faut bien qu’on s’adresse directement au public“ 116 untermauert wird. Die durch den Doppelpunkt eingeleitete Satzfolge „Sartre ne compte plus“ 117 verzichtet bewusst auf einen konjunktional gesi‐ cherten, kausalen Sinnzusammenhang, demzufolge man sich direkt an die Öf‐ fentlichkeit wenden müsse, weil Sartre seine Bedeutung verloren habe. So kann man die Feststellung, dass Sartre nicht mehr zähle, auch als eigentliche Botschaft für die Öffentlichkeit bewerten, wodurch dessen Bedeutungsverlust gleichsam zur Hauptaussage des Textes avanciert. Genets Ansprache ist explizit an die Arbeiter adressiert, die das Schicksal der Immigranten teilen und hat eine ap‐ pellierende Funktion. Tatsächlich fordert Genet dazu auf, den Stimmen der Im‐ migranten eine Zuhörerschaft zu bieten: „Ces voix qui brûlent avec des phrases presque en lambeaux, si les intellectuels refusent de les entendre, je demande aux ouvriers de les écouter.“ 118 Die offene und vehemente Kritik an den Intel‐ lektuellen verschleiert dabei, dass Genet selbst in seiner Ansprache das intel‐ lektuelle Interventionsschema bedient. Dieser Eindruck wird durch seine An‐ kündigung, „on se passera d’eux [des intellectuels, S. I.]“ 119 , verstärkt. Durch die Verwendung des unpersönlichen Personalpronomens ‚on‘ bleibt unklar, wo Genet sich selbst situiert. Der zusätzliche Gebrauch der futurischen Zeitform des reflexiven Verbs ‚se passer de‘ dient dazu, das, was man in diesem Diskurs als Genets persönliche politische Intervention klassifizieren könnte, hinter einer auf grammatikalischer Ebene unpersönlichen Zukunftsprojektion zu ver‐ schleiern. Seine eigene öffentliche Funktion bleibt dadurch unkenntlich. Albert Dichy bemerkt in seinem Kommentar zu diesem Text, dass die Polemik gegen Sartre nicht alleine aus den Divergenzen im israelisch-palästinensischen Konflikt resultieren könne, da sie zu vehement und frontal gegen den Philoso‐ phen gerichtet sei. 120 Er betont, „que, par un curieux paradoxe, l’aventure poli‐ 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 68 121 Ibid. 122 Jean Genet: „Lettre aux intellectuels américains“ [1970], in: Œuvres complètes, VI: L’En‐ nemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 43-46. Der Text findet sich hier unter jenem Titel publiziert, den Genet auch in seinem Manuskript vermerkte; er wurde mehrmals unter unterschiedli‐ chen Titeln in den USA publiziert. Vgl. dazu Albert Dichys Annotationen zum Text in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 341-342. 123 Vgl. Mikkel Bolt Rasmussen: „Yes of course, but … Derrida to Genet on commitment in favour of George Jackson“, in: New Formations: a journal of culture, theory, politics 75, 1 (2012), pp. 140-153. Rasmussen konzentriert sich vor allem auf Derridas Position, der stärker noch als Genet selbst eine kritische Haltung gegenüber jeglicher Form des po‐ litischen Engagements vertritt. tique de Genet dont on peut penser qu’elle ne serait pas tracée de la même façon sans le modèle sartrien, se sera fait contre lui.“ 121 Die hier geäußerte Vermutung eines paradoxen Zusammenspiels aus Modell und Gegenmodell, an dem Genet seine gesellschaftliche Positionierung ausrichte, erklärt die Unmöglichkeit der Zuschreibung eines festen Handlungsmodells und -konzepts. Genet postuliert die Substitution Sartres, ohne jedoch dessen gesellschaftliche Funktion als Sprachrohr unterdrückter Bevölkerungsgruppen tatsächlich ausfüllen zu wollen. Insbesondere sein Engagement für die Black Panthers zeigt jedoch, dass Genet durchaus jene Mediatorenfunktion ausübt, die für Sartre eine bedeutende Kom‐ ponente des intellektuellen und literarischen Engagements konstituiert. Wie sich in seinem frühen Text über den Rassismus in den USA mit dem Titel „Lettre aux intellectuels américains“ 122 manifestiert, versucht er als Mediator zwischen jenen Gruppierungen, deren politische Ziele er unterstützt, und den Intellektu‐ ellen zu fungieren. Der Titel indiziert die Intellektuellen als Adressaten des Textes und richtet sich de facto an ein anonymes, lediglich als „les Blancs“ de‐ terminiertes „nous“, dem sich Genet in diesem Text selbst zuzurechnen scheint. Genet nimmt eine vermittelnde Rolle zwischen den ‚weißen‘ Intellektuellen und den Black Panthers ein, indem er auf die nicht tolerierbare Situation der afroa‐ merikanischen Bevölkerung in den USA sowie exemplarisch auf die Verhaftung des Vorsitzenden der Black Panthers Bobby Seale aufmerksam macht. Stärker als in seinem späteren Text von 1974 steht 1970 das Moment der Solidarität mit den Intellektuellen im Zentrum, was sich in Hinblick auf die gemeinsamen Aktionen in diesem Zeitraum erklären lässt. So etwa mobilisierte Genet zu diesem Zeit‐ punkt auch andere Intellektuelle für die Bildung eines Aktionskomitees für George Jackson und organisierte ein Petitionsschreiben, für das er etwa Derrida, Barthes, Duras oder Sollers gewinnen wollte. 123 Auch in seiner „May Day 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 69 124 Jean Genet: „May Day Speech“ [1970], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 47- 54, hier 51. 125 Ibid., p. 52. 126 Jean Genet: „Entretien avec Michèle Manceaux“ [1970], in: Œuvres complètes, VI: L’En‐ nemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 55-62, hier 59. 127 Vgl. Marty: Jean Genet, post-scriptum, p. 64-65. Speech“ 1970 appelliert er unter Anwendung eines Analogieschlusses mit der Dreyfus-Affäre in Frankreich an die amerikanischen Intellektuellen: Naturellement, ce parallèle avec l’affaire Dreyfus ne peut pas se poursuivre point par point. Et je dois reconnaître qu’en Amérique, jusqu’à présent, il n’y a aucun Clemenceau, aucun Jaurès, ni surtout, parmi les intellectuels, aucun Zola pour écrire ‚J’accuse‘. Un ‚J’accuse‘ qui porterait condamnation contre la magistrature de votre pays et contre la majorité des Blancs restés racistes. 124 Seine Rede zum Ersten Mai rechtfertigt er durch seine Mittlerfunktion, welche die Kommunikation zwischen den Black Panthers und den amerikanischen In‐ tellektuellen unterstützt: „L’entreprise du Black Panther Party ne cesse de s’é‐ tendre, le public est de plus en plus nombreux à les comprendre et les intellec‐ tuels blancs vont peut-être les soutenir: c’est pourquoi je suis parmi vous aujourd’hui.“ 125 Wie auch bereits der Text von 1974 demonstriert, positioniert sich Genet jedoch stets in einem nicht definierten Zwischenraum zwischen, in diesem Fall, der revolutionären Gruppierung der Black Panthers und jenem Pub‐ likum, um dessen Aufmerksamkeit er wirbt. Dennoch kennzeichnen jene um 1970 entstandenen Texte Genet als vermit‐ telnde, öffentliche Instanz und sind ihrer Bestimmung nach vornehmlich als pragmatisch zu charakterisieren, da Genet hier meist auf die finanzielle Unter‐ stützung und das Engagement der Adressaten für die Black Panthers abzielt - nämlich „populariser le mouvement et ramasser de l’argent“ 126 , wie er selbst in einem Interview mit Michèle Manceaux unterstreicht. Es scheint kaum überra‐ schend, dass Éric Marty, der die Verstrickung von Poesie und Politik in Genets Werk mit dem Vorwurf der Amoralität grundsätzlich kritisiert, die Unterstüt‐ zung der Black Panthers als kohärentestes politisches Engagement bezeichnet, welches in Konkurrenz zu Jean-Paul Sartre stehe. 127 Der Einsatz seines Namens, der Transfer seines literarischen Prestiges in den gesellschaftspolitischen Bereich und vor allem die handlungsorientierte und gesellschaftsrelevante Ausrichtung seiner Reden und Texte formen eine bedeu‐ tende Schnittmenge mit der intellektuellen Interventionsform. Genet selbst ver‐ lautbart in seiner „May Day Speech“, „dans mes interventions, aucune irréalité 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 70 128 Genet: „May Day Speech“, p. 47. 129 Zitiert nach: White: Genet, p. 652. 130 Neutres: Genet sur les routes du Sud, p. 244-245. 131 Ibid., p. 245. 132 Vgl. ibid., p. 246. ne doit se glisser, car elle serait préjudiciable au Black Panther Party, et à Bobby Seale, qui est bel et bien dans une prison réelle, de pierre, de ciment et d’acier“ 128 , und distanziert sich von einer auf dem Prinzip der Irrealität basierenden Akti‐ onsform, die sich nachteilig für die Black Panthers auswirken könnte. Dieses Phänomen zeigt sich auch in der Modifikation des sprachlichen Codes, den er an die Handlungsziele seiner Reden für die Black Panthers anpasst, wie auch aus Jacques Derridas Anmerkung hervorgeht: I don’t mean to say he was without irony, but it wasn’t at all the same code. I remember seeing him address a meeting in Paris, during which he asked for money […] and then he expressed himself truly with a great passion and anger and even a certain hostility toward the people from whom he was demanding money - but then he wasn’t playing. 129 Dieses paradoxe Verhältnis zwischen einer pragmatischen und fiktiven Ver‐ handlung der realen Zustände in seinen Interventionen resultiert aus der be‐ wussten Opazität der öffentlichen Positionierung und erschwert darüber hinaus auch die Klassifizierung der intervenierenden Texte, deren Affinität zur mili‐ tanten Literatur Jerôme Neutres betont: „[L]es textes qui accompagnent cette période d’action n’échappent pas toujours aux écueils de la littérature mili‐ tante.“ 130 Dennoch erscheint Neutres eine Klassifizierung jener „textes contem‐ porains de son action, les dits et écrits qui cherchent à être performatifs, à pro‐ voquer une action“ 131 unproblematischer, als die des posthum erschienenen Werks Un captif amoureux, da erstere sich nicht als Literatur präsentierten. 132 Zum einen muss jedoch angemerkt werden, dass auch die in L’Ennemi déclaré versammelten politisch-pragmatischen Texte, anders als Jérôme Neutres hier behauptet, kein homogenes Korpus darstellen, wie sich besonders prägnant am Beispiel seiner im Kontext der gegenkulturellen Proteste in Chicago entstan‐ denen journalistischen Beiträge im dritten Kapitel zeigen wird. Denn während Genet in den Texten um 1970 im Rahmen des G. I. P. und des Kampfes für die Black Panthers eine zwischen Intellektuellen und Revolutionären vermittelnde Position ausfüllt und damit selbst zumindest aus strategischen Gründen das In‐ terventionsschema einer zwischengeschalteten intellektuellen Transferinstanz übernimmt, bleibt er in anderen Texten, wie beispielsweise den hier genannten journalistischen Artikeln, auch auf stilistischer Ebene stärker seiner Rolle als 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 71 133 Voneinander abzugrenzen sind dabei jene Studien, die grundsätzlich zwischen einem Früh- und einem Spätwerk unterscheiden und jene, die darüber hinaus eine spezifische Differenzierung des Spätwerks vornehmen. Dabei ist auch die variable Definition des Politischen zu berücksichtigen. Vgl. in diesem Zusammenhang Urs Urban: Der Raum des Anderen und Andere Räume. Zur Topologie des Werkes von Jean Genet, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, vor allem pp. 105-127, der sich ausgehend von einer Topoanalyse für die Untergliederung in ein Früh- und Spätwerk ausspricht und das Politische „als eine Funktion der räumlichen Ordnung von Kultur“ (p. 225) begreift; im Unterschied dazu differenziert Balcázar Moreno nicht zwischen Früh- und Spätwerk, sondern betont die grundsätzliche politisch-literarische Verschränkung bei Genet: Vgl. Balcázar Moreno: Travailler pour les morts, pp. 29-39; vgl. Laroche: Le dernier Genet, wo der Fokus zwar auf der Untersuchung des politischen Spätwerks im historischen Ent‐ stehungskontext der revolutionären Bewegungen liegt, doch wird bei ihm innerhalb der Analyse nicht zwischen den Texten aus L’Ennemi déclaré und Un captif amoureux unterschieden. 134 Vgl. Neutres: Genet sur les routes du Sud, p. 246. 135 Ibid., p. 246-247. Poet verpflichtet. Zum anderen verwundert es, dass sich Neutres dann insbe‐ sondere auf Un captif amoureux bezieht, um Genets Interventionsform mit Sartres Engagement zu vergleichen. Zwar eröffnet Neutres’ Ansatz eine interessante Gegenstimme zu jenen zahl‐ reichen Untersuchungen, denen zufolge sich Genets gesamtes Werk durch eine eigentümliche Verschränkung des Literarischen und des Politischen auszeichne und unabhängig vom Entstehungszeitpunkt nicht zwischen politischen und li‐ terarischen Werken unterschieden werden müsse. 133 So nämlich untermauert Neutres zu Recht den Zusammenhang zwischen den politischen Interventionen und Un captif amoureux, dessen Genese sich nicht ohne diese beschreiben lasse, und betont dabei, dass sich Un captif amoureux durch seinen literarischen Status radikal von den politischen Interventionen unterscheide. 134 Doch Genets poli‐ tische Aktivitäten grenzt Neutres dann gerade in Bezug auf Un captif amoureux von Sartres Konzept des literarischen Engagements ab und er orientiert sich dabei an Goytisolos Vorstellung einer „littérature compromise“: Pour Goytisolo, comme pour Genet et avant eux, Marx et Trotski, la littérature engagée, l’écriture mise au service d’une cause politique concrète, d’une organisation ou d’un mouvement n’a jamais donné le jour à une œuvre de valeur. Les livres engagés se révèlent illisibles dès l’oubli ou la disparition des circonstances qui les ont motivés. L’écriture compromise se distingue de la littérature engagée par un investissement radical de l’écrivain dans uns réalité politique. N’est plus engagée seulement une facette de l’écrivain - son opinion politique sur telle ou telle cause - mais tout son être. 135 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 72 136 Balcázar Moreno: Travailler pour les morts, p. 29. 137 Dreyer: Révolutions! , p. 27. 138 Ibid., p. 31. 2.2.1.2 Diese Form des literarischen Engagements geht über die Positionsergreifung in einem spezifischen politischen Kontext hinaus und manifestiert sich in einer absoluten politischen Verpflichtung des Schriftstellers, in der auch sein Werk aufgehe. Jene hier angedeutete Verflechtung von Politik und Ästhetik bei Genet konstatiert auch Moreno, ohne jedoch dabei zwischen Genets Früh- und Spät‐ werk zu unterscheiden: „Le politique n’est pas un aspect extérieur à l’œuvre, il est inséparable de sa recherche esthétique: il fait partie de sa littérarité.“ 136 Gerade jene Studien, in denen keinerlei Differenzierung zwischen dem Status des lite‐ rarischen Frühwerks, den Interventionen und dem aus diesen hervorgegan‐ genen letzten Werk vorgenommen wird, können Genets politisches Engagement nur unvollständig erschließen, da die Beleuchtung des Status der intervenier‐ enden Texte nicht nur Aufschluss über Genets öffentliche Position liefert, son‐ dern auch über die Klassifizierung von Un captif amoureux. Neben Neutres kon‐ statiert auch Sylvain Dreyer in seiner Untersuchung zu engagierten Texten und Filmen aus den 1960er und 1970er Jahren den Einfluss Sartres als „contre-mo‐ dèle“ 137 auf die in dieser Zeit aktiven Autoren und Regisseure, darunter Genet, bezieht sich jedoch in seinem Fall ausschließlich auf Un captif amoureux. Letzteren Text wählt er in seiner exzellenten Studie über die Entwicklung einer an Sartres Modell ausgerichteten Form des selbstkritischen literarischen und filmischen Engagements als Endpunkt der Ausdifferenzierung jener von ihm als „œuvres engagées critiques“ 138 bezeichneten Werke. Dreyer blendet dabei die Bedeutung aus, die der werkimmanenten Evolution von Genets politischen Texten hin zu Un captif amoureux zukommt. So ist nämlich fraglich, inwieweit Genet diesen überhaupt noch als Intervention konzipiert und ob dieser nicht vielmehr sein politisches Detachement bestätigt, wie im vierten Kapitel näher beleuchtet wird. Genets ablehnender Rekurs auf Sartres Interventionsmodell prägt sich stärker in seinen pragmatischen Texten aus, wie sich nachfolgend beispielsweise auch anhand seiner Vorworte aufzeigen lässt. Genet als Verfasser von Vorworten Die Textgattung des Vorwortes, derer sich Genet während seines politischen Aktivismus mehrfach bedient, konstituiert aufgrund ihrer liminalen Stellung einen Sonderstatus in Hinblick auf das Spannungsverhältnis zwischen Prag‐ matik und Literarizität. Genet orientiert seine Rolle als préfacier an Sartres Mo‐ 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 73 139 Dabei soll Genets Konzeption des Vorwortes jedoch keinesfalls als Pastiche verstanden werden, wie etwa bei Marty. Vgl. Marty: Jean Genet, post-scriptum, p. 59-60. 140 Frantz Fanon: Les damnés de la terre, préface de Jean-Paul Sartre, présentation de Alice Cherki et postface de Mohammed Harbi, Paris: La Découverte 2002 [1961]. 141 Genet: „Sur deux ou trois livres“, p. 122. 142 Jean Genet: „Introduction à Les frères de Soledad“ [1971], in: Œuvres complètes, VI: L’En‐ nemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 63-70. 143 Jean Genet: „Préface à L’Assassinat de George Jackson“ [1971], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 111-117. 144 Jean Genet: „Violence et brutalité“ [1977], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 199-211. 145 Jacques Derrida: „Hors livre“, in: La Dissémination, Paris: Seuil 1993 [1972], pp. 9-76, hier 18. 146 Durch den Begriff „liminaire“ wird sowohl die demarkierende Textfunktion in Derridas Sinne, als auch die einleitende Textform im Sinne Genettes beschrieben. Vgl. Derrida: „Hors livre“, p. 24; Gérard Genette: Seuils, Paris: Seuil 1987, p. 175. dell. 139 In seinem Text über zeitgenössische maghrebinische Autoren mit dem Titel „Sur deux ou trois livres dont personne n’a jamais parlé“ (1974) zeichnet sich seine Wertschätzung für Sartres Vorwort zu Frantz Fanons Les damnés de la terre  140 ab, wobei er jedoch bemängelt, dass jener nichts dergleichen für Tahar Ben Jelloun oder Ahmed in der Aktualität unternehme: „Il [Sartre, S. I.] n’ose pas prononcer un mot, un nom qui pourrait aider ces voix de Tahar Ben Jelloun et d’Ahmed. Il avait pourtant si admirablement commenté le livre de Frantz Fanon.“ 141 Sartres Vorwort muss in Hinblick auf Genets eigene Funktion als préfacier bewertet werden. So verfasste Genet das Vorwort zu den Gefängnisbriefen von George Jackson 142 , zur vierten Broschüre des Groupe d’information sur les prisons über George Jacksons Tod im Gefängnis von Saint Quentin 143 und zu den Ge‐ fängnisbriefen der Roten Armee Fraktion 144 . Als literarische Kategorie repräsentiert das Vorwort auf textueller Ebene die vermittelnde Scharnierstellung, welche Genet zwischen den Black Panthers und den Intellektuellen bzw. der interessierten Öffentlichkeit einnimmt. Wie Jacques Derrida herausstellt, gehört es durch seinen Status der Vorrede bzw. des ‚avant-dire‘ „à la fois au dedans et au dehors du concept“ 145 , welches im Werk selbst veranschaulicht wird. Diese Wechselbeziehung aus Werkinteriorität und -exteriorität kennzeichnet jene als „liminaire“ designierte Textsorte, 146 wobei sich das der Textsorte inhärente Spannungsverhältnis zwischen Innen und Außen auch in Genets Mittlerfunktion widerspiegelt. Darüber hinaus repräsen‐ tiert der préfacier nach Genette nicht nur einen „‚parrain‘ littéraire ou idéolo‐ 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 74 147 Genette: Seuils, p. 275. 148 Albert Dichy erläutert in seinen Annotationen zum Text, dass die junge Anwältin von George Jackson, Fay Stender, sich auf der Suche nach einem Verleger für die Briefe ihres Mandanten bewusst mit dem Vorschlag an Genet wandte, für dieses Projekt ein Vorwort zu verfassen. Vgl. dazu Dichys entsprechenden Kommentar in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 348. 149 Derrida: „Hors livre“, p. 26. 150 Ibid., p. 13. Beispielhaft zeigt sich diese Verankerung in der Aktualität an der Neuauflage der Gefängnisbriefe von 1994, in der Genets ursprüngliches Vorwort nur noch als Ap‐ pendix aufgeführt wird und die einleitende Positionierung durch einen Text von George Jacksons Sohn besetzt wird, welcher sich an die heutigen Leser richtet. Vgl. George Jackson: Soledad Brother. The Prison Letters of George Jackson, Foreword by Jonathan Jackson Jr., Chicago: Lawrence Hill Books 1994. Auch das Vorwort der Gefängnisbriefe der Roten Armee Fraktion kann exemplarisch für diesen Funktionswandel zitiert werden. So repräsentiert dieser Text als Leitartikel am 2. September 1977 in der fran‐ zösischen Tageszeitung Le Monde eine manifestere Intervention in das politische Zeit‐ geschehen als in seiner Funktion als Vorwort mit eingeschränktem Wirkungskreis, richtet sich das Vorwort doch insbesondere an die Leser des Hauptwerks. 151 Jean-Paul Sartre: „Préface à l’édition de 1961“, in: Frantz Fanon: Les damnés de la terre, préface de Jean-Paul Sartre, présentation de Alice Cherki et postface de Mohammed Harbi, Paris: La Découverte 2002 [1961], pp. 17-36, hier 21. 152 Ibid., p. 22. gique“ 147 , der unter Berufung auf seine Bekanntheit das Werk implizit empfiehlt, sondern er interveniert zudem auf gesellschaftspolitischer Ebene als porte-parole für ein bestimmtes politisches Ziel. 148 Die gesellschaftspolitische Referentialität und Kontextualisierung des Vorwortes begründet auch die umstandsbedingte Notwendigkeit, welche das Erscheinen dieses Paratextes charakterisiert: „Les préfaces […] se multiplient d’édition en édition et tiennent compte d’une histo‐ ricité plus empirique; elles répondent à une nécessité de circonstance.“ 149 Die Verankerung des Vorwortes in der politischen Aktualität sowie die auf den Haupttext vorausschauende Perspektive fundieren die Zeitform einer mani‐ festen Gegenwärtigkeit, einer „présence manifeste“ 150 . In Sartres Vorwort zu Les damnés de la terre von 1961 wird die liminale Stel‐ lung dieser Textsorte anhand der Problematik der Adressateninstanz themati‐ siert. Während sich nämlich Fanons Text an die algerische Bevölkerung richtet und zur Befreiung von der französischen Kolonialmacht aufruft, schreibt Sartre sein Vorwort explizit für die Europäer, wie die zahlreichen Appelle unterstrei‐ chen, so beispielsweise „nous, les Européens, nous pouvons l’entendre [Frantz Fanon, S. I.]: la preuve en est que vous tenez ce livre entre vos mains“ 151 oder „Européens, ouvrez ce livre, entrez-y“ 152 . Sartre rechtfertigt seine adressaten‐ orientierte Vorrede, indem er auf die - gerade für die okzidentale Gesellschaft 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 75 153 Ibid., p. 22-23. 154 Ibid., p. 31. bedeutsame - informative und auch bewusstseinsverändernde Charakteristik des Textes verweist: „Fanon révèle à ses camarades […] la solidarité des ‚métropolitains‘ et de leurs agents coloniaux. Ayez le courage de le lire: par cette première raison qu’il vous fera honte et que la honte, comme a dit Marx, est un sentiment révolutionnaire.“ 153 Sartre positioniert sich somit explizit als Vermitt‐ lerinstanz zwischen Fanons Text und dem okzidentalen Leser und beschreibt diese Mission mit Bezug auf die marxistische Dialektik als komplementären Be‐ standteil eines revolutionären Prozesses: Ce livre n’avait nul besoin d’une préface. D’autant moins qu’il ne s’adresse pas à nous. J’en ai fait une, cependant, pour mener jusqu’au bout la dialectique: nous aussi, gens de l’Europe, on nous décolonise: cela veut dire qu’on extirpe par une opération sanglante le colon qui est en chacun de nous. 154 Während Fanon den Bewusstseinsprozess der algerischen Bevölkerung voran‐ treiben möchte, zielt Sartres Vorwort darauf ab, den Leserkreis um die europä‐ ischen Leser zu erweitern. Der Philosoph nimmt die Funktion eines Fürspre‐ chers an, der darüber hinaus die theoretischen Grundgedanken des Werks erklärt und interpretiert, was sich vor allem durch seine Kommentierung des Gewaltkonzeptes in Fanons erstem Kapitel offenbart. Auch Genets erstes Vorwort zu George Jacksons Gefängnisbriefen wird durch jene Scharnierstellung determiniert, welche die Vorrede zwischen Haupttext und Leserkreis einnimmt. Wenn sich Sartre selbst jedoch jenem „nous“ zu‐ rechnet, mithilfe dessen er die potentiellen europäischen Leser adressiert, ver‐ mittelt Genet zwischen zwei Lagern, ohne jedoch sich selbst mit dem „vous“ zu identifizieren, das er auf diejenigen Leser anwendet, welche den Erfahrungs‐ horizont Jacksons nicht teilen. Jene Haltung der offenen Distanzierung vom Leser knüpft an die narrative Struktur seiner frühen Romane an, in denen er gleichsam unter Rekurs auf die Personal- und Possessivpronomen „vous“ bzw. „votre“ eine Demarkation zur normierten Welt außerhalb von Kriminalität und Gefängnis markiert. Genet erhebt die im Gefängnis oder in der Reklusion ent‐ standenen Texte, denen auch Jacksons Buch angehört, zu einer eigenen litera‐ rischen Kategorie, deren verbindendes Merkmal sich in einer Gleichgesinntheit zeige: Si une même complicité noue les œuvres écrites en prison ou dans les asiles (Sade et Artaud se rejoignent dans la même nécessité de trouver en eux-mêmes ce qui, pense-t-on, doit les conduire à la gloire, c’est-à-dire, malgré les murs, les fossés, les 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 76 155 Genet: „Introduction à Les frères de Soledad“, p. 64-65. 156 Genette: Seuils, p. 275. 157 Genet: „Introduction à Les frères de Soledad“, p. 63. 158 Ibid., p. 67. 159 Diese Komponente tritt hingegen in seinem Vorwort zu den Gefängnisbriefen der Roten Armee Fraktion in den Hintergrund, in dem die politischen Leitlinien der terroristischen Gruppierung eine größere Rolle spielen, auch da Genet in diesem Kontext sein eigenes Konzept von Gewalt definieren kann. Wie in Kapitel 2.3.6 aufgezeigt wird, nimmt er dabei erneut implizit Bezug auf Frantz Fanon und Sartres Vorwort. geôliers et la magistrature, dans la lumière, dans des consciences non asservies), ces œuvres ne se rencontrent pas dans ce qu’on nomme encore la déchéance: se cherchant elles-mêmes à partir de cette déchéance exigée par la répression sociale, elles se découvrent des points communs dans l’audace de leur entreprise, dans la vigueur et la justesse de leurs idées et de leurs visions. 155 Wie in diesem Zitat deutlich wird, präsentiert sich Genets Vorwort als Litera‐ turkritik, und er selbst figuriert als „‚parrain‘ littéraire ou idéologique“ 156 im Sinne Genettes, eine Rolle, zu der ihn seine eigene Gefängniserfahrung prädes‐ tiniert. Das Identifikationsmoment liegt für Genet folglich hier weniger im Pro‐ gramm der Black Panthers oder in der Problematik des Rassismus als in der literarischen Aufarbeitung jenes Momentes der Reklusion, welche an eine ganze literarische Tradition anknüpft, die auch durch sein eigenes Frühwerk reprä‐ sentiert wird. Es scheint daher kaum verwunderlich, dass auch seine beiden anderen Vorworte in den Kontext des Gefängnisses zu rücken sind. Damit un‐ terscheidet sich Genets Initiative als préfacier maßgeblich von jener Sartres, wie sie in seinem Vorwort zu Les damnés de la terre manifest wird. Sartre rechtfertigt seine mithilfe des Vorwortes operierende Vermittlung, indem er auf einen ethisch intendierten Bewusstwerdungsprozess der europäischen Bevölkerung abzielt, wohingegen Genet sein Vorwort auf Basis seiner Affinität zur Thematik des Gefängnisses als Literaturkritik verfasst. Dadurch nimmt Genet eine am‐ bigue Position ein, insofern in seinem Vorwort Jacksons politische Forderungen und dessen poetisches Konzept gleichgewichtet behandelt werden, denn, wie Genet betont, „Jackson est poète, mais il encourt la peine de mort.“ 157 Über die Darstellung der gesellschaftspolitischen Situation der Afroamerikaner in den USA hinaus erläutert Genet den für ein im Gefängnis entstandenes literarisches Werk eigentümlichen Stil und hält für jene „lecteurs non réprouvés, qui jamais n’ont été et n’iront en prison“ 158 einen Lektüreschlüssel bereit. Par excellence wird in diesem Text die Verquickung von Poesie und Politik inszeniert, durch welche auch Genet sein eigenes politisches Engagement legitimiert. 159 So be‐ schreibt er den „génie poétique“ als Quelle jeder revolutionären Unternehmung: 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 77 160 Genet: „Introduction à Les frères de Soledad“, p. 69. 161 Ibid. 162 Ibid., p. 67. 163 Vgl. Didier Eribon: Michel Foucault, édition revue et enrichie, Barcelona: Champs Bio‐ graphie 2011, pp. 372-379. 2.2.2 Si l’on accepte cette idée, que l’entreprise révolutionnaire d’un homme ou d’un peuple a sa source en leur génie poétique, ou, plus justement, que cette entreprise est la conclusion inévitable du génie poétique, il ne faut rien rejeter de ce qui permit l’exaltation poétique. 160 Die unwissende Leserschaft warnt Genet vor, dass ihr der Inhalt von Jacksons Werk unmoralisch erscheinen könne, und er begründet dies mit den Worten, „c’est parce que l’œuvre tout entière refuse votre morale“ 161 . Im Unterschied zu Sartre identifiziert sich Genet in seiner Vermittlerrolle nicht mit den Adressaten, sondern mit dem Autor, dessen Werk er nicht mit dem erklärenden Anspruch einer moralischen Instanz, sondern aufgrund seiner persönlichen Erfahrung kommentiert. Die Situation dieser Mediation zwischen Autor und Leserschaft durch die Gitterstäbe der Gefängniszelle hindurch, denn „c’est donc derrière une grille, seule acceptée par eux, que ses lecteurs […] devineront l’infamie“ 162 , soll im Nachfolgenden vor dem Hintergrund des von Foucault gegründeten Groupe d’information sur les prisons und dem darin operationalisierten Konzept des Gegen-Diskurses näher beleuchtet werden. Zusammenfassend muss Genets of‐ fene Konkurrenz zu Sartre betont werden, auf dessen Interventionsmodell er stets negierend rekurriert. Als Mediator agiert er zwar strategisch für die poli‐ tischen Zielsetzungen der Black Panthers, verortet sich selbst dabei jedoch nie eindeutig in deren oder etwa im intellektuellen Lager. Im textuellen Zwischen‐ raum des Vorwortes für George Jackson positioniert er sich insbesondere durch die gemeinsame Gefängniserfahrung auf der Seite des Autors. Genet und Foucault: Kooperation im ‹Groupe d’information sur les prisons› Genet und Foucault verbindet eine ähnlich konfliktreiche Beziehung, wie Didier Eribon in seiner Biographie über Michel Foucault berichtet. 163 Die Kontaktauf‐ nahme zwischen Genet und Foucault in Hinblick auf die gemeinsame Publika‐ tion einer Broschüre des Groupe d’information sur les prisons (G. I. P.) zur Er‐ mordung George Jacksons im Gefängnis von San Quentin im Sommer 1971 erfolgt durch die Vermittlung von Catherine von Bülow, die zu diesem Zeitpunkt 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 78 164 Vgl. Catherine von Bülow / Fazia Ben Ali: La Goutte-d’Or ou le mal des racines, o. O.: Stock 1979. 165 Vgl. Eribon: Michel Foucault, pp. 377-379. 166 Vgl. ibid., p. 135. 167 E-mail an das Archiv der Universität von Uppsala. 168 Michel Foucault: „De l’archéologie à la dynastique“ [1973], in: Dits et Écrits. 1954-1988, t. II: 1970-1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 405-416, hier 413. 169 Ibid., p. 413-414. bei Gallimard angestellt ist. Neben dieser kurzzeitigen Kooperation im Rahmen des G. I. P. sind beide - neben unter anderem Sartre - Mitbegründer des Komitees Djellali, an dessen antirassistischen Aktionen von Bülow erinnert. 164 Eribon be‐ tont die Anerkennung, welche Foucault Genets Werk und seiner Persönlichkeit zollt. 165 Zeugnis seines frühen Interesses an dessen Werk ist beispielsweise die Lehrveranstaltung an der Universität Uppsala zur Thematik der Liebe in der französischen Literatur von Sade bis Genet, 166 deren Unterlagen jedoch dort nicht mehr auffindbar sind. 167 Auch in den Jahren der Zusammenarbeit bringt Foucault seine frühe Wertschätzung für Genet zum Ausdruck: „Je suis comme tout le monde. J’ai lu Jean Genet quand j’étais jeune, et j’ai été, comme beaucoup de gens, extraordinairement bouleversé. Le Journal du voleur est à coup sûr l’un des très grands textes.“ 168 Foucault bewundert nicht nur Genets schriftstelleri‐ sche Leistung, sondern betont auch seine Qualitäten als Mensch und als Revo‐ lutionär: Il s’est trouvé que j’ai connu Genet, personnellement, dans des conditions tout à fait autres, et hors du contexte, justement, écrivain, écriture. C’était à propos des Black Panthers, à propos des trucs politiques, et on s’est pas mal liés. On se voit très souvent, enfin, quand il est à Paris, on se voit tous les deux ou trois jours. On bavarde, on se promène. C’est un homme dont je ne peux pas dire qu’il m’impressionne. Si je l’avais connu à l’intérieur de l’institution littéraire, il m’aurait sans doute profondément intimidé. Mais la simplicité avec laquelle il s’est mis à travailler sur des choses politiques et, en même temps, son sens politique très profond - cet homme est profondément révolutionnaire, dans tous les instants de sa vie, dans le moindre de ses choix - sont évidemment impressionnants et donnent à ses réactions une justesse profonde, quand bien même elles ne sont pas formulées directement. 169 Die von Foucault hier geschilderte Verbundenheit bleibt jedoch ein kurzes In‐ termezzo, wie Eribon herausstellt: Les liens entre Genet et Foucault se distendront bien vite et ils ne se verront plus après ces quelques épisodes militants: Genet, en fait, ne se privait pas, selon plusieurs témoignages, de tenir des propos assez sarcastiques sur Foucault, à cette époque où il 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 79 170 Eribon: Michel Foucault, p. 379. 171 Tahar Ben Jelloun: Jean Genet, menteur sublime, Paris: Gallimard 2010, p. 148-149. 172 Vgl. Gilcher-Holtey: Eingreifendes Denken, p. 359. Sie widmet ihm darin ein eigenes Kapitel mit dem Titel „Der ‚spezifische Intellektuelle‘“, pp. 359-391. 173 Daniel Defert / Jacques Danzelot: „Les prisons sur la place publique“, in: Magazine lit‐ téraire, hors-série 13 (2008), pp. 75-77, hier 75. Unter dem Titel Les idées de Mai 68 vereint diese Sonderausgabe vormals im Magazine littéraire veröffentlichte Beiträge rund um die Rahmenthematik von Mai ’68. Der zitierte Artikel erschien zum ersten Mal im Heft 112-113 im Mai 1976. leur arrivait de se côtoyer, et, de son côté, Foucault ne conservera pas l’admiration qu’il avait éprouvée dans sa jeunesse pour l’auteur du Journal du voleur. 170 Diese offenbare plötzliche Missstimmung zwischen Genet und Foucault ließe sich ähnlich wie in der Beziehung zwischen Genet und Sartre auf die Diver‐ genzen im palästinensisch-israelischen Konflikt zurückführen, muss jedoch auch relativiert werden. So berichtet Tahar Ben Jelloun, zu dem Genet nach Erscheinen von dessen erstem Roman Harrouda 1973 Kontakt aufnimmt, dass Genets paradoxes Verhältnis gegenüber Foucault vielmehr aus einem Span‐ nungsverhältnis zwischen Anerkennung und Argwohn resultiere: „Quand je parlais de Barthes à Genet, il m’écoutait mais ne disait rien. Quand j’évoquais Michel Foucault, c’était différent, il le connaissait, l’estimait et le redoutait à la fois. […] Genet n’était pas à l’aise avec Foucault.“ 171 Im Unterschied zu Genet ist ähnlich wie bei Sartre auch bei Foucault eine grundsätzliche Revision der intellektuellen Funktionszuschreibung zu be‐ obachten. Was sich bei Sartre als Versuch einer Überwindung des intellektuellen Separatismus ausdrückt, konkretisiert sich bei Foucault als bewusste Zurück‐ nahme der intellektuellen Vormundstellung. Mit dem maßgeblich auf Foucaults Initiative gegründeten Groupe d’information sur les prisons (G. I. P.) und seiner innovativen Form des politischen Engagements gelingt Foucault, wie Gil‐ cher-Holtey zu Recht konstatiert, durch seine Redefinition des Mandates des Intellektuellen eine Abgrenzung im intellektuellen Feld. 172 Die Gründung des Groupe d’information sur les prisons, die auch von Jean Genet unterstützt wurde, geht aus einer Verbindung „entre le mouvement issu de Mai et l’univers clos des prisons“ hervor, die eine „épisode charnière dans l’histoire de l’après-Mai“ kon‐ stituiert, nämlich „l’instant où s’esquisse une transformation de l’intelligence politique“. 173 Die problematische Situation in den Gefängnissen gelangt erst durch die Inhaftierung politischer Aktivisten und Demonstranten in den Fokus des Interesses jener sich transformierenden Intelligenz. Foucaults Konzept des ‚spezifischen Intellektuellen‘, welches sich in der Aktionsform des G. I. P. he‐ rauskristallisiert, muss als Reaktion auf das in der Nachkriegszeit insbesondere 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 80 174 Vgl. zur Eindämmung der ‚Ära Sartre‘: Michel Winock: „Die heiße Phase des Gau‐ chismus - von Jean-Paul Sartre zu Michel Foucault“, in: Id.: Das Jahrhundert der Intel‐ lektuellen, aus dem Französischen von Judith Klein, Konstanz: UVK 2003, pp. 729-744. 175 Michel Foucault: „La fonction politique de l’intellectuel“ [1976], in: Dits et Écrits. 1954- 1988, t. III: 1976-1979, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 109-114, hier 109. 176 Ibid., p. 110. 177 Michel Foucault: „Les intellectuels et le pouvoir“ [1972], in: Dits et Écrits. 1954-1988, t. II: 1970-1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 306-315, hier 308. von Sartre verkörperte und bis dato vorherrschende Modell des universellen Intellektuellen gedeutet werden. Foucault versteht sich nicht mehr als Vermittler von universellen Werten oder von Bewusstsein, sondern beruft sich auf die Ex‐ perten-Funktion innerhalb eingrenzbarer, umstandsbedingter Kämpfe, wodurch eine tiefgreifende Veränderung für das intellektuelle Selbstverständnis markiert wird. Foucault löst Sartre als intellektuellen Bezugspunkt ab. 174 In einem Beitrag zur politischen Funktion des Intellektuellen aus dem Jahre 1976 präzisiert Fou‐ cault diesen Wendepunkt für den Linksintellektualismus: Un nouveau mode de ‚liaison entre la théorie et la pratique‘ s’est établi. Les intellectuels ont pris l’habitude de travailler non pas dans ‚l’universel‘, ‚l’exemplaire‘, le ‚juste-et-le-vrai pour tous‘, mais dans des secteurs déterminés, en des points précis où les situaient soit leurs conditions professionnelles de travail, soit leurs conditions de vie (le logement, l’hôpital, l’asile, le laboratoire, l’université, les rapports familiaux ou sexuels). Ils y ont gagné à coup sûr une conscience beaucoup plus concrète et immédiate des luttes. Et ils ont rencontré là des problèmes qui étaient spécifiques, ‚non universels‘, différents souvent de ceux du prolétariat et des masses. 175 Die Gegenüberstellung der beiden Formen intellektuellen Engagements leitet Foucault zudem historisch her. Im Ursprung sei der ‚universelle Intellektuelle‘ mit dem „homme de justice, […] homme de loi“ verwandt, „celui qui, au pouvoir, au despotisme, aux abus, à l’arrogance de la richesse oppose l’universalité de la justice et l’équité d’une loi idéale.“ 176 Die Funktion des politisch aktiven Intellektuellen nach Foucault charakterisiert sich durch ihre Verflechtung mit einem redefinierten Machtbegriff, wonach Macht in einer netzartigen Struktur das gesamte Gesellschaftssystem zusam‐ menhält. Während der traditionelle Intellektuelle sich für Foucault mittels zweier Kriterien in der Öffentlichkeit behauptet, nämlich „sa position d’intel‐ lectuel dans la société bourgeoise, dans le système de la production capita‐ liste“ 177 sowie „son propre discours en tant qu’il révélait une certaine vérité, qu’il 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 81 178 Ibid. 179 Ibid. 180 G. I. P.: „Enquête dans 20 prisons, 1“ [1971], in: Philippe Artières et al. (Hgg.): Le Groupe d’information sur les prisons. Archives d’une lutte, 1970-1972, Postface de Daniel Defert, Paris: Éditions de l’IMEC 2003, p. 80. 2.2.2.1 découvrait des rapports politiques là où l’on n’en percevait pas“ 178 , positioniert sich der Intellektuelle in Reaktion auf Mai ’68 neu: Or ce que les intellectuels ont découvert depuis la poussée récente, c’est que les masses n’ont pas besoin d’eux pour savoir. Pouvoir qui n’est pas seulement dans les instances supérieures de la censure, mais qui s’enfonce très profondément, très subtilement dans tout le réseau de la société. Eux-mêmes, intellectuels, font partie de ce système de pouvoir, l’idée qu’ils sont les agents de la ‚conscience‘, et du discours fait elle-même partie de ce système. Le rôle de l’intellectuel n’est plus de se placer ‚un peu en avant ou un peu à côté‘ pour dire la vérité muette de tous; c’est plutôt de lutter contre les formes de pouvoir là où il en est à la fois l’objet et l’instrument: dans l’ordre du ‚savoir‘, de la ‚vérité‘, de la ‚conscience‘, du ‚discours‘. 179 Das Modell des ‚spezifischen Intellektuellen‘ grenzt sich insofern vom Modell des ‚universellen Intellektuellen‘ ab, als er nicht mehr das Wort für diejenigen ergreift, die dessen nicht mächtig sind, sondern deren Diskursproduktion viel‐ mehr stimuliert. In Foucaults Verständnis obliegt dem Intellektuellen ein Ein‐ greifen in lokale gesellschaftliche Machtkämpfe, und sein politisches Engage‐ ment konzentriert sich in erster Linie auf den als Machtzentrum gekennzeichneten Untersuchungsgegenstand des Gefängnisses, womit er an seinen bereits in den Publikationen zum Wahnsinn angelegten Forschungs‐ schwerpunkt der Ausschlussprinzipien normativer Gesellschaftsordnungen an‐ knüpft. In der Handlungsstrategie des G. I. P. werden die daraus resultierenden neuen Zielsetzungen des Intellektuellen konturiert und ein neuer Typ des En‐ gagements geschaffen. Im Nachfolgenden soll aufgezeigt werden, inwieweit Genet sich durch seine Kooperation mit dem G. I. P. dieser intellektuellen Akti‐ onsform nähert. ‚Philosophe-journaliste‘ und ‚poète-journaliste‘? Wie die erste Broschüre des G. I. P. belegt, intendiert der G. I. P. im Modus einer Diagnostik des nicht Tolerierbaren innerhalb ausgewählter Machtinstanzen verfahrend - „[s]ont intolérables: les tribunaux, les flics, les hôpitaux, les asiles, l’école, le service militaire, la presse, la télé, l’État“ 180 - die Befreiung des Wortes jener sozial und gesellschaftlich ausgeschlossenen Individuen wie beispiels‐ weise der Gefangenen: 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 82 181 Ibid. 182 Vgl. Danielle Rancière / Christine Martineau: „Questionnaire aux détenus“, in: Philippe Artières et al. (Hgg.): Le Groupe d’information sur les prisons. Archives d’une lutte, 1970- 1972, Postface de Daniel Defert, Paris: Éditions de l’IMEC 2003, pp. 55-62. 183 Vgl. dazu Michel Foucault: „L’intellectuel sert à rassembler les idées mais son savoir est partiel par rapport au savoir ouvrier“ [1973], in: Dits et Écrits. 1954-1988, t. II: 1970- 1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la colla‐ boration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 421-423. 184 Michel Foucault: „Le monde est un grand asile“ [1973], in: Dits et Écrits. 1954-1988, t. II: 1970-1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 433-434, hier 434. Le GIP (Groupe Information Prison) ne se propose pas de parler pour les détenus des différentes prisons: il se propose au contraire de leur donner la possibilité de parler eux-mêmes, et de dire ce qui se passe dans les prisons. Le but du GIP n’est pas réformiste, nous ne rêvons pas d’une prison idéale: nous souhaitons que les prisonniers puissent dire ce qui est intolérable dans le système de la répression pénale. Nous devons répandre le plus vite possible et le plus largement possible ces révélations faites par les prisonniers mêmes. Seul moyen pour unifier dans une même lutte l’intérieur et l’extérieur de la prison, le combat politique et le combat judiciaire. 181 Es lassen sich hier zwei repräsentative Kriterien benennen, anhand welcher sich der Richtungswechsel des Intellektuellen bei Foucault abzeichnet: die Erteilung des Wortes an jene, die davon bislang ausgeschlossen waren, sowie die Infor‐ mationsproduktion und -vermittlung ausgehend von empirischen Untersu‐ chungen statt auf Basis eines vorgefertigten theoretischen Gerüsts. Durch das Produzieren eines neuen Wissensdiskurses, ausgehend von den Gefangenen selbst, dezentriert der G. I. P. die Funktion seiner Organisatoren, deren Hand‐ lungsspielraum dennoch nicht unterschätzt werden darf. Betrachtet man näm‐ lich Aufbau und Struktur jener Fragebögen, die im Rahmen der ersten Unter‐ suchung in den Gefängnissen konzipiert wurden, 182 drängt sich der Begriff der Wissenssteuerung auf. Dahinter steht die Taktik, die Informationsverbreitung in eine Kampfstrategie zu transformieren und dadurch eine Gegenstimme zum institutionalisierten Diskurs des Justizapparates und der Medien zu schaffen. Vor diesem Hintergrund zielt Foucault auf den Zugriff auf das Informations‐ system ab 183 und versteht seine Rolle als Intellektueller mithin als die eines „phi‐ losophe-journaliste“ 184 . Wie das Forschungsteam um Philippe Artières eindrück‐ lich schildert, manifestiert sich der G. I. P. durch sein Interesse an der Produktion und Verwaltung eines innovativen politischen Wissens als eine eigene Presse‐ agentur: „Cette attention, qui prend d’abord la forme du questionnaire, fait très vite du GIP une sorte d’agence de presse relative aux conditions d’emprison‐ 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 83 185 Philippe Artières et al.: „Retour sur le livre des peines“, in: Id. et al.: Surveiller et Punir de Michel Foucault. Regards critiques 1975-1979, Caen: Presses universitaires-IMEC 2010, pp. 7-35, hier 13. 186 Daniel Defert: „Quand l’information est une lutte“, in: Philippe Artières et al. (Hgg.): Le Groupe d’information sur les prisons. Archives d’une lutte, 1970-1972, Postface de Daniel Defert, Paris: Éditions de l’IMEC 2003, pp. 69-73. 187 Ory / Sirinelli: Les intellectuels en France, p. 347. 188 Die Inhaftierung einzelner Vertreter unterschiedlicher außerparlamentarischer politi‐ scher Gruppierungen, insbesondere der Gauche prolétarienne, und ihr Hungerstreik mit dem Ziel, für sich den Status der politischen Gefangenen zu erwirken, führen zu einem medialen Interesse an der Situation in den Gefängnissen. Hier liegt der Ursprung des G. I. P. begründet. 189 Daniel Defert: „L’émergence d’un nouveau front: les prisons“, in: Philippe Artières et al. (Hgg.): Le Groupe d’information sur les prisons. Archives d’une lutte, 1970-1972, Post‐ face de Daniel Defert, Paris: Éditions de l’IMEC 2003, pp. 315-326, hier 320. 190 Frieda Ekotto beispielsweise erwähnt Genets Partizipation im G. I. P. im Vorwort ihrer Studie, die sich ansonsten mit Genets frühem Romanwerk beschäftigt. Vgl. Frieda Ekotto: L’écriture carcérale et le discours juridique chez Jean Genet, Paris: L’Harmattan 2001, p. 19. nement et à la vie quotidienne en détention.“ 185 Zeugnis davon legt auch bei‐ spielsweise der programmatische Titel eines Artikels von Daniel Defert ab, „Quand l’information est une lutte“ 186 , worin der Autor nicht nur den Mecha‐ nismus der Befragungen durch den G. I. P. erläutert, sondern auch jene allge‐ meine Pressestimme kritisiert, die eine einseitig institutionell ausgerichtete Be‐ richterstattung liefert. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich die Arbeit des G. I. P. in den Kanon des historisch fundierbaren Projektes einbinden, nämlich „de construire un système de contre-information“ 187 , das Pascal Ory und Jean-François Sirinelli als emblematisch für die Intellektuellen der Zeit zwischen 1968 und 1975 herausstellen. Die Gewichtung der Informationsverbreitung spie‐ gelt sich auch im Sigel des G. I. P. wider. Wie Daniel Defert sich erinnert, evo‐ zierte es für Foucault die maoistische Gauche prolétarienne ( GP ) und damit den Ursprung der Gruppierung, 188 jedoch „avec ce iota de différence que se devaient d’introduire les intellectuels.“ 189 Jean Genets Partizipation im G. I. P. wurde in der bisherigen Forschung wei‐ testgehend ausgeblendet, 190 was dadurch begründet werden kann, dass Genets Interesse im Aktionszeitraum von 1970 bis 1972 vornehmlich den Black Panthers in den USA gilt. Interferenzen zwischen seinem Engagement im G. I. P. und seiner Unterstützung der Black Panther Party in den USA resultieren aus den gemeinsamen historischen Rahmenbedingungen. Die in den frühen 1970er Jahren erstarkende staatliche Repression widerständiger Protestgruppen und -bewegungen mittels juristischer Direktiven determiniert nämlich einen politi‐ schen Wirkungskreis, in dem sich zeitpolitische mit juristischen Diskursen 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 84 191 Vgl. Jean Genet: „Attica-U. S. A.“ [1971], in: Philippe Artières et al. (Hgg.): Le Groupe d’information sur les prisons. Archives d’une lutte, 1970-1972, Postface de Daniel Defert, Paris: Éditions de l’IMEC 2003, pp. 117-122. 192 Vgl. Genet: „Préface à L’Assassinat de George Jackson“, pp. 111-117. 193 Vgl. Jean Genet: „Un enchantement - ou plutôt une sorcellerie …“ [1971], in: Philippe Artières et al. (Hgg.): Le Groupe d’information sur les prisons. Archives d’une lutte, 1970- 1972, Postface de Daniel Defert, Paris: Éditions de l’IMEC 2003, pp. 207-212. 194 White: Genet, p. 653. 195 Neutres: Genet sur les routes du Sud, p. 245. überlagern. Ebendieses Phänomen ist auch in Genets politischen Schriften zu beobachten, wobei jene für den G. I. P. verfassten Texte und weitere darüber hinaus entstandene mit analoger diskursiver Thematik voneinander zu diffe‐ renzieren sind. Genet nimmt in gewisser Weise eine Mittlerrolle zwischen den Aktionen des G. I. P. und dem Kampf der Black Panthers in den USA ein, wovon die beiden im Kontext des G. I. P. entstandenen Texte zeugen, nämlich jener zur Revolte der Inhaftierten im US -amerikanischen Gefängnis von Attica 191 sowie das bereits erwähnte Vorwort 192 zur dritten der insgesamt vier vom G. I. P. he‐ rausgegebenen Broschüren mit dem Titel L’Assassinat de George Jackson vom 10. November 1971. Es ist kein Zufall, dass allein sein Text zu der für die Gründung des G. I. P. grundlegenden Fragestellung einer Trennung von politischen und gewöhnli‐ chen Strafgefangenen unveröffentlicht bleibt. 193 Wie Edmund White berichtet, lehnte Genet die Publikation mit der Begründung ab: I don’t want to publish anything about France. I don’t want to be an intellectual. If I publish something about France I’ll strike a pose as an intellectual. I am a poet. For me to defend the Panthers and the Palestinians fits in with my function as a poet. If I write about the French question I enter the political field in France - I don’t want that. 194 Genet verdeutlicht hier, dass sein Engagement für die Black Panthers und die Palästinenser seiner Funktion als Poet entspricht, wohingegen jegliche Publi‐ kation über Frankreich dem Funktionsbereich des Intellektuellen zufällt. Ob‐ wohl er damit eine Positionierung als Intellektueller eindeutig zurückweist, lassen sich Affinitäten zu Foucaults Aktionsform feststellen, die ihm nicht nur eine Plattform bietet, um auf den latenten und manifesten Rassismus der ame‐ rikanischen Gesellschaft und die Probleme der Black Panthers aufmerksam zu machen, sondern ihn in ein spezifisches Konzept des Engagements und des In‐ formationsflusses integriert. Auch wenn Neutres grundsätzlich zu Recht kon‐ statiert, dass Genet „[à] la différence du projet intellectuel de Foucault, […] ne s’est jamais envisagé, dans sa littérature comme un philosophe-journaliste“ 195 , 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 85 196 Foucault: „Le monde est un grand asile“, p. 434. 197 Vgl. Genet: „Entretien avec Michèle Manceaux“, p. 57. 198 Genet: „May Day Speech“, p. 50. 199 Genet: „Entretien avec Michèle Manceaux“, p. 57. 200 Foucault: „Le monde est un grand asile“, p. 434. wirft seine Feststellung insofern Widersprüche auf, als er zwischen literarischen und politischen Texten differenziert. Seine Aussage, dass Genet in seinen lite‐ rarischen Texten nicht den Anspruch eines radikalen Journalismus vertritt, er‐ scheint somit hinfällig. In Analogie zu Foucaults Autodenomination als „philo‐ sophe-journaliste“ 196 könnte Genet als ‚poète-journaliste‘ bezeichnet werden, dessen journalistisches Konzept jedoch nicht aus einem philosophisch-theore‐ tischen Postulat der Wissensproduktion heraus entsteht, sondern aus einer po‐ etischen Vision. Die Hinwendung zur Aktualität sowie die Kritik an den Insti‐ tutionen verbindet beide, doch setzen sie dabei unterschiedliche Akzente, wie die nachfolgende Gegenüberstellung zeigen soll. Wie bereits herausgestellt, kennzeichnen sich Jean Genets pragmatische Texte aus der Zeit um 1970 durch ihre Sachbezogenheit. Seine Reden und Texte für die Black Panthers dienen der Mobilisierung und regen zu zukunftsorien‐ tierten Handlungen („actes pleins“, „actes réels“) an, welche von symbolischen und idealistischen Gesten („gestes creux“, „gestes symboliques“) abgegrenzt werden. 197 Das Konzept der realen Handlung selbst weist im Gegensatz zur Symbolik eine futurische Zeitform auf: „Les symboles renvoient à une action qui a eu lieu, non à une action qui sera.“ 198 Diese futurische Ausrichtung nimmt im Fall der revolutionären Handlung den Charakter eines Neubeginns der Welt an: „Aussi tous les actes révolutionnaires ont une fraîcheur du commencement du monde.“ 199 Insbesondere die frühen Reden Genets für die Black Panthers, so die Rede zum Ersten Mai, der Brief an die amerikanischen Intellektuellen oder die Ansprache im Massachusetts Institute of Technology, betonen die Veranke‐ rung im Hier und Jetzt. Die darin praktizierte, repetitive Verwendung der Ad‐ verbialpronomen der zeitlichen und örtlichen Bestimmung „ici“, „maintenant“ und „aujourd’hui“ indiziert die Vordringlichkeit der Problematik und des Han‐ delns. Auch für Foucault ist gerade die Prävalenz der Aktualität ein maßgebliches Kriterium zur Definition seines Konzeptes des radikalen Journalismus: „Je me considère comme un journaliste dans la mesure où ce qui m’intéresse, c’est l’ac‐ tualité, ce qui se passe autour de nous, ce que nous sommes, ce qui arrive dans le monde.“ 200 Die mit Nietzsche einsetzende Hinwendung der Philosophie zur gesellschaftspolitischen Aktualität basiere auf der Vorstellung einer offenen Zukunft, wie Foucault erläutert: „Le futur est la manière dont nous réagissons 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 86 201 Ibid. 202 Michel Foucault: „Manifeste du G. I. P.“ [1971], in: Dits et Écrits. 1954-1988, t. II: 1970- 1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la colla‐ boration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 174-175, hier 175. 203 Philippe Artières / Mathieu Potte-Bonneville: D’après Foucault. Gestes, luttes, pro‐ grammes, Paris: Points 2012, p. 41. 204 Michel Foucault: „La force de fuir“ [1973], in: Dits et Écrits. 1954-1988, t. II: 1970-1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 401-405, hier 401. à ce qui se passe, c’est la manière dont nous transformons en vérité un mouve‐ ment, un doute. Si nous voulons être maîtres de notre futur, nous devons poser fondamentalement la question de l’aujourd’hui.“ 201 Diese transzendentalphilo‐ sophisch anklingende Vorstellung der Transformierbarkeit von Zukunft muss jedoch vor dem Hintergrund des im Gründungsmanifest des G. I. P. geäußerten Projektes der Aufklärung und unmittelbaren Information über kritikwürdige, reale Zustände verstanden werden, worin die Quintessenz seines Konzeptes des radikalen Journalismus liegt: „Nous voulons seulement faire connaître la réalité. Et la faire connaître immédiatement, presque au jour le jour; car le temps presse. Il s’agit d’alerter l’opinion et de la tenir en alerte. Nous essaierons d’utiliser tous les moyens d’information […].“ 202 Foucaults radikaler Journalismus zielt auf die Produktion einer gesellschaftskritischen Gegeninformation ab, die in der un‐ mittelbaren Gegenwart verankert ist. Die Radikalität beruht auf einem Be‐ streben, die nicht tolerierbaren Zustände an der Wurzel anzugreifen und die Probleme somit nachhaltig zu lösen. So postulieren Foucault und Genet die Vor‐ dringlichkeit des Handelns, um eine Sensibilisierung für die Problematik und eine gesellschaftliche Veränderung zu bewirken. Foucaults Verständnis von Po‐ litik manifestiert sich jedoch nicht in der Idee einer Revolution, sondern im Prinzip der Eruption einer unbekannten Kraft, wie es Artières / Potte-Bonneville als symptomatisch für Foucaults Rolle als Intellektueller beschreiben: „[…] Fou‐ cault se défait de l’idée de révolution au profit de la notion d’émergence ou d’éruption de forces.“ 203 Anzumerken ist auch, dass Foucault seine Vision einer eruptiven, aufspringenden Kraft besonders eindrücklich in Hinblick auf George Jacksons Erfahrung im Gefängnis schildert. Das Gefängnis, von dem Jackson Zeugnis ablegt, wird als „un lieu où naissent et se manifestent des forces, un lieu où se forme de l’histoire, et d’où le temps surgit“ 204 beschrieben. Er bewertet den Raum der gesellschaftlichen Exklusion als Motor der Geschichte, ohne dabei jedoch auf das Prinzip der Revolution bzw. der gesamtgesellschaftlichen Um‐ wälzung zu rekurrieren. Hinter dem abstrakten Begriff der eruptiven Kraft ver‐ birgt sich Foucaults Konzept des Gegen-Diskurses, welcher sich aus den Ge‐ fängnissen heraus gegen den Diskurs der Macht konstituiert und in der Folge 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 87 205 Genet: „Entretien avec Michèle Manceaux“, p. 55-56. 206 Genet: „May Day Speech“, p. 53. 207 Vgl. Ralph Heyndels: „Les Noirs sur la blancheur livide: le sens possible de l’Amérique selon Genet“, in: Travaux de littérature XXIV (2011), pp. 319-331, hier 319. Vgl. zur antiamerikanischen und antiwestlichen Kritik bei Genet Kapitel 3.3. 208 Genet: „May Day Speech“, p. 53. näher beleuchtet wird. Der Begriff der Macht ist in dieser Epoche für Foucault institutionell besetzt. Anders als Foucault sympathisiert Genet in seinen Texten und Reden um 1970 mit der Idee einer Revolution, insofern sie jedoch auf dem Prinzip einer poeti‐ schen Vision und Negation der Gesellschaft beruht: Si je suis sincère, je dois dire que ce qui m’a touché d’abord, ce n’est pas leur souci [des Panthères Noires, S. I.] de recréer le monde. Bien sûr, ça viendra et je n’y suis pas insensible, mais ce qui m’a fait me sentir proche d’eux immédiatement, c’est la haine qu’ils portent au monde blanc, c’est leur souci de détruire une société, de la casser. 205 Während Foucault die Produktion einer insbesondere vom Gefängnis ausgehenden eruptiven Kraft ansteuert, um die gesellschaftliche Ordnung aufzubre‐ chen, identifiziert sich Genet mit einer destruktiven, gegen die Gesellschaft ge‐ richteten Energie. Diese Negation nimmt vor allem im Appendix seiner „May Day Speech“, welcher der Publikation des Artikels im City Lights Verlag beige‐ fügt wurde, eine auf jene die Gesellschaft regulierenden Institutionen projizierte Form der Gesellschaftskritik an und richtet sich im Konkreten gegen die Presse, die Kirche, die Wohltätigkeitsverbände, die Gewerkschaften, die Universitäten, die Werbeunternehmen und die Polizei. In Genets Auflistung dieser Macht‐ zentren im Foucault’schen Sinne steht jedoch der bewertende Begriff der insti‐ tutionell fundierten Missachtung im Vordergrund, welche die bereits im Zerfall befindliche amerikanische Gesellschaft determiniere: Ce que l’on nomme la civilisation américaine disparaîtra. Elle est déjà morte car elle est fondée sur le mépris. Par exemple, le mépris des riches pour les pauvres, le mépris des Blancs pour les Noirs, etc. Toute civilisation fondée sur le mépris doit nécessairement disparaître. 206 Die hier nach Heyndels als für Genets Vision von Amerika symptomatisch be‐ schriebene, bipolare und dichotome Struktur 207 äußert sich nicht in einer mo‐ ralischen Missachtung, sondern funktional und institutionell, so Genet: „Et je ne parle pas du mépris en termes de morale, mais en termes de fonction: je veux dire que le mépris, comme institution, contient son propre dissolvant, et le dis‐ solvant de ce qu’il engendre.“ 208 Die einzelnen Institutionen werden als von den 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 88 209 Vgl. Genet: „Préface à L’Assassinat de George Jackson“, pp. 111-117. 210 G. I. P.: „La mort de George Jackson n’est pas un accident de prison“ [1971], in: Philippe Artières et al. (Hgg.): Le Groupe d’information sur les prisons. Archives d’une lutte, 1970- 1972, Postface de Daniel Defert, Paris: Éditions de l’IMEC 2003, p. 105. 211 Ibid. 212 Ibid. Weißen monopolisierte Repressionsinstanzen dargestellt, die eine klare gesell‐ schaftliche Trennung instaurieren und Ausdruck eines auf der Missachtung ba‐ sierenden und daher zu zerschlagenden Systems sind. Die Kritik an den Institutionen des Gerichts oder des Gefängnisses, welche in Genets Anhang nicht aufgeführt werden, manifestiert sich dann im Kontext des Prozesses gegen George Jackson besonders virulent und bringt ihn schließ‐ lich auch dem G. I. P. näher. In diesem Zusammenhang verfasst Genet das Vor‐ wort der dritten Broschüre des G. I. P., die der Ermordung George Jacksons ge‐ widmet ist. 209 Dem G. I. P. ging es in dieser Broschüre nicht um die detektivische Aufklärung des Verbrechens, welches als „assassinat politique“ 210 beschrieben wird, sondern um die Beantwortung zweier Fragen, nämlich nach der Persön‐ lichkeit George Jacksons und den Gründen für dessen Ermordung einerseits sowie nach dem Verdecken des Mordes andererseits: 1. Quel était donc ce vivant qu’on a voulu tuer? Quelle menace portait-il, lui qui ne portait que des chaînes? 2. Et pourquoi a-t-on voulu tuer cette mort, l’étouffer sous les mensonges? Que pouvait-on encore redouter d’elle? 211 Anders als in den ersten beiden Broschüren zur „Enquête dans 20 prisons“ und zur „Enquête dans une prison modèle: Fleury-Mérogis“ liegt der Interessen‐ schwerpunkt hier weniger auf dem Gefängnis als sozialem Mikrokosmos, denn auf der tatsächlichen politischen Bedeutung und Funktion des Gefängnisses als mögliches soziales Repressionsmittel und der mithin revolutionären Bedeutung der Aufstände und Revolten in den Gefängnissen, wie auch die Auswahl der Artikel zeigt: Pour répondre à la première question, nous avons choisi de présenter quelques-unes des interviews les plus récentes dans lesquelles Jackson analyse la fonction révolutionnaire du mouvement dans les prisons. Pour répondre à la seconde, nous avons fait l’analyse d’un certain nombre d’informations et de documents publiés aussitôt après la mort de Jackson. 212 Genets Vorwort ist in Antwort auf die erste Fragestellung der Broschüre als exemplarisches Porträt zu verstehen, das sich entsprechend einzelnen Etappen 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 89 213 Vgl. Genet: „Préface à L’Assassinat de George Jackson“, pp. 111-117. 214 Genet: „Attica-U. S. A.“, pp. 117-122. 215 „Jackson, Attica, USA“, in: La cause du peuple, 23. September 1971, pp. 10-11. 216 Genet: „Attica-U. S. A.“, p. 121. 217 Ibid., p. 119. strukturiert, die Jacksons Vita und darüber hinaus die Situation der Unterdrü‐ ckung der Schwarzen in den USA allgemein charakterisieren: „Un Noir de dix-huit ans emprisonné pendant onze ans pour complicité de vol“, „Auteur d’un livre révolutionnaire“, „Frère de son frère Jonathan“ und „Le martyr décidé et assassiné par les Blancs“. 213 Genet verhandelt in seinem Vorwort beide pro‐ grammatischen Fragen, die der G. I. P. dieser Broschüre voranstellt, indem er nämlich ausgehend von Jacksons Persönlichkeit Mutmaßungen über die Be‐ weggründe für dessen Tötung und ihrer Verschleierung anstellt. Bemerkens‐ wert an diesem Text ist aber vor allem die Priorität, welche den Zitaten aus George Jacksons Gefängnisbriefen selbst zukommt. Unter der Rubrik „Auteur d’un livre révolutionnaire“ führt Genet über zwei Seiten ausgewählte Zitate an, die den halben Artikel ausmachen und an Foucaults Konzept der Produktion eines Gegen-Diskurses durch die Betroffenen selbst anknüpft. Vorwort und Broschüre stehen emblematisch für den Austausch zwischen Genet und Fou‐ cault. Zuvor hatte Genet bereits einen ursprünglich in den USA veröffentlichten Artikel mit dem Titel „Attica-U. S. A.“ 214 über die Revolten im US -amerikanischen Gefängnis von Attica verfasst, der im September 1971 auszugsweise in La cause du peuple publiziert wurde. Unter der Rubrik „Jackson, Attica, USA “ wird in La cause du peuple dessen auf einer Anfrage der New York Times beruhende Genese beschrieben: „Extraits d’une lettre ouverte au New York Times, journal qui avait demandé à Jean Genet quelles réformes il proposait pour les prisons américaines. C’est aux journaux des Panthères Noires et à la Cause du peuple que J. Genet envoie sa réponse.“ 215 Diesen Entstehungskontext evoziert Genet gleichsam in einer Fußnote, jedoch lediglich, um seine Ablehnung gegenüber der Institution des Gefängnisses zu untermauern: „La solution du problème noir, celle de l’en‐ tassement criminel des noirs dans les prisons, ne seront pas apportées par moi, comme me le demande le directeur du New-York-Times.“ 216 Genet hinterfragt folglich nicht die Möglichkeit einer Reform des Gefängnisses, wie die New York Times es wünscht, sondern beschreibt zum einen das amerikanische Justiz‐ system als ausführendes Organ eines genozidären Massakers an den Afroame‐ rikanern: „De toutes [sic! ] façon c’est le terme génocide qui doit être retenu si le mot génocide veut dire l’anéantissement d’un peuple par un autre.“ 217 Zum anderen legt er den Schwerpunkt auf die Politisierung der afroamerikanischen 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 90 218 Ibid., p. 117. 219 Ibid., p. 119. 220 Peter Imbusch: „Der Gewaltbegriff “, in: Wilhelm Heitmeyer / John Hagan (Hgg.): In‐ ternationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, pp. 26-58, hier 52-53. 221 Foucault: L’ordre du discours. 222 Michel Foucault: Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris: Gallimard 2010 [1975]. 223 Elif Polat: Institutionen der Macht bei Michel Foucault. Zum Machtbegriff in Psychiatrie und Gefängnis, Marburg: Tectum 2010, p. 16. 2.2.2.2 Gefangenen, welche als von der Black Panther Party initiierter Transformati‐ onsprozess beschrieben wird: „[L]e message des Panthères s’adressait aussi aux prisonniers noirs qui eurent, grâce à eux, le moyen de transformer leur détresse individuelle en réflexion politique.“ 218 Die Verwendung des Wortes ‚Genozid‘ im Sinne eines „anéantissement d’un peuple par un autre“ 219 bewirkt dabei eine medienstrategische und öffentlichkeitswirksame Skandalisierung der Vor‐ kommnisse, durch welche nach Peter Imbusch „eine Bedrohungs- und Bedeu‐ tungsspirale in Gang [ge]setzt [wird], die entschlossenes Handeln erzwingt.“ 220 Genets Interventionen für den G. I. P. stehen im Kontext der Internationali‐ sierung der Gefängnisrevolten und beleuchten einen institutionell verankerten Rassismus, der durch das Justizsystem kanalisiert wird. Durch ihre Verknüpfung mit dem G. I. P. sind diese Artikel dem Konzept des radikalen Journalismus nach Foucault zuzuordnen, bereichern es jedoch nicht nur durch die inhaltliche Kom‐ ponente der Internationalität und der Detektion eines rassistischen Justizappa‐ rates, sondern geben dem Konzept der Radikalität auch durch die kompromiss‐ lose Tonalität der Texte eine neue Form. Sie verfolgen die Zielsetzung einer gesellschaftlichen Gegen-Information, in der auch Foucaults Konzept eines Gegen-Diskurses aufgeht, dessen Charakteristika im Folgenden analysiert werden sollen. Der G. I. P. und das Konzept des ‚contre-discours‘ nach Foucault Innerhalb der Werkgenese Foucaults lässt sich die Gründung des G. I. P. als In‐ termezzo zwischen zwei Grundpfeilern des theoretischen Werks situieren, näm‐ lich seiner Antrittsvorlesung am Collège de France vom 2. Dezember 1970 mit dem Titel L’ordre du discours  221 und der Veröffentlichung von Surveiller et punir  222 im Jahre 1975. Die im Kontext des G. I. P. entstandenen Kurztexte jour‐ nalistischer und essayistischer Natur sowie die zahlreichen Interviews auf na‐ tionaler und internationaler Bühne sind jenem - um es mit Polats Formulierung zu halten - „zweiten Werk“ 223 des Philosophen zuzurechnen, welches das um‐ fassende Korpus zusätzlicher sekundärer Texte konstituiert. Der Begriff des 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 91 224 Vgl. Foucault: Surveiller et punir, p. 31. 225 Vgl. Foucault: L’ordre du discours, p. 10-11. 226 Ibid., p. 16. 227 Ibid., p. 9. Gegen-Diskurses wird aus einer Verknüpfung von Diskurs- und Machttheorie generiert, wie sie im Spielfeld des G. I. P. taktisch praktiziert wird. Der in L’ordre du discours theoretisierte Diskursbegriff ist durch seine Ab‐ hängigkeit von einer rein negativ konnotierten Auffassung von Macht charak‐ terisiert, die sich schließlich in Surveiller et punir aufzulösen beginnt. 224 Unter der Prämisse, dass in der Gesellschaft die Produktion des Diskurses durch ge‐ wisse Prozeduren kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird, 225 determiniert Foucault drei Kategorien von Kontrollmechanismen: externe Pro‐ zeduren der Ausschließung, interne Prozeduren zur Selbstkontrolle des Dis‐ kurses und die Verknappung des Diskurses durch das sprechende Subjekt bzw. den Autor. Insbesondere die Reflexion der externen Ausschließungsmecha‐ nismen fließt in das theoretische Fundament des G. I. P. maßgeblich mit ein. Foucault benennt an erster Stelle die zensierenden Formen der Ausschließung, das Verbot und die Tabuisierung, die sich vornehmlich in den Bereichen der Sexualität und der Politik manifestieren; an zweiter Stelle figuriert das Prinzip der Grenzziehung und der Verwerfung, das in der Entgegensetzung von Ver‐ nunft und Wahnsinn Ausdruck findet; im Gegensatz zum dritten Prinzip, dem der Unterscheidung zwischen Wahrem und Falschem, bezeichnet Foucault diese ersten Formen der Ausschließung als „arbitraires […] ou […] s’organis[a]nt au‐ tour de contingences historiques“ 226 , also als willkürlich und der geschichtlichen Zufälligkeit entsprungen, wohingegen der Wille zur Wahrheit, welcher die Dis‐ kurse durchdringt, am Ursprung des westlichen Gesellschaftssystems steht und alle übrigen Ausschlussprinzipien zusammenhält. Alle drei Ausschlussmecha‐ nismen betrachtet Foucault als institutionell fundiert und gesichert, so dass man - um an die eingangs formulierte Prämisse anzuschließen - folgern kann, dass jenseits dieses diskursiven Filters keine Diskursbildung möglich ist. Wie Foucault unter Rückbezug auf seine eigene Antrittsrede quasi metadiskursiv verlautbart, liegt es in der Funktion und im Anspruch der Institution, darüber zu wachen, dass der Diskurs „dans l’ordre des lois“ 227 liegt, um damit die ur‐ sprüngliche Kraft des Wortes zu entmachten. Konnex zwischen der theoretischen Grundlage in L’ordre du discours und dem praktischen Experiment des G. I. P. ist dabei die institutionell gesteuerte diskur‐ sive Filterung, die mittels der Worterteilung an die Gefangenen unterlaufen werden soll. Die Charakteristika jenes Diskurses der Gefangenen, den er in 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 92 228 Foucault: „Les intellectuels et le pouvoir“, p. 310. 229 Ibid. 230 Vgl. Michel Foucault: „Le grand enfermement“ [1972], in: Dits et Écrits. 1954-1988, t. II: 1970-1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 296-306, hier 296: „J’ai‐ merais bien que l’on n’établisse aucun rapport entre mon travail théorique et mon tra‐ vail au G. I. P. J’y tiens beaucoup.“ 231 Michel Foucault: „Un problème m’intéresse depuis longtemps, c’est celui du système pénal“ [1971], in: Dits et Écrits. 1954-1988, t. II: 1970-1975, édition établie sous la direc‐ tion de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 205-209, hier 206. 232 Ibid., p. 207-208. einem Interview mit Gilles Deleuze als „contre-discours“ 228 , nämlich als „dis‐ cours contre le pouvoir“ 229 , bezeichnet, kann man in L’ordre du discours bereits ex negativo bestimmen. Analog zur Praxis des G. I. P. - obwohl Foucault darauf insistiert, dass der G. I. P. von jeder seiner vorgängig publizierten theoretischen Abhandlungen zu distanzieren ist 230 - richtet er sein Interesse auf den Kampf gegen die Ausschließungsprinzipien der Macht. Innerhalb jenes umfassenden externen Mechanismus der Exklusion, der Grenzziehung zwischen dem Wahren und dem Falschen, könnte in Anlehnung an die Trennung zwischen Vernunft und Wahnsinn eine zusätzliche ausschließende Kategorie gesetzt werden: die Opposition von Gesetzlichkeit und Kriminalität bzw. von Legalität und Illega‐ lität. So zentriert Foucault 1971 in einem Interview sein Interesse auf ebendiese Fragestellung, also „celui du système pénal, de la manière dont une société dé‐ finit le bien et le mal, le permis et le pas permis, le légal et l’illégal, la manière dont elle exprime toutes les infractions et toutes les transgressions faites à sa loi.“ 231 Das Phänomen der Transgression des Gesetzes im Zusammenspiel mit dem der Repression von Illegalität durch das Justizsystem eröffnet einerseits eine zeithistorisch bedingte Reflexion über die juristische Grenzziehung zwi‐ schen Verbot und Erlaubnis und durchdringt andererseits die Thematik der Dis‐ kursformation. Denn den Begriff der Transgression erstreckt er durch das Kon‐ zept des Gegen-Diskurses gleichsam auf den Gegenstand der Diskursivität, insofern er nämlich dadurch die Grenze zwischen Sagbarkeit und Unsagbarkeit reflektiert: Dans Les Mots et les Choses, j’ai surtout étudié des nappes, des ensembles de discours. Dans L’Archéologie du savoir aussi. Maintenant, nouveau mouvement du pendule: je suis intéressé par les institutions et les pratiques, par ces choses en quelque sorte en dessous du dicible. 232 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 93 233 Foucault: L’ordre du discours, p. 37. 234 Vgl. Christian Kupke: „Widerstand und Widerstandsrecht. Ein politikphilosophischer Versuch im Ausgang von Foucault“, in: Daniel Hechler / Axel Philipps (Hgg.): Wider‐ stand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht, Bielefeld: transcript 2008, pp. 75-91. Es geht Foucault folglich auch um die Aktivierung des Unsagbaren, das vom regulierenden Diskurs abfällt und auch nicht von diesem angeeignet werden kann. An dieser Stelle bedarf es allerdings einer Differenzierung: Während Foucault in L’ordre du discours noch die Möglichkeit des grundsätzlich Gesagten in De‐ pendenz zum diskursiven Regelwerk stellt, jenseits dessen keine Wissensver‐ breitung denkbar ist, zersetzt er unter Einfluss seines Engagements im G. I. P. diese nomische Enklave kurz darauf. Die Transgression des Sagbaren scheint Foucault offenbar in der Wortergreifung durch die Gefangenen realisiert. Jedoch muss hier zum einen kritisch eingewendet werden, dass die Gefangenen dazu mobilisiert wurden und eine Initiative höchstens von den politischen Gefan‐ genen, d. h. also dem ohnehin sensibilisierten Teil der Insassen, ausging; und zum anderen muss das Verhältnis zwischen Sagbarem und Unsagbarem hinter‐ fragt werden. In L’ordre du discours kristallisiert sich die Problematik dieser Re‐ lationalität in folgender Textpassage heraus: „Il se peut toujours qu’on dise le vrai dans l’espace d’une extériorité sauvage, mais on n’est dans le vrai qu’en obéissant aux règles d’une ‚police‘ discursive qu’on doit réactiver en chacun de ses discours.“ 233 Was Foucault an dieser Stelle undifferenziert als ‚wildes Außen‘ bezeichnet, wirft Fragen auf, die Christian Kupke überzeugend diskutiert. 234 Wenn Kupke auch die Unmöglichkeit eines reinen Außen konstatiert, so spielt er doch verschiedene mögliche Grenzziehungen zwischen einem Diesseits und einem Jenseits des Diskurses durch. So gibt es also die Variante eines diskursiven Außen als quasi privilegierte Position, von der aus der nomische Diskurs über‐ blickt werden kann, und die dazu invertierte Variante einer aus dem Inneren des Diskurses entspringenden spaltenden Perspektivierung. Beide Varianten werfen die Frage auf, inwieweit es überhaupt zu einer Transgression des Sagbaren kommen kann. Fasst man den Diskurs nämlich als zu einem bestimmten histo‐ rischen Zeitpunkt ausschließlich Sagbares auf, bleibt offen, wie jenes Unsagbare, ob als Außen oder als Innen des ordnenden Diskurses, im selben historischen Rahmen Ausdruck finden kann. Kupke eröffnet einen neuen Denkansatz, indem er zwischen der reinen Möglichkeit, alles oder nur Unbestimmtes zu sagen, und der von dieser Möglichkeit durchdrungenen, sie implementierenden Wirklichkeit, nur etwas 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 94 235 Ibid., p. 79. 236 Vgl. Christian Jäger: Michel Foucault. Das Ungedachte denken. Eine Untersuchung des kategorischen Zusammenhangs in Foucaults Schriften, München: Wilhelm Fink 1994, p. 37. 237 Vgl. Christian Kupke: „Diesseits und / oder Jenseits des Binarismus? Einige Annotate zum Verhältnis von Sagbarem und Unsagbarem“, in: Martin Heinze et al. (Hgg.): Sagbar - Unsagbar. Philosophische, psychoanalytische und psychiatrische Grenzrefle‐ xionen, Berlin: Parodos 2006, pp. 27-53, hier 38-39. 238 Foucault: L’ordre du discours, p. 11. Bestimmtes zu sagen, das entweder der Gesamtheit aller Regeln folgt und sie hete‐ ronom reproduziert oder aber ihnen widerspricht und neue Regeln setzt 235 , unterscheidet. Jenseits der Perspektivierung eines Innen oder eines Außen des Diskurses, reflektiert Kupke hier die Kategorie des ‚reinen Möglichen‘, wodurch grundsätzlich alles stets sagbar ist, jedoch durch den diskursiven Filter eines aktivierten Regelwerks als Unsagbares erscheint. Foucaults ‚wildes Außen‘ könnte vor diesem Hintergrund als jenes zur Immanenz des im Gesellschafts‐ körper implementierten Diskurses mögliches transzendentes Feld des Unsag‐ baren aufgefasst werden. Vergleichbar ist Kupkes Ansatz mit Jägers Opposition eines ‚konkreten‘ und eines ‚abstrakten Apriori‘, wobei das konkrete Apriori die historischen und sozialen Möglichkeitsbedingungen umfasst - Foucault ver‐ wendet hierfür den Begriff des Epistems - und das abstrakte Apriori als eine Möglichkeitsbedingung jenseits der tatsächlich historisch realisierten zu ver‐ stehen ist. 236 Jedoch behandelt Jäger die beiden Apriori als Gegensätzlichkeit, während Kupke eine Verknüpfung gelingt. Denn erst durch die Anerkennung der der symbolischen Ordnung inhärenten Negation erklärt sich die Grenzver‐ schiebung bzw. -überschreitung der erfahrbaren Ordnung. 237 Durch Kupkes Schwerpunktsetzung auf die Dynamis sind auch die historischen Rahmenbe‐ dingungen des ordnenden Diskurses mit denen dessen, was Foucault als Gegen-Diskurs bezeichnet, zu vereinbaren. Betrachtet man das Unsagbare als immer potentiell Sagbares, so muss sich das historische Apriori als interferen‐ tielle Schnittstelle beider Diskursordnungen, der möglich-werdenden und der tatsächlichen, manifestieren. Daraus erklären sich auch die Eigenschaften des Gegen-Diskurses, wie sie in L’ordre du discours als Negativum zu jenem regulierenden Diskurs vorliegen. Man findet hier vornehmlich folgende Charakteristika: die Ereignishaftigkeit sowie die Virulenz und Militanz. Durch die Kontrollmechanismen, die in Bezug auf den Diskurs das Ziel verfolgen „d’en conjurer les pouvoirs et les dangers, d’en maîtriser l’événement aléatoire“ 238 , werden aber ebendiese Eigenschaften 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 95 239 Vgl. ibid., p. 9. 240 Ibid., p. 52-53. 241 Genet: „Préface à L’Assassinat de George Jackson“, p. 112. 242 Genet: „Lettre aux intellectuels américains“, p. 45. unschädlich gemacht. Ihre Wirkung sei entwaffnend 239 und sie entsprängen einer profonde logophobie, une sorte de crainte sourde contre ces événements, contre cette masse de choses dites, contre le surgissement de tous ces énoncés, contre tout ce qu’il peut y avoir là de violent, de discontinu, de batailleur, de désordre aussi et de périlleux 240 . An der Bruchstelle des ordnenden Diskurses tritt eine all jene Eigenschaften vereinende Diskursform hervor, die durch die Ausschlussmechanismen gebän‐ digt werden soll. Vor der Folie der theoretischen Vorgaben in L’ordre du discours ist das Enga‐ gement des G. I. P. als Versuch einer Durchbrechung des institutionalisierten Diskurses im Bereich des Justizsystems zu bewerten. Durch die Produktion eines neuen Wissensdiskurses durch jenen als ‚Gegen-Diskurs‘ bezeichneten Diskurs gegen die Macht wird die Grenzziehung zwischen Sagbarem und Unsagbarem experimentiert. Das grundsätzlich mögliche Unsagbare wird durch die Worter‐ teilung an die Gefangenen aktiviert, so dass es für Foucault zur Sichtbarmachung jener eruptiven Kraft kommt, die den konzeptuellen Kern seines radikalen Jour‐ nalismus konstituiert. Wie anhand des Vorwortes der Broschüre zur Ermordung George Jacksons deutlich wird, unterstützt Genet im Grundsatz die Idee der Produktion eines eruptiven Gegen-Diskurses ausgehend von den Betroffenen selbst, jedoch zeigt sich gerade in Hinblick auf George Jacksons Gefängnisbriefe, dass Genet mit deren Bewertung als „livre révolutionnaire“ 241 zusätzlich an ein anderes politisches Konzept anknüpft. Tatsächlich stehen bei ihm Poesie und Revolution in einem eigentümlich interdependenten Verhältnis, wodurch eine Verquickung von Ethik und Ästhetik stattfindet, die auch in seinem Projekt der Korruption von Sprache erkennbar wird und im Anschluss analysiert werden soll. Über die Tatsache hinaus, dass ein Gegen-Diskurs produziert wird, hinter‐ fragt er insbesondere die Modalitäten dessen Verbalisierung. Genets Postulat einer neuen Ausdrucksform wird zum ersten Mal als Appell in seinem Brief an die amerikanischen Intellektuellen formuliert: „Je crois que le temps est venu d’user d’un vocabulaire également neuf et d’une syntaxe capable de rendre chacun attentif au double combat, poétique et révolutionnaire, des mouvements qui sont chez les Blancs comparables à ceux des Black Panthers.“ 242 Diese Sprach‐ reflexivität bringt die Vorstellung einer Anpassung der Sprache an die sozialen 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 96 243 Jean Genet: „Après l’assassinat“ [1971], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 105-108, hier 106. 244 Genet: „Entretien avec Michèle Manceaux“, p. 55-56. 2.2.2.3 Umwälzungen zum Ausdruck. So bemerkt Genet in demselben Text, dass sich aus der poetischen Vision der afroamerikanischen Bevölkerung ein politischer Gedanke entwickelt habe. Und dieser müsse vermittels einer neuen Sprache verbalisiert werden. Solange müssten einige Worte in Verwendung bleiben, bis diese dann in einer neuen Sprache aufgehen könnten: „Il est bien évident que je n’écrirais pas cela si la révolution planétaire avait eu lieu: certains mots, main‐ tenant doivent être repris, d’autres supprimés plus tard obligeant à un langage nouveau.“ 243 Hier zeigt sich, dass Genet 1971 von einer Situation des Übergangs in eine Revolution und somit des akuten Kampfes ausgeht, die sich in einer spezifischen Ausdrucksform äußert, welche er als poetisch klassifiziert. Jean Genet und die poetische Strategie der ‚corruption du langage‘ In seinem Interview mit Michèle Manceaux am 10. Mai 1970, das der Populari‐ sierung der Black Panthers und des kurz zuvor in Paris für sie gegründeten Ak‐ tionskomitees dienen sollte, synthetisiert Genet die Hauptaspekte seines poli‐ tischen Engagements. Auf die Frage, was ihn mit der Bewegung der Black Panthers verbindet, antwortet Genet: Si je suis sincère, je dois dire que ce qui m’a touché d’abord, ce n’est pas leur souci de recréer le monde. Bien sûr, ça viendra et je n’y suis pas insensible, mais ce qui m’a fait me sentir proche d’eux immédiatement, c’est la haine qu’ils portent au monde blanc, c’est leur souci de détruire une société, de la casser. Souci qui était le mien très jeune mais je ne pouvais pas changer le monde tout seul. Je ne pouvais que le pervertir, le corrompre un peu. Ce que j’ai tenté de faire par une corruption du langage, c’est-à-dire à l’intérieur de cette langue française qui a l’air d’être si noble, qui l’est peut-être d’ailleurs, on ne sait jamais. 244 Er unterscheidet hier zwischen jener pessimistischen und negativen Phase des Hasses und des Wunsches nach der Zerstörung der Gesellschaft und jener kon‐ sekutiven, positiven und zukunftsorientierten Phase der Schaffung einer neuen Welt, welche im Zusammenspiel implizit das Konzept der Revolution wieder‐ geben. Das bindende Element zwischen ihm und den Black Panthers wird dabei durch erstere Phase der Negativität repräsentiert, die Genet mit seinem eigenen frühen literarischen Werk in Verbindung setzt. Das negative Ziel der Zerstörung der Gesellschaft tritt in seinem poetischen Projekt der Perversion und Korrup‐ tion von Sprache zutage. 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 97 245 Michel Foucault: „Folie, littérature, société. Interview avec T. Shimizu et M. Wanabe“ [1970], in: Dits et Écrits. 1954-1988, t. II: 1970-1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gal‐ limard 1994, pp. 104-128, hier 121. 246 Ibid. 247 Vgl. Eribon: Une morale du minoritaire, p. 207. 248 Foucault: „Folie, littérature, société“, p. 121. Diesen Mechanismus der Perversion und Korruption von Sprache kommen‐ tiert Foucault in einem Gespräch mit japanischen Moderatoren über die ver‐ meintlich subversive Kraft von Literatur im Dezember 1970. Einer seiner Ge‐ sprächspartner zitiert aus dem Gedächtnis eine öffentliche Stellungnahme Jean Genets, die sinngemäß Ähnlichkeiten mit der gegenüber Michèle Manceaux ge‐ äußerten Vision einer Korruption der Sprache aufweist. Statt der Perversion und Korruption der Sprache ist hier die Rede von einer Fäulnis und Zersetzung der Sprache, „pourrir le français“ 245 . Foucault bietet zwei Interpretationsmöglich‐ keiten für diese Formulierung an. Im ersten Fall bezieht er den Mechanismus auf den literarischen Einsatz eines sozial bedingten Idiolektes, des Argots: „S’il s’agit d’introduire dans la langue française, dans le langage littéraire des tour‐ nures qui n’ont pas encore acquis droit de cité, alors il [Genet, S. I.] ne fait que poursuivre le même travail que Céline, pour prendre un exemple du passé.“ 246 Wie auch Eribon betont, distanziert sich Foucault von einer solchen literarischen Vision und spricht ihr jegliches revolutionäres Ausmaß ab, 247 bietet jedoch eine zweite Deutung an: Mais si la formule ‚pourrir le français‘ signifie que le système de notre langage - à savoir comment les mots fonctionnent dans la société, comment les textes sont évalués et accueillis et comment ils sont dotés d’une efficacité politique - doit être repensé et réformé alors, bien sûr, le ‚pourrissement du langage‘ peut avoir une valeur révolutionnaire. 248 Genets politische Strategie der inneren Zersetzung von Sprache hat für Foucault insofern eine revolutionäre Wertigkeit, als ein systemisches Umdenken der ge‐ sellschaftlichen und politischen Funktion von Sprache und Texten angestrebt wird, wie er selbst es in anderer Form im Gegen-Diskurs experimentiert. Wie Genet bewertet auch Foucault tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen als Prämisse für einen grundlegenden sprachlichen Wandel, der sich letztlich als Wirkung und Konsequenz eines zunächst auf politischer Ebene besiegelten Um‐ bruchs manifestiert: Mais […] la situation globale du langage et des différentes modalités que je viens d’évoquer ne peut être réformée que par une révolution sociale. En d’autres termes, 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 98 249 Ibid. 250 In seinem Brief an Patrick Prado betont Genet, dass der Poesie in seinem Verständnis niemals ein utilitaristischer Charakter zukommen kann: „La poésie ne sert aucune idé‐ ologie. Elle reste en travers de la gorge de toutes.“ Er schlussfolgert daraus, dass die Poesie niemals im Dienste einer Ideologie stehen könne, sondern die Kunst bzw. Poesie verändere sich erst durch die Revolution. Jean Genet: „Lettre à Patrick Prado“ [1970], in: Elisabeth Boyer / Jean-Pierre Boyer (Hgg.): Genet, exposition présentée au Musée des Beaux-Arts de Tours du 8 avril au 3 juillet 2006, Tours: Farrago 2006, Bild 98-99. In Teilen transkribiert findet man den Brief bei Neutres: Genet sur les routes du Sud, p. 242. 251 Mark Feinstein: „Genet (Interview)“, in: Helix, 16. April 1970, pp. 10; 22, hier 10. 252 Genet: „Introduction à Les frères de Soledad“, p. 63. ce n’est pas par un pourrissement interne du langage que la réorganisation globale, la redistribution globale des modalités et des valeurs du langage peuvent être opérées. Mais c’est par une reforme en dehors du langage. 249 Foucault und Genet sind sich somit beide der dezidierten Wirkungschancen einer rein auf sprachlicher Ebene realisierten Umwertung des Systems bewusst und betonen die Notwendigkeit außersprachlicher Umbrüche. Dabei unter‐ scheidet jedoch Genet stärker zwischen poetischer Negation 250 und politischer Affirmation. Auch wenn erst eine gesellschaftliche Revolution einen umfas‐ senden sprachlichen Wandel bewirken kann, spiegelt sich doch für Genet das revolutionäre Potential einzelner Bewegungen in deren poetischer Vision wider, die als gesellschaftliche Kommunikationsform zum Ausdruck kommt. So be‐ zeichnet er die Black Panthers als poetische Bevölkerungsgruppe mit einem na‐ türlichen Sinn für Poesie: They [the Black Panthers, S. I.] are a poetic people. Black people in America seem to have a natural poetic sense, and the discoveries they’ve made about how to struggle politically lean curiously on a poetic sentiment about the world. Maybe I’m wrong, but I think those things are linked, politics and poetry. I think political reflection is integral to poetic comprehension and vice versa. It’s something about the world black people live in; their political perspicacity comes out of looking at their world poetically. 251 Einen Schlüsseltext in diesem Zusammenhang konstituiert sein Vorwort zu den Gefängnisbriefen George Jacksons, welches Genet wenige Monate nach seinem Interview mit Michèle Manceaux im Juli 1970 redigierte und das bereits unter dem Aspekt seiner Rolle als préfacier beleuchtet wurde. Als literaturkritischer Kommentar konzipiert, legt es einen Schwerpunkt auf die sprachlich-stilistische Gestaltung der Briefsammlung, welche Genet gattungsspezifisch als „sorte d’essai et de poème confondus“ 252 einordnet und damit auf sein eigenes Ideal 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 99 253 Ibid., p. 67-68. 254 Ibid., p. 68. 255 Ibid. 256 Ibid. 257 Ibid. 258 Ibid., p. 67. einer Mischung der traditionellen stilistischen und poetologischen Differenzie‐ rung von politischer Rhetorik und Poesie rekurriert. Genet präzisiert hier in Bezug auf Jacksons Briefe den Mechanismus einer Korrumpierung jener Sprache, die er als Sprache des Feindes bezeichnet: „Ici encore, le prisonnier doit se servir du langage même, des mots, de la syntaxe de son ennemi alors qu’il sent le besoin d’une langue séparée qui n’appartiendrait qu’à sa nation.“ 253 In Ermangelung einer eigenen Sprache, die nicht von der „juridiction de gram‐ mairien“ 254 reguliert wird, sind Akzeptanz und Korrumpierung der normativen Sprache für Genet die einzige Lösung: „Il [le Noir, S. I.] n’a donc qu’une res‐ source: accepter cette langue mais la corrompre si habilement que les Blancs s’y laisseront prendre.“ 255 Genet konstatiert selbst, dass die Lösung in dieser Form des inneren Widerstandes dem revolutionären Projekt entgegenzulaufen scheint: „Et c’est un travail qui semble être contredit par celui du révolutionnaire.“ 256 Das revolutionäre Ziel hat jedoch für Genet einen poetischen Ursprung, der im Moment des Hasses und der Ablehnung der ‚weißen‘ Gesellschaft mit ihrem moralischen Wertesystem und sprachlichen Regelwerk verankert ist und aus dem erst die langsame Substitution des sprachlichen Begriffssystems resul‐ tieren könne: L’entreprise révolutionnaire du Noir américain, semble-t-il, ne peut naître que dans le ressentiment et la haine, c’est-à-dire en refusant avec dégoût, avec rage, mais radicalement, les valeurs vénérées par les Blancs, cependant que cette entreprise ne peut se continuer qu’à partir d’un langage commun, d’abord refusé, enfin accepté où les mots ne serviront plus les notions enseignées par les Blancs, mais des notions nouvelles. 257 Der Mechanismus der Korrumpierung der Sprache beschreibt folglich das Phä‐ nomen einer Umwertung des bereits existierenden und allgemeingültigen Sprachsystems, welches von innen heraus zerbrochen wird. Solange die Revo‐ lution des Sprachsystems nicht vollzogen ist, muss die Positionierung vermittels der einheitlichen und feindlich besetzten Sprache darüber hinaus in Form einer „démarche oblique“ 258 erfolgen. Diese Metapher des schrägen Gangs, mit wel‐ chem sich George Jacksons im Gefängnis verfasstes Buch dem Leser nähert, beschreibt die Suspension eines Vokabulars des Hasses sowie den daraus resul‐ 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 100 259 Ibid. 260 Ibid. 261 Ben Jelloun: Jean Genet, menteur sublime, p. 174-175. 262 Jean Genet: „Entretien avec Nigel Williams“ [1985], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 297-306, hier 303. tierenden, verzerrten Darstellungsmodus. Vermieden wird so die Verwendung der „mots interdits, maudits, […] ensanglantés, […] crachés avec la bave, dé‐ chargés avec le sperme, […] calomniés, réprouvés, […] non écrits […], dangereux, cadenassés, […] qui n’appartiennent pas au vocabulaire“ 259 . Die Virulenz und Vehemenz jener Worte, welche die Realität im Gefängnis aus einer frontal gegen den Leser gerichteten Perspektive wiedergeben könnten, werden durch die Ver‐ wendung eines zugelassenen Vokabulars eingedämmt, welches die kommuni‐ kativen Grundlagen für den Leser sicherstellt: „C’est donc derrière une grille, seule acceptée par eux, que ses lecteurs, s’ils l’osent, devineront l’infamie d’une situation qu’un vocabulaire honnête ne sait restituer, mais derrière les mots admis, discernez les autres! “ 260 Genets sprachreflexive Vision zeugt von einer Janusköpfigkeit der Sprache, die sich stets sowohl an Adressaten richtet, welche die Erfahrungen des Autors teilen, und solche, die jenseits dieses Erfahrungs‐ horizontes situiert bleiben. Letzteren kann sich der Autor niemals frontal und direkt zuwenden, sondern nur schräg bzw. diagonal, wie auch Tahar Ben Jelloun, den Genet in den frühen 1970er Jahren kennenlernte, in seinen Erinnerungen als eigentümliches literarisches Merkmal Genets herausstellt: J’ai appris avec lui [Genet, S. I.], comme avec Roland Barthes dont je suivais le cours, qu’il fallait observer la société de manière oblique, jamais frontale, directe, ni parallèle. Ce que Barthes appelle ‚le détour‘, Genet l’appelle plutôt ‚diagonale‘, une diagonale qui traverse le monde. 261 Tahar Ben Jelloun vergleicht hier Genets Vorstellung einer schrägen, diagonalen Herangehensweise an die Gesellschaft mit Barthes’ Konzept des Umweges, des „détour“, und macht von einer ähnlichen Deskription Gebrauch wie Genet selbst in seinem letzten Interview mit Nigel Williams zur Visualisierung seiner eigenen kunstästhetischen Demarche: „[…] ma démarche à la société est oblique. Elle n’est pas directe. Elle n’est pas non plus parallèle, puisqu’elle le traverse, elle traverse le monde, elle le voit. Elle est oblique. Je l’ai vu en diagonale, le monde, et je le vois encore en diagonale.“ 262 In Anlehnung an dieses Verständnis kann die Kommunikation der Black Panthers mit der dominierenden Gesellschafts‐ schicht nur über einen Diskurs „mutilé, élagué de ses ornements trop tumul‐ 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 101 263 Genet: „Introduction à Les frères de Soledad“, p. 67. 264 Ibid., p. 68. 265 Jean Genet: „Entretien avec Hubert Fichte“ [1975], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 141-176, hier 151. 266 Vgl. Sartre: „L’écrivain et sa langue“, pp. 58-60. tueux“ 263 funktionieren, der jedoch die Spuren des „passage orgiaque et hai‐ neux“ 264 in sich trägt. Es handelt sich um einen Diskurs durch die Gitterstäbe des Gefängnisses hindurch, den Genet aber - über Foucaults Konzept des Gegen-Diskurses hinaus - nicht nur als Freisetzung des eingeschlossenen Wortes thematisiert, sondern dessen poetische Funktionsweise er reflektiert. Implizit kontrastiert Genet dabei zwei Formen der Kommunikation, nämlich die emotional-affektive Verbalisierung des Hasses und die rational fundierte Sprache des Grammatikers, welche das syntaktische Gerüst liefert. In einem Interview mit Hubert Fichte 1975 beschreibt Genet rückblickend sehr exakt diese Antithese: Il semble qu’il y ait au moins deux sortes de communication: une communication rationnelle, réfléchie. […] Et puis, il y a alors une communication qui est moins cer‐ taine, pourtant évidente, je vais vous demander si vous êtes d’accord, le vers de Bau‐ delaire: ‚Cheveux bleus, pavillon de ténèbres tendues‘, est-ce que vous trouvez que c’est beau? […] Et nous communiquons. Bon, il y a donc au moins deux sortes de communication, un mode qui est reconnaissable, contrôlable et puis un mode incontrôlable. L’action des Panthers relevait de la communication incontrôlable. […] C’était une révolution qui était de l’ordre affectif et émotionnel; alors, ça n’a pas de rapport … ça a peut-être des rapports mais très discrets avec des révolutions qui sont tentées ailleurs par d’autres voies. 265 Die Kommunikationsform der Black Panthers, welche hier als irrational und un‐ kontrolliert charakterisiert wird, vergleicht Genet mit dem poetischen Prinzip von Kommunikation, wie das Zitat Baudelaires suggeriert. Damit steht Genets Konzept der gesellschaftspolitischen Kommunikation diametral derjenigen Sartres gegenüber, demzufolge die Poesie als selbstreferentielle Form der Kom‐ munikation keine Reziprozität zum Gegenüber herstellen könne und per se ein Desengagement vermittle. 266 Moreno begründet ihre Ansicht, dass Genets poli‐ tische Texte bewusst nichts aussagten, auf Basis ebendieser Axiomatik Sartres: L’‚engagement‘ de Genet serait alors d’ordre poétique et politique. Contrairement à l’engagement sartrien, pour lequel la fin du langage est de communiquer, sauf dans la poésie, l’écrivain laisse sa prose être contaminée par la poésie. Il refuse ainsi de voir le langage comme un instrument qui permettrait de provoquer l’indignation, 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 102 267 Balcázar Moreno: Travailler pour les morts, p. 29. Hervorhebung im Original. 268 Vgl. Marty: Jean Genet, post-scriptum, p. 68. 269 Ibid., p. 72-73. 270 Vgl. Aristoteles: Rhetorik, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Stutt‐ gart: Reclam 1999, pp. 154-162. 271 Vgl. Genet: „Introduction à Les frères de Soledad“, p. 63. l’enthousiasme, ou bien de s’expliquer clairement. Il écrit pour ne rien dire même dans ses textes explicitement politiques. 267 Diese These ist kritikwürdig, da Moreno hier weder die Existenz und Aus‐ drucksform von Genets pragmatischen Texten berücksichtigt, noch sein spezi‐ fisches Konzept eines poetisch-politischen Engagements entschlüsselt. Wäh‐ rend Sartre die Möglichkeit einer Öffnung zum Adressaten hin in der Poesie leugnet, basiert Genets Vorstellung von Kommunikation auf dem Phänomen der Polysemie. Dieses liegt in der Unzulänglichkeit der normativen Sprache, der Sprache des Feindes, begründet, die zwar als Kommunikationsmittel verwendet werden muss, aber ihre Bedeutung adressatenorientiert entfaltet und damit von einer inhärenten Mehrdeutigkeit bzw. Unkontrollierbarkeit geprägt wird. Die umstrittene Studie Éric Martys thematisiert die Bedeutung der Mehrdeutigkeit am Beispiel der Homonymie in Genets politischen Texten, welche als semanti‐ sche Transgression bezeichnet wird. 268 Genets Verwendung von Homonymen greife die politische Ordnung selbst an, insofern bei Genet die referentielle Sprachebene betroffen sei: La remise en cause de la langue a donc ici pour point d’appui le Réel, soit ce qui obscurcit et disperse, ou encore ce qui abolit tout lien, le lien du signifiant (du symbolique), celui de la possibilité du discernement (de l’autre), et le lien du signifié (de l’imaginaire), celui de la possibilité de l’identité du (même). 269 Marty verweist in diesem Kontext auf das seit Aristoteles bestehende Gebot der Eindeutigkeit politischer Reden, welches von Genet unterlaufen werde. Im dritten Buch seiner Rhetorik kontrastiert Aristoteles den poetischen und den rhetorischen Stil, welcher sich durch Klarheit und Angemessenheit in der Wort‐ wahl auszeichnet und jegliche Irrtumsmöglichkeiten ausschließt. 270 Bei Genet verweben sich diese traditionell differenzierten Stile bewusst, wie sich auch in der gattungsspezifischen Bezeichnung der Gefängnisbriefe als Mischform aus Essay und Liebesgedicht andeutet. 271 Marty stützt seine These der Homonymie mittels des wenig überzeugend exemplifizierten Faschismus-Begriffs, den Genet sowohl zur Stigmatisierung der weißen Gesellschaft in den USA verwende, als auch als revolutionäre Strategie, so dass ‚Faschismus‘ einerseits die Repression 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe 103 272 Vgl. Marty: Jean Genet, post-scriptum, p. 65. 273 Laroche: Le dernier Genet, p. 108-109. 274 Jean Genet: „Pour George Jackson“ [1971], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 83-87, hier 84. 275 Genet: „Introduction à Les frères de Soledad“, p. 69. Hervorhebung im Original. 276 Jean Genet: „Entretien avec Antoine Bourseiller“ [1981], in: Œuvres complètes, VI: L’En‐ nemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 217-226, hier 222. 277 Ibid. durch die normative Gesellschaft beschreibe und andererseits den radikali‐ sierten Befreiungskampf der unterdrückten afroamerikanischen Bevölke‐ rung. 272 Der Begriff des Faschismus als zeithistorisch bedingtes Schlagwort „de‐ meure prise dans l’époque“ 273 , wie Hadrien Laroche zu Recht konstatiert, wird jedoch von Genet auch in seinem etymologischen Bedeutungsursprung eines Faszinosums gebraucht, wodurch überhaupt erst dessen Polysemie erkennbar wird. Deutlicher wird Genets Sprachkritik anhand eines lexikalischen Phäno‐ mens, dessen kulturspezifisch bedingte Mehrdeutigkeit Genet im Kontext der Black Panthers wiederholt zitiert, nämlich das des Baumes, der je nach Perspek‐ tive als Symbol des Lebens oder des Todes figuriert: „Si un arbre pour nous, c’est une fête du feuillage, des oiseaux et des fruits, pour un Noir de l’Alabama c’est d’abord la potence où des générations de Noirs ont été lynchées.“ 274 Auch in seinem Vorwort zu George Jacksons Gefängnisbriefen wird dieses Motiv in einem sehr dichten Satz als Zeichen des Hasses evoziert: Mais j’ai trop longtemps vécu en prison pour n’avoir pas reconnu, dès qu’on m’en eût traduit à San Francisco les premières pages, l’odeur et le grain très particuliers de ce qui fut écrit dans un cachot, derrière des murs, des gardes, empoisonné par la haine, car, ce que je ne savais pas encore avec une telle intensité, c’est la haine de l’Américain blanc pour le Noir au point que je me demande si tout homme blanc de ce pays, quand il plante un arbre, ne voit pas à ses branches des Nègres pendus. 275 Als abstrakte Potenz verweist der Begriff des Baumes je nach Sprecher auf eine andere außersprachliche Wirklichkeit und ist damit auch Träger unterschiedli‐ cher symbolischer Systeme, die jedoch stets in Dependenz zum dominanten Sprachsystem bzw. zur Sprache des Feindes stehen. In seinem Interview mit Antoine Bourseiller 1981 entschlüsselt Genet den Ursprung dieses Motivs, bei dem es sich um die Begründung David Hilliards von den Black Panthers handelt, warum er Genet nicht in die im Wald gelegene Stony-Brook Universität bei New York begleite: „Non, il y a encore trop d’arbres.“ 276 Genet kategorisiert seine Antwort als „réponse que seul un Noir américain pouvait faire“ 277 und decodiert 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 104 278 Karl-Heinz Bohrer: „1968: Die Phantasie an die Macht? Studentenbewegung - Walter Benjamin - Surrealismus“, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.): 1968 - Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, pp. 288-301, hier 288. 279 Vgl. Philippe Artières et al.: „Contexte“, in: Id. et al. (Hgg.): Le groupe d’information sur les prisons. Archives d’une lutte 1970-1972, Paris: IMEC 2003, pp. 13-19, hier 13-14. 280 Vgl. Sandra Kraft: Vom Hörsaal auf die Anklagebank. Die 68er und das Establishment in Deutschland und den USA, Frankfurt a. M.: Campus 2010. 2.3 die Bedeutung des Baumes ähnlich wie in den anderen beiden Textbeispielen als Zeichen der amerikanischen Lynchjustiz, das jedoch allein für die afroame‐ rikanische Bevölkerung eine Gefahrenquelle designiert, während die Aussage für die weiße Bevölkerung ohne eine nähere Erläuterung unverständlich bleiben muss. In diesem Beispiel spiegelt sich die poetische Vision der Welt wider, welche Genet den Black Panthers attestiert. Denn die Poesie entfaltet sich für Genet aus der Situation der gesellschaftlichen Ausgeschlossenheit, die in der Eingeschlossenheit im Gefängnis versinnbildlicht ist. Aus dieser poetischen Vi‐ sion wird überhaupt erst ein revolutionäres Potential freigesetzt. Kritik an der Rechtsstaatlichkeit aus Sicht Genets, Sartres und Foucaults Die in Frankreich im Mai ’68 kulminierende soziokulturelle und politische Pro‐ testbewegung, deren Zielsetzung mit Karl-Heinz Bohrer als „radikale Trans‐ zendenz des Bestehenden“ 278 bezeichnet werden kann, findet im Nach-Mai in der Person des französischen Innenministers Raymond Marcellin einen Wider‐ sacher. Marcellins legislative Maßnahmen, wie die Einrichtung von Ausnahme‐ gerichten (Cour de sûreté de l’État) und die Erweiterung des Strafgesetzbuches um den Paragraphen 314, der unter dem Namen der ‚loi anti-casseur‘ die Orga‐ nisatoren illegaler Demonstrationen und anderer öffentlicher Aktionen anvi‐ siert, fördern die Sanktionierung und Kriminalisierung der neuen Protest‐ gruppen und -formen, die somit in den Bereich der Illegalität verwiesen werden. 279 Die zahlenmäßige Häufung von Gerichtsverfahren gegen oppositio‐ nelle Gruppen, deren Zielsetzung die Aufrechterhaltung des im Mai 1968 ma‐ nifest gewordenen, revolutionären Potentials war, stellt jedoch kein innerfran‐ zösisches Phänomen dar, sondern betrifft die westlichen Industrienationen allgemein, wie Sandra Kraft am Beispiel Deutschlands und der USA ermittelt. 280 Diese Konfrontation einzelner Protestgruppen mit Staat und Justiz löst unter‐ schiedliche Debatten im intellektuellen Feld aus. Neben der Kritik an der Rechts‐ staatlichkeit und dem als repressiv wahrgenommenen Justizapparat wird die 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 105 281 Ingrid Gilcher-Holtey: „Transformation durch Subversion: Die Neue Linke und die Ge‐ waltfrage“, in: Freia Anders / Id. (Hgg.): Herausforderungen des staatlichen Gewaltmo‐ nopols. Recht und politisch motivierte Gewalt am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Campus 2006, pp. 198-221, hier 218. 282 Artières et al.: „Contexte“, p. 15. 283 Vgl. ibid. 2.3.1 gesellschaftskritische Diskussion darüber hinaus von der Frage nach der Legi‐ timierbarkeit des Einsatzes von revolutionärer Gegengewalt bestimmt. Dieser von Gilcher-Holtey als „Kampf um die Grenzen zwischen Legalität und Illega‐ lität“ 281 bezeichnete Konflikt äußert sich folglich auf diskursiver Ebene durch eine grundsätzlich dichotome Rhetorik: Rechts- und Staatskritik und die Moti‐ vation von politischer Gewalt durchdringen einander. Im Nachfolgenden soll der diskursive Gegenstand der Kritik an Staat und Justizsystem mit seinen un‐ tergeordneten Debatten zum Status politischer Gefangener, zur Bedeutung des Gefängnisses und zur Legitimierung von revolutionärer Gewalt aus der teil‐ weise interdependenten Perspektive Genets, Foucaults und Sartres beleuchtet werden. Zwischen ‚tribunal populaire‘ und ‚contre-procès‘ - Sartres und Foucaults Kritik an der Institution des Gerichtes Das von Sartre in Anlehnung an das Tribunal Russell elaborierte Konzept einer Justiz des Volkes, das mit Artières als „projet de recours à une justice ‚populaire‘ comme moyen de lutte face à une justice d’État jugée trop partiale“ 282 determi‐ niert werden kann, ist Ausgangspunkt der zwischen 1970 und 1975 währenden Debatte über die Bildung einer möglichen außerstaatlichen, alternativen Rechts‐ instanz. Das Minenunglück im nordfranzösischen Lens, bei dem am 4. Februar 1970 sechzehn Bergarbeiter ums Leben kommen, konstituiert dabei einen Mark‐ stein. Parallel zum Prozess gegen eine Gruppe von Militanten der Gauche pro‐ létarienne, die ihren Missmut über die schlechten Arbeitsbedingungen der Mi‐ nenarbeiter durch den Beschuss des Bergwerks mit Molotowcocktails zum Ausdruck gebracht hatten und sich deswegen vor Gericht verantworten mussten, 283 initiierte die in Reaktion auf den Erlass des Paragraphen 314 ge‐ gründete Organisation Secours Rouge unter der Schirmherrschaft Jean-Paul Sartres das so genannte tribunal populaire de Lens. Ziel des Volkstribunals war die Aufklärung der Ursachen, die zu jenem Unglück geführt hatten, das nicht länger als unvermeidbarer Unfall oder Fatalitätsprodukt betrachtet werden sollte, sondern aufgrund der fehlenden Sicherheitsmaßnahmen als Tötungsde‐ 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 106 284 Vgl. Jean-Paul Sartre: „Premier procès populaire à Lens. Réquisitoire“ [1970], in: Situa‐ tions VIII. Autour de 68, Paris: Gallimard 1972, pp. 319-331, hier 328. 285 Ibid., p. 327. 286 Ibid., p. 331. 287 Gavi et al.: On a raison de se révolter, p. 85-86. 288 Ibid.; vgl. zur Bedeutung der Illegalität der maoistischen Aktion v. a. Kapitel V: „Illéga‐ lisme et gauchisme“ [Dezember 1972], pp. 83-94. 289 Das Tribunal Russell wurde am 13. November 1966 in London eröffnet und sollte in zwei weiteren Sitzungen in Paris ausgerichtet werden, was jedoch vom französischen Staats‐ präsidenten Charles De Gaulle unterbunden wurde. Stattdessen tagte es in Stockholm. likt. Sartres Anklagerede richtet sich gegen den offiziellen Bericht, demzufolge das die Explosion verursachende Grubengas durch eine gelöste Verankerung ausgetreten sei und somit auf einen zufälligen, technischen Schaden zurückge‐ führt werden könne. 284 In Kontrast dazu benennt Sartre hingegen die Verant‐ wortlichen und Mitwisser, nämlich die Direktion des Bergwerks, die Ingenieure und die Ärzte, zeigt deren Fehlverhalten auf und beschuldigt sie nach dem Prinzip eines klaren Täter-Opfer-Verhältnisses der vorsätzlichen Tötung: „Les ouvriers sont les victimes, les porions […] et surtout les ingénieurs, les médecins et les directeurs sont des assassins.“ 285 Das Verdikt wird als „loi du peuple“ 286 bezeichnet und nimmt die Funktion einer Gegenklage zum Prozess gegen die der Brandstiftung angeklagten Militanten vor der Cour de sûreté de l’État ein, im Laufe dessen es verlesen werden sollte. Die darin zum Vorschein kommende Idee von Prozess und Gegen-Prozess, welcher den Staat und sein Justizsystem selbst zum Angeklagten erhebt, schreibt sich in das von Sartre in einer Debatte mit den Maoisten formulierte Ziel der „illégalité absolue, ou contestation du système par la légitimité de la démocratie directe“ 287 ein. Im Laufe der Diskussion mit den Maoisten beschreibt Sartre das Volkstribunal von Lens als eine von außen auf das Justizsystem einwirkende Aktion, die dieses Ideal der absoluten Illegalität und der Legitimität einer direkten Demokratie verkörpere: Les seuls qui étaient vraiment sur le plan de l’illégalité complète - puisqu’ils refusaient même les droits que leur conférait le système - c’étaient les maos. Bien entendu, ils tentaient quelquefois une action sur la Justice légale. Mais il fallait qu’elle agisse du dehors: par exemple, le tribunal populaire de Lens. […] Par cette raison, je me suis rapproché du groupe mao; l’ennui c’est que, vers 70-71, il a pris un tournant légaliste, c’est-à-dire qu’il a constitué des Comités Vérité et Justice qui contestent la légalité du dedans au nom de la légalité, et non du dehors: au nom de la légitimité. 288 In ihrer Vorgehensweise und Zielsetzung orientiert sich die Aktion in Lens an dem zwischen 1966 und 1967 an unterschiedlichen internationalen Standorten 289 organisierten und unter dem Namen seines Ideengebers, des englischen Philo‐ sophen Bertrand Russell, bekannt gewordenen Tribunal Russell, an dem auch 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 107 290 Jean-Paul Sartre: „Le crime“ [1966], in: Situations VIII. Autour de 68, Paris: Gallimard 1972, pp. 27-41, hier 34. 291 Jean-Paul Sartre: „De Nuremberg à Stockholm“ [1967], in: Situations VIII. Autour de 68, Paris: Gallimard 1972, pp. 78-99, hier 78. Hervorhebung im Original. 292 Vgl. Jean-Paul Sartre: „Lettre au Président de la République“ [1967], in: Situations VIII. Autour de 68, Paris: Gallimard 1972, pp. 42-43; Charles de Gaulle: „Réponse du Président de la République“ [1967], in: Jean-Paul Sartre: Situations VIII. Autour de 68, Paris: Gal‐ limard 1972, pp. 43-45. Sartre neben weiteren intellektuellen Repräsentanten unterschiedlicher Länder partizipierte. Seinem Selbstverständnis nach der Zielsetzung der Nürnberger Prozesse nachempfunden, beabsichtigte das Tribunal Russell, über das Verhalten der US -amerikanischen Streitkräfte in Vietnam aufzuklären und zu beurteilen, inwieweit die amerikanische Politik als Kriegsverbrechen eingestuft werden kann. Die emotionalisierte Kritik am amerikanischen Imperialismus steht dabei der rechtlichen Klärung des kriegerischen Vorgehens nach, wie Sartre in einem Interview betont: „Quand on crie dans un meeting: ‚La guerre du Viêt-nam est un crime‘, on est dans le domaine du passionnel. Cette guerre est certainement contraire aux intérêts de l’immense majorité des hommes mais est-elle juridi‐ quement criminelle? “ 290 Wie auch in Lens basieren die Recherchen zum Viet‐ namkrieg auf Zeugenaussagen sowie Dokumenten, vermittels derer eine um‐ fassende Aufklärungs- und Informationsarbeit betrieben werden soll. Das Tribunal Russell kennzeichnet auch den Ausgangspunkt für die dann in den frühen 1970er Jahren offene Konfrontation zwischen der sich als legitim ver‐ stehenden, revolutionären Aktion und dem staatlich gesteuerten Justizsystem, wie in Sartres letztem für das Tribunal Russell publizierten Text „De Nuremberg à Stockholm“ von 1967 erkennbar wird: Le Tribunal Russell est tenu pour illégal par l’ensemble des gouvernements occidentaux. Et le général de Gaulle en lui refusant l’autorisation de siéger en France a résumé l’opinion générale des ‚pouvoirs‘ par ces mots: ‚Toute justice n’appartient qu’à l’État.‘ Pourtant cet organisme - qui s’est créé sur l’initiative d’un seul homme, philosophe célèbre mais simple citoyen dépourvu de charges publiques - après sa session de Stockholm et ses premières conclusions n’a plus besoin de prouver sa légitimité. 291 Die hier typographisch hervorgehobenen Konzepte der Illegalität und Legiti‐ mität nehmen eine für das Volkstribunal von Lens und die maoistische Hand‐ lungsinitiative programmatische Bedeutung ein. Der von Sartre benannte Vor‐ wurf der Illegalität des Tribunal Russell steht in der Folge seines Briefwechsels mit dem damaligen Präsidenten Charles de Gaulle, der die staatliche Veranke‐ rung des Justizsystems reklamiert und jegliche Form einer Parallel- oder Ge‐ genjustiz in den Bereich der Illegalität verweist. 292 Sartres Kritik an der Abhän‐ 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 108 293 Jean-Paul Sartre: „Tribunal Russell. Discours inaugural“ [1967], in: Situations VIII. Au‐ tour de 68, Paris: Gallimard 1972, pp. 70-77, hier 73-74. Hervorhebung im Original. 294 Ibid. 295 Sartre: „De Nuremberg à Stockholm“, p. 99. gigkeit von Staat und Justiz äußert sich in der Gegenüberstellung einer vom Staate und einer vom Volke ausgehenden Macht, mit der seine Inauguralrede zum Tribunal Russell inhaltlich beginnt: Il y a deux sources de pouvoir, en effet. La première, c’est l’État avec ses institutions. […] L’autre source, c’est le peuple, en période révolutionnaire, quand il change ses institutions. Mais, bien que la lutte demeure implacable, par quel moyen les masses, compartimentées par des frontières, parviendraient-elles à s’unir et à imposer aux différents gouvernements une institution qui serait une véritable magistrature popu‐ laire? 293 Jene vom Volke ausgehende Macht beschreibt Sartre als in der Revolutionszeit zu Tage tretendes Phänomen, das mit einem gesellschaftlichen Macht- und In‐ stitutionswechsel verbunden ist und dem Ziele nach folglich eine gegnerische Institution konstituiert. Sartres Ideal einer jenseits von Ländergrenzen beste‐ henden „magistrature populaire“ 294 nimmt seiner eigenen Interpretation zufolge im Tribunal Russell selbst Gestalt an, welches er an anderer Stelle mithin als revolutionäres Gericht definiert: Nous avons jugé - nous, hommes de la masse - pour la masse et, sans aucun doute, avant son accord. Mais notre jugement n’a pas encore sa vérité: il nous faut à présent le présenter aux peuples, avec ses motifs et ses attendus. S’ils le ratifient, il deviendra le leur et prendra d’eux toute son objectivité. Nous saurons alors que notre légitimation est entière et que les masses, en donnant leur accord, dévoilent une exigence plus profonde: c’est qu’un véritable tribunal soit créé contre les criminels de guerre. Un tribunal qui émane d’elles et qui donne à leurs exigences éthiques une dimension juridique. Un tribunal révolutionnaire. 295 Das Tribunal Russell als Gegengericht sowie vor allem dessen Verdikt, so Sartre hier, müsse erst vom Volke seine Legitimierung erfahren, um so dessen ethischen Ansprüchen kraft eines legislativen Stützwerks gerecht zu werden. In seiner Funktion einer revolutionären Gegeninstanz, die sich der staatlichen Institution des Gerichtes widersetzt und in seiner Funktion doppelt, bildet das Tribunal Russell einen Wegweiser nicht nur für das Volkstribunal von Lens, sondern auch für die Handlungsstrategie der Maoisten. So entbrannte nämlich im Juni 1971 eine Debatte über die mögliche Instauration eines Volkstribunals zur Verurtei‐ lung polizeilicher Übergriffe, ein Projekt, das bereits im Anschluss an die Pariser Mai-Unruhen und in Analogie zum Tribunal Russell von Daniel Cohn-Bendit 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 109 296 Vgl. Artières et al.: „Contexte“, p. 15. 297 Vgl. Michel Foucault: „Sur la justice populaire. Débat avec les maos“ [1972], in: Dits et Écrits. 1954-1988, t. II: 1970-1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 340-369. 298 Ibid., p. 364. 299 Ibid., p. 352. 300 Ibid., p. 341. lanciert wurde. 296 In diesem Kontext interveniert auch Michel Foucault und dis‐ kutiert mit Mitgliedern der zu diesem Zeitpunkt bereits verbotenen maoisti‐ schen Gauche prolétarienne. 297 Foucault lehnt die Idee eines Volkstribunals grundsätzlich ab und kritisiert implizit Sartre sowie dessen intellektuellen Handlungsentwurf einer unabhängigen, übergeordneten moralischen Instanz: Ça renforce l’idée, pour qu’une justice soit juste, il faut qu’elle soit rendue par quelqu’un qui est hors du coup, par un intellectuel, un spécialiste de l’idéalité. Quand, par-dessus le marché, ce tribunal populaire est présidé ou organisé par des intellectuels qui viennent écouter ce que disent, d’une part les ouvriers, de l’autre, le patronat, et dire: ‚L’un est innocent et l’autre est coupable‘, tu as tout un idéalisme qui est drainé à travers tout ça. 298 Jedoch richtet sich Foucaults Kritik nicht alleine gegen die Rolle des Intellektu‐ ellen, der nach seinem Verständnis im Projekt des Volkstribunals eine richtende Funktion einnimmt, sondern insbesondere gegen die Reproduktion und die Re‐ petition der Gerichtsinstanz selbst. Indem nämlich das Gericht grundsätzlich als Modell übernommen werde, könne die gesellschaftliche Ordnung nicht über‐ wunden werden, so Foucault, der als Basis der Revolution vielmehr die Auflö‐ sung des gesamten Justizsystems fordert: „[T]out ce qui peut rappeler l’appareil pénal, tout ce qui peut en rappeler l’idéologie et permettre à cette idéologie de s’insinuer subrepticement dans les pratiques populaires doit être banni.“ 299 Für ihn besteht eine grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen dem Wunsch nach einem radikalen gesellschaftlichen Umbruch und der Aufrechterhaltung der im Entwurf des Gerichts repetierten Ordnung einer vermeintlich neutralen Instanz „entre le peuple et ses ennemis, et susceptible d’établir le partage entre le vrai et le faux, le coupable et l’innocent, le juste et l’injuste“ 300 . Jenes Prinzip einer Trennung zwischen Wahrem und Falschem, zwischen Schuld und Unschuld, zwischen Recht und Unrecht, auf dem nach Foucault das Justizsystem basiert, konsolidiert die diskursive Ordnung, welche seinem Verständnis zufolge im 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 110 301 Vgl. hierzu auch die in L’ordre du discours beschriebenen Formen des Ausschlusses, die in Kapitel 2.2.2.2 zum im G. I. P. operationalisierten Gegen-Diskurs näher beschrieben wurden. 302 Foucault: „Sur la justice populaire“, p. 345-346. 303 Foucault: L’ordre du discours, p. 20. 304 Ibid., p. 21. 305 Foucault: „Sur la justice populaire“, p. 345-346. 306 Ibid., p. 366. 307 Ibid., p. 368. Modus bestimmter Ausschlussprinzipen funktioniert. 301 Das Gericht ist damit nicht einfach eine legislative Instanz, sondern auch ein symbolischer Repräsen‐ tant des gesellschaftlichen Wertesystems. Anhand der räumlichen Disposition des Gerichtes erläutert Foucault die klare Trennung zwischen den einzelnen, an einem Prozess beteiligten Personen und deren Funktionszuweisung: Une table; derrière cette table, qui les met à distance des deux plaideurs, des tiers qui sont les juges; leur position indique premièrement qu’ils sont neutres par rapport à l’un et à l’autre; deuxièmement cela implique que leur jugement n’est pas déterminé par avance, qu’il va s’établir après enquête par audition des deux parties, en fonction d’une certaine norme de vérité et d’un certain nombre d’idées sur le juste et l’injuste, et, troisièmement, que leur décision aura force d’autorité. 302 Die übergeordnete Stellung des Richters, dessen Urteil sich in einen normativen Wahrheitsdiskurs einschreibt und den Anspruch der Absolutheit vertritt, wird hier von Foucault in ihrer Gültigkeit hinterfragt. In L’ordre du discours kenn‐ zeichnet Foucault die Grenzziehung zwischen dem Wahren und dem Falschen als „volonté de vérité“, als Willen zur Wahrheit, der seit Jahrhunderten den Dis‐ kurs durchdringt und institutionell verankert ist: „Enfin je crois que cette vo‐ lonté de vérité ainsi appuyée sur un support et une distribution institutionnelle, tend à exercer sur les autres discours - je parle toujours de notre société - une sorte de pression et comme un pouvoir de contrainte.“ 303 Dieser Wille zur Wahr‐ heit beherrscht seinem Verständnis nach auch das System der Strafjustiz, „comme si la parole même de la loi ne pouvait plus être autorisée, dans notre société, que par un discours de vérité.“ 304 Foucaults eigener Entwurf einer Ge‐ geninstanz zur etablierten Institution des Gerichts steht unter der Prämisse, dass die Ordnung des Gerichts mit der darin kolportierten „norme de vérité“ 305 gänz‐ lich aufgelöst werden müsse und damit folglich auch die Funktion eines Sub‐ stitutes für das Gericht verliere. Dabei unterscheidet Foucault zwischen dem, was er als „guérilla antijudiciaire“ 306 bezeichnet, und dem eigentlich ange‐ strebten „contre-procès“ 307 . Während sich nämlich hinter dem Schlagwort des antigerichtlichen Guerillakampfes punktuelle, teilweise spontane Aktionen 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 111 308 Vgl. ibid., p. 366-367. 309 Ibid., p. 368-369. gegen Polizei und Justiz verbergen, die von einer Anklage gegen die Polizei über eine Flucht vor der Polizei bis hin zur Verhöhnung des Gerichtes und einer per‐ sönlichen Gegenüberstellung mit einem Richter reichen können, 308 wird das Konzept des Gegenprozesses von der Negation und der Subversion der beste‐ henden Ordnung getragen. Foucault definiert den Gegenprozess in Opposition zu Sartres Volkstribunal: Je dirai pour conclure que la réutilisation d’une forme comme celle du tribunal, avec tout ce qu’elle implique - position tierce du juge, référence à un droit ou une équité, sentence décisive - doit aussi être filtrée par une critique très sévère; et je n’en vois, pour ma part, l’emploi valable que dans le cas où l’on peut, parallèlement à un procès bourgeois, faire un contre-procès qui fasse apparaître comme mensonge la vérité de l’autre et comme abus de pouvoir, ses décisions. 309 Ziel des Gegenprozesses ist in Foucaults Sinne die Entlarvung der bestehenden Wahrheitsnorm als Lüge und der rechtlichen Entscheidungen als Machtmiss‐ brauch. Die durch die Instanz des Gerichtes vermittelte Trennung zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Schuld und Unschuld, zwischen Recht und Un‐ recht, auf der die gesellschaftliche Ordnung fundiert ist, soll mithilfe des Ge‐ genprozesses eine Subversion erfahren. Im Unterschied zu Sartres Kritik an der Interdependenz von Staat und Justiz, basiert Foucaults Kritik am Justizsystem vielmehr auf dem Infragestellen einer gesamten diskursiven Ordnung, die in den gerichtlichen Instanzen und Prozessen zum Ausdruck kommt. Foucaults For‐ derung nach einer Auflösung dichotom strukturierender Kategorien begründet auch die Schaffung des Groupe d’information sur les prisons, wie Foucault mit Bezug auf eine Stellungnahme Jean Genets herausstellt: Je pense que les actions ponctuelles et locales peuvent aller assez loi. Regardez l’action du G. I. P. durant l’année écoulée. Ses interventions ne se proposaient pas comme but ultime que les visites aux prisonniers puissent durer trente minutes ou qu’il y ait des chasses d’eau dans les cellules. Mais d’arriver à ce que le partage social et moral entre innocents et coupables soit lui-même mis en question. […] Notre action, au contraire, ne cherche pas l’âme ou l’homme derrière le condamné, mais à effacer cette frontière profonde entre l’innocence et la culpabilité. C’est la question que posait Genet à propos de la mort du juge de Soledad ou de cet avion détourné par les Palestiniens en Jordanie; les journaux pleuraient sur le juge et sur ces malheureux touristes séquestrés en plein 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 112 310 Michel Foucault: „Par-delà le bien et le mal“ [1971], in: Dits et Écrits. 1954-1988, t. II: 1970-1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 223-236, hier 231. 311 Ibid. 312 Ibid., p. 233. 313 Ibid., p. 231. désert sans raison apparente; Genet, lui, disait: ‚Un juge serait-il innocent, et une dame américaine qui a assez d’argent pour faire du tourisme de cette manière-là? ‘ 310 Unter Rekurs auf Genet untermauert Foucault hier seine Kritik an einem ma‐ nichäischen Gesellschaftsbild und verdeutlicht emblematisch, dass die klare Trennung zwischen Schuld und Unschuld hinterfragt werden muss. In Foucaults Verständnis kann ein Prozess stets nur den institutionell verankerten Wahr‐ heitsdiskurs hervorbringen. Seine Vision eines Gegenprozesses basiert folglich auf der Implementierung einer Gegenwahrheit, welche die Unterscheidung zwi‐ schen Opfer und Täter entsprechend der von Genet geäußerten Vorstellung ins Wanken bringt. Anders als Sartre erhebt Foucault somit nicht den Staat zum absoluten Gegner, sondern er versteht die staatlichen und legislativen Institutionen viel‐ mehr als Basis, um den vorherrschenden Diskurs der Wahrheit zu kontinuieren. Sein Ziel formuliert er als Angriff auf die Institution „jusqu’au point où elle culmine et s’incarne dans une idéologie simple et fondamentale comme les no‐ tions de bien, de mal, d’innocence, de culpabilité.“ 311 Diese ordnenden Kategorien von Gut und Böse, Schuld und Unschuld bezeichnet er auch als „expressions d’un dualisme constitutif de la conscience occidentale.“ 312 Foucault distanziert sich von dem von ihm als humanistisch bezeichneten Ansatz, der alleine den Bewusstseinswandel der Individuen anstrebt, nicht aber die Institutionen ab‐ schaffen will, ebenso wie von dem reformistischen Prinzip, wonach die Institu‐ tionen unter Beibehalt des in ihnen verkörperten ideologischen Systems ver‐ ändert werden sollen. In Abgrenzung zu den von ihm als Humanismus und Reformismus umschriebenen Prinzipien beansprucht er für seinen eigenen, gegen die bestehenden Machtverhältnisse gerichteten Kampf, welcher die De‐ stabilisierung sowohl des Bewusstseins als auch der Institution voraussetzt, den Status einer revolutionären Aktion: Pour simplifier, l’humanisme consiste à vouloir changer le système idéologique sans toucher à l’institution; le réformiste, à changer l’institution sans toucher le système idéologique. L’action révolutionnaire se définit au contraire comme un ébranlement simultané de la conscience et de l’institution; ce qui suppose qu’on s’attaque aux rapports de pouvoir dont elles sont l’instrument, l’armature, l’armure. 313 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 113 314 Jean-Paul Sartre: „Justice et État“ [1972], in: Situations X. Politique et Autobiographie, Paris: Gallimard 1976, pp. 48-74. 315 Ibid., p. 51. Hervorhebung im Original. 316 Ibid. 317 Ibid. 318 Ibid., p. 52. 319 Ibid. 320 Ibid., p. 51. Das Echo auf Foucaults kritisch-theoretische Äußerungen findet sich in Sartres 1972 veröffentlichtem Konferenzbeitrag mit dem programmatischen Titel „Jus‐ tice et État“ 314 . Darin diskutiert er zwar unter Rückbezug auf das Tribunal Russell auch weiterhin die Problematik des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Staat und Justiz, jedoch findet die Forderung nach einer revolutionären, vom Volke ausgehenden Justiz ihre Legitimierung in Auseinandersetzung mit Foucaults Entwurf. Tatsächlich beschreibt Sartre die Volksjustiz mit Bezug auf Foucault als nach dem Prinzip von Schlag und Gegenschlag verfahrendes Modell: „Fou‐ cault […] dit que la justice populaire ne se réclame d’aucun principe absolu: on lui fait un dommage et elle riposte.“ 315 Diese Interpretation unterzieht Sartre je‐ doch einer marxistischen Lesart. So erhalten die Begriffe „dommage“ und „ri‐ poste“ durch ihre Gleichsetzung mit den dem dialektischen Materialismus ent‐ lehnten Gegensatzpaaren der „exploitation“ 316 und des „ensemble des activités qui veulent mettre fin, en ce lieu, en ce temps, en cette conjoncture aux pratiques de l’exploitation“ 317 eine marxistische Konnotation. Dieser marxistischen Tonart wird in der weiteren Argumentation Rechnung getragen, indem zwischen zwei Arten von Justiz unterschieden wird, nämlich der als „codifiée et permanente“ 318 beschriebenen bürgerlichen Justiz, die aufgrund ihrer staatlichen Verankerung die Ausbeutung perpetuiert, und der als „intermittente et sauvage“ 319 bezeich‐ neten Volksjustiz. Erneut erläutert Sartre unter Rekurs auf Foucault die ausbeu‐ terische Eigenschaft der bürgerlichen Justiz: Comme le dit encore Foucault, son rôle depuis le XVIII e siècle a été d’opposer l’une à l’autre deux catégories des masses: les hommes qui sont forcés d’accepter un travail à très bas salaire, et qui ne sont pas condamnables, dans la mesure même où ils acceptent parce qu’ils ne peuvent faire autrement, et qui constitueront le prolétariat, et ceux qui refusent ces conditions de vie et sont par là même condamnables pour délit de vagabondage. 320 Dabei scheint sich Sartre auf eine in der Debatte mit den Maoisten hervorge‐ brachte Stellungnahme Foucaults zu beziehen, mit welcher Foucault seinerseits jedoch die notwendige Abschaffung des Justizsystems begründet: 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 114 321 Foucault: „Sur la justice populaire“, pp. 350-352. 322 Sartre: „Justice et État“, p. 52. 323 Foucault: „Sur la justice populaire“, p. 368-369. 2.3.2 Dans les sociétés comme la nôtre […] l’appareil de justice a été un appareil d’État extrêmement important, dont l’histoire a toujours été masquée. […] Le système pénal a eu pour fonction d’introduire un certain nombre de contradictions au sein des masses et une contradiction majeure qui est celle-ci; opposer les uns aux autres les plébéiens prolétarisés et les plébéiens non prolétarisés. […] Voilà pourquoi la révolution ne peut que passer par l’élimination radicale de l’appareil de justice, et tout ce qui peut rappeler l’appareil pénal […]. 321 Sartre bedient sich der Argumentation Foucaults, um schließlich die Notwen‐ digkeit der von ihm selbst als Volksjustiz bezeichneten und der zum staatlichen Justizsystem alternativ geltenden Form des Rechtswesens zu untermauern. Beide Justizformen stehen in einem Wechselverhältnis zueinander: „[S]i l’on choisit l’une, on sera condamnable par l’autre.“ 322 Trotz Sartres marxistischer Filterung und der daraus resultierenden Umdeutung von Foucaults Stellung‐ nahmen und seines Konzeptes einer Gegenjustiz verbindet beide Philosophen eine Bereitschaft zur Grenzverschiebung zwischen Legalität und Illegalität. Vor Gericht: Zur Problematik der Zeugenaussage In Anbindung an das vorausgegangene Kapitel kann festgehalten werden, dass Foucaults Konzept des ‚contre-procès‘ auf der Vorstellung basiert, den im Ge‐ richtsprozess offenbarten normativen Wahrheitsdiskurs zu destabilisieren und damit die richtende Instanz selbst einer Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, nämlich „faire un contre-procès qui fasse apparaître comme mensonge la vérité de l’autre et comme abus de pouvoir, ses décisions“ 323 , ohne dabei jedoch auf dieselbe in‐ stitutionelle Form zurückzugreifen. Bei Sartre wird diese Thematik unter Be‐ zugnahme auf Foucault als nur eingeschränkt mögliche Wahrheitsfindung vor Gericht rezipiert. So erörtert Sartre in „Justice et État“ die staatliche Abhängig‐ keit des Gerichtes anhand von Foucaults topographischer Analyse des Gerichts‐ saals, wonach der Richter eine hierarchisch übergeordnete Stellung einnimmt und somit seine Neutralität zwangsläufig verlieren müsse: Foucault faisait remarquer que l’analyse topographique d’un tribunal, la chaire qui sépare le président des accusés et des témoins, la différence de niveau qui existe entre l’un et les autres, suffit à marquer que le juge est d’une autre essence. Quelle que soit son impartialité, il traitera ceux qui sont justiciables comme des objets et ne cherchera 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 115 324 Sartre: „Justice et État“, p. 65. 325 Vgl. ibid., p. 65-66. 326 Die Fotografie von Gilles Caron auf dem Einband zeigt die Festnahme von Jean Genet. 327 Vgl. Sartre: „Justice et État“, p. 70. pas à connaître les motivations subjectives de leurs actes telles qu’elles peuvent apparaître à chacun d’entre eux. 324 Auch wenn Sartre Foucaults Überlegung zur räumlichen Disposition im Ge‐ richtssaal nur zitiert, um weiterhin an seinem Ideal eines Volksgerichtes fest‐ zuhalten, das entsprechend seiner Schlussfolgerung eine hierarchisierte Topo‐ graphie ablehne und auch nicht die Form eines eigentlichen Gerichtes annehme, 325 findet hier in Hinblick auf Produktion und Steuerung einer be‐ stimmten Wahrheit eine Öffnung zu Foucault statt. Die vermeintlich unpartei‐ ische Funktion des Richters prädominiert vor Gericht gegenüber Zeugen und Angeklagten derart, dass, so Sartre in obiger Textpassage, aufgrund des unglei‐ chen Machtverhältnisses die eigentliche Motivation des untersuchten Tatvor‐ gangs im Dunklen bleiben müsse. Diesen Zusammenhang der Manipulation von Wahrheit durch den Richter exemplifiziert Sartre im weiteren Verlauf ausführ‐ lich anhand des Prozesses gegen Roland Castro, dem auch Jean Genet als Zeuge beiwohnte. Grund für diesen Prozess war der Zusammenstoß zwischen Polizei und Demonstranten bei der als Protest gegen die schlechten Lebens- und Ar‐ beitsbedingungen der Einwanderer in Frankreich geplanten Besetzung des Centre national du patronat français am 10. Januar 1970, der das Ableben von fünf afrikanischen Immigranten im nördlichen Pariser Vorort Aubervilliers vo‐ rausgegangen war. Alle Demonstranten, darunter unter anderem Jean-Paul Sartre, Jean Genet und Maurice Clavel, wurden festgenommen und zum nächsten Kommissariat gebracht. 326 Roland Castro, Militanter der maoistischen Gruppierung Vive la Révolution ( VLR ), jedoch versuchte auf dem Weg dorthin aus dem Polizeiwagen zu entfliehen und geriet daher in eine tätliche Auseinan‐ dersetzung mit zwei Polizisten, weswegen er sich schließlich vor Gericht ver‐ antworten musste. Sartre bemängelt in seinem Text insbesondere die Dekon‐ textualisierung der Konfrontation zwischen Castro und den Polizisten, die auf diese Weise vom Gericht auf ein Körperverletzungsdelikt gegenüber den Poli‐ zisten reduziert werde und ihre ursprünglich politische Dimension verliere. 327 Seine Kritik richtet sich insbesondere gegen die daraus resultierende Reduktion der Zeugenbefragung auf den Augenblick dieses partikularen Vorfalls, wodurch die eigentliche Wahrheit der Zeugenaussage verloren gehe: 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 116 328 Ibid., p. 70-71. Hervorhebung im Original. 329 Jacques Derrida: „Demeure. Fiction et Témoignage“, in: Michel Lisse (Hrsg.): Passions de la littérature, Paris: Galilée 1996, pp. 13-73, hier 23. 330 Ibid., p. 25. Pourtant, on nous demandait de dire toute la vérité. Mais le juge voulait toute la vérité sur un incident infinitésimal: ces deux hommes étaient-ils en tel endroit? Et nous tous nous ne pouvions comprendre qu’on n’envisage pas l’événement dans sa totalité, c’est-à-dire à partir de la politique du gouvernement et du patronat. Dire toute la vérité sur un instant infinitésimal, c’est une pure contradiction. La vérité se développe dans le temps. Dans un instant borné, limité à lui-même, il n’y a pas de vérité. 328 Indem die Zeugen ihre Aussage auf einen kurzen Augenblick der Handlungs‐ abfolge konzentrieren sollen, muss die Aussage in einen inneren Widerspruch geraten, wie Sartre hier betont. In der Tradition der Rechtsprechung verpflichtet sich der Zeuge, vor Gericht wahrheitsgemäß Zeugnis zu einem bestimmten Vorgang oder Sachverhalt abzulegen, was jedoch nur auf Basis der eigenen sinnlichen Wahrnehmung möglich ist. Aufgrund dieser subjektiv-sinnlichen Perspektivierung des Beobachteten oder Erlebten hält der Zeugenbericht stets auch die Möglichkeit der Fiktion offen, wie Derrida mit Verweis auf die Affinität zwischen Zeugenaussage und Fiktion bzw. Literatur überzeugend darlegt: Dans notre tradition juridique européenne, un témoignage devrait rester étranger à la littérature et surtout, dans la littérature, à ce qui se donne comme fiction, simulation ou simulacre, ce qui n’est pas toute la littérature. Un témoin témoignant, explicitement ou non sous serment, là où sans pouvoir ni devoir prouver, il fait appel à la foi de l’autre en s’engageant à dire la vérité, aucun juge n’acceptera qu’il se décharge ironiquement de sa responsabilité en déclarant ou en insinuant: ce que je vous dis là garde le statut d’une fiction littéraire. Et pourtant, si le testimonial est en droit irréductible au fictionnel, il n’est pas de témoignage qui n’implique structurellement en lui-même la possibilité de la fiction, du simulacre, de la dissimulation, du mensonge et du parjure […]. 329 Diese zwiespältige Essenz der Zeugenaussage, die stets durch die Möglichkeit der Fiktion oder Lüge affiziert bleibt, diskutiert Derrida auch in Bezug auf ihr Zeitgefüge. Ähnlich wie Sartre für den Prozess gegen Roland Castro die vom Gericht gesteuerte Konzentration auf den Moment des Vorfalls konstatiert, be‐ tont auch Derrida die Bedeutung der Momenthaftigkeit für die Zeugenaussage: Il faut être présent soi-même, lever la main, parler à la première personne et au présent, et cela pour témoigner d’un présent, d’un moment indivisible, c’est-à-dire à un certain point d’un moment rassemblé à la pointe d’une instantanéité qui doit résister à la division. 330 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 117 331 Ibid. 332 Vgl. ibid. 333 Foucault: „Sur la justice populaire“, p. 345-346. 334 Vgl. Sartre: „Justice et État“, p. 70. 335 Ibid., p. 71. Diese vom Gericht eingeforderte Fokussierung auf einen unteilbaren Augen‐ blick erweist sich aufgrund der synthetischen Struktur sowie des sinnlichen Erfahrungsgehaltes der Zeugenaussage als ausgeschlossen, denn „[l]a percep‐ tion sensible du témoin - oculaire, auditive, tactile, etc. - doit être une expérience. À ce titre, une synthèse constituante y enchaîne le temps et donc ne se limite pas à l’instant.“ 331 Wie auch Sartre in seinem Text herausstellt, kann sich die Wahrheit innerhalb eines Zeugenberichtes nur in der Zeit entfalten und darf nicht auf einen einzigen Augenblick zurückgeführt werden, der keine Kontex‐ tualisierung mehr zulässt. Das die Zeugenaussage charakterisierende Span‐ nungsverhältnis zwischen persönlichem Bericht und Produkt einer gerichtli‐ chen Zeugenvernehmung führt dazu, auch die Funktion des Zeugen zu hinterfragen. So leitet Derrida den Begriff etymologisch vom lateinischen Wort testis her und betont dabei die Nähe zu terstis, dem Dritten bzw. Außenste‐ henden. 332 Die Funktion des Zeugen als unbeteiligter Dritter determiniert eine herausgehobene Stellung im Prozess, die ihm jedoch in Sartres Verständnis in Anbetracht seines gefilterten Rederechts und der prädominierenden Position des Richters verwehrt bleibt, womit auch die Möglichkeit der Wahrheitsfindung durch die Zeugenaussage relativiert werden muss. Während Foucaults topo‐ graphische Beschreibung des Gerichtes darauf zielt, das Gerichtsurteil als Er‐ gebnis eines Prozesses zu bestimmen, der auf der Anhörung zweier Parteien „en fonction d’une certaine norme de vérité et d’un certain nombre d’idées sur le juste et l’injuste“ 333 beruht, stützt sich Sartres Argumentation weniger auf die absolut geltende Norm der Wahrheit, welche auch die Zeugenaussage unter‐ wirft, denn auf die Kritik an der Rolle des Richters. Sartre sieht die Bedeutung des Zeugen nicht durch die diskursive Ordnung eingeschränkt, sondern durch die personale Besetzung der richtenden Instanz. Deren Neutralität stellt er im konkreten Fall des Prozesses gegen Roland Castro mit dem Vorwurf des Eli‐ tismus in Abrede. 334 Die Repräsentation des Richters als eine abstrakte Instanz, als „juges abstraits“ 335 , dient Sartre lediglich dazu, die Realität von diesem Ideal scharf abzugrenzen. Tatsächlich nämlich wird der Richter als verlängerter Arm der Regierungspolitik wahrgenommen: „Une question qui m’intéresse à titre personnel, c’est celle-ci: à quoi pense le juge quand il condamne? Est-il vraiment abstrait, comme je l’ai dit et ignore-t-il la vérité ou bien s’est-il laissé gagner par 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 118 336 Ibid., p. 72. 337 Ibid., p. 70. 338 Jean Genet: „Français, encore un effort“ [1970], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi dé‐ claré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 37-39. 339 Vgl. zur politischen Orientierung der Zeitung: Christophe Bourseiller: Les Maoïstes. La folle histoire des gardes rouges français, Paris: Seuil 2008; vgl. Gérard Walraevens: „His‐ toire“, in: Fréderic Hallier / Denis Gombert: L’idiot international. Une anthologie, Paris: Albin Michel 2005, p. 50. Die 1969 gegründete Zeitung wird zu diesem Zeitpunkt von Jean-Édern Hallier und ab September 1970 von Simone de Beauvoir herausgegeben und 1972 wieder eingestellt. 340 Vgl. Bourseiller: Les Maoïstes, p. 196. la politique du régime? “ 336 Die durch diese Frage suggerierte fehlende persön‐ liche und sachliche Unabhängigkeit des Richters ist Sartres Argumentation zu‐ folge dafür verantwortlich zu machen, dass der Verteidigung im Prozess gegen Roland Castro keine Möglichkeit gelassen wird, den Tathergang in einen poli‐ tischen Kontext zu fassen: Castro, indigné par la façon dont le patronat français traite les immigrés, occupe indûment un local qui n’est pas sa propriété: voilà le fait qu’un juge élitiste et respectant la propriété pouvait lui reprocher. Alors la défense de Castro eût été politique: il eût exposé et jugé la politique du patronat envers les immigrés. De cela, il n’a pas été question un instant, bien que la plupart des témoins et les avocats brûlassent de poser la défense sur ce terrain. 337 Auch Genets Zeugenaussage vor Gericht verfolgt die Strategie, den politischen Kontext der Vorkommnisse in den Vordergrund zu rücken, wie sein 1970 in der linksradikalen maoistischen Zeitschrift L’Idiot international publizierter Artikel mit dem parodistischen, auf ein Traktat des Marquis de Sade anspielenden Titel „Français, encore un effort“ 338 zeigt. Die Zeitschrift mit dem selbstironischen Titel L’Idiot international vertrat nicht nur die maoistische Strömung der Grup‐ pierung Vive la Révolution ( VLR ), sondern interessierte sich auch gerade für die Themen der gegenkulturellen Bewegung in den USA und lancierte vor allem im Frühjahr 1970 eine Kampagne für die Black Panther Party. 339 Bourseiller zufolge ließ sich Genet 1970 im Rahmen seines Engagements für die Black Panthers hin und wieder von einem Militanten von Vive la Révolution in die USA begleiten, 340 so dass der Austausch mit den Maoisten Genet vor allem bei der Popularisierung der Black Panther Party diente und somit die von Bourseiller als sehr einseitig geschilderte Ausnutzung der Künstler und Intellektuellen durch VLR sowie an‐ dere zahlreiche zumeist maoistische linksradikale Splittergruppen zu politi‐ 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 119 341 Vgl. zum Engagement der Intellektuellen für die Maoisten: Ibid., pp. 216-240. Bour‐ seiller beschreibt hier, dass die Künstler und Intellektuellen von den maoistischen Mi‐ litanten als ‚démocrates‘ bezeichnet wurden, womit eine klare Abgrenzung zwischen ihnen und den Militanten selbst signalisiert wird, aus deren Popularität man Nutzen schlagen wollte. 342 Vgl. Walraevens: „Histoire“, pp. 43-47. 343 Hervé Hamon / Patrick Rotman: Génération. 2. Les années de poudre, Paris: Seuil 1988, p. 128. 344 Auf die Divergenz zu der bei Hamon / Rotman zitierten Aussage hat bereits Albert Dichy in seinen Annotationen verwiesen. Vgl. Dichys entsprechenden Kommentar zu diesem Text in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 338. 345 Genet: „Français, encore un effort“, p. 37. schen Zwecken in Genets Fall nicht vollends zutrifft. 341 Wie Walraevens schil‐ dert, zählte die Immigration neben der Gefängnisproblematik zu den meist behandelten Themen der Zeitung. 342 Der Text „Français, encore un effort“ untergliedert sich in zwei Teile, Genets Zeugenaussage im Prozess gegen Roland Castro und die an Roland Castro ad‐ ressierte Rechtfertigung seiner Zeugenaussage mit einer Beschreibung des Ge‐ richtsprozesses. Genets Aussage vor Gericht bezieht sich ausschließlich auf den Tod der Immigranten und nimmt die Form einer Gegenklage an. So berichten Hamon / Rotman, dass Genet seine Rede mit den Worten beginnt: „On cherchait l’assassin d’Aubervilliers […], on l’a retrouvé, il est ici, dans le box.“ 343 Anders als im Nachdruck seiner Aussage, die mit einer Polemik gegen die französische Arbeitgeberschaft beginnt, 344 betont Genet im situationsbedingten Kontext vor Gericht das Paradox des Prozesses, der nicht etwa gegen die französischen Un‐ ternehmer geführt wird, sondern gegen einen Demonstranten. In der wider‐ sprüchlichen Funktion einer Art Erkennungszeuge agierend, ironisiert Genet hier die Anklage gegen Roland Castro und designiert implizit einen anderen Angeklagten, nämlich die Arbeitgeberschaft und mithin das gesamte System. So bezeugt Genet das tägliche Sterben zumeist afrikanischer Einwanderer, welche von ihren eigenen Ländern an französische Unternehmen wie Citroën oder Simca sowie an die Bergwerke und Fabriken als Arbeitskräfte verkauft werden: Et, sans doute, les patrons n’ont pas à se gêner, l’Afrique francophone c’est le réservoir, à peu près inépuisable, de main-d’œuvre pour Citroën, Simca, les mines et les usines. Les gouvernements africains vendent au gouvernement français du biceps, et il en reste là-bas beaucoup d’inemployé. 345 Subha Xavier interpretiert diese Textstelle eindrücklich in Anlehnung an Homi Bhabhas These der partial presence als Kritik an der Reduktion des Subjektes auf seine Funktion als Arbeitskraft, wobei jedoch ihre Argumentation, dass es Genet 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 120 346 Vgl. Subha Xavier: „Le désir militant: Genet, Ben Jelloun et la défense des immigrés“, in: Ralph Heyndels (Hrsg.): Les passions de Jean Genet. Esthétique, poétique et politique du désir, Fasano / Paris: Schena Editore / Alain Baudry 2010, pp. 109-116, hier v. a. 111. 347 Vgl. Genet: „Français, encore un effort“, p. 37. 348 Ibid. 349 Ibid., p. 38. wie auch Tahar Ben Jelloun im Unterschied zu Sartre oder Foucault bei ihrem Engagement für die Immigranten um die Affirmation deren sexueller Identität und damit ihrer Integrität als Individuum gegangen sei, in diesem Kontext ver‐ kürzend erscheint. 346 Genet betont im weiteren Verlauf nämlich die Verantwor‐ tung der Arbeitgeber und der Regierung für das Schicksal der Arbeiter, deren Tod nicht etwa eine Zufallserscheinung sei, sondern ein organisiertes Verbre‐ chen. 347 In Bezug auf seine eigene Rolle behauptet Genet zudem die Position als Gegenkläger und unterstreicht die Bedeutung der Zeugen dieser Morde, die zur Aufklärung der Hintergründe dienen. Dadurch wird die Existenz zweier Fronten vor Gericht untermauert: „De plus en plus, ceux qui les [les ouvriers, S. I.] tuent après les avoir utilisés, diront que nous sommes vraiment des gens de mauvais goût. Ils le diront, mais nous, nous redirons les morts.“ 348 Ähnlich wie Sartre problematisiert folglich auch Genet die vom Gericht ge‐ steuerte Dekontextualisierung der Vorkommnisse im Prozess gegen Roland Castro und wirkt ihr durch eine gegnerische Klage entgegen. In seinem nach‐ folgenden Text für Roland Castro „À Roland Castro et à ses camarades“ expliziert Genet diesen Zweifrontenkrieg mit Bezug auf die Situation im Gerichtssaal. Genet beschreibt den Gerichtsprozess als allmähliches Verschwinden des Ge‐ richtes und damit symbolisch der gesamten Justiz: [N]ous nous sommes trouvés tout à coup devant ce qui n’était plus visible, devant ce qui reculait, reculait à perte de vue, et il fallait que je me tienne ferme à la barre, que je me penche en avant presque à tomber, que je plisse les paupières, que je tende mon esprit pour être bien sûr de voir dans son immobilité ce tribunal tout entier - où seules la table et les lampes étaient encore en relief - ces trois figures qui s’en allaient non parce qu’elles filaient à toutes pompes, emportées, vertigineusement dans l’oubli par leurs propres lignes de fuite. Nous, on restait au bord et je me demande au bord de quoi, si ce n’est tout simplement ,à l’autre bord‘. 349 Der hier von Genet als Rückzug des Gerichtes aus dem optischen Blickfeld be‐ schriebene Prozess gleicht dem Verschwinden eines Schiffes am Horizont und verdeutlicht das Kräfteverhältnis zwischen staatlichem System und militanter Gegenkraft. Genets Bild evoziert, dass durch die Präsenz der militanten Agita‐ toren das System aus dem Gleichgewicht gebracht und zum Rückzug gezwungen wird: „Nous l’avons vu hier, cette Justice, reculer, reculer, reculer toujours - elle 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 121 350 Ibid., p. 39. 351 Ibid., p. 38. 352 Ibid. 353 Ibid. 354 Sade: La Philosophie dans le Boudoir, ou Les instituteurs immoraux, in: Œuvres, t. III, édition établie par Michel Delon, avec la collaboration de Jean Deprun, Paris: Gallimard 1998 [Bibliothèque de la Pléiade]. „Français, encore un effort si vous voulez être répu‐ blicains“ ist in den fünften Dialog integriert, pp. 110-153. est peut-être plus lointaine aujourd’hui - parce que vous êtes davantage pré‐ sents.“ 350 Diese Konfrontation zwischen den beiden durch Gericht einerseits und militante Agitatoren andererseits repräsentierten, unvereinbaren Positionen begründet Genets Entscheidung, keine Aussage zu Roland Castro oder dessen Fluchtversuch zu machen: „Tu n’attendais pas de moi les mots habituels capables de te restituer intact à une société qui se tendait déjà vers toi. Je n’ai rien dit puisqu’on ne peut rien dire de vrai à un tribunal sur un agitateur […].“ 351 Wie auch Sartre bestreitet nämlich Genet hier die Möglichkeit der Wahrheitsfindung durch die richtende Instanz. Genet betrachtet das Gericht in seiner Rolle als Kern des Justizapparates als morbide Institution veralteter Strukturen, die auf einem ebenso brüchigen Wertesystem basieren, und verleiht seiner Kritik durch einen Verweis auf Sade einen satirischen Unterton: „Le palais de Justice, je le connais: l’édifice est creux, les formules sont vétustes, les cariatides sont foutues, et je pensais à la phrase de Sade: ‚Français, encore un effort! ‘“ 352 Die in der Rechts‐ ordnung verankerten und tradierten Wertvorstellungen fundieren eine einsei‐ tige Beurteilung des Vergehens und werden von Genet in Form einer Auflistung offenbar imaginierter Kommentare zur Person Roland Castros zum Ausdruck gebracht: ‚Il a un idéal‘, disait la figure centrale. ‚Il est honnête‘, disait-elle encore. ‚Il n’a jamais été condamné.‘ ‚Il sera père de famille.‘ ‚Il est si bon fils.‘ 353 Diese Aufzählung möglicher entlastender Zeugenaussagen aus der Perspektive der für das Gericht geltenden Werte und Normen reproduziert in ironischer Weise den Wahrheitsdiskurs des Gerichtes, der einer bürgerlichen Moralvor‐ stellung unterliegt. Die Referenz auf den von Sade in La Philosophie dans le Bou‐ doir, ou Les instituteurs immoraux  354 von 1795 integrierten Exkurs mit dem Titel „Français, encore un effort, si vous voulez être républicains“ untermauert diesen Konnex von Gesetzen und dem vorherrschenden Wertesystem und knüpft zudem an Sades parodistische Kommentierung der politischen Aktualität an. 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 122 355 Ibid., p. 121. 356 Ibid., p. 125. 357 Genet: „Français, encore un effort“, p. 39. Sades Traktat nimmt innerhalb des Werks die Funktion einer erzieherischen Broschüre ein, welche das Ideal des neuen republikanischen Bürgers abbildet. In den beiden Unterkapiteln „La religion“ und „Les mœurs“ beschreibt Sade, welcher Werte sich der Bürger entledigen müsse, um eine tatsächliche Republik zu begründen, und untermauert die Abhängigkeit der Gesetze von den morali‐ schen Werten: „[…] ce sont les mœurs qui vont servir de motifs aux lois qu’on va promulguer.“ 355 In den Ausführungen über die Sitten stellt Sade dann jene Gesetze infrage, welche Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, wie etwa Ruf‐ mord, Diebstahl, Unsittlichkeit und Mord, ahnden: „Toutes ces actions consi‐ dérées comme capitales dans un gouvernement monarchique, sont-elles aussi graves dans un État républicain? “ 356 Durch sein Sade-Zitat prangert Genet nicht nur die überholten Wertvorstellungen an, die im veralteten Justizpalast und den vor Gericht verwendeten Formeln symbolisch zum Ausdruck kommen, sondern positioniert sich auch als Gegner der auf Basis einer überholten Moral instau‐ rierten Gesetzgebung. Die appellierende Formulierung „Français, encore un ef‐ fort“ liest sich somit als eine Aufforderung, die Angemessenheit der bestehenden Gesetzgebung anzuzweifeln. Durch seine ironische Darstellung entlarvt Genet den Prozess und die Hal‐ tung von Justiz und Regierung als Farce. Seine Kritik an der parteiischen Haltung des Richters und des Staatsanwaltes kommt besonders prononciert in der letzten Passage seines Artikels zum Ausdruck, welche deren zensierende und wider‐ sprüchliche Vorgehensweise beleuchtet und den Staatsanwalt gleichsam als po‐ tentiellen Mörder an den Immigranten verdächtigt: Après les témoins - qui tous n’ont pu présenter que des moignons de témoignages, parce que le juge content nous menaçait - le substitut a pu parler longtemps sans que personne ne l’interrompe. Et qu’est-ce qu’il disait: que le gouvernement français (qu’il représente) s’en occupe, des travailleurs immigrés, et que parler de leurs morts et de leurs bidonvilles c’est choisir un bon terrain. Tu entends bien: un bon terrain pour les bidonvilles et pour les morts de Thiais! Celui-là aussi il court des risques, à cause de ses métaphores qui le révèlent. 357 Anders als Foucault oder Sartre theoretisiert Genet nicht die Bedeutung eines alternativen Justizsystems, sondern praktiziert im Prozess gegen Roland Castro aus der Position des Zeugen heraus eine Form von Gegenprozess in Foucaults Sinne. Die Fundamente der Rechtsprechung werden dabei als veraltetes, brüchi‐ ges sowie auch lügnerisches Wertesystem entlarvt, dem es sich zu entziehen gilt. Die Wahrheitsfindung im Strafprozess muss diesem Verständnis nach den 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 123 358 Genet: La Sentence. 359 Allen Ginsberg: Airplane Dreams: Compositions from Journals, San Francisco: City Lights 1969. 360 Genet: La Sentence, p. 30. 2.3.3 bestehenden Werten unterworfen bleiben, so dass die strafrechtliche Aufklä‐ rung eines Vergehens, insofern es von einem Gegner dieser Ordnung begangen wurde, nur einseitig sein kann. Die Gegenklage wird somit auf einer eigenen Auffassung von Wahrheit begründet, welche das Täter-Opfer-Verhältnis desta‐ bilisiert und die Zuweisung von Schuld und Unschuld umkehrt. «La Sentence» - Genets Kritik an der Rechtsprechung Genets Kritik an der Rechtsstaatlichkeit zeigt sich insbesondere in seinen Re‐ flexionen über die Bedeutung des Urteilsspruchs, welche besonders prägnant in dem 2010 posthum mit dem Titel La Sentence  358 veröffentlichten Manuskript zum Ausdruck kommen. Dem vorangestellten avertissement zufolge reichte Genet seine Niederschrift dieses Textes Mitte der 1970er Jahre bei Gallimard ein, jedoch wurde er zu Lebzeiten nie im Ganzen publiziert. Nur einzelne Textpas‐ sagen übernimmt der Autor in seinem letzten Roman Un captif amoureux. Durch die Beschreibung seiner Reise nach Fernost 1967-1968, welche die Funktion einer Rahmenerzählung einnimmt, wirkt dieser Text wie Genets Va‐ riante von Allen Ginsbergs Airplane Dreams: Compositions from Journals  359 , wie in Kapitel 3.2.3 näher beleuchtet werden soll. Während seines als Flucht aus und vor dem Okzident dargestellten Fluges nehmen die Reflexionen über das als Fundament des Gesellschaftssystems evozierte westliche Rechtssystem ihren Lauf: „[F]uir l’Occident, c’est la rêverie qui entraînait mon avion vers le Japon où fuir le dieu des Juifs, échapper à sa vengeance ou à sa justice et au paraphe que je ne cesse de tracer autour du lieu où la sentence fut prononcée.“ 360 Wie in diesem Zitat angedeutet wird, beschreibt Genet die Verquickung von Religion und Rechtssystem, die bereits in seiner Referenz auf Sade in „Français, encore un effort“ implizit angelegt ist. Die eigentümliche Struktur in La Sentence un‐ tergliedert den Text auf den ersten Seiten in einen Fließtext sowie in einen ty‐ pographisch rot abgesetzten und um den Fließtext angeordneten Text, der wie eine Annotation wirkt, jedoch scheinbar einen inhaltlichen Bruch konstituiert. In diesem rot gedruckten Text beginnt Genet auf der ersten Seite seines Manu‐ skriptes mit einer Enumeration von Funktionen und Eigenschaften, die Gott parodistisch charakterisieren, um dann die Durchsetzung des monotheistischen, christlichen Glaubens als Kampf mit den Göttern des Olymp darzustellen, der 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 124 361 Ibid., p. 10. 362 Als Zeuge nimmt beispielsweise Allen Ginsberg am Prozess teil, ein Aspekt, der im nachfolgenden Kapitel im Kontext der Demonstrationen in Chicago 1968 Erwähnung findet (Kapitel 3.1.3). 363 Genet: La Sentence, p. 12. in einer perfekten Zusammenarbeit mündet, nämlich der Adaptation des römi‐ schen Rechts: Il y eut certainement une rixe entre les dieux de l’Olympe et celui des plafonds d’église, rixe, bagarre, étripages, engueulades, car ces dieux disposent d’un armement plus terrible que celui de l’Amérique affrontant l’URSS au-dessus et au-dedans du Vietnam, rixe, bagarre, sang versé, alliance enfin et confusion, et puis, parfaite collaboration: le monde occidental enamouré d’une divinité bédouine qui nous impose sa loi en utilisant les arguties du code romain. 361 Die hier verbildlichte Verwurzelung der Rechtsordnung im christlichen Glauben wird von Genet anhand zahlreicher sarkastischer Beispiele als Verquickung von religiöser und rechtlich verankerter Moralverstellung verdeutlicht. Exempla‐ risch zu zitieren ist der als Chicago Seven bekannt gewordene Prozess gegen sieben politische Aktivisten, welche die Proteste und Demonstrationen während des Parteitages der Demokraten 1968 in Chicago organisiert und initiiert hatten. 362 Der ursprünglich achte Aktivist Bobby Seale, damaliger Präsident der Black Panther Party, wurde von Richter Julius Hoffmann bereits kurz nach Pro‐ zessbeginn wegen Missachtung des Gerichts vom Prozess ausgeschlossen und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Diesen Ausschluss, den Genet ironisch als Zeichen Gottes an die weiße Gesellschaft bewertet, begründet er unter Bezug‐ nahme auf die religiös-mythische Bedeutung der Zahl Sieben, welche er zu‐ nächst anhand einer umfangreichen Auflistung veranschaulicht und schließlich als rassistisch bezeichnet: Un procès aura lieu à Chicago. Sept Américains blancs révolutionnaires et un Noir comparaîtront devant un juge blanc. Les Blancs seront mis en liberté. Leur procès portera le titre ‚les sept de Chicago‘. Avec la sûre répulsion que possèdent les Blancs, ils sauront rejeter du groupe le Noir qui en faisait partie, le chiffre sacré étant raciste. 363 Drastischer noch schildert Genet die religiöse Fundiertheit des Ausschlusses vermittels eines Zitates aus einem von ihm als verlorenes Evangelium imagi‐ nierten Text, indem der Ausschluss mit dem Ausreißen eines Zahnes verglichen wird: „‚Qu’on l’arrache comme une dent gâtée, et vous aurez les ‚sept de Chi‐ 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 125 364 Ibid. 365 Ibid., p. 20. 366 Mathias Schmoeckel: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozess- und Beweisrechts seit dem hohen Mittel‐ alter, Köln: Böhlau 2000, p. 187. 367 Ibid., p. 237. 368 Ibid., p. 105-106. cago‘‘ (fragment retrouvé d’un Évangile perdu).“ 364 Der Schuldspruch unterliegt nicht nur einer christlich-religiösen Moralvorstellung, sondern wird von Genet seinem historischen Ursprung nach zudem als Ziel der Foltertechnik be‐ schrieben. Die Funktion der Folter sei in einem ersten Schritt das Erzwingen eines Geständnisses und in einem zweiten Schritt die Sanktionierung durch den Urteilsspruch, so Genet in nachfolgender Textpassage: Parlons des instruments de torture. Ils avaient une fonction: torturer, provoquer l’aveu; mais encore celle-ci: être définis par des mots qui ne sont pas seulement descriptifs mais porteurs d’une condamnation sur fond de nuit, et dont les juges, gardes des biens, vont s’emparer. […] Reprenez le problème de la torture d’où sont nées les sentences: les instruments sont encore amassés dans un musée surveillé par la police. Si la torture instrumentale fut à l’origine de la sentence prononcée, culotté ou non, le condamné aura collaboré avec les juges. 365 Die Darstellung der Folter als Geburtsstunde des rechtlichen Verdiktes dient Genet dazu, die Entwicklung der Gerichtsbarkeit nachzuzeichnen, wie auch sein Rekurs auf das namentlich nicht benannte Musée de la Conciergerie in Paris un‐ terstreicht. Genet bezieht sich dabei implizit auf das Beweisrecht im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, welches mit Schmoeckel als „juristischer Rahmen der Folter“ 366 bezeichnet werden kann. Denn, so Schmoeckel, zur Verurteilung des Angeklagten musste entweder dessen Geständnis vorliegen oder die Beweislage eindeutig sein, so dass das Geständnis zum wichtigsten Beweismittel avancierte und „mit der Bedeutung des Geständnisses wuchs auch die der Folter“ 367 . Schmoeckel zeichnet auch die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Folter‐ praxis nach, die erst im Zuge der Aufklärung durch die Hinwendung zur Ver‐ dachtsstrafe abgelöst werden sollte: Geht man […] davon aus, dass die Folter nach der Antike bekannt blieb und weiter praktiziert wurde, so sind die Spuren von Folterregelungen im neuen Jahrtausend nicht unbedingt Hinweise auf eine neue Rezeption des römischen Rechts. Ebenso notwendig sind sie mit dem Inquisitionsprozess verbunden. Unstreitig aber hat die Rezeption des römischen Rechts, vor allem des kanonischen Verfahrensrechts zu einer stärkeren Hinwendung auf dieses Beweismittel geführt, zumal die Kirche immer ge‐ schlossener den Ordalen ablehnend gegenüber stand. Wer auf Ordale verzichten wollte, musste stärker die Wahrheitsfindung durch Folter ins Auge fassen. 368 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 126 369 Michel Foucault: Théories et institutions pénales. Cours au Collège de France (1971-1972), édition établie sous la direction de François Ewald et Alessandro Fontana, par Ber‐ nard E. Harcourt avec la collaboration de Elisabetta Basso (transcription du texte), Claude-Olivier Doron (notes et appareil critique), et le concours de Daniel Defert, Paris: Seuil / Gallimard 2015, p. 205-206. 370 Ibid., p. 207. 371 Ibid. Wie die 2015 veröffentlichten Vorlesungen von Michel Foucault am Collège de France von 1971-1972 zeigen, beschäftigte sich auch Foucault mit dem Zusam‐ menhang von Folter, Geständnis und Verurteilung. Dabei legt er dar, wie sich durch die wachsende Bedeutung des Geständnisses und der Zeugenaussage für das Beweisrecht der Wahrheitsdiskurs im System der Strafjustiz und damit die Wahrheitsfindung im Strafprozess durchsetzt. In Abgrenzung zum altgermani‐ schen Brauch des Wettkampfes um das Recht untermauert Foucault eine auf dem Willen zur Wahrheit fundierte Diskursordnung der Strafjustiz: La procédure a pour but: - de faire dire ce qui se sait - d’ajuster ce que les uns et les autres disent - de permettre au juge de décider qui dit vrai. La nouvelle procédure déplace entièrement les fonctions du discours: - non plus jeu, joute, épreuve - mais découverte d’une vérité. Le discours n’est plus le lieu des ruses, des pièges, des erreurs, des oublis; c’est le lieu où la vérité volontairement ou involontairement se dit. 369 Die Folter als Mittel des Beweisrechts wird bei Foucault als „duel avec le repré‐ sentant du pouvoir“ aufgefasst, denn „[s]i l’accusé a supporté la torture, l’autre ne peut pas appliquer la peine entière - en un sens, le juge a perdu.“ 370 Foucault betont dabei den religiösen Aspekt des Geständnisses: „En termes religieux: n’est-ce pas le démon qui donne la force de supporter? Et en forçant quelqu’un à avouer, ne l’aide-t-on pas à faire son salut? “ 371 Während Foucault das Verhältnis von Folter und Urteil über das Motiv der Wahrheit erläutert, betrachtet Genet die Folterinstrumente als Symbole und Mahnmal der historischen Ursprünge des Rechtsstaates. Die Verwurzelung des Urteilsspruchs in der Erpressung von Geständnissen durch Folter wird bei Genet in La Sentence ein weiteres Mal im Kontext der christlichen Liturgie thematisiert, wodurch er auf den historischen Zusammenhang von göttlichem und weltlichem Richten hinweist. Erneut be‐ schreibt Genet zunächst die Präsentation der Folterwerkzeuge innerhalb der 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 127 372 Genet: La Sentence, p. 24. 373 Ibid. Hervorhebung im Original. 374 Ibid., p. 18. „Chambres du Palais“, um die gegenwärtige Rechtsprechung historisch aus der Folterpraxis herzuleiten: La sentence sera prononcée en un lieu où seront reposés tous les moyens de torture, tout ce qui nourrit la question. Mais qu’il ne devienne pas ornement ou parodie l’outillage dont on se servait pour parvenir à la justice: il sera mis en relief dans les Chambres du Palais car il faut que les magistrats et les accusés sachent à tout moment dans quelles tenailles est passée la question posée, quel chemin parcouru dans le temps et non dans l’espace pour que la sentence soit énoncée en termes clairs mais fragiles, reposant sur les pouvoirs antérieurs de la roue, du brodequin, du marteau, de la barre de fer, du plomb fondu, du crucifix truqué qui saigne d’abord goutte à goutte son divin sang et se met à hurler. 372 Genet fordert von Richtern und Angeklagten ein, sich dieser historischen Ent‐ wicklung des Urteilsspruchs bewusst zu werden. Das Urteil vergleicht er dann mit dem gregorianischen Choral als gesungenem Wort Gottes. Denn durch diesen einstimmigen, enigmatischen Sprechgesang knüpfe der Gläubige an die frühe Liturgie der Kirche an und verzichte auf die Verwendung klarer Formeln: [L]e fidèle est alors rattaché aux premières liturgies, il fonde à nouveau l’Église sur autre chose que les formules claires, grâce à la mélopée sur quatre notes, énigmatiques, venues de loin, déformant assez les syllabes latines afin que dans l’incohérence et le doute sourde la foi. 373 Der Vergleich zwischen Verdikt und gregorianischem Gesang basiert dabei vor allem auf der Tradierung unpräziser und inkohärenter Formeln, die in beiden Fällen auf archaische Rituale zurückgehen. Genet kritisiert die mangelnde Prä‐ zision der Richter, die das Recht unsichtbar und irrational erscheinen lassen: Que le droit en soit arrivé à ce qu’il est: murmure à peine audible de ce que furent délires fastueux, acceptés comme éclaboussure du hasard, le droit, résidu d’un délire à peine audible, n’est pas la raison. Fatigué, lassé, exténué, de plus en plus imprécis, le tribunal doit savoir que cette imprécision, cette presque invisibilité ne sont pas la raison. 374 Der Urteilsspruch wird somit auch auf sprachlicher Ebene reflektiert. Neben dem Vorwurf des Archaismus wendet sich Genet der sprachlichen Produktion des Urteils in einem satirischen Bild zu, das Montesquieus Konzept des Richters als bouche de la loi zu parodieren scheint. Montesquieus Metapher aus seinem 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 128 375 Montesquieu: De l’esprit des lois, présentation par Jean-François Mattéi, Paris: Flam‐ marion 2008. 376 Ibid., p. 252 [livre XI, chapitre VI]. 377 Genet: La Sentence, p. 28. 378 Ibid. 379 Ibid. 380 Ibid. Traktat De l’esprit des lois  375 von 1748 kennzeichnet den Richter als ausführende Instanz, die keine Gesetze schafft, sondern lediglich vorträgt: „Mais les juges de la nation ne sont […] que la bouche qui prononce les paroles de la loi; des êtres inanimés qui n’en peuvent modérer ni la force, ni la rigueur.“ 376 In Genets Text wird diese Eigenschaft in dem homonym verwendeten Ausdruck des „palais de justice“ veranschaulicht, der sowohl den Justizpalast als auch den ‚Gaumen der Justiz‘ bezeichnet. Tatsächlich reflektiert er die Produktion des Verdiktes als Sprechakt ausgehend von der Mundhöhle der Richter: „Parlons des bouches qui prononcent la sentence, d’abord les dents et les langues.“ 377 Das Gebiss der Richter beschreibt Genet als mithilfe der Zähne kongolesischer Jugendlicher künstlich hergestellte Prothese: Il existe ici et ailleurs certaines officines dont la fonction est de construire des palais entiers, qu’on pourrait nommer palais de Justice puisqu’ils sont destinés aux magistrats édentés chargés de rendre, de vomir la justice. Pour de telles prothèses, les spécialistes ont besoin des dents (molaires, canines, incisives) de jeunes gens dont la denture est saine: qu’on ne compte pas trop sur nos ruraux mais plutôt sur des Congolais âgés de quinze à vingt ans. 378 Das mechanische Prinzip des künstlichen Gebisses vergleicht er schließlich mit der Funktion einer zuschnappenden Raubtierfalle, „un mécanisme presque mé‐ diéval, en tout cas bruyant“ 379 , wodurch ein die Verkündung des Urteils übertö‐ nendes Geräusch produziert wird. Die palatale Lautbildung wird durch den An‐ schlag der Zunge an eine rostbeständige Metall- oder bei neueren Modellen eine Plastikplatte in der oberen Mundhöhle erzeugt, wie Genet im Weiteren erläutert: „Le palais proprement dit, l’emplacement supérieur où bute la langue pour pro‐ noncer certaines palatales, c’était jusqu’à ces derniers temps une plaque de métal inoxydable, mais les matières plastiques sont à la mode quand la gueule du juge est invariable.“ 380 Während die Beschreibung der Richter als neutrale Instanzen, die dem präexistenten Gesetz lediglich selbsttätig zur Ausführung gereichen, bei Montesquieu als aufklärerisches Ideal einer Gewaltenteilung zwischen Legislative, Ju‐ dikative und Exekutive zu interpretieren ist, synthetisiert sich in Genets Bild die 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 129 381 Ibid., p. 22. 382 Ibid., p. 26. 383 Ibid. Kritik an einem überkommenen Rechtssystem, dessen Geist in einem mechani‐ sierten Sprechakt zum Ausdruck kommt. In Genets Interpretation des Aus‐ drucks „palais de justice“ überschneiden sich die Bilder des Justizpalastes als monumentales Gebäude, „un monument orgueil de la nation, de la ville, du chef-lieu de canton“ 381 und Sinnbild der Rechtsprechung einerseits und des ‚Gaumens der Justiz‘ als unvollständig ausgebildeter und fauliger Rachenraum andererseits, wodurch der Justizapparat mit einem maroden und im Zerfall be‐ findlichen System assoziiert wird. Der Akt der Urteilsverkündung selbst, in dem die Rechtsprechung kulminiert, kann aufgrund des defizitären Kiefers nur ver‐ mittels eines künstlichen Hilfsmittels erfolgen, welches das Verdikt zusätzlich klanglich deformiert, so dass ähnlich wie bei Genets Vergleich mit dem grego‐ rianischen Choral die Undeutlichkeit und mangelnde Präzision im Vordergrund stehen. Diese Assoziation des Justizpalastes als baukünstlerisches Gebilde mit der sprachlichen Architektur des Gerichtsurteils subsumiert Genet an anderer Stelle unter dem Begriff der „rhétorique phallique“ 382 , der phallischen Rhetorik: [L’]arc de Triomphe […], la cathédrale de Chartres, Versailles, des palais de justice de Paris, Rome, Bruxelles, tous les palais de justice d’Europe, des archives, des chambres de commerce, toute cette rhétorique phallique qui veut convier le monde, monuments et institutions dressés, durement dressés […]. 383 Beispielhaft zitiert Genet neben den europäischen Justizpalästen auch den Tri‐ umphbogen, die Kathedrale von Chartres sowie die königliche Residenz in Ver‐ sailles, die in seinem Verständnis emblematisch die Macht in ihrer Phallokratie repräsentieren und Ausdruck einer patriarchalischen Rhetorik sind. Ihre Mo‐ numentalität und der ihnen innewohnende Glanz vergangener Ehrungen und Triumphe verbergen den tatsächlichen Zerfalls- und Alterungsprozess eines Gesellschaftssystems, dessen Rechtsordnung Spiegel einer archaischen Will‐ kürherrschaft ist. Die Willkür der Rechtsprechung wird von Genet metapho‐ risch anhand eines Würfelspiels versinnbildlicht: Avant de chercher dans le code, du doigt et de l’œil, une sentence vite annoncée que le condamné devra parapher durant sa peine, les magistrats et les avocats ont proféré d’insaisissables vilenies, leurs bras ont dessiné des gestes immensément grandioses, moins aigus que les doigts des mains immobiles […] les mains nerveuses des joueurs énervés, immobilisées au-dessus des tables de jeu où elles ont craché les dés qui 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 130 384 Ibid., p. 24. 385 Ibid., p. 26. 386 Genet: „Introduction à Les Frères de Soledad“, p. 64. 387 Ibid. Hervorhebung im Original. rebondissent et se figent pour indiquer une sentence sans originalité car ce qu’on joue est infime dans les cafés de Tanger. 384 Genet präsentiert den Schuldspruch hier als Glücksspiel und betont die Zufäl‐ ligkeit, mit der ein Urteil gefällt wird. Die kafkaeske Syntax bildet auf sprach‐ licher Ebene den langen Vorlauf ab, mit dem die Würfel zu Fall kommen und das Verdikt sich letztlich herauskristallisiert. Dieses Bild durchzieht den Text als wiederkehrendes Leitmotiv und dient Genet auch dazu, den Blickpunkt auf die dürren, verbrauchten Hände der Richter zu lenken, jene „mains maigres, cassées, allégées [qui] égrènent des sentences nulles“ 385 , und somit deren Alterungspro‐ zess und im übertragenen Sinne die Überkommenheit der Rechtsordnung zu veranschaulichen. In seinem Vorwort zu George Jacksons Gefängnisbriefen reflektiert Genet jenen Aspekt der Zufälligkeit des gesprochenen Urteils in Hinblick auf den transformativen Prozess, demzufolge die Straftat eines Individuums in eine Sanktion umgerechnet und verwandelt wird. Diesen Prozess beschreibt Genet als „une très curieuse opération“ 386 : Les juges devront prononcer une condamnation, une sentence, un verdict. Soit: la mort, la prison à vie, ou à temps. Quelle est donc cette opération intellectuelle qui transforme un acte simple (un meurtre, s’il eut lieu) en quelque chose de tout à fait différent: une autre mort, ou la prison à vie ou à temps? Comment se trouvent reliés ces deux faits: le meurtre primordial et hypothétique et la sentence prononcée, personne ne le sachant, personne ne l’a encore dit. C’est que les tribunaux, qu’ils soient en Amérique ou ailleurs, sont des tribunaux d’autorité, d’une autorité fruste qui s’accommode très bien de l’arbitraire. […] Le meurtrier meurt à son tour, ou vit, pendant trente ans dans une cellule afin de justifier une sentence prononcée. 387 Die Kursivierung des Wortes „prononcée“ betont die sprachliche Realisierung des Gerichtsurteils und verdeutlicht damit das Spannungsverhältnis zwischen dem ausgesprochenen Verdikt, mit dem das von Genet als autoritär und abge‐ nutzt charakterisierte Gericht das Strafmaß festlegt, und der tatsächlich zu ver‐ büßenden Strafe. Der operative Vorgang, durch den die hypothetische Straftat durch eine Strafe sanktioniert wird, wird vermittels des gesprochenen Wortes festgesetzt und hat bei Genet gerade aufgrund der Verbalisierung einen will‐ kürlichen Charakter, so dass die Strafe an den staatlichen Interessen ausge‐ richtet bleiben muss. In ihrer Funktion als bouche de la loi - bzw. um Genets 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 131 388 Genet: La Sentence, p. 28. 389 Ibid., p. 24. 390 Ibid., p. 24-26. 391 Ibid., p. 26. 392 Ibid. Formulierung aufzugreifen als „bouches qui prononcent la sentence“ 388 - kommt den Richtern damit folglich nicht nur eine rein ausführende Tätigkeit zu wie in Montesquieus Vorstellung, sondern sie determinieren maßgeblich die Gerichts‐ barkeit. Mithilfe einer Rhetorik, die sich aus den Paragraphen und Formeln in „faux latin, français archaïque“ 389 eines Gesetzes zusammensetzt, das die Regeln eines retrograd orientierten Systems kolportiert, wird die Grenze zwischen feh‐ lerhaftem und regelrechtem Verhalten festgelegt. Ähnlich wie auch Foucault reflektiert Genet die Bedeutung des Verbotes und der durch die gesetzliche Ordnung fixierten Trennung zwischen Schuld und Unschuld: L’ordre qui légifère, décrète, éduque, ordonne est responsable, que quelqu’un vienne à faillir, qui est coupable? Les interdits sont assez faciles à imposer, mais les peines? La nature des peines, leur gradation? L’interdit on le découvre: il peut surgir n’importe où, n’importe quand, la force l’impose, mais si quelqu’un le transgresse, que s’est-il passé, quelle sera la sentence, par qui prononcée, écrite par qui? Qui est coupable? A une vue courte celui qui a transgressé l’interdit. [P]our un œil plus aigu l’ordre, qui n’a pas su mettre au point le code où le crime est impossible, est criminel. 390 Während das Verbot leicht festgesetzt werden kann, bewertet Genet das Strafmaß als problematisch. Er hinterfragt vor allem, wer die Verantwortung für die Transgression des Gesetzes trägt, und kommt zu dem ironischen Schluss, dass die Ordnung sich selbst für schuldig erklären müsse: „[…] que l’ordre soit coupable d’avoir pressé le criminel ou de n’avoir pas su empêcher le crime, il se punira dans ce qu’il révère: les magistrats.“ 391 In Genets Vorstellung trifft die Schuld nicht etwa den Delinquenten oder den Verbrecher, sondern die Rechts‐ ordnung, welche das Individuum tatsächlich zum Gesetzesverstoß angetrieben habe und das Verbrechen nicht bereits im Vorfeld unterbinden konnte. Genet versucht mit dieser Argumentation das eigentlich Prekäre des Wertesystems zu benennen: „Les valeurs connaîtront leur précarité car à mesure que crimes et délits seront commis l’ordre se punira de les avoir: suscités, engendrés, produits, permis, provoqués (les mots se hâtent, accourent, qui revendiquent le fait d’avoir agi).“ 392 In einer umfangreichen Hasstirade gegen das gesamte System fordert Genet auf Basis dieser Schuldzuweisung, dass sich die Rechtsordnung für jede begangene Straftat selbst bestrafen müsse und somit selbst auflösen solle: 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 132 393 Ibid. 394 Ibid., p. 14. 395 Vgl. Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigener An‐ schauung und authentischen Quellen, Berlin: Dietz 1964, p. 281. 396 Ibid., p. 282. 397 Ibid. Que la loi se défasse elle-même, qu’elle se détricote, maille après maille! Un meurtre a eu lieu? Condamnation et exécution du président de la République. Un autre meurtre: le ministre de la Justice; un autre, le secrétaire général de la CGT, l’archevêque de Paris, ainsi de suite. Mais il y a mieux que des personnages toujours remplacés par le jeu d’élections, de naissances et de croissances accélérées, il y a: l’arc de Triomphe rasé, la cathédrale de Chartres, Versailles, des palais de justice de Paris, Rome, Bruxelles […]. C’est alors qu’avec un peu de chance et une légère augmentation de la criminalité, ou seulement de la délinquance dans le monde, tout sur terre sera rasé, tout sera détruit, tout mort, mastiqué, avalé, chié. Tout mort. Les magistrats aussi. Seuls resteront les délinquants et les criminels, dans la joie. 393 Indem Genet die gesetzlich fundierte Grenze zwischen Schuld und Unschuld umkehrt und damit die Ordnung selbst als Täter stigmatisiert, werden seinem Bild zufolge die Maschen des Gesetzes nach und nach fallen gelassen. Für jede begangene Straftat verlangt er die Tötung eines Repräsentanten der Ordnungs‐ macht, sodass mit der Zunahme der Kriminalitätsrate auch das Zerschlagen der Gesellschaftsordnung beschleunigt wird. Genet imaginiert das utopische Sze‐ nario einer Welt des Verbrechens, das an die Schilderungen seiner frühen Ro‐ mane erinnert, jedoch in diesem politischen Kontext eine ausgeprägte gesell‐ schaftkritische Dimension erhält. In diese Logik schreibt sich auch seine Definition des Verbrechens als Präfiguration des revolutionären Aktes ein, die Genet auf den ersten Seiten seines Manuskriptes wie folgt formuliert: „Le temps est peut-être venu de croire que le geste criminel est la préfiguration de l’acte révolutionnaire, et que nous ne pourrons plus jamais connaître Lucifer.“ 394 Damit thematisiert Genet gleichsam eine Annahme von Friedrich Engels aus dessen Frühwerk mit dem Titel Die Lage der arbeitenden Klasse in England von 1845, wonach das Verbrechen als erste von insgesamt drei Stufen der Empörung der Arbeiter gegen die Bourgeoisie betrachtet wird. 395 Bei Engels wird das Verbre‐ chen als individueller Protest eingestuft, denn „[d]ie Verbrecher konnten nur einzeln, nur als Individuen durch ihren Diebstahl gegen die bestehende Gesell‐ schaftsordnung protestieren.“ 396 Eine kollektive Wirkungskraft wird dem Dieb‐ stahl jedoch abgesprochen, da das Verbrechen als „ungebildetste, bewusstloseste Form und schon deshalb nie [als] der allgemeine Ausdruck für die öffentliche Meinung der Arbeiter“ 397 aufgefasst wird. Auch in Foucaults Debatte mit den 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 133 398 Foucault: „Sur la justice populaire“, p. 355. 399 Genet: La Sentence, p. 26. 2.3.4 Maoisten 1972 wird ausgehend von Friedrich Engels’ These die Bedeutung der Kriminalität für die Revolution reevaluiert, wobei Foucault die Kriminalität als „renversement provisoire, individuel, de l’ordre et du pouvoir“ 398 definiert. Bei Genet hingegen repräsentiert die Welt des Verbrechens das kollektiv erzeugte Endstadium eines Kampfes gegen die gesamte bestehende Gesellschaftsord‐ nung, die bei ihm emblematisch im Gerichtsurteil versinnbildlicht erscheint. Genet erkennt somit der Figur des Verbrechers die Fähigkeit zu, eine neue Welt zu gestalten: „S’il est vrai que l’homme doit parcourir le monde, sauf s’il est paralysé ou en prison, le monde sera en mesure d’être parcouru par les criminels, repérant un monde peut-être qui serait l’envers de celui où nous sommes, où la sentence est encore écrite.“ 399 Zur Bedeutung strafrechtlicher Kategorien: politische Gefangene oder Strafgefangene? Wie anhand der vergleichenden Gegenüberstellung aufgezeigt werden konnte, äußert sich die Kritik an der Rechtsstaatlichkeit bei Sartre, Foucault und Genet mit einer je unterschiedlichen Schwerpunktsetzung. Während Sartre die Unab‐ hängigkeit von Staat und Justiz einfordert und ausgehend von dieser Prämisse die Einführung eines revolutionären Gerichtes konzeptualisiert, propagiert Fou‐ cault die Abschaffung des gesamten Justizapparates, der sich durch den Abso‐ lutheitsanspruch eines spezifischen Wertesystems und Wahrheitsverständ‐ nisses charakterisiert. Genet konzentriert sich bei seiner Kritik an der Rechtsordnung auf die Bedeutung des Gerichtsurteils, das in seiner historischen, sprachlichen und ethischen Dimension reflektiert und zum Spiegel der Gesell‐ schaftsordnung stilisiert wird. Eine theoretische Annäherung zwischen Fou‐ cault und Genet lässt sich in Hinblick auf die Kritik an der Unterscheidung zwi‐ schen Legalität und Illegalität bzw. zwischen Unschuld und Schuld bestimmen. Beide kritisieren diese Differenzierung als Ausschlussprinzip, welches die Ge‐ sellschaft fundiert. Während der Philosoph das trennende Prinzip an sich in Frage stellt, verkehrt Genet die Zuweisung von Schuld und Unschuld. Bei ihm gerät dabei das revolutionäre Potential des Verbrechens in den Fokus. Diese theoretischen Grundlinien bestimmen auch die unterschiedliche Sicht‐ weise, mit welcher sich Sartre, Foucault und Genet der im Nach-Mai aufflam- 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 134 400 „Déclaration des emprisonnés politiques en grève de faim“ [1. September 1970], in: Phi‐ lippe Artières et al. (Hgg.): Le Groupe d’information sur les prisons. Archives d’une lutte, 1970-1972, Postface de Daniel Defert, Paris: Éditions de l’IMEC 2003, pp. 31-32, hier 31. 401 Sartre: „Justice et État“, p. 69. Hervorhebung im Original. menden Frage nach dem Status der Gefangenen zuwenden. Ausgehend von den politischen Aktivisten, welche aufgrund der verschärften juristischen Maß‐ nahmen und Sondergesetze für ihre Aktionen zumeist durch Schnell- und Aus‐ nahmegerichte zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, gerät nicht nur die Situ‐ ation in den Gefängnissen in das Visier der Öffentlichkeit, deren Aufdeckung sich der G. I. P. zum Ziel setzt, sondern auch die Rechtsstellung der Gefangenen. Die inhaftierten Militanten treten durch Hungerstreiks für ihre rechtliche Ein‐ stufung als politische Gefangene ein. In einer schriftlichen Erklärung vom Sep‐ tember 1970 grenzen sie sich von den Strafgefangenen ab und fordern que tous ceux qui […] sont ou seront incarcérés pour des actes dont les mobiles sont politiques, se voient reconnaître leur qualité de détenus politiques et puissent ainsi obtenir, immédiatement et sans délai, le bénéfice du statut spécial qu’on leur refuse actuellement. 400 Zum privilegierten Sonderstatus der politischen Gefangenen gehörten so bei‐ spielsweise das Versammlungsrecht, die Verbesserung der Besucherzeiten und vor allem auch der allgemeinen Bedingungen und Zustände in den Gefäng‐ nissen. Der Status des politischen Gefangenen basiert auf der Klassifizierung seiner Tat als rein politisch motivierte Handlung, die sich von einer gewöhnlichen Straftat durch die Intention einer kollektiven Veränderung unterscheidet. Wie sich anhand des Prozesses gegen Roland Castro zeigt, spielt gerade die Proble‐ matik der Auslegung der Tat als politisches oder strafrechtliches Vergehen in dieser Zeit eine entscheidende Rolle. So verteidigt Sartre Castro unter Bezug‐ nahme auf die politischen Hintergründe von dessen Prozess und kritisiert die Regierung dafür, dass sie die Existenz politischer Verbrechen in Frankreich leugne: Or il n’est pas de crime politique en France. Cela serait reconnaître, en effet, qu’une autre politique existe, dont on ne doit point faire état et que le seul fait de la pratiquer vous traîne devant les tribunaux. En fait, cette politique existe; c’est le socialisme révolutionnaire. […] Ainsi voit-on des juges peu indépendants - il en existe en France, malheureusement - s’efforcer, au tribunal, de séparer la politique de la violence et de faire de celle-ci, coupée de ses buts et de ses raisons, un délit de droit commun. 401 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 135 402 Vgl. ibid. 403 Philippe Artières et al.: „Genèse du GIP“, in: Id. et al. (Hgg.): Le groupe d’information sur les prisons. Archives d’une lutte 1970-1972, Postface de Daniel Defert, Paris: IMEC 2003, pp. 27-30, hier 28. 404 Michel Foucault: „Enquêtes sur les prisons: brisons les barreaux du silence“ [1971], in: Dits et Écrits. 1954-1988, t. II: 1970-1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 176-182, hier 178. Sartre kategorisiert folglich die Delikte entsprechend ihrer Motivation und un‐ terscheidet zwischen eigentlichen Straftaten und aufgrund ihrer politischen Motivation kriminalisierten Handlungen, die von Staat und Justiz jedoch fälsch‐ lich nicht als politische Verbrechen deklariert würden. Denn wenn der Staat die Existenz politisch motivierter Verbrechen zugäbe, würde er eingestehen, dass der Wunsch nach einer anderen Politik in der Bevölkerung vereinzelt oder ver‐ mehrt Bestand habe. 402 In Sartres Verständnis kann daher nur durch ein vom Staat unabhängiges Organ ein gerechter Prozess stattfinden. Sein Interesse gilt dabei nur den als politisch einzustufenden Taten, nicht jedoch der Bedeutung der Verbrechen allgemein. Auch Foucault bezieht im Rahmen seines Engagements für den G. I. P. Stel‐ lung zu dieser Frage. Wie Artières betont, lehnte der G. I. P. die Behandlung der Strafgefangenen als von der Norm abweichendes, reaktionäres Lumpenprole‐ tariat im marxistischen Sinne ab: L’intervention de Michel Foucault, Pierre Vidal-Naquet et Jean-Marie Domenach marque en effet une double rupture: elle récuse le point de vue marxiste qui fait des prisonniers de droit commun un Lumpenproletariat foncièrement déviant et réactionnaire, sans appeler pour autant à une extension des luttes politiques à ces prisonniers de droit commun. Il ne s’agit pas d’affirmer que tous les détenus de droit commun sont des prisonniers politiques, mais de considérer que la prison est un lieu quotidien du politique, et de ce fait, informer sur ce qu’est la prison constitue une action politique. 403 Foucaults frühe Stellungnahmen zeugen von der hier beschriebenen, grund‐ sätzlichen Aufrechterhaltung der beiden Kategorien, nämlich die der gewöhn‐ lichen Strafgefangenen und die der politischen Gefangenen, auch wenn er sich für die Gleichwertigkeit beider Typen einsetzt. So antwortet Foucault auf die Frage, ob er einen Unterschied zwischen Strafgefangenen und politischen Ge‐ fangenen mache: „Aucune, bien sûr. Si l’origine [de la révolte, S. I.] est venue des politiques, c’est que l’autorité - le gouvernement et son ministre de la Justice - a fait une faute (de son point de vue) en mêlant les deux catégories de prison‐ niers.“ 404 Foucault betont in diesem Zusammenhang, dass die Politisierung in 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 136 405 Vgl. ibid., p. 178. 406 Vgl. Michel Foucault: „À propos de la prison d’Attica“ [1974], in: Dits et Écrits. 1954- 1988, t. II: 1970-1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 525-536. 407 Ibid., p. 530. 408 Vgl. ibid. 409 Genet: „Attica-U. S. A.“, p. 120. 410 Vgl. Foucault: „À propos de la prison d’Attica“, p. 530. 411 Ibid., p. 532. den Gefängnissen sowie die Wahrnehmung des Gefängnisses als ein politischer Handlungsraum von den zumeist maoistischen Gefangenen ausgegangen sei. 405 Unter Rekurs auf Genet nuanciert Foucault jedoch alsbald seine Meinung, wie aus seinem Interview im Anschluss an seinen Besuch im US -amerikanischen Gefängnis von Attica im Februar 1972 hervorgeht. 406 Darin unterstreicht Fou‐ cault das stärker ausgeprägte politische Potential der amerikanischen Gefäng‐ nisse im Vergleich zu den Haftanstalten in Europa, welches vor allem auch auf deren Funktion als selektiver Ausschlussmechanismus, nämlich als „fonction d’élimination massive“ 407 , gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung zu‐ rückzuführen sei. So sei unter dreißig Gefangenen mindestens einer schwarz. 408 Damit bestätigt er eine von Genet in dessen Artikel zum US -amerikanischen Gefängnis von Attica geäußerte Annahme, wonach die starke Politisierung der Afroamerikaner mit deren Kriminalisierung oder Einsperrung beantwortet werde: „Les détenus noirs sont paraît-il de plus en plus politisés. Un homme est donc un criminel s’il se politise, et doit-on l’enfermer ou l’abattre? Je dis un homme. Faut-il dire un Noir? “ 409 Foucault erläutert in diesem Zusammenhang die Bedeutung des europäischen Gefängnisses als Mikrokosmos der europä‐ ischen Gesellschaft, lässt jedoch die Frage offen, inwieweit diese Gleichung auch auf das amerikanische System übertragen werden könne. 410 In Hinblick auf die Gefängnisse in Europa spricht er von einem Ausschlussmechanismus gegenüber einer Teilgruppe der Bevölkerung, die ständig mit Polizei und Justiz konfrontiert sei, nicht aber der Arbeiterklasse zugerechnet werden könne und deren Isolie‐ rung und Desintegration am Rande der politisierten Arbeiterklasse unbedingt überwunden werden müsse: „Sa réintégration [de cette fraction de la classe ouvrière, S. I.] au sein des luttes politiques est l’objectif premier de notre groupe.“ 411 Daher lehnt er auch die Diskriminierung der einfachen Strafgefan‐ genen durch die politischen Gefangenen ab und stützt seine These durch eine anschauliche Anekdote über Jean Genets persönliche Erfahrung mit dieser Dis‐ tinktion der unterschiedlichen Kategorien von Gefangenen: 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 137 412 Ibid. 413 Ibid., p. 533. 414 Ibid. Pendant la guerre, Genet était prisonnier à la Santé; un jour, il devait être transféré au Palais de justice pour recevoir sa condamnation; or, à l’époque, la coutume voulait que l’on attachât les prisonniers deux par deux par des menottes pour les conduire au Palais de justice; au moment où on allait attacher Genet à un autre détenu, ce détenu demanda: ‚Qui est ce type avec qui vous m’attachez? ‘, et le gardien répondit: ‚Un voleur.‘ Alors, l’autre détenu se raidit et dit: ‚Je refuse. Je suis un prisonnier politique, je suis communiste et je refuse qu’on m’attache avec un voleur.‘ Genet m’a confié que, depuis ce jour, il a, à l’égard de toutes les formes de mouvements et d’action politiques qui ont été organisés en France non seulement de la méfiance, mais aussi un certain mépris … 412 Foucault lehnt die moralischen Vorurteile der politischen Gefangenen gegen‐ über den von ihnen als Kriminelle abgestempelten Strafgefangenen ab, welche die bürgerlichen Moralvorstellungen lediglich bestätigen: Si l’on fait la distinction, si l’on accepte la différence entre droit politique et droit commun, cela signifie que, fondamentalement, on reconnaît la morale et la loi bourgeoises en ce qui concerne le respect de la propriété d’autrui, le respect des valeurs traditionnelles. 413 Foucault beschreibt die Auflösung der strafrechtlichen Kategorien mithin als elementaren Teil einer angestrebten kulturellen Revolution, da die bürgerliche Rechtsordnung als Basis des politischen Systems angegriffen werden müsse, wie das nachfolgende Zitat verdeutlicht: Dans sa définition la plus large, la révolution culturelle implique que, au moins dans une société comme la nôtre, on ne fasse plus de différence entre les criminels de droit commun et les criminels politiques. Le droit, c’est la politique: c’est bien au fond, la bourgeoisie qui, pour des raisons politiques et sur la base de son pouvoir politique, a défini les principes de ce qu’on appelle le droit. 414 Das revolutionäre Potential gehe dabei gerade von jenen gesellschaftlich aus‐ geschlossenen Individuen aus, die sich den bürgerlichen Werten widersetzten, so dass deren Integration in den revolutionären Kampf nach Foucault angestrebt werden müsse: On trouve aujourd’hui dans nos sociétés - c’est là du moins l’opinion de notre groupe -, de véritables forces révolutionnaires qui sont constituées, précisément, de 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 138 415 Ibid., p. 535. 416 Ibid., p. 536. 417 Genet: „Un enchantement“, p. 207. 418 Ibid. 419 Ibid. toutes ces couches mal intégrées dans la société, perpétuellement rejetées, et qui, à leur tour, rejettent l’ordre moral bourgeois. 415 Anders als Sartre richtet Foucault sehr gezielt den Blick auf die Strafgefangenen, die er in diesem Interview in besonderem Maße als revolutionäre Kraft bewertet. Daher lehnt er auch eine kategorische Differenzierung von Strafgefangenen und politischen Gefangenen ab, welche lediglich die bürgerliche Moral- und Wert‐ vorstellung perpetuieren würde. Foucault beschreibt in dieser Logik ähnlich wie Genet die Transgression des Gesetzes an sich als Möglichkeit einer Destabili‐ sierung der gesellschaftlichen Ordnung, denn „commettre un délit, commettre un crime, met en question, de manière fondamentale, le fonctionnement de la société.“ 416 Zwischen Foucault und Genet herrscht folglich Einigkeit darüber, dass einem Verbrechen, unabhängig von dessen strafrechtlicher Einstufung, ein revolutio‐ näres Potential zukommt. Genet eröffnet seinen eindrücklichen Artikel zu dieser Thematik mit einer offenen Kritik an der tradierten Aufrechterhaltung der Ka‐ tegorien des Strafgefangenen und des politischen Gefangenen und definiert das Verbrechen als grundsätzlichen Bruch mit dem Gesetz und der Macht: Un délit - ou un crime - est un délit, c’est-à-dire qu’en premier lieu il brise le cercle de la loi, en ce que la loi est le moyen du pouvoir. Des juristes auront fait la distinction qui est en fait arbitraire: la loi étant une, c’est-à-dire voix - ou si l’on veut moyen - du pouvoir, la brisure de la loi, d’une façon ou d’une autre, est toujours la mise en cause du pouvoir. 417 Indem das Gesetz als Stimme, „voix“, bzw. Mittel der Macht, „moyen du pouvoir“, beschrieben wird, rekurriert Genet an dieser Stelle implizit auf die Bedeutung der Rechtsprechung als verbalisierter Ausdruck von Macht, einen Zusammen‐ hang, den er, wie betrachtet wurde, in La Sentence facettenreich veranschaulicht. Für Genet resultieren das politische Verbrechen wie die übrigen Verbrechens‐ tatbestände aus einem einzigen inneren Aufruhr des Individuums, „d’un mou‐ vement unique, d’une unique secousse intérieure“ 418 , der sich als Ablehnung der Macht, als „refus du pouvoir“ 419 , manifestiert. Genet argumentiert, dass das Ge‐ setz nur strafrechtliche Vergehen sanktioniere, nicht aber politische, um vor‐ zutäuschen, so seine These, „que personne ne saurait vouloir briser la loi pour 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 139 420 Ibid. 421 Ibid. Hervorhebung im Original. 422 Ibid., p. 209. des raisons politiques, que tout le monde accepte le pouvoir dans toutes ses manifestations.“ 420 Anders jedoch als Sartre fordert Genet ausgehend von dieser Erkenntnis nicht etwa die Anerkennung politischer Verbrechen vor dem Gesetz, sondern er relativiert die rechtliche Differenzierung in Anbetracht der histori‐ schen und kulturellen Bedingtheit von Gesetzen. Die Errungenschaft aller po‐ litischen Rechte von Regierungsoppositionellen sei erst aus ursprünglich als kriminell und nicht politisch eingestuften Straftaten erwachsen, wie Genet an‐ hand des Streikrechts exemplifiziert: [N]ous savons que tous les droits politiques dont se flatte cette opposition sont des conquêtes qui ne furent possibles qu’à coup de délits droit-co. Il s’est donc passé quelque chose de comparable à ceci: cette opposition, qui était criminelle selon la loi bourgeoise, à mesure qu’elle s’affermissait, versait dans le pouvoir. Pourtant, faire la grève - en occupant les lieux de travail - était un crime si grave que la police et l’armée tiraient sur les grévistes. Aujourd’hui faire la grève est un droit constitutionnel. 421 In Bezug auf die antijüdischen Gesetze des Vichy-Regimes sowie die Nürnberger Rassengesetze der Nationalsozialisten untermauert Genet die Abhängigkeit der Gesetzgebung von der jeweils herrschenden Regierung und etabliert darüber hinaus auch einen aus dem zeithistorischen Kontext begründeten Vergleich zwischen dem französischen Staat und der nationalsozialistischen Diktatur: Justes ou non, les lois de Pétain étaient la loi. Politiques ou non ceux qui l’avaient brisée entre 39 et 45 étaient hors-la-loi. Ceux qui la brisèrent après aussi. Ici il faut ouvrir une parenthèse: lors de ces époques, un certain pouvoir bascula, remplacé par un autre. Souvent il n’y eut pas brisure de la loi. 422 Mithilfe dieses Vergleichs erklärt Genet die Gefangenen zu Opfern und Gegnern des spezifischen Machtsystems. Der Bewusstwerdungsprozess für diesen Zu‐ sammenhang, der besonders stark bei den afroamerikanischen Gefangenen aus‐ geprägt sei, markiert den Beginn einer Politisierung. Ausgehend von der kon‐ statierten Feindseligkeit gegenüber der waltenden Macht regt Genet an, eine Differenzierung der Gefangenen nicht mehr ausgehend vom Straftatbestand vorzunehmen, sondern in Anbetracht der Reaktion des Gefangenen auf seine Verurteilung: S’il était vrai que cette approche du problème soit retenue, la question ne serait plus: droit-co ou politiques, mais délinquants différenciés non à partir de l’acte ou des actes 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 140 423 Ibid., p. 211. Hervorhebung im Original. 424 Ibid. Hervorhebung im Original. 425 Ibid., p. 212. 426 Ibid. Hervorhebung im Original. qui leur ont valu telle ou telle peine, mais à partir de la sentence prononcée et de la manière dont la peine est subie, c’est-à-dire laissant ou non le détenu ennemi du pouvoir. 423 In Genets Argumentation übernimmt folglich erneut das Gerichtsurteil als Kul‐ minationspunkt und verbaler Ausdruck des Machtsystems eine tragende Funk‐ tion. Das revolutionäre Potential des Gefangenen äußert sich für Genet in dessen Haltung gegenüber dem Verdikt - bleibt er ein Feind von Staat und Gesetz oder nicht? Erst durch seine Haltung als Staatsfeind könne die angestrebte „alliance - momentanée ou prolongée - entre des révolutionnaires et certains isolés (droits-co) délibérément hostiles au pouvoir“ 424 entstehen. Darüber hinaus sind für Genet die Grenzen zwischen politisch motivierten Delikten und allen üb‐ rigen Straftaten fließend, da die Kategorien in seinem Verständnis nicht gegen‐ einander abgegrenzt werden können. So reflektiert er, welcher Status einem Protestler zukommt, der Bestandteile seines Equipments wie Kamera oder Ton‐ bandgerät stiehlt, und inwieweit nicht auch die Ordnungskräfte beim Stellen von Kriminellen als Mörder bezeichnet werden können. Letzte Frage veran‐ schaulicht er anhand der Geiselnahme und Ermordung einer Krankenschwester durch Buffet und Bontems, zwei Häftlinge, die im September 1971 aus dem Ge‐ fängnis von Clairvaux fliehen wollten und die deswegen 1972 als letzte Straftäter in Frankreich zum Tode verurteilt wurden. Genets Beschreibung zufolge sollen die Mitinsassen den Einsatz der Bereitschaftspolizei mit den Rufen „assassins“ diskreditiert haben, eine Reaktion, die er als Auflehnung gegen die im Schutze des Gesetzes agierenden Sicherheitskräfte interpretiert: „Mais aussi pourquoi ce cri? Si chaque détenu en centrale se fait une gloire d’être un assassin, il distingue entre ceux qui le sont en ‚marge de la loi‘ et ceux qui le sont dans la loi.“ 425 Als letztes Beispiel, welches den Text als offene Frage beschließt, bezieht sich Genet auf die Rolle des Revolutionärs Saint-Just für die Redaktion der zweiten Verfas‐ sung und hinterfragt dessen Status vor und nach der Französischen Revolution: Saint-Just vole de l’argenterie, il écrit un livre libertin, un peu plus tard il rédige, presque seul, la 2 e constitution, il prononce ses interventions devant la Convention, aux Armées, etc. Dans son cas, y a-t-il continuité cohérente du statut droit-co - politique, ou rupture et incohérence? 426 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 141 427 Vgl. Michel Foucault: „Prisons et révoltes dans les prisons“ [1973], in: Dits et Écrits. 1954- 1988, t. II: 1970-1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 425-432, hier 427- 428. 428 Vgl. ibid. Verglichen mit Foucault, der in einer progressiven Kehrtwende die Unterschei‐ dung zwischen politischen Gefangenen und einfachen Strafgefangenen aufge‐ löst wissen möchte, da eine Hierarchisierung von Straftaten die bürgerliche Moralvorstellung bestätigen und letztlich jede Form des Verbrechens die Ge‐ sellschaftsordnung destabilisieren würde, formuliert Genet die Forderung nach einer Nivellierung weniger aus einem ethisch-philosophisch motivierten An‐ spruch, denn aus seiner persönlichen Erfahrung heraus. Neben seinem funda‐ mentalen Argument der kulturhistorischen Relativität von Gesetzen, die immer in Abhängigkeit von einem spezifischen zeithistorischen Kontext gültig sind, nährt sich Genets Argumentation stärker aus Einzelbeispielen, mithilfe derer die Schwierigkeit einer eindeutigen Zuordnung einzelner Straftaten in den po‐ litischen oder nicht politischen Bereich untermauert wird. Insofern die Straftat aus einer inneren Feindseligkeit gegenüber dem Gesetz und der Macht begangen wird, erkennt Genet ihr eine politische Wertigkeit zu. Foucault differenziert hingegen stärker zwischen politischen und nicht-politischen Handlungen, deren Charakter er an der individuellen bzw. kollektiven Tragweite bemisst, wie in einem Text von 1973 zu den Gefängnisrevolten in Toul und Attica deutlich wird. 427 Mit Bezug auf den Vorfall von Clairvaux bewertet er darin eine Geisel‐ nahme, selbst wenn sie von einem politischen Gefangenen durchgeführt werde, nicht als politische Aktion, Forderungen nach einer besseren Verpflegung, die das individuelle Bedürfnis mit Blick auf das Kollektiv der Gefangenen über‐ schreitet, hingegen schon. 428 Indem Genet die Politizität einer Aktion nach der persönlichen Einstellung des Individuums zur Gesellschaftsordnung bemisst, zeigt er sich kohärent zu seinem persönlichen Daseinsentwurf: Sein eigenes Ideal, einen erklärten Feind herauszufordern, findet in seinem Argumentati‐ onsmuster Nachhall. Denn wie der titellose Text, der als Prolog seine gesamten politischen Artikel eröffnen sollte und namensgebend für den von Albert Dichy herausgegebenen sechsten und letzten Band seines Gesamtwerks fungiert, in ironischer Tonalität emblematisch zum Ausdruck bringt: Je cherche un ennemi défaillant, venant à la capitulation. Je lui donnerai […] des claques, des gifles, des coups de pieds, je le ferai mordre par des renards affamés, manger de la nourriture anglaise, assister à la Chambre des Lords, être reçu à Buckingham Palace, baiser le Prince Philip, se faire baiser par lui, vivre un mois à 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 142 429 Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, ohne Seitenangabe. 430 Foucault: Surveiller et punir. 431 Artières et al.: „Retour sur le livre des peines“, p. 13-14. 432 Foucault: Surveiller et punir, p. 34-35. 433 Ibid., p. 35. 2.3.5 Londres, se vêtir comme moi, dormir à ma place, vivre à ma place: je cherche l’ennemi déclaré. 429 «Le Langage de la muraille» - Genets Antwort auf «Surveiller et punir» Die aus Foucaults Verschränkung diskursanalytischer und sozialhistorischer Fragestellungen herrührende Diagnostik nicht tolerierbarer Zustände in den Gefängnissen, welche im G. I. P. einen praktischen Lösungsansatz findet, mündet 1975 in der Genese eines neuen Projektes: Surveiller et punir  430 . Denn wie auch Artières formuliert, weisen die durch den G. I. P. ermittelten Ansprüche der Gefangenen in nuce bereits eine radikale Kritik an den Mechanismen des Strafsystems auf, die Foucault 1975 theoretisch als Mikrophysik der Macht dar‐ legt: Ces revendications ne sont pas révolutionnaires mais des plus ordinaires (le courrier, les visites, les droits de défense …): il s’agit en somme d’une critique radicale d’une ‚micro-physique des pouvoirs‘ que Michel Foucault théorisera par la suite dans Sur‐ veiller et Punir. 431 Foucaults Konzept einer Mikrophysik der Macht begründet nämlich die Auf‐ fassung von Strafe als einer politischen, auf den Körper der Gefangenen abzie‐ lenden Taktik, „une microphysique du pouvoir que […] les institutions mettent en jeu“ 432 , wobei Macht jedoch nicht als Besitz, sondern als Strategie verstanden wird, die „des dispositions, […] des manœuvres, […] des tactiques, […] des tech‐ niques, […] des fonctionnements“ 433 umfasst. Diese Einsicht verortet Foucault selbst nicht so sehr in der historisch-genealogischen Aufarbeitung des Strafsys‐ tems, sondern vielmehr in der damaligen Aktualität: Que les punitions en général et que la prison relèvent d’une technologie politique du corps, c’est peut-être moins l’histoire qui me l’a enseigné que le présent. Au cours de ces dernières années, des révoltes de prison se sont produites un peu partout dans le monde. Leurs objectifs, leurs mots d’ordre, leur déroulement avaient à coup sûr quelque chose de paradoxal. C’étaient des révoltes contre toute une misère physique 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 143 434 Ibid., p. 39. 435 Ibid. 436 Vgl. Foucault: „Le grand enfermement“, p. 296-306. 437 Foucault: Surveiller et punir, p. 136. qui date de plus d’un siècle: contre le froid, contre l’étouffement et l’entassement, contre des murs vétustes, contre la faim, contre les coups. 434 Das Singuläre der Aufstände in den Gefängnissen liegt für Foucault in den vor‐ rangig materiellen Forderungen der Gefangenen, welche die Revolten zu einem durch substanzielle Mängel erzeugten Aufruhr gegen die Institution des Ge‐ fängnisses selbst machen, jenem „instrument et vecteur de pouvoir“ 435 . Die Mik‐ rophysik der Macht indiziert somit jene Korrelation von Strafsystem und Macht‐ form, die Foucaults Studie zugrundeliegt. Genealogisch zeichnet Foucault unter diesem Gesichtspunkt die Entstehung des Gefängnisses nach, um schließlich das historische Fundament jenes Phäno‐ mens einer ‚kollektiven Einsperrung‘ 436 zu erarbeiten, das er in der damaligen Aktualität zu erkennen glaubt. Von einer öffentlichen Zurschaustellung der körperlichen Züchtigung als Bestrafung über eine zeitlich auf die minimale Ein‐ heit reduzierte Hinrichtung durch die Guillotine hin zur Instauration des Ge‐ fängnisses als ein die Freiheit entziehendes, disziplinierendes und korrektives Bestrafungsverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit beleuchtet Foucault die Entwicklung bis zur ‚Geburt des Gefängnisses‘. Er strukturiert dabei seine Studie in vier größere Einheiten zu den Themen Folter („supplice“), Bestrafung („punition“), Disziplinierung („discipline“) und Gefängnis („prison“). Während Foucault im Kapitel zum Strafsystem die ideologisch-historisch bedingte Wahr‐ nehmung und Klassifizierung von Straftatvorgängen sowie die Durchsetzung der Haftstrafe im Gefängnis, jener „grande architecture fermée, complexe et hiérarchisée qui s’intègre au corps même de l’appareil étatique“ 437 , reflektiert, beschreibt er im danach folgenden Kapitel die Strategien und Mechanismen einer Disziplinierung der Insassen mithilfe ihrer Einschließung in einem Zel‐ lensystem, der Verwaltung und zeitlichen Kontrolle ihrer Aktivitäten durch routinierte und geordnete Abläufe, einer hierarchischen Überwachung ihrer Präsenz, welche die Funktionsweise einer Mikrophysik der Macht veranschau‐ lichen. Die Architektur von Benthams Panopticon um 1830 illustriert jenes Prinzip des Überwachens und Strafens emblematisch für Foucault und zeugt von einer Gesellschaftsform, deren Fundament von einzelnen Machtdispositiven durchzogen ist: „Il [l’agencement panoptique, S. I.] programme […] le fonction‐ nement de base d’une société toute traversée et pénétrée de mécanismes disci‐ 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 144 438 Ibid., p. 243. 439 Vgl. ibid., p. 343-345. 440 Vgl. zum Wandel des Machtbegriffes bei Foucault: Jean Terrel: Politiques de Foucault, Paris: PUF 2010. Für Terrel zeichnet sich ab 1978 ein Umbruch hinsichtlich der Auffas‐ sung von Macht ab. Vgl. ibid., p. 4. 441 Foucault: Surveiller et punir, p. 31. 442 Artières et al.: „Retour sur le livre des peines“, p. 11. plinaires.“ 438 Das Endstadium der genealogischen Linie, welche die Implemen‐ tierung des Freiheitsentzugs als prinzipielle Strafzumessung beschreibt, wird mit der Entstehung der Jugendstrafkolonie Mettray (1840) erreicht. In Mettray überlagern sich unterschiedliche Disziplinar- und Kontrollmechanismen, so dass dort mikrokosmisch fünf gesellschaftliche Bereiche zusammenwachsen: die Familie, die Armee, die Werkstatt, die Schule und der Justizapparat. 439 Das klassische Gefängnisgefüge findet sich in Mettray so aufgebrochen durch die Überlagerung unterschiedlicher Machtdispositive, die auch eine Funktion in der Gesellschaft vollziehen und hier wie dort normalisierend zweckbestimmt sind. Die Vorstellung einer Kontrolle des Individuums bzw. der Gesellschaft durch Machttechniken geht von einem operativen Machttypus aus: Macht äußert sich als Wirkung auf den Körper des Individuums (Disziplinarmacht bzw. Mikro‐ physik der Macht) und auf dessen Verhalten (Normalisierungsmacht). Ansatz‐ weise distanziert sich Foucault aber in Surveiller et punir bereits von dem hier überwiegend negativ gefassten judiziellen und repressiven Machtbegriff, denn Macht kann gleichsam eine produktive Wirkung entfalten, wie sich dann in seiner Hinwendung zu biopolitischen Dispositiven zeigen wird. 440 Die erste Regel, die der Philosoph seiner Untersuchung in diesem Verständnis voranstellt, lautet: „Ne pas centrer l’étude des mécanismes punitifs sur leurs seuls effets ‚répressifs‘, sur leur côté de ‚sanction‘, mais les replacer dans toute la série des effets positifs qu’ils peuvent induire, même s’ils sont marginaux au premier regard.“ 441 Wie Artières in Hinblick auf die Entstehung von Surveiller et punir betont, müsse sich der Leser bewusst machen, „que l’écriture de Surveiller et Punir découle de l’expérience de Michel Foucault au sein du GIP .“ 442 Dies spiegelt sich nicht nur im Konzept einer Mikrophysik der Macht wider, sondern auch in der Beschreibung einer Differenzierung der Straftäter entsprechend ihrer sozialen Herkunft und in der Hierarchisierung von Straftaten, welche rechtlich auch dazu geführt hat, bestimmte Vergehen als politisch einzustufen. Auch vereinzelte Thesen, wie beispielsweise die nachfolgende Aussage zu einer am emanzipato‐ rischen Ausmaß für die Gesellschaft gemessenen, positiven Valorisierung von Verbrechen, lässt sich nur vom unmittelbaren zeithistorischen Kontext ableiten: 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 145 443 Foucault: Surveiller et punir, p. 339. 444 Ibid., p. 343. 445 Ibid. 446 Sophie Chassat: „Le cercle carré du carcéral: Mettray par Foucault“, in: Luc Forlivesi et al. (Hgg.): Éduquer et punir. La colonie agricole et pénitentiaire de Mettray (1839-1937), Rennes: Presses universitaires 2005, pp. 211-221, hier 217. 447 Ibid. 448 Eric Walter: Jean Genet aujourd’hui, Amiens: Maison de la culture d’Amiens 1976, pp. 5-33, hier 6. 449 Hubert: L’esthétique de Jean Genet, p. 37. „Il peut donc arriver que le crime constitue un instrument politique qui sera éventuellement aussi précieux pour la libération de notre société qu’il l’a été pour l’émancipation des Noirs; celle-ci aurait-elle eu lieu sans lui? “ 443 Dass Fou‐ cault sich in seinem finalen Kapitel auf die Jugendstrafkolonie in Mettray als „la forme disciplinaire à l’état le plus intense, le modèle où se concentrent toutes les technologies coercitives du comportement“ 444 beruft, ohne dabei auf Jean Genet einzugehen, erscheint erstaunlich, zumal zwischen den beiden gerade im Zeitraum der Aktivitäten um den G. I. P. ein reger Austausch bestand und es nicht unwahrscheinlich ist, dass Foucaults Interesse an Mettray auf seinen Kon‐ takt zu Genet zurückzuführen ist. Sophie Chassat zufolge sei eine plausible Er‐ klärung für die fehlende Erwähnung Genets, dass Foucault vor allem die Eröff‐ nung der Strafkolonie am 22. Januar 1840 als „la date où s’achève la formation du système carcéral“ 445 in den Vordergrund rückt und nicht den Zeitraum, als Genet in Mettray inhaftiert war: „[C’]est parce qu’il ne raconte pas la fin de l’histoire que Foucault ne dit mot de Genet, c’est parce que c’est l’ouverture de Mettray qui est importante que Foucault ne dit mot du bagne de la fin des années 1920.“ 446 Mit Bezug auf die frühen Romane Genets, welche Chassat als „témoignage-poésie“ 447 bezeichnet, konstatiert sie das Scheitern des auf Disziplinar‐ techniken fundierten Gefängnissystems in den 1920er Jahren. Die Gegenüber‐ stellung von Genets frühen Romanen und Foucaults theoretischen Ausfüh‐ rungen, die Eric Walter bereits 1976 als erster unmittelbar nach der Veröffentlichung von Surveiller et punir in Form einer „confrontation entre [ces] deux séries textuelles [les récits autobiographiques d’un romancier poète et le travail d’archives d’un philosophe historien, S. I.] tout à fait hétérogènes“ 448 angeregt hat, soll an dieser Stelle jedoch nicht weiter behandelt werden. Auch die Hypothese von Marie-Claude Hubert, wonach „Foucault lui [à Genet, S. I.] demandera de rédiger avec lui, dans Surveiller et Punir, en 1975, le chapitre con‐ sacré à Mettray“ 449 und Genet folglich an dem entsprechenden Kapitel aktiv mitgewirkt habe, wird mangels weiterer Hinweise nicht weiter verfolgt. Statt‐ dessen soll der Schwerpunkt auf das Aufleben dieser Thematik in Genets Spät‐ 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 146 450 Das Manuskript von 1981 ist unveröffentlicht und befindet sich im Fonds Jean Genet / IMEC. Eingesehen wurden unterschiedliche Entwicklungsstadien von den ersten Plan‐ skizzen („début“) über die als „état numéro 3 und 4“ gekennzeichneten Zwischenphasen bis hin zum letzten gebundenen Manuskript. Aus rechtlichen Gründen dürfen nur ei‐ nige wenige kurze Textpassagen wörtlich zitiert werden. Mein Dank geht an Albert Dichy für die Autorisierung dieser Zitate. Für eine inhaltliche Zusammenfassung des Drehbuchs vgl. Marie-Claude Hubert: „Le Langage de la muraille“, in: Id. (Hrsg.): Dic‐ tionnaire Jean Genet, Paris: Honoré Champion 2014, pp. 359-361. 451 Vgl. Genet: „Entretien avec Antoine Bourseiller“, pp. 217-226. Durch die Ausstellung „Jean Genet, l’échappée belle“ im Mucem in Marseille (15. 4.-18. 7. 2016) ist auch die audiovisuelle Fassung des Interviews einschließlich der Bildaufnahmen von Mettray auf DVD verfügbar: Jean Genet, testament audiovisuel. Entretiens uniques avec Antoine Bourseiller, Bertrand Poirot-Delpech, produit par Raphaël Caussimon pour SWProduc‐ tions (2005-2016), 100 minutes. 452 Vgl. Michel Cressole: „Jean Genet toujours“, in: Libération, 12. September 1982, p. 20. Auf diesen Artikel verweist auch Albert Dichy in seinen Annotationen zum Text [Fuß‐ note 17] in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 400. 453 Vgl. Françoise Zamour: „L’expérience au risque de l’histoire: Le Langage de la mu‐ raille“, in: Nathanaël Wadbled (Hrsg.): Métamorphoses de Jean Genet, Dijon: Éditions Universitaires 2013, pp. 143-156, hier 143-144. 454 Vgl. Genet: „Entretien avec Antoine Bourseiller“, p. 223. werk gelegt werden, das sich in besonderem Maße in seinem Drehbuch zu einem geplanten Filmprojekt mit dem Titel Le Langage de la muraille  450 widerspiegelt, aber auch in dem zeitgleich in Kooperation mit Antoine Bourseiller gefilmten Interview 451 für Danièle Delormes Porträtreihe „Témoins“, im Rahmen dessen eine gesamte Sequenz unautorisiert 452 in Mettray gefilmt wurde. Françoise Za‐ mour zufolge seien diese beiden Projekte insofern miteinander verknüpft, als Genet einerseits Mettray bei den Dreharbeiten für „Témoins“ als Inspirations‐ quelle wiederentdeckt und er andererseits seinen Film aufgrund seines neuen Kontaktes als Fernsehproduktion geplant habe. 453 In Le Langage de la muraille stellt Genet die Entstehung und Entwicklung der Strafkolonie in Mettray mit‐ hilfe einer dramatischen Spannungskurve von ihrem Aufstieg 1839-1843 über ihren langsamen Niedergang bis hin zu ihrer endgültigen Schließung 1937 dar. Die historische Kontextualisierung der Planung und Entstehung Mettrays in die Periode vom Wiener Kongress 1815 bis zur Revolution von 1848 zeigt, dass er den Schwerpunkt anders als in seinen frühen autofiktionalen Romanen nicht so sehr auf die inneren Strukturen und Beziehungen im Gefängnis, sondern auf das Verhältnis von Strafkolonie und Gesellschaft legt. Wie er im Interview mit Bourseiller anhand der mehrfachen Namensänderung betont - so etwa führte Mettray Genet zufolge die unterschiedlichen Beinamen „Colonie pénitentiaire“, „Maison de redressement“ und „Maison d’éducation surveillée“ -, 454 ändert sich die soziopolitische Zielsetzung der Einrichtung gemäß der gesellschaftspoliti‐ 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 147 455 Genet: Le Langage de la muraille, état numéro 3, p. 202. 456 Vgl. ibid., p. 242. 457 Dichy / Fouché: Jean Genet, matricule 192.102, p. 179. 458 Genet: „Un enchantement“, p. 210. 459 Vgl. Genet: Le Langage de la muraille, état numéro 3, p. 16-17. 460 Vgl. Foucault: Surveiller et punir, p. 237. schen Situation. Genet reflektiert daher die unterschiedlichen Funktionen, welche der Strafanstalt zukommen. In Le Langage de la muraille bezeichnet De‐ metz, der Begründer Mettrays, sein Werk als „chef d’œuvre d’organisation, chef d’œuvre de rééducation, chef d’œuvre de répression“ 455 , wohingegen sich die Jugendstrafkolonie unter Napoleon III . zu einem „établissement d’utilité pu‐ blique“ 456 entwickelt. Mit diesem Korrelat zwischen Straf- und Gesellschafts‐ system scheint er auf Foucaults Ansatz zu reagieren. Wie Dichy / Fouchet in einer Fußnote ihrer Biographie erwähnen, gehörte Surveiller et punir zur Mate‐ rialsammlung, die sich Genet in Hinblick auf die Redaktion seines Drehbuchs angelegt hatte: „Genet avait rassemblé en vue de la rédaction du scénario une documentation fournie au sein de laquelle on peut relever, soigneusement lus et annotés, les ouvrages d’Henri Gaillac (Les Maisons de correction […]) et de Michel Foucault (Surveiller et punir […]).“ 457 Tatsächlich fungiert Mettray als Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse, wobei Genet anders als Foucault nicht nur die Geburtsstunde von Mettray beleuchtet, sondern auch gerade jene Entwicklungsstadien, welche das Scheitern des Disziplinarsystems aufzeigen. Auch die Problematik der Gefängnisarchitektur als Abbild des Moralverständ‐ nisses bildet in Genets Drehbuch eine bedeutende Komponente. Bereits in seinem Text über den Status der Gefangenen für den G. I. P. von 1971 hatte Genet angeregt: „Il serait intéressant d’obtenir une entrevue ou des ‚éclaircissements‘ avec un ou plusieurs architectes de prison. Il serait curieux de savoir comment ils ont retrouvé, non le nombre d’or, mais le cercle magique, mortel, fascinant, qui entoure la prison.“ 458 In Le Langage de la muraille wird dieser Zusammenhang in einem Planungsgespräch zwischen König Charles X, Demetz, sieben Archi‐ tekten und vier Gefängnisdirektoren thematisiert, im Verlaufe dessen dem König unterschiedliche architektonische Modelle unterbreitet werden. 459 In pa‐ rodistischer Weise rekurriert Genet bei der Inszenierung des Planungsgesprächs auch auf das panoptische Konzept, ein Beobachtungsprinzip, welches Charles X zufolge von Bentham lediglich übernommen wurde und dessen tatsächlicher Ursprung seinen adeligen Vorfahren in Versailles zuzuschreiben sei. Eine ähn‐ liche konzeptuelle Herleitung des Bentham’schen Panopticon von der Menagerie des Architekten Le Vaux in Versailles wird von Foucault auch in Surveiller et punir aufgestellt. 460 Foucault bezeichnet in diesem Verständnis das Panopticon 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 148 461 Ibid. 462 Genet: Le Langage de la muraille, état numéro 3, p. 17. 463 Diese Inschrift wird in den ersten Notizen zur Planung des Drehbuchs genannt, was auf deren zentrale Bedeutung für den Film hinweist: Ibid., début, note n°1. 464 Foucault: Surveiller et punir, p. 234. 465 Ibid. 466 Genet: „Entretien avec Antoine Bourseiller“, p. 223. Es erscheint erstaunlich, dass Genet hier den Begriff der Poesie anführt, der bei ihm ansonsten eindeutig einem widerstän‐ digen Prinzip zugeschrieben wird und gerade nicht für die Sprache und Ausdrucksmittel der Machthaber gebraucht wird. Vgl. dazu insbesondere die Ergebnisse aus den Kapiteln 2.2.2.3 und 3.3.2. Möglicherweise lässt sich dies durch die Bedeutung der Blumen er‐ klären, die bereits in Genets frühen Romanen als Symbol der Poesie - in der Regel jedoch zwischen den Gefangenen - fungieren. als „ménagerie royale“ 461 , bei der jedoch das Tier durch den Menschen und der König durch eine Machtmaschinerie substituiert werde. Genet inszeniert das gesamte Planungsgespräch entsprechend dem von Demetz geäußerten Axiom, wonach es nicht nur um Architektur, sondern auch um Moral gehe. Der König zieht sogar unterschiedliche Ordensbrüder zu Rate, wodurch die theologische Fundiertheit der architektonischen Konzeption untermauert wird, denn „[l]e style de la prison dépendra de vos décisions théologiques“ 462 , wie Charles X den Ordensbrüdern deutlich zu verstehen gibt. Im Drehbuch äußert sich dies in der von Demetz konzipierten Inschrift „Dieu te voit“ 463 , welche den Kerker säumt und die christlich-religiöse Moralvorstellung als Überwachungs- und Kontroll‐ mechanismus einsetzt. Das Bewusstsein für eine Situation der ständigen Über‐ wachung beschreibt Foucault als „effet majeur du Panoptique“ 464 , wonach „in‐ duire chez le détenu un état conscient et permanent de visibilité“ 465 das automatische Funktionieren des Machtdispositivs sichert. Ein zentrales archi‐ tektonisches Merkmal der Strafkolonie in Mettray, welche diesen Mechanismus illustriert und für den Titel des Drehbuchs eine programmatische Bedeutung hat, ist die fehlende Ummauerung. Auch in seinem Interview mit Bourseiller vertieft Genet den Verzicht auf eine die Strafanstalt abriegelnde Mauer: Une des finesses des inventeurs de la Colonie de Mettray, c’est d’avoir su ne pas mettre de muraille. Et encore maintenant, il n’existe pas de muraille. Quand nous étions à Mettray, il n’y avait - et c’est beaucoup plus convaincant - que des haies de lauriers et des bandes de fleurs, d’œillets et de pensées. Il est beaucoup plus difficile de s’évader quand il s’agit simplement de traverser un parterre de fleurs que de traverser une muraille. Donc, d’une certaine manière, les inventeurs de Mettray n’étaient pas complètement sots non plus. Ils avaient inventé cette poésie, ils nous avaient terrorisé [sic! ] avec des pensées, des œillets, des lauriers, etc. 466 Neben der bautechnischen Schwierigkeit, eine 600 Hektar umfassende Mauer zu errichten, steht im Drehbuch der christlich-religiöse Erziehungsansatz im 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 149 467 Vgl. Genet: Le Langage de la muraille, état numéro 3, p. 43-44. 468 Vgl. Georges-François Pottier: „La colonie agricole et pénitentiare de Mettray pendant le séjour de Jean Genet de septembre 1926 à mars 1929“, in: Luc Forlivesi et al. (Hgg.): Éduquer et punir. La colonie agricole et pénitentiaire de Mettray (1839-1937), Rennes: Presses universitaires 2005, pp. 197-210. 469 Vgl. ibid., p. 204-205. 470 Den Aspekt der ökonomischen Ausbeutung kritisiert Genet in seinem Interview mit Antoine Bourseiller. Vgl. Genet: „Entretien avec Antoine Bourseiller“, p. 223: „Les gens qui l’ont organisé, c’est-à-dire le Baron Demetz et ses héritiers, ont gagné des fortunes énormes. Donc, nous savions que tout ça, c’était le résultat d’une escroquerie qui était faite au-dessus de nous, qui dépassait de loin les vols que nous avions pu faire. Et nous savions que les métiers qu’on nous enseignait étaient de faux métiers.“ Auch erwähnt er hier die militärische Erziehung der Delinquenten aus zumeist reicheren Familien, die auf die Armee vorbereitet wurden. Vgl. ibid., p. 225. Vordergrund, dem entsprechend die Strafkolonie durch ihre Öffnung zur Natur einen paradiesischen Seinszustand nachbilden soll. Genets Reflexionen zu dieser Frage scheinen während der Planung des Drehbuchs immer vielschichtiger zu werden. So etwa wird der im Zitat genannte Aspekt der Terrorisierung in einem Gespräch zwischen Demetz und Courteilles, dem Besitzer des Terrains, veran‐ schaulicht, in dem über die Vergabe von kopfgeldähnlichen Prämien für die Rückführung jedes lebenden oder toten flüchtigen Häftlings durch die in der Umgebung ansässigen Bauern verhandelt wird, die auch dazu autorisiert werden sollten, die Entflohenen direkt zu erschießen. 467 Die Problematik des Ausbruchs aus Mettray und der Rückführung der Insassen durchzieht das gesamte Dreh‐ buch und könnte damit begründet werden, dass in dem Zeitraum, als Genet selbst in Mettray inhaftiert war, nämlich zwischen 1926 und 1929, die Aus‐ bruchsversuche zahlenmäßig stark anstiegen, wie Pottier ermittelt hat. 468 Im Jahre 1927 versuchten seiner Studie zufolge 180 Jugendliche von insgesamt rund 450 zu entfliehen und wurden teilweise erschossen, weswegen der Gemeinderat von Notre-Dame-d’Oé und weiteren umliegenden Bezirken einen Beschluss fasste, der die Direktion der Strafkolonie zu einer Erhöhung des Wachpersonals zwang. 469 Genets Ausdruck einer ‚Sprache der Mauer‘ beschreibt ein Macht‐ system, das zwar auf der Verinnerlichung von Überwachung und Kontrolle sowie der Disziplinierung beruht, aber auch eine gewisse Durchlässigkeit der Strukturen aufzeigt, die jedoch durch ein System ökonomischer Interessen aus‐ balanciert wird. Die Frage nach der Eigenart und Bedeutung dieser Sprache der Macht lässt sich nur mit Berücksichtigung der Funktion der Strafkolonie be‐ antworten. Die jugendlichen Straftäter werden als billige Arbeitskräfte ausge‐ nutzt und zu Soldaten herangezogen, wodurch Mettray gleichsam als Rekrutie‐ rungseinrichtung für die französische Armee dargestellt wird. 470 Der Begriff der Kolonie wird von Genet in seiner historischen Vielschichtigkeit verwendet, die 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 150 471 Vgl. das Kapitel „Le langage de la colonisation s’apprend en prison“ in: Neutres: Genet sur les routes du Sud, pp. 131-153. 472 Genet: Le Langage de la muraille, état numéro 4, p. 81bis. 473 Vgl. Neutres: Genet sur les routes du Sud, p. 150. 474 Vgl. Zamour: „L’expérience au risque de l’histoire“, p. 154. 475 Vgl. Ben Jelloun: Jean Genet, menteur sublime, p. 181. einen Analogieschluss zwischen der Strafkolonie, den Baumwollplantagen in den amerikanischen Südstaaten und der französischen Kolonialisierung Nord‐ afrikas zulässt. Während der Vergleich mit der Versklavung schwarzer Arbeits‐ kräfte in den Südstaaten eher untergeordnet bleibt, beschreibt Genet die Ana‐ logie zwischen Strafkolonie und Kolonialreich mithilfe der Homonymie des Begriffs expliziter, wie auch bereits Jérôme Neutres herausgearbeitet hat. 471 Viele ehemalige Häftlinge wurden als Soldaten bei der Eroberung und Verteidigung der französischen Kolonien eingesetzt, auch da eine militärische Verpflichtung eine frühzeitige Entlassung bewirken konnte, wie es bei Genet selbst der Fall war. Diese ehemaligen colons „qui ont combattu aux colonies (je veux dire aux autres)“ 472 schreiben Briefe aus den Kolonien, nämlich aus Alger, Modagor, Mos‐ tagan und Meknès, wodurch Genet eine symbolische Korrespondenz zu Mettray herstellt. Die so angedeutete Ähnlichkeit zwischen Strafkolonie und Kolonial‐ reich evoziert ein beide Kolonialformen beschreibendes Machtsystem. Der Titel Le Langage de la muraille suggeriert einen Machtdiskurs im Foucault’schen Sinne, wobei sich diese ‚Sprache der Mauer‘ tatsächlich jedoch durch die Un‐ sichtbarkeit eines Systems der Repression und Ausbeutung kennzeichnet. An‐ ders als Neutres behauptet, standen Genet und Foucault zum Zeitpunkt der Entstehung des Manuskriptes 1981 nicht mehr in engem Kontakt zueinander. 473 Genets fiktiv-genealogische Darstellung der Evolution Mettrays setzt da ein, wo Foucaults theoretische Untersuchung Surveiller et punir aufhört, und trägt, wie auch Zamour konstatiert, die Prägung von Genets Umgang mit Foucault. 474 Während Surveiller et punir Foucaults Engagement im G. I. P. theoretisch ab‐ rundet und somit teils aus der Praxis erfahrene Problemstellungen aufgreift, lässt sich bei Genet keinerlei Anknüpfung an den G. I. P. explizit feststellen. Seine literarischen Ausführungen zeugen aber bei einer aufmerksamen Lektüre von impliziten intertextuellen Verweisen auf Foucaults Surveiller et punir, das Genet als Reflexionsgrundlage diente, wie auch Tahar Ben Jelloun in seinen Erinne‐ rungen bestätigt. 475 So rekonstruiert Ben Jelloun folgendes Gespräch, das im Februar 1977 zwischen ihm und Genet stattgefunden hat: Il [Genet, S. I.] me parle ensuite de Foucault: ‚Tu sais, quand Foucault, dans Surveiller et Punir, fait reposer le mal sur les forts, il oublie qu’il y a une complicité des faibles.‘ Moi: ‚Je comprends ça dans le cas des immigrés; ils sont complices dans la 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 151 476 Ibid. 477 Gilcher-Holtey: „Transformation durch Subversion“, p. 201. 478 Vgl. ibid., p. 216. 479 Vgl. insbesondere das Kapitel V: „Illégalisme et gauchisme“ in: Gavi et al.: On a raison de se révolter, pp. 83-94. 2.3.6 mesure où ils ne se révoltent pas.‘ Genet: ‚Oui, mais il faut redéfinir les mots violence, racisme.‘ 476 Genets Kritik an Foucault ist an einem Machtbegriff ausgerichtet, der, so Genet, alleine die Verantwortung der Starken, nicht aber die Komplizenschaft der Schwachen und deren mangelnde Bereitschaft für einen Wandel der Verhält‐ nisse berücksichtigt. Genet reflektiert in diesem Zusammenhang den Begriff der Gewalt in Opposition zum Rassismus, eine Kontrastierung, die sich in seinem Vorwort zu den Gefängnisbriefen der Roten Armee Fraktion als Dichotomie von Gewalt und Brutalität äußern wird. In Le Langage de la muraille wird diese Kritik an Foucault jedoch nicht mehr manifest, was sich damit erklären lässt, dass sein Drehbuch der erste Text nach einer an den Skandal um seinen Artikel für die R.A.F. anschließenden dreijährigen Schaffenspause ist und diesen Einschnitt folglich überwindet. Der Gewaltbegriff als Prinzip des Widerstandes soll im nachfolgenden Kapitel näher betrachtet werden. Zum Begriff der Gewalt Der Begriff der Gewalt spielt nicht erst im Kontext der terroristischen Attentate im Deutschen Herbst 1977 eine Rolle, sondern prägt eine Debatte innerhalb der 68er-Bewegung, welche mit den Eskalationen während der Demonstrationen zwischen Ordnungskräften und Protestlern einsetzt. Wie Gilcher-Holtey kon‐ statiert, ist „[d]ie Gewaltfrage […] vom alternativen Ordnungsentwurf der Be‐ wegung sowie von den Praktiken, die Gesellschaft durch Subversion ihrer Teil‐ bereiche zu verändern, nicht zu trennen.“ 477 Die Historikerin unterscheidet jedoch in ihrer Studie klar zwischen einer subversiven Transformationsstrategie der 68er Bewegung und den militanten Stadtguerilla-Fraktionen und den ter‐ roristischen Gruppierungen, welche deren Aktionsformen radikalisierten und sich damit auch von deren Grundwerten distanzierten. 478 Die Gewaltdebatte problematisiert eine Handlungspraxis im Grenzbereich von Legalität und Ille‐ galität, wie in der Diskussion zwischen Sartre und Vertretern der Gauche Pro‐ létarienne in besonderem Maße manifest wird. 479 Wie auch bereits im Kontext der Debatte um die Schaffung eines staatlich unabhängigen, revolutionären Ge‐ 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 152 480 Ibid., p. 86. 481 Jean-Paul Sartre: „Les maos en France“ [1972], in: Situations X. Politique et Autobiogra‐ phie, Paris: Gallimard 1976, pp. 38-47, hier 39. 482 Vgl. Imbusch: „Der Gewaltbegriff “, p. 50. 483 Ibid., p. 36. 484 Gavi et al.: On a raison de se révolter, p. 85-86. 485 Vgl. Jean-Pierre Barou: Sartre, le temps des révoltes, o. O.: Stock 2006, p. 28. 486 Sartre: „Les maos en France“, p. 46. 487 Michel Wieviorka: „1968 und der Terrorismus“, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.): 1968 - Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen: Vanden‐ hoeck & Ruprecht 1998, pp. 273-282, hier 278. richtes (vgl. Kapitel 2.3.1) angerissen, fordert Sartre unter Verwendung des Be‐ griffs der „illégalité légitime“ 480 den Einsatz einer illegalen Aktionsform, wenn sie moralisch gerechtfertigt werden kann, und bewertet diese als Quintessenz der revolutionären Handlungspraxis: „[U]n révolutionnaire est voué à l’action illégale.“ 481 Die Differenzierung von legitimer und illegaler Gewalt umfasst die Unterscheidung einerseits von Legalität und Illegalität und andererseits von Legitimität und Illegimität, wobei es, wie Peter Imbusch herausstellt, im Kern um die Bewertung von Normverletzungen geht. 482 Dahinter steht die Annahme, dass die Legalität nicht automatisch die Legitimität einer Handlung begründet und dass eine von der Gesellschaft als illegal bewertete Aktionsform durchaus legitimiert sein kann: Das ist die Frage nach den Rechtfertigungsmustern und Legitimationsstrategien von Gewalt. Je nach dem, um welche Art und welchen Typus von Gewalt es sich handelt, können unterschiedliche Rechtfertigungen für Gewalttaten ins Feld geführt werden, deren Legitimität sich an den jeweils vorherrschenden Normen einer Gesellschaft orientiert. 483 Sartres Forderung nach einer „illégalité absolue, ou contestation du système par la légitimité de la démocratie directe“ 484 ist unter Bezug auf die Handlungsstra‐ tegie der direkten Aktion zu erklären, welche ihn Barou zufolge mit dem Credo der Maoisten verbindet. 485 Die drei Merkmale „violence, spontanéité, mo‐ ralité“ 486 , welche Sartre den Maoisten attestiert, konstituieren für ihn die Haupt‐ bestandteile der revolutionären Aktion. Das Verständnis von Gewalt und Ille‐ galität fußt bei den Maoisten jedoch vor allem auf einem symbolischen Inhalt des Gewaltbegriffs, der sich von einem terroristischen Gewaltverständnis un‐ terscheidet. Die Maoisten verwenden einen Gewaltbegriff, der, so Wieviorka, „den Niedergang des kanonischen Marxismus markiert“ 487 und die Befreiungs‐ kämpfe in der Dritten Welt sowie vor allem den chinesischen Maoismus in den Vordergrund rücken. Die Frage nach der Positionierung zum internationalen 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 153 488 Ibid., p. 275. 489 Vgl. Jean-Paul Sartre: „A propos de Munich“, in: La cause du peuple, 15. Oktober 1972, p. 2. 490 Jean Bourgault: „Sartre et le maoïsme“, in: Emmanuel Barot (Hrsg.): Sartre et le Mar‐ xisme, Paris: La Dispute 2011, pp. 81-105, hier 101. 491 Yves K.: Sartre et la violence des opprimés, Montpellier: Indigène 2010, p. 5. 492 Sartre: „A propos de Munich“, p. 2. 493 Ibid. 494 Ibid. Terrorismus insbesondere in Folge des Nahost-Konfliktes, welche sich in Frank‐ reich nach 1968 aufdrängt, wird schließlich die Spaltung der Maoisten herbei‐ führen. Eine Zäsur bildet das Attentat von München 1972, das nach Wieviorka „einen Faktor zur Selbstauflösung der Organisation“ 488 darstellt, aus welcher einige Zeit später (1979) wiederum die Action Directe als ein radikalisierter, linksextremer Flügel hervorgeht. Das Blutbad in München bewegt auch Jean-Paul Sartre zu einer umstrittenen Stellungnahme in La cause du peuple, in deren Rahmen er das Prinzip des Terrorismus beschreibt. 489 Während Bourgault Sartres Position in diesem Text als die eines „modéré et modérateur [qui] rap‐ pelle […] le fait et le poids de la violence politique dans l’Histoire, mais [qui] tient aussi à se distinguer de ceux qui se voulaient - notamment au sein de la GP - unilatéralement et coûte que coûte pro-Palestiniens“ 490 beschreibt, reprä‐ sentiert Sartres Artikel aufgrund seiner vermeintlichen Radikalität für Yves K. sogar einen „texte terrible aujourd’hui tenu à l’écart de ses œuvres complètes et donc inaccessible au lecteur“ 491 , womit dem Leser bewusst ein geheimnisum‐ witterter Charakter des Textes suggeriert wird. Sartre bezeichnet den Terro‐ rismus darin zwar als „la seule arme dont disposent les Palestiniens“ 492 , nimmt aber eine erklärende und abwägende Haltung ein, die keinesfalls offen den Ein‐ satz von Gewalt befürwortet, wie etwa sein Vorwort zu Fanons Les damnés de la terre. Tatsächlich kennzeichnet sich Sartres Artikel vor allem durch eine un‐ persönliche Perspektive, die eine propalästinensische Sichtweise zulässt, die er jedoch nicht unbedingt selbst vertritt. So fußt Sartres Argumentation in erster Linie darauf, die propalästinensische Haltung aufzuzeigen und zu rechtfertigen, nicht aber die terroristischen Attentate bedingungslos zu legitimieren. Sein Ar‐ tikel beginnt in dieser Logik mit der unpersönlichen Konstruktion „[c]eux qui, tout en affirmant qu’Israël est un Etat souverain, considèrent que les Palestiniens ont droit au même titre à la souveraineté […].“ 493 Sartre übt durchaus Kritik an der israelischen Politik, indem er ihr vorwirft, „à écarter toute possibilité de solution“ 494 , bindet diese aber vielmehr in seine grundsätzliche Skizzierung der Konfliktsituation ein. Statt im Nahost-Konflikt eindeutig für ein politisches Lager Stellung zu beziehen, verurteilt sein Artikel die Scheinheiligkeit der fran‐ 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 154 495 Ibid. 496 Ibid. 497 Bourgault: „Sartre et le maoïsme“, p. 102. 498 Vgl. K.: Sartre et la violence des opprimés, p. 8. 499 Jean-Paul Sartre: „Interview“ [1969], in: Situations VIII. Autour de 68, Paris: Gallimard 1972, pp. 335-346, hier 335. zösischen Presse, die das Attentat von München nur deshalb als Skandal be‐ werte, weil es auf europäischem Boden verübt worden sei: Ce qu’il faut dire ici, c’est que, pour tous ceux qui sont d’accord avec les attentats terroristes auxquels l’Establishment israélien et les dictatures arabes ont réduit les Palestiniens, il semble parfaitement scandaleux que l’attentat de Munich soit jugé par la presse française et une partie de l’opinion comme un scandale intolérable alors qu’on a lu bien souvent dans les journaux le compte rendu sec et sans commentaires d’un attentat à Tel-Aviv qui avait coûté plusieurs vies humaines. 495 In seiner richtenden Instanz wendet sich Sartre folglich weder gegen die israe‐ lische noch gegen die palästinensische Seite, sondern alleine gegen die unan‐ gemessene französische Berichterstattung, sowie die Vorgehensweise der deut‐ schen Polizei: „Il n’y a donc eu de coupable devant tous que la police munichoise […].“ 496 Als Kritiker der europäischen Haltung im Nahost-Konflikt, zielt er selbst, wie Bourgault richtig herausstellt, auf einen Ausgleich ab, dem‐ zufolge der palästinensische Befreiungskampf legitimiert und gleichsam die is‐ raelische Souveränität befürwortet wird: Si l’on songe au temps où paraît cet article, à l’extrémisme des interlocuteurs auxquels il s’adresse et au journal dans lequel il est publié, il apparaît moins comme un brûlot sanguinaire - interprétation courante aujourd’hui - que comme un texte soucieux de faire reconnaître la complexité de la situation, de maintenir une sorte de balance, là où d’autres appelaient simplement au meurtre. 497 Damit widerspricht Bourgault der verzerrten These von Yves K., wonach Sartre neben Genet der einzige gewesen sei, der den terroristischen Anschlag in Mün‐ chen bedingungslos verteidigt habe. 498 Dass Sartres und Genets Positionen im palästinensisch-israelischen Konflikt keinesfalls vergleichbar sind, beweist auch Sartres Interview zu dieser Frage von 1969, in dem er sich eindeutig als „ami des deux camps“ 499 bezeichnet. Sartres Artikel über das Attentat in München lässt vielmehr die gespaltene Haltung der Maoisten zum internationalen Terrorismus erkennen. So stellt er beispielsweise auch in Aussicht, das politische Ausmaß der terroristischen Anschläge bei der Beurteilung der Geschehnisse zu berück‐ sichtigen: „Il y aurait certes à envisager ceux-ci [les attentats mortels, S. I.] po‐ 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 155 500 Ibid. 501 Vgl. Wieviorka: „1968 und der Terrorismus“, p. 277. 502 Ibid., p. 281. 503 Genet: „Violence et brutalité“, p. 199. 504 Imbusch: „Der Gewaltbegriff “, p. 51. 505 Vgl. Genet: „Violence et brutalité“, p. 202. 506 Ibid. litiquement, c’est-à-dire à estimer les effets voulus et ceux qui ont été réellement obtenus.“ 500 Als bedeutendste Auswirkung nennt Sartre dann die Aufmerksam‐ keit der Öffentlichkeit für die Problematik in Nahost, die nicht mehr als geo‐ graphisch lokalisiertes Phänomen auftritt, sondern alle betrifft. Anders als etwa in Deutschland oder Italien, wo sich mit der Roten Armee Fraktion oder den Roten Brigaden eigene terroristische Gruppierungen heraus‐ bildeten, die den bewaffneten Kampf propagierten und deren Vorgehensweise der palästinensischen Befreiungsbewegung nachempfunden war, entstand in Frankreich mit Ausnahme der maoistischen Action Directe keinerlei vergleich‐ bare Gruppierung. Somit kann Wieviorkas Einschätzung bestätigt werden, dass in Frankreich die Verbindung zwischen der Mai-Bewegung und dem französi‐ schen Terrorismus der linksextremen Action Directe der siebziger und achtziger Jahre vor allem über die Maoisten verläuft. 501 Jedoch stellt die Kontinuität zur Mai-Bewegung vielmehr eine Illusion dar, repräsentiert die Militarisierung doch eine „Inversion der Ideen des Mai 68“ 502 . In dieser Gewaltdebatte der siebziger Jahre ist auch Genets als Vorwort zu den Gefängnisbriefen der Roten Armee Fraktion geplanter und schließlich am 2. September 1977 in Le Monde vorab veröffentlichter Artikel zu situieren, wie seine den Text eröffnende Kritik an der Kontrastierung der Gegenbegriffe ‚Ge‐ walt‘ und ‚Gewaltlosigkeit‘ zeigt: „Les journalistes jettent à la volée des mots qui en mettent plein la vue sans trop se préoccuper de la lente germination de ces mots dans les consciences. Violence - et son complément indispensable: non-violence, sont un exemple.“ 503 Genet bewertet das begriffliche Gegensatz‐ paar hier als diskursiv hergestellt und somit als „Teil einer sozialen Wirklich‐ keitskonstruktion“ 504 , die er ablehnt. Seine Kritik richtet sich gegen die Diskre‐ ditierung der Roten Armee Fraktion und ihre Stilisierung zu einer terroristischen Gruppe, die nur von einigen wenigen linken Gruppierungen un‐ terstützt werde. 505 Genet strebt nach einer Rehabilitierung des Gewaltbegriffs, der seinem Verständnis nach medial unterhöhlt wurde, und interpretiert den Begriff des Terrorismus als „un mot encore, celui de ‚terrorisme‘ qui devrait être appliqué autant et davantage aux brutalités d’une société bourgeoise“ 506 . Als Grund für die fehlende Unterstützung der Roten Armee Fraktion seitens linker 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 156 507 Ibid. 508 Ibid., p. 199. 509 Ibid. Gruppierungen nennt er deren gewaltsame Aktion, die für ihn sowohl eine Ab‐ wendung als auch eine Verlängerung von Mai ’68 darstellt: [C’]est que la Fraction Armée Rouge paraît être le contraire de ce que fut Mai 68, et son prolongement. Surtout son prolongement. Dès le début, la révolte étudiante - mais non les grèves dans les usines - se donne une allure frondeuse qui se traduit en escarmouches où les adversaires, polices et manifestants, cherchent, avec plus ou moins d’élégance, à éviter l’irréparable. Les jeux nocturnes des rues relèvent plus de la danse que du combat. Les manifestations sont verbeuses, ouvertes même à la police et aux provocateurs de droite. Quant aux prolongements de ce mois de mai, nous les apercevons comme une sorte de dentelle angélique, spiritualiste, humaniste. La ‚R. A. F.‘ s’est organisée avec à la fois une dureté de bouchon bien vissé, avec une étanchéité des structures, avec une action violente qui ne cesse ni en prison ni hors d’elle, et conduit, avec précision, chacun de ses membres aux limites de la mort, aux approches de la mort soufferte s’opposant encore violemment aux brutalités judiciaires et carcérales, et jusqu’à la mort elle-même. 507 Genets Argumentation stützt sich auf eine Legitimierung von Gewalt, die als Gegen-Gewalt zu einer institutionellen und systemischen Form der Gewalt ver‐ standen wird, womit er den Konnex von Macht und Gewalt reflektiert. Dazu nimmt er eine definitorische Abgrenzung vor, indem er den Begriff der Gewalt, „violence“, in Opposition zu einer das System als Ganzes betreffenden Gewalt definiert, der „brutalité du système“ 508 . Diese Brutalität offenbart sich für Genet im Prozess gegen die R. A. F., und er stellt terminologisch eine Gleichung zwi‐ schen ‚Brutalität‘ und ‚Prozess‘ auf: Le procès qui est fait à la ‚R. A. F.‘ (Rote Armee Fraktion), le procès de sa violence est bien réel, mais l’Allemagne fédérale et, avec elle, toute l’Europe et l’Amérique veulent se duper. Plus ou moins obscurément, tout le monde sait que ces deux mots: procès et violence, en cachent un troisième: la brutalité. La brutalité du système. Et le procès fait à la violence c’est cela même qui est la brutalité. 509 Der hier von Genet entwickelte Begriff des Prozesses ist nicht alleine auf den Strafprozess zu beziehen, welcher am 28. April 1977 gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Karl Raspe eröffnet wurde, sondern bezeichnet für den Autor eine institutionell fundierte Grundeinstellung der Gesellschaft, nämlich ihre Brutalität, die im konkreten Strafprozess nur zum Ausdruck kommt. Als Vergleich kann Genets Stellungnahme zum Prozess gegen den Vorsitzenden der Black Panther Party Bobby Seale herangezogen werden, in der eine ähnliche 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 157 510 Genet: „Lettre aux intellectuels américains“, p. 43. 511 Genet: „Violence et brutalité“, p. 199. 512 Ibid. 513 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Buch I: Der Pro‐ duktionsprozess des Kapitals, in: Karl Marx / Friedrich Engels: Werke, Band 23, Berlin: Dietz 1962, p. 779. 514 Vgl. Sartre: „Préface à l’édition de 1961“, p. 23. 515 Genet: „Violence et brutalité“, p. 199-200. 516 Ibid., p. 201. Dieser kolonialistischen Brutalität stellt Genet wiederum die befreiende Gewalt, die „violence libératrice“ gegenüber. Sartre verwendet in seinem Vorwort zu Les damnés de la terre hingegen sowohl den Begriff der Gewalt, der „violence coloniale“ als auch den Begriff der Brutalität „brutalité coloniale“ für die kolonialistische Herr‐ schaft. Vgl. Sartre: „Préface à l’édition de 1961“, p. 23 und 34. 517 Sartre: „Préface à l’édition de 1961“, p. 23. terminologische Gleichung zwischen Prozess und Rassismus entwickelt wird: „Le procès qui vient de commencer contre le Président Bobby Seale […] est en fait un procès politique que l’on fait au Black Panther Party et, d’une façon plus générale, un procès racial que l’on fait à tous les Noirs d’Amérique.“ 510 Genets Differenzierung einer direkten und einer systemischen Gewalt zielt erneut auf eine Umkehrung des Täter-Opfer-Prinzips ab. Die direkte und von ihm positiv bewertete Gewalt wird begrifflich als Synonym für das Leben gefasst: „[V]io‐ lence et vie sont à peu près synonymes.“ 511 Genet untermauert diesen Vergleich mithilfe einer Reihe von Bildern, welche neues Leben, die Geburt und im über‐ tragenen Sinne einen Neuanfang symbolisieren und für ihn metaphorisch das Prinzip von Gewalt als Lebenskraft repräsentieren: „Le grain de blé qui germe et fend la terre gelée, le bec du poussin qui brise la coquille de l’œuf, la fécon‐ dation de la femme, la naissance d’un enfant relèvent d’accusation de vio‐ lence.“ 512 Die Verbindung von Gewalt und neuem Leben erinnert an das Bild von Karl Marx, wonach die Gewalt als „Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“ 513 beschrieben wird, welches auch Sartre in seinem Vorwort zu Frantz Fanons Les damnés de la terre evoziert. 514 Gewalt und Brutalität werden bei Genet als quasi dialektisches Kräfteverhältnis dargestellt, denn „plus la brutalité sera grande, plus le procès infamant, plus la violence devient impérieuse et nécessaire.“ 515 Ähnlich wie Sartre in seinem Vorwort die revolutionäre Gewalt als Bumerang darstellt, der ausgehend von der kolonialen Gewalt auch wieder auf diese zurückfällt, beschreibt Genet die Gewalt der R. A. F. als gewaltsame Reaktion auf eine repressive Situation der Unterdrü‐ ckung. Er zieht dabei einen eigentümlichen Vergleich zur Kolonialisierung, die als „série de brutalités“ 516 mit dem Ziel der ökonomischen Ausbeutung be‐ zeichnet wird. Genet scheint in seinem Vorwort jene Funktion eines „interprète de la situation“ 517 zu beanspruchen, die Sartre Frantz Fanon zuschreibt. So be‐ 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 158 518 Vgl. Johan Galtung: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1975. 519 Genet: „Violence et brutalité“, p. 200. 520 Vgl. zur Unbestimmbarkeit des Begriffs ‚strukturelle Gewalt‘: Imbusch: „Der Gewalt‐ begriff “, p. 40. 521 Vgl. Galtung: Strukturelle Gewalt, p. 9. trachtet er die Gewalt der R. A. F. als notwendig, um gegen die Brutalität des Systems vorzugehen. Das Verständnis von Staatsgewalt wird durch den Begriff der systemischen Brutalität von Genet diskreditiert, so dass System und Staat zu einem politischen Feind stilisiert werden. Er bedient sich dabei eines Deu‐ tungsmusters, demzufolge die repressive Gewalt in den sozialen Strukturen der Gesellschaft angelegt erscheint, ein Prinzip, das Johan Galtung 1975 als struk‐ turelle Gewalt definiert hat. 518 Wie Genet formuliert, kann die Brutalität Er‐ scheinungsformen annehmen, die sie nicht eindeutig als Brutalität erkennen lassen: l’architecture des H. L. M., la bureaucratie, le remplacement du mot - propre ou connu - par le chiffre, la priorité, dans la circulation, donnée à la vitesse sur la lenteur des piétons, l’autorité de la machine sur l’homme qui la sert, la cofidication [sic! ] des lois prévalant sur la coutume, la progression numérique des peines, l’usage du secret empêchant une connaissance d’intérêt général, l’inutilité de la gifle dans les commissariats, le tutoiement policier envers qui a la peau brune, la courbette obséquieuse devant le pourboire et l’ironie ou la grossièreté s’il n’y a pas de pourboire, la marche au pas de l’oie, le bombardement de Haïphong, la Rolls-Royce de quarante millions … 519 Diese heterogene Auflistung fügt unterschiedliche Formen sozialer Ungleich‐ heit und Ungerechtigkeit zusammen, wobei deutlich wird, dass der Begriff der strukturellen Gewalt in seiner Unbestimmbarkeit ad infinitum ausgeweitet wird. 520 Galtungs Beschreibung einer Kluft zwischen Aktuellem, nämlich dem, was ist, und Potentiellem, als dem, was gemessen am gesellschaftlichen Ent‐ wicklungsstand hätte sein können, welche zur Ursache der strukturellen Gewalt erhoben wird, 521 schwingt auch in Genets Beispielen mit. Seine Differenzierung des Gewaltbegriffs einerseits als Lebensprinzip (violence) und andererseits als systemisch begründete soziale Ungleichheit (brutalité) veranschaulicht das, was Imbusch als ein für diese Zeit typisches politisch-ideologisches Begriffsmanöver bezeichnet: Im Umfeld sozialer Protestbewegungen wurde etwa versucht, den Gewaltbegriff in Richtung auf strukturelle Gewalt hin zu politisieren, so dass eine Fülle von gesell‐ schaftlichen Missständen und Problemlagen mit ihm etikettiert, diskreditiert und an‐ gegriffen werden konnte. Zugleich gab es aber bei militanten Demonstrationen den 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 159 522 Imbusch: „Der Gewaltbegriff “, p. 52. 523 Vgl. Laroche: Le dernier Genet, p. 151. 524 Jean Genet: „Ouverture-éclair sur l’Amérique“ [1968], in: Europe 808-809 (1996), pp. 8- 12, hier 8. 525 Vgl. Genet: „May Day Speech“, p. 51; Genet: „Entretien avec Michèle Manceaux“, p. 59. 526 Genet: „Entretien avec Hubert Fichte“, p. 144. Versuch, den Gewaltbegriff möglichst eng zu fassen, damit Formen des zivilen Unge‐ horsams, von Widerstand gegen die Staatsgewalt und Sachbeschädigungen erst gar nicht als Gewalt erscheinen. 522 Die Stilisierung des linksextremen Terrorismus der Roten Armee Fraktion zu einem Befreiungskampf muss bei Genet als Resultat seiner politischen Refle‐ xionen der frühen siebziger Jahre betrachtet werden, zeugt jedoch im Herbst 1977 von einem gewissen Anachronismus. Genets Wortwahl lässt sich mithilfe einer Archäologie des Gewaltkonzeptes entschlüsseln, was Laroche auch als Kristallisierung beschreibt. 523 In einem zum Entstehungszeitpunkt unveröffentlichten Artikel von 1968 un‐ terscheidet Genet bereits zwischen zwei unterschiedlichen Formen von Gewalt, die den Konnex von Macht und Gewalt jedoch unter dem Einfluss des ameri‐ kanischen Imperialismus umschreiben, ohne dabei den Gewaltbegriff auszudif‐ ferenzieren: Sur la violence, il faut distinguer, il faut faire un choix. Donc, je suis contre la violence des Américains au Vietnam mais pour elle quand les Vietnamiens l’utilisent contre les Américains. Contre la violence de la Police mais pour la violence des Noirs de Chicago. 524 Der Begriff der Gewalt wird in seinen politisch motivierten Texten für die Black Panthers vor allem aber dem von ihm als kriminell bezeichneten Terminus der Gewaltlosigkeit gegenübergestellt, 525 eine Kontrastierung, die er in seinem Ar‐ tikel für die Rote Armee Fraktion bereits im ersten Satz in Form einer Sprach‐ kritik ablehnt. Die Verschiebung der Gewaltdebatte auf den Dualismus von Staatsgewalt und revolutionärer Gewalt manifestiert sich sprachlich durch die Opposition von Brutalität und Gewalt und beruht auf Genets Erkenntnis, dass das revolutionäre Konzept nicht vom Konzept der Gewalt getrennt werden kann, wie er vorsichtig im Interview mit Hubert Fichte in Form einer indirekten Frage formuliert: „Je me demande si le concept révolutionnaire peut être séparé du concept de la violence? “ 526 ‚Gewalt‘ wird von Genet entsprechend seinem gegenüber Ben Jelloun geäußerten Vorhaben - „il faut redéfinir les mots vio‐ 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 160 527 Ben Jelloun: Jean Genet, menteur sublime, p. 181. 528 Genet: „May Day Speech“, p. 50. 529 Vgl. Laure Gravier: „Jean Genet und die terroristische Frage. Der Artikel „Violence et Brutalité“ in Le Monde, 2. September 1977“, in: Matthias N. Lorenz / Oliver Lubrich (Hgg.): Jean Genet und Deutschland, Gifkendorf: Merlin 2014, pp. 143-163. 530 Jean Genet: „Entretien avec Rüdiger Wischenbart et Layla Shahid Barrada“ [1983], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 269-296, hier 284. 531 Jean-Paul Sartre: „Autoportrait à soixante-dix ans“ [1975], in: Situations X. Politique et Autobiographie, Paris: Gallimard 1976, pp. 133-226, hier 158. lence, racisme“ 527 - redefiniert und mit dem von ihm für die revolutionäre Aktion vorgesehenen Attribut der „fraîcheur du commencement du monde“ 528 versehen. Als solche beschreibt die Gewalt für ihn eine positive Öffnung hin zur Zukunft, während sich Brutalität in einer Monopolisierung und einem Missbrauch von Macht äußert. Obwohl sein Artikel einen Skandal in der Öffentlichkeit verur‐ sacht, wie Laure Gravier aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive überzeu‐ gend veranschaulicht, 529 hält Genet noch 1983 an dieser terminologischen Po‐ larität fest und exemplifiziert die beiden Konzepte folgendermaßen: Mais si je suis violent, c’est-à-dire quand un homme ou une femme élèvent un enfant, quand on lui apprend ‚A‘, ‚B‘, ‚C‘, ‚D‘, l’enfant pleurniche, l’enfant s’ennuie et la mère insiste, ‚A‘, ‚B‘, elle lui fait une violence, elle lui apprend quelque chose alors qu’il voudrait s’amuser. Mais c’est une bonne violence. La mère agacée peut lui donner des gifles à n’importe quel moment, alors elle est brutale. 530 Im Unterschied zu Sartre, der zwar die Gründungsmitglieder der R. A. F. 1974 in Stammheim besucht und sich für den Status und die Verteidigung der Rechte politischer Gefangener einsetzt, kann Genets Vorwort als eine Hommage an die Gewalt und die terroristische Aktionsform der R. A. F. gelesen werden. Rück‐ blickend beschreibt Sartre seine eigene Vorgehensweise in einem Interview mit Michel Contat 1976 als Niederlage: J’ai beau dire, au début de ma conférence de presse, que je ne prenais pas en considération les actes reprochés à Baader, mais que je ne considérais que les conditions de sa détention, les journalistes ont jugé que je soutenais l’action politique de Baader. Je crois donc que ça a été un échec, ce qui n’empêche pas que, si c’était à refaire, je le referais. 531 Wie Dichy rekonstruiert, wollte Genet in Absprache mit Klaus Croissant, einem der Anwälte der Roten Armee Fraktion zunächst auch einen Text über die Haft‐ bedingungen in Stammheim schreiben, konnte jedoch nicht in direkte Verbin‐ dung mit den Mitgliedern treten, weswegen Croissant ihm anbot, das Vorwort 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 161 532 Vgl. dazu Dichys Annotationen zum entsprechenden Text in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 384. 533 Genet: „Violence et brutalité“, p. 205. 534 Ibid., p. 203. 535 Ibid. 536 Vgl. Laroche: Le dernier Genet, pp. 140-151. 537 Vgl. Artières / Potte-Bonneville: D’après Foucault, p. 194. 538 Vgl. Michel Foucault: „Va-t-on extrader Klaus Croissant“ [1977], in: Dits et Écrits. 1954- 1988, t. III: 1976-1979, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 361-365. 539 Vgl. Artières / Potte-Bonneville: D’après Foucault, p. 196. der in Planung befindlichen Briefsammlung zu verfassen. 532 So ist zu erklären, dass die von Genet als „criminelle[s]“ 533 beschriebenen Haftbedingungen nur noch marginal behandelt und als Ausdruck bzw. Zuspitzung eines unmenschli‐ chen und ausgehend von Amerika gesteuerten Überwachungsstaates - „cette Allemagne inhumaine voulue par l’Amérique“ 534 - verstanden werden: „Et de‐ mandons-nous si l’aggravation n’est pas obtenue par la prison, l’isolement, les systèmes d’écoute, - à les lire, on a l’impression que les prisonniers sont à l’in‐ térieur d’une énorme oreille -, les systèmes d’observation, le silence, la lu‐ mière.“ 535 Zu Recht interpretiert Laroche diese Passage, welche in Foucaults Ver‐ ständnis ein panoptisches Gesellschaftssystem abbildet, als einen impliziten intertextuellen Dialog zwischen Genet und dem Philosophen. 536 Auch Foucault interveniert 1977, als Klaus Croissant aus seinem politischen Asyl wegen Kom‐ plizenschaft und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vom franzö‐ sischen Staat an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert werden sollte, ohne jedoch die terroristischen Aktionen zu verteidigen. Artières spricht den‐ noch von insgesamt drei Affären im Kontext des Engagements für die Rote Armee Fraktion, der „affaire Sartre“, der „affaire Genet“ und der „affaire Fou‐ cault“. 537 Foucaults Argumentation gegen die Auslieferung von Croissant stützt sich insbesondere auf das Recht auf politisches Asyl und das Recht der Gefan‐ genen auf Verteidigung, 538 wohingegen er sich hinsichtlich der Problematik der Haftbedingungen in Schweigen hüllte. 539 Seine Kritik richtet sich nicht mehr gegen ein vermeintlich panoptisches Staats- und Gesellschaftsmodell wie er es noch in Surveiller et punir als symptomatisch beschrieben hatte, sondern gegen die sociétés de sécurité qui sont en train de se mettre en place, [et qui] tolèrent, elles, toute une série de comportements différents, variés, à la limite déviants, antagonistes même les uns avec les autres; à condition […] que ceux-ci se trouvent dans une certaine 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 162 540 Michel Foucault: „Michel Foucault: la sécurité et l’État“ [1977], in: Dits et Écrits. 1954- 1988, t. III: 1976-1979, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 383-388, hier 386. 541 Ibid., p. 385. 542 Ibid., p. 384. 543 Vgl. ibid., p. 385. 544 Vgl. ibid. 545 Ibid., p. 386. enveloppe qui éliminera des choses, des gens, des comportements considérés comme accidentels et dangereux. 540 Den Terrorismus definiert er in diesem Sinne als Gefahr für die im Entstehen begriffene Sicherheitsgesellschaft, welche auf einem „pacte de sécurité“ 541 be‐ ruht, unterscheidet dabei aber zwischen einem moralisch legitimierbaren, nati‐ onalistischen oder regionalistischen Terrorismus, wie er beispielsweise in Israel, Palästina oder Irland eingesetzt werde, und einem antisystemischen Terro‐ rismus „au nom de la classe, au nom d’un groupe politique, au nom d’une avant-garde, au nom d’un groupe marginal“ 542 . Ein die Sicherheit seiner Bevöl‐ kerung garantierender Staat sei dazu verpflichtet, immer dann zu intervenieren, wenn ein einschneidendes Ereignis den Fortgang des Alltags unterbreche. 543 Dies lasse eine Flexibilität in der Gesetzesauslegung unabdinglich werden, die jedoch nicht die Form einer willkürlichen Machtausübung annehme, sondern auf der Argumentation eines Schutzes der Bevölkerung beruhe. 544 Foucaults vi‐ sionäre Diagnose eines systemischen Strukturwandels von einem panoptischen Überwachungsstaat hin zu einem Sicherheitsstaat schafft auch eine andere Vo‐ raussetzung hinsichtlich der Beurteilung der terroristischen Attentate, welche den Staat auf einer Ebene angreifen, „où […] il a affirmé la possibilité de garantir aux gens que rien ne leur arrivera.“ 545 Während Genet einer Argumentationsstruktur der frühen siebziger Jahre verhaftet bleibt, die sich in Auseinandersetzung mit Foucault aus der Kritik an einem willkürlich agierenden Rechtsstaat nährt, eröffnet Foucault mit seiner Einschätzung eine neue Perspektive, die dem politischen Bewusstseinswandel der breiten Bevölkerung eher gerecht wird: Il faut d’ailleurs faire confiance à la conscience politique des gens. Quand tu leur dis: ‚Vous êtes dans un État fasciste, et vous ne le savez pas‘, les gens savent qu’on leur ment. Quand on leur dit: ‚Jamais les libertés n’ont été plus limitées et menacées que maintenant‘, les gens savent que ce n’est pas vrai. […] En revanche, si on leur parle de leur expérience réelle, de ce rapport inquiet, anxieux qu’ils ont avec les mécanismes 2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit 163 546 Ibid., p. 387. 2.4 de sécurité […], alors là, ils sentent très bien, ils savent que ce n’est pas du fascisme, mais quelque chose de nouveau. 546 Neben der Modifikation der Textfunktion von einem an einen begrenzten Le‐ serkreis gerichteten Vorwort zu einem politischen Leitartikel in einer der meist gelesenen französischen Tageszeitungen ist der Skandal um Genets Text insbe‐ sondere jenem politischen Bewusstseinswandel geschuldet, den Foucault par excellence in seiner Stellungnahme benennt und der sich im Rahmen der im Mai 1968 einsetzenden, öffentlichen Gewaltdebatte herauskristallisiert. Genets ter‐ minologische Redefinition der Begriffe ‚violence‘ und ‚racisme‘ rekurriert auf eine Form des gewaltsamen Widerstandes gegen eine als repressiv empfundene Staatsmacht, womit er im Vergleich zu Foucault 1977 eine anachronistische Sichtweise vertritt. Zwischenbilanz Anhand der Gegenüberstellung der Positionen von Genet, Sartre und Foucault konnte ein diskursives Beziehungssystem aufgezeigt werden, welches das in‐ tellektuelle Feld der 1970er Jahre in Frankreich symptomatisch kennzeichnet. Betrachtet man nach Pierre Bourdieu den Raum der Möglichkeiten, welcher dieses Feld beschreibt, als Universum gemeinsamer Probleme und Bezugs‐ rahmen, so konnten insbesondere zwei größere Themenkomplexe herausgear‐ beitet werden, nämlich die Frage nach den intellektuellen Handlungsentwürfen, welche sich mit der Veränderung der öffentlichen und medialen Gesellschafts‐ strukturen im Mai 1968 aufdrängt, sowie die Kritik an der Rechtsstaatlichkeit. Die von Sartre und Foucault vorgegebenen Handlungsmuster werden von Genet ex negativo rezipiert, ohne dass er jedoch den beiden Praktiken des En‐ gagements ein kohärentes Gegenmodell entgegenstellen würde. Seine Position kennzeichnet sich vielmehr durch eine sich offen distanzierende Haltung ge‐ genüber den beiden Intellektuellen, die punktuell in Debatten manifest wird und vor allem auf seinem Selbstverständnis als Poet beruht. Seine eigene öffentliche Wortergreifung legitimiert Genet daher einerseits mit der poetischen Affinität zu einzelnen politischen Gruppen wie den Black Panthers sowie den Palästi‐ nensern, andererseits aber auch mit dem Vorwurf des fehlenden Engagements der Intellektuellen für jene Bewegungen. So etwa agiert er als intellektueller Vermittler zwischen der revolutionären Bewegung der Black Panthers und der 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 164 Öffentlichkeit und insbesondere den intellektuellen Bezugsgrößen, ohne sich jedoch eindeutig auf einer der beiden Seiten zu verorten. Auch als Verfasser unterschiedlicher Vorworte, insbesondere jenes zu den Gefängnisbriefen von George Jackson, dient ihm Sartre - vor allem mit dessen Vorwort zu Frantz Fanons Les damnés de la terre - als Gegenmodell. Statt jedoch die Rolle einer moralischen Instanz zu übernehmen, die für die Unterdrückten das Wort er‐ greift, gibt er sich vielmehr als Literaturkritiker zu erkennen. So betont er die poetische Leistung von George Jackson, dessen Briefe er der Tradition einer Gefängnisliteratur zuschreibt, erwägt diesen poetischen Geist aber zugleich als Vorbedingung jedweder revolutionärer Unternehmung. Das Konzept des Intel‐ lektuellen interpretiert Genet aus seiner Sicht als Poet, wie auch in seiner Be‐ ziehung zu Foucault und dem von ihm gegründeten G. I. P. deutlich wird. Zwar unterstützt Genet dessen Aktionen und es findet ein enger Austausch statt, der sich insbesondere in der Zusammenarbeit für die Broschüre des G. I. P. im Zu‐ sammenhang mit der Ermordung von George Jackson zeigt. Doch wird Fou‐ caults im G. I. P. praktiziertes Konzept des ‚contre-discours‘ als ein Diskurs der Gefangenen selbst bei Genet durch das poetische Prinzip einer sprachlichen Korrumpierung überschrieben. Er legt den Schwerpunkt nicht darauf, dass Ge‐ fangene überhaupt einen Diskurs produzieren, sondern interessiert sich für die sprachlichen Bedingungen, unter denen dies möglich ist. Zusammenfassend kann seine Position im intellektuellen Feld durch eine kritisch-abweichende Grundhaltung beschrieben werden. Der diskursive Korrelationsraum zwischen Genet, Foucault und Sartre ma‐ nifestiert sich insbesondere anhand des Diskursgegenstandes, welcher durch die Kritik an der Rechtsstaatlichkeit determiniert wird. Hier lassen sich mehrere thematische Schwerpunkte feststellen, welche den Bereich der Gerichtsbarkeit betreffen, wie etwa Formen eines revolutionären Gegengerichtes, die Proble‐ matik der Zeugenaussage, die Frage nach dem Status der Gefangenen und die Bedeutung des Gefängnisses. Das Argumentationsmuster kennzeichnet sich durch eine Legitimierung politischer Aktionen, die aus rechtlicher Sicht in den Bereich der Illegalität verwiesen werden, die aber angesichts der als illegitim erfahrenen und der Eindämmung des revolutionären Potentials dienenden Vor‐ gehensweise des Staates als moralisch und ethisch gerechtfertigt verstanden werden. Über die Transgression des Gesetzes und damit der als kritikwürdig wahrgenommenen rechtlichen Ordnung soll eine Veränderung des Systems herbeigeführt werden, wobei unterschiedliche Stufen der Radikalität bei der Le‐ gitimierung von Gewalt und Illegalität zu verzeichnen sind. Es konnte festge‐ stellt werden, dass Genets radikale Haltung gerade in Hinblick auf die Frage nach dem Status der Gefangenen bzw. der rechtlichen Kategorien zur Klassifi‐ 2.4 Zwischenbilanz 165 zierung von Straftaten vor allem für Foucault als richtungsweisend erscheint. Durch seine Sichtweise bewirkt Genet hinsichtlich dieses diskursiven Schwer‐ punktes in Bourdieus Sinne eine Erweiterung des Möglichkeitsfeldes. Ein enger diskursiver Austausch findet insbesondere zwischen Genet und Foucault statt, der jeweils zu einer Modifizierung der eigenen Position führt. Dies kommt auch gerade in der Wahrnehmung des Gefängnisses als Mikrokosmos der Gesellschaft zum Ausdruck. Während jedoch Surveiller et punir an der Schwelle von einem disziplinierenden und repressiven Begriff von Macht hin zu einem produktiv-re‐ lativistischen zu situieren ist, bleibt Genet seiner Diagnose eines Kontroll- und Überwachungsstaates auch weiterhin verhaftet. Bis 1977, dem Zeitpunkt der terroristischen Attentate durch die Rote Armee Fraktion, vollzieht sich schließ‐ lich ein Wandel in der Gesellschaft sowie innerhalb des intellektuellen Feldes, der sich vor allem anhand der Reaktionen auf Genets obsolete Stellungnahme in der Gewaltdebatte zeigt. Sein Konzept der terroristischen Gewalt als ein vi‐ tales Prinzip, das sich der repressiven Machtausübung des Staates und dessen ungerechten Strukturen widersetzt, löst einen Skandal in der Öffentlichkeit aus, der einen Wandel des historischen Apriori nach Foucault kennzeichnet. Es han‐ delt sich folglich um eine Aussage, die das Möglichkeitsfeld nicht mehr erwei‐ tert, sondern zu diesem späten Zeitpunkt in einen Bereich des Unsagbaren ab‐ fällt. 2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich 166 1 Theodore Roszak: Gegenkultur. Gedanken über die technokratische Gesellschaft und die Opposition der Jugend, Düsseldorf / Wien: Econ 1971, p. 76. Der Titel der amerikanischen Originalausgabe von 1968 lautet The Making of a Counter Culture. 2 Ibid., p. 20. 3 Vgl. ibid., p. 24. 4 Ibid., p. 29. 5 Philipp Gassert et al.: Kleine Geschichte der USA, Stuttgart: Reclam 2008, p. 474. 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA Der in den späten 1960er Jahren durch den Historiker Theodore Roszak geprägte Begriff der Gegenkultur bezeichnet „eine Kultur, die von den wichtigsten Grund‐ sätzen [der] Gesellschaft […] stark abweicht“ 1 und sich folglich unter Bezug auf ein alternatives Wertesystem im Widerspruch zur bestehenden Kultur definiert. Roszak führt diesen im Umkreis der Jugendkultur der 1960er und 1970er Jahre situierten radikalen Protest gegen die Gesellschaft auf einen Konflikt zwischen den Generationen zurück, der sich ab den 1960er Jahren in der westlichen Ge‐ sellschaft jedoch zum „Hauptangelpunkt grundlegender gesellschaftlicher Ver‐ änderungen entwickelt“ 2 . Seine Analyse konzentriert sich insbesondere auf die gegenkulturelle Bewegung in Amerika, welche die von Roszak als vollendete „Technokratie“ bezeichnete amerikanische Gesellschaftsform zum Hauptfeind erklärt. 3 Roszaks Studie über die Gegenkultur ist innerhalb der Bewegung selbst zu situieren und wird von einer zeithistorischen Gesellschaftskritik durchzogen, wie, um nur ein Beispiel zu nennen, seine Definition der Technokratie als „per‐ fektere Form des Totalitarismus“ 4 zeigt. Dennoch beeinflusst Roszaks Ver‐ ständnis des kulturellen und politischen Protestes der Jugend als Counter Culture bis heute die historische Aufarbeitung dieser beiden Jahrzehnte, wie sich bei‐ spielsweise in Gasserts Beschreibung der „parallel zur Bürgerrechtsbewegung [gebildeten] studentische[n] Protestbewegung“ zeigt, „die sich gegen bürokra‐ tisierte Strukturen und technokratische Modernisierungsideologien wandte und auch die manichäische, schwarz-weiße Weltsicht des Kalten Krieges scharf ab‐ lehnte.“ 5 Die Bezeichnung ‚Gegenkultur‘ beschreibt folglich explizit die opposi‐ tionelle Haltung gegenüber der gesamten normativen Kultur einer Gesellschaft der Konformität und entfaltet ihre volle Bedeutung aus der Perspektive der so‐ zialen Bewegung selbst heraus, wohingegen der beispielsweise von Hobsbawm gewählte Ausdruck der kulturellen Revolution innerhalb eines „Goldenen Zeit‐ 6 Vgl. das elfte Kapitel „Die kulturelle Revolution“, in: Eric Hobsbawn: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, aus dem Englischen von Yvonne Badal, München: dtv 11 2012, pp. 402-432. 7 Vgl. Todd Gitlin: The Sixties. Years of Hope, Days of Rage, New York: Bantam 1993, p. 83. 8 Harry Targ / Judson L. Jeffries: „Politics and Culture: A Look at the Modus Operandi of the Most Prominent Actors within the New Left“, in: The MacNeese Review 42 (2004), pp. 73-94, hier 74. 9 Ibid., p. 92. alters“ der wirtschaftlichen Prosperität 6 stärker eine retrospektive Sichtweise auf die kulturellen Veränderungen innerhalb einer größeren historischen Phase des Aufschwungs und der Implementierung einer marktwirtschaftlich orientier‐ ten Gesellschaftsform impliziert. In seiner umfassenden Studie über die 1960er Jahre in den USA beschreibt der ehemalige Aktivist Todd Gitlin, wie sich die Gegenkultur erst durch die Politisierung zunächst im Kontext der Bürgerrechtsbewegung und der Opposi‐ tion gegen einen drohenden Atomkrieg sowie schließlich insbesondere gegen den Vietnamkrieg zu einer sozialen Bewegung dynamisierte. 7 Diese lässt sich vor allem über ihre Heterogenität charakterisieren, denn wie Targ / Jeffries kon‐ statieren, „when one looks at components of that movement, one finds, along with some similar goals, strategies, and behavior patterns, some dramatically different orientations to the problems of social change.“ 8 Targ / Jeffries unter‐ scheiden zwischen den stärker politisch ausgerichteten Gruppierungen, die ent‐ weder mithilfe eines reformistischen Ansatzes oder unter Anwendung als re‐ volutionär wahrgenommener Handlungsformen eine soziale Veränderung herbeizuführen versuchten, und jenen Gruppierungen, die vornehmlich eine kulturelle Revolution anstrebten, und präsentieren exemplarisch die Hippies, die Youth International Party (Yippies), die Students for a Democratic Society ( SDS ) sowie die Weathermen: While one can find a basic homogeneity of values among sectors of this movement there were profound differences in actions and tactics among them. Some sought personal liberation and individualistic commitments to action. Others attempted to build communities or cultivate revolutionary classes to bring about social change. Perhaps the most basic dispute was between those that committed themselves to new life styles, values and art forms and ignored political action and others that believed that social change was inextricably linked to one kind of political struggle or another. 9 Für Gitlin stützt sich die Gegenkultur als soziale Bewegung auf vier Grund‐ pfeiler, die unter den Stichwörtern „social equality“, „wide open ‚life-styles‘“, „limitation of national violence and the care of the earth“ sowie „the spread of 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 168 10 Vgl. Gitlin: The Sixties, p. XV. 11 Russel Duncan: „Summer of Love and Protest“, in: Grzegorz Kosc et al. (Hgg.): The Transatlantic Sixties. Europe and the United States in the Counterculture Decade, Bielefeld: transcript 2013, pp. 144-174, hier 156-157. 12 Ibid., p. 159. 13 Erik Mortenson: Capturing the Beat Moment: Cultural Politics and Poetics of Presence, Carbondale: Southern Illinois UP 2010, p. 169. 14 Roszak: Gegenkultur, p. 48. 15 Vgl. Gassert et al.: Kleine Geschichte der USA, p. 451. 16 Vgl. Ronna C. Johnson: „‚You’re putting me on‘: Jack Kerouac and the Postmodern Emergence“, in: A. Robert Lee (Hrsg.): The Beat Generation Writers, London: Pluto 1996, pp. 37-56. 17 Vgl. Klaus Hegemann: Allen Ginsberg. Zeitkritik und politische Aktivitäten, Baden-Baden: Nomos 2000, p. 83. democratic activity“ zusammengefasst werden. 10 Es besteht ein allgemeiner Konsens, dass die Natur des Protestes sowohl politisch als auch kulturell moti‐ viert war, wie Duncan im Folgenden betont: Protest was of two general types, political and cultural, even though […] the personal is political and it was made political in literary texts that proved influential on both sides of the Atlantic in this period. […] Political protest is aimed at institutions, laws and policies. Cultural protest is critical of goes at values, consciousness, and the way people think. 11 Duncan hebt im Kontext des hier angedeuteten literarischen Einflusses insbe‐ sondere die Geltung Allen Ginsbergs für die gegenkulturelle Protestbewegung in seiner Rolle als „sort of a father to hippiedom“ 12 hervor. In diesem Sinne be‐ schreibt auch Mortenson die Gründungsmanifeste der so genannten Beat Ge‐ neration, wie Jack Kerouacs On the Road, Allen Ginsbergs „Howl“ und William S. Burroughs’ Naked Lunch, als „hippie bibles“ 13 , welche einen Beitrag zur He‐ rausbildung der politischen Praxis der Gegenkultur leisteten. Ähnlich wie Roszak, für den Ginsbergs „Howl“ „als die bekannteste Botschaft, die den Kampf zwischen den Generationen ankündigte,“ 14 gilt, sieht auch Gassert in den Poeten der so genannten Beat Generation Vorboten der Gegenkultur der 1960er Jahre. 15 In ihrer Funktion als Ikonen der Gegenkultur üben die einzelnen Autoren der Beat Generation jedoch in unterschiedlicher Weise einen Einfluss in den 1960er und 1970er Jahren aus. Wenn auch Kerouac nach der Veröffentlichung von On the Road 1957 eine beträchtliche Aufmerksamkeit in den modernen Massenme‐ dien erlangte und dadurch zur Stilikone avancierte, 16 so reagierte er auf diesen öffentlichen Erfolg doch vielmehr mit einer Distanzierung von den Idealen der Beat Generation und vertrat im Unterschied zu Ginsberg und Burroughs eher eine konservative politische Haltung, wie Hegemann herausstellt. 17 Darüber hi‐ 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 169 18 Vgl. ibid., p. 86. 19 Barry Miles: William S. Burroughs. Eine Biographie, deutsch von Udo Breger und Esther Breger, Hamburg: Kellner 1994, p. 16. 20 Ibid. 21 Loren Glass: Counterculture Colophon. Grove Press, the Evergreen Review, and the Incor‐ poration of the Avant-Garde, Stanford: University Press 2013, p. 7. naus verhinderte sein früher Tod im Jahre 1969 eine politische Stellungnahme in den 1970er Jahren. Burroughs und Ginsberg hingegen versuchen bewusst auf die Entwicklung der Gesellschaft Einfluss zu nehmen und deren Veränderung voranzutreiben, wobei beide einen grundsätzlich unterschiedlichen Ansatz ver‐ folgen. Während Ginsberg aktiv in das politische Geschehen eingreift und eine Mobilisierung der Hippies und Studierenden bewirkt, steht Burroughs der Po‐ litik mit Misstrauen gegenüber und lehnt alle Formen von Institutionen und Regierungen als ‚System‘ und ‚Kontrollmaschine‘ ab. 18 Barry Miles ordnet jeder der Größen der Beat Generation ein Jahrzehnt zu: Während er die 1950er Jahre unter Kerouacs Einfluss sieht, betrachtet er die 1960er Jahre als das Jahrzehnt von Allen Ginsberg, dem „Vorläufer der Blumenkinder und der Hippie-Bewe‐ gung“, dessen Dichtung „eine außergewöhnliche Chronik jener Zeit [dar‐ stellt]“ 19 , und Burroughs’ Jahrzehnt „brach erst mit der New Yorker New Wave / Punk-Avantgarde gegen Ende der siebziger Jahre an“ 20 , so Miles. Grundsätzlich muss einerseits zwischen jenen Werken der Beat Generation aus den 1950er Jahren, welche den alternativen Lebensentwurf der gegenkul‐ turellen Protestbewegung vordenken, und andererseits den die sozialen und politischen Proteste begleitenden Werken der 1960er und 1970er Jahren unter‐ schieden werden. Diese Differenzierung zwischen der Funktion als Vordenker und Akteur ist auch für Genets Rolle im gegenkulturellen Feld in den USA von Bedeutung. Insbesondere seine frühen Romane dienten den Autoren der Beat Generation als Inspirationsquelle. Genet selbst gehörte zu deren bedeutendsten zeitgenössi‐ schen Bezugsgrößen. Manifester noch als in den intertextuellen Referenzen wird diese geistige Verwandtschaft in Hinblick auf die Publikationsgeschichte seiner Texte in den USA . Sowohl Genets Werke als auch die meisten der Beat-Autoren wurden in den 1960er Jahren im Verlagshaus Grove Press unter der Ägide von Barney Rosset veröffentlicht, den Loren Glass in ihrer umfassenden Studie zur Geschichte des Verlages als charismatischen Führer einer ganzen Autoren- und Lesergemeinschaft beschreibt, „which was to play a crucial role in the creation of the counterculture“ 21 . Grove Press publizierte europäische und darunter vor allem französische Autoren der Avantgarde der fünfziger Jahre und affirmierte mit seinem Umzug ins Zentrum von Greenwich Village in den sechziger Jahren 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 170 22 Ibid., p. 1. 23 Ibid., p. 18. 24 Edward de Grazia: „An Interview with Jean Genet“, in: Cardozo Studies in Law and Literature 5, 2 (1993), pp. 307-324, hier 323. 25 Glass: Counterculture Colophon, p. 45-46. Grove Press publizierte beispielsweise die Schriften von Malcolm X und die Tagebücher von Che Guevara und wurde von CIA und FBI überwacht, wie in Grazia: „An Interview with Jean Genet“, p. 317 thematisiert wird: „During the late ’60’s and the early ’70’s, the CIA in the United States had a dossier on Grove Press; they had lists of Grove’s ‚revolutionary‘ books. The FBI also had copies of all the issues of Evergreen review.“ Genet erinnert sich in diesem Zusammenhang an einen Bombenanschlag auf das Verlagshaus: „Yes, I knew he [Rosset, S. I.] had published Che Guevara because he brought back Che Guevara’s notebooks from Bolivia. When I first went to Barney Rosset’s, in New York, I took the elevator. This was in 1968 […]. I got out of the elevator on the second floor into a building which had been completely burned out; there had been a bomb attack.“ seine Rolle als Verlag der Gegenkultur. Ab 1957 brachte Grove Press zusätzlich die Evergreen Review heraus, die Glass als „the premier underground magazine of the Sixties counterculture“ 22 betitelt. Rosset entdeckte das Werk Jean Genets, „[who] became crucial to Grove’s radical image, first with his politically explo‐ sive theater and then with his homosexually explicit prose“ 23 , über seinen Über‐ setzer Bernard Frechtman und Richard Seaver, der in Paris die Texte vieler zeit‐ genössischer Autoren, insbesondere Samuel Becketts, dem englischsprachigen Publikum in seiner Literaturzeitung Merlin zugänglich machte und schließlich als Verlagsredakteur bei Grove Press einstieg. Genet selbst, der Rosset auch per‐ sönlich große Wertschätzung entgegen brachte, bezeichnet dessen Leistung als Verleger in einem Interview 1983 als „enormous contribution“ 24 . Anders als in Frankreich wurden in den USA zunächst Genets Theaterstücke und danach erst zu Beginn der 1960er Jahre seine Romane publiziert, die von der gegenkultu‐ rellen Bewegung mit Aufmerksamkeit rezipiert wurden. Daher exemplifiziert sich in seiner Person wie in keinem anderen Autor der Übergang von der äs‐ thetisch-literarischen Avantgarde hin zur politischen Protestkultur, so Glass: More than any other single Grove author, his career exemplifies the complex convergence of the aesthetic, sexual, and political meanings of ‚revolution‘ that linked Grove’s early investment in European modernism with its later commitment to liberation movements around the world. 25 Ähnlich wie die Autoren der Beat Generation wurde Jean Genet in den USA folglich als Vordenker und Akteur im gegenkulturellen Feld wahrgenommen und aufgrund der Assoziation mit Grove Press in einen literarischen Kontext mit diesen gerückt. So beispielsweise werden Genet und Burroughs in einem lite‐ raturkritischen Kommentar von 1965 mit dem Titel „The New Immoralists“ als 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 171 26 Wiliam Phillips: „The New Immoralists“, in: Commentary 39, 4 (1965), pp. 66-68, hier 66. 27 Vgl. Albert Dichys Annotationen zu Genets Reportage für Esquire („Les membres de l’assemblée“) in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 416. 28 Richard Seaver: The Tender Hour of Twilight. Paris in the ’50s, New York in the ’60s: A Memoir of Publishing’s Golden Age, edited by Jeannette Seaver, New York: Farrar, Strauss and Giroux 2012, p. 371. 29 Allen Ginsberg: Journals Mid-Fifties. 1954-1958, edited by Gordon Ball, London: Viking 1995, p. 185. 3.1 3.1.1 „the leading figures of the new subversives“ 26 gepriesen, die noch nicht vom Mainstream assimiliert worden seien. Auch die Entscheidung von Harold Hayes, Direktor des amerikanischen Magazins Esquire, für die Reportage über den Par‐ teitag der Demokraten 1968 in Chicago Burroughs sowie ursprünglich Genet, Beckett und Ionesco auszuwählen, 27 erklärt sich vor diesem Hintergrund. Nachdem sowohl Beckett als auch Ionesco absagen, engagiert das Magazin neben Burroughs und Genet noch Terry Southern, „all published or associated with Grove“ 28 , wie Seaver betont, sowie den Journalisten John Sack. Im Nachfolgenden soll Genets Positionierung im gegenkulturellen Feld daher vermittels der interpersonalen und intertextuellen Referenzen zu den beiden Autoren Allen Ginsberg und William S. Burroughs herausgearbeitet werden. Die thematischen Schwerpunkte des diskursiven Bezugssystems sind insbeson‐ dere das Selbstbild in der (gegenkulturellen) Öffentlichkeit, die Verschränkung von Journalismus und Literatur bzw. Poesie sowie die antiamerikanische und antiwestliche Kritik. Genet, Ginsberg, Burroughs Genet als Inspirationsquelle für die Autoren der ‹Beat Generation› M. Genet: I omit all, but allow me to express my esteem of your angelical rhetoric. All Reality & Allegory is garbled. Myth is satisfied; the Muses weep. Will you perish a saint; or have you already perished, in which case let me address you as one of our illustrious Great Dead! 29 Was hier als offener Brief an Jean Genet anmutet, ist tatsächlich ein persönlicher Tagebucheintrag von Allen Ginsberg vom September 1955, der seine Wertschät‐ zung für den französischen Autor darlegt. Ginsberg kommt zum ersten Mal 1949 während seines Aufenthaltes in der Nervenheilanstalt New York State Psychiatric 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 172 30 Vgl. Jonah Raskin: American Scream. Allen Ginsberg’s Howl and the Making of the Beat Generation, Berkeley / Los Angeles: University of California Press 2004, p. 95. 31 Ibid., p. 98. 32 Barry Miles: Ginsberg. A Biography, New York: Simon and Schuster 1989, p. 123-124. 33 Vgl. Raskin: American Scream, p. 96. 34 Allen Ginsberg: „Howl“ [1955], in: Collected Poems. 1947-1980, Middlesex: Viking 1985, pp. 126-133, hier 126. 35 Ibid., p. 127. 36 Vgl. Raskin: American Scream, p. 46. Institute mit Genets Werk in Berührung, wo er aufgrund seiner Drogenabhän‐ gigkeit und Homosexualität für acht Monate interniert wird. 30 Dort bringt ihm der Patient Carl Solomon, der längere Zeit in Paris gelebt hat, die zeitgenössische französische Literatur und Kunst näher. Ginsberg interessiert sich jedoch we‐ niger für Jean-Paul Sartre, als für Jean Genet oder Antonin Artaud, deren lite‐ rarisches Werk von den Erfahrungen in geschlossenen Anstalten - dem Ge‐ fängnis und der Psychiatrie - geprägt ist: „Instinctively, he felt at home with Genet, not with Sartre. Genet’s childhood seemed similar to Neal Cassady’s, he wrote; and he described Genet affectionately as a ‚homosexual hipster‘ who wrote ‚huge apocalyptical novels‘.“ 31 Carl Solomon hatte ein Exemplar von Ge‐ nets Roman Notre-Dame-des-Fleurs in die Anstalt geschmuggelt sowie einen längeren Artikel über Jean Genet aus der Partisan Review, wie sein Biograph Barry Miles ermittelt: Carl bought an under-the-counter copy of Genet’s Our Lady of the Flowers at the Gotham Book Mart and smuggled it into the P. I., and he showed Allen the April 1949 issue of Partisan Review, which contained a long article about Genet. […] After reading Genet and Artaud, Allen began to come around to Carl’s point of view. 32 Ginsbergs Aufenthalt in der Nervenheilanstalt war prägend für die Redaktion von „Howl“, das Carl Solomon gewidmet war und im Ursprung den Titel „Howl for Carl Solomon“ trug. 33 Seine Wahrnehmung des Aufenthaltes verarbeitete er mithilfe kafkaesker Metaphern, die seiner Vorstellung einer Überwachungsge‐ sellschaft Ausdruck verleihen, womit Ginsberg seiner Kritik an der amerikani‐ schen Gesellschaft Rechnung trägt. Ruskin betont darüber hinaus, dass die Zeile aus „Howl“, welche die intellektuellen Bezugsgrößen jener „best minds of my generation destroyed by madness […] angelheaded hipsters“ 34 enumeriert, näm‐ lich „who studied Plotinus Poe St. John of the Cross“ 35 , im ursprünglichen Ori‐ ginalmanuskript eine umfangreiche Namensliste zahlreicher Autoren umfasste, wie etwa Karl Marx, Oswald Spengler, Antonin Artaud, Arthur Rimbaud, Thomas Wolfe, Louis-Ferdinand Céline, Marcel Proust, Walt Whitman, Buddha und auch Jean Genet. 36 3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs 173 37 John Muckle: „The Names: Allen Ginsberg’s Writings“, in: A. Robert Lee (Hrsg.): The Beat Generation Writers, Connecticut: Pluto Press 1996, pp. 10-36, hier 10. 38 Vgl. ibid., p. 12. 39 Ibid. 40 Ibid., p. 29. 41 Allen Ginsberg: „Death to Van Gogh’s Ear! “ [1957], in: Collected Poems. 1947-1980, Middlesex: Viking 1985, pp. 167-170. 42 Vgl. Muckle: „The Names“, p. 10. 43 Ginsberg: „Death to Van Gogh’s Ear! “, p. 167. 44 Vgl. ibid. 45 Ibid., p. 167-168. Die Integration von Eigennamen entwickelt sich bei Ginsberg, den Muckle als „name-dropper“ 37 bezeichnet, zu einem typischen Charakteristikum seiner Gedichte. Die Häufigkeit, mit der einzelne Persönlichkeiten genannt werden, betrachtet Muckle als Indikator für deren Bedeutung. 38 Neben jenen Personen aus Ginsbergs nächstem Umfeld, wie etwa Kerouac, Orlovsky, Cassady oder Burroughs, gibt es eine Vielzahl von weiteren Persönlichkeiten, die weniger häufig auftauchen und die Muckle als „legion of talismanic names“ 39 bezeichnet, worunter Genet, Rimbaud und auch Artaud fallen. Dadurch etabliert Ginsberg sein kulturelles und persönliches Pantheon, „his cultural and personal pan‐ theon“ 40 . Wie Muckle herausstellt, praktiziert Ginsberg die Enumeration von Namen, welche durch ihr Eintauchen in den poetischen Kontext eine bestimmte symbolische Bedeutung erfahren, zum ersten Mal in „Death to Van Gogh’s Ear! “ 41 von 1957. 42 In diesem während eines Aufenthaltes in Paris verfassten Gedicht, das mit der formelhaften Gleichung „Poet is Priest“ 43 beginnt und sich selbst als Prophezeiung eines künftigen Zerfalls der amerikanischen Gesell‐ schaft versteht, werden die namhaften Persönlichkeiten aus Literatur, Kunst und Wissenschaft zu Opfern des politischen Systems stilisiert: Lorca sei von Franco ermordet worden, Hart Crane habe Selbstmord begangen, Einstein sei zu Leb‐ zeiten für seine politische Haltung verlacht worden und Bertrand Russell und Chaplin seien aus New York vertrieben worden. 44 Genet wird im Kontext der Zensurkritik das Potential einer erleuchtenden Kraft zugesprochen: Nobody publishes a word that is not the cowardly robot ravings of a depraved mentality / The day of publication of the true literature of the American body will be day of Revolution / the revolution of the sexy lamb / the only bloodless revolution that gives away corn / poor Genet will illuminate the harvesters of Ohio […]. 45 Ginsberg stellt hier die Befreiung von der Zensur als unblutige Revolution dar und jene zensierten Autoren, zu denen er Genet zählt, bergen die Möglichkeit einer Bewusstseinsveränderung. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 174 46 Vgl. Miles: Ginsberg, p. 148. 47 Allen Ginsberg: „At Apollinaire’s Grave“ [1958], in: Collected Poems. 1947-1980, Mid‐ dlesex: Viking 1985, pp. 180-182. 48 Vgl. Allen Ginsberg: „On drugs“, in: Paul Portugés: The Visionary Poetics of Allen Gins‐ berg, Santa Barbara: Ross-Erikson 1978, pp. 109-127, hier 113-114. 49 Ginsberg: „At Apollinaire’s Grave“, p. 180. 50 Ibid., p. 181. Ginsberg selbst plante, der Öffentlichkeit wichtige Autoren zugänglich zu ma‐ chen. Wie Miles berichtet, verfolgte Ginsberg nach seinem Aufenthalt im Psy‐ chiatric Institute von New York zusammen mit Carl Solomon das Projekt, bei Ace Book unter anderem Burroughs, Kerouac und Genet zu veröffentlichen, ein Vorhaben, das jedoch aufgrund persönlicher Uneinigkeiten scheiterte. 46 Sowohl „Death to Van Gogh’s Ear! “ als auch das ebenfalls in Paris verfasste Gedicht von 1958 mit dem Titel „At Apollinaire’s Grave“ 47 entstanden unter Heroineinfluss, wie Ginsberg in einem Interview bestätigt. 48 In „At Apollinaire’s Grave“, zu dem sich Ginsberg von seinem Rundgang auf dem Friedhof von Père Lachaise inspirieren ließ, inszeniert er ein eingebungs‐ volles Zwiegespräch mit bereits verstorbenen frankophonen Schriftstellern der Avantgarde, wie Apollinaire, Max Jacob, Tristan Tzara, André Breton, Blaise Cendrars, Jean Cocteau, nennt aber auch Genet als zeitgenössischen Wegge‐ fährten. Ginsberg vergleicht darin das gesamte Universum mit einem Friedhof, auf den er sich zwar alleine begibt, doch wo er um die nächste Ecke bereits in Berührung mit Apollinaires Wahnsinn kommen kann und gemeinsam mit Genet Bücher stiehlt: „[T]he universe is a graveyard and I walk around alone in here / knowing that Apollinaire was on the same street 50 years ago / his madness is only around the corner and Genet is with us stealing books […].“ 49 Durch die gleichzeitige Präsenz von Apollinaire und Genet schafft er eine Simultanität, welche einerseits die Erfahrung seines Drogenexperimentes veranschaulicht, andererseits aber auch ein Zitat jenes avantgardistischen ästhetischen Ideals einer Zusammensetzung von in zeitlicher Abfolge und simultan Gesehenem ist. Während er Apollinaire hier über seinen historisch nicht verbürgten Wahnsinn definiert, charakterisiert er Genet als Dieb, zwei Attribute, mit denen er sich selbst identifizieren kann. Das Motiv des Bücherstehlens kann darüber hinaus in diesem Gedicht aufgrund der vielen Künstlerzitate auch im übertragenen Sinne als Rezeption von Literatur verstanden werden. So vergleicht Ginsberg seine Lektüre der französischen Poesie metaphorisch mit dem Tragen eines schwarzen Tarnmantels: „[I] will walk down the streets of New York in the black cloak of French poetry.“ 50 3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs 175 51 Allen Ginsberg: „Television Was a Baby Crawling Toward That Deathchamber“ [1961], in: Collected Poems. 1947-1980, Middlesex: Viking 1985, pp. 272-283. 52 Ibid., p. 277. 53 Vgl. Tagebucheintrag vom August 1955 in: Ginsberg: Journals Mid-Fifties, p. 214-215, worin Ginsberg eine Liste gelesener oder zu lesender Werke aufführt. Neben den frühen Dramen Haute surveillance und Les bonnes, der Gedichtsammlung Le condamné à mort und Genets Film Un chant d’amour interessiert sich Ginsberg für die englische Über‐ setzung von Miracle de la rose und den Briefen an Leonor Fini. Genet findet in noch einem weiteren Gedicht explizit Eingang in Ginsbergs Poesie, nämlich dem etwas später entstandenen „Television Was a Baby Craw‐ ling Toward That Deathchamber“ 51 von 1961, das sich als Kritik an den mo‐ dernen Massenmedien und an dem als Überwachungssystem überzeichneten amerikanischen Regierungssystem liest. Genet wird hier erneut im Kontext der Zensurkritik genannt, mit der Ginsberg auf die gegen Grove Press geführten Prozesse wegen der Veröffentlichung obszöner Literatur anspielt, welche Henry Millers Tropic of Cancer, D. H. Lawrences Lady Chatterley und William S. Bur‐ roughs’ Naked Lunch zum Gegenstand hatten: Ah what a cold monster OneEye he must’ve saw thru the Star Spangled / Banner & Hollywood with ugly smile forbidden movie & old heartless Ike in the White House officially allowing Chatterley attacked by Fed Lawyers - / vast Customs agencies searching books - who Advises what book where - / who invented what’s dirty? The Pope? Baruch? - tender Genet burned by middleaged vice Officers […]. 52 Die Prozesse gegen die Veröffentlichung der Werke von D. H. Lawrence, Henry Miller, William S. Burroughs und Jean Genet, welche die Frage nach der Freiheit des künstlerischen Ausdrucks und der Meinungs- und Pressefreiheit aufwarfen, werden von Ginsberg hier verzerrt als Bücherverbrennung dargestellt. Durch diese deformierende Sichtweise wird das sein Gedicht bestimmende Motiv einer inszenierten Paranoia untermauert, die durch das sich zunehmend zum Polizei‐ staat entwickelnde System hervorgerufen wird. Ginsberg gebraucht Genets Namen in seinen Gedichten folglich insbesondere im Kontext der Kritik an der amerikanischen Zensurpolitik und zählt ihn in „Death to Van Gogh’s Ear! “ zu jenen ‚wahren Schriftstellern‘, die den Aus‐ wüchsen einer verkommenen Mentalität entgegenstehen und daher ein revo‐ lutionäres Potential besitzen. Jean Genets Werk hat nicht nur einen beträchtli‐ chen Einfluss auf Allen Ginsberg, der, wie aus Tagebucheinträgen hervorgeht, sein gesamtes Werk liest, 53 sondern auch auf Jack Kerouac und William S. Bur‐ roughs. Korrespondenzen der einzelnen Beat-Autoren untereinander spiegeln dieses Interesse an Jean Genet wider. So beispielsweise zeigt ein Brief von Ke‐ rouac an Ginsberg von 1952 die Wertschätzung, welche Genet zuteilkommt, 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 176 54 Jack Kerouac: Selected Letters. 1940-1956, edited with an introduction and commentary by Ann Charters, New York: Viking 1995, p. 357. 55 Jack Kerouac: „Big Trip to Europe“, in: Lonesome Traveler [1960], London: Penguin 2000, pp. 118-147, hier 135. 56 Kerouac: Selected Letters, p. 392. sowie auch implizit seinen Glauben daran, dass durch die von Ginsberg geplante Publikation seines Werks langfristig in Amerika ein Wandel der Mentalität be‐ wirkt werden kann: „If Carl publishes Genet in drugstores all over America he will have done a service to his century.“ 54 Auch in Kerouacs Werk lassen sich namentliche Verweise auf Genet finden, wie im Nachfolgenden nur kurz ange‐ rissen werden soll. Beispielhaft genannt werden soll hier ein europäischer Rei‐ sebericht, in dem Kerouac sich im Kontext einer Repräsentation der trist-fahlen Atmosphäre in der südfranzösischen Stadt Avignon an einem Sonntagnach‐ mittag explizit auf Genet bezieht: Not one beautiful girl to be seen in Avignon except in that café […] and outside the multitudes roamed up and down, up and down, back and forth, nowhere to go, nothing to do - Madame Bovary is wringing her hands in despair behind lace curtains, Genet’s heroes are waiting for the night, the De Musset youth is buying a ticket for the train to Paris. - What can you do in Avignon on a Sunday afternoon? 55 Wie sich hier zeigt, wird Genet in Kerouacs Text nicht in einem spezifisch ge‐ sellschaftspolitischen Kontext genannt, sondern der Verweis auf seine Roman‐ helden untermauert seine subjektive Wahrnehmung einer als trostlos und be‐ drückend empfundenen französischen Kleinstadt. Die Protagonisten aus Genets Büchern werden in einem Zug mit Emma Bovary und den jugendlichen Figuren Mussets genannt, die ihm alle als literarische Statisten dienen, um dem Leser die Stimmung von Langeweile, Trübsinn und Eintönigkeit zu vermitteln. In einem weiteren Brief von Kerouac an Ginsberg von 1952 beurteilt jener nicht nur Genets Sprachverwendung mit anerkennenden Worten, sondern deutet in einem stenographischen Stil gleichsam eine Form von Kongruenz zwischen seinen Reiseerlebnissen in Mexiko und dem bei Genet beschriebenen Milieu der Prostitution und Kriminalität an: […] I took the terrible liberty of borrowing The Complete Oeuvres Genet, upon my word I won’t lose it and’ll return it very soon - The mystery not only of the French language but Genet’s dawn - I didn’t tell you about the thieves and fairies of Mexico and the one they call Negress - Negra […]. 56 Für Kerouac überlagern sich die in Genets Werk beschriebenen Erfahrungen wie eine Projektionsfolie mit seinen eigenen Reiseerlebnissen, so dass seine Beto‐ 3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs 177 57 Vgl. zum Motiv des Reisens bei den Beat-Autoren das Standardwerk von Jacqueline Starer: Les écrivains beats et le voyage, Paris: Didier 1977. Insbesondere im zweiten Ka‐ pitel „La découverte de l’Amérique“ betont die Verfasserin, dass das Reisen durch die Bekanntschaft mit Neal Cassady für die Beat-Autoren zu einem vitalen Imperativ und einem identitätsstiftenden Prinzip wird. Vgl. ibid., p. 36. 58 Vgl. Miles: Ginsberg, p. 226. 59 Vgl. zur Bedeutung der detaillierten Beschreibung sexueller Kontakte das dritte Inter‐ view mit Daniel Odier von 1969: William S. Burroughs / Daniel Odier: „A new frog“, in: The Job. Interviews with William S. Burroughs by Daniel Odier, revised and enlarged edition including „Playback From Eden to Watergate“ and „Electronic Revolution 1970- 71“, New York: Grove Press 1974, pp. 109-120, hier 111-112. 60 Vgl. Barry Miles: A descriptive catalogue of the William S. Burroughs Archive, London: Covent Garden Press 1973. 61 Colin Fallows: „Interview with Barry Miles“, in: Id. / Synne Genzmer (Hgg.): Cut-ups, Cut-ins, Cut-outs: Die Kunst des William S. Burroughs, Kunsthalle Wien, 15. Juni bis 21. Oktober 2012, Wien: Verlag für Moderne Kunst 2012, pp. 10-21, hier 13. 62 William S. Burroughs: The Letters of William S. Burroughs 1945-1959, edited and with an introduction by Oliver Harris, London: Picador 1993, p. 289. nung auf dem Wiedererkennungseffekt des Milieus, seiner Protagonisten und der durch diese beiden Elemente evozierten Atmosphäre liegt. Das Motiv des Vagabundierens und des Reisens sowie die daraus resultierende narrative Per‐ spektive determiniert bei beiden Autoren die Konstitution einer sozialen Iden‐ tität am Rande der Gesellschaft. 57 Der bei Kerouac angedeutete Aspekt einer topographischen Suche nach dem in Genets Romanwerk beschriebenen Milieu und seiner Atmosphäre, manifestiert sich stärker noch bei Ginsberg, der 1957 zusammen mit seinem Lebensgefährten Peter Orlovsky nach Spanien reist und sich damit bewusst auf die Spuren Jean Genets begibt, 58 um der im Journal du voleur inszenierten Untergrundszene der 1930er Jahre in Spanien nachzuspüren. Im Unterschied zu Kerouac verbanden Ginsberg und Burroughs die sexuelle Identität der Homosexualität mit Genet, die gerade in ihrer direkten und un‐ umwundenen literarischen Darstellung für Burroughs’ Kunst von großer Be‐ deutung war. 59 Wie Barry Miles, der zu Burroughs’ Lebzeiten in den frühen 1970er Jahren damit beauftragt wurde, ein Archiv seiner gesamten Schriften anzulegen, dokumentiert, 60 gehörte Genet zu den Autoren, die Burroughs lite‐ rarisch am stärksten beeinflussten: „He loved Jean Genet, I think Genet may have been one of his favourite writers.“ 61 Burroughs selbst bezeichnet Genet nach der mehrfachen Lektüre der englischen Übersetzung von Journal du voleur in einem Brief an Allen Ginsberg aus dem Jahre 1955 als „the greatest living writer of prose“ 62 und zitiert eine längere deskriptive Szene aus Genets Roman, in welcher der Moment des Beischlafs mit einem schwarzen Gefängnisinsassen geschildert wird. Burroughs kommentiert darüber hinaus Frechtmans Überset‐ zung des Textes ins Englische: „The translation is not bad except for the dialogue. 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 178 63 Ibid. 64 Ibid., p. 358. 65 Lane: „Beat Generation“, p. 80. 66 Ibid. 67 William S. Burroughs: My Education. A Book of Dreams, London: Picador 1995. He translates into outmoded U. S. slang.“ 63 Die englische Übersetzung von Genets Journal du voleur erschien 1954 bei dem in Paris von Maurice Girodias gegrün‐ deten Verlag Olympia Press, der den Fokus auf erotische Belletristik legte und schließlich 1959 auch Burroughs’ Roman Naked Lunch in Frankreich publizierte. Als Burroughs einen Verlag für diesen Roman suchte, der zunächst selbst für Olympia Press zu obszön erschien, trat er, wie ein Brief von 1957 darlegt, mit Genets Übersetzer Frechtman in Kontakt, der ihm jedoch nicht weiterhelfen wird: I am planning to go there [to France, S. I.] this Spring or Summer to see about possibilities of publishing my latest opus which is too much, it seems, even for Olympia Press. Frechtman, the man who translated Our Lady of the Flowers, is interested in what he has seen but say [sic! ] publication extremely difficult. 64 Wie Véronique Lane in Hinblick auf diesen Zusammenhang hervorhebt, hatten die Autoren der Beat Generation „en commun avec Genet d’avoir profondément marqué l’histoire de la censure aux États-Unis.“ 65 Sie erläutert den verlagsspe‐ zifischen Konnex zwischen Naked Lunch und Notre-Dame-de-Fleurs mit Bezug auf den Prozess gegen die Herausgabe beider Werke bei Grove Press: [C’]est en partie grâce au procès à son éditeur Barney Rosset que Naked Lunch de Burroughs passe à l’histoire en 1966. Or, ce procès - le dernier intenté à un éditeur pour la publication d’une œuvre littéraire aux États-Unis - est doublement lié à la réédition de Notre-Dame-des-Fleurs en Amérique en ce que Genet est défendu par le même avocat que Burroughs, tous deux étant alors publiés par Barney Rosset, directeur de Grove Press. 66 Im Unterschied zu Ginsberg und Kerouac verweist Burroughs in seinen frühen Werken nicht explizit auf Genet, sondern erst in seinem unter Einfluss von Ge‐ nets Un captif amoureux verfassten Werk My Education. A Book of Dreams  67 von 1995, das genauer in Kapitel 3.3.3 analysiert werden soll. Ihn faszinierte nicht nur die offensive, detaillierte literarische Repräsentation des homosexuellen Liebesaktes, sondern auch vor allem Genets sprachliche Realisierung eines tra‐ ditionellen Erzählstils: Beckett and Genet I both admire without reservation. They’re both incredible writers, I think. And, of course, Genet is not, nor does he pretend to be, a verbal innovator. He 3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs 179 68 William S. Burroughs / Daniel Odier: „Journey through time-space“, in: The Job. Inter‐ views with William S. Burroughs, revised and enlarged edition including „Playback From Eden to Watergate“ and „Electronic Revolution 1970-71“, New York: Grove Press 1974, pp. 27-56, hier 55. 69 Vgl. ibid., p. 33. 70 Genet: „Entretien avec B. Poirot-Delpech“, p. 229. 71 Raskin: American Scream, p. 98. 72 Gregory Corso / Allen Ginsberg: „Interview with William S. Burroughs“ [1961], in: Colin Fallows / Synne Genzmer (Hgg.): Cut-ups, Cut-ins, Cut-outs: Die Kunst des Wil‐ liam S. Burroughs, Kunsthalle Wien, 15. Juni bis 21. Oktober 2012, Wien: Verlag für Mo‐ derne Kunst 2012, pp. 6-10, hier 6. is in the classic tradition, and there is another writer who, using the classic tradition, certainly seems to escape the imprisonment of words and to achieve things that you think could not be achieved in words. 68 Burroughs beschreibt hier Genets sprachlichen Stil aus seiner Vorstellung einer zu realisierenden Subversion der sprachlichen Kontrolle, die maßgeblich durch den Einsatz von Worten und Bildern in den Medien ausgeübt werde. 69 Während Burroughs zum Zeitpunkt des Interviews insbesondere mit der Cut-up-Methode experimentiert, mithilfe welcher Texte spontan zerschnitten und somit seiner Ansicht nach den Kontrollmechanismen entzogen werden, spricht er Genet durch seine Inszenierung devianter Inhalte mithilfe eines gehobenen Sprachstils ein subversives Potential zu. Diesen Aspekt beschreibt Genet selbst in einem Interview als entscheidendes Charakteristikum seiner frühen Werke: „[…] ce que j’avais à dire à l’ennemi, il fallait le dire dans sa langue pas dans la langue étrangère qu’aurait été l’argot. […] Il fallait que je m’adresse, dans sa langue justement, au tortionnaire.“ 70 Genet gehörte für die Beat-Autoren zu den „literary masters“ 71 , wobei ein jeder das Interesse auf unterschiedliche Charakteristika seines Werks legt. Seine Texte halten in ihren Augen die Möglichkeit bereit, die angestrebte Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins voranzutreiben, jene „mutation in consciousness“ 72 , welche sich der systematisch betriebenen Gedankenkontrolle wi‐ dersetzen sollte. Wie aufgezeigt wurde, kennzeichnet sich diese Kontrolle in Ginsbergs Lyrik insbesondere motivisch durch die Zensur der von der Konfor‐ mität abweichenden Literatur, deren Autoren sein persönliches Pantheon bilden, wohingegen Burroughs die Sprache selbst als Kontrollmechanismus auf‐ fasst. Beide rezipieren Genet vornehmlich im Zusammenhang mit diesen beiden Themenkomplexen, wodurch sein Werk im Umfeld der Beat-Autoren eine ge‐ sellschaftspolitische Bewertung erfährt. Umso interessanter erscheint daher eine Untersuchung des Zusammenwirkens und der gegenseitigen Einfluss‐ 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 180 73 Vgl. Richard Sandarg: „Jean Genet in America“, in: French-American Review 1, 1 (1976), pp. 47-53. 74 Vgl. Richard Sandarg: „Jean Genet in Chicago“, in: Romance Quarterly 38, 1 (1991), pp. 39-47. 75 Ibid., p. 39. 3.1.2 nahme dieser drei Autoren im politischen Kontext der gegenkulturellen Bewe‐ gung in den USA in den späten sechziger Jahren. Beobachtet werden soll dabei, ob und inwieweit Genet eine intellektuelle Bezugsgröße bleibt. Genet, Ginsberg und Burroughs als Akteure der gegenkulturellen Öffentlichkeit in den USA Das erste persönliche Zusammentreffen zwischen Genet, Burroughs und Gins‐ berg erfolgt anlässlich der Democratic National Convention in Chicago 1968, der eine Woche lang andauernden Versammlung der demokratischen Partei, die sich zu einem Schauplatz gegenkultureller Proteste und Demonstrationen entwi‐ ckelt. Insbesondere in Hinblick auf sein politisches Engagement für die Black Panther Party in den USA konstituiert seine Teilnahme an der vom 25. bis 29. August 1968 stattfindenden convention week einen Markstein, kommt Genet doch bei diesem ersten Besuch in den USA in direkten Kontakt mit den unter‐ schiedlichen Protestgruppen. Seine zweite Reise in die USA 1970 dient im All‐ gemeinen der Popularisierung der Black Panther Party und im Speziellen der Mobilisierung für die Freilassung Bobby Seales, der wegen Verschwörung bei der Democratic National Convention neben den übrigen Organisatoren der De‐ monstrationen vor Gericht gestellt und schließlich als einziger nicht freigespro‐ chen wurde. Genet trifft Ginsberg bei seinem zweiten Aufenthalt in den USA im Rahmen seiner „May Day Speech“ in New Haven wieder. Als Sympathisant der radikalen Gruppierungen wird Genet in Chicago vom FBI überwacht, wie Robert Sandarg ermittelt, der Genets Aufenthalt in den USA insgesamt zwei Artikel widmet, die erste Studie überhaupt zu diesem Sujet aus dem Jahre 1976 73 und die nach Zugang zu Genets FBI -Akte 1991 verfasste Er‐ gänzung 74 : In Chicago, Genet made immediate contact with American radicals gathered to protest the convention: he twice addressed crowds, speaking through his interpreter, Grove Press editor Richard Seaver, and participated in several demonstrations, during which he was pursued and teargassed by the authorities. 75 3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs 181 76 Miles: Ginsberg, p. 414. 77 Vgl. zu dieser Entwicklung das Kapitel „Beatniks and Hipsters“ in: Bruce Cook: The Beat Generation, New York: Charles Scribner’s son 1971, pp. 91-101. 78 Vgl. Seaver: The Tender Hour of Twilight, p. 377. 79 Ibid., p. 382. Es bleibt ungewiss, inwiefern Genet das literarische Werk von William S. Burroughs, wie Seaver hier behauptet, tatsächlich näher kannte. In einem Interview mit Libre zählt Genet das Werk Naked Lunch jedenfalls zu den wichtigsten literarischen Texten der letzten Jahre: „Aunque no poseo suficientemente el inglés y debo fiarme de la traducción, no me cabe la menor duda de que se trata de uno de los libros más im‐ portantes de los últimos años. La mejor literatura norteamericana la escriben hoy los negros y los blancos marginados, víctimas del sistema. Piensa en las cartas de Jackson, la autobiografía de Malcolm X, el „Festín desnudo“ de Burroughs …“ Jean Genet: „A propósito del asesinato de Jackson. Entrevista con Jean Genet“, in: Libre (Paris) 2, 2 (1971-1972), pp. 17-20, hier 18. Sowohl Genet als auch Burroughs waren von Harold Hayes als Reporter für Esquire engagiert, wohingegen Ginsberg bereits im Vorfeld zu der in Chicago als Festival of Life geplanten Gegendemonstration organisatorisch involviert war, welche sich als „example of a life-style alternative“ 76 verstand und sich in Anbetracht des durch Yogis, Musiker, Dichter und politische Redner zusam‐ mengestellten Programms an dem Gathering of the Tribes for a Human Be-In 1967 in San Francisco orientierte, jedoch schließlich offiziell von Chicagos Bür‐ germeister Richard Daley verboten wurde. Ginsberg hatte sich zu diesem Zeit‐ punkt bereits zu einem der wichtigsten Vertreter der amerikanischen Gegen‐ kultur herausgebildet und personifiziert den Übergang von der literarischen Bewegung der Beat Generation mit ihrem Kult des sozialen Außenseiters hin zu einer sozialen Bewegung des politischen Protestes in den späten sechziger Jahren. 77 Die sprachliche Barriere zwischen Genet, Ginsberg und Burroughs wurde durch Richard Seaver, den Übersetzer von Genets Werken bei Grove Press, und dessen Frau Jeanette, die er zu diesem Anlass als offizielle Dolmetscher engagiert hatte, wenn auch nicht gänzlich aufgehoben, so aber teilweise überwunden. 78 Seaver, der Genets Aufenthalt in Chicago in seiner Autobiographie sehr aus‐ führlich beschreibt, erinnert sich an die erste Begegnung zwischen Genet und Burroughs in der Hotelbar kurz nach deren Anreise in Chicago: He [Burroughs, S. I.] and Genet had never met, but each knew - and admired - the other’s work. It was obvious they struck an immediate bond, and for the next two hours we exchanged ideas and formulated plans, some serious, some mad, all impractical, since we had no idea what awaited us in the streets. 79 Auch Ted Morgan beschreibt diese erste Konversation ebenfalls biographisch aus der Perspektive von Burroughs und unterstreicht einige zentrale Merkmale, 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 182 80 Ted Morgan: Literary Outlaw. The Life and Times of William S. Burroughs, New York: Avon 1988, p. 444. 81 Richard Goodman: „An evening with William S. Burroughs“, in: Michigan Quarterly Review 13, 1 (1974), pp. 18-24, hier 21. 82 William S. Burroughs: „Foreword“, in: Mohamed Choukri: Jean Genet in Tangier, New York: The Ecco Press 1973, ohne Seitenangaben. 83 Ibid. welche für Genets Präsenz in den USA charakteristisch erscheinen, nämlich seine illegale Einreise und seine feindliche Haltung gegenüber der amerikani‐ schen Polizei: At the hotel he [Burroughs, S. I.] met Jean Genet, dressed in old corduroys and an open-necked shirt, his pink and dimpled face reminding Burroughs of a bald, clean-shaven Santa. Genet told him that because he was a convicted criminal, he had been unable to obtain a visa and had gone to Canada, where a group of Quebec separatists had smuggled him across the border. He had been walking past police lines, he said, and had seen blood-lust in the blue-helmeted cops’ eyes. One cop had stared at him but Genet did not lower his eyes. He heard the cop’s inner voice saying very distinctly, ‚There is the enemy.‘ 80 Wenn auch die sprachliche Verständigung zwischen Genet und Burroughs ohne Seaver stark eingeschränkt war, denn wie Burroughs betont, „he [Genet, S. I.] doesn’t speak a word of English, and my French is very limited. But we got on somehow“ 81 , arbeiteten die beiden die gesamte Woche als enges Team zu‐ sammen. Wie Burroughs, der selbst viele Jahre in Tanger verbracht hatte, in seinem Vorwort zu Mohamed Choukris Reisebericht von Genets Aufenthalt in Tanger zu Beginn der 1970er Jahre konstatiert, verband die beiden eine gemein‐ same Überzeugung, welche ihre Kommunikation überhaupt erst ermöglichte: „This shared conviction made it possible for Jean Genet and me to communicate in Chicago despite my atrocious French and his non-existent English.“ 82 Was Burroughs hier als „shared conviction“ bezeichnet, beschreibt er in seinem Vor‐ wort mithilfe ausgewählter Zitate von Jean Genet. So beispielsweise identifiziert sich Burroughs mit Genets Misstrauen gegenüber festen Klassifikationssche‐ mata, mithilfe welcher Autoren bestimmten literarischen Strömungen zuge‐ ordnet werden und betont: „Had he [Genet, S. I.] considered himself an Exis‐ tentialist or an Absurdist, communication would have been impossible.“ 83 Ein noch engeres Verhältnis als zu Burroughs baute Genet zu Allen Ginsberg auf. Letzterer stand dem Organisationsteam der Gegendemonstration um Abbie Hoffman und Jerry Rubin nahe, das zu diesem Anlass die Youth International Party, auch Yippies genannt, gegründet hatte und das durch den gegen sie und den Mitbegründer der Black Panthers, Bobby Seale, geführten Prozess an Popu‐ 3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs 183 84 Miles: Ginsberg, p. 414-415. 85 Ibid., p. 415. 86 Seaver: The Tender Hour of Twilight, p. 384. 87 Ibid., p. 385. 88 Vgl. White: Genet, p. 584. White zufolge machte Ginsberg Genet Avancen, dieser ging jedoch nur bedingt darauf ein. 89 Jean Genet: „Letter to Allen Ginsberg“ [1968], in: Barbara Read / Ian Birchall (Hgg.): Flowers and Revolution: a Collection of Writings on Jean Genet, Middlesex: University Press 1997, p. 176. larität gewann. Ginsberg „[who] had associated himself with the event from the beginning and felt a responsibility to make sure it was as peaceful as possible“ 84 setzte sich vor allem für den gewaltfreien Fortgang der Proteste ein, den er mit dem Singen von Mantras gesichert glaubte: „My role was of chanting ‚Om‘ and I thought the chanting of ‚Pigs‘ was the wrong mantra.“ 85 Die Yippies sowie die übrigen gegenkulturellen Gruppen hatten in Chicago den Lincoln Park sowie den Grant Park zum Treffpunkt erhoben, über welche die Polizei jedoch eine Ausgangssperre verhängt hatte. Genet, der den Lincoln Park nach seiner An‐ kunft in Chicago in Begleitung von Burroughs aufsuchte, war von der Atmo‐ sphäre des gegenkulturellen Treffens fasziniert, wie Seaver sich erinnert: As we approached, Allen saw that Saint Genet was among us. He broke off his chant, came over, and prostrated himself before the master. Jean, seemingly neither surprised nor embarrassed, merely smiled. In fact, I suspect that the completely surrealistic world into which he had landed had by now inured him to virtually any surprise. We sat down with the protesters […] and began chanting with the best of them. Genet seemed especially delighted by the nocturnal gathering and chimed in his om-ing in perfect pitch. 86 Stärker noch zeichnet sich die in dieser Erinnerung dargebotene Verehrung für Genet in dem nach der Auflösung der Versammlung im Lincoln Park durch die Polizei organisierten Treffen in Ginsbergs Hotelzimmer ab, wo „all inhibitions gone (if ever there had been any), Allen knelt in front of Jean and kissed his feet. ‚I have read Our Lady of the Flowers,‘ he said still on bended knee, ‚one of the great works of the century. And you, monsieur, are a great saint.‘“ 87 Von einem intimeren Interesse, das Edmund White in seiner Biographie über Jean Genet erwähnt, 88 zeugt auch Genets Abschiedsbrief von 1968: I do not want to leave this country, Allen, without telling you that even at night you were my only sunshine, my only light in America. There is no question of forgetting who you nor your flower boys are. May you be happy. And may you never lose your poetic eloquence. And may we meet again anywhere in the world: these are my three wishes, in the shape of a Buddhist fish. 89 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 184 90 „Reporting. Eccentric View“, in: Time 92, 10 (6. September 1968), p. 47. 91 Vgl. J. Anthony Lukas: „Johnson Mocked as a ‚Freak‘ at ‚Unbirthday Party‘“, in: New York Times, 28. August 1968, p. 31. 92 Vgl. ibid. 93 Ibid. 94 Allen Ginsberg: „All is Poetry. Statement on 1968 Chicago Democratic National Con‐ vention“ [1968], in: Deliberate Prose. Selected Essays 1952-1995, edited by Bill Morgan, New York: Harper Collins 2000, p. 50. 95 Ibid. Die drei Schriftsteller widmen dem eigentlichen Parteitag der Demokraten, den Genet als „boring and unoriginal“ 90 bezeichnet, während der Tagungswoche nur wenig Aufmerksamkeit, sondern entwickeln sich vielmehr zu Anführern des gegenkulturellen Protestes. Bei der von Jerry Rubin und den Yippies organisierten Johnson’s Unbirthday Party am 27. August halten Burroughs, Genet, Southern und Ginsberg alle kürzere Reden, die auszugsweise in einem Beitrag der New York Times abgedruckt werden. 91 Sowohl Burroughs als auch Genet betonen darin die Brutalität der Polizei. Genet, der die Polizisten als „mad dogs“ bezeichnet, 92 verweist bereits zu diesem Zeitpunkt auf die Unterdrückung der Schwarzen in den USA und lobt die Initiative der Hippies, die nun denselben Repressionen ausgesetzt seien wie die Schwarzen seit den letzten hundert‐ fünfzig Jahren: [I]t does not displease me that white Americans find themselves threatened by these dogs who for the past 150 years have done the same thing, with even greater brutality to the blacks. […] Hippies, you have responded to the clownlike convention, which indeed is conventional, the Democratic convention, by your demonstrations in the park, charged with poetry. 93 Allen Ginsberg hingegen charakterisiert in seiner Rede die Autoritäten der Stadt Chicago als „authors of loud-mouth bad poetry - noisy pistols put into police hands not wise flowers, tear gas substituted for the vital breath“ 94 und beschreibt sich selbst, Genet und die Jugendlichen als Opfer der Aggressionen: „I got gassed chanting holy AUM with hundred youthful voices under the trees, Jean Genet a little gassed wandering among crowds of children at night.“ 95 Auch an David Dellingers Friedensdemonstration und -marsch im Grant Park nehmen sie am 28. August als aktive Redner teil und führen den Marsch, der trotz seiner fried‐ fertigen Intention die größten Zusammenstöße mit der Polizei provoziert, sogar an: The march itself was led by Allen Ginsberg, William Burroughs, Jean Genet, Terry Southern, Richard Seaver, and the British photographer Michael Cooper, their arms 3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs 185 96 Miles: Ginsberg, p. 419. 97 René de Ceccatty et al.: „Enfances“, in: Hadrian Laroche (Hrsg.): Pour Genet. Les Ren‐ contres de Fontevraud, (25 et 26 juin 2010), Saint-Nazaire: meet 2011, pp. 73-96, hier 74- 75. 98 Ibid., p. 75. 99 Morgan: Literary Outlaw, p. 447. 100 Ibid., p. 446. linked, all holding flowers - an obvious target for press photographers, who swarmed around […]. 96 Wie der ehemalige Aktivist David Homel betont, wurden Genet, Burroughs und Ginsberg als Stars der Gegenkultur wahrgenommen, und er kritisiert, dass keiner der Autoren den Ereignissen, die von der Eskalation und den polizeilichen Übergriffen überschattet wurden, mit der notwendigen Ernsthaftigkeit entge‐ gentrat: C’était, je le crois, son attitude de star qui nous a rendus méfiants. […] C’était une star accompagnée d’Alan [sic! ] Ginsberg, lui aussi une star de la contre-culture américaine, mais pas forcément utile dans les luttes politiques de l’époque. C’était une question de cred, comme disent les jeunes Américains d’aujourd’hui - de crédibilité. 97 Diesen Eindruck macht Homel auch an Genets Reportage fest, welche in seinen Augen aufgrund von Genets inszenierter sexueller Faszination für die Polizei in keiner Weise Zeugnis von einem tatsächlichen politischen Engagement ablegt: „La fascination sexuelle pour l’autorité était tout le contraire de ce que nous avons compris de l’engagement politique.“ 98 Tatsächlich aber bedeutet die Teil‐ nahme an der convention week in Chicago für alle drei Autoren ein einschnei‐ dendes Erlebnis. So bezeichnet Genet Chicago in einem Gespräch mit Burroughs vor seiner Abreise als „one of the great experiences of his life“ 99 , und Burroughs selbst, der ähnlich wie Genet mit keiner politischen noch literarischen Bewe‐ gung je in Verbindung gebracht werden wollte und grundsätzlich eine apoliti‐ sche Haltung vertrat, found Chicago a heady experience. He felt that the seeds that he and Allen and Jack had planted years ago were bearing magnificent fruit. These young people challenging the political establishment and battling the Chicago police were in a sense the spiritual offspring of On the road, Howl, and Naked Lunch. 100 Als Fürsprecher der Black Panthers kehrt Genet schließlich in die USA zurück und trifft im Rahmen seiner Eröffnungsrede zum Ersten Mai 1970 an der Yale University in New Haven, die den Kulminationspunkt seiner zweimonatigen 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 186 101 Bill Morgan: The Letters of Allen Ginsberg, o. O.: Da Capo 2008, p. 252-253. 102 Allen Ginsberg: „Jean Genet’s May Day Speech“ [1970], in: Barbara Read / Ian Birchall (Hgg.): Flowers and Revolution: a Collection of Writings on Jean Genet, Middlesex: Uni‐ versity Press 1997, p. 173-175, hier 173-174. Auch publiziert in: Allen Ginsberg: „Ge‐ net’s Commencement Discourse“ [1970], in: Deliberate Prose. Selected Essays 1952- 1995, edited by Bill Morgan, New York: Harper Collins 2000, pp. 449-450. 103 Ibid., p. 174. 104 Ibid. Reise durch die USA darstellt, erneut auf Allen Ginsberg sowie führende Per‐ sönlichkeiten der gegenkulturellen Bewegung, wie die Begründer der Yippies Jerry Rubin und Abbie Hoffman oder Dave Dellinger. Genets Rede wurde in der englischen Übersetzung durch den amerikanischen Dichter Richard Howard in Ferlinghettis City Lights Books Verlag mit einem Vorwort von Allen Ginsberg zugunsten der Black Panther Party publiziert, wie Ginsberg seinem Freund Snyder in einem Brief mitteilt: „The cities - I went to Yale Panther Rally May Day and saw Genet, he gave a great ‚commencement‘ speech which I got a copy of and prefaced for City Lights to publish - teargassed there chanting om a hum.“ 101 In seinem Vorwort situiert Ginsberg Genet und sich selbst innerhalb des gegenkulturellen Feldes. Genet wird Seite an Seite mit den Größen der Ge‐ genkultur repräsentiert, und seine Rede hat eine magnetische Wirkung auf die anwesenden Jugendlichen: […] 20,000-30,000 youths assembled […] to hear Jean Genet, most eminent prosateur of Europe and saintly thinker of France, most shy poet of XX Century slipped criminally into forbidden America through Canada border, standing flanked by clownish tragic reality of Revolution of Consciousness and Body in America - Yippie Saints Rubin, Hoffman, peaceful Saint Dellinger, […] - deliver his historic psychopolitical Commencement Discourse […]. 102 Ginsberg beschreibt seine eigene Position während der von ihm hier als histo‐ rische psychopolitische Eröffnungsrede bezeichneten Ansprache als die eines in der Menge der anwesenden Jugendlichen sitzenden Zuhörers, „myself sitting far left of the iron-pole joint-footed platform accepting burning grass reefer stubs from varicolor-shirted youths thick bearded seated round, long haired“ 103 , die darüber hinaus als neue Generation einer polizeistaatlichen Realität be‐ schrieben werden, nämlich als „newborn scholars of police-state reality, Apo‐ calyptic Biblical Revolution for Millenium our mortal lot“ 104 . In Ginsbergs kurzem Selbstporträt kommt seine Rolle als „symbol of the profound incompa‐ tibilities between the values of an amalgamated hippie-pacifist-activist-visi- 3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs 187 105 Jane Kramer: Allen Ginsberg in America, New York: Vintage 1970, p. 13. 106 Ibid., p. 10. 107 Ginsberg: „Jean Genet’s May Day Speech“, p. 173. 108 Genet: „May Day Speech“, p. 47. 109 Genet: „Entretien avec Michèle Manceaux“, p. 56. onary-orgiastic-psychedelic underground“ 105 zum Ausdruck. Kramer zufolge prägte Ginsberg den Stil und die Atmosphäre der als ‚Be-Ins‘ bezeichneten Zu‐ sammenkünfte: „[P]reaching and colonizing a brave new never-never world of bearded, beaded, marijuana-smoking, mantra-chanting euphoria, Ginsberg set the style for the Be-Ins, Love-Ins, Kiss-Ins, Chant-Ins […].“ 106 Bedeutsam für Genets Positionierung in der gegenkulturellen Öffentlichkeit ist insbesondere das von Ginsberg in seinem Vorwort aufgegriffene Kennzei‐ chen der illegalen Einreise in die USA - „slipped criminally into forbidden America“ 107 . Genets Präsenz in den USA , sowohl in Chicago als auch im Rahmen seiner zweiten Reise in die USA in New Haven, war aufgrund seiner kriminellen Vergangenheit heimlich über die kanadische Grenze und ohne eine offizielle behördliche Genehmigung durch ein Visum erfolgt. Seinen aus diesem Grund als illegal zu bewertenden Status schätzte Genet und er knüpfte daran strate‐ gisch in seinen öffentlichen Stellungnahmen an. In einer als Präambel bezeich‐ neten Einführung in seine Rede zum Ersten Mai bedient er sich des Terminus „vagabond“, um seine eigene Rolle zu charakterisieren: En effet, depuis deux mois, je circule sans être inquiété, mon entrée dans le pays s’est effectuée dans des circonstances inhabituelles, ma façon de vivre, ici et ailleurs, est celle d’un vagabond et non d’un révolutionnaire, mes mœurs même sont inusuelles, de sorte que je dois faire très attention quand je parle au nom du Black Panther Party qui, lui, est ancré dans ce pays, dont les habitudes ne sont pas le nomadisme, qui se défend avec les moyens appelés légaux, et avec des armes réelles. 108 Mithilfe des Attributes „vagabond“ kennzeichnet Genet einerseits seine Lebens‐ weise als Nomade ohne feste territoriale Bindung und erwehrt sich darüber hi‐ naus der Zuschreibung als Revolutionär. Auf diese Selbstdefinition greift Genet in seinem Interview mit Michèle Manceaux am 10. Mai 1970 in Paris zurück, um unter Bezug auf seinen Lebensstil aktiv gegen die Fremdzuschreibung als Re‐ volutionär vorzugehen: Ma situation est celle d’un vagabond et non d’un révolutionnaire. Comment voulez-vous que je me définisse moi-même? Et puis les mots que l’on peut me coller sur le dos n’ont aucune importance: voleur, pédéraste … maintenant révolutionnaire. Non, je n’ai pas envie de dire que je suis révolutionnaire. 109 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 188 110 Ceccatty et al.: „Enfances“, p. 74. 111 White: Genet, p. 587. 112 Genet: „May Day Speech“, p. 47. 113 Vgl. White: Genet, p. 619. Paradoxerweise schafft Genet jedoch mithilfe der Autodesignation als Vagabund ein Selbstbild, das sich aufgrund der alternativen Lebensweise dem gegenkul‐ turellen Entwurf nähert. So knüpft Genet dabei auch an jene vor allem in seinen frühen Romanen und insbesondere in Journal du voleur beschriebene Lebens‐ weise an, die nicht nur die Autoren der Beat Generation prägte, sondern für die neue Generation der 1960er Jahre gleichsam ein Identifikationsmuster reprä‐ sentierte, wie Homel konstatiert: Nous avons lu Le journal du voleur, parmi d’autres œuvres, en traduction anglaise bien sûr, dans l’édition livre de poche chez Grove Press. Nous avons apprécié son côté ‚voyou‘, et cette image de ‚l’enfant criminel‘ qui disait notre jeune révolte. […] l’appellation ‚écrivain français‘ avait du prestige, et le Genet ‚écrivain-voyou‘ nous était important, car cette image nous permettait de voir la possibilité de l’expression de soi […]. 110 Die Selbstdefinition als Vagabund ermöglicht es Genet darüber hinaus, eine Haltung jenseits fester Klassifikationsschemata zu verteidigen, die auch seine Positionierung im intellektuellen Feld kennzeichnet. Mithilfe seines Verzichtes auf die Bezeichnung als Revolutionär distanziert er sich beispielsweise von den Yippies und deren ebenfalls in Yale anwesendem Begründer Abbie Hoffman, der sich, wie Genet in Chicago erfuhr, als professioneller Revolutionär verstand: „When Burroughs asked Genet what he thought of Abbie Hoffman, a professional revolutionary, Genet said, ‚Not bad for a profession.‘“ 111 Dabei ist sich Genet jedoch der in der Affirmation seines Markenzeichens als wohnsitzloser Vagabund begründeten Gefahr für die Black Panthers bewusst. So dürfe sein fabuliertes Selbstbild und seine irreale Situation keinesfalls die öf‐ fentliche Wahrnehmung der realen Problematik des Rassismus in den USA be‐ einträchtigen oder affizieren: „Dans ma situation vis-à-vis de l’administration du pays, il entre une certaine irréalité dont je dois tenir compte. […] [D]ans mes interventions, aucune irréalité ne doit se glisser.“ 112 Wie White darstellt, handelte es sich bei der Maitagsrede um Genets letzte Ansprache in den USA , da er tags darauf ein Schreiben von der amerikanischen Einwanderungsbehörde erhielt und nach Kanada ausreisen musste. 113 Bei einer in diesem Kontext geführten Pressekonferenz in Montreal im Mai 1970, welche die weltweite Gründung von Solidaritätskomitees für die Black Panthers in allen bedeutenden Hauptstädten zum Ziel hatte, bezeichnet Genet seine Haltung in Abgrenzung zu den Revolu‐ 3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs 189 114 Pierre L. O’Neill: „Les Black Panthers auront pignon sur rue à Montréal“, in: Le Devoir, 6. Mai 1970, pp. 3; 6, hier 6. 115 Ibid. 116 Lane: „Beat Generation“, p. 81. Hervorhebung im Original. tionären nicht mehr als die eines Vagabunden, sondern als die eines „révolté“: „Je ne suis pas un révolutionnaire, mais un révolté.“ 114 Die Problematik des Images und der Irrealität beschreibt Genet hingegen anhand der Black Panthers selbst, die von der ausländischen Presse zu schwarzen Superhelden stilisiert würden, wodurch den Solidaritätskomitees auch die Aufgabe zukomme, „de dissiper l’image qui présente les Black Panthers comme des ‚supermen‘ noirs.“ 115 Während Genet im Austausch mit Sartre und Foucault insbesondere die von seinem Interventionsentwurf ausgehende gesellschaftliche Funktion reflektiert und von einem intellektuellen Handlungsmuster abzurücken versucht, lehnt er im Umfeld der gegenkulturellen Demonstrationen und Proteste in den USA die Bezeichnung als Revolutionär ab und positioniert sich so in Distanz zu den re‐ volutionären und radikalen Gruppierungen selbst. Seine Haltung ist von dem Ideal eines absoluten Detachements bestimmt, das er im intellektuellen Feld in seiner Funktion als Poet gesichert glaubt, wohingegen er sich in der gegenkul‐ turellen Öffentlichkeit auf seinen Status als Vagabund beruft. Im Unterschied zu den beiden französischen Intellektuellen untersteht seine Beziehung zu den amerikanischen Schriftstellern Ginsberg und Burroughs keinem der eigenen Positionierung in der Öffentlichkeit geschuldeten Spannungsverhältnis, son‐ dern beruht auf einer gegenseitigen künstlerischen Anerkennung. Denn wie Genet definieren sich auch Ginsberg und Burroughs in erster Linie über ihre Rolle als Autoren. Während Lane diese unverhofft harmonische Kooperation auf das kommunikative Defizit und die außerordentlichen Umstände in Chicago zurückführt - „Sans doute le chaos de 1968 et ses difficultés de communica‐ tion […] ont-ils court-circuité sa méfiance habituelle. Sans doute fallait-il ces circonstances extraordinaires, de fait, pour que Genet se prenne à fraterniser avec des écrivains en tant qu’écrivains“ 116 - erscheint jedoch insbesondere das sprachlich-kreative Schaffen als Bindeglied, wie in der nachfolgenden Analyse vertieft werden soll. Während Ginsberg im gegenkulturellen Feld eindeutig als Galionsfigur in Erscheinung tritt, enthält sich Burroughs weitestgehend des po‐ litischen Wirkungsbereichs der Gegenkultur, wohingegen Genet wiederum in einem Grenzraum zu situieren ist. Durch seine Autodesignation als Vagabund nämlich rekurriert Genet auf einen gerade in seinen frühen Romanen beschrie‐ benen Lebensentwurf, der für die Autoren der Beat Generation in den fünfziger 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 190 117 Genet: „Les maîtresses de Lénine“, p. 29. 118 Jacques Derrida: Glas, Paris: Galilée 1974, p. 45. 119 Genet: La Sentence, p. 10. 3.1.3 Jahren ein Identifikationsmuster repräsentiert und von der gegenkulturellen Generation der sechziger Jahre adaptiert wurde. Genets Selbstverständnis als ‚voyageur‘ und das poetische Konzept von Revolution im Vergleich zu Ginsbergs Perspektive des Reisenden Wie herausgestellt wurde, erlaubt das Attribut des Vagabunden aufgrund seiner Vielschichtigkeit Genet gleichzeitig eine Positionierung innerhalb und außer‐ halb des gegenkulturellen Feldes. Die Perspektive eines durch die Welt Vaga‐ bundierenden eröffnet darüber hinaus eine Sichtweise aus einem Moment der ständigen Bewegung heraus, welche auch Genets politische Haltung kenn‐ zeichnet. Neben der Bezeichnung des Vagabunden wählt Genet beispielsweise auch die des „voyageur“, so etwa in seinem ersten politischen Text im Kontext der Pariser Unruhen im Mai ’68, welcher mit der Zeile beginnt: „Quand un vo‐ yageur vient de l’étranger, par exemple du Maroc, il lit dans L’Humanité un article sur Cohn-Bendit […].“ 117 Als Reisender bewahrt sich Genet einerseits die Position desjenigen „[qui] saute partout où ça saute dans le monde, partout où le savoir absolu de l’Europe en prend un coup“ 118 , wie Derrida veranschaulicht. Genet eröffnet sich dadurch aber nicht nur die Perspektive eines allgegenwär‐ tigen Beobachters weltweiter, aktueller Veränderungen, sondern andererseits auch die Möglichkeit der Distanznahme zu den erlebten Ereignissen. So ist der Reisende den Ereignissen nie durch eine nationale Zugehörigkeit verbunden, sondern wohnt diesen immer aus einer grundsätzlich distanzierten Haltung bei. Diese herausgehobene Positionierung manifestiert sich noch deutlicher vermit‐ tels des Terminus ‚voleur‘, den Genet in seiner homonymen Doppeldeutigkeit verwendet. In La Sentence beschreibt Genet seinen Flug mit der Lufthansa von Hamburg über Kopenhagen und Frankfurt nach Japan 1967 und pointiert ins‐ besondere das performative und assoziative Vermögen von Worten, die be‐ stimmte Bilder hervorrufen: N’importe quel mot peut annoncer la formation, puis l’apparition de n’importe quelle image, mais celle qui sera fixée ici s’est présentée dans un foisonnement d’autres cédant en éclat, en force, en persuasion à mesure que ma décision d’écrire se précisait et ne retenait qu’elle: la nuit polaire. 119 3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs 191 120 Ibid. 121 Ibid. 122 Ibid., p. 14. 123 Ibid. 124 Ibid. In seiner fragmentarischen Erzählung geht dieses Potenzial von dem Wort ‚Sayonara‘ aus, welches der japanischen Stewardess als Begrüßungsformel für die anwesenden Passagiere dient. Genet beschreibt das Wort als kathartisch in seinem Bewusstsein operierend: „À partir de ce mot, je fus attentif à la manière dont s’enlevait par lambeaux de mon corps, au risque de me laisser nu et blanc, la noire et certainement épaisse morale judéo-chrétienne.“ 120 Das japanische Wort initiiert eine Säuberung, „le léger début d’un nettoyage“ 121 , welche ihn von der mit einem dreitausend Jahre alten Bandwurm verglichenen, christlichen Moralvorstellung befreit. Diese kurze Episode im über der östlichen Hemisphäre schwebenden Flugzeug endet scheinbar inhaltlich und typographisch mit der Landung in Japan, wird aber durch eine typographisch rot markierte Digression auf der darauffolgenden Seite fortgesetzt. Darin beschreibt er seine Position als die eines „voleur qui vole vers le Japon“ 122 , der gedanklich und emotional jedoch mit einem anderen „voleur“ verbunden bleibe, „qui, sans bouger d’un poil, con‐ tinue son destin de voleur, au milieu d’une cellule cubique emportée plus vite que l’avion le plus vite“ 123 . Wenn das japanische Wort ‚Sayonara‘ in Genet das Bild einer Polarnacht hervorruft, so imaginiert er in dem homonym gebrauchten Wort ‚voleur‘ die Platons Prinzip der Dualseelen nachempfundenen zwei Hälften eines Wesens, welche durch das erotische Begehren zueinander zu finden versuchen. So wird die Drehachse der Erde, welche der reisende „voleur“ umkreist, durch das erigierte Glied des gefangenen „voleur“ konstituiert: Immobile dans sa cellule, le prisonnier le plus beau était bien le pivot du monde. […] Il faut parler de lui comme on le ferait d’une montre, suisse ou non, d’une boussole, d’un cadran solaire à l’ombre. ‚Il marquait midi‘ dans le langage des prisons signifie qu’il bande, son sexe dressé vers son nombril marquerait l’heure ou le nord. […] Autour de lui et de son sexe, l’univers s’engendre et tourne mais selon des axes différents. […] Il est préférable de croire que rien ne fut jamais décidé clairement quant au rôle de pivot du monde. 124 Der Reisende wiederum zieht seine Kreise um den gefangenen Dieb, so dass sich einerseits ein Kontrast zwischen Mobilität und Immobilität nachzeichnet und andererseits die Vision einer Welt, welche durch die sphärische Rundheit cha‐ rakterisiert wird. Indem Genet seine eigene Position mithilfe dieser Spiralme‐ taphorik beschreibt, knüpft er schließlich implizit an den etymologischen Ur‐ sprung des Wortes ‚Revolution‘ in seiner astronomischen Bedeutung der 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 192 125 Vgl. Reinhart Koselleck: „Revolution als Begriff und Metapher. Zur Semantik eines einst emphatischen Wortes“, in: Id.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und Wilibald Steinmetz und einem Nachwort zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks von Carsten Dutt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, pp. 240-252, hier v. a. 246. 126 Derrida betrachtet die Zirkularität zunächst als ein zeitliches Prinzip eines „futur an‐ térieur“ und stellt eine Verknüpfung zum demokratischen Verständnis von Souveränität her. Vgl. Jacques Derrida: Voyous. Deux essais sur la raison, Paris: Galilée 2003, p. 32. 127 Jean Genet: „Cathédrale de Chartres. ‚Vue cavalière‘“ [1977], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 191-197. 128 Ibid., p. 191. doppelten Umdrehung der Erde um die Sonne und zugleich der Erde um sich selbst an, wie ihn Reinhart Koselleck aus geschichtsphilosophischer Perspektive erläutert. 125 Ohne den Revolutionsbegriff anzuwenden, umschreibt Genet ihn unter Rekurs auf die Kreisläufigkeit der Bewegung und setzt somit ein neues Deutungsmuster frei, wonach die Konzepte der Anziehung, der Kräfteverhält‐ nisse und der Wiederkehr in den Vordergrund geraten. So beansprucht er über den Begriff des Reisenden bzw. des Fliegenden die Positionierung eines Revo‐ lutionärs, insofern damit die Bedeutung der kreisläufigen Umdrehung einer va‐ riabel besetzten Achse beschrieben wird. Dieses Konzept, an welchem sich Der‐ rida in seinem Essay mit dem Titel Voyous zu orientieren scheint, 126 verwendet Genet konstant mit leichten Modifikationen. So etwa auch in seinem Text über die Kathedrale von Chartres mit dem Titel „Cathédrale de Chartres. ‚Vue cava‐ lière‘“ 127 , welchen er 1977 für die Reihe „Lire le pays“ in der Zeitung L’Humanité verfasst. Der Artikel beginnt mit der Nennung der beiden Pole Chartres und Nara, „pôles d’un axe autour duquel tourne la Terre“ 128 . Die beiden Orte sym‐ bolisieren für Genet zwei zentrale religiöse Kultstätten der westlichen und öst‐ lichen Hemisphäre, und seine eigene Positionierung ist, wie der begleitende Titel vorwegnimmt, durch die Sichtweise eines Beobachters aus der Vogelper‐ spektive gekennzeichnet, nämlich durch eine „vue cavalière“. Auch dieser Aus‐ druck ist in seiner Doppeldeutigkeit einer räumlich betrachtet emporgehobenen Perspektive des Erzählers einerseits und andererseits in der pejorativen Ver‐ wendung als unverschämte Sichtweise zu verstehen. Die so beschriebene Er‐ zählperspektive kommt in der ironischen Tonalität des Textes exemplarisch zum Ausdruck. Genets Autodesignation als ‚vagabond‘, ‚voyageur‘ und ‚voleur‘ im‐ pliziert die Unmöglichkeit seiner topographischen Fixierung. Er stilisiert seine Haltung als in ständiger Bewegung befindlich und vermittelt die Perspektive eines Beobachters, der die Welt von hoch oben aus der Distanz in ihrer Ganzheit wahrnimmt. Die Vision der Welt variiert dabei entsprechend der Thematik. In 3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs 193 129 Jean Genet: „L’Amérique a peur“ [1971], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 109-110, hier 109. 130 Vgl. Frank Hartmann: „Sputnik und die Globalisierung des Weltbildes“, in: Igor J. Poli‐ anski / Michael Schwartz (Hgg.): Die Spur des Sputnik: Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter, Frankfurt a. M.: Campus 2009, pp. 156-173. 131 Vgl. ibid., p. 166-168. 132 Vgl. ibid., p. 162 und 168. Dies wird beispielsweise auch anhand der von Léo Ferré in seinem Gedicht „Des armes“ verwendeten Metapher „des armes bleues comme la terre“ deutlich, das im Nach-Mai entstanden ist. Vgl. Léo Ferré: „Des armes“, in: Testament Phonographe, Monaco: La mémoire et la mer 2002, p. 83. 133 Ibid., p. 169. La Sentence sowie in seinem Artikel über Chartres beschreibt Genet vermittels der westlichen und östlichen Halbkugel die Differenz zwischen der westlichen und östlichen Kultur in Form einer Kritik am Eurozentrismus. In seinem Text „L’Amérique a peur“ von 1971 über die von der amerikanischen Polizei ausgeh‐ ende Bedrohung für die afroamerikanische Bevölkerung hingegen rückt Genet die seinem Verständnis nach durch die Fangnetze der internationalen Polizei produzierte, blaue Oberflächenstruktur der Weltkugel in den Vordergrund: „[N]’y a-t-il pas une Internationale policière qui, de plus en plus, enserre le globe dans un filet de couleur bleue (de l’azur à l’outremer - écrit comme outre-tombe)? “ 129 Die hier verbildlichte Wahrnehmung des Planeten als globales Ganzes beruht nach Hartmann auf der durch die Satellitentechnologie herbei‐ geführten Reorganisation von Wahrnehmungsräumen. 130 Hartmann exemplifi‐ ziert dies anhand der ersten aus der kosmischen Perspektive realisierten Satel‐ litenbilder der Erde in den ausgehenden sechziger Jahren, welche einen so genannten Overview Effekt abbilden. 131 Insbesondere aber prägt die auf den Sa‐ tellitenbildern ab 1968 sichtbare blaue Färbung des Planeten das kollektive Be‐ wusstsein in Form einer „kulturellen Visiotype“. 132 Hartmann betont auch die Bedeutung der Satellitenbilder für die amerikanische Gegenkultur, die im Pro‐ jekt des Whole Earth Catalog zum Ausdruck kommt: Weil die NASA ihre Bilder von der Erdkugel nicht veröffentlichte und zunächst nur Teilbilder vom faszinierenden ‚Blue Planet‘ freigab, startete der amerikanische Com‐ puteringenieur, ‚Merry Prankster‘ und LSD-Experimentator Stewart Brand eine Kam‐ pagne zur Freigabe des mythischen Bildes, von dem er annahm, dass seine popkultu‐ relle Verbreitung eine einschlagend bewusstseinsverändernde Wirkung auslösen würde. Sein Bestreben hatte Erfolg, und 1968 war es dann soweit: Das Bild von der ganzen Erde zierte das Cover seines Publikationsprojektes Whole Earth Catalog und symbolisierte damit mehrschichtig den in diesem Druckwerk manifestierten holis‐ tisch-ökologischen Effekt. 133 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 194 134 Fred Turner: From Counterculture to Cyberculture: Stewart Brand, the Whole Earth Net‐ work, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago: University Press 2006, p. 83. 135 Hartmann: „Sputnik und die Globalisierung des Weltbildes“, p. 170. 136 Allen Ginsberg: Chicago Trial Testimony (Verbatim Transcript of Allen Ginsberg’s Tes‐ timony as witness of the defendants (David T. Dellinger, et al.) in the 1969 ‚Chicago Seven‘ Trial), San Francisco: City Lights Trashcan Series 1975, p. 10-11. 137 Allen Ginsberg: „New York to San Fran“ [1965], in: Airplane Dreams: Compositions from Journals, San Francisco: City Lights 1969, pp. 11-33. Mit dem Bild des ‚Blauen Planeten‘ auf der Titelseite und der Illustration einer Sonnenfinsternis auf der Rückseite interpretieren die Erfinder die Position des Lesers des zwischen 1968 und 1972 veröffentlichten Kataloges als die eines „astronaut looking down from space on a textual representation of a new earth“ 134 , wobei diese neue Welt als von den gegenkulturellen Gemeinschaften bevölkert erscheint. Die Färbung des von Hartmann als „Ikone“ 135 bezeichneten ‚Blauen Planeten‘ wird von Genet jedoch nicht in Form der utopischen Erfahrung einer neuen Welt, sondern vielmehr als Produkt einer negativen politischen Entwick‐ lung identifiziert, nämlich der Einnahme des Planeten durch die Polizei. Die technologisch ermöglichte extraterrestrische Perspektivierung des Pla‐ neten in seiner Ganzheit wirkt sich gerade innerhalb der amerikanischen Ge‐ genkultur positiv auf die Bildung eines ökologischen Bewusstseins zum Schutze des Planeten aus. Dieses planetarische Umweltbewusstsein ist maßgeblicher Bestandteil der gegenkulturellen Selbstwahrnehmung wie besonders deutlich in Allen Ginsbergs Texten und Kommentaren veranschaulicht wird. In seiner Stellungnahme während des Chicago Seven-Prozesses wiederholt Ginsberg seine im Vorfeld zur Organisation des Festival of Life während der Pressekonferenz am 17. März 1968 gegenüber Chicagos Bürgermeister Richard Daley geäußerte Aussage: My statement was that the planet Earth at the present moment was endangered by violence, overpopulation, pollution, ecological destruction brought about by our own greed; that the younger children in America and other countries of the world might not survive the next 30 years, that it was a planetary crisis […] that we were going to gather together as we had before in the San Francisco Human Be-in to manifest our presence over and above the presence of the selfish elder politicians […]; that the central motive would be a presentation of a desire for the preservation of the planet and the planet’s form, that we do continue to be, to exist on this planet […]. 136 Auch in Ginsbergs Dichtung lässt sich die Perspektive des Reisenden eruieren. Exemplarisch zu nennen ist das Gedicht „New York to San Fran“ 137 von 1965 aus der Textsammlung Airplane Dreams, in dem das lyrische Ich seine Beobach‐ tungen aus dem über den Staaten schwebenden Flugzeug von New York nach San Francisco schildert: „Once more o’er these states / Scanning the cities and 3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs 195 138 Ibid., p. 12. 139 Ibid., p. 16. 140 Ibid., p. 17. 141 Ibid., p. 18. 142 Ibid., p. 19. 143 Allen Ginsberg: Planet News. 1961-1967, San Francisco: City Lights 2007 [1968]. 144 Allen Ginsberg: The Fall of America, poems of these states. 1965-1971, San Francisco: City Lights 2010 [1972]. 145 Eric Mottram: „Anarchic Power“, in: Lewis Hyde (Hrsg.): On the Poetry of Allen Gins‐ berg, Michigan: The University Press 1984, pp. 260-267, hier 266. 146 Allen Ginsberg: „Chicago to Salt Lake by Air“ [1968], in: The Fall of America, poems of these states. 1965-1971, San Francisco: City Lights 2010 [1972], pp. 79-82. fields / Once more for the Rockies, to look / down on my spermy History.“ 138 Ginsberg beschreibt aus der Vogelperspektive triste Stadtansichten und ameri‐ kanische Landschaften, anhand derer er die USA als „police state“ 139 und „jail“ 140 symbolisiert, erweitert diese Perspektivierung aber auch auf ein kosmisches Bewusstsein, welches das Individuum in der Weite des Universums situiert: „Man has overtaken his universe, / says the music, and pictures / of Mars are expected when / I set my sneakers on Land.“ 141 Der Wunsch nach einer tief‐ greifenden Veränderung ist in diesem Sinne nicht nur an der Nation, sondern am gesamten Planeten ausgerichtet und Ginsberg beschwört daher eine plane‐ tarische Revolution: „[T]he time for Earth’s Revolution’s here! “ 142 Die Perspek‐ tive des durch die USA Reisenden kennzeichnet auch seine beiden Gedichtbände Planet News  143 sowie The Fall of America  144 , die zwischen 1961 und 1971 ent‐ standen sind und auf die Mottrams Bezeichnung des „continuous record of space-time travel in the Cold War“ 145 zutrifft. In The Fall of America unterteilt Ginsberg die Gedichte in fünf unterschiedliche Einheiten, wobei nur das dritte, unter dem Einfluss des Todes von Neal Cassady 1968 entstandene Kapitel zu‐ mindest im Titel keine topographische Richtung oder Situierung abbildet wie die übrigen: „Thru the Vortex West Coast to East 1965-1966“, „Zigzag Back Thru These States 1966-1967“, „Ecologues of These States 1969-1971“, „Bixby Canyon to Jessore Road“. Ginsbergs auf Reisen entstandene Gedichte bilden unter‐ schiedliche, an das Transportmittel angepasste Perspektiven ab, so dass der Blick aus der Vogelperspektive nur bei Flugreisen eingesetzt wird. Die überblickende Perspektive auf die Erde dient ihm insbesondere zur Beschwörung einer Revo‐ lution zum Schutze des Planeten und kennzeichnet sein ökologisches Bewusst‐ sein, welches in den USA mit der gegenkulturellen Bewegung erwächst. Dieser Zusammenhang manifestiert sich auch in dem Gedicht „Chicago to Salt Lake by Air“ 146 , in dem durch eine überblickende Perspektive aus dem Fenster des Flug‐ 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 196 147 Ibid., p. 79-80. 148 Ibid., p. 80. 149 In seiner Studie zu engagierten Texten und Filmen über die Konflikte in Kuba, Vietnam und Palästina widmet sich Sylvain Dreyer dem sich in ausgewählten Texten der sech‐ ziger und siebziger Jahre abzeichnenden Spannungsverhältnis zwischen dem Neutra‐ litätsanspruch und der kritischen Haltung von Augenzeugenberichten, welches er als symptomatisch für die in dieser Zeit entstandenen Werke beschreibt. Vgl. insbesondere Kapitel 1 „Témoignage et engagement“, in: Dreyer: Révolutions! , pp. 41-98. zeuges der durch industrielle Chemikalien verschmutzte See von Detroit fokus‐ siert wird: Detroit’s lake from a mile above chemical muddy, / streams of grey waste fogging the surface to the center, / more than half the lake discolored metallic - / Cancerous reproductions the house flats rows of bee / boxes, DNA Molecular Patterns / microscopic reticulations topt w / Television Antennae / and the horizon edged with grey gas clouds from East to / West unmoved by wind. 147 Erst durch die emporgehobene Insichtnahme - gleich einem Satellitenbild - der ansonsten für das Auge des Betrachters nicht wahrnehmbaren Oberflächen‐ struktur erscheint das Wasser des Sees schlammig verfärbt und von grauen Schmutzzusammenballungen durchzogen. Für diese landschaftliche Zerstö‐ rung, wie sie auch in dem von Gaswolken verhangenen Horizont angezeigt wird, macht das lyrische Ich in einem Ausruf der Empörung die Politiker und Indust‐ riellen verantwortlich: „They fucked up the planet! Hanson Baldwin Fucked up / the Planet all by himself, / emitted a long Military gas cloud Dec 26 27 28 1967 in / NY Times.“ 148 In Ginsbergs Gedichten wird durch den Overview Effekt folglich jenes die gegenkulturelle Selbstwahrnehmung charakterisierende und am Planeten in seiner Gesamtheit ausgerichtete Umweltbewusstsein ablesbar. Sowohl in Genets als auch in Ginsbergs Texten sind die Funktion des Rei‐ senden und des kritischen Beobachters politisch-gesellschaftlicher Phänomene miteinander verknüpft, 149 wenn auch bei Genet die symbolische Bedeutung des überfliegenden Beobachters stärker überwiegt. So dient Ginsberg und Genet die dynamische Position dazu, eine perspektivisch determinierte Interpretation der Realität zu veranschaulichen. Dies zeigt sich besonders signifikant in Genets Positionierung als ‚revolutionärer‘ Reisender, welche die eigene politische Hal‐ tung in sich dekonstruiert und eine nicht klar umreißbare Haltung zwischen objektiver Distanz und engagierter Teilnahme verbildlicht. Tatsächlich führt er den Begriff der Revolution durch sein Selbstverständnis eines um den Planeten schwebenden Reisenden auf seinen astronomischen Ursprung zurück und scheint ihn durch seine metaphorische Interpretation als kreisförmige Bewe‐ gung grundsätzlich zu entpolitisieren. Die Rolle des reisenden Beobachters und 3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs 197 150 Vgl. Morgan: Literary Outlaw, p. 446. 151 Vgl. zum Begriff des Medienereignisses die Ergebnisse des Gießener DFG-Graduier‐ tenkollegs „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegen‐ wart“, z. B. nachfolgende Fußnote. 152 Vgl. Frank Bösch: „Ereignisse, Performanz und Medien in historischer Perspektive“, in: Id. / Patrick Schmidt (Hgg.): Medialisierte Ereignisse. Performanz, Inszenierung und Me‐ dien seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt / New York: Campus 2010, pp. 7-29, hier 17. 153 Jean Genet: „The Members of the Assembly“, in: Esquire, November 1968, pp. 86-89. 154 William S. Burroughs: „The Coming of the Purple Better One“, in: Esquire, November 1968, pp. 89-91. 3.2 Augenzeugen politischer Ereignisse soll im Nachfolgenden im Kontext des ersten journalistischen Auftragswerks von Jean Genet in Chicago 1968 näher beleuchtet werden. Ereignis schreiben im Grenzbereich zwischen Journalismus und Literatur Als Reporter für das Magazin Esquire setzen Genet und Burroughs den Auftrag der Berichterstattung zum Parteitag der Demokraten in Chicago vom Heraus‐ geber Harold Hayes in Form eines „participatory journalism“ 150 um, also eines partizipatorischen bzw. teilnehmenden Journalismus. Denn statt den Partei‐ konvent selbst zum Kernpunkt ihrer Reportage zu erheben, thematisieren beide auf Basis ihrer persönlichen Erlebnisse und Teilnahme an den Gegendemonst‐ rationen die Atmosphäre des Protestes und der Kritik an der amerikanischen Politik. Es kann in Hinblick auf die convention week insofern von einem Medi‐ enereignis gesprochen werden, als sich die Berichterstattungen über den Schau‐ platz in Chicago und die dortigen Vorkommnisse verdichten. 151 Ereignisse werden immer erst zu solchen geschrieben und unterliegen folglich einer me‐ dialen Konstruktion, so dass Medien auch als gestaltende Akteure von Ereig‐ nissen interagieren können und ihre Darstellungstechniken dabei zumeist selbst reflektieren. 152 Dieser Aspekt zeigt sich auch in den Reportagen von Genet und Burroughs. Sowohl Genets Artikel mit dem polysemen Titel „The Members of the Assembly“ 153 , als auch Burroughs’ fiktionalisierter Bericht „The Coming of the Purple Better One“ 154 bewegen sich dabei im Grenzbereich von Journalismus und Literatur. In seiner Kontrastierung von Literatur und Journalismus als zweier Systeme arbeitet Blöbaum fünf zentrale charakteristische Merkmale literarischer und 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 198 155 Vgl. für den gesamten Absatz Bernd Blöbaum: „Literatur und Journalismus. Zur Struktur und zum Verhältnis von zwei Systemen“, in: Id. / Stefan Neuhaus (Hgg.): Literatur und Journalismus. Theorie, Kontexte, Fallstudien, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, pp. 23-51. 156 Ibid., p. 29. 157 Ibid., p. 28. 158 Ibid., p. 41. 159 Vgl. ibid., p. 30-31. journalistischer Texte heraus. 155 Demzufolge resultiert ein Hauptunterschied aus dem Umgang mit Fakten und Fiktion, denn während sich der Journalismus der sozialen Wirklichkeit als Bezugspunkt verpflichtet, ist Literatur „nicht an ein allgemein akzeptiertes Wirklichkeitsmodell geknüpft.“ 156 Literarische Texte inszenieren vielmehr eine imaginäre Wirklichkeit, die dennoch einen Bezug zur sozialen Wirklichkeit haben kann, wohingegen der moderne Journalismus mit Blöbaum als „aktuelle Selektion und Vermittlung von Informationen zur öffent‐ lichen Kommunikation beschrieben werden“ 157 kann. Im Unterschied zu Jour‐ nalisten versuchen Schriftsteller folglich keine sachliche, sondern eine subjek‐ tive Sichtweise zu vermitteln, wobei auch im Journalismus zwischen einer tatsachen- und einer meinungsbetonten Darstellungsform differenziert werden muss. Auch das Darstellungsprogramm determiniert durch seinen spezifischen Umgang mit Formen und Techniken die Präsentation von Ereignissen. So bei‐ spielsweise werden die Reportage und der Essay als „literaturnahe Formen“ 158 eingestuft. Ein weiteres entscheidendes Charakteristikum zur Unterscheidung von Literatur und Journalismus wird durch die Zeitdimension determiniert. So zählt Blöbaum die Aktualität und deren Herstellung zur journalistischen Funk‐ tion und beschreibt Literatur durch ihr nicht aktualitätsfixiertes, sondern aktu‐ alitäts- und zeitübergreifendes Operieren. 159 Dadurch unterliegen journalisti‐ sche Artikel einem Verfall von Neuigkeitswert und Aktualität, der die Rezeption von Literatur nicht tangiert. Darüber hinaus indiziert der Deutungsspielraum des Textes seine Zugehörigkeit zum literarischen oder journalistischen System. Nur Literatur weist durch ihre Polysemie und -valenz eine Deutungsoffenheit auf, wohingegen journalistische Texte sich durch eine sprachliche und inhalt‐ liche Eindeutigkeit kennzeichnen. Im Lichte von Blöbaums Erkennungskriterien, nämlich der Faktizität in Ab‐ grenzung zur Fiktionalität, der daraus resultierenden Abbildung einer sozial verbindlichen Wirklichkeit im Unterschied zu einer imaginären Wirklichkeit, der Objektivität statt der Subjektivität, der Aktualität in Abgrenzung zur Über‐ zeitlichkeit sowie der Eindeutigkeit in Opposition zur Vieldeutigkeit, lässt sich insbesondere in Hinblick auf die Darstellungsart und -form von Ereignissen eine Porosität der Grenze zwischen den beiden von Blöbaum als Systeme aufge‐ 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 199 160 Vgl. Leonard Wallace Robinson: „The New Journalism: A Panel Discussion with Harold Hayes, Gay Talese, Tom Wolfe and Professor L. W. Robinson“, in: Ronald Weber (Hrsg.): The Reporter as Artist: A Look at The New Journalism Controversy, New York: Commu‐ nication Arts 1974, pp. 66-75, hier 66-67. 161 Ibid., p. 67. 162 Norman Mailer: The Armies of the Night: history as a novel, the novel as history, London: Weidenfeld and Nicolson 1968. 163 Vgl. Tom Wolfe: The new journalism, with an anthology edited by Tom Wolfe and E. W. Johnson, London: Picador 1990, p. 37-38. 164 Robinson: „The New Journalism“, p. 68. fassten Bereichen der Literatur und des Journalismus feststellen. Die Vermitt‐ lung und Darstellung von Informationen kann von einem sachlichen Bericht der Fakten hin zu einer subjektiven, fabulierenden Erzählung der sozial verbindli‐ chen Wirklichkeit reichen. Dieser Grenzbereich wird insbesondere in der in den sechziger Jahren in den USA aufkommenden Form des New Journalism bedient. Der New Journalism beschreibt eine vom Gebrauch narrativer Erzähltechniken durchsetzte, journalistische Darstellungsweise, welche dem Medienwissen‐ schaftler Robinson zufolge zwei Entwicklungen geschuldet sei, nämlich der Wahrnehmung einer auf medialer und politischer Ebene verstellten Realität sowie der Selbsterfahrung des Schriftstellers als Augenzeuge insbesondere der zeitgenössischen politischen Ereignisse, Demonstrationen und Gerichtspro‐ zesse. 160 Tom Wolfe, Mitbegründer des neuen journalistischen Stils, bezeichnet den New Journalism in Hinblick auf seine narrativen Techniken als „use by people writing nonfiction of techniques which heretofore had been thought of as confined to the novel or to the short story, to create in one form both the kind of objective reality of journalism and the subjective reality that people have always gone to the novel for.“ 161 Programmatisch hierfür ist auch der Titel von Norman Mailers 1968 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneter Reportage über den Marsch auf das Pentagon 1967, eine der größten Friedensdemonstrationen in den USA , Armies of the Night: history as a novel, the novel as history  162 . Dieser bringt die Durchdringung von Berichterstattung und Literatur auf eine Formel. Harold Hayes, der Herausgeber von Esquire von 1956 bis 1973, jenem Magazin, das von Zeitgenossen als für den neuen Stil generierend betrachtet wird, 163 betont darüber hinaus die Bedeutung der durch einzelne Magazine gesteuerten, marktwirtschaftlichen Disposition: So again I think that the distinction I would raise is that if there’s been any great change to accelerate the possibility of writers dealing more flexibly with the language and with form, it’s not because of the birth of a new journalistic form, but because there is a commercial disposition among magazines to see the imaginative writing now is more appealing to their readers. 164 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 200 165 Ibid. 166 Harold Hayes: „Introduction to Smiling through the Apocalypse: Esquire’s History of the Sixties“, in: Ronald Weber (Hrsg.): The Reporter as Artist: A Look at The New Jour‐ nalism Controversy, New York: Communication Arts 1974, pp. 154-160, hier 156. 167 John Hollowell: Fact & Fiction. The new journalism and the nonfiction novel, Chapel Hill: The University of North Carolina Press 1977, p. 44. 168 Ibid., p. 43. 169 Ibid., p. 60. Als Effekt des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage interpretiert Hayes aus seiner Perspektive das Aufkommen des neuen journalistischen Stils als weniger ästhetisch motiviert, denn verkaufsstrategisch. Der Wunsch einzelner Maga‐ zine, wie Esquire, New Yorker, Atlantic oder Harper’s, nicht mehr mit austausch‐ baren Berichterstattern zu arbeiten, sondern dem Publikum durch die Sichtweise origineller Autoren eine neue Perspektive auf Ereignisse einzuräumen, wird von Hayes als besonders impulsgebend herausgestellt: „The great premium is not upon the existence of a form, but on originality.“ 165 In seinem Vorwort zu einer Anthologie von in Esquire während der 1960er Jahre publizierten Artikeln be‐ schreibt Hayes ebenfalls diese Strategie, „to find the appropriate writers, often the unexpected ones“ 166 , mit dem Ziel, dem Magazin ein spezifisches Image zu verleihen. Dabei muss jedoch betont werden, dass der Stil des New Journalism zunächst insbesondere in Esquire und Harper’s ausgehend von einem Kreis einzelner Journalisten erprobt wurde und folglich vom strategischen Einsatz bestimmter Schriftsteller durch die Magazine selbst - wie etwa durch Esquire während der National Democratic Convention 1968 - unterschieden werden muss. Die Be‐ zeichnung des New Journalism kann nicht kollektiv auf alle in den sechziger Jahren entstandenen Reportagen angewandt werden, jedoch zeigt der neue Stil eine für diese Dekade charakteristische Tendenz im Journalismus auf, fiktionale und faktische Elemente miteinander zu verquicken. Wie Hollowell herausstellt, heuerten die meisten wichtigen Magazine 1968 Autoren an, die einen subjek‐ tiven Eindruck zeitgenössischer politischer Ereignisse liefern sollten, statt einer objektiven Berichterstattung: „By 1968, most major magazines were hiring no‐ velists, whenever possible, to write impressionistic versions of contemporary history.“ 167 Er betont auch, dass „some of the best political reportage“ 168 während der convention week in Chicago entstanden seien, und bezieht sich dabei auch auf die Reportagen von Genet und Burroughs sowie den ebenfalls von Esquire engagierten Schriftsteller Terry Southern und den Journalisten John Sack. Hol‐ lowell verwendet den Ausdruck des impressionistischen Journalismus, des „im‐ pressionistic journalism“ 169 , nicht nur für die journalistischen Beiträge von Schriftstellern, sondern ebenso für die Vertreter des New Journalism, arbeitet in 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 201 170 Ibid., p. 52. 171 William S. Burroughs: „The Coming of the Purple Better One“, in: Exterminator! , London: Penguin 2008 [1973], pp. 93-109. 172 Allen Ginsberg: „Going to Chicago“ [1968], in: The Fall of America, poems of these states. 1965-1971, San Francisco: City Lights 2010 [1972], p. 100. 173 Allen Ginsberg: „Grant Park: August 28, 1968“, in: The Fall of America, poems of these states. 1965-1971, San Francisco: City Lights 2010 [1972], p. 101. 174 Hollowell: Fact & Fiction, p. 52. 3.2.1 seiner Studie jedoch nur die Merkmale und Techniken des New Journalism he‐ raus, wie etwa den Verzicht auf eine objektive Repräsentation von Fakten, die Einbettung der Ereignisse in eine dramatische Szene, den Einsatz von Dialogen und dem inneren Monolog sowie die perspektivische Beschreibung der Ereig‐ nisse aus der Sicht einzelner Figuren. Während die hier aufgelisteten Charak‐ teristika alleine den New Journalism typisieren, versucht Hollowell die journa‐ listischen Arbeiten einzelner Autoren nicht weiter zu klassifizieren. Der Begriff des impressionistischen Journalismus impliziert jedoch eine subjektive Sicht‐ weise auf die Geschehnisse, welche aus der Haltung des Reporters als „partici‐ pant-observer“ 170 , d. h. als involvierter Augenzeuge, resultiert. Diese beteiligte Haltung schafft die Grundlage für eine Darstellungsform, welche die persön‐ liche Impression der Ereignisse vordergründig erscheinen lässt und aufgrund dieser selektiv operierenden Sichtweise einen freien Umgang mit faktischen und fiktionalen Aspekten ermöglicht. In diesem Verständnis lässt sich der Begriff des impressionistischen Journalismus auch auf die Reportagen von Genet und Burroughs in Esquire anwenden, in denen sich Elemente des faktischen und des fiktionalen Schreibens mischen. Der unklare Status, welcher diesen beiden Texten aus diesem Grund zukommt, zeigt sich besonders deutlich bei Burroughs, der seinen Artikel 1973 in eine Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel Exterminator!   171 überführt. Einer gesonderten Behandlung hingegen bedürfen die beiden zum Anlass der convention week entstandenen Gedichte von Allen Ginsberg mit den Titeln „Going to Chicago“ 172 sowie „Grant Park: August 28, 1968“ 173 , die von der Öffentlichkeit nicht als journalistische Texte rezipiert wurden. Varianten eines impressionistischen Journalismus: Genet und Burroughs als Reporter für «Esquire» Der Trend in den 1960er Jahren, dem allgemeinen Verständnis des Journalisten als einem „dispassionate observer“ 174 durch die Vision seiner persönlichen Be‐ 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 202 175 Ibid., p. 53. 176 Vgl. ibid. 177 Jean Genet: „Les membres de l’assemblée“ [1968], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 309-319, hier 312. Es handelt sich bei diesem Text um eine Rückübersetzung ins Französische durch Mirèze Akar. Das französische Originalmanuskript zerstörte Genet nach einem Streit mit Harold Hayes. Vgl. dazu Dichys Annotationen zum Text in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 414. 178 Hanrahan: „Le cru et les cuisses“, p. 35. 179 Genet: „Les membres de l’assemblée“, p. 315. teiligung an den Ereignissen als „participant observer“ 175 entgegenzuwirken, begünstigt das Entstehen einer Form der Berichterstattung, welche sich der konventionellen faktenorientierten Reportage in den etablierten Presseorganen und der durch sie verkörperten offiziellen Sichtweise widersetzt, wie Hollowell an einem Gegenbeispiel zur Berichterstattung über die Studentenunruhen an der Columbia University 1968 durch die New York Times beschreibt. 176 Diese Opposition manifestiert sich insbesondere in Genets Artikel über den nationalen Parteitag der Demokraten in Chicago, der sich explizit als Gegenbericht zu den Reportagen der etablierten Medien versteht. Indem er beispielsweise in einem offensiven Appell an den Leser auf den in den Fernsehbildern nicht übertrag‐ baren Geruch verweist, der von den hinter dem Tagungszentrum gelegenen Schlachthöfen ausgeht, untermauert Genet die Überlegenheit seines Berichtes gegenüber der Bildübertragung im Fernseher: Ce que votre télévision ne parvient pas à vous communiquer, c’est l’odeur. Non: l’Odeur, qui aurait peut-être un certain lien avec l’ordre? C’est que la Convention démocrate se tient dans le voisinage immédiat des parcs à bestiaux, et je ne cesse de me demander si l’air est empesté par la décomposition d’Eisenhower ou par la décomposition de l’Amérique tout entière. 177 Mithilfe des synästhetischen Effektes, welcher aus der klanglichen Assoziation von ‚Odeur‘ und ‚ordre‘ bzw. in der englischen Übersetzung von ‚Odor‘ und ‚order‘ entsteht, kritisiert er einerseits die Oberflächlichkeit der Fernsehberichte und suggeriert andererseits, dass der Verwesungsgeruch den Verfall der ge‐ samten amerikanischen Gesellschaftsordnung anzeigt. Auch Hanrahan konsta‐ tiert, „[que] [l]a médiatisation de la convention constitue de manière soutenue le point de mire de Genet.“ 178 Er distanziert sich von den Tatsachenberichten, deren Lektüre er den Lesern empfiehlt, die sich über den Parteitag der Demo‐ kraten informieren möchten: „Et la convention dans tout cela? Et la démocratie? Les journaux vous ont tenus informés à leur propos.“ 179 Er selbst hingegen ver‐ 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 203 180 Ibid., p. 319. 181 Burroughs: „The Coming of the Purple Better One“, p. 89. Es wird auch im Nachfol‐ genden aus Esquire, November 1968, zitiert. 182 Genet: „Les membres de l’assemblée“, p. 312. mittelt seinen subjektiven Eindruck der convention week, deren Ablauf er in Form von Tagebucheinträgen beschreibt. Die der Haltung eines partizipierenden Augenzeugen geschuldete subjektive Perspektive auf die Ereignisse ma‐ nifestiert sich ähnlich wie auch in Burroughs’ Text insbesondere in der Selbst‐ inszenierung der eigenen Persönlichkeit innerhalb der Geschehnisse. Während sich Genet als Feind, „ennemi“ 180 , präsentiert, imaginiert Burroughs seine Re‐ porterfunktion als Kammerjäger, als „exterminator“ 181 , wie die nachfolgende Gegenüberstellung zeigt. Genet strukturiert seine Reportage durch die Ausarbeitung von insgesamt vier Tagen, denen jeweils ein Körperteil eines Polizisten zugeordnet wird: „le premier jour: le jour des cuisses“, „le deuxième jour: le jour de la visière“, „le troisième jour: le jour de la bedaine“ und „le quatrième jour: le jour du revolver“. Durch diese entsprechend einzelnen Körperteilen und Attributen realisierte Untergliederung des Textes legt er den Schwerpunkt auf die Figur des Polizisten, welchem die Bedeutung eines machtstaatlichen Emblems zukommt. Er legiti‐ miert diese ungewöhnliche Perspektivierung, indem er auf die Omnipräsenz und Überdimensionalität der Polizei verweist, die seinen Blick auf den Parteitag der Demokraten verstellt. Am ersten Tag beispielsweise erfolgt die Blickführung durch den Beinausschnitt eines Polizisten: Dans le compas de ses cuisses solides, je parviens à voir … mais les cuisses ont bougé, et je constate qu’elles sont superbes: l’Amérique a une force de police magnifique, divine, athlétique, souvent photographiée et montrée dans des livres cochons … mais les cuisses se sont légèrement écartées l’une de l’autre, vraiment très légèrement, et dans l’intervalle qui va des genoux jusqu’au membre viril trop volumineux, je parviens à distinguer … voyons, mais c’est un panorama complet de la Convention démocrate, avec ses bannières parsemées d’étoiles, ses bavardages parsemés d’étoiles, ses robes parsemées d'étoiles, ses petites tenues parsemées d’étoiles, ses chansons parsemées d’étoiles, ses champs d’honneur parsemés d’étoiles, ses candidats couverts d’étoiles, bref, toute cette parade pleine d’ostentation, mais la couleur a de trop nombreuses facettes, ainsi que vous l’avez vu sur vos écrans de télévision. 182 Genets Wahrnehmung der National Democratic Convention erfolgt in Abhän‐ gigkeit von der körperlichen Stellung der Ordnungskräfte, die nur ein partielles Bild auf die Tagung gewähren. Betont wird hier insbesondere die Präsenz der amerikanischen Nationalflagge, deren Sterne als Inbegriff des amerikanischen Verständnisses von Ruhm und Nation fungieren. Auch am zweiten Tag wird das 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 204 183 Ibid., p. 313-314. 184 Ibid., p. 315-316. 185 Seaver: The Tender Hour of Twilight, p. 380. 186 Ibid. Sichtfeld durch das Polizeiaufgebot verdeckt, wie Genet mithilfe seines nach oben in Richtung des Visiers geführten Blickes zum Ausdruck bringt: Il faut que j’assiste à la suite de la Convention prétendument démocrate, mais le flic à la visière noire et aux yeux bleus est là. Au-delà, j’aperçois quand même un panneau éclairé au-dessus de l’étage où se tient la convention: il y a un œil et ‚C. B. S. News‘ dont la configuration, en français tout comme en anglais, évoque pour moi le mot ‚obscène‘. 183 Zum einen wird der Polizist von Genet als Hindernis für seine Reportage über den Parteitag imaginiert, zum anderen aber stellt er auch heraus, dass die Be‐ richterstattung zu diesem Ereignis bereits durch die offiziellen Medien, wie etwa das Hörfunk- und Fernseh-Netzwerk CBS , abgedeckt wird und damit obsolet erscheint. Auch am dritten Tag blockiert die Polizei den Zugang zum Ta‐ gungsort, wie Genet mit Blick auf die als Mauer wahrgenommenen Bäuche der Ordnungskräfte veranschaulicht: Nous sommes brusquement entourés d’une mer de bedaines de policiers qui bloquent l’entrée de la Convention démocrate. Quand j’y serai finalement admis, je comprendrai mieux l’harmonie qui existe entre ces bedaines et la poitrine des dames-patriotes présentes à la Convention. 184 Der Polizist dient Genet als Prototyp der amerikanischen Gesellschaft und dessen Beschreibung synthetisiert daher für ihn die gesamte Atmosphäre in Chicago. Seine Begegnung mit den amerikanischen Ordnungskräften inszeniert er als persönlichen Kampf, indem er seine vorab und während der convention week gesammelten Eindrücke in fiktionalisierter Form aufarbeitet. Wie Richard Seaver sich erinnert, hatte Genet bereits vor seiner Anreise in Chicago die Idee, von den Ereignissen „through the inverted V of a Chicago cop’s thighs“ 185 zu berichten, bis er durch einen Fernsehbericht zu dem Entschluss kommt, weitere Körperteile und Attribute zu integrieren: ‚But last night‘, he [Genet, S. I.] said, ‚I watched your television, and it showed some of those flics [cops]. The thighs are still important, but I was also impressed by their bellies - they wear their belts and their revolvers beneath their bellies. And the visors: they all wear visors that cover and shield their faces. You cannot see their eyes, but they can see you. So I shall perhaps write each day not only from between the thighs but also from the viewpoint of the bellies, the visors, the revolver.‘ 186 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 205 187 Genet: „Les membres de l’assemblée“, p. 319. 188 Ibid. 189 Ceccatty et al.: „Enfances“, p. 75. 190 Ibid., p. 78. Es bleibt somit fraglich, inwieweit Genet seine Ausführungen tatsächlich unter Einfluss eines persönlich erlebten Zusammenstoßes mit der Polizei wiedergibt. Die Sicht auf die demokratische Versammlung durch den mithilfe der Blickfüh‐ rung fragmentierten Körper des Polizisten spiegelt das Szenario eines Zwei‐ kampfes wider, der in einer finalen Passage explizit vermittels eines Blickwech‐ sels zum Ausdruck kommt: Au moment où nous quittons la Convention démocrate, un jeune policier fixe les yeux sur moi. Notre échange de regards est déjà en soi un règlement de comptes: il a compris que je suis l’ennemi, mais aucun des policiers n'est au fait de la route naturelle mais invisible, comme celle des drogues, qui m’a conduit, par une voie souterraine ou par la voie céleste, jusqu’aux États-Unis, alors que le Département d’État m’avait refusé le visa d’entrée dans le pays. 187 Genet vergleicht darin seine illegale Einreise in die USA mit dem als unsichtbar beschriebenen Weg der Drogen, womit zum einen auf den unerlaubten Handel mit Drogen angespielt wird und zum anderen der gegenkulturelle Topos be‐ wusstseinserweiternder Drogen bedient wird. Mithilfe seiner in dieser Textpas‐ sage als subversiv beschriebenen Reise, „par une voie souterraine ou par la voie céleste“ 188 , manifestiert er seine überlegene Haltung gegenüber der Polizei, die im Unwissen über seinen illegalen Status bleibt, so dass seine alleinige Präsenz in den USA bereits einen Affront gegen die Ordnung darstellt. Dennoch er‐ scheint Genets Selbstinszenierung als Feind der amerikanischen Polizei auf‐ grund der erotischen Beschreibung der Oberschenkel und Uniform des Poli‐ zisten paradox, wie sich beispielsweise in Homels kritischer Stellungnahme zu Genets Artikel andeutet: „La police, c’est l’ennemi. Inutile donc de s’occuper de ses cuisses. La fascination sexuelle pour l’autorité était tout le contraire de ce que nous avons compris de l’engagement politique.“ 189 Anders jedoch als bei Homel, demzufolge „Genet n’a pas questionné l’icône du policier“ 190 , soll Genets Sektion des Körpers in Form eines modernen Blasons vielmehr als Strategie der 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 206 191 Vgl. Sara Izzo: „Die machtstaatliche Emblematik des Körpers und seine poetische Frag‐ mentierung: Jean Genet als Journalist für Esquire“, in: Teresa Hiergeist et al. (Hgg.): Corpus. Beiträge zum 29. Forum Junge Romanistik, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2014, pp. 179-191. Alex Lussier kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, beschreibt diesen Pro‐ zess der Entmystifizierung allerdings in seinem Aufsatz unter Berücksichtigung des psychoanalytischen Ansatzes nach Lacan als „configuration d’une érotique de l’en‐ nemi“: Vgl. Lussier: „Jean Genet à Chicago“, p. 27. 192 Hollowell: Fact & Fiction, p. 52. 193 Genet: „Les membres de l’assemblée“, p. 309. 194 Ibid., p. 314. 195 Ibid. Entmystifizierung von dessen erotischem Potential verstanden werden. 191 Sein Selbstbild als Feind der in den Ordnungskräften emblematisierten amerikani‐ schen Nation wird auf stilistischer Ebene durch die Funktion als Blasonneur übersetzt. Die sexuelle Anziehung zum Polizisten, welche die ersten beiden Tage von Genets Berichterstattung charakterisiert, schlägt am dritten und vierten Tag entsprechend in eine ablehnende Haltung gegenüber dem zum Inbegriff der amerikanischen Fastfood-Kultur mutierten, brutalen Polizisten um, in dem Mo‐ ment nämlich, da die durch das Visier symbolisierte Fassade zerfällt. Genets Abbild der Ikone der amerikanischen Polizei wird tatsächlich von einer tief‐ gründigen Kritik an der amerikanischen Kultur durchzogen. Sein Selbstver‐ ständnis als Feind von Polizei und Gesellschaftsordnung kennzeichnet grund‐ sätzlich die Haltung eines „participant-observer“ 192 nach Hollowell, welche auch in seiner Darstellung der gegenkulturellen Bewegung in Chicago zum Ausdruck kommt. Lincoln Park und Grant Park werden als rituelle Begegnungsstätten präsentiert, deren nächtliches Treiben von Genet beschrieben wird. Mithilfe der Metaphern der Dunkelheit und der Nacht distanziert er sich von einer realisti‐ schen, tatsachenbezogenen Deskription zugunsten einer selektiv-impressionis‐ tischen: „L’obscurité où le parc est plongé n’est pas seule cause que je ne vois rien d’autre que des ombres qui s’étreignent.“ 193 Die Zusammentreffen in den städtischen Parks erzeugen ein neues Verständnis von Ordnung, wie Genet un‐ termauert: „L’ordre, ce qu’on appelle vraiment l’ordre, est présent ici . [sic! ] je le reconnais. C’est la liberté offerte à chacun de se découvrir et de s’inventer.“ 194 Diese gegenkulturelle Ordnung wird als utopische Zusammenkunft repräsen‐ tiert, wie in dem Bild des menschliche Früchte tragenden Baumes veranschau‐ licht wird: „Et les arbres du parc dans tout cela? Le soir, ils portent des fruits étranges, des grappes de jeunes gens suspendus à leurs branches. Je ne suis pas encore familier de cette variété nocturne: mais les choses sont ainsi, à Chi‐ cago.“ 195 Durch dieses raum-zeitliche Motiv einer Suspension zwischen Himmel und Erde bringt Genet das Verhältnis der Distanz zwischen Gesellschaftsord‐ 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 207 196 Ibid. 197 Ibid., p. 317. 198 Burroughs: „The Coming of the Purple Better One“, p. 89. nung und gegenkultureller Bewegung zum Ausdruck, die als „partie de l’Amé‐ rique [qui] s’est détachée de la mère-patrie et reste suspendue entre ciel et terre“ 196 charakterisiert wird. Expliziter noch benennt er diesen utopischen Ge‐ sellschaftsentwurf in seinem an die Hippies adressierten Appell, welcher eine Aufforderung zur gesellschaftlichen Neugestaltung beinhaltet: Hippies, vous les jeunes de cette manifestation, vous n’appartenez plus à l’Amérique, qui vous a d’ailleurs répudiés. […] Mais vous, entre ciel et terre, vous êtes le début d’un nouveau continent, une Terre de Feu qui s’élève étrangement au-dessus de ce que fut un jour ce pays malade, ou qui est évidé par en dessous: une terre de feu d’abord et, si tel est votre plaisir, une terre de fleurs. Mais vous devez commencer, ici et maintenant, un autre continent. 197 Kontrastiert werden in diesem appellierenden Einschub die utopische Vorstel‐ lung eines in naher Zukunft zu realisierenden neuen Kontinents, welcher in Anlehnung an den Mythos des sich aus der Asche erhebenden Phönix als Feu‐ erland imaginiert wird, und der dystopisch überschriebene, gegenwärtige Zu‐ stand eines kranken Landes. Charakteristisch für Genets gesamten Artikel, be‐ gründet der hier verbildlichte Kontrast zwischen Utopie und Dystopie sowie zwischen Dunkelheit und Helligkeit die dichotome Grundstruktur des Textes, welcher aufgrund seiner assoziativ-metaphorischen Beschreibungen und seines Einsatzes von poetisch-rhetorischen Stilfiguren einen individuellen poe‐ tisch-journalistischen Stil entwirft. Als Reporter widersetzt er sich einer objek‐ tiven Repräsentation von Fakten und bettet seine Erfahrungen in die Szene seines Kampfes mit der Polizei ein. Durch die Selbstdarstellung seiner feindli‐ chen Gesinnung gegenüber den amerikanischen Ordnungskräften und der von ihnen verkörperten amerikanischen Kultur offenbart Genet zugleich seine mit der gegenkulturellen Bewegung sympathisierende Haltung. Auch in William S. Burroughs’ Artikel bestimmt die eigene Haltung dessen Form und Inhalt, wie in der Beschreibung seiner Ankunft am Flughafen in Chi‐ cago gleich zu Beginn des Textes angedeutet wird. In einer zeitlichen Überblen‐ dung eines scheinbar ersten Aufenthaltes in Chicago während des Krieges in der Funktion als Kammerjäger und seiner aktuellen Anreise als Reporter für das Esquire-Magazin vermischen sich für den Leser die beiden Funktionszuwei‐ sungen: „Last in Chicago during the war where I exercised the trade of exter‐ minator. ‚Exterminator. Got any bugs lady? ‘ ‚The tools of your trade‘ said the customs officer touching my cassette recorder.“ 198 Die unmittelbar aufeinander‐ 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 208 199 Ibid. 200 Ibid. 201 William S. Burroughs: „The Invisible Generation“, in: The Job. Interviews with William S. Burroughs by Daniel Odier, revised and enlarged edition including „Playback From Eden to Watergate“ and „Electronic Revolution 1970-71“, New York: Grove Press 1974, pp. 160-170. 202 Vgl. William S. Burroughs: „Electronic Revolution 1970-71“, in: The Job. Interviews with William S. Burroughs by Daniel Odier, revised and enlarged edition including „Playback From Eden to Watergate“ and „Electronic Revolution 1970-71“, New York: Grove Press 1974, pp. 174-203. 203 Ibid., p. 174. folgenden Aussagen des Kammerjägers und des Zollbeamten erzeugen ein un‐ klares Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wodurch auch die unterschiedlichen Tätigkeiten von Kammerjäger und Reporter nicht mehr ein‐ deutig voneinander getrennt werden können. Verstärkt wird diese Ambivalenz durch den Fokus auf Burroughs’ Kassettenrekorder, welcher durch die Satzfolge sowohl als Werkzeug des Kammerjägers als auch des Reporters interpretiert werden kann. Burroughs spezifiziert seine eigene Aktivität in Chicago durch das Beobachten der Ereignisse und das Anfertigen von Tonaufnahmen, wie aus seinen Notizen zu den einzelnen Tagen hervorgeht, so etwa während der Zu‐ sammenstöße im Grant Park am 28. August: „I walk around the park recording and playing back […]“ 199 oder während der Zusammenkunft in der Convention Hall am selben Tag: „I play back the Grant Park recordings and boo Humphrey […].“ 200 Bereits in seinem Artikel „The Invisible Generation“ 201 , der erstmals 1966 in der International Times erschienen war und in der Interview‐ sammlung The Job nachgedruckt wurde, experimentierte Burroughs mit den möglichen Effekten, welche durch das Aufnehmen und Abspielen von Ton‐ bandmitschnitten hervorgerufen werden könnten. Er vertiefte die Thematik in seinem Text „Electronic Revolution“, in dem die vermeintlichen Auswirkungen und Ziele in einzelnen Kapiteln nacheinander erläutert werden: „To spread ru‐ mors“, „As a front line weapon to produce and escalate riots“, „As a long range weapon to scramble and nullify associational lines“. 202 Diese Kapitelüber‐ schriften verdeutlichen, dass Burroughs seine auditiven Mitschnitte als politi‐ sche und sprachliche Waffe auffasste: […] I consider the potential of thousands of people with recorders, portable and stationary, messages passed along like signal drums, a parody of the President’s speech up and down the balconies, in and out open windows, through walls, over courtyards, […]. Illusion is a revolutionary weapon. To point out some specific uses of prerecorded cut / up tapes played back in the streets as a revolutionary weapon. 203 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 209 204 William S. Burroughs / Daniel Odier: „Academy 23“, in: The Job. Interviews with William S. Burroughs by Daniel Odier, revised and enlarged edition including „Playback from Eden to Watergate“ and „Electronic Revolution 1970-71", New York: Grove Press 1974, pp. 125-224, hier 160. 205 Burroughs: „The Coming of the Purple Better One“, p. 89. 206 Ibid. 207 Ibid. 208 Ibid., p. 90. Hervorhebung im Original. 209 Ibid., p. 89. Das revolutionäre Potential resultiert für Burroughs einerseits aus der Mög‐ lichkeit, die als Kontrollmaschine verstandene Sprache mit ihren spezifischen Assoziationsmechanismen zu zersprengen, und andererseits aus der Kreation einer bestimmten Stimmung oder Atmosphäre, wie etwa der Straßenkämpfe und -aufstände. Burroughs beschreibt seine Tonbandexperimente darüber hi‐ naus als bewusstseinserweiterndes Instrument „[to] produce highs and [to] en‐ large the field of perception“ 204 . Seine Rolle als ‚exterminator‘ lässt sich folglich in Hinblick auf seine Methode des Aufnehmens und Abspielens von Audioauf‐ nahmen neu definieren. Die Assoziation seiner angeblich während des Krieges ausgeübten Tätigkeit als Kammerjäger mit seiner Aktivität als Reporter wird durch die Repräsentation der Straßenkämpfe als Kriegsszenarien zusätzlich be‐ stärkt: „At this point I look up to see what looks like a battalion of World War I tanks converging on the youthful demonstrators […] I turn around to observe the scene and see it as a 1917 gas attack from the archives.“ 205 Burroughs be‐ schreibt die amerikanischen Ordnungskräfte als „left over from 1910“ 206 und daher als anachronistisch: „They are anachronisms and they know it.“ 207 Seine Selbstinszenierung als ein mit einem Kassettenrekorder bewaffneter ‚extermi‐ nator‘ sowie die Vergleiche der Straßenschlachten zwischen aufständischen Ju‐ gendlichen und Polizisten mit Kriegsschauplätzen während des Ersten Welt‐ krieges schaffen ein Bild der totalen Konfrontation, die er als symptomatisch für seine Epoche erklärt: What is happening in America today is something that has never happened before in recorded history: Total confrontation. The lies are obvious. The machinery is laid bare. All Americans are being shoved by the deadweight of a broken control machine right in front of each other’s faces. 208 Burroughs kombiniert in seinem Artikel ähnlich wie Genet faktische und fikti‐ onale Elemente und affirmiert unter Rekurs auf ein Zitat von Genet seine Rolle als Autor: „Jean Genet says: ‚It’s time for writers to support the rebellion of youth not only with their words but with their presence as well.‘ It’s time for every writer to stand by his words.“ 209 In Hinblick auf das Zusammenspiel von fakti‐ 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 210 210 Ibid. 211 Burroughs / Odier: „Journey through time-space“, p. 34. Der deutsche Ausdruck des „absoluten Sperrfeuers“ stammt aus der Übersetzung von Hans Hermann: William S. Burroughs / Daniel Odier: „Noch ein paar Minuten“, in: Der Job. Interview mit Wil‐ liam S. Burroughs von Daniel Odier, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1973, pp. 11-46, hier 18. 212 Burroughs: „The Coming of the Purple Better One“, p. 89. 213 Ibid., p. 90. schen und fiktionalen Aspekten lassen sich die drei Teile seines Artikels maß‐ geblich unterscheiden. Die erste Einheit wird durch die Chronik der einzelnen Tage konstituiert, welche aufgrund der zahlreichen Vergleiche, der Integration von Zitaten und der zweideutigen Selbstdarstellung als ‚exterminator‘ den Ein‐ druck einer Collage hinterlässt. Burroughs thematisiert gleichsam die medien‐ kritische Diagnose eines Verschwindens der Realität, in deren Ursprung bei‐ spielsweise auch das Aufkommen des New Journalism zu situieren ist. Dies manifestiert sich deutlich in seiner Darstellung der Polizisten als zwischen Wirklichkeit und Illusion changierende Phantome: „And what is the phantom fuzz screaming from Chicago to Berlin, from Mexico City to Paris? ‚We are R EAL R EAL R EAL ! ! R EAL as this N IGHT S TICK .‘ As they feel, in their dim animal way, that reality is slipping away from them.“ 210 Stärker noch als in Genets Artikel tritt bei Burroughs die Kritik an der massenmedialen Substitution von Wirk‐ lichkeit zum Vorschein, die Burroughs in anderem Kontext auch als absolutes und ständiges Sperrfeuer von Bildern, als „barrage of images“ 211 , bezeichnet und der er durch seine Tonband- und Filmtechniken entgegenzuwirken versucht. Seine kritische Haltung gegenüber der amerikanischen Gesellschaft äußert Bur‐ roughs explizit in einem zweiten Teil, in dem er jene „five questions that any platform in America must answer not with hot air but with change on a basic level“ 212 aus seiner eigenen Perspektive beantwortet, nämlich Vietnam, die Ju‐ gendrebellion, Black Power, das Polizei- und Justizsystem und die Inflation. Dieser zweite Teil korreliert inhaltlich mit dem dritten, eine geschlossene Ein‐ heit bildende Narration, welche die fiktionale Aufarbeitung seiner Beobach‐ tungen und Stellungnahmen in Chicago enthält und durch die Überschrift „In Last Resort the Truth“ vom übrigen Text abgehoben wird. Wie der Titel in sehr plakativer Weise ankündigt, dient als letzte Möglichkeit die Wahrheit, welcher Burroughs bezeichnenderweise nur in einer fiktiven Erzählung Rechnung tragen kann. Burroughs imaginiert die Präsentation und anschließende Rede des Präsidentschaftskandidaten mit dem symbolhaften Namen Homer Mandrill, der auch als „the Purple Better One“ 213 bezeichnet wird. Die Vorstellung des Kandi‐ daten übernimmt in einer kurzen Rede ein gewisser A. J., der insbesondere auf die Abstammung Homer Mandrills als Abkomme des die Menschheit und die 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 211 214 Ibid., p. 90-91. 215 Ibid., p. 91. 216 Ibid. 217 Ibid. 218 Ibid. amerikanische Gesellschaft begründenden, südafrikanischen Killeraffen ver‐ weist: The aggressive southern ape suh, glowing with menace, fought your battles on the perilous veldts of Africa 500,000 years ago. Had he not done so you would not be living here in this great city in this great land of America raising your happy families in peace and prosperity. Who more fitted to represent our glorious Simian heritage than Homer Mandrill himself a descendant of that illustrious line? 214 Die bereits durch den Eigennamen signalisierte Verwandtschaft mit der Spezies des Menschenaffen wird hier mit einem ironischen Unterton als dessen charak‐ teristisches Merkmal herausgestellt, welches den Kandidaten dazu prädestiniert, eine gesamte Nation zur Rückbesinnung auf deren konservative Geisteshaltung zu führen: „Who else can restore to this nation the spirit of true conservatism that imposes itself on any human solution? “ 215 Burroughs repräsentiert Homer Mandrill als alle Präsidentschaftskandidaten exemplarisch verkörpernden Pro‐ tagonisten, wie durch die Lichtprojektion der übrigen Kandidaten auf dessen Gesicht deutlich wird: „The features of other candidates are projected onto Ho‐ mer’s face from a laser installation across the park so that he seems to embody and absorb them all.“ 216 Die Rede Homer Mandrills beinhaltet die gleichen fünf zentralen Fragen, welche Burroughs im zweiten Textteil aus seiner eigenen Perspektive behandelt, und nimmt dadurch die Funktion einer fiktiven Gegenrede ein. Der Vietnam‐ krieg wird beispielsweise als Kreuzzug gegen den internationalen Kommu‐ nismus betrachtet, die Hippies und Yippies werden als „America-hating hood‐ lums“ 217 diskreditiert und als endgültiges Ziel wird die Bekämpfung aller internen und externen Feinde angestrebt, wenn nötig mithilfe einer jahrhun‐ dertelangen totalen Bewaffnung. Die quasi dialogische Inszenierung von Rede und Gegenrede wird in der Negation des von Burroughs im fünften Punkt auf das Jahr 1959 datierten finanziellen Kollapses evident, der von Homer Mandrill als „Communist-inspired […] rumors“ 218 abgetan wird. Die so realisierte Dia‐ lektik schafft eine diskursive Gegenüberstellung der imaginierten offiziellen Meinung der amerikanischen Politiker und der Stellungnahme Burroughs’ als Repräsentant einer Gegenöffentlichkeit, welche in der fiktiven Gegenrede in einer Art doppelten Selbstspiegelung als „a bunch of queers, dope freaks, and 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 212 219 Ibid. 220 Ibid. 221 Ibid. degenerated dirty writers […] living in foreign lands under the protection of American passports from the vantage point of which they do not hesitate to spit their filth on Old Glory“ 219 beschrieben wird. Nicht nur Aspekte der politischen Stellungnahme von William S. Burroughs werden in modifizierter Form in die Fiktion integriert, sondern auch Elemente aus den Notizen zu den einzelnen Tagesabläufen finden Eingang in die narrative Aufarbeitung. So wird die au‐ genärztliche Behandlung eines Fotografen des Life-Time-Magazins aufgrund des Einsatzes von Tränengas durch die Ordnungskräfte am 27. August in der Er‐ zählung aufgegriffen, jedoch ist der Fotograf hier die Zielscheibe des Ejakulats des sich auf der Bühne masturbierenden Präsidentschaftskandidaten: „The Si‐ mian emisses, hitting the lens of a Life-Time photographer.“ 220 Mit dem Ende der Rede von Homer Mandrill kommt es in der Erzählung „In Last Resort the Truth“ schließlich plötzlich nach dem dramaturgischen Prinzip des deus ex machina zu einer dramatischen Wende, als die Polizei den Mandrill aufgrund einer städti‐ schen Verordnung zum Umgang mit wilden Tieren einfangen und erschießen muss. Die Narration endet schließlich mit der Bestattung im Grant Park und der Grabesrede durch A. J., in welcher der Polizist als verkappter Kommunist - „a Communistic Jew Nigger inflamed to madness by injections of marijuana […] the assassin had, with diabolical cunning, disguised […] as a police officer“ 221 - enttarnt wird, womit das Prinzip der Verschwörungstheorie persifliert wird. „In Last Resort the Truth“ übt eine scharfe Kritik nicht nur an der National Democratic Convention, sondern an der gesamten westlichen Mentalität, welche Bur‐ roughs überspitzt anhand des amerikanischen Feindbildes charakterisiert: Der Kommunismus dient nach einem manichäischen Wahrnehmungsmuster als Ar‐ gumentationsschablone für das gesamte Übel in den USA . Die Integration dieser in sich geschlossenen narrativen Einheit in den jour‐ nalistischen Artikel rückt Burroughs grundsätzlich dem von den New Journalists geäußerten Anspruch nah, Geschichte als Fiktion und Fiktion als Geschichte darzustellen, welcher in Mailers Untertitel „history as a novel - the novel as history“ zum Ausdruck kommt. Allerdings tritt Burroughs selbst in „In Last Re‐ sort the Truth“ weder als personaler Erzähler noch als Figur in Erscheinung, sondern seine Haltung wird erst in der Spiegelung mit den ersten beiden Teilen seines Artikels manifest. Auch die spätere Aufnahme des Artikels als Kurzge‐ schichte in die Sammlung Exterminator! , welche den ursprünglich journalisti‐ schen Beitrag in einen fiktiven Kontext einbindet, erschwert eine eindeutige Zuordnung des textuellen Status. Ähnlich wie Genet setzt auch Burroughs den 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 213 222 William S. Burroughs: „‚Exterminator! ‘“, in: Exterminator! , London: Penguin 2008 [1973], pp. 3-8, hier 3. 223 Vgl. William S. Burroughs / Brion Gysin: Exterminator, San Francisco: Auerhahn Press 1960. offiziellen Auftrag von Esquire in einem originellen Text um, dessen subjektive Sichtweise insbesondere durch die Definition der eigenen Rolle und Position bestimmt wird. Während die dichotome Struktur von Genets Artikel durch die Selbstinszenierung als Feind der amerikanischen Ordnung und damit als Sym‐ pathisant der Gegenkultur vorgegeben wird, inszeniert Burroughs eine per‐ spektivische Spiegelung seiner eigenen Haltung mit der in seiner fiktiven Er‐ zählung imaginierten Position eines symbolischen Repräsentanten der amerikanischen Ordnung. Burroughs’ Autodesignation als ‚exterminator‘ lässt sich in Abhängigkeit vom Publikationskontext unterschiedlich interpretieren. So liegt der Akzent in der gleichnamigen Sammlung kurzer Prosatexte aufgrund der in der Auftakterzählung mit dem Titel „Exterminator! “ erschlossenen the‐ matischen Ebene eines Kammerjägerdienstes auf der Bedeutung des Kammer‐ jägers. Bereits im ersten Satz dieser ersten Erzählung wird der Ort des Szenarios geklärt: „During the war I worked for A. J. Cohen Exterminators ground floor office dead-end street by the river.“ 222 Im journalistischen Kontext hingegen steht die ebenfalls im Wort ‚exterminator‘ begründete Aktivität des Aufnehmens und Abspielens von Tonbandaufnahmen im Vordergrund, welche stärker auf sein erstes 1960 in Kooperation mit Brion Gysin publiziertes Werk mit demselben Titel anspielt, worin die beiden Künstler mit dem Schaffen neuer Bedeutungs‐ inhalte und einer alternativen Kommunikation vermittels der Cut-up-Technik experimentieren. 223 Aus der Perspektive des ‚ennemi‘ bzw. des ‚exterminator‘ beschreiben Genet und Burroughs ihre subjektiven Eindrücke zum Parteikonvent der Demokraten sowie zur politischen Situation in den USA insgesamt und schaffen vermittels unterschiedlicher literarischer Techniken journalistische Beiträge, die einen in‐ dividuellen poetisch-rhetorischen Stil entwickeln. „Les membres de l’assemblée“ hat für jene von Genets darauffolgend entstandenen journalistischen Texte eine programmatische Funktion, die in ähnlicher Weise im Grenzbereich zwischen Journalismus und Literatur zu situieren sind, wenngleich der jeweilige politische Kontext und Genets Haltung darin den einzelnen Texten eine unterschiedliche rhetorisch-stilistische Ausprägung verleihen. 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 214 224 Allen Ginsberg: „After Words“ [1972], in: The Fall of America, Poems of these states. 1965- 1971, San Francisco: City Lights 2010 [1972], p. 189. 225 Ibid. 226 Alex Houen: „Back! Back! Back! Central Mind-Machine Pentagon. Allen Ginsberg and the Vietnam War“, in: Cultural politics: an international journal 4, 3 (2008), pp. 351- 374, hier 355. 3.2.2 Ereignisinspirierte Poesie: Ginsbergs Begriff der poetischen Reportage Anders als Jean Genet und William S. Burroughs wurde Allen Ginsberg nicht von Esquire als Berichterstatter engagiert, sondern wohnte den Ereignissen in Chicago aus einem persönlichen politischen Interesse bei. Seine beiden anläss‐ lich der convention week entstandenen Gedichte „Going to Chicago“ sowie „Grant Park: August 28, 1968“, die 1972 in der Gedichtsammlung The Fall of America veröffentlicht wurden, werden von Ginsberg in seinem Nachwort von 1972 dennoch als Reportage bezeichnet: „The book enters Northwest border thence down California Coast Xmas 1965 and wanders East to include history epic in Kansas & Bayonne, mantra chanting in Cleveland smoke flats, […] re‐ portage Presidentiad Chicago police-state teargas eye, […].“ 224 Die in dieser Be‐ zeichnung suggerierte Verquickung des poetischen und journalistischen An‐ spruchs seiner beiden Gedichte kann aus der Zusammenarbeit mit Genet und Burroughs in Chicago erwachsen sein, zeichnet sich aber auch bereits im Titel seines zuvor publizierten Werks Planet News ab, als dessen Fortsetzung Ginsberg The Fall of America konzipiert: […] The Fall of America continues Planet News chronicle taperecorded scribed by hand or sung condensed, the flux of car bus airplane dream consciousness Person during Automated Electronic War years, newspaper headline radio brain auto poesy & silent desk musings, headlights flashing on road through these States of consciousness. 225 Mit Ginsbergs Begriff der ‚auto poesy‘ können seine gesamten in den sechziger und frühen siebziger Jahren entstandenen Gedichte bezeichnet werden, die Alex Houen im Lichte dieses Terminus als „flashes of lyrical observation spoken spontaneously and sporadically into the Uher while traveling“ 226 beschreibt. Houen verweist in diesem Zusammenhang auf eine Stellungnahme Ginsbergs, in der jener den Konnex seiner im Zeitraum des Vietnamkrieges verfassten Ge‐ dichte betont: „[…] they naturally tie together; they’re all done the same way, during the same time period, by the same mind, with the same preoccupations 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 215 227 Allen Ginsberg: „Improvised Poetics“ [1971], in: Composed on the Tongue. Literary Con‐ versations, 1967-1977, edited by Donald Allen, San Francisco: Grey Fox Press 2 1983, pp. 18-63, hier 27. 228 Mark Johnson: „‚History, the Body’s Prison‘: American Poetry during and after Vi‐ etnam“, in: Publications of the Missouri Philological Association 8 (1983), pp. 25-30, hier 27. 229 Vgl. ibid. 230 Allen Ginsberg: „Words and Consciousness“ [1971], in: Allen Verbatim. Lectures on po‐ etry, politics, consciousness, edited by Gordon Ball, New York et al.: McGraw-Hill 1974, pp. 25-35, hier 26. 231 Ibid. and obsessions, during the same war.“ 227 Die Klassifizierung von Ginsbergs Ge‐ dichten als lyrische, auf Reisen entstandene Observationen problematisiert im‐ plizit auch die Nähe zur Reportage, wobei Ginsberg diesen Begriff alleine im spezifischen Kontext des Parteitags der Demokraten und der Ereignisse in Chi‐ cago auf seine Poesie anwendet. Wie Mark Johnson in seiner Untersuchung zur amerikanischen Lyrik über den Vietnamkrieg betont, enthalten Ginsbergs Ge‐ dichte zahlreiche Referenzen zu zeitgenössischen Ereignissen und Phänomenen, wenngleich Johnsons Verständnis nach „many allusions to contemporary facts ironically obscure its historical perspective.“ 228 So interpretiere Ginsberg - ähn‐ lich wie auch Genet - seine Texte als Gegenstimme zur politischen, sozialen und kulturellen Medienagenda. 229 Insofern erscheint es auch von Interesse, dass Ginsbergs lyrische Darstellungsform sich dem mimetischen Konzept der Re‐ präsentation von Wirklichkeit widersetzt und er die Verschriftlichung eines Ereignisses immer als Abstraktion des Geschehenen betrachtet: […] experience as well as reason shows that when we have to reduce our multiple-sensory consciousness of an event which we know about into words, we have to abstract so much that we eliminate most of the details of the event. […] So a language description of an event is not identical with the event, is an abstraction of the event. 230 Ginsberg untermauert, dass das Beobachten und Erleben von Ereignissen auf einzelne Elemente konzentriert bleibt und dass sich dies bei der sprachlichen Ausführung des Ereignisses in der Selektion einzelner über die menschlichen Sinne wahrgenommener Aspekte äußert: „[…] it picks out only certain aspects of the event that we’re preoccupied with at the moment. And so in no way can a language description of an event be said to be comprehensively representative, really, of the event.“ 231 Folglich beschreibt Ginsberg die Darstellung von Ereig‐ nissen als einen subjektiv-selektiven Prozess, welcher auf der sensorischen Auf‐ nahme von äußeren Impulsen durch die Sinnesorgane basiert: „So it’s our par‐ 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 216 232 Ibid. 233 Ginsberg: „Improvised Poetics“, p. 26. 234 Ginsberg: Chicago Trial Testimony, p. 57. 235 Ginsberg: „Going to Chicago“, p. 100. 236 Ibid. 237 Ibid. 238 Ibid. 239 Ibid. 240 Ibid. ticular senses that collaborate with whatever’s going on outside to make an event to begin with.“ 232 Dieses ästhetische Prinzip seiner Lyrik bestimmt auch die beiden während der convention week entstandenen Gedichte, so dass der Begriff der Reportage entsprechend einen Bedeutungswandel erfährt. „Going to Chicago“ weist die Charakteristika der unter dem Schlagwort der ‚auto poesy‘ zusammengefassten Reiseobservationen auf und beschreibt in drei Strophen den Anflug auf Chicago am 24. August 1968 nach dem Prinzip einer „collage of the simultaneous data of the actual sensory situation.“ 233 Die von außen einwirkenden Impulse schaffen visuelle und auditive Effekte, mithilfe derer die eigene Wahrnehmung wiedergegeben wird. „Going to Chicago“ zirkulierte bereits während der convention week in einigen Untergrundmagazinen, so etwa in Rat, Subterranean News, und diente der Verteidigung im Chicago Seven Trial als Be‐ weisstück D-153, welches Ginsberg als „notations“ beschrieb, I made in my journal about the Chicago Convention on flying to Chicago on that Saturday preceding the convention, August 24th. It is what I was writing down from my head and heart, what I felt about what was going to happen and what I felt about it, so I tried to articulate where everybody and where I was in, what the Yippie convention was going to be like. 234 In der ersten Strophe wird aus einer von oben überblickenden Perspektive auf die Erde - „22,000 feet over Hazed square Vegetable planet Floor“ 235 - das un‐ ausweichliche Schicksal der menschlichen Sterblichkeit reflektiert: „Approaching Chicago to Die or flying over Earth another 40 years / to die […].“ 236 Dabei werden die eigentlichen Todesursachen, wie etwa die „bone-shattering bullet“ 237 oder „the vast evaporation-of-phenomena Cancer“ 238 , als Konsequenzen eines alles zeitlich überspannenden Atomzeitalters, des „Atomic Aeon“ 239 einander gleichgesetzt. Diese apokalyptische Darstellung der menschlichen Existenz wird in der zweiten Strophe mit der Imagination einer himmlischen Präsenz kon‐ trastiert, welche durch die ideale blaue Färbung der Seen und des Himmels eines natürlichen Universums symbolisiert wird: „The Lake’s blue again, Sky’s the same baby […].“ 240 Einem Zwiegespräch mit seinem Alter Ego nachempfunden, 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 217 241 Ibid. 242 Ibid. 243 Ibid. 244 Ibid. 245 Vgl. Miles: Ginsberg, p. 420. integriert Ginsberg ein vierzeiliges Zitat, welches die gegenüber der aggressiven Atmosphäre einzunehmende innere Haltung beschwört: „I heard the Angel King’s voice, a bodiless tuneful teenager / Eternal in my own heart saying ‚Trust the Purest Joy - / Democratic Anger is an Illusion, Democratic Joy is God / Our Father is baby blue, the original face you see Sees / You -‘“ 241 Der in dieser quasi liturgischen Formel veranschaulichte Kampf zwischen der demokratischen Wut und der inneren Freude wird in der dritten Strophe von der durch Chaos und gewalttätigem Aktivismus bestimmten Realität während der convention week eingeholt. Mit dem Ausdruck der „Conventional Police & Revolutionary Fury“ 242 beschreibt Ginsberg die Konfrontation zwischen den revolutionären Demonst‐ ranten und den Polizeiaufgeboten. Dabei scheinen sich die jeweiligen Ziele beider Kräfte, nämlich Ordnung und Freiheit, gegeneinander aufzuheben, wie durch das Adjektiv „helpless“ suggeriert wird: „How, thru Conventional Police & Revolutionary Fury / Remember the Helpless order the Police Armed to pro‐ tect, / The Helpless Freedom the Revolutionary Conspired to honor“ 243 . Die in der zweiten Strophe suggerierte Opposition zwischen einer pazifistischen und einer aggressiven Grundeinstellung wird in der dritten Strophe mithilfe der Ge‐ genüberstellung auditiv wahrnehmbarer Eindrücke untermauert. Der Gesang des Angel King koexistiert mit dem Geschrei der Mikrophone: „I am the Angel King sang the Angel King / as mobs in Amphitheaters, Streets, Colosseums Parks and offices / Scream in dispair over Meat and Metal Microphone.“ 244 Die in „Going to Chicago“ vermittels audiovisueller Impressionen illustrierte Opposi‐ tion einer apokalyptischen Realität und einer paradiesischen Projektion wird in Ginsbergs dreistrophigem Gedicht „Grant Park: August 28, 1968“ fortgesetzt. Mit dem 28. August 1968 wählt Ginsberg den Kulminationspunkt der Konfron‐ tationen zwischen Demonstranten und Ordnungskräften, an dem die Situation aufgrund massiver Ausschreitungen eskalierte. Die polizeiliche Bewachung und Abriegelung des von Ginsberg, Genet und Burroughs angeführten Friedens‐ marsches vom Grant Park bis zum Hilton Hotel endete mit einer Räumung der Parkanlage unter Einsatz von Tränengas. Das Hauptquartier des von den De‐ monstranten aufgrund seiner vietnamkritischen Haltung favorisierten Präsi‐ dentschaftskandidaten Eugene McCarthy im Hilton Hotel wurde in ein vorü‐ bergehendes Lazarett umfunktioniert. 245 Ginsberg trägt diesen Vorkommnissen in „Grant Park: August 28, 1968“ in lyrischer Form Rechnung. So wird in der 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 218 246 Ginsberg: „Grant Park: August 28, 1968“, p. 101. 247 Genet: „Les membres de l’assemblée“, p. 313. 248 Ginsberg: „Grant Park: August 28, 1968“, p. 101. 249 Ibid. 250 Ibid. 251 Ibid. 252 Ibid. ersten Strophe die räumliche Situation des Schauplatzes vor dem Hotel abge‐ bildet: „Green air, children sat under trees with the old, / bodies bare, eyes open to eyes under the hotel wall, / the ring of Brown-clothed bodies armed / but silent at ease leaned on their rifles -“ 246 . Dabei rekurriert Ginsberg auf den durch die farbliche Akzentuierung prononcierten Kontrast zwischen einer paradiesischen Zusammenkunft aller Generationen auf einer Grünanlage und der Umzingelung durch die bewaffneten, braungekleideten Ordnungskräfte. Die Repräsentation der braungekleideten und auf ihre Gewehre gestützten Polizisten erinnert an die paramilitärische Sturmabteilung der Nationalsozialisten. Im Unterschied zu Genet, der in seinem Text die Stadt Chicago in ein Meer blauer Uniformen taucht - „nous baignons dans un bleu mallarméen“ 247 -, um die Vormacht der amerikanischen Polizei zu kritisieren, bleiben die Farben Blau und Grün bei Ginsberg positiv konnotiert, und er bedient sich stattdessen der historisch fundierten Assoziation der Braunhemden, um die von der Polizei ausgehende Ge‐ walt und Macht zum Ausdruck zu bringen. Die Geräuschkulisse des „Harsh sound of mikrophones, helicopter roar“ 248 untermauert den kriegsähnlichen Ausnahmezustand. In den Strophen zwei und drei wechselt Ginsberg zwischen kurzen, deskriptiven Einblenden auf das Geschehen und rhetorischen Fragen, wodurch der Eindruck entsteht, dass die Ereignisse nicht eindeutig klassifi‐ zierbar sind: „Miserable picnic, Police State or Garden of Eden? “ 249 Ginsbergs Observation des Parteitags der Demokraten fließt insbesondere in die dritte Strophe ein, in der er Vorgänge der Korruption und Bestechung suggestiv ver‐ bildlicht und damit einen Widerspruch zum eigentlich demokratischen Pro‐ gramm der Partei und der Versammlung schafft: „[I]n the building walled against the sky / magicians exchange images, Money vote / and handshakes.“ 250 Auch der Tränengaseinsatz der Polizei vor dem Hilton Hotel wird in dieser letzten Strophe beschrieben: „The teargas drifted up to the Vice / President naked in the bathroom.“ 251 Die finale Frage „Who wants to be President of the Garden of Eden? “ 252 schafft einen ironischen und kritischen Ausblick auf das Votum der Tagung, aus welcher schließlich der konservative Kandidat Hubert Humphrey als Sieger hervorgeht. 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 219 253 Johnson: „‚History, the Body’s Prison‘“, p. 29. 254 Ibid. 255 Diese Definition ist im Glossar zu „Wichita Vortex Sutra“ abgedruckt: Paul Carroll: „‚I lift my Voice Aloud, / Make Mantra of American Language Now - / I Here Declare the End of the War‘“, in: The Poem in its Skin, Chicago and New York: Follett 1968, pp. 81- 111, hier 107. 256 Unter dem Begriff der ‚engelhaften Rhetorik‘ resümiert Ginsberg in einem frühen Ta‐ gebucheintrag auch die Bewunderung für Jean Genets Erzählstil, wie bereits in 3.1.1 näher ausgeführt. Das Wortfeld des Engels ist folglich eng mit seinem Verständnis von Poesie verknüpft. Die Figur des Engels ist auch in Genets Werk ein leitmotivisches Thema, wie Daniel Lance in seiner Studie zur Bedeutung des Engels bei Genet heraus‐ arbeitet. Lance begreift den Engel bei Genet als Projektionsfläche der eigenen Identität und als perfektes Alter Ego. Vgl. Daniel Lance: Jean Genet ou La Quête de l’Ange, Paris: L’Harmattan 2003, p. 124-125. Ginsbergs lyrische Aufarbeitung des Nationalen Parteitags der Demokraten charakterisiert sich als eine ereignisinspirierte Form der Poesie, welche die ge‐ sammelten Beobachtungen und Eindrücke über sinnliche Kanäle zu Bildern ab‐ strahiert. Während das lyrische Ich in „Going to Chicago“ über das in der Figur des Angel King verkörperte Alter Ego als kritische Stimme in Erscheinung tritt, wird es in „Grant Park: August 28, 1968“ nur verdeckt in den offenen Fragen verbalisiert. Ginsberg schildert die Ereignisse ähnlich wie Genet durch eine po‐ larisierte Gesellschaft und kontrastiert die paradiesisch-utopische Zusammen‐ kunft in den Parkanlagen mit der dystopischen Vorstellung eines Polizeistaates. Diese von Mark Johnson als „confrontational stance“ 253 bezeichnete Grundhal‐ tung kann als symptomatisch für den politischen Antagonismus der späten sechziger Jahre betrachtet werden: „[T]he nation seemed to be polarized and headed toward an inevitable conflict in which one idea of America would ne‐ cessarily triumph at the expense of the other.“ 254 Im Unterschied zu Genet in‐ szeniert sich Ginsberg nicht als Feind, sondern in der Figur des ‚Angel King‘ als Bote einer göttlichen Vision, der den Einsatz von Gewalt auf beiden Seiten ab‐ lehnt. Diese Autodesignation als König der Engel folgt bei Ginsberg der Vor‐ stellung von einem „spiritual or transcendental instinct“ 255 , den er in einem Glossar zu seinem Gedicht „Wichita Vortex Sutra“ beispielsweise auch Bob Dylan zuspricht. 256 Ginsberg betrachtete es als seine Hauptaufgabe in Chicago, die Aufständischen und Polizisten mithilfe des Singens von Mantras zu beru‐ higen, wie besonders deutlich in dem ebenfalls während des Chicago Seven Trial als Beweisstück eingesetzten Text mit dem Titel „Magic Password Bulletin“ zum Ausdruck kommt: In case of hysteria, solitary or communal, the magic password is Om, same as Aum, which cuts through all emergency illusions. Pronounce Om from the middle of the body […]. Ten people humming Om can calm down one hundred. […] A thousand 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 220 257 Ginsberg: Chicago Trial Testimony, p. 58. 258 Ibid. 259 Ginsberg: „Grant Park: August 28, 1968“, p. 101. 260 Ibid. 261 Mortenson: Capturing the Beat Moment, p. 182. Mortenson beschreibt Ginsbergs Singen von Mantras als eine „heterotopia of breath“, mit deren Hilfe ein soziales Kollektiv konstruiert werden kann. Vgl. hierzu insbesondere die unter dem Titel „Miserable Picnic, Police State, Garden of Eden? “, pp. 179-187, zusammengestellten Ausführungen. 262 Ginsberg: Chicago Trial Testimony, p. 65. 263 Allen Ginsberg: „War and Peace: Vietnam and Kent State“ [1971], in: Allen Verbatim. Lectures on poetry, politics, consciousness, edited by Gordon Ball, New York et al.: McGraw-Hill 1974, pp. 195-211, hier 209. bodies vibrating Om can immobilize an entire downtown Chicago street full of scared humans, uniformed or naked. 257 Ginsberg schließt in Hinblick auf diesen letzten Satz die Erläuterung an, dass mit der Immobilisierung das Stilllegen der „mental machinery which repeats over and over again the images of fear which are scaring people in uniform, that is to say, the police officers, or the demonstrators whom I refer to as naked, meaning naked emotionally and perhaps, hopefully, naked physically“ 258 ge‐ meint sei. In „Grant Park: August 28, 1968“ verwendet Ginsberg das Attribut der symbolischen Nacktheit in Bezug auf die „detectives naked in bed“ 259 und den „Vice President naked in the bathroom“ 260 . So versteht Ginsberg seinen religiös intendierten Gesang als eine Möglichkeit, den Menschen von seinem aggres‐ siven und gewalttätigen Potential zu befreien und, wie Mortenson beschreibt, in einem „human-to-human encounter“ 261 zusammenzuführen. Gesang und Po‐ esie sind in Ginsbergs Verständnis eng miteinander verwoben, was in seinen beiden Gedichten in der Figur des Angel King greifbar wird. Tatsächlich be‐ zeichnet er selbst sich in Hinblick auf seine Rolle für die Yippies während der Demonstrationen in Chicago als „religious experimenter“ 262 . In einem später entstandenen Interview interpretiert Ginsberg seine eigene Rolle als Poet unter Rekurs auf das rituelle Phänomen des Schamanismus als eine öffentlich-soziale Aufgabe, wie er in Hinblick auf den am 4. Mai 1970 organisierten Earth Day zum Schutze des Planeten erläutert: I’m the poet, so I see the role of poetry in terms of a public thing, as trying to invent rituals, poems, trying to clarify the consciousness of occasions like that [Earth Day, S. I.]. That’s what it used to be, actually, in the old days - in tribal or ancient Hebrew or American Indian situations the group would get together and a shaman or a spokesman would get up and say what was on everybody’s mind. 263 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 221 264 Ginsberg: „After Words“, p. 189. 3.2.3 Seine als „reportage Presidentiad Chicago police-state teargas eye“ 264 beschrie‐ benen Gedichte synthetisieren die in Chicago gesammelten Eindrücke sowie die eigene Haltung, welche die Funktion eines neutralen Beobachters in einer po‐ etisch-religiösen Projektion überschreitet. Wie auch in den journalistischen Texten von Genet und Burroughs gibt die eigene politische Haltung und deren narrative bzw. lyrische Umsetzung die Perspektivierung der dadurch gefilterten Realität vor. Alle drei Autoren setzen ausgehend von ihrem künstlerischen Selbstverständnis ihre eigene Rolle und Funktion in der Öffentlichkeit in Szene: Ginsberg betrachtet die Poesie als schamanistische Aufgabe für das soziale Ge‐ meinwesen, Burroughs interpretiert seine Rolle in einer sprach- und gesell‐ schaftskritischen Doppeldeutigkeit als Exterminator und Genets Selbstinsze‐ nierung als Feind und Blasonneur der Polizei entwirft eine poetische Militanz. Während Ginsberg die lyrische Transkription des historischen Ereignisses als sensorischen Abstrahierungsprozess versteht, übersetzt Burroughs die gesam‐ melten Eindrücke in eine fiktive Satire und unterstreicht dabei den erst in der Fiktionalisierung auf den Punkt gebrachten Wahrheitsgehalt: „In Last Resort the Truth.“ Genets Repräsentation entspricht grundsätzlich am stärksten den jour‐ nalistischen Ansprüchen des Augenzeugenberichtes, jedoch setzt er ironischer‐ weise den Schwerpunkt auf das, was sein Sichtfeld verstellt. Denn einerseits filtern die Ordnungskräfte seinen Blick und andererseits verdunkelt die Nacht seine Wahrnehmung, sodass auch seine Abbildung der Realität tatsächlich einem Abstrahierungsprozess gehorcht. Die sich darin abzeichnende Verschrän‐ kung von Literatur und Journalismus soll in einem nachfolgenden Exkurs in Bezug auf ein weiteres journalistisches Projekt von Genet vertieft werden, wel‐ ches zwar nicht im Rahmen seiner politischen Reisen in die USA entstanden ist, aber aufgrund seiner impliziten kritischen Stellungnahme zum literarischen Re‐ alismus eine weiterführende Diskussion ermöglicht. Exkurs: Genets journalistischer Pastiche des literarischen Realismus Exemplarisch sollen an dieser Stelle insbesondere zwei journalistische Texte von Jean Genet näher betrachtet werden, die nicht etwa wie die Reportage für Esquire einer faktenbezogenen, sondern einer meinungsbetonten Darstellungsform zu‐ zuordnen sind und daher bereits aus journalistischer Sicht anderen formalen Vorgaben und Kriterien unterliegen. Während nämlich Genet in „Les membres 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 222 265 Jean Genet: „Et pourquoi pas la sottise en bretelles? “ [1974], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 135-138. 266 Dichys Zitat stammt aus seiner Annotation zu Genets entsprechendem Artikel in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 368. 267 Jean Genet: „Un héros littéraire: le défunt volubile“ [1974], in: Europe 808-809 (1996), pp. 12-17. 268 Ibid., p. 12. de l’assemblée“ das Konzept des Augenzeugenberichtes durch den Filter eines gesellschaftskritisch-poetischen Aktivismus interpretiert und somit die partizi‐ patorisch-impressionistische Perspektivierung legitimiert erscheint, ist die Sub‐ jektivität seinen meinungsbetonten Kommentaren und Essays prinzipiell im‐ manent. Insbesondere im Zuge seines publizistischen Einsatzes für die kommunistische Zeitung L’Humanité während der Präsidentschaftswahl in Frankreich 1974 wie auch danach entwirft Genet einige kritische Kommentare, die zwar aus einem spezifischen gesellschaftspolitischen Kontext heraus ent‐ stehen, jedoch aufgrund ihrer literarischen Affiziertheit den Nexus zwischen Literatur und Journalismus problematisieren. Ähnlich wie anlässlich der Be‐ richterstattung zum Parteitag in Chicago entstehen folglich auch diese Beiträge vor dem Hintergrund eines politischen Ereignisses, wobei Genet im Kontext der französischen Wahlen insbesondere die Persönlichkeit des Präsidentschafts‐ kandidaten Giscard d’Estaing ins Visier nimmt. Zu nennen sind vor allem zwei thematisch miteinander verwandte Artikel, nämlich „Et pourquoi pas la sottise en bretelles? “ 265 , der in der Woche nach der Wahl Giscard d’Estaings zum Prä‐ sidenten erschien und den Albert Dichy als „commentaire libre plus qu’inter‐ vention militante“ 266 einstuft, sowie die eine sehr ähnliche argumentative Vor‐ gehensweise aufweisende Radioansprache von Jean Genet kurz vor der Wahl auf France-Culture, die schließlich mit dem Titel „Un héros littéraire: le défunt volubile“ 267 in La Nouvelle Critique publiziert wurde. Wie der Titel demonstriert, nähert sich Genet diesem publizistischen Projekt mit einer literarisch-narrativen Spielart, was dem Verbot durch die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt Frank‐ reichs ( ORTF ) geschuldet war, im Radio während des Wahlkampfes den Namen Giscard d’Estaings zu nennen. So versah Genet die Druckversion mit der schrift‐ lichen Erläuterung: „Puisque la Commission de contrôle de l’ ORTF m’empêchait de prononcer le nom de Giscard, j’ai raconté ce nom.“ 268 Tatsächlich nimmt Genet in diesem Text die Haltung eines satirischen Porträtisten ein und knüpft unter Nennung unter anderem von Balzac und Flaubert an die literarische Strömung des Realismus an, wie er sehr deutlich am Ende seines Vortrages zum Ausdruck bringt: 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 223 269 Ibid., p. 16. 270 Ibid. 271 Ibid., p. 12. 272 Ibid., p. 13. 273 Ibid. 274 Ibid. Tout ce que je viens de lire, portrait auquel je crois il ne manque peut-être qu’un cheveu, n’était que la compilation de textes de Balzac, de Flaubert, […] de qui, presque pour mon seul plaisir, je dois vous répéter cette phrase: ‚Pour savoir ce que le bon Dieu pense de l’argent, il suffit de regarder la gueule de ceux à qui il en a donné.‘ 269 Die literarische Transkription der realen Persönlichkeit Giscard d’Estaings ge‐ lingt Genet vermittels einer auf einer historischen Herleitung basierenden Ty‐ pisierung des Bürgerlichen, dessen Aufstieg sich im 19. Jahrhundert vollzog. So skizziert er eine Figur bzw. dem Titel entsprechend einen monströsen literari‐ schen Protagonisten, „dont la date de naissance se situe environ en 1660, et l’adolescence en 1815“ 270 und der, so Genet, dank einer Gruppe von Pseudowis‐ senschaftlern weiterhin überleben könne. Dabei schafft Genet mit dem über‐ lebenden Typus des „mort volubile“, des redseligen Toten nämlich, ein sprach‐ liches Oxymoron. Auch der Aufbau und das gehobene Sprachregister des Textes sowie die zahlreichen Verweise auf einzelne französische Romanautoren des 19. Jahrhunderts kennzeichnen den Verfasser als Schriftsteller und Literaturkri‐ tiker. Genet beginnt mit einer historischen Verwurzelung seines literarischen Typus im 17. Jahrhundert und beschreibt die unter Louis XIV in Mode gekom‐ mene Verwendung von Parfüms, Perücken und Absatzschuhen, mithilfe derer alle üblen Gerüche oder körperlichen Unreinheiten übertüncht würden. Mit Louis XIV , dem „premier bourgeois couronné“ 271 , nimmt das Bürgertum für Genet seinen Anfang und es lanciert die Mode „d’employer les fards, les cos‐ métiques, les badigeons, les ripolins, les corsets, les armatures, la syntaxe féroce, le langage prudent“ 272 , die Genet als „[r]edondance au service du Rien“ 273 resü‐ miert. Die hier für das Bürgertum als typisch dargestellte Dissimulation der tatsächlichen Identität durch eine Maskerade deutet Genet psychologisch als Geste der Angst. Er zieht dann einen Vergleich zu einer literarischen Figur in Histoire des Treize von Balzac heran, indem er die graphologische Entschlüsse‐ lung der Geliebten von du Martray zitiert: „Cet homme a une intelligence très médiocre, sa bassesse et sa grande malhonnêteté sont lisibles. Je m’étonne, ajouta-t-elle, qu’il ait réussi à obtenir tant de diplômes.“ 274 Mithilfe dieses Zitats, welches die Charakteristik der Redseligkeit seines Typus des „mort volubile“ bildlich greifbar werden lässt, - denn seine Mittelmäßigkeit, Niederträchtigkeit 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 224 275 Ibid., p. 14. 276 Ibid. 277 Ibid. 278 Ibid. 279 Ibid., p. 15. 280 Ibid. und Unehrlichkeit sind augenscheinlich an seinem Schriftbild ablesbar - äußert Genet eine offensive Beleidigung gegenüber Giscard d’Estaing, ohne jedoch ex‐ plizit auf seine Person rekurrieren zu müssen. Das literarische Zitat wird folglich von Genet verwendet, um seiner freien und kritischen Meinung zwar in voller Vehemenz, doch auf implizitem Wege Ausdruck zu verleihen. Er entlarvt die Fassade des Bürgertums, welche, wie er unter Rekurs auf Flaubert betont, zu Unrecht eine Faszination auf die arme Bevölkerung ausübe: „La bêtise - Flaubert le savait -, la bêtise est fascinante.“ 275 Die Charakteristik der Dummheit nimmt auch in einem weiteren, sehr ähnlich gestalteten Artikel „Et pourquoi pas la sottise en bretelles? “ in Form einer Personifizierung der Dummheit, der „sottise en bretelles“, eine zentrale, deskriptive Funktion ein. In „Un héros littéraire: le défunt volubile“ zählt Genet zu den markanten Eigenschaften seines exempla‐ rischen literarischen Typus „leur bonne éducation, qui les amène à dissimuler leur sottise“ 276 , „le langage si vide qu’on n’y peut découvrir la moindre idée“ 277 , „la couleur de sa peau: elle est blanche“ 278 und vor allem die Gier nach Geld und Gold, um sich die Macht zu erkaufen. Hinsichtlich seiner Beschreibung der Charakteristika bezieht er sich auf Balzac und Zola und untermauert, dass sein literarischer Held einem Werk einer dieser beiden Autoren entspringen könne, genauso wie er aber auch aus seinen eigenen Worten heraus in der Realität hervortreten könne: „Il peut surgir d’un livre de Balzac ou de Zola, ou rester dans les pages. Moins glorieusement, mais avec une évidence plus dangereuse, il pourrait d’un moment à l’autre surgir de ce que je dis.“ 279 Dieses Wortspiel untermalt die Doppelbödigkeit seines gesamten Artikels, worin das Porträt einer realen Persönlichkeit angelegt wird, indem der Autor jedoch in der klassifizierenden Manier der literarischen Strömung des Realismus einen literarischen Typus entwirft. Er persifliert den Wunsch der realistischen und naturalistischen Autoren nach einer objektiven Beschreibung der Wirklichkeit in ihrer Totalität und entwirft mit dem redseligen Toten einen sich terminologisch dekonstru‐ ierenden gesellschaftlichen Typus. Die realistische Schreibweise kennzeichnet er schließlich als anachronistisch und bezeichnet seinen Protagonisten als „très mauvaise copie, duplicata tantôt orné, tantôt abrégé, surgi d’un genre littéraire défunt“ 280 . Indem Genet hinsichtlich der Technik der Typisierung an bekannte realistische Autoren anknüpft, schöpft er zugleich aus einem Fundus an Klas‐ 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 225 281 Françoise Mélonio et al.: „Le roman“, in: Jean-Yves Tadié (Hrsg.): La littérature française: dynamique & histoire II, Paris: Gallimard 2007, pp. 438-501, hier 500. 282 Vgl. White: Genet, p. 665. sikern der französischen Literaturgeschichte, von denen er annehmen kann, dass sie die Zuhörerschaft von France-Culture ansprechen. Sein Spiel mit der realistischen Darstellungsweise ist gerade für seine journalistische Konzeption von Bedeutung. Genet beschäftigt sich in diesem Artikel durch den Filter des literarischen Realismus mit dem mimetischen Darstellungsprinzip, entwirft je‐ doch tatsächlich eine polemisch-karikierende Verzerrung. Statt ein objektives Abbild der Realität zu schaffen, legt er im Lichte seiner Rolle als satirischer Porträtist vielmehr die Strukturen ihrer sprachlichen Fabrikation frei. So insze‐ niert sein Text aus einer kritischen Perspektive jene Problematik der Mimesis „que le travail de représentation du réel est aussi, et sans doute d’abord, un travail de fiction, c’est-à-dire de fabrication“ 281 . Unter dem Deckmantel des Li‐ teraturzitates nimmt er die Funktion eines Augenzeugen der damaligen politi‐ schen Entwicklungen ein, ist sich aber der damit verbundenen subjektiv-selek‐ tiven Fokussierung nicht nur bewusst, sondern kehrt diese auch in den Vordergrund: Indem er nämlich den literarischen Fiktionalisierungsprozess of‐ fenlegt, gibt er sich für den Leser in seiner Funktion als Schriftsteller bzw. als satirischer Porträtist zu erkennen. Er repräsentiert nicht die Realität aus einer objektiven Perspektive, sondern die Mechanismen ihrer Fiktionalisierung, welche ihm die Verbalisierung seiner kritischen Sichtweise auf die Realität er‐ möglicht. Von seinem Interesse an der Problematik der Darstellung von Realität zeugt auch das bei Edmund White aus einem Brief Genets an den spanischen Autor Juan Goytisolo zitierte literarische Projekt mit dem Titel „Description of the Real“ bzw. „Déscription du Réel“ aus demselben Jahre, in dem sein journa‐ listischer Text entstand, 1974. 282 In „Un héros littéraire: le défunt volubile“ wird die Darstellung der Realität satirisch in Relation zur literarischen Strömung des Realismus interpretiert und die Repräsentation Giscard d’Estaings erfolgt über sein typisiertes und daher transfiguriertes Abbild. Weniger prononciert nimmt Genet die Rolle eines satirischen Kritikers in „Et pourquoi pas la sottise en bretelles? “ ein. Die Genese dieses Artikels wurde von keiner zensorischen Maßnahme bestimmt, so dass Genet darin nicht unter dem Vorwand eines literaturkritischen Pastiches Kritik an der Person Giscard d’Es‐ taings und der gesellschaftspolitischen Situation übt. Dennoch beginnt Genet auch diesen Text mit einem Vergleich, dieses Mal jedoch zwischen Giscard d’Es‐ taing und Louis-Napoléon Bonaparte: 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 226 283 Genet: „Et pourquoi pas la sottise en bretelles? “, p. 135. 284 Ibid., p. 136. 285 Ibid., p. 137. 286 Ibid. Quand on a entendu Giscard à Montceau-les-Mines parler social aux ouvriers, il était impossible de ne pas percevoir dans la voix snob les inflexions de l’ineffable ‚Extinction du Paupérisme‘ de Louis-Napoléon Bonaparte. Giscard s’autorise sans doute de la possible mésalliance d’une ancêtre d’Anne-Aymone avec Jules Guesde. 283 Der darauffolgende historische Abriss, ausgehend von Louis XIV bis zur Pariser Kommune, dient Genet dazu, die sich abwechselnden politischen Entwick‐ lungen von Revolution und Gegenrevolution in der Geschichte Frankreichs zu skizzieren, „ce qui permet à chaque démagogue de se référer à l’ordre - à la Monarchie absolue et en même temps à la Révolution.“ 284 Somit legt Genet hier nicht das historische Fundament, um die Entstehung eines literarischen Typus nachzuzeichnen, sondern um die Eigenart der Politiker grundsätzlich zu kriti‐ sieren, die unter Bezug auf verschiedene historische Entwicklungen ein mög‐ lichst viele unterschiedliche Wählergruppen ansprechendes Image schaffen. Den größten Raum nimmt in diesem Artikel der Vorwurf der Dissimulation ein, welche hier jedoch nicht als typische Eigenschaft der gesamten Bourgeoisie, sondern nur Giscard d’Estaings bewertet wird. In einem direkten Vergleich dieser beiden Texte zeigt sich deutlich der Übergang von einer abstrahierten zu einer expliziten Kritik. Das Abstraktionsmaß wird dabei anhand der narrativen und rhetorischen Struktur sichtbar. Die feindlich-kritische Haltung, welche in „Un héros littéraire: le défunt volubile“ durch die Sichtweise des satirischen Porträtisten illustriert wird, konzentriert sich in „Et pourquoi pas la sottise en bretelles? “ in der bereits angesprochenen rhetorischen Figur der Personifikation der Dummheit. Der Aspekt der Dissimulation wird mithilfe der Differenz zwi‐ schen „apparition“ und „apparence“ beschrieben: Das Erscheinen reduziert sich in dieser Logik in Giscard d’Estaings Fall auf ein leeres Erscheinungsbild: „Une apparition c’est aussi une apparence. Donc ce qui cache la réalité.“ 285 Die hinter der Fassade versteckte Realität ist für Genet die mangelnde Intelligenz des Po‐ litikers, wie er am Beispiel eines TV -Auftrittes veranschaulicht: Déjà, lors d’une apparition (encore) à la télévision, j’avais été frappé par ce visage inutile, pathétiquement tendu vers une intelligence qui le fuyait à tire-d’aile. On pouvait voir sa rage et sa déconfiture quand l’intelligence, le négligeant, était déjà très loin, allant se poser peut-être dans les yeux et sur le visage d’un Guinéen nouveau-né. 286 3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich 227 287 Genet: „Un héros littéraire: le défunt volubile“, p. 12-13. 3.3 Genet gibt in einem provokativen Bild wieder, wie die personifizierte Intelligenz sich von Giscard d’Estaing distanziert und in einem guineischen Neugeborenen inkarniert wird. Während das Verschwinden der Intelligenz einer symbolischen Entkleidung gleicht, wird in „Un héros littéraire: le défunt volubile“ in sehr plastischer Weise der Konfrontation von Maskerade und Nacktheit Ausdruck verliehen, wie aus der Gegenüberstellung zweier Bilder von Louis XIV hervor‐ geht: Fielding eut l’idée de dessiner Louis XIV avec ses talons, les dentelles du jabot et des manches, avec la perruque et le feutre couvert de plumes, et puis de confronter ce dessin avec celui du roi en pantoufles, ventru et chauve. Mais il y a longtemps déjà qu’un enfant s’est écrié: ‚Le roi est nu.‘ 287 Die in Fieldings Zeichnungen dargestellte Opposition eines angekleideten und eines entkleideten Königs, mithilfe derer Genet in seinem Radiobeitrag auf die historisch hergeleitete Dissimulation der Bourgeoisie verweist, wird in Genets Artikel „Et pourquoi pas la sottise en bretelles? “ am Beispiel der dissimulierten Dummheit des Politikers exemplifiziert. Dennoch nimmt die Kritik in diesem Artikel eine weniger offensiv satirische Tonalität an, als in dem literarisch über‐ schriebenen Text für France-Culture. Aus der vergleichenden Gegenüberstellung dieser beiden Texte geht hervor, dass je stärker prononciert die eigene Rolle und Haltung in den Texten als erzählende bzw. berichtende Instanz zum Vorschein kommt, desto stärker die Mechanismen der Fiktionalisierung reflektiert werden und daher auch der literarische Bereich tangiert wird. Die subjektive Perspek‐ tive, ob als Gegner der Polizei im Esquire-Artikel oder als satirischer Porträtist auf France-Culture, determiniert den kritischen Blick auf die gesellschaftspoli‐ tische Situation oder Thematik und offenbart darüber hinaus die rhetorisch-po‐ etischen Mittel der Darstellung und Konstruktion von Wirklichkeit. Die Realität wird perspektivisch durch den Blick des Kritikers dargestellt, der seiner eigenen Rolle mithilfe rhetorisch-poetischer Mittel Ausdruck verleiht. Antiamerikanische und antiwestliche Kritik aus der Sicht Genets, Ginsbergs und Burroughs’ Im Klima des Kalten Krieges und insbesondere durch den Vietnamkrieg und dessen polarisierende Auswirkungen auf die Gesellschaft wird in den sechziger Jahren eine Kritik am Militarismus der USA laut, welche, wie Christian 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 228 288 Christian Schwaabe: Antiamerikanismus. Wandlungen eines Feindbildes, München: Wil‐ helm Fink 2003, p. 157. 289 Vgl. ibid. 290 Vgl. Brendon O’Conner: Anti-Americanism. History, Causes, Themes, Volume 2: Histo‐ rical Perspectives, Oxford: Greenwood 2007, p. 210. 291 Philipp Gassert: „Antiamerikaner? Die deutsche Neue Linke und die USA“, in: Jan C. Behrends et al. (Hgg.): Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Studien zu Ost- und West‐ europa, Bonn: Dietz 2005, pp. 250-270, hier 250. 292 Vgl. ibid. 293 Vgl. ibid., p. 252. 294 Brendon O’Conner: „The anti-American tradition: a history in four phases“, in: Id. / Martin Griffith (Hgg.): The rise of anti-Americanism, New York: Routledge 2006, pp. 11- 25, hier 15. Schwaabe formuliert, „zu einer Verdunkelung des USA -Bildes“ 288 in der Öffent‐ lichkeit führt. Schwaabe zufolge bewirken nicht nur der Vietnamkrieg, sondern auch die Rassenunruhen und Ausschreitungen im Inneren des Landes das Auf‐ kommen eines linken Antiamerikanismus in der Gesellschaft. 289 So wurde der außenpolitische Konflikt in Vietnam von den Kriegsgegnern analog zum in‐ nenpolitischen Vorgehen der racial segregation gegenüber der afroamerikani‐ schen Bevölkerung bewertet. 290 Nach Philipp Gassert bezeichnet der Begriff des Antiamerikanismus „eine grundsätzliche Kritik an einer bestimmten Ausprä‐ gung der Gesellschaft“ 291 und richtet sich grundsätzlich gegen eine nationale Kategorie. Amerika werde jedoch darüber hinaus mit dem gesamten okziden‐ talen Rationalisierungsprozess identifiziert, sodass der Antiamerikanismus die Form einer nicht klar umrissenen Kritik gegenüber dem ‚Westen‘ annehme. 292 Dieser antiwestliche Diskurs entwickelt sich innerhalb des gegenkulturellen Feldes. Gassert unterscheidet darüber hinaus zwischen einer Kritik an Amerika und einer ideologisch motivierten Ablehnung Amerikas, als deren Katalysator in den sechziger Jahren der Vietnamkrieg funktioniert habe. 293 Der innerhalb der Antikriegsbewegung zu situierende kritische Diskurs lehnte das militärische Eingreifen der USA in Vietnam als imperialistischen Expansionismus ab: Generally in Western nations it was left-wing parties and movements that propagated anti-Americanism, as was most evident in the Korean and then the Vietnam anti-war movements. These movements helped create a new and virulent critique of America opposed to what was seen as the unjustified and imperialistic use of American force. 294 Wenn auch Schwaabe den Antiamerikanismus der sechziger und siebziger Jahre aufgrund seiner spezifischen Ausrichtung gegen den amerikanischen Milita‐ rismus in Vietnam als „‚empirisch‘ fundierter“ bezeichnet als eine rein ideolo‐ 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 229 295 Vgl. Schwaabe: Antiamerikanismus, p. 158. 296 O’Conner: Anti-Americanism, p. 2. Hervorhebung im Original. 297 Michael Hahn: „Einleitung. Notwendige Verunsicherung“, in: Id. (Hrsg.): Nichts gegen Amerika. Linker Antiamerikanismus und seine lange Geschichte, Hamburg: Konkret 2003, pp. 7-14, hier 9. 298 Gassert et al.: Kleine Geschichte der USA, p. 474. 299 Subarno Chattarji: Memories of a Lost War. American Poetic Responses to the Vietnam War, Oxford: Clarendon Press 2001, reprinted 2009, p. 38. 300 Michael Bibby: Hearts and Minds. Bodies, Poetry, and Resistance in the Vietnam Era, New Brunswick / New Jersey: Rutgers University Press 1996, p. 24. gische Ablehnung, 295 bleibt die Kritik nicht alleine faktenbezogen, sondern kon‐ struiert auch ein spezifisches Feindbild der USA , eine Tatsache, die O’Conner als typische Konsequenz beschreibt: „While it is true that anti-Americanism can be a simple reaction to what America does, more often than not, it moves beyond this to become a reaction to what America supposedly is or what it symbol‐ izes.“ 296 Mit der Kritik am Vietnamkrieg in den sechziger Jahren entsteht folglich eine antiimperialistische Version des Antiamerikanismus, „nach der die USA alle Übel des weltweiten Kapitalismus verkörpern“ 297 , so der Journalist Michael Hahn, und somit, so ließe sich hinzufügen, sinnbildlich das westliche Kultur‐ system schlechthin. Dieser in der Kritik am Vietnamkrieg kulminierende linke Antiamerika‐ nismus ist als Symptom einer generellen gesellschaftlich-kulturellen Unzufrie‐ denheit zu verstehen und schreibt sich als solches auch in die Debatte über das amerikanische Selbstverständnis ein: „Vietnam spielt auch deshalb eine zentrale und bis heute umstrittene Rolle im amerikanischen Selbstverständnis, weil der Krieg mit der großen gesellschaftlichen Kontroverse der 1960er Jahre über das, was Amerika ausmachte, eng verknüpft war.“ 298 Der Protest gegen den Viet‐ namkrieg findet innerhalb der gegenkulturellen Bewegung seine volle Entfal‐ tung und äußert sich dort in Form eines polarisierten Bildes der amerikanischen Gesellschaft, wie exemplarisch anhand der Texte von Genet, Burroughs und Ginsberg zum Parteikonvent der Demokraten und den eskalierenden Protesten aufgezeigt werden konnte. Die durch den Vietnamkrieg forcierte Polarität zwi‐ schen der amerikanischen Gesellschaft und der gegenkulturellen Antikriegsbe‐ wegung gibt die Parameter vor „within much of the political and cultural debates and productions took place“ 299 , so Subarno Chattarji. Michael Bibby, der die während des Vietnamkrieges entstandene amerikanische Literatur unter dem Oberbegriff der „Vietnam-era poetry“ 300 subsumiert, definiert den Vietnamkrieg als diskursives Feld des politischen Widerstandes, „within which the politics unique to the years from 1965 to 1975 could be articulated“, sowie als „terrain of tropes within which oppositional cultures fashioned discourses of resi- 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 230 301 Ibid., p. 25. 302 Sandarg: „Jean Genet in America“, p. 47. 303 Ibid. 304 François-Marie Barnier: „Jean Genet et Angela Davis“, in: Le Monde, 23. September 1970, p. 3. 305 Vgl. Véronique Lane: „L’Amérique“, in: Marie-Claude Hubert (Hrsg.): Dictionnaire Jean Genet, Paris: Honoré Champion 2014, pp. 25-27, hier 25. 306 Genet: „May Day Speech“, p. 53. stance.“ 301 Die am Diskursgegenstand des Vietnamkriegs exemplifizierbare an‐ tiamerikanische bzw. antiwestliche Kritik bildet eine diskursive Formation, die über das durch ausgewählte Texte aufzeigbare Bezugssystem zwischen Genet, Ginsberg und Burroughs erschlossen werden soll. Dabei vermischen sich bei allen drei Autoren Gesellschafts- und Sprachkritik, sodass prototypisch auch die einzelnen ästhetisch-poetischen Widerstandskonzepte bespiegelt werden. Die Verquickung einer spezifischen Kritik am Vietnamkrieg mit einer grund‐ sätzlich antiamerikanischen bzw. antiwestlichen Haltung wird bei Jean Genet besonders evident, dessen Abneigung gegenüber der amerikanischen Kultur in Kombination mit seinem Einfluss auf die gegenkulturelle Bewegung in den USA von Sandarg als „unique in Franco-American relations“ 302 dargestellt wird: During one decade (1960-1970) a French writer stimulated literary and social changes in America while professing to hate this country. Jean Genet influenced the novel and theater and obstreperously spoke out on three areas of American life: economics, war and race. 303 Genet selbst beschreibt in einem im Rahmen seines Engagements für die Black Panther Party entstandenen Interview von 1970 den Wandel seiner schriftstel‐ lerischen Motivation unter Rekurs auf den antiamerikanischen Topos sehr ein‐ prägsam: „La littérature, telle que je la pratiquais autrefois, était gratuite. Au‐ jourd’hui, elle est au service d’une cause. Elle est contre l’Amérique.“ 304 Wie bereits die Analyse einiger für den G. I. P. entstandener Schriften über die Situ‐ ation der afroamerikanischen Gefangenen zeigen konnte, kennzeichnet sich Genets Amerikabild durch eine ausgesprochen negative Sichtweise. Die von Véronique Lane konstatierte ambivalente Faszination für Amerika lässt sich in Genets politischen Texten nur vor dem Hintergrund der erklärten Feindschaft verstehen, die sein Verständnis von Poesie durchdringt. 305 Tatsächlich schreibt er nicht nur gegen Amerika, sondern beschwört auch dessen Untergang: „Ce que l’on nomme la civilisation américaine disparaîtra.“ 306 Seine antiamerikani‐ sche Kritik manifestiert sich nicht nur im Kontext seines Engagements für die Black Panthers, sondern kennzeichnet eine Vielzahl seiner politischen Schriften, da für ihn der amerikanische Machtbereich entsprechend weitverzweigt ist. In 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 231 307 Jean Genet: „Les Palestiniens“ [1971], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 89- 99, hier 96. 308 Ibid. 309 Vgl. Genet: „Violence et brutalité“, p. 203. Vgl. Kapitel 2.3.6. 310 Genet: „May Day Speech“, p. 53. 311 Hanrahan: „Le cru et les cuisses“, p. 42. 312 Vgl. dazu Dichys Annotationen zu „Les membres de l’assemblée“ in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 414. 3.3.1 einem frühen Text für die Palästinenser bezeichnet er Amerika mithin als „en‐ nemi absolu“ 307 und fügt eine Auflistung aller in dessen Bannkreis stehender Gebiete an: „Et si elle est à Tel Aviv, l’Amérique est aussi à Ryad, à Aman, au Koweït, elle est à Tunis, à Rabat, elle est au cœur même de l’Islam archaïque, comme elle est au Brésil, en Colombie, en Thaïlande, au Cambodge, au Viêt-Nam du Sud, et en Europe.“ 308 So erklärt sich auch, dass er in seinem Vorwort zu den Gefängnisbriefen der Roten Armee Fraktion Deutschland als von Amerika ge‐ steuerten Bewachungsstaat charakterisiert. 309 In Genets Verständnis streckt die amerikanische Politik ihre Tentakel über den gesamten Globus aus und gibt daher auch ihren Kritikern eine breite Angriffsfläche: Je m’occupe, direz-vous, des affaires de l’Amérique: c’est qu’elle m’a donné l’exemple en s’occupant de mes propres affaires, et des affaires, un peu partout, du monde entier. Après s’être occupée de la Corée, elle s’occupe du Vietnam, puis du Laos, aujourd’hui du Cambodge, et moi, je m’occupe de l’Amérique. 310 Wie Hanrahan in Bezug auf Genets journalistische Beiträge in Chicago betont, erweitert Genet hinsichtlich seiner grundsätzlich gesellschaftsfeindlichen Hal‐ tung durch seinen Blickwechsel von Frankreich auf Amerika seinen Horizont: „Une valeur historique s’attache à l’élargissement de l’horizon qui consiste, pour Genet, à changer de continent, à remplacer son adversaire jusque-là français par l’Américain.“ 311 Im Nachfolgenden soll nun dieser antiamerikanischen bzw. antiwestlichen Kritik unter Bezug auf den Vietnamkrieg als diskursivem Gegenstand aus der Sicht Genets, Ginsbergs und Burroughs’ nachgegangen werden. Der Vietnamkrieg als Symptom der amerikanischen Kultur Wie Albert Dichy ermittelt, willigte Genet in den journalistischen Auftrag von Harold Hayes nur unter der Bedingung ein, dass er in seinem Magazin einen weiteren Artikel über den Vietnamkrieg publizieren durfte. 312 Als Genet diesen 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 232 313 Vgl. Seaver: The Tender Hour of Twilight, p. 399-404. 314 Vgl. ibid., p. 404. 315 Das Zitat stammt aus Dichys Annotationen zum entsprechenden Text in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 417. zweiten Text, für ihn thematisch von größerer Bedeutung, zum Ende seines Aufenthaltes in Chicago in der Redaktion von Esquire einreicht, lehnt diese die Publikation unter dem Vorwand finanzieller Uneinigkeiten ab, so Richard Seaver. 313 Als wahrscheinlicheres Motiv für die Ablehnung vermutet Seaver je‐ doch die politische Brisanz des Artikels, dessen englische Übersetzung er schließlich ohne Genets Einwilligung in der zu Grove Press gehörenden Ever‐ green Review veröffentlicht. 314 Mit dem Wandel des Publikationsträgers von Esquire zur avantgardistischen Evergreen Review ändert sich auch die öffentliche Rezeption des Artikels, durch den Genet mithilfe einer bewusst aggressiven To‐ nalität nun nicht mehr den gewünschten strategischen Coup gegen die ameri‐ kanische Mittelklasse landen konnte, wie Dichy eindrücklich in seiner Notiz zu diesem Artikel analysiert: […] ce texte […] avait, à l’origine, été écrit pour être publié dans un magazine sophistiqué et de grande diffusion, qui s’adressait à des lecteurs issus, majoritairement, des classes supérieures de la société américaine - ce qui explique peut-être, en partie, l’agressivité et l’humour peu délicat dont il fait preuve. En fait, il semblerait que Genet ait voulu profiter de la tribune inespérée qui lui était offerte pour réussir un ‚coup‘ stratégique dans la guerre personnelle qui l’opposait à l’Amérique, c’est-à-dire à l’Occident. Coup dont la portée a, assurément, été amoindri par la publication de l’article dans Evergreen Review, revue d’avant-garde au public averti que les provocations les plus extrêmes n’émouvaient pas, pour peu qu’elles émanent d’un ‚grand écrivain‘. 315 Ähnlich wie sein Artikel über die Rote Armee Fraktion in Le Monde überschreitet auch seine Kritik am Vietnamkrieg den Sagbarkeitsbereich und wird durch die quasi zensorische Maßnahme von Esquire aus der medialen Öffentlichkeit der etablierten Gesellschaft ausgeschlossen. Anhand seines Textes selbst zeigt sich folglich die gesellschaftsspezifische Bipolarität, wird er doch, ohne Aufsehen zu erregen, als Beitrag im gegenkulturellen Presseorgan aufgenommen. Was Dichy hier als Genets persönlichen Kampf gegen Amerika und damit den Westen be‐ schreibt, äußert sich in Genets Text mit dem Titel „Un salut aux cent mille 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 233 316 Jean Genet: „Un salut aux cent mille étoiles“ [1968], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 321-328. Wie auch bei Genets Artikel „Les membres de l’assemblée“ handelt es sich hierbei nicht um den französischen Originaltext, dessen Manuskript Genet nach seinem Streit mit Hayes zerstörte, sondern um eine Rückübersetzung vom englischen Text ins Französische. 317 Jean Genet: „A salute to 100,000 Stars“, in: Evergreen Review 12, 61 (1968), pp. 50-53; 87-88. 318 Glass: Counterculture Colophon, p. 167. 319 Genet: „Un salut aux cent mille étoiles“, p. 321. 320 Ibid., p. 322. 321 Ibid. 322 Ibid. 323 Ibid., p. 324. 324 Ibid., p. 327. 325 Ibid. étoiles“ 316 bzw. „A salute to 100,000 Stars“ 317 in der Struktur eines direkten Ap‐ pells an die amerikanische Bevölkerung, der mit Loren Glass als „a poetic / erotic wake-up call to Americans mourning the soldiers killed in Vietnam“ 318 be‐ zeichnet werden kann. So beginnt Genet seinen Artikel mit dem als rhetorische Frage konzipierten Weckruf „Américains, êtes-vous endormis? “ 319 , den er in Kombination oder abwechselnd mit „Êtes-vous en train de rêver? “ 320 insgesamt vier Mal wiederholt, so dass sich eine viergliedrige Struktur abzeichnet. Zusätz‐ liche Anreden, wie etwa „Mesdames et Messieurs“ 321 , „ô veuves, ô filles“ 322 , „ô terre parsemée d’étoiles“ 323 oder „Américains, Américains“ 324 , akzentuieren diese appellierende Textfunktion. Seine rhetorischen Fragen zielen nicht etwa auf einen dialogischen Austausch mit der amerikanischen Leserschaft ab, son‐ dern kennzeichnen seine feindliche Haltung gegenüber der amerikanischen Na‐ tion. Sein Dissens in Bezug auf die amerikanische Politik in Vietnam kommt durch die im gesamten Text über siebzig Mal gebrauchte Anrede „vous“ bzw. „you“ zum Ausdruck, die nicht nur seine eigene Distanz und Ablehnung unter‐ mauert, sondern auch einen kontrastiven Vergleich zwischen den Amerikanern und den Vietnamesen ermöglicht. Ausgangspunkt dieser Gegenüberstellung ist die Trauerarbeit der beiden Zivilisationen, welche Genet als Hauptmotiv wählt, sowie darüber hinaus als Motivation für das Verfassen seines Artikels angibt. Tatsächlich nämlich widmet er den Text einem gefallenen vietnamesischen Sol‐ daten mit dem Namen Do-Van-Phe, wie er am Ende des Textes erklärt: Mais vous êtes endormis, peut-être même sans rêver, vous êtes en train de perdre la tête, et la guerre, au moment précis ou j’écris ces lignes sur votre sol, à la mémoire du jeune soldat viêt-cong Do-Van-Phe, assassiné par un Marine qui fut lui-même déchiqueté par le feu mal dirigé d’une patrouille américaine, près de Khe Sanh. 325 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 234 326 Balcázar Moreno: Travailler pour les morts, p. 17. 327 Genet: „Un salut aux cent mille étoiles“, p. 321. 328 Ibid. 329 Ibid. 330 Ibid. Indem sich Genet in dieser persönlichen Kampfansage an die schlafende Bevöl‐ kerung wendet, erweckt er den Zweifel, dass die Amerikaner überhaupt in der Lage sind, seine Ansprache zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen betont er durch diese Widmung nachdrücklich, für den toten Soldaten des Vietcongs zu schreiben, womit er einen schriftstellerischen Gestus repetiert, den er bereits in seinen frühen Romanen einsetzt. Denn Balcázar Moreno zufolge praktiziert Genet die Widmung seiner Werke an verstorbene Freunde oder Persönlichkeiten aus zweierlei Gründen, nämlich zum einen der Kritik am offiziellen Memoria‐ kult, wonach es Tote gebe, „qui ont le droit d’être pleurés, tandis qu’il y en a d’autres auxquels ce droit est nié.“ 326 Dieser Aspekt prädominiert in „Un salut aux cent mille étoiles“, wie aus der gesamten ersten Textpassage hervorgeht. Genet kritisiert darin die amerikanische Bevölkerung für ihre ostentative Trau‐ erarbeit, welche er als „le deuil dans le luxe“ 327 beschreibt: Ici, en Amérique, […] quand un de vos blonds soldats est tué […], la mère - ou la veuve - ira se choisir de longs voiles de crêpe qui sont une parure neuve et peut-être souhaitée, et la famille du soldat mort accrochera une petite étoile à la fenêtre de sa maison. 328 Unter Rekurs auf den Ritus des Trauerschleiers sowie des Anheftens von Sternen an den Häusern der Verstorbenen bewertet Genet in einem gezielten Affront den Tod der amerikanischen Soldaten in Vietnam als „prétexte pour décorer votre maison.“ 329 Er kontrastiert den Trauerkult der USA und des Vietcongs in einer dichotomen Struktur von „ici“ und „là-bas“. Den amerikanischen Feldzug in Vietnam, welchen Genet mit dem durch den Einsatz von Bomben erzielten, flächendeckenden Ausheben von Gräbern vergleicht, beantworten die Kämpfer des Vietcongs mit einer hasserfüllten Form der Trauer: Dans le cimetière que vous n’arrêtez pas de creuser sauvagement avec vos bombes, il n’y a pas de deuil. Il n’y a pas une seule famille qui se drape dans du crêpe et, pour elles, il n’y a plus d’étoiles dans le ciel. Pas une seule famille n’a plus la moindre place pour ce qui serait de l’affliction; aussi la haine et la science de la haine supplantent-elles tout le reste dans leur cœur. 330 Neben dieser Differenzierung zwischen der ostentativen und der stillen Trauer, welche in „Un salut aux cent mille étoiles“ in der Opposition der US -amerika‐ 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 235 331 Jean Genet: „L’Atelier d’Alberto Giacometti“, in: Œuvres complètes V, Paris: Gallimard 1979, pp. 41-73, hier 43. Auf diesem Zitat baut Balcázar Morenos Argumentation auf. Vgl. Balcázar Moreno: Travailler pour les morts, p. 15. 332 Lydie Dattas: La chaste vie de Jean Genet, Paris: Gallimard 2006, p. 143. 333 Balcázar Moreno: Travailler pour les morts, p. 21. 334 Ibid. nischen und der vietnamesischen Bevölkerung exemplifiziert wird und welche für Balcázar Moreno zu den charakteristischen Merkmalen in Genets Werk zählt, legitimiert Genet zum anderen den Akt des Schreibens durch die Widmung seines Textes an den gefallenen Kämpfer des Vietcongs grundsätzlich. Denn Genets ästhetisches Prinzip gründet, wie Balcázar Moreno in Bezug auf seine Romane herausarbeitet, auf der Vorstellung, dass das Kunstwerk sich nicht an zukünftige Generationen richtet, sondern „[e]lle [l’œuvre d’art, S. I.] est offerte à l’innombrable peuple de morts.“ 331 Dieses ästhetische Ideal basiert nicht nur auf einem Misstrauen gegenüber der Rezeption seiner Texte, sondern auch auf der selbstkritischen Einschätzung seiner Werke, denen er nur dann eine Wahr‐ haftigkeit zuspricht, wenn sie sich der Gemeinschaft der Toten zuwenden, wie sich Lydie Dattas in ihrer Biographie an eine entsprechende Aussage Genets erinnert: „Je n’ai pas encore écrit quelque chose de vrai. C’est difficile d’écrire quelque chose qui ne soit pas un faux-fuyant. Je sais que le ton de voix le plus vrai je l’aurai quand j’écrirai pour les morts.“ 332 Dieser Aspekt erscheint gerade in jenen Texten akut, die sich wie „Les membres de l’assemblée“ und „Un salut aux cent mille étoiles“ im Grenzbereich von Literatur und Journalismus be‐ wegen. Genets finale Widmung an den gefallenen Kämpfer Do-Van-Phe wirft in diesem Verständnis auch die Frage nach dem tatsächlichen Adressaten des Textes auf. So wendet Genet sich an die schlafende Bevölkerung der USA , indem er jedoch in Gedenken an deren vietnamesischen Gegner schreibt. Die Proble‐ matik der Autolegitimierung der schriftstellerischen Produktion geht im poli‐ tischen Kontext verstärkt mit der Frage nach der Finalität der öffentlichen Wortergreifung einher. Versteht man den Begriff der Politik mit Balcázar Mo‐ reno als „configuration d’une forme spécifique de communauté“ 333 , die ihren Zusammenhalt auf dem Vergessen der im Ursprung konfliktiven menschlichen Relation begründet, so kann Genets Widmung an die Toten als grundsätzlicher Widerstand gegen die so definierte Politik verstanden werden: Contre l’oubli qui suppose toute amnistie, tout pacte avec la cité, son écriture cherche à résister à la mort des morts au sein de la communauté des vivants. La fidélité que l’auteur leur voue excède l’ordre politique, mais revendique en même temps sa mise en question de la gestion du deuil par la cité afin d’ouvrir à une autre politique. 334 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 236 335 Genet: „Un salut aux cent mille étoiles“, p. 322. 336 Ibid., p. 323. 337 Ibid., p. 324. 338 Ibid., p. 325. 339 Ibid., p. 326. Wenn auch Balcázar Morenos These treffend ist, dass Genet durch seine schrift‐ stellerische Hinwendung zu jenen vom nationalen Trauerkult ausgeschlossenen Toten seine eigene Zugehörigkeit zur Gemeinschaft sowie den damit verbun‐ denen Gesellschaftspakt negiert, erscheint jedoch ihre Definition von Politik jenseits der auf Machtbeziehungen und -kämpfen basierenden politischen Praxis im realpolitischen Kontext des Vietnamkrieges verkürzend. In seinem Text „Un salut aux cent mille étoiles“, der als frontaler Angriff gegen die ame‐ rikanische Politik und Kultur konzipiert ist, ordnet sich Genets allgemein op‐ positionelle Haltung einer antiamerikanischen Provokation unter. Seine Kritik richtet sich nicht nur gegen die politische Handlungsweise in Vietnam, sondern auch gegen eine als Feindbild konstruierte amerikanische Essenz und Kultur. Der Vietnamkrieg wird von Genet als Symptom der amerikanischen Mentalität und Kultur verstanden, wie besonders eindrücklich in den vier in Parenthesen syntaktisch hervorgehobenen Thesen zu den Gründen für die prophezeite Nie‐ derlage der USA in Vietnam ersichtlich wird. Genet benennt vermittels digres‐ siver Einschübe das fehlende syntaktische Geschick der Amerikaner, „vous êtes en train de perdre la guerre parce que vous ignorez tout des élégances de la syntaxe“ 335 , ihre Taubheit für den Gesang der Hippies, „[v]ous êtes en train de perdre cette guerre parce que vous n’écoutez pas le chant des hippies“ 336 , die Erfindung der Coca-Cola, „vous êtes en train de perdre cette guerre parce que vous avez inventé le Coca-Cola“ 337 , sowie deren Drang zum Aktionismus im Unterschied zur italienischen Kunst des Müßiggangs - „vous êtes en train de perdre la guerre parce que les Italiens sont les seuls à avoir maîtrisé l’art de mettre leurs mains dans les poches de leur pantalon“ 338 - als Motive. Diese un‐ bedeutend und wenig profund wirkenden Begründungen werden innerhalb des Textes mithilfe weiterer enumerativ aufgeführter Merkmale ergänzt. So etwa kontrastiert Genet die amerikanische Kultur mit den als höher entwickelte Zi‐ vilisation eingestuften Vietnamesen und er kritisiert die Amerikaner für deren Fehlleitung, indem er sie als „la tête vissée à l’envers“ 339 beschreibt. Er listet daran anknüpfend unter anderem die technischen Erfindungen der USA auf und setzt dabei den Schwerpunkt auf deren aktuelles Waffenarsenal: [V]ous en êtes bien capables avec vos machines, vos techniques de percement, votre cardinal Spellman embaumé, vos filles aux jambes parfaites, toutes passées dans le même moule, avec vos navettes, vos hélicoptères, vos prix Nobel, vos hélicoptères qui 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 237 340 Ibid. 341 Ibid., p. 323. 342 Ibid., p. 324. 343 Ibid. s’écrasent, vos B-52, qui sont abattus, vos toilettes dont la chasse fonctionne sans arrêt, avec tous vos dollars que vous régurgitez, votre Fulbright qui souhaite la paix là-bas pour mieux recenser et assujettir ses Noirs ici, avec votre Oppenheimer qui voulait la Bombe et puis a changé d’avis, avec vos autobus en plexiglas, vos gadgets infantiles, vos roses lumineuses […] avec vos … vos … vos … vos … La culture américaine, c’est tout cela. 340 Die im gesamten Artikel inflationär gebrauchten Possessivpronomina „votre“ und „vos“ sowie der Einsatz der Aufzählung als rhetorisches Stilmittel markieren die amerikanische Kultur als eine auf Besitz sowie materiellem und geistigem Eigentum fundierte Nation. In Bezug auf den Aspekt des geistigen Eigen‐ tums steht die Erfindung und Konstruktion nuklearer und chemischer Waffen im Vordergrund, welche Ausdruck der kriegerischen Haltung der USA sind. In seinem Appell an die amerikanischen Farmer spiegelt sich auf metaphorischer Ebene sowohl der verheerende Einsatz chemischer Waffen in Vietnam wider, als auch das amerikanische Arbeitsethos: „Êtes-vous en train de rêver, fermiers de la libre Amérique? Travaillez bien, et efficacement, et défoliez, rasez toutes choses, détruisez le pays en surface […].“ 341 Auch die Atombombe wird ironisch als Resultat des amerikanischen Genies hervorgehoben: „Et pourtant, cette Bombe dont nous parlons, vous y aurez de nouveau recours. Votre génie ayant servi à la mettre au point, il doit en être fait usage.“ 342 In einer ähnlich iro‐ nisch-satirischen Spielart enumeriert er eine ganze Reihe von Merkmalen, welche seinem Verständnis nach die amerikanische Nation charakterisieren: Le seul pays où j’aie vu un beau conducteur de camion siffler au passage une jolie fille, c’est le vôtre, et c’est un spectacle particulièrement sympathique. Et que vos policiers soient si séduisants, voilà quelque chose qu’il s’agit d’apprécier. Je ne suis pas autrement surpris que vos fleurs de plastique soient plus belles que les fleurs naturelles de n’importe quel autre pays du monde. Que Dieu, dans vos églises et dans vos temples, soit si profondément vénéré, voilà qui me décontenance légèrement, moi qui croyais que vous vous prosterniez seulement devant votre dieu vert, le dollar. 343 Genet setzt diese Auflistung unter Nennung unter anderem der Indianerreser‐ vate, der Beerdigung von Haustieren, der Baumwollernte durch die Sklaven in den Südstaaten und der Breite der amerikanischen Autobahnen fort, um gerade durch die Diversität der für ihn charakteristischen Aspekte die Wesenhaftigkeit der amerikanischen Nation hervorzuheben und diese schließlich als „grand 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 238 344 Ibid., p. 325. 345 Ibid., p. 322. 346 Ibid. 347 Chattarji: Memories of a Lost War, p. 39. 348 Genet: „Un salut aux cent mille étoiles“, p. 327. 349 Ibid. peuple“ 344 zu rühmen. Die beißende Ironie und die rhetorischen Mittel des Ap‐ pells, der Aufzählung und der Repetition werden zusätzlich von einer aggres‐ siven Tonalität begleitet, sodass der gesamte Text einer als Satire konzipierten Hasstirade gleicht. Dies kommt beispielsweise in der Darstellung der amerika‐ nischen Opfer zum Ausdruck, für deren Bezeichnung sich Genet des abge‐ trennten männlichen Gliedes als pars pro toto bedient - „tous ces sexes coupés, ces sexes adolescents, américains, qui ne banderont plus jamais.“ 345 Auch die mit der Frage „Mesdames et Messieurs, connaissez-vous l’histoire de la petite fille de huit ans qui captura un parachutiste d’un mètre quatre-vingt dix, blond bien entendu? “ 346 eingeleitete, eingeschobene Anekdote über die an eine Episode aus Gullivers Reisen erinnernde Behandlung eines amerikanischen Fallschirmsprin‐ gers als Spielzeugpuppe eines vietnamesischen Mädchens wirkt im Kontext des Vietnamkrieges wie eine makabere Provokation. Genet inszeniert seine anti‐ amerikanische Kritik sowohl auf sprachlich-rhetorischer als auch auf inhaltli‐ cher Ebene. Den Vietnamkrieg bewertet er als symptomatisch für die amerika‐ nische Kultur, wobei sein Kulturbegriff dehnbar erscheint und sämtliche charakteristische geistige und schöpferische (Un-)Fähigkeiten umfasst. Damit bedient er einen Topos, den Subarno Chattarji als emblematisch für die Protest‐ bewegung herausstellt: „The Vietnam War was perceived as the most grotesque symptom of this system and the protest against the war centered on the desire for social and political change.“ 347 Mithilfe der als Weckruf artikulierten Appelle ermahnt Genet die amerikanische Bevölkerung zur Veränderung ihrer Denk‐ weise, was besonders deutlich in dem integrierten Rilke-Zitat zum Ausdruck kommt: „Américains, Américains, si vous prenez tellement à cœur ce deuil grandiloquent, il est temps que vous vous souveniez de cette réflexion de Rilke: ‚Vous devez susciter le chaos à l’intérieur de vous-mêmes pour que naissent de nouvelles étoiles.‘“ 348 Indem Genet die Thematik des Vietnamkriegs mit der Be‐ deutung des kulturell spezifischen Totenkultes verknüpft, kehrt er die in der militärischen Auseinandersetzung provozierten menschlichen Verluste hervor und erweitert diesen Aspekt in einer als „réflexion après coup“ 349 bezeichneten Nachbemerkung um die Frage nach dem Tod Gottes, mit der er seinen Artikel schließlich beendet: „Mais si Dieu était mort pour de bon? Personnellement, je n’ai pas de lumières à ce sujet, mais on dirait vraiment qu’il se cache en ce 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 239 350 Ibid., p. 328. 351 Zitiert nach: Ginsberg: The Fall of America, ohne Seitenangabe. moment. Et si Dieu était mort pour de bon? “ 350 Diese moralisch anmutende Schlussformel erhält jedoch durch den satirischen Grundton des Textes eine ironische Gewichtung und persifliert die christliche Glaubensvorstellung eines allmächtigen Gottes angesichts der politischen Entwicklungen und der Vielzahl der Opfer in Vietnam. Durch den Gegensatz zwischen der amerikanischen Kultur als einem sich hinter dem christlichen Glaubensbekenntnis versteck‐ enden, materialistischen und kriegerischen Bollwerk und der vietnamesischen Kultur des Widerstandes versucht Genet auch gerade die Angreifbarkeit und mangelnde Solidität der amerikanischen Nation hervorzuheben. Seine Ankün‐ digung der amerikanischen Niederlage in Vietnam darf nicht nur als provoka‐ tiver Affront verstanden werden, sondern indiziert ähnlich wie in „Les membres de l’assemblée“ den Zerfall einer mithilfe rhetorisch-poetischer Mittel demys‐ tifizierbaren Kultur. Genet untermauert in beiden Texten die Zersetzung und Fäulnis einer ausgehöhlten Kultur und verwendet damit ein Argumentations‐ muster, das auch in Ginsbergs The Fall of America anklingt. Ginsberg eröffnet diese Walt Whitman gewidmete Gedichtsammlung mit einem Zitat aus dessen „Democratic Vistas“ von 1871, welches in einer optimistischen Formulierung die Rettung der Nation durch die Stärkung eines Kameradschaftsgeistes be‐ schwört: „It is to the development, identification, and general prevalence of that fervid comradeship, […] that I look for the counterbalance and offset of our materialistic and vulgar American democracy, and for the spiritualization there‐ of.“ 351 Durch diese kontrastive Gegenüberstellung des pessimistischen, den Zer‐ fall der amerikanischen Nation evozierenden Titels mit einer optimistischen, die Gedichte einleitenden Widmung unterstreicht Ginsberg die Hoffnung auf Ver‐ änderung und Rettung - auch durch seine Poesie selbst. Für Genet hingegen sind Zerstörung und Chaos die Voraussetzung einer Veränderung, wie er sowohl in „Les membres de l’assemblée“ in seinem Appell an die Hippies, als auch in „Un salut aux cent mille étoiles“ in seinem Rilke-Zitat veranschaulicht. Während Genets kritische Stellungnahme zur amerikanischen Politik in Vi‐ etnam im Esquire-Magazin mit großer Wahrscheinlichkeit einen Skandal her‐ vorgerufen hätte, erregte die Publikation in der Evergreen Review offenbar kein größeres Aufsehen. In diesem gegenkulturellen Presseorgan entspricht Genets antiamerikanische Haltung vielmehr den Erwartungen der Leserschaft. Die In‐ terpretation von Loren Glass, wonach der einige Monate später in der Evergreen Review publizierte Artikel des Yippie-Gründers Jerry Rubin als eine direkte Re‐ aktion auf Genets Text verstanden wird, erscheint bei genauerer Betrachtung 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 240 352 Glass: Counterculture Colophon, p. 167. 353 Jerry Rubin: „A Yippie Manifesto“, in: Evergreen Review 13, 66 (1969), pp. 41-43; 83- 92, hier 41. 354 Vgl. Targ / Jeffries: „Politics and Culture“, p. 80. 355 Rubin: „A Yippie Manifesto“, p. 42. 356 Ibid., p. 84. 357 Ibid., p. 83. 358 Genet: „Les membres de l’assemblée“, p. 317. 359 Bibby: Hearts and Minds, p. 8. 3.3.2 wenig überzeugend: „A few months later, Evergreen Review published an article that can be understood as a response to Genet’s call for chaos: Jerry Rubin’s ‚A Yippie Manifesto‘.“ 352 So versteht sich Rubins Text als Gründungsmanifest der im Zuge der National Democratic Convention in Chicago gegründeten Youth In‐ ternational Party und definiert daher vor allem die Grundsätze und Ziele dieser gegenkulturellen Gruppierung, welche sich als „revolutionary religious move‐ ment“ 353 präsentiert. Wie auch Targ / Jeffries resümieren, verstanden die Yippies die Revolution als ein individuelles Phänomen 354 und als Ergebnis einer persön‐ lichen Transformation, einer „personal transformation: finding God and chan‐ ging your life.“ 355 Die Schnittmengen zwischen Genets Artikel und Jerry Rubins Manifest resultieren aus der feindlichen Haltung gegenüber der westlichen Ge‐ sellschaftsform und Kultur und dem Postulat einer umfassenden Veränderung der amerikanischen Mentalität. Während jedoch „Un salut aux cent mille étoiles“ Ausdruck einer negierenden Form des Widerstandes bleibt, die den Vietnam‐ krieg als Symptom der amerikanischen Kultur beschreibt, überschreitet das „Yippie Manifesto“, ähnlich wie auch Ginsbergs Lyrik, das Desiderat einer „de‐ struction of the old symbols of America“ 356 , indem ein neues Symbolsystem einer als „visible counter-community“ 357 beschriebenen Gemeinschaft angeboten wird. Wenn auch Genet die gegenkulturelle Bewegung der Hippies als Hoff‐ nungsträger und als „début d’un nouveau continent“ 358 beschreibt, so bleibt er selbst jedoch einer rein feindlich-ablehnenden Position verhaftet, die seine Dis‐ tanz zu den gegenkulturellen Gruppierungen unterstreicht. Die Interpretation des Vietnamkrieges als sprachlicher Konflikt Während Ginsberg bereits in dem 1955 veröffentlichten „Howl“ eine erbitterte Kritik am kapitalistischen Gesellschaftssystem der USA übt, verschärft sich diese in der mit Michael Bibby als „Vietnam era“ 359 zu bezeichnenden literari‐ schen Schaffensphase zwischen 1965 und 1975, wie auch Chattarji konstatiert: 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 241 360 Chattarji: Memories of a Lost War, p. 48. 361 Allen Ginsberg: „Wichita Vortex Sutra“ [1966], in: Planet News. 1961-1967, San Fran‐ cisco: City Lights 2007 [1968], pp. 110-132. 362 Chattarji: Memories of a Lost War, p. 48. 363 Vgl. Gassert et al.: Kleine Geschichte der USA, p. 468. Zwischen 1965 und 1968 stieg die Anzahl der Soldaten in Vietnam von 75 000 auf 536 000 an. 364 Ginsberg: „Wichita Vortex Sutra“, p. 115-116. 365 Ibid., p. 116. „The earlier critique of US political and cultural mode is now sharpened by a particular example, the involvement in Vietnam.“ 360 In einem seiner meist dis‐ kutierten Gedichte dieser Periode mit dem Titel „Wichita Vortex Sutra“ 361 von 1966 wird Vietnam als allgegenwärtige Präsenz in Amerika interpretiert, als „absent presence that is yet another symbol of the sickness within America.“ 362 Das Gedicht entsteht nach dem von Gassert auf 1965 datierten Beginn der ersten Eskalationsphase im Vietnamkrieg, die mit verstärkten Bombenangriffen und der konstanten Aufstockung von Bodentruppen einherging. 363 Ginsberg führt den Vietnamkrieg darin insbesondere auf ein kommunikatives Versagen der amerikanischen Politiker zurück. Dies wird vor allem im zweiten Teil des ins‐ gesamt dreigliedrig strukturierten Gedichtes evident, in dem Ginsberg die Ra‐ dioansprache von Senator Aiken in der Sendung „Face the Nation“ thematisiert und gezielt eine seiner Formulierungen ins Visier nimmt. Aiken bezeichnete die Fehleinschätzung des Verteidigungsministeriums von 1962, wonach 8000 ame‐ rikanische Truppen die Situation in Vietnam unter Kontrolle halten sollten, als „bad guess“: „MacNamara made a ‚bad guess‘ / ‚Bad Guess‘ chorused the Re‐ porters? / Yes, no more than a Bad Guess, in 1962 / ‚8000 American Troops handle the Situation‘ / Bad Guess.“ 364 Ginsbergs Kritik an Aikens Wortwahl wird im repetitiven Aufgreifen der Formulierung ausgedrückt. So verwendet er „guess“ sowohl als Substantiv wie auch als Verb jeweils fünf Mal in dieser Passage und schafft dadurch einen ironisch-kritischen Unterton, wie sich besonders in der Kritik am verstärkten Bombenangriff auf Vietnam zeigt: „The General guessed they’d stop infiltrating the South / if they bombed the North - / So I guess they bombed.“ 365 Ginsberg bildet durch die zweifache Verwendung von „guess“ in diesem syntaktischen Parallelismus die emotionale Teilnahmslosigkeit der ame‐ rikanischen Offiziellen zum Vorgehen in Vietnam ab. Die beschwichtigende Formulierung von Senator Aiken sollte tatsächlich die Opposition gegen den Vietnamkrieg im eigenen Lande eindämmen, wie Paul Carroll analysiert: By calling MacNamara’s miscalculation only a bad guess, the Senator distorts what that miscalculation in all events was: namely, a calculated sop thrown to pacify the American people and soften or quiet whatever moral opposition they may have felt against our involvement in Viet Nam, as well as a sop to mollify whatever objection 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 242 366 Carroll: „‚I lift my Voice Aloud‘“, p. 85. 367 Ginsberg: „Wichita Vortex Sutra“, p. 117. Hervorhebung im Original. 368 Ibid., p. 119. 369 Ibid. 370 Ibid., p. 126. 371 Vgl. Chattarji: Memories of a Lost War, p. 49. they might feel in the near future to the increasing escalation of aggression by American pilots against Viet Cong troops and civilian villages. What makes the Senator’s description false is that the Secretary of Defense might possibly have known in 1962 that America would increase its ‚commitment‘ and aggression on the large scale that it actually did. 366 Ginsberg thematisiert anhand dieses Beispiels auch die mediale Manipulation von Sprache. Denn mithilfe von Radio, Fernsehen und Zeitung produzieren seinem Verständnis nach der Staat und die Regierung einen die öffentliche Mei‐ nung steuernden Diskurs, wie er in „Wichita Vortex Sutra“ beispielsweise durch die Insertion von Schlagzeilen illustriert: Put it this way on the radio / Put it this way in television language / Use the words / language, language / ‚A bad guess‘ / Put it this way in headlines / Omaha World Herald - Rusk Says Toughness Essential For Peace / Put it this way / Lincoln Nebraska morning Star - / Vietnam War Brings Prosperity. 367 Durch das Übertragen von zeitgenössischen Zitaten und Schlagzeilen in seine Dichtung bildet Ginsberg diesen von ihm als „Headline language poetry“ 368 bezeichneten öffentlichen Diskurs nicht nur ab, sondern er versucht durch seine kritische Kommentierung auch den Leser für die medial und verbal produzierte Widerspiegelung einer verzerrten Realität zu sensibilisieren. Für Ginsberg re‐ sultiert der Vietnamkrieg aus einem manipulativen Gebrauch von Sprache: „The war is language, / language abused for Advertisement, / language used / like magic for power on the planet: Black Magic language, formulas for rea‐ lity […].“ 369 Der Krieg selbst wird nicht nur als Konsequenz des sprachlichen Missbrauchs aufgefasst, sondern auch als dessen Ursache, wie in der folgenden Zeile deutlich wird: „[A]lmost all our language has been taxed by war.“ 370 In einem kurzen Brief an Paul Carroll erläutert Ginsberg seine Gedanken und kon‐ trastiert das, was Chattarji in ihrer Studie treffend als Kräfteverhältnis zwischen einer „poetic language“, einer poetischen Sprache, und einer „war language“, einer Sprache des Krieges, beschreibt: 371 „Merely that the war has been created by language (as per Burroughs analysis for cut ups) […] & Poet can dismantle the language consciousness conditioned to war reflexes by setting up (mantra) 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 243 372 Carroll: „‚I lift my Voice Aloud‘“, p. 101. 373 Ginsberg: „Wichita Vortex Sutra“, p. 125. 374 Ibid., p. 124-125. 375 Ibid., p. 125. 376 Ibid., p. 126. absolute contrary field of will as expressed in language.“ 372 Die Opposition zwi‐ schen einer von den politischen und militärischen Verantwortlichen prakti‐ zierten Sprache des Krieges, welche vermittels der modernen Massenmedien eine gesamte Nation manipuliert, und einer prophetischen Sprache der Poesie wird insbesondere im dritten Teil von „Wichita Vortex Sutra“ evoziert. In einer durch das Hervortreten eines starken lyrischen Ichs gekennzeichneten Passage wird die Suche nach der richtigen Sprache, der „right language“, in den Vorder‐ grund gerückt: „On the bridge over Republican River / almost in tears to know / how to speak the right language - / on the frosty broad road / uphill between highway embankments / I search for the language.“ 373 Auf einer Autofahrt durch Kansas beschreibt das lyrische Ich sein eigenes, in einer Situation der Einsamkeit entstandenes dichterisches Schaffen als eine Prophezeiung der Einsamkeit für die gesamte amerikanische Bevölkerung: I am an old man now, and a lonesome man in Kansas / but not afraid / to speak my lonesomeness in a car, / because not only my lonesomeness / it’s Ours, all over America, / O tender fellows - / & spoken lonesomeness is Prophecy / in the moon 100 years ago or in / the middle of Kansas now. 374 Das widerständige Potential der Poesie liegt dabei zum einen im Finden einer ekstatischen Sprache, welche die Möglichkeit eröffnet, die Einsamkeit durch die Zusammenkunft in einem Liebesakt zu überwinden: It’s not the vast plains mute our mouths / that fill at midnite with ecstatic language / when our trembling bodies hold each other / breast to breast on a mattress - […] / It’s not a God that bore us that forbid / our Being, like a sunny rose / all red with naked joy / between our eyes & bellies, yes / All we do is for this frightened thing / we call Love […]. 375 Ginsberg beschwört folglich die körperliche Liebe als Ausweg aus der zwi‐ schenmenschlich kriegerisch-konfliktär geprägten Situation in Amerika. Neben dieser ekstatischen Sprache ermöglicht für ihn auch gerade die Kraft der Ima‐ gination und Dichtung selbst, der Sprache des Krieges entgegenzuwirken: „I call all Powers of imagination / to my side in this auto to make my Prophecy.“ 376 Aus seiner aus einem Bedürfnis nach Veränderung resultierenden Haltung als Pro‐ 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 244 377 Houen: „Back! Back! Back! “, p. 353. Hervorhebung im Original. 378 Ibid. 379 Ginsberg: „Wichita Vortex Sutra“, p. 127. 380 Ginsberg: „Improvised Poetics“, p. 46-47. 381 Ibid., p. 47. phet entspringt eine Ästhetik, die mit Houen als „aesthetics of potentialism“ 377 bezeichnet werden kann und im Grundsatz darauf basiert „to resist the effects of that mixture [of late capitalism, consumerism, and government policy, S. I.] by developing new possibilities of poetic practice.“ 378 Diese poetische Praxis des Widerstandes gegenüber dem Krieg unterscheidet sich von Genets Verständnis von Poesie als bedingungsloser Gegensatz, wie im Folgenden aufgezeigt wird, und äußert sich in „Wichita Vortex Sutra“ in dem Vorsatz, die amerikanische Sprache in ein Mantra zu verwandeln und so das Ende des Krieges zu erklären sowie dadurch auch faktisch herbeizuführen: „I lift my voice aloud, / make Mantra of American language now, / I here declare the end of the War! “ 379 Gins‐ berg rekurriert über die im Buddhismus und Hinduismus verwendete magische Formel des Mantras auf die performative Kapazität von Sprache. Wie er in einem Interview erläutert, besteht eine Funktion des Mantras darin, that the name of the god is identical with the god itself. You say Shiva or Krishna’s name, Krishna is the sound of Krishna. It’s Krishna in the dimension of sound - so if you pronounce his name, you, your body, is being Krishna; your breath is being Krishna, itself. That’s one aspect of the theory of mantra. So I wanted to - in the English language - make a series of syllables that would be identical with a historical event. I wanted the historical event to be the end of the war, and so I prepared the declaration of the end of the war […]. 380 Indem Ginsberg das Ende des Krieges in Vietnam erklärt, vollzieht er seinem Verständnis nach mit seiner sprachlichen Äußerung nach dem mantrischen Prinzip der Manifestation eines rezitierten Phänomens im Diesseits auch gleich‐ zeitig die Beendigung des Krieges. Durch seine Poesie versucht er folglich eine zur medial und politisch etablierten Sprache des Krieges entgegengesetzte Form der Sprache zu instaurieren, nämlich a force field of language which is so solid and absolute as a statement and a realization of an assertion by my will, conscious will power, that it will contradict - counteract and ultimately overwhelm the force field of language pronounced out of the State Department and out of Johnson’s mouth. Where they say ‚I declare - We declare war,‘ they can say ‚I declare war‘ - their mantras are black mantras, so to speak. They pronounce these words, and then they sign a piece of paper, of other words, and a hundred thousand soldiers go across the ocean. 381 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 245 382 Vgl. Houen: „Back! Back! Back! “, p. 360. 383 Ginsberg: „Improvised Poetics“, p. 47. 384 Ginsberg: „Wichita Vortex Sutra“, p. 119. 385 Ginsberg: „All is Poetry“, p. 50. 386 Ginsberg: „Improvised Poetics“, p. 47. Wie Houen überzeugend herausstellt, kann Ginsberg das Ende des Krieges nicht performativ vollziehen, sondern nur als eine andere Welt der Möglichkeit ima‐ ginieren, worin für ihn auch Ginsbergs Ästhetik der Potentialität besteht. 382 Während Genet die Fähigkeit zur Poesie dem Vietcong und den Hippies vorbe‐ hält und die amerikanische Nation für ihre sprachlich-poetische Inkompetenz diskreditiert, bezeichnet Ginsberg sowohl den Vietnamkrieg als auch seine ei‐ gene poetische Gegeninitiative als Poesie: […] the War is a Poetry, in the sense that the War is the Happening, the Poem invented and imagined by Johnson and Rusk and Dulles, Luce, and Spellman and all those people; so the end of the War is the Happening, the Poem invented by Spock, or myself, or Phil Ochs, or Dylan, or - […] or anybody who wishes to make a contrary statement or pronouncement. 383 Dadurch entwirft Ginsberg seine eigene Poesie als eine gegen die Poesie des Krieges gerichtete aktive Handlungsinitiative. Die verbalen Entgleisungen der amerikanischen Politiker im Kontext des Vietnamkrieges, die Diffusion der po‐ litischen Stellungnahmen und Kriegsbilder durch die Medien sowie auch die Kriegserklärung selbst konstituieren für Ginsberg eine von ihm in „Wichita Vortex Sutra“ als „Black Magic language“ 384 bezeichnete, negative Form von Po‐ esie, welche innerhalb der amerikanischen Bevölkerung ein Kriegsbewusstsein hervorruft und transportiert. Diesen Aspekt der Konfrontation zwischen einer negativen und einer positiven Form der Poesie führt Ginsberg auch in seiner Rede mit dem programmatischen Titel „All is Poetry“ während des Parteikon‐ vents in Chicago an, um die Friedensdemonstrationen der Hippies von den ge‐ waltsamen Maßnahmen der Polizei abzuheben: „All is Poetry, the political con‐ vention’s fake images, mobilizers conspiring with reason to demonstrate American unconscious, hippies chanting Aum […].“ 385 Von seiner eigenen Lyrik erwartet Ginsberg entsprechend eine Sensibilisierung für das konfliktive Po‐ tential der politisch-medialen Sprache sowie deren Zersetzung. Seine Poesie wird somit von der positiven Grundeinstellung dominiert, eine Gegenstimme zum Vietnamkrieg zu schaffen oder in Ginsbergs Worten „to make a contrary statement“ 386 . Denn das Ende des Vietnamkrieges sei nicht durch eine kriegerische Offensive in Vietnam selbst herbeizuführen, sondern durch eine Be‐ wusstseinsveränderung in den USA selbst, wie Ginsberg konstatiert: „The way 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 246 387 Allen Ginsberg: „Statement Written for Authors Take Sides on Vietnam“ [1967], in: De‐ liberate Prose. Selected Essays 1952-1995, edited by Bill Morgan, New York: Harper Col‐ lins 2000, pp. 45-47, hier 46. 388 Genet: „Un salut aux cent mille étoiles“, p. 322. 389 Ibid. 390 Ibid., p. 323. Hervorhebung im Original. 391 Ibid. to end the war has less to do with the situation in Vietnam than it has to do with the situation of internal propaganda, attitudinizing, brainwash, image-manipu‐ lation, news control etc. within the United States.“ 387 Anders als Ginsberg beleuchtet Genet weniger das poetische Potential seines eigenen politischen Artikels, denn das der inneren und äußeren Gegner der USA . Er selbst stilisiert sich nicht etwa wie Ginsberg zum Propheten von Liebe und Pazifismus und zum Schamanen der Gegenkultur, sondern er prophezeit die Niederlage der Amerikaner im Vietnamkrieg aufgrund von deren Mangel an Poetizität. Der Begriff der Poesie nämlich erwächst für Genet aus einem Ver‐ ständnis von absoluter Opposition und ist damit nicht auf die amerikanische Kultur selbst anwendbar, sondern ist bei ihm grundsätzlich positiv konnotiert. Demgemäß liegt der Schwerpunkt in „Un salut aux cent mille étoiles“ auf dem Konnex zwischen Kriegsführung und defizitärer Sprachkompetenz der ameri‐ kanischen Bevölkerung. So benennt Genet die grammatischen Redundanzen, „les redondances grammaticales“ 388 , der amerikanischen Soldaten als Schwach‐ stelle deren militärischer Offensive in Vietnam und konstatiert „je crois que vous êtes en train de perdre la guerre parce que vous ignorez tout des élégances de la syntaxe.“ 389 Der dichotomen Grundstruktur seines Artikels entsprechend kon‐ trastiert Genet die sprachlichen Unfähigkeiten der Amerikaner mit dem poeti‐ schen Geschick des Vietcongs und der Hippies: „[…] leurs méthodes [celles des Viêt-cong, S. I.] sont poétiques, comme les trips de vos hippies.“ 390 So nennt er als zweite Ursache für die prophezeite amerikanische Niederlage die Unauf‐ merksamkeit der amerikanischen Bevölkerung für den Gesang der Hippies und stellt so einen Bezug zwischen Poesie und Musik her: „Vous êtes en train de perdre cette guerre parce que vous n’écoutez pas le chant des hippies.“ 391 Sym‐ bolisch beschreibt der Gesang der Hippies bei Genet die gesamte Ausdrucksform dieser gegenkulturellen Bewegung, welche er auch bereits in seinem Artikel „Les membres de l’assemblée“ kontrastiv der als Polizeistaat dargestellten ame‐ rikanischen Gesellschaft gegenüberstellt. In „Les membres de l’assemblée“ be‐ zeichnet Genet beispielsweise die Reaktion der Studenten und Hippies auf den Parteitag der Demokraten als poetisch: „[…] leur détermination [celle des hip‐ pies et des étudiants, S. I.] à dormir dans le parc est leur réaction très douce, trop 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 247 392 Genet: „Les membres de l’assemblée“, p. 312. 393 Jean Genet: Notre-Dame-des-Fleurs, Paris: Gallimard 2007 [1948], p. 342. 394 Genet: La Sentence, p. 16. douce jusqu’ici, mais à coup sûr poétique, au spectacle nauséeux de la Conven‐ tion.“ 392 Genet verbildlicht die Opposition zwischen der amerikanischen Gesell‐ schaft und den gegenkulturellen Bewegungen in Chicago antithetisch durch den Kontrast zwischen Hell und Dunkel, Tag und Nacht, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, und repräsentiert ausgehend von diesem gegensätzlichen Bild jene Trennlinie, mithilfe der er in seinem Debütroman Notre-Dame-des-Fleurs einst sein Konzept der Poesie definierte: „[…] la poésie est la rupture (ou plutôt la rencontre au point de rupture) du visible et de l’invisible.“ 393 Die Metapher der Nacht konstituiert in „Les membres de l’assemblée“ somit nicht nur ein rheto‐ risches Stilmittel, das diesem journalistischen Text Literarizität verleiht, sondern kennzeichnet symbolisch auch das revolutionäre und poetische Potential der gegenkulturellen Zusammenkunft in Chicago, welche eine Gegenstimme re‐ präsentiert. So verwendet Genet in einer Passage aus La Sentence in Bezug auf die Hippies innerhalb eines Protestmarsches gegen den Einsatz nuklearer Waffen ebendieses Bild der Nacht, um sie von den übrigen Demonstranten zu differenzieren: Hippies! […] À cause de vous la nuit était partout. Vous étiez venus pour déboussoler, désorienter les manifestants usés jusqu’aux genoux par la marque qui n’était plus une menace contre la bombe menaçante, mais une procession médiévale entreprise pour conjurer la peste ou l’approche de l’an mil. Avec l’odeur des pinceaux fleuris il émanait d’elle une suavité complaisante, idiote, un peu masturbatrice, doucement agreste et stupide où personne n’aurait songé que derrière ni dessous soit une volonté de triomphe des Américains. 394 Wie sich in diesem Zitat zeigt, konstituiert die Nacht für Genet ein Motiv, wel‐ ches die revolutionäre Fähigkeit zur Desorientierung und Destabilisierung des Gemeinschaftsgefüges ausdrückt und seinem Konzept von Poesie immanent ist. Die poetische Kraft des Vietcongs sowie der gegenkulturellen Bewegung der Hippies resultiert dabei aus der oppositionellen Haltung gegenüber der ameri‐ kanischen Gesellschaft und Kultur an sich, der Genet jegliche poetische Fertig‐ keiten in Abrede stellt. Sprachliche Inkompetenz und Poesie stehen einander stellvertretend für die konfliktive, oppositionelle Beziehung zwischen einer als Unkultur wahrgenommenen Kultur und ihrer Gegenkultur gegenüber. In „Un salut aux cent mille étoiles“ wird dieser Konflikt insbesondere vermittels der Gegenüberstellung derer, die von den Amerikanern angehört werden, nämlich 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 248 395 Genet: „Un salut aux cent mille étoiles“, p. 323. Mit „Texan“ ist Lyndon Johnson gemeint, bei Westmoreland und Abrams handelt es sich um Vertreter der amerikanischen Kriegs‐ führung und Politik in Vietnam. 396 Ibid. „votre Texan, votre Westmoreland, votre Abrams,“ 395 und dessen, was kein Gehör findet, nämlich „le chant de Hippies“ 396 , zum Ausdruck gebracht. Der so illust‐ rierte verbale Konflikt symbolisiert bei Genet insbesondere das polarisierte amerikanische Gesellschaftsgefüge, doch implizit kritisiert Genet dabei auch die Beeinflussung und Fehlleitung der amerikanischen Bevölkerung durch deren politische und militärische Führungsschicht, ein Aspekt, der stärker noch als bei Genet in Allen Ginsbergs während des Vietnamkrieges entstandenen Gedichten zum Ausdruck kommt. Denn während in Genets Artikel das sprachlich-poetische Spannungsver‐ hältnis zwischen Kultur und Gegenkultur vor dem Hintergrund einer defizitären amerikanischen Kultur betrachtet wird, als dessen Symptom der Vietnamkrieg figuriert, führt Ginsberg den Vietnamkrieg auf den Missbrauch von Sprache zurück und betrachtet ihn als Phänomen eines verbalen Konfliktes. Ginsberg analysiert daher die Fehläußerungen beispielsweise des Senators Aiken als In‐ dikatoren für den manipulativen und konsensorientierten Gebrauch von Sprache, welcher jede Form von Opposition einzudämmen versucht. In Genets Artikel findet diese Kritik an den politischen Reden einzelner Staatsmänner nur einen suggestiven Eingang, werden sie darin lediglich als ein Charakteristikum des gesamten kulturellen Selbstverständnisses der USA bewertet. Bei Genet wird dieser Aspekt erst im Kontext der Präsidentschaftswahl 1974 in Frankreich unter Rekurs auf die Wahl des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten 1968 in Chicago genauer beleuchtet. So zieht Genet in seinem ersten der insgesamt drei für die kommunistische Zeitung L’Humanité ver‐ fassten Artikel einen direkten Vergleich zwischen der politischen Situation in den USA und in Frankreich: À Chicago, dans le palais de Congrès du Parti Démocrate, en août 1968, et quand on eut annoncé l’élection à la candidature de Hubert H. Humphrey, l’enthousiasme des Américains libéraux, cette sorte de délire psychédélique vaporeux et bavarois fut tel que je quittai ma place. Allen Ginsberg avait son sourire d’ange. Il me demanda pourquoi je m’en allais. Je répondis que je n’en pouvais plus. Il sourit avec une finesse encore plus grande. Il me dit: ‚Moi, je suis très heureux. C’est tellement hideux que tout cela va disparaître dans quelques minutes.‘ Depuis, les radicaux ont vieilli sans trop d’histoires, les campus se taisent, les Panthères noires et le Black Power se sont éteints, les Young Lords aussi, et aussi les Weathermen, la police patrouille les ghettos. Le pire est là: silence et immobilité. Et Watergate n’est que la partie visible d’un combat 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 249 397 Jean Genet: „Quand ‚Le pire est toujours sûr‘“ [1974], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 125-127, hier 125. 398 Jean Genet: „Mourir sous Giscard d’Estaing“ [1974], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 129-133. 399 Ibid., p. 129. 400 Ibid. 401 Ibid. entre deux grands rivaux. L’extrême gauche américaine a eu tort de croire que le pire lui serait favorable. 397 Genets pessimistisch ausfallende Bilanz zur Eindämmung der revolutionären Bewegungen in den USA ist als Warnung an die französischen Leser konzipiert, die bei der Wahl des Kandidaten Giscard d’Estaing eine ähnliche Stagnation befürchten müssten. Dieser Analogieschluss zwischen den Entwicklungen in den USA und in Frankreich wird noch deutlicher in seinem zweiten aus Anlass des französischen Wahlkampfes publizierten Artikel untermauert. Denn in „Mourir sous Giscard d’Estaing“ 398 kommentiert Genet Giscard d’Estaings in der Wahlkampfdebatte zum Vorschein kommendes Image als Kopie des Präsidenten Kennedy und analysiert schließlich dessen politische Ansprache auf deren In‐ konsistenz. Kennedys Persönlichkeit beschreibt Genet im Lichte seiner während der Präsidentschaft von 1960 bis 1963 getroffenen politischen (Fehl-)Entschei‐ dungen: L’invasion ratée de la Baie des Cochons, le renforcement de la C. I. A., l’assassinat de Diem, les premiers débarquements de Marines à Saigon, le parapluie nucléaire imposé à MacMillan, le choix de Johnson à la vice-présidence, l’invention d’une formule inconsistante: ‚nouvelles frontières‘, etc. 399 Auch den als „mini-mythe kennedite de ‚jeunesse‘, ‚dynamisme‘, ‚avenir‘“ 400 bezeichneten Mythos überträgt Genet auf den französischen Kandidaten und konstatiert: „Giscard c’est peut-être un peu tout cela.“ 401 Das mithilfe seines Ver‐ gleichs konstruierte schriftliche Mahnmal für die Leser von L’Humanité wird auch in Genets Analyse einzelner von Giscard d’Estaing verwendeter Formu‐ lierungen erkennbar. Ähnlich wie Ginsberg Senator Aikens strategisch ge‐ brauchten Ausdruck „bad guess“ in seinem Gedicht kommentierend aufgreift, hebt Genet jene für Giscard d’Estaings politische Überzeugungen und Ziele be‐ sonders signifikanten Aussagen vermittels einzelner Schlagwörter hervor und zergliedert so dessen Ansprache in seine emblematischsten Bestandteile: Mo‐ nopol, lieben, Werkzeug, Zentrum, Wiederversöhnung, Rechnung, Kommu‐ 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 250 402 Vgl. ibid., pp. 130-133. 403 Ibid., p. 130. 404 Ibid. 405 Ibid. 406 Ibid. 407 Ibid., p. 131. nismus, Zukunft. 402 Genets so gegliederte Analyse gleicht einer lexikalischen Liste wie auch die Überschrift „Le vocabulaire d’un grand patron affolé, dos au mur“ 403 suggeriert. Insbesondere Genets Analyse zur Aussage „Il ne faut pas briser l’‚outil‘“ 404 erscheint dabei aufschlussreich. Der Begriff ‚Werkzeug‘ wird von Genet in Giscard d’Estaings Rede als unaufrichtig und deplatziert eingestuft, denn, so Genet, „[il] n’a jamais su ce qu’était un outil.“ 405 Stattdessen ersetzt er diesen durch den seiner Meinung nach geeigneteren Begriff „appareil“, mithilfe dessen er das durch Giscard d’Estaing personifizierte System charakterisiert: [U]n appareil […] que trois cents ans de Haute Bourgeoisie Triomphante ont mis au point pour enfermer les pauvres dans un cercle de conventions pseudo-morales, pseudo-culturelles, un cercle féroce qu’ils ne savent peut-être pas encore briser car il est invisible. 406 Das von Genet als bourgeois und kapitalistisch kritisierte System, welches sich hinter Giscard d’Estaings Wortwahl „outil“ verbirgt, findet seinen verbalen Aus‐ druck „par une syntaxe hautaine et par le ton protecteur et avaricieux du maître.“ 407 Ähnlich wie in „Un salut aux cent mille étoiles“ führt Genet die Ei‐ genschaften des Gesellschaftssystems mit den darin operierenden syntaktischen Stilmerkmalen zusammen und exemplifiziert dies in „Mourir sous Giscard d’Es‐ taing“ anhand ausgewählter und als fehlerhaft bewerteter Formulierungen des französischen Politikers und Repräsentanten des Systems, dessen Mechanismen er durch seine Analyse entlarven möchte. Während der beispielsweise in der gegenkulturellen Bewegung indizierte ge‐ sellschaftliche Konflikt in den USA sowie der Krieg in Vietnam bei Genet auf symbolischer Ebene der Konfrontation unterschiedlicher verbaler Ausdrucks‐ weisen und Stile entspricht, welche die jeweilige politische Ausrichtung und Haltung kennzeichnen, resultiert der Krieg bei Ginsberg direkt aus der Sprache und kann daher durch Poesie beendet werden, so dass sich auch bei ihm zwei sprachliche Stile gegenüberstehen: die Poesie des Krieges und die Poesie gegen den Krieg. Die von Ginsberg konstatierte Manipulation des Bewusstseins durch die Sprache des Krieges, welche vor allem in Schlagzeilen sowie politischen Stellungnahmen sichtbar wird, kann seinem Verständnis nach durch seine ei‐ gene Poesie durchbrochen werden. Der Konflikt kann für ihn somit auf sprach‐ 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 251 408 Den Begriff der poetischen Revolution benutzt Genet in seinem Interview mit Hubert Fichte entsprechend, um auf einen künstlerischen Umbruch zu verweisen, der jedoch nie einen Wandel der Ordnung bewirken könne. Vgl. Genet: „Entretien avec Hubert Fichte“, p. 152: „Ce qu’on appelle révolutions poétiques ou artistiques ne sont pas exac‐ tement des révolutions. Je ne crois pas qu’elles changent l’ordre du monde. Elles ne changent pas non plus la vision qu’on a du monde. Elles affinent la vision, elles la complètent, elles la rendent plus complexe, mais elles ne la transforment pas du tout au tout, comme une révolution sociale ou politique.“ 409 Da eine politische Affirmation in Form einer Revolution wiederum in einer eigenen Normativität aufgehen kann, droht sich das Prinzip der Poesie in ihr aufzulösen. Dieser Aspekt wird insbesondere in Kapitel 4 ausgehend von Genets letztem Werk Un captif amoureux beleuchtet. 410 Allen Ginsberg: „The Fall of America Wins an Award“ [1974], in: Deliberate Prose. Selected Essays 1952-1995, edited by Bill Morgan, New York: Harper Collins 2000, pp. 19-20, hier 20. licher Ebene gelöst werden. Für Genet hingegen hat allein das revolutionäre Potential einen poetischen Ursprung, der in der Opposition gegenüber der nor‐ mativen Gesellschaft begründet liegt. Dieser Zusammenhang erklärt auch seine persönliche Haltung als Feind der Gesellschaft, in der sich sein poetisches Kon‐ zept niederschlägt, wie beispielsweise in der Verschränkung von Feind und Bla‐ sonneur in „Les membres de l’assemblée“ deutlich wird. Wie im Kontext der poetischen Strategie der ‚corruption du langage‘ (Kapitel 2.3.3.3) herausgear‐ beitet wurde, unterscheidet Genet zwischen einer Form der poetischen Negation und einer Form der politischen Affirmation, die aus der poetischen Negation hervorgehen kann. Solange die gesellschaftliche Ordnung mit der von ihr her‐ vorgebrachten normativen Sprache Bestand hat, kann ein sprachlich realisierter Widerstand für Genet nur durch die Zersetzung dieser Sprache erfolgen. Die Möglichkeit einer umfassenden Veränderung besteht seinem Verständnis nach jedoch alleine durch eine gesellschaftspolitische Revolution, nicht aber durch eine ästhetisch verbalisierte Lösung für den Konflikt. 408 Für Genet bleibt das Konzept der Poesie damit an eine Widerständigkeit und Dissidenz geknüpft, die auf eine Destabilisierung von Normativität abzielt. 409 Die der Poesie etymolo‐ gisch inhärente Bedeutung der Kreation fällt bei Genet paradoxerweise mit einem destruktiv-zersetzenden Gestus zusammen. So erklärt sich, dass Genets Kritik an der amerikanischen Gesellschaft und Kultur den sprachlichen Aspekt als illustratives Beispiel einer gesellschaftlichen Opposition aufgreift, wohin‐ gegen er bei Ginsberg eine konstitutive Komponente der sozial-politischen Ver‐ änderung repräsentiert. Ginsbergs Kritik an den USA kommt in der Ablehnung des Vietnamkrieges zum Ausdruck, den er als Ergebnis einer globalen, von den USA ausgehenden Militarisierung und einer flächendeckenden „computerized police state control of America“ 410 betrachtet, und seinem Verständnis von Poesie 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 252 411 Ginsberg: „Statement Written“, p. 46. 412 Allen Ginsberg: „1968 Chicago Democratic National Convention. Allen Ginsberg’s Answer to Claude Pélieu’s Questionnaire“ [1968], in: Deliberate Prose. Selected Essays 1952-1995, edited by Bill Morgan, New York: Harper Collins 2000, pp. 47-50, hier 49. 413 Ibid. 414 Ibid., p. 50. 3.3.3 als antimilitaristisches und antimaterialistisches Experiment schreibt er eine performative Wirkungskraft zu. William S. Burroughs’ Cut-up-Methode und Genets Konzept der ‚écriture arachnéenne‘ als antiwestliche Schreibarten Wie analytisch ermittelt werden konnte, durchdringen sich bei Ginsberg wie auch bei Genet Gesellschafts- und Sprachkritik in unterschiedlicher Art und Weise. Ginsberg, der es als seine Aufgabe betrachtet, gegen die bewusstseinssteuernde Macht von Medien und Sprache vorzugehen, beruft sich auch immer auf Burroughs’ Cut-up-Methode, um seinen Ansatz zu untermauern. So etwa bezeichnet er in einem Text gegen den Einsatz der USA in Vietnam die Cut-ups neben dem Gebrauch von LSD als therapeutische Maßnahme, um den Einfluss der Medien auf das menschliche Bewusstsein zu entmachten: It would be necessary to bomb out the entire public consciousness of the USA with LSD or some therapeutic equivalent like Burroughs’ cut-up method before we could expect the beginning of self-examination on the part of the majority of our populace who are after all, enjoying some artificial prosperity as byproduct of hostility to China. 411 Ginsberg kritisiert hier die Bereitschaft der Bevölkerung, sich der medialen Ma‐ nipulation, wie sie sich beispielsweise in der kollektiven Feindschaft gegenüber der kommunistischen Republik Chinas zeige, zwecks eines künstlich erzeugten materiellen Wohlstandes zu unterwerfen. In Burroughs’ Cut-ups sieht Ginsberg die Möglichkeit, dieser als „suppression of sensory awareness, alteration of ratio of senses, stereotyping of conscious awareness in language formulae, homoge‐ nizing of communal imagery via mass-media, creation of mass hallucinations (headlines)“ 412 beschriebenen Bewusstseinssteuerung entgegenzuwirken: „Bur‐ roughs provides counter-brainwash techniques and leads the reader to examine conditioned identity.“ 413 Ginsberg umschreibt folglich die Cut-ups als dekondi‐ tionierende Technik - „Burroughs’ theme and practice is de-conditioning“ 414 -, mithilfe derer die Erneuerung sozialer Formen vorangetrieben werden könne: 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 253 415 Ibid. 416 Allen Ginsberg: „Kansas City to Saint Louis“ [1966], in: The Fall of America, poems of these states. 1965-1971, San Francisco: City Lights 2010 [1972], pp. 28-34. 417 Ibid., p. 32. Hervorhebung im Original. 418 Ibid., p. 28-29. „That’s the liberty required for imagining a twentieth century re-invention of social forms.“ 415 Entsprechend seinem Postulat, den Leser für die negative Sprach- und Medienproduktion durch seine Poesie zu sensibilisieren, rekurriert Ginsberg in seiner Lyrik vereinzelt auch immer wieder kommentierend auf Burroughs’ Methode. So beispielsweise integriert er in sein Gedicht „Kansas City to Saint Louis“ 416 von 1966 eine Aussage von William S. Burroughs, welche die das Gedicht kennzeichnende, mit einer Collage vergleichbare Struktur wie ein Motto überschreibt: „Shift linguals, said Burroughs, Cut the Word Lines! / He was right all along.“ 417 Insbesondere eine längere Passage in „Kansas City to Saint Louis“, in der unterschiedliche Zitate scheinbar zusammenhanglos aneinander‐ gereiht werden, kann als impliziter textueller Verweis auf Burroughs interpre‐ tiert werden: Heart to heart, the Kansas voice of Ella Mae / ‚are you afraid of growing old, / afraid you’ll no longer be attractive to your husband? ‘ ‚ …I don’t see any reason‘ says the radio / ‚for those agitators - Why dont they move in with the negroes? We’ve been / separated all along, why change things now? But I’ll hang up, some other Martian might want to call in, who has / another thought.‘ 418 Ginsberg greift Burroughs’ Methode im Kontext seiner eigenen sprach- und medienkritischen Beobachtungen auf, wonach das Bewusstsein der Individuen vermittels der medialen Diffusion von Sprache über die auditiven und visuellen Kanäle gelenkt wird, und zeigt anhand der collagierten Komposition der ein‐ zelnen Zitate die Zusammenhanglosigkeit und Sinnlosigkeit der neuen Ver‐ knüpfungen auf, gegen deren Auswirkungen das Bewusstsein so immunisiert scheint. Die Cut-ups werden von Ginsberg als auf gesellschaftspolitischer Ebene operierendes Instrument gegen bewusstseinsmanipulative Prozesse interpre‐ tiert. Tatsächlich experimentierte Burroughs mit seiner Technik des Cut-ups, um gegen jene Kontrollmechanismen anzukämpfen, welche seinem Verständnis nach in der Wortzeile bzw. der sprachlichen Verkettung begründet liegen, wie aus seinem Interview mit Gregory Corso und Allen Ginsberg hervorgeht: I feel that the change, the mutation in consciousness, will occur spontaneously once certain pressures now in operation are removed. I feel that the principal instrument 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 254 419 Corso / Ginsberg: „Interview with William S. Burroughs“, p. 6. 420 Vgl. Barry Miles: „The Future Leaks Out: A Very Magical Charged Interludes“, in: Colin Fallows / Synne Genzmer (Hgg.): Cut-ups, Cut-ins, Cut-outs: Die Kunst des William S. Burroughs, Kunsthalle Wien, 15. Juni bis 21. Oktober 2012, Wien: Verlag für Moderne Kunst 2012, pp. 22-32, hier 22. 421 Burroughs / Odier: „Journey through time-space“, p. 33. 422 William S. Burroughs / Daniel Odier: „Prisoners of the earth come out“, in: The Job. Interviews with William S. Burroughs by Daniel Odier, revised and enlarged edition in‐ cluding „Playback From Eden to Watergate“ and „Electronic Revolution 1970-71“, New York: Grove Press 1974, pp. 59-108, hier 59. of monopoly and control that prevents expansion of consciousness is the word lines controlling thought, feeling and apparent sensory impressions of the human host. 419 Burroughs entwickelte seine Methode aus einer zufälligen Entdeckung seines Künstlerkollegen Brion Gysin im Jahre 1959: Beim Zuschneiden von Passepar‐ touts für seine Zeichnungen zerschnitt Gysin auch einige als Arbeitsunterlage übereinander gestapelte alte Zeitungen und bemerkte, dass aufgrund fehlender Zeitungsstreifen auf der vordersten Seite neue Textkombinationen mit der da‐ runter gelegenen Seite entstanden. 420 Diese Umordnung des Textes führt zu einer neuen Juxtaposition von Wörtern, die ihrem logischen Kontext entrissen werden. Ähnlich wie Ginsberg verweist auch Burroughs auf die Macht von Bil‐ dern und Worten, deren Kontrolle er mithilfe seiner Experimente destabilisieren und mithin vernichten möchte: The word of course is one of the most powerful instruments of control as exercised by the newspaper and images as well, there are both words and images in newspapers … Now if you start cutting these up and rearranging them you are breaking down the control system. 421 Mithilfe seiner Montagen möchte Burroughs die Kontrollmechanismen des Bildes und des Wortes brechen, indem er das logische Bezugssystem durch ein neues System aus Assoziationen ersetzt und die automatischen Reaktionen des Individuums auf Wortzusammenhänge vernichtet. Denn wie Burroughs unter‐ mauert, „[i]t is precisely these automatic reactions to words themselves that enable those who manipulate words to control thought on a mass scale.“ 422 Wie Synne Genzmer herausarbeitet, verstand Burroughs den durch die Einbindung von Worten in das Satzgefüge entstehenden Bedeutungszusammenhang als normativen Automatismus, sodass den Brüchen die Funktion eines „symboli‐ 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 255 423 Synne Genzmer: „Cut-up oder außer Kontrolle. Über William S. Burroughs und seine Kunst“, in: Colin Fallows / Id. (Hgg.): Cut-ups, Cut-ins, Cut-outs: Die Kunst des William S. Burroughs, Kunsthalle Wien, 15. Juni bis 21. Oktober 2012, Wien: Verlag für Moderne Kunst 2012, pp. 32-37, hier 33. 424 Burroughs / Odier: „Journey through time-space“, p. 29. 425 Burroughs: „Electronic Revolution 1970-71“, p. 176. 426 David Ingram: „William Burroughs and Language“, in: A. Robert Lee (Hrsg.): The Beat Generation Writers, London: Pluto 1996, pp. 95-114, hier 109. 427 Burroughs / Odier: „Journey through time-space“, p. 56. sche[n] Merkmal[s] einer aufgebrochenen Ordnung“ 423 zukommt. Ausgehend von dieser Erkenntnis experimentierte Burroughs in den sechziger Jahren ins‐ besondere mit Tonbandaufnahmen, wie etwa auch für seine Berichterstattung in Chicago, und entwickelte neue Effekte: „effects of simultaneity, echoes, speed-ups, slow-downs, playing three tracks at once.“ 424 Burroughs’ Kritik an den Massenmedien gleicht der Allen Ginsbergs, jedoch versucht er nicht durch den performativen Gebrauch einer poetischen Sprache des Widerstandes gegen den Einfluss der Medien vorzugehen, sondern arbeitet mit dem Bruch von As‐ soziationsketten: „The control of the mass media depends on laying down lines of association. When the lines are cut the associational connections are broken.“ 425 Burroughs’ Cut-ups können daher mit David Ingram als „counter technology to authoritarian and tyrannical control, questioning and disrupting mass media representations of reality by revealing new, ironic areas of signifi‐ cation in the habitual formularized ‚messages‘ of monopolistic power“ 426 cha‐ rakterisiert werden. Im Unterschied zu Ginsberg, der auf Burroughs’ Theorie insbesondere im Kontext seines politischen Engagements gegen den Vietnam‐ krieg rekurriert, um nämlich den Vietnamkrieg als Produkt der sprachlichen und medialen Kontrolle zu kennzeichnen, hebt Burroughs seine sprachlichen Experimente nicht auf eine realpolitische Ebene. Zwar betrachtet er die vermit‐ tels der Sprache operierenden Kontrollmechanismen als Konstante eines seit Jahrtausenden instaurierten Systems und entlarvt die Medien als deren maßge‐ bliches Vehikel, doch basiert seine Kritik an den politischen Konflikten der sechziger und siebziger Jahre auf einem sehr weit gefassten Begriff von Politik, der mit seinem Misstrauen gegenüber einem literarischen Engagement von Schriftstellern einhergeht: Well, I think overcommitment to political objectives definitely does limit one’s creative capacity; you tend to become a polemicist rather than a writer. Being very dubious of politics myself, and against the whole concept of a nation, which politics presupposes, it does seem to me something of a dead end, at least for myself. 427 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 256 428 Vgl. Burroughs / Odier: „Prisoners of the earth come out“, p. 79-80. 429 Burroughs: „The Coming of the Purple Better One“, p. 98. 430 Ibid. 431 Burroughs / Odier: „Prisoners of the earth come out“, p. 80. Im Unterschied zu Genet und Ginsberg sind Burroughs’ politische Stellung‐ nahmen begrenzt und beziehen sich eher auf das Funktionieren sozialer und anthropologischer Prozesse, wie man auch in seinem Artikel für Esquire er‐ kennen kann. Darin wird der Vietnamkrieg zwar als der wichtigste in der Öf‐ fentlichkeit zu diskutierende Konflikt benannt, doch bettet er seine Ausfüh‐ rungen zu Vietnam in eine Kritik am westlichen Geschichtsverständnis ein, wie er auch in einem Interview mit Odier in ähnlicher Weise formulieren wird. 428 Burroughs vergleicht den Vietnamkrieg zunächst mit dem französischen Kolo‐ nialkrieg in Algerien und prophezeit dann den Untergang der Zivilisation durch einen nuklearen Krieg, wie er sich seinen Mutmaßungen zufolge bereits zuvor in der Menschheitsgeschichte ereignet habe: Looks like some folks figure the only answer to this mess is blow the set up and start over. May have happened several times before what we call history going back about 10,000 years and the human actor being about 500,000 years on set, give a little take a little, so what was he doing for the 480,000 years unaccounted for? If we have come from stone axes to nuclear weapons in ten thousand years this may well have happened before. 429 Auch etabliert er in seinem Artikel in Anlehnung an Gysin eine Hypothese zur Entstehung der ‚weißen Rasse‘, die als genetischer Fehler aus dieser vormaligen atomaren Katastrophe hervorgegangen sei: „Brion Gysin has put forward the theory that a nuclear disaster in what is now the Gobi desert destroyed the civilization that had made such a disaster possible and incidentally gave rise to what he terms ‚Albino freaks‘, namely the white race.“ 430 Die einzige Möglich‐ keit, dass diese dystopischen Vorstellungen sich nicht noch einmal in der Wirk‐ lichkeit vollziehen, ist für Burroughs der Abzug der Truppen aus Vietnam, wie er gegenüber Daniel Odier mit scheinbarem Bezug auf Zeitungsschlagzeilen äußert: „Now, if you don’t want to see the whole set go up, of course the Ame‐ ricans should get out of Vietnam before … ‚American and Chinese troops clash north of Hanoi‘; …‚Johnson in the toughest speech yet‘; …‚Kosygin bluntly warned‘ …“ 431 Anders als etwa in Ginsbergs Poesie oder Stellungnahmen sug‐ geriert Burroughs durch diese Aneinanderreihung fragmentarischer Pressemit‐ teilungen aber keine sprach- und gesellschaftskritische Verwebung. Vielmehr gilt für ihn, dass ein Konflikt nicht mehr lösbar ist, wenn er einmal auf der politisch-militärischen Ebene ausgetragen wird. So erläutert er auf die Frage zu 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 257 432 Ibid., p. 79. 433 William S. Burroughs: Electronic Revolution, o. O.: Expanded Media Editions 3 1982. 434 Vgl. Burroughs: „Electronic Revolution 1970-71“, p. 200-202. 435 Ibid., p. 201. 436 Ibid. 437 Burroughs / Odier: „Journey through time-space“, p. 49. seiner persönlichen Stellungnahme zum Vietnamkrieg hin: „I don’t as a rule interfere in political matters. Once a problem has reached the political-military stage, it is already insoluble.“ 432 Burroughs’ Sprachkritik interferiert nur insofern mit der politischen Kritik, als die Sprache seiner Vorstellung nach einem in‐ staurierten System gehorcht, welches die Individuen in ihrer freien Meinungs‐ äußerung kontrolliert. Besonders verdeutlicht er dies in seinem 1971 erstmals publizierten Text Electronic Revolution  433 , in dem er das geschriebene Wort als Virus identifiziert. Burroughs stellt die These auf, dass die westlichen Sprachen Falsifizierungen unterliegen und nennt drei Eigenschaften als maßgebliche Ur‐ sache für die aufgrund eines sprachlichen Virus erzeugten Auswirkungen im Kommunikationssystem: das Verb ‚sein‘ als identitätsspezifische Einschrän‐ kung, welches in auf Hieroglyphen basierenden Sprachen nicht existiere, der definite Artikel, welcher die Illusion der Einzigartigkeit und Ausschließlichkeit vermittle, und das dualistische Konzept von entweder / oder, welches durch ein Prinzip von Juxtapositionen ersetzt werden solle. 434 Diese drei sprachlichen Charakteristika sichern eine ständige Konditionierung durch verbale Formulie‐ rungen, wie Burroughs anhand des Verbs ‚sein‘ aufzeigt: The IS of identity, assigning a rigid and permanent status, was greatly reinforced by the customs and passport control that came in after World War I. Whatever you may be, you are not the verbal labels in your passport any more than you are the word ‚self ‘. So you must be prepared to prove at all times that you are what you are not. 435 Burroughs kommt zu dem Schluss, dass „[t]he whole reactive mind can be in fact reduced to three little words - to be ‚ THE ‘. That is to be what you are not, verbal formulations.“ 436 Diese sprachlichen Charakteristika determinieren für ihn die okzidentale Denkweise, welche er auf Aristoteles und Descartes zurück‐ führt und als trügerisch entlarvt: There are certain formulas, word-locks, which will lock up a whole civilization for a thousand years. […] I would agree emphatically that Aristotle, Descartes, and all that way of thinking is extremely stultifying and doesn’t correspond even to what we know about the physical universe, and particularly disastrous in that it still guides the whole academic world. 437 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 258 438 Burroughs: „Electronic Revolution 1970-71“, p. 202. 439 Vgl. Ingram: „William Burroughs and Language“, p. 98. 440 Miles: William S. Burroughs, p. 157. Dieses Prinzip einer Abhängigkeit der Perspektive vom Standpunkt des Betrachters und der damit verbundenen Fragmentierung durch das Sichtfeld zeigt sich auch in Genets Zerteilung des Polizisten in „Les membres de l’assemblée“. Vgl. Kapitel 3.2.1. 441 Vgl. Burroughs / Odier: „Journey through time-space“, p. 31. 442 Ibid., p. 35. Diese sprachlichen Vorbedingungen werden von Burroughs als kriegerisches System repräsentiert, und seine eigenen Cut-up-Montagen nimmt er entspre‐ chend als Waffe wahr, als „weapons and tactics in the war game“ 438 . Wenn sich auch aufgrund dieser Wortwahl beim Leser eine Situierung der Kritik im ge‐ sellschaftspolitischen Kontext der sechziger und siebziger Jahre und der Anti‐ kriegsbewegung aufdrängt, für die Burroughs zumindest mit seinem Es‐ quire-Artikel Partei ergreift, bleibt diese Bezugnahme lediglich implizit, so dass seine Kritik am Sprachsystem und der westlichen Denkweise nicht unbedingt als antiamerikanisch bezeichnet werden kann. Die Cut-ups fungieren nicht nur als Technik der Entmachtung der kommunikativen Kontrollmechanismen, son‐ dern die mithilfe der Cut-ups erwirkte Aufbrechung sprachlicher und logischer Sinnzusammenhänge bildet darüber hinaus Burroughs’ Vorstellung nach eher die Wahrnehmung des Individuums ab, als ein auf Kontinuität basierendes ganzheitliches System, womit er, wie Ingram herausarbeitet, dem postmodernen Topos der Diskontinuität und Fragmentierung von Wahrnehmung Rechnung trägt. 439 Miles erinnert sich, dass Burroughs die Cut-up-Collagen mit dem ver‐ glichen hat, was das Auge während eines kurzen Spaziergangs sieht: hier wird ein Blick durch ein vorübergehendes Auto zerstückelt, dort sieht man, was sich in Schaufensterscheiben spiegelt, und all diese Bilder werden zerlegt und verwoben gemäß der Bewegung des eigenen Standpunktes. 440 In seinem Interview mit Odier beschreibt Burroughs ein Experiment, bei dem er alle Eindrücke zu Montagen verarbeitet, welche er auf einer Zugfahrt durch den Blick aus dem Fenster wahrnimmt. 441 Burroughs erläutert in diesem Zu‐ sammenhang in Hinblick auf seine literarische Produktion, dass die Realität keiner logischen Sequenzialität gehorcht und daher Diskontinuitäten vielmehr dem mimetischen Prinzip entsprechen als lineare Strukturen: „When people speak of clarity in writing they generally mean plot, continuity, beginning middle and end, adherence to a ‚logical‘ sequence. But things don’t happen in logical sequence.“ 442 Bereits Burroughs’ 1959 erschienener Roman Naked Lunch lässt keine lineare Handlung erkennen und nimmt eine paradigmatische Funk‐ 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 259 443 Burroughs: My Education. 444 Miles: William S. Burroughs, p. 299. 445 Genet: La Sentence, p. 10. 446 Vgl. ibid., p. 14. tion für die späteren unter dem Einfluss seiner Cut-up-Experimente entstan‐ denen literarischen Werke ein, die den Effekt der Diskontinuität noch stärker inszenieren. Es verwundert daher kaum, dass Burroughs mit großem Interesse Jean Genets letztes Werk Un captif amoureux rezipierte und 1991 ein literarisches Projekt aufnahm, welches jenem nicht nur in seinem strukturellen Format folgt, sondern auch explizit auf Genet bezogene Kommentare integriert: My Education. A Book of Dreams  443 . Miles bezeichnet diesen Text in Anlehnung an Burroughs’ eigene Einschätzung als Traumbuch, das sich nicht nur auf spezifische Träume beschränkt, sondern auch deren Effekte, Theorien der Traumdeutung sowie auf Träumen basierende künstlerische Experimente umfasst, und zitiert Burroughs selbst: Es geht insofern in diese Richtung [Un captif amoureux, S. I.], als dass es kein zentrales Thema hat. Genau wie bei ihm [Genet, S. I.] schweift alles in alle möglichen Rich‐ tungen ab, geht hierhin und dahin. Vom Format her ist es dasselbe, inhaltlich ist es anders. 444 Hinsichtlich seiner fragmentierten Struktur sind für die Genese von Un captif amoureux Genets posthum unter dem Titel La Sentence veröffentlichten Manu‐ skripte aufschlussreich, aus denen er einzelne Passagen in sein letztes Werk überführt hat. In diesen Manuskripten experimentiert Genet offenbar auf for‐ maler Ebene mit den unterschiedlichen Möglichkeiten der Anordnung von Text auf einer Seite, wodurch jeweils ein verändertes Leseverhalten ausgelöst wird. Auf den ersten drei Seiten kombiniert er stets eine zentral positionierte Text‐ einheit mit am oberen und am rechten Rand angeordneten und typographisch in roter Farbe abgesetzten Textspalten, welche optisch einen halbseitigen Rahmen bilden. Diese Textfragmente unterscheiden sich nicht nur typogra‐ phisch, sondern auch inhaltlich, sodass dem Leser zwei unterschiedliche Text‐ anfänge geboten werden. Die rot gekennzeichneten Randbemerkungen be‐ ginnen auf der ersten Manuskriptseite mit einer Minuskel, nämlich mit „père adoré d’un Fils“ 445 , sodass sie keinen absoluten Anfang evozieren, sondern viel‐ mehr die Fortsetzung eines fehlenden Textes. Die Wahrnehmung, dass es sich jeweils um einen Haupttext mit einem Kommentar oder einer Annotation han‐ delt, wird dann auf der dritten Seite durchbrochen, wo die roten Spalten einen ebenso umfassenden Platz einnehmen wie der schwarze Text. 446 Genet schafft durch seine binäre Anordnung eine scheinbare textuelle Simultanität, wobei 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 260 447 Burroughs / Odier: „Journey through time-space“, p. 29. 448 Vgl. Michel Bertrand: „La Sentence“, in: Marie-Claude Hubert (Hrsg.): Dictionnaire Jean Genet, Paris: Honoré Champion 2014, pp. 625-630, hier 629-630. 449 Jean Genet: „Ce qui est resté d’un Rembrandt déchiré en petits carrés …“, in: Œuvres complètes IV, Paris: Gallimard 1968, pp. 21-31. 450 Vgl. dazu auch Patrice Bougon: „Genet et Rembrandt: supplément, palimpseste, hors cadre“, in: Cycnos 11, 1 (2008), mis en ligne le 17 juin 2008, http: / / revel.unice.fr/ cycnos/ index.html? id=1377 [letztmals aufgerufen am 09. Juli 2016]. diese, wie Burroughs mit Bezug auf seine Cut-ups betont, bei der Lektüre kaum praktikabel sei: The concept of simultaneity cannot be indicated on a printed page except very crudely through the use of columns and even so the reader must follow one column down. We’re used to reading from left to right and then back, and this conditioning is not easy to break down. 447 In Hinblick auf das fragmentierte Textgefüge äußert Michel Bertrand die An‐ nahme, dass sich Genet an Derridas Biographie Glas orientiert habe. 448 Genet hatte jedoch selbst bereits zuvor in seinem erstmals 1967 in der Zeitschrift Tel Quel publizierten Essay „Ce qui est resté d’un Rembrandt déchiré en petits carrés et foutus aux chiottes“ 449 die Gegenüberstellung zweier inhaltlich divergierender Texte in zwei Spalten angewandt, die dadurch eine eigentümliche, symbiotische Beziehung abbilden. Genet kombiniert eine autobiographische Erzählung über eine seine eigene Identität und Beziehung zum Anderen erhellende Begegnung mit einem Fremden in einem Zugabteil und einen Kommentar über das Leben und das Werk - insbesondere die Selbstporträts - Rembrandts. Trotz dieser the‐ matischen Abweichung assoziiert der Leser beide textuellen Einheiten über eine gemeinsame thematische Schnittstelle, nämlich den Blick. 450 Dieses assoziative Verknüpfen determiniert auch die Leseerfahrung in La Sentence, wo die Be‐ freiung von der westlichen Moralvorstellung das Bindeglied konstituiert. Wäh‐ rend Burroughs auf Basis seiner Cut-up-Collagen die ursprünglichen Assozia‐ tionsketten durchbricht, um die vom westlichen Sprachsystem ausgehenden Kontrollmechanismen unschädlich zu machen, schafft Genet gezielt neue asso‐ ziative Verknüpfungen, indem er Textkombinationen erstellt. Da nämlich, wo der Leser aufgrund der typographischen Anordnung einen Schnitt wahrnimmt, erwachsen durch die binäre Lektüre im Geiste thematische Assoziationen. Auch jene Manuskriptseiten, die auf den ersten Blick der von Burroughs als Basis-Cut-up beschriebenen Methode der Vierteilung eines Textes gleichen, - „[t]he simplest cut / up cuts a page down the middle into four sections. Section 1 is then placed with section 4 and section 3 with section 2 in a new se‐ 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 261 451 Burroughs: „Electronic Revolution 1970-71“, p. 178. 452 Vgl. Genet: La Sentence, p. 22. 453 Ibid. quence“ 451 - entspringen einem anderen ästhetischen Prinzip. So etwa setzt sich rund die Hälfte der Manuskriptseiten in La Sentence aus vier Textblöcken zu‐ sammen. Davon besteht die erste viergliedrige Manuskriptseite aus einer typo‐ graphisch rot abgesetzten und in Spalten dargestellten Einheit in der oberen linken Hälfte, einer darunter angeordneten Passage als inhaltliche Fortsetzung der vorherigen Seite sowie deren Fortsetzung in der oberen rechten Hälfte und einer weiteren Texteinheit in der unteren rechten Hälfte, die keine unmittelbare Folge repräsentiert und unvollendet mit einer Suspension endet. 452 In nuce ent‐ hält die rote Textspalte im ersten Satz einen rätselhaft verschlüsselten Hinweis zur Lektüre bereit: „Par ‚mutations brusques‘, par ‚saute‘, voilà ce qu’on dit quand on ne sait pas lire l’écriture arachnéenne qui semble disparaître quand on la recherche afin qu’aucun être ne soit isolé, détaché de l’être.“ 453 Mit dem Begriff der ‚écriture arachnéenne‘ beschreibt Genet terminologisch die aufgrund der plötzlichen Umbrüche als sprunghaft wahrgenommene textuelle Struktur, welche, wie er es ausdrückt, zu verschwinden scheint, wenn man sie sucht. Da‐ durch suggeriert er die Existenz eines transparenten (Spinnen-)Netzes, welches die einzelnen textuellen Einheiten zwar zusammenhält, deren Kontinuität je‐ doch sogleich wieder dekonstruiert wird. Genets auf Sprüngen und Umbrüchen basierende spinnenartige Schreibweise definiert die Komposition von La Sen‐ tence selbst. Auf der hier beschriebenen viergliedrigen Seite eröffnen sich dem Leser so insgesamt drei unterschiedliche Sequenzen, eine fortlaufende und als Haupttext interpretierbare Textspur, eine aufgrund ihrer erklärenden Funktion als Kommentar klassifizierbare und farblich hervorgehobene Einheit und eine dritte Sequenz, welche zunächst den Beginn eines Haupttextes zu markieren scheint, jedoch dann abrupt abreißt. Die aus der Zusammenführung dieser frag‐ mentierten Textspuren entspringenden formalen Brüche zeichnen sich auf in‐ haltlicher Ebene durch eine thematische Zusammengehörigkeit aus und bilden so das von Genet als typisches Phänomen beschriebene Suchen nach dieser auf Unterbrechungen beruhenden Schreibweise und deren in der Suche imma‐ nenten Verschwindens ab. Brüche und assoziative Verknüpfungen stützen ei‐ nander und heben sich zugleich gegenseitig wieder auf. Wenn auch die Kritik an der westlichen Kultur in jeder einzelnen Sequenz ablesbar ist, nämlich in Hinblick auf die Versklavung der afroamerikanischen Bevölkerung und den schwelenden Rassenkonflikt in den USA , mit Bezug auf die historisch und re‐ ligiös verankerte Zeremonie des Urteilsspruches vor Gericht sowie als Vergleich zwischen Islam und okzidentalem Kult, so kristallisiert sie sich eminent ausge‐ 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 262 454 White: Genet, p. 666. 455 Ibid., p. 667. 456 Burroughs: My Education, p. 6. prägt in der durch die Juxtaposition erzielten Mehrschichtigkeit als das einer gemeinsamen Quelle des Übels entspringende, bindende thematische Glied he‐ raus. Burroughs und Genets Prinzipien der Fragmentierung richten sich beide gegen die in der Sprache sichtbare okzidentale Denkweise. White zufolge ori‐ entierte sich Genet bei der Gestaltung seines Manuskriptes an einigen arabi‐ schen Büchern, deren Entdeckung er Mitte der siebziger Jahre gemacht hatte: During the mid-1970s Genet copied out neatly by hand or had typed some thirty large pages. Genet had seen beautiful books in Arabic written in different colours. Now he wanted to re-create this typographical beauty and complexity. He had four pages composed by the eminent typographer Massin to see what they would look like. When he saw the four pages he said he would think the whole project over. It was never discussed again. 454 Als Gründe für die Aufgabe des Projektes nennt White den hohen Kostenauf‐ wand eines großformatigen, zweifarbig gedruckten Buches, das aus Kosten‐ gründen niemals die gewünschten Adressaten erreicht hätte: Genet realized a large-format book in two colours would never be affordable to the readers he hoped to address, so he decided to present his ideas of a deconstructed, decentred text - polyvalent, polyvocal, freed of temporal and logical restraints - in a normal format; this conception would determine the organization of Prisoner of Love. 455 Genet übernimmt in Un captif amoureux daher alleine die Idee eines fragmen‐ tierten, dezentralen Textes, der sich durch seine Mehrstimmigkeit und in Hin‐ blick auf Zeit und Logik offene Form charakterisiert, wie White richtig erkennt. Die aufwendige Druckweise in unterschiedlichen Farben, typographischen Zei‐ chen und Spalten jedoch gibt er zugunsten einer weniger aufwendig zu gestal‐ tenden Abfolge einzelner Textfragmente auf. Ebenjenes Prinzips bedient sich Burroughs unter Rekurs auf Un captif amoureux in My Education. A book of dreams. In einer Textpassage leitet er einige Reflexionen über Genets politische Position mit dem Satz ein, „[t]houghts that arise palpable as a haze from the pages of Jean Genet’s Prisoner of Love“ 456 , welcher sich gleichsam auf die struk‐ turelle Formatierung des Textes anwenden ließe. Tatsächlich distanziert sich Burroughs von Genets politischem Engagement, das jedoch nicht nur auf in‐ haltlicher Ebene, sondern auch gerade für die Genese der Form in Un captif amoureux einen konstitutiven Charakter hat. Denn die politische Thematik und 3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik 263 3.4 die fragmentierte Form bedingen einander. So kann beobachtet werden, wie sich die politischen Konzepte in einer poetisch-narrativen Form aufheben, wie im nachfolgenden Kapitel beleuchtet wird. Burroughs, bei dem sich Gesellschafts‐ kritik und Sprachkritik vor dem Hintergrund eines dehnbaren Politikbegriffs decken, entwickelt in My Education. A book of dreams unabhängig von jedweden politischen Fragestellungen seinen dezentralen Schreibstil weiter. Trotz der for‐ malen und politischen Unterschiede beider ästhetischen Konzepte können so‐ wohl Burroughs’ Cut-ups als auch Genets als ‚écriture arachnéenne‘ beschrie‐ bener Stil ausgehend von ihrem Anspruch als antiwestliche Schreibarten bezeichnet werden. Zwischenbilanz Jean Genets Situierung im gegenkulturellen Feld in den USA lässt sich über dessen Funktion als Vordenker für die Entwicklung der Gegenkultur und als Akteur erschließen. Dabei wurde die Gegenkultur zunächst als zugleich kulturelles und politisches Phänomen historisch eingeordnet und ihre Dynamisie‐ rung zu einer sozialen Bewegung über den für diesen Prozess als Katalysator operierenden Vietnamkrieg beschrieben. Für ihre Genese in den USA spielen aus literaturwissenschaftlicher Sicht die amerikanischen Autoren der Beat Ge‐ neration eine identitätsstiftende Rolle. Aus verlagsgeschichtlicher Perspektive lässt sich Genet in den USA in deren literarischem Umfeld verorten, wie insbe‐ sondere in Hinblick auf das sich zu einem maßgeblichen gegenkulturellen Organ entwickelnde Verlagshaus Grove Press ermittelt werden kann. Auch Genets erster journalistischer Auftrag in einem Team aus bei Grove Press publizierten Autoren für das amerikanische Magazin Esquire lässt sich vor dem Hintergrund dieses in der Öffentlichkeit wirksamen Images erklären. In Analogie zum vo‐ rausgegangenen Kapitel wurde Genets Positionierung im gegenkulturellen Feld mithilfe interpersonaler und intertextueller Bezüge zu den beiden Beat-Autoren Allen Ginsberg und William S. Burroughs erschlossen, wobei der Fokus auf deren Funktion als Akteure in der gegenkulturellen Öffentlichkeit in den sech‐ ziger und frühen siebziger Jahren liegt. Die Wahl dieser beiden Autoren recht‐ fertigt sich sowohl durch die Bedeutung von Genets literarischem Werk, das beiden als Inspirationsquelle diente, als auch durch deren öffentliche Rolle als Größen der amerikanischen Gegenkultur und, in Ginsbergs Fall, als politischer Aktivist. Genet gehört zu jenen Persönlichkeiten, die Eingang in Ginsbergs per‐ sönliches Pantheon finden und auf die er explizit in einigen Gedichten aus den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren rekurriert. Dabei wird Genet in 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 264 diesen Gedichten im Zusammenhang mit einer Zensurkritik von gesellschafts‐ politischer Relevanz genannt und einer Publikation seiner Werke wird ein be‐ wusstseinsveränderndes Potential zugesprochen. Burroughs wiederum rezi‐ piert Genets Werk vornehmlich in Hinblick auf die Darstellung des homosexuellen Liebesaktes sowie auf dessen sprachlich-ästhetischen Ansatz, der darin besteht, in einem hohen - und damit eine spezifische Leserschaft an‐ sprechenden - Sprachregister ein provokatives Sujet sowie Mechanismen der Marginalisierung zu präsentieren. Die interpersonalen Beziehungen basieren insbesondere auf dem Zusam‐ mentreffen aller drei Autoren während des Nationalen Parteitages der Demo‐ kraten in Chicago 1968, der sich zu einer Zusammenkunft gegenkultureller De‐ monstranten und Antikriegsgegner entwickelt, sowie während Genets zweiter Reise in die USA im Rahmen seiner Kampagne zur Popularisierung der Black Panther Party, bei der er alleine auf Ginsberg trifft. Anders als zu Sartre oder Foucault steht Genet in keinem Spannungsverhältnis zu den beiden Autoren und alle drei verbindet ein Selbstverständnis als Schriftsteller, mithilfe dessen sie ihre öffentliche Rolle deuten und determinieren. Genets Autodesignation als Vagabund bedient einen gegenkulturellen Topos und beschreibt ein auch bereits in den frühen autofiktionalen Romanen entworfenes Selbstbild als Dieb und wohnsitzloser Umherziehender, dient ihm im politischen Kontext aber tatsäch‐ lich zur Entpolitisierung bzw. Ästhetisierung seiner öffentlichen Haltung. Mit diesem Selbstentwurf des ‚vagbond‘ und ‚voleur‘ ist in den Reden und Texten darüber hinaus eine bestimmte Perspektive verknüpft, aus welcher die Wahr‐ nehmungen aus einer herausgehobenen und in Bewegung befindlichen Position geschildert werden. Eine ähnliche Perspektivierung kennzeichnet auch viele in den sechziger und frühen siebziger Jahren entstandene und als ‚auto-poesy‘ be‐ zeichnete Gedichte Allen Ginsbergs, die aus der Sicht des in unterschiedlichen Verkehrsmitteln befindlichen, reisenden Beobachters verfasst wurden. Im Un‐ terschied zu Genet betrachtet Ginsberg seine Lyrik jedoch sowohl als spirituelle Projektionsfläche, als auch als öffentliche Aufgabe und Möglichkeit, die gesell‐ schaftlichen Veränderungen voranzutreiben, so dass die überblickende Perspek‐ tive aus dem Flugzeug in einigen Gedichten Ausdruck eines planetarisch-glo‐ balen Umweltbewusstseins ist. Diese unterschiedlichen gesellschaftskritischen und politischen Haltungen manifestieren sich auch in den aus Anlass des Par‐ teikonvents der Demokraten veröffentlichten Texten, in denen sie insbesondere durch die subjektive Erzählperspektive indiziert werden. Genets und Burroughs’ Reportagen für Esquire sind im Grenzbereich zwi‐ schen Journalismus und Literatur zu situieren und können als Varianten eines impressionistischen Journalismus interpretiert werden, ein Begriff, den Hollo‐ 3.4 Zwischenbilanz 265 well im Rahmen seiner Untersuchungen zum Stil des die journalistischen Re‐ portagen der sechziger Jahre in den USA tendenziell bestimmenden New Jour‐ nalism prägt. Der symptomatische Verzicht auf eine objektive Repräsentation von Fakten und Ereignissen zugunsten einer subjektiven Impression der Ge‐ schehnisse äußert sich in beiden Artikeln in der Inszenierung der eigenen Rolle. So berichtet Genet aus der Sicht des Feindes der amerikanischen Polizei, welche als machtstaatliches Emblem der amerikanischen Gesellschaft typisiert wird, und Burroughs aus der Perspektive des ‚exterminators‘, eine Autodesignation, der eine kontextuell bedingte Doppeldeutigkeit zukommt. So variiert die Be‐ deutung in Abhängigkeit vom Publikationskontext: Im journalistischen Artikel kommt dem Begriff eine aus der Aktivität als Reporter resultierende Bedeutung zu, und der Schwerpunkt wird auf das Experimentieren mit auditiven Cut-ups gesetzt, wohingegen mit der Aufnahme des Textes in Exterminator! aufgrund des narrativen Kontextes die Bedeutung des Kammerjägers im Vordergrund steht. Aus dieser selbstinszenierenden Perspektive resultiert eine Verknüpfung der beobachtenden und der erzählenden Instanz, welche auch der realitätsbe‐ zogenen Darstellung ihr Gepräge gibt. Mithilfe verschiedener rhetorisch-poe‐ tischer Stilmittel wird die Realität in unterschiedlichem Grad fabulierend aus einer grundsätzlich feindlich-kritischen Sicht präsentiert. Beiden Texten ge‐ meinsam ist auch die Intention, eine Gegenberichterstattung zu den offiziellen Fernsehbildern zu schaffen und den Blickpunkt auf jene Elemente zu richten, die dort nicht berücksichtigt werden. Im Vergleich zu den journalistischen Ar‐ tikeln von Genet und Burroughs sind Ginsbergs vor dem Hintergrund des Par‐ teikonvents entstandene Gedichte als ereignisinspirierte Poesie zu bezeichnen, auch wenn Ginsberg selbst sie als Reportage beschreibt. Sein lyrisches Darstel‐ lungsprinzip widersetzt sich dem mimetischen Konzept der Repräsentation von Wirklichkeit zwecks einer sensorisch-subjektiv gefilterten Abstraktion der Ereignisse und ihrer Wahrnehmung. Durch seine eigene, in der Selbstbespiege‐ lung als ‚Angel King‘ zum Vorschein tretende Haltung wird die Funktion des neutralen Beobachters in einer poetisch-religiösen Projektion überschrieben. Ginsbergs Situierung innerhalb des polarisierten Gesellschaftsbilds, welches bei allen drei Autoren im Kern der Berichterstattung steht, zeichnet sich durch eine pazifistische Positionsnahme aus, wohingegen Genet und Burroughs stärker ihre Hostilität gegenüber einer polizeistaatlichen und restriktiven Gesellschafts‐ ordnung zum Ausdruck bringen. Der für das gegenkulturelle Feld der sechziger Jahre charakteristische dis‐ kursive Gegenstand besteht in einer antiamerikanischen Kritik, welche insbe‐ sondere aus den polarisierenden Auswirkungen des Vietnamkriegs resultiert. Dieser wird als symptomatisch für die militaristisch-imperialistische Politik und 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 266 Gesellschaft der USA betrachtet, so dass der Antiamerikanismus sich gegen die so ausgeprägte Gesellschaftsform richtet und in eine nicht klar umrissene Kritik gegenüber dem ‚Westen‘ mündet. Insbesondere Genets politische Texte kenn‐ zeichnen sich durch eine offen antiamerikanische sowie antiwestliche Haltung, und er legitimiert seine publizistische Aktivität unter Rekurs auf die kritische Haltung gegenüber den USA . Sein Artikel über den Vietnamkrieg inszeniert diese Amerikakritik jedoch derart prononciert, dass dessen Publikation, ver‐ mutlich durch die Atmosphäre dieser starken gesellschaftlichen Spaltung be‐ dingt, von dem etablierten Esquire-Magazin in die Untergrundpresse verwiesen wird. Aus einer komparativen Gegenüberstellung ausgewählter Texte von Genet, Ginsberg und Burroughs geht hervor, dass alle drei Autoren die im Vi‐ etnamkrieg kulminierende Kritik an der amerikanischen bzw. westlichen Ge‐ sellschaft mit einem je unterschiedlich ausgeprägten sprachkritischen Ansatz verknüpfen. Wie herausgearbeitet werden konnte, bewertet Genet den Viet‐ namkrieg als Symptom der amerikanischen Kultur und bedient damit einen für die Protestbewegung typischen Topos. Er betrachtet den militärischen Konflikt in Vietnam in diesem Verständnis als Kampf zwischen zwei Zivilisationen bzw. Kulturen, den er darüber hinaus mithilfe eines sprachlichen Konfliktes zwischen den poetisch agierenden Soldaten des Vietcongs sowie den Hippies auf der einen Seite und den sprachlich inkompetenten Amerikanern auf der anderen Seite illustriert. Darin manifestiert sich auch das seinem Poesiebegriff inhärente Kon‐ zept des Widerstandes, welches sich von Ginsbergs Ansatz maßgeblich unter‐ scheidet. Ginsberg identifiziert den Vietnamkrieg nämlich als ein aus einem kommunikativen Versagen der amerikanischen Politiker sowie der medialen Manipulation von Sprache resultierendes Phänomen, das für ihn einer negativen Form der Poesie, einer Sprache des Krieges, entspricht. Diese kontrastiert er mit seinem unter Rekurs auf die buddhistische und hinduistische Theorie des Mantras entwickelten Konzept einer performativ operierenden, poetischen Ge‐ genstimme. Da Ginsberg den militärischen Konflikt auf ein sprachlich-kommu‐ nikatives Defizit zurückführt, liegt für ihn dessen Lösung ebenfalls im sprach‐ lich-poetischen Bereich, wohingegen Genet seiner eigenen Rolle als Schriftsteller nur einen geringfügigen Einfluss auf die politischen Entwick‐ lungen zuerkennt. Poesie bleibt für ihn an eine Hostilität und Destruktion ge‐ knüpft. Genet prognostiziert in den frühen, in Chicago entstandenen Texten einen Verfall der amerikanischen Gesellschaft und Kultur - ähnlich wie auch Ginsberg in der Gedichtsammlung The Fall of America - und bewertet diesen jedoch als Voraussetzung einer umfassenden gesellschaftlichen Veränderung durch die als Hoffnungsträger gekennzeichneten gegenkulturellen und revolu‐ tionären Gruppierungen. Dahingegen spiegelt sein 1974 im französischen Wahl‐ 3.4 Zwischenbilanz 267 kampf veröffentlichter Artikel, in welchem er einen Vergleich zur politischen Situation in Chicago zieht, eine resignierte Bilanz wider, werden die revolutio‐ nären Kräfte hier als eingedämmt beschrieben. Wenn auch Ginsberg Burroughs’ Cut-up-Methode als politische Waffe im Kampf gegen die bewusstseinsmani‐ pulierenden Medien begreift und gerade in seinen während des Vietnamkrieges veröffentlichten Gedichten auf ihn Bezug nimmt, ist ein Konflikt für Burroughs, sobald er den politischen Bereich tangiert, nicht mehr sprachlich lösbar. Seine in den Cut-up-Experimenten sichtbare Kritik kann nicht direkt als antiameri‐ kanisch, sondern eher als antiwestlich definiert werden, richtet sie sich doch gegen den in der Sprache abgebildeten westlichen Denk- und Rationalisierungs‐ prozess. Ähnlich wie auch bereits in seinen frühen Werken bzw. Aussagen re‐ kurriert Burroughs in Hinblick auf seine Sprachbzw. Mentalitätskritik auf Ge‐ nets Werk. So lässt er sich bei der Entwicklung eines seiner späten Werke von der fragmentierten Struktur in Genets Un captif amoureux inspirieren, wenn er auch dessen politische Thematik ablehnt. Eine Analyse der Genese von Un captif amoureux anhand der mit dem Titel La Sentence abgedruckten Manuskripte zeigt, dass Genet diesen auf Brüchen und Fragmenten basierenden Stil, diese ‚écriture arachnéenne‘ selbst als antiwestliche Schreibart konzipiert. Stärker als im Vergleich mit Sartre und Foucault konnte folglich in diesem Kapitel das Spannungsverhältnis zwischen politischen und ästhetischen Konzepten in Ge‐ nets Texten diskutiert werden, welches auch gerade für die Entstehung von Un captif amoureux von Bedeutung ist. So soll das nachfolgende Kapitel den Vor‐ gang der ästhetischen Aufhebung von politischen Konzepten in diesem letzten Werk beleuchten. 3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA 268 1 Vgl. Hélène Baty-Delalande: „Introduction au dossier de presse: les masques de Genet au miroir de la critique“, in: Agnès Fontvieille-Cordani / Dominique Carlat (Hgg.): Jean Genet et son lecteur. Autour de la réception critique de Journal du voleur et Un captif amoureux, Saint-Etienne: Publications de l’Université de Saint-Etienne 2010, pp. 19- 29, hier 24-25. 2 Stéphane Baquey: „Un captif amoureux“, in: Marie-Claude Hubert (Hrsg.): Dictionnaire Jean Genet, Paris: Honoré Champion 2014, pp. 125-129, hier 127. 3 Vgl. Werner Wolf: „Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen: ein Systematisierungsversuch metareferentieller Formen und Begriffe in Literatur und anderen Medien“, in: Janine Hauthal et al. (Hgg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen - Historische Perspektiven - Metagattungen - Funkti‐ onen, Berlin: De Gruyter 2007, pp. 25-64, hier 32. 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» In seinem letzten, 1986 kurz nach seinem Tod veröffentlichten Werk Un captif amoureux, das, wie die rezeptionskritische Analyse von Agnès Fontvieille-Cor‐ dani und Dominique Carlat zeigt, zum Zeitpunkt seiner Publikation von den Kritikern als politisches Testament bezeichnet wurde, 1 zieht Jean Genet eine literarische Bilanz aus dem Jahrzehnt seiner politischen Positionierung. Das durch die paratextuellen Verweise „souvenirs I“ und „souvenirs II “ zu losen Er‐ innerungen stilisierte Werk kennzeichnet sich folglich durch eine zeitliche Dis‐ tanz zu Genets politischen Interventionen in den frühen 1970er Jahren und stellt eine retrospektive Reflexion seiner Rolle innerhalb der einzelnen revolutionären Bewegungen dar, wie auch Stéphane Baquey richtig konstatiert: „En un sens, on peut distinguer le moment des révolutions et de leur écriture immédiate, entre 1967 et 1972, et celui d’une reprise distanciée de cette matière.“ 2 Ebenjene von Baquey evozierte distanzierte Wiederaufnahme des politisch-journalisti‐ schen Materials soll in Hinblick auf die metatextuelle Struktur von Un captif amoureux näher beleuchtet werden. Es soll daher die These aufgestellt werden, dass in Un captif amoreux eigene, im Kontext des revolutionären Diskurses ent‐ standene Schriften metaisiert werden, und ermittelt werden, inwieweit die dis‐ kursiven Gegenstände und Konzepte der politischen Interventionen im letzten Werk aufgenommen und umgestaltet werden. Die nach Werner Wolf 3 vorge‐ nommene Unterscheidung zwischen werkinternen und werkexternen Selbstre‐ ferenzen bietet die theoretische Grundlage für die Untersuchung jener textu‐ 4 Janine Hauthal: „Metaisierung in Literatur und anderen Medien: Begriffsklärungen, Typologien, Funktionspotentiale und Forschungsdesiderate“, in: Id. et al. (Hgg.): Meta‐ isierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen - Historische Per‐ spektiven - Metagattungen - Funktionen, Berlin: De Gruyter 2007, pp. 1-25, hier 4. 5 Jean Genet: „Quatre Heures à Chatila“ [1983], in: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 1991, pp. 243-264. 6 Genet: „Les Palestiniens“, pp. 89-99. 7 Genet: „Entretien avec Hubert Fichte“, pp. 141-176. 8 Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris: Seuil 1982, p. 10. ellen Verknüpfung der Interventionen aus den siebziger Jahren und des literarischen Werks auf metatextueller Ebene. Denn ausgehend von der mit Ja‐ nine Hauthal als „kognitive Reflexionsebene“ 4 zu bezeichnenden Metaebene thematisiert Genet im Modus eines werkinternen Verweises auf die Textualität des Werks die narrativ-deskriptive Aufarbeitung der Revolutionen und rekur‐ riert darüber hinaus auch in einem werkexternen Gestus auf intertextuell ver‐ arbeitete Prätexte aus dem politischen Kontext. Einen Schwerpunkt der Analyse bilden insbesondere letztere werkexterne Verweise auf die eigenen politischen Texte, anhand derer die Transformation von aus bestimmten diskursiven Kontexten stammenden politischen Konzepten und Aussagen aufgezeigt werden soll. Dazu zählen insbesondere die Texte „Quatre Heures à Chatila“ 5 , „Les Palestiniens“ 6 , ein Interview, das Genet fälsch‐ lich in der Ramparts verortet, wenngleich es tatsächlich aber Schnittmengen mit dem Fichte-Interview 7 in Die Zeit aufweist, sowie La Sentence. Bei La Sentence handelt es sich insofern um einen Sonderfall, als der Text zum Zeitpunkt der Publikation von Un captif amoureux noch unveröffentlicht war und als Vorstufe dieses letzten Werks betrachtet werden kann. In Gérard Genettes früher Definition der Metatextualität als einer von fünf Formen der Transtextualität liegt der Schwerpunkt auf der kritischen Relation zweier unterschiedlicher Texte, von denen einer als Kommentar des anderen bewertet wird: Le troisième type de transcendance textuelle, que je nomme métatextualité, est la relation, on dit plus couramment de ‚commentaire‘, qui unit un texte à un autre texte dont il parle, sans nécessairement le citer (le convoquer), voire, à la limite, sans le nommer. […] C’est par excellence la relation critique. 8 Diese Definition der Metatextualität als kritische Textbeziehung zweier unter‐ schiedlicher Texte wird in der neueren Forschung ergänzt durch die kritische Selbstreferenz eines Textes, nämlich der „relation d’un texte vis-à-vis de 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 270 9 CRILA (Centre de Recherches Inter-Langues d’Angers): Métatextualité et Métafiction. Théorie et analyses, Rennes: Presses universitaires 2002, p. 10. 10 Wolf: „Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen“, p. 59. 11 Vgl. ibid., pp. 40-42 und 44. 12 Vgl. Oliver Scheiding: „Intertextualität“, in: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hgg.): Ge‐ dächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlagen und Anwendungs‐ perspektiven, Berlin: De Gruyter 2005, pp. 53-72, hier 57. 13 Foucault: L’archéologie du savoir, p. 178-179. Hervorhebung im Original. 14 Knut Ebeling / Stephan Günzel: „Einleitung“, in: Id. (Hgg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin: Kamos 2009, pp. 7-26, hier 17. lui-même ou de son architexte“ 9 . Die Durchdringung dieser beiden Formen der metatextuellen Verweisfunktion - der werkinternen und der werkexternen -, wie sie in Un captif amoureux zu beobachten ist, bietet die Möglichkeit, jenem Forschungsdesiderat von Wolf nachzugehen, welches den „Zusammenhang zwischen Metaisierung und besonders häufigen Formen medialer Selbstrefe‐ rentialität“ 10 erschließen möchte, wie etwa der Intertextualität und der mise en abyme. Tatsächlich weist insbesondere die werkexterne Metareferenz mit ihrer Charakteristik als einer metatextuellen Bezugnahme auf jenseits des Werks be‐ findliche Elemente und Aspekte Analogien zur kritischen intertextuellen Be‐ zugnahme auf, wie Wolf anhand der Parodie exemplifiziert. 11 Während Genette die Intertextualität und die Metatextualität als zwei Konzepte der textuellen Be‐ zugnahme voneinander differenziert, betont Wolf deren Schnittmenge hinsicht‐ lich ihrer kritischen Verweisstrategie. Un captif amoureux in seiner Funktion einer politischen Bilanz vereint im Spiel mit der Umformung und literarischen Rekontextualisierung von Aussagen beide Konzepte der Relationierung von Texten, wenn diese auch weniger in Bezug auf den poststrukturalistischen Leit‐ satz eines universellen Intertextes bewertet werden sollen, denn als narratives Prinzip einer diskurskritischen Distanzierung. Das Phänomen der Transforma‐ tion von politischen Aussagen aus der zeitlichen Distanz öffnet nicht nur einen intertextuellen Gedächtnisraum nach Scheiding 12 , sondern lässt sich auch unter Rekurs auf Foucaults Begriff des Archivs näher beschreiben. So bildet das Archiv nach Foucault das System der Formation und Transformation von Aussagen, nämlich „le système général de la formation et de la transformation des énoncés“ 13 . Wie Ebeling und Günzel mit Bezug auf dieses Zitat anmerken, kennzeichnet Foucaults Archivbegriff im Gegensatz zum institutionellen Archiv und dessen Vorgang der Speicherung von Wissen „den Prozess einer (Um-)Schreibung“ 14 , insofern er nämlich die Regeln des Auftretens und Verschwindens von Aussagen bezeichnet. Foucault betont dabei die Bedeutung des Zeitfaktors für die Trans‐ formierbarkeit des Aussagensystems, welcher eine Distanzierung und kritische Beschreibung des Diskurses überhaupt erst ermöglicht: 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 271 15 Foucault: L’archéologie du savoir, p. 179-180. 16 Ebeling / Günzel: „Einleitung“, p. 20. 17 Vgl. Linda Hutcheon: The Politics of Postmodernism, London / New York: Routledge 2 2002, pp. 75-88. 18 Ibid., p. 78. L’analyse de l’archive comporte donc une région privilégiée: à la fois proche de nous, mais différente de notre actualité, c’est la bordure du temps qui entoure notre présent, qui le surplombe et qui l’indique dans son altérité; c’est ce qui, hors de nous, nous délimite. La description de l’archive déploie ses possibilités (et la maîtrise de ses possibilités) à partir des discours qui viennent de cesser justement d’être les nôtres; son seuil d’existence est instauré par la coupure qui nous sépare de ce que nous ne pouvons plus dire, et de ce qui tombe hors notre pratique discursive; elle commence avec le dehors de notre propre langage; son lieu, c’est l’écart de nos propres pratiques discursives. 15 Foucaults Konzept des Archivs wird somit durch den Abstand zu den eigenen diskursiven Praktiken erfahr- und beschreibbar. Ebeling und Günzel heben auch hervor, dass das Konzept durch „die Fixierung von Foucaults Archivbegriff auf die Grenzen des Sprechens und Sagens […] dem Paradigma des Textes ver‐ haftet“ 16 bleibt. Im Unterschied jedoch zu Hutcheon, die in ihrer Studie zur post‐ modernen Ästhetik das Archiv im Zusammenhang mit einem rein textuell fundierten Vergangenheitsbegriff selbst als Text versteht, 17 stehen bei Foucault die Beschreibbarkeit des Archivs als ein in sich abgeschlossenes, diskurshistorisch determiniertes Aussagensystem sowie die Frage nach der Transformation von Sagbarkeiten im Vordergrund der Definition. Hutcheon wiederum beruft sich auf das postmoderne Verständnis eines Darstellungsprinzips, wonach Realität und Vergangenheit als diskursives und textuelles Konstrukt begriffen werden, interpretiert dies aber als gestalterisch-narratives Phänomen. Das textuelle Ar‐ chiv nach Hutcheon ist gleichsam ein Element der für die Postmoderne symp‐ tomatischen historiographischen Metafiktion, welche ein intertextuelles Netz abbildet: „If the past is only known to us today through its textualized traces […], then the writing of both history and historiographic metafiction becomes a form of complex intertextual cross-referencing that operates within […] its unavoi‐ dably discursive context.“ 18 Genets metareferentieller Text Un captif amoureux inszeniert keinen textuell determinierten Vergangenheitsbegriff und kann auch nicht als Netz intertextueller Verweise verstanden werden, sondern die Ver‐ weisfunktion beschränkt sich auf eigene, zur Genese des Werks beitragende politische Texte. Die metareferentiell produzierte Selbstreflexivität des Textes rückt den Schwerpunkt auf die Entstehung, Funktions- und Wirkungsweise des Werks. Tatsächlich erwächst Un captif amoureux aus ebenjener auf der Meta‐ 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 272 19 Genet: Un captif amoureux, p. 311. 20 Jérôme Neutres: „Un captif amoureux ou les Antimémoires de Jean Genet“, in: Ralph Heyndels (Hrsg.): Les passions de Jean Genet. Esthétique, poétique et politique du désir, Fasano / Paris: Schena Editore / Alain Baudry 2010, pp. 147-161, hier 158. 21 Genet: Un captif amoureux, p. 37. ebene sichtbaren Distanz, welche eine Transformation seiner politischen Aus‐ sagen ermöglicht und bewirkt. Auch der Titel übt dahingehend eine program‐ matische Funktion aus, wird er doch im Werk selbst in Bezug auf den Prozess der Desillusionierung erklärend reflektiert und symbolisiert ein Moment der Distanzierung vom eigenen politischen Engagement: „Peu à peu je me vis changer, surtout après la guerre de 1973. Encore charmé, pas convaincu, séduit, pas aveuglé, je me conduisais plutôt en captif amoureux.“ 19 Bei der Bezugnahme auf den Archivbegriff nach Foucault muss auch die Literarizität des Werks be‐ rücksichtigt werden, das innerhalb fiktionaler Rahmenbedingungen eine Trans‐ formation des politischen Aussagensystems aufzeigt. Während nämlich Genets faktische politische Interventionen teilweise durch literarische Charakteristika durchzogen sind, handelt es sich bei Un captif amoureux um ein fiktionales Werk, dessen Genese auch aus Konzepten pragmatischer und journalistischer Texte hervorgeht. Letztere können in Bezug auf Un captif amoureux mit Jérôme Neutres als „‚fabrique‘ du texte“ 20 bezeichnet werden. Daraus ergeben sich zwei Fragestellungen, nämlich zum einen, inwieweit sich darin politische zu ästhetischen Konzepten wandeln, und zum anderen, inwie‐ weit Un captif amoureux die Bedeutung einer literarischen Intervention zu‐ kommen kann. Denn während die politischen Interventionen als Teil eines re‐ volutionären Diskurses bewusst in die Aktualität eingreifen, wird das literarische Werk aufgrund seines retrospektiven Charakters und der Inszenie‐ rung der Endlichkeit sowohl des Autors als auch der revolutionären Bewe‐ gungen durch eine Überzeitlichkeit determiniert, wie Genet am Beispiel von Alberto Giacomettis Ästhetik veranschaulicht: C’est vers minuit que Giacometti peignait le mieux. Pendant le jour il avait regardé avec une intense fixité […] chaque jour Alberto regardait pour la dernière fois, il enregistrait la dernière image du monde. En 1970 j’ai connu les Palestiniens, plusieurs responsables agacés avaient presque exigé que ce livre fût achevé. Je craignais que sa fin ne correspondît à la fin de la résistance. Non que mon livre dût montrer ce qu’elle fut. Si ma décision de rendre publiques mes années avec la résistance m’indiquait qu’elle s’éloigne? C’est qu’un innommable sentiment m’avertit: la révolte s’estompe, elle se lasse, va tourner dans le sentier et disparaître. On fera d’elle des chansons héroïques. C’est que j’ai regardé la résistance comme si elle allait disparaître demain. 21 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 273 22 Vgl. Dreyer: Révolutions! , p. 31. 23 Ibid. 24 Ibid. 25 Ibid., p. 34. 26 Vgl. ibid., p. 57. Indem im Werk die Intention des Erzählers benannt wird, das letzte Bild des palästinensischen Widerstandes einzufangen, inszeniert es sich als literarisches Begräbnis der Revolution und damit von Genets eigenem Engagement. Sylvain Dreyer etwa ordnet Genets letztes Werk den von ihm in Abgrenzung zur Sart‐ re’schen Tradition der „œuvres engagées“ als „œuvres engagées critiques“ be‐ zeichneten Texte und Filme zu. 22 Letztere definiert Dreyer durch ihre „relative indépendance idéologique, dans la lignée du ‚compagnonnage critique‘ de Sartre, mais elles mettent également en jeu un métadiscours qui interroge la légitimité et le fonctionnement de l’engagement artistique.“ 23 Die so als symp‐ tomatisch beschriebene metadiskursive Autoreflexion dieser kritisch enga‐ gierten Werke führt Dreyer zufolge nicht nur zu einer selbstkritischen Begut‐ achtung, sondern darüber hinaus zu ihrer eigenen Dekonstruktion. Unbestimmt bleibt dabei, inwiefern diese selbstreflexiven und -referentiellen Werke noch über eine interventive Wirkung und Effizienz verfügen. Dreyer spricht auch diesen kritischen Werken unter Nennung ihrer Strategie des Bezeugens und Mobilisierens eine Nähe zur engagierten Literatur zu: [C]ertes, ces textes et ces films ne renoncent pas à la fonction traditionnelle de l’œuvre engagée (témoigner et mobiliser) mais ils s’intéressent en même temps aux problèmes d’idéologie et de genre des images, en proposant une critique des représentations de l’ennemi, mais aussi des représentations des révolutionnaires […]. Enfin, les œuvres engagées critiques vont jusqu’à se prendre elles-mêmes comme discours idéologique à défaire. 24 Dabei attestiert Dreyer Genets Text eine Sonderstellung, da er Un captif amou‐ reux zum einen als „œuvre terminale de l’engagement critique“ 25 bezeichnet und zum anderen auf die gattungsspezifische Hybridität des Werks verweist, das für ihn zwischen einem „reportage engagé“ und einer „autobiographie désengagée“ oszilliert. 26 Er stellt so die Textgattung sowie die Relationalität des Autors bzw. der Erzählinstanz zum thematischen Hauptgegenstand, nämlich den revolutio‐ nären Bewegungen und insbesondere dem palästinensischen Widerstand, in den Vordergrund seiner werkklassifizierenden Überlegung. Im Lichte dieses Span‐ nungsverhältnisses zwischen Reportage und Autobiographie betont Dreyer den wechselnden Fokus auf eine selbstreflexive Erzählform einerseits und eine the‐ menbezogene Berichterstattung andererseits, wodurch die Frage des literari‐ 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 274 27 Genet: Un captif amoureux, p. 421. 28 Ibid., p. 491. 29 Ibid., p. 610. 30 Ibid., p. 15; 50. 31 Ibid., p. 37. 32 Baquey: „Un captif amoureux“, p. 125. 33 Ibid. schen Engagements einer inneren Widersprüchlichkeit verhaftet bleiben muss. Genet selbst rekurriert innerhalb des Textes auf unterschiedliche gattungsspe‐ zifische Erzählformen und bezeichnet diesen mal als „livre de voyage“ 27 , mal als „livre de souvenirs“ 28 - was zusätzlich durch die paratextuellen Hinweise un‐ termauert wird - sowie als „reportage“ 29 , mehrfach als „témoignage“ 30 und auch als „chanson héroïque“ 31 . Diese mehrdeutige Gattungszuschreibung entsteht, so die These, durch die aus den unterschiedlichen Facetten seiner politischen In‐ terventionen generierten diskursiven Verschränkungen. Wie in der nachfol‐ genden Analyse genauer herausgearbeitet wird, kristallisiert sich so zum Bei‐ spiel in der Gattung des Reiseberichts die von Genet in den politischen Schriften eingenommene Haltung des Reisenden und Vagabunden heraus, in der Repor‐ tage seine Perspektive als Journalist, die auch den Augenzeugenbericht tangiert, in welchem zusätzlich jedoch seine Rolle als Zeuge vor Gericht rezipiert wird. Die fragmentierte Textstruktur wird von verschiedenen Entstehungsschichten bzw. „stratifications de l’écriture“ 32 durchzogen, die an unterschiedliche Ur‐ sprünge anknüpfen, wie auch Baquey in seinem Beitrag verdeutlicht: So benennt er als Elemente dieser „genèse plurivoque“ 33 Genets in L’Ennemi déclaré vereinte politische Texte, die unter dem Titel La Sentence veröffentlichten Manuskripte aus der Mitte der siebziger Jahre sowie insbesondere auch seine Berichterstat‐ tung zu den Massakern in den palästinensischen Lagern von Sabra und Schatila 1982. Der Frage nach der interventiven Funktion des Werks soll daher mit Bezug auf dessen metatextuelle Struktur und das veränderte Aussagensystem nach‐ gegangen werden. Die textuelle Verankerung des Werks wird in der nachfol‐ genden Analyse der werkexternen Metareferentialität in Un captif amoureux mit Blick auf die veränderte Wirkungsweise ausgewählter Schlüsseltexte näher be‐ leuchtet werden. 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 275 34 Vgl. Zamour: „L’expérience au risque de l’histoire“, p. 156. 35 Vgl. Clare Finburgh: „Jean Genet and the Poetics of Palestinian Politics: Statecraft and Stagecraft in ‚Quatre Heures à Chatila‘“, in: French Studies LVI, 4 (2002), pp. 495-509, hier 496-497. 36 Genet: Un captif amoureux, p. 400-401. 4.1 Der Einfluss der journalistischen Reportage auf «Un captif amoureux» am Beispiel von „Quatre Heures à Chatila“ und die ästhetischen Prinzipien der Zeugenschaft Genets Reportage zu den Massakern in Sabra und Schatila mit dem Titel „Quatre Heures à Chatila“ entsteht 1982 für die Revue d’études palestiniennes und stellt aus werkgeschichtlicher Perspektive einen Wendepunkt dar, insofern Genet nämlich im Zuge seiner Reise in den Libanon seinem Filmprojekt Le Langage de la muraille definitiv den Rücken zukehrt 34 und die Ereignisse darüber hinaus als Inspirationsquelle seines letzten literarischen Werks dienen. 35 In Un captif amou‐ reux wird „Quatre Heures à Chatila“ mehrfach als Ausgangspunkt für die Ent‐ stehung des Werks genannt, und den zahlreichen Verweisen auf diesen journa‐ listischen Beitrag bzw. die darin beschriebenen Vorkommnisse kommen unterschiedliche Funktionen im Textgefüge zu. Zu unterscheiden sind jene werkbezogenen Verweise, welche die Genese von Un captif amoureux zum Zeit‐ punkt der Massaker situieren, und jene auf die Reportage verweisenden Text‐ passagen, welche als Umschreibungen des journalistischen Artikels zu charak‐ terisieren sind. Zur ersten Kategorie zählt beispielsweise ein autolegitimierender Abschnitt, in dem Genet seinen Text als ein infolge von Sabra und Schatila von der palästinensischen Bevölkerung erbetenes Auftrags‐ werk beschreibt: Après les tueries de Sabra et de Chatila en septembre 1982 certains Palestiniens me demandèrent d’écrire mes souvenirs. […] Dis exactement ce que tu as vu, ce que tu as entendu. Essaye d’expliquer pourquoi tu es resté si longtemps avec nous. Pourquoi tu es venu et si l’on veut accidentel. Tu es venu pour huit jours, pourquoi es-tu demeuré deux ans. En août 1983 j’en commençai la rédaction, tout entier revenu dans les années 70, je voyais remonter jusqu’à 83 mes souvenirs. Aidé par ces nombreux acteurs, ou témoins des faits que je rapporte je me précipitai dans la mémoire. 36 Genet benennt hier nicht nur das Blutbad als Ausgangspunkt seiner Erzählung, sondern erläutert in diesem Kontext auch die Wahl bestimmter ästhetischer Merkmale. Indem er in Aussicht stellt, der Forderung nach einer exakten Wie‐ dergabe des Gesehenen und Gehörten Folge zu leisten, rückt er den Text in die Nähe des Augenzeugenberichtes. Der Erzähler taucht in der Funktion des Be‐ 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 276 37 Ibid. 38 Ibid., p. 552. 39 Ibid., p. 610. obachters der zwischen 1970 und 1983 erlebten Ereignisse in seine Erinnerungen ein und integriert dabei auch die Erlebnisse seiner Bekanntschaften und Begeg‐ nungen in die Erzählung, welche er im begrifflichen Grenzraum zwischen Fak‐ tischem und Fiktionalem als „acteurs, ou témoins des faits“ 37 bezeichnet. Durch die ästhetische und thematische Anknüpfung an „Quatre Heures à Chatila“ kommt der journalistischen Schreibweise eine bedeutende Stellung in Un captif amoureux zu. Während das angeführte Zitat die besondere Tragweite der Re‐ portage für das literarische Werk untermauert, lassen sich andere Textpassagen anführen, die eine schrittweise Loslösung von diesem politischen Prätext an‐ deuten. So wird zu einem späteren Zeitpunkt im Textfluss die schöpferische Stoßkraft von „Quatre Heures à Chatila“ als rhetorische Frage formuliert und der Schaffensprozess von Un captif amoureux mit der Inkubationszeit einer Krankheit verglichen: Les durées d’incubation d’une maladie virale sont quelquefois si longues, nombreuses et lointaines, qu’il est impossible d’en dater avec précision l’acte non de naissance mais de conception, le moment du très léger décalage, histologique ou autre; comme les débuts d’une révolution, ceux de la fortune d’une famille, de son destin dynastique se sont perdus lors d’infimes changements de direction, et je ne puis dater les commencements de ce livre. Après Chatila? 38 Während hier der ungewisse Entstehungszeitpunkt hervorgehoben wird, datiert Genet am Ende seines Textes den Ursprung sehr genau auf die Jahresmitte von 1983 und fordert den Leser ohne Rekurs auf „Quatre Heures à Chatila“ dazu auf, seine Erinnerungen als Reportage zu lesen: „Je fus, dès le milieu de 1983, assez libre pour commencer à rédiger mes souvenirs qui devraient être lus comme un reportage.“ 39 Die hier skizzierte Einbindung von Un captif amoureux in den journalistischen Kontext von „Quatre Heures à Chatila“ nimmt die textuelle Form einer Vernet‐ zung an. Jérôme Hankins vergleicht die Verknüpfung dieser beiden Texte mit der Gewebestruktur einer palästinensischen Handarbeit, wie sie auch den Ein‐ band der Folio-Ausgabe von Un captif amoureux bei Gallimard schmückt: „Comme si Genet avait emprunté à la broderie une manière de tout relier, une liberté dans le temps. D’où la composition entrelacée de Chatila et d’Un captif, ce système d’échos et de superpositions, le tissage complexe des différents plans 4.1 Der Einfluss der journalistischen Reportage 277 40 Jérôme Hankins: „Entretien avec Leila Shahid“, in: Id.: Genet à Chatila, Arles: Babel Actes Sud 1994, pp. 23-78, hier 70. 41 Catherine Brun: „Quatre Heures à Chatila“, in: Marie-Claude Hubert (Hrsg.): Diction‐ naire Jean Genet, Paris: Honoré Champion 2014, pp. 527-530, hier 528. 42 Hankins: „Entretien avec Leila Shahid“, p. 47-48. de la mémoire.“ 40 Die für den literarischen Text eigentümlichen Erinnerungs‐ schichten kennzeichnen ansatzweise bereits „Quatre Heures à Chatila“, worin Genet abwechselnd seine Beobachtungen nach dem Blutbad 1982 und seine Er‐ fahrungen in den palästinensischen Lagern bei Ajloun in den frühen siebziger Jahren schildert. Auf Bitte einiger palästinensischer Verantwortlicher der PLO begab sich Genet im Oktober 1970 zum ersten Mal nach Jordanien und in den Libanon. Statt den geplanten acht Tagen verbrachte er sechs Monate in den palästinensischen Lagern und sollte weitere vier Male in den nächsten beiden Jahren dorthin zurückkehren. Diese Gegenüberstellung von seiner ersten Reise in den Nahen Osten 1970 und der Rückkehr 1982 untermauert in der Reportage vor allem den Kontrast zwischen Leben und Tod, denn Genets Beschreibung der Leichen in Sabra und Schatila markiert ein Stadium der Auslöschung dessen, was das Leben in den palästinensischen Flüchtlingslagern für Genet symboli‐ sierte. Durch das zeitliche Alternieren zwischen seinen beiden Aufenthalten knüpft Genet bewusst an einen fiktional durchsetzten Erzählstil an, der es ihm erlaubt, die Zeugenschaft der blutigen Ereignisse von 1982 zu verschriftlichen, wie Catherine Brun betont: „Il est aussi impossible que nécessaire de ‚dire exac‐ tement‘. Pour rendre compte, il faut s’ouvrir à d’autres paroles, d’autres souve‐ nirs, d’acteurs, de témoins, de survivants, le plus souvent anonymes ou non identifiables […].“ 41 Genet kommt als Augenzeuge in Sabra und Schatila eine privilegierte Stellung zu, da er sich unverhofft im Augenblick des libanesischen Übergriffs auf die Lager in Beirut befindet und als eine der ersten Personen überhaupt Zugang zum Tatort bekommt, sodass die Veröffentlichung seines Artikels auch aus diesen Gründen Aufsehen erregt, wie sich die damalige Ver‐ antwortliche der Revue d’études palestiniennes, Leila Shahid, erinnert: A sa parution, le texte a été remarqué surtout pour son écriture, mais il a aussi beaucoup dérangé. Nous n’avions ajouté aucun commentaire, nous ne donnions aucune explication. Donc personne ne pouvait comprendre comment Genet avait pu se trouver là, au bon moment (car le camp n’avait été accessible que pendant très peu d’heures) pour être le témoin, alors qu’il était en principe en train de crever d’un cancer à Paris. 42 Historisch lassen sich die Massaker innerhalb der Konfliktphase des israelischen Einmarsches in den Libanon und der Belagerung Beiruts im Juni 1982 situieren. 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 278 43 Vgl. zu den historischen Hintergründen: Margret Johannsen: Der Nahost-Konflikt, Wiesbaden: VS 3 2011, p. 30. 44 Hankins: „Entretien avec Leila Shahid“, p. 32. 45 Vgl. ibid., p. 34; vgl. zu den Hintergründen der multinationalen Streitmacht: Rolf Stei‐ ninger: Der Nahostkonflikt, überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe, Frankfurt a. M.: Fischer 2012, p. 51. 46 Hankins: „Entretien avec Leila Shahid“, p. 42. 47 Johannsen: Der Nahost-Konflikt, p. 31. Diese so genannte Operation „Frieden für Galiläa“ sollte der Zerschlagung der im südlichen Libanon angesiedelten Palästinensischen Befreiungsorganisation ( PLO ) dienen. 43 Als Leila Shahid Genet vor diesen politischen Hintergründen bittet, einen Artikel über die Belagerung Beiruts für die Zeitung zu verfassen, kann dieses Projekt Genet nur wenig überzeugen: „Il aurait accepté de jouer le jeu, faire jouer sa notoriété pour servir ses amis palestiniens, mais il n’était pas assez convaincu du sens de ces tentatives.“ 44 Erst nachdem der Belagerungszu‐ stand in Folge eines durch die USA vermittelten Abkommens über den Abzug der PLO aus dem Libanon und der Verlagerung des Hauptquartiers nach Tunis im September 1982 aufgelöst wurde, entscheidet sich Genet zusammen mit Shahid in den Libanon zu reisen und beobachtet dort das vorzeitige Abrücken der eigentlich zur Absicherung des Abkommens beauftragten multinationalen Streitmacht. 45 Das Bombenattentat auf den Parteisitz der christlichen Phalange am 14. September, bei dem der libanesische Präsident Béchir Gemayel ums Leben kommt, führt schließlich zu einer erneuten Einnahme der Stadt durch israelische Truppen und dann auch zu dem Anschlag auf die palästinensischen Lager von Sabra und Schatila durch die christlichen Phalangisten. Genet bekommt nach Beendigung des drei Tage andauernden, blutigen Massakers zusammen mit zwei amerikanischen Journalisten Zugang zu den Lagern, als sich die Bevölkerung des Ausmaßes des libanesischen Angriffs bewusst wird, so Leila Shahid: „C’est là qu’on a découvert la taille, l’ampleur du massacre. Et on a compris que cela durait depuis trois jours, sous la surveillance de l’armée israélienne qui lançait des fusées éclairantes toute la nuit.“ 46 Nicht nur die Massaker, sondern auch der Libanonkrieg provozieren sogar in der israelischen Öffentlichkeit einen heftigen Stimmungsumschwung: Der Libanon-Krieg war der erste Krieg Israels, der auf massive Kritik im eigenen Land stieß. Hunderttausende israelische Bürger demonstrieren gegen diesen Feldzug, der nach ihrer Auffassung Israel diesmal nicht aufgezwungen worden war. Der damalige Verteidigungsminister Ariel Scharon musste wegen der Massaker von Sabra und Schatila von seinem Amt zurücktreten. 47 4.1 Der Einfluss der journalistischen Reportage 279 48 Genet: Un captif amoureux, p. 62. 49 Genet: „Quatre Heures à Chatila“, p. 251-252. 50 Ibid., p. 254. 51 Ibid., p. 262-263. Genets Artikel trägt durch die präzise und direkte Beschreibung der Leichen in den Lagern dem Ausmaß der erfahrenen Brutalität und Zerstörung Rechnung, wie er in einem direkten Verweis in Un captif amoureux darlegt: „Dans la Revue d’Études palestiniennes j’ai voulu montrer ce qui restait de Chatila et de Sabra après que les phalangistes y passèrent trois nuits.“ 48 Die von ihm in der Reportage inszenierte Opposition seiner Erlebnisse in den palästinensischen Lagern bei Ajloun 1970 und der Ruinen und Leichen von Sabra und Schatila kennzeichnet für ihn das Ausmerzen eines dem palästinensischen Befreiungskampf inhä‐ renten Konzeptes von Schönheit, wie Genet verdeutlicht: L’affirmation d’une beauté propre aux révolutionnaires pose pas mal de difficultés. On sait - on suppose - que les enfants jeunes ou adolescents vivant dans des milieux anciens et sévères, ont une beauté de visage, de corps, de mouvements, de regards, assez proche de la beauté des feddayin. L’explication est peut-être celle-ci: brisant les ordres archaïques, une liberté neuve se fraye à travers les peaux mortes, et les pères et les grand-pères auront du mal à éteindre l’éclat des yeux, le voltage des tempes, l’allégresse du sang dans les veines. Sur les bases palestiniennes, au printemps de 1971, la beauté était subtilement diffuse dans une forêt animée par la liberté. 49 Der Begriff der Schönheit erfährt hier in seiner Verknüpfung mit dem revolu‐ tionären Streben nach Freiheit eine Politisierung und wird an der körperlichen Jugendlichkeit der Freiheitskämpfer ablesbar. Durch das Evozieren ihrer phy‐ sischen Stärke und Vitalität erhält Genets textuelle Transkription der allmähli‐ chen körperlichen Verwesung in Sabra und Schatila so zusätzliche Schärfe und Vehemenz. Wenn auch in „Quatre Heures à Chatila“ Charakteristika aufgegriffen werden, die Genet bereits in früheren journalistischen Texten verwendet, so unterscheidet sich dieser Artikel jedoch von jenen insbesondere durch seine erzählzeitliche Struktur. Die Verknüpfung der beiden Zeitschichten, d. h. der Beobachtungen von 1970 und von 1983, erfolgt über das Motiv der Vergäng‐ lichkeit durch Einschübe, wie „[i]ci, dans ces ruines de Chatila, il n’y a plus rien“ 50 oder „[à] Chatila, beaucoup sont morts et mon amitié, mon affection pour leurs cadavres pourrissants était grandes aussi parce que je les avais connus.“ 51 Dabei öffnet sich der Text insbesondere durch diesen zeitlichen Zwischenraum auf eine überzeitliche Struktur, ohne jedoch seinen Ereignisbezug und seine journalistischen Merkmale aufzugeben. Das für Genets politische Texte symp‐ tomatische Postulat der Gegenberichterstattung, wie es auch bereits seine frühe 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 280 52 Genet tritt damit in gewisser Weise auch in Konkurrenz mit der in Sabra und Schatila gegenwärtigen Fotografin, die Genet als „madame S.“ tituliert und deren amerikanische Nationalität er explizit im Text nennt: Vgl. ibid., p. 246. 53 Ibid., p. 244. 54 Ibid. 55 Ibid., p. 245. 56 Brun: „Quatre Heures à Chatila“, p. 529. 57 Ibid. 58 In ihrem Eintrag zu „Vietnam“ argumentiert Véronique Lane, dass Genets Artikel „Un salut aux cent mille étoiles“ die für „Quatre Heures à Chatila“ charakteristische Bild‐ gewalt präfiguriert. Vgl. Véronique Lane: „Vietnam“, in: Marie-Claude Hubert (Hrsg.): Dictionnaire Jean Genet, Paris: Honoré Champion 2014, pp. 674-675, hier 675. Reportage über den Demokratischen Parteitag in Chicago kennzeichnet, wird beispielsweise auch in „Quatre Heures à Chatila“ bedient. Er tritt darin in Kon‐ kurrenz mit den visuellen Dokumentationsmedien der Fotografie und des Fern‐ sehbildes. 52 So beginnt seine zweite Passage mit der Feststellung: „Une photo‐ graphie a deux dimensions, l’écran du téléviseur aussi, ni l’un ni l’autre ne peuvent être parcourus.“ 53 Genet hingegen ‚durchläuft‘ die Lager mit seinem Leser, insofern ihm dies durch die Vielzahl von Leichen hindurch überhaupt möglich ist: D’un mur à l’autre d’une rue, arqués ou arc-boutés, les pieds poussant un mur et la tête s’appuyant à l’autre, les cadavres, noirs et gonflés, que je devais enjamber étaient tous palestiniens ou libanais. Pour moi comme pour ce qui restait de la population, la circulation à Chatila et à Sabra ressembla à un jeu de saute-mouton. Un enfant mort peut quelquefois bloquer les rues, elles sont si étroites, presque minces et les morts si nombreux. 54 Ähnlich wie in seinem Artikel für das amerikanische Magazin Esquire begründet Genet die Vorteile seiner schriftlich realisierten Zeugenaussage gegenüber den bildlichen Medien der Fotografie und des Fernsehens insbesondere olfaktorisch, indem er in „Quatre Heures à Chatila“ auf den Verwesungsgeruch und die Om‐ nipräsenz der den körperlichen Zersetzungszustand attestierenden Fliegen ver‐ weist: „La photographie ne saisit pas les mouches ni l’odeur blanche et épaisse de la mort. Elle ne dit pas non plus les sauts qu’il faut faire quand on va d’un cadavre à l’autre.“ 55 Er entwickelt eine Schreibweise, die den Beschreibungen eine Plastizität und Bildgewalt verleiht und die mit Brun als „écriture en re‐ lief “ 56 und als „écriture sensorielle“ 57 bezeichnet werden kann. 58 Dadurch betont Genet die Überlegenheit seiner schriftlichen Reportage, welche den Ereignissen eher gerecht werde, als eine zweidimensionale Abbildung. In einem Interview für Die Zeit nach den Ereignissen in Sabra und Schatila und nach der Anerken‐ 4.1 Der Einfluss der journalistischen Reportage 281 59 Genet: „Entretien avec Rüdiger Wischenbart et Layla Shahid Barrada“, p. 279. 60 Genet: „Quatre Heures à Chatila“, p. 248-249. 61 Genet: Un captif amoureux, p. 63. nung Arafats als offizieller Repräsentant der Palästinenser durch die österrei‐ chische Regierung erläutert Genet die seine Schreibweise begründenden As‐ pekte eines ästhetischen Umgangs mit den realen Begebenheiten ethisch, indem er seinen Text einer Zeugnispflicht unterwirft: Dans les livres et quand j’étais en prison, j’étais maître de mon imagination. J’étais maître de l’élément sur lequel je travaillais. Mais maintenant, je ne suis plus maître de ce que j’ai vu, je suis obligé de dire: j’ai vu des types ligotés, attachés, j’ai vu une dame avec des doigts coupés! Je suis obligé de me soumettre à un monde réel. 59 Der Bericht über die einzelnen Leichen zeichnet sich durch seine Detailliertheit und Frontalität aus und wird im Ansatz auch in Un captif amoureux rezipiert, wie sich am Beispiel der gekreuzigten Palästinenserin zeigen lässt. Hervorge‐ hoben werden muss aber insbesondere der Perspektivwechsel von einem in Bezug auf die Massaker zeitnahen hin zu einem zurückschauenden Blick. In „Quatre Heures à Chatila“ beschreibt er den Körper der Frau als Ansammlung von Quetschungen und Blutergüssen und er wird erst durch einen ihn beglei‐ tenden Palästinenser auf ihre abgehackten Fingerglieder aufmerksam: Je n’avais pas remarqué. Les doigts des deux mains étaient en éventail et les dix doigts étaient coupés comme avec une cisaille de jardinier. Des soldats, en riant comme des gosses et en chantant joyeusement, s’étaient probablement amusés en découvrant cette cisaille et en l’utilisant. 60 In Un captif amoureux hingegen gerät dieser Aspekt ins Zentrum seiner Über‐ legungen: Zum einen hebt Genet hier auf die sprachliche Dimension ab und hinterfragt, ob der Name der Phalangisten vom Zerlegen der Fingerglieder, der „phalanges“, herrühre: „Je vis son corps, les bras écartés, couvert de mouches partout mais surtout aux dix bouts des deux mains: c’est que dix caillots de sang coagulé les noircissaient; on lui avait coupé les phalanges, d’où peut-être leur nom? “ 61 Zum anderen revidiert er seine anfängliche Vermutung eines sadisti‐ schen Spiels und reflektiert die Motivation der Soldaten in Form eines imagi‐ nierten Szenarios, demzufolge die Palästinenserinnen in Reaktion auf das Vor‐ dringen der Soldaten ihren gesamten Schmuck anziehen: Ainsi couvertes d’or, essayèrent-elles de s’enfuir? L’une d’elles, croyant acheter la compassion d’un soldat ivre, retira de l’index une pauvre bague et son saphir toc. Déjà ivre mais plus ivre par la vue des parures, afin d’aller plus vite le phalangiste avec son 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 282 62 Ibid. 63 Ibid. 64 Ibid. 65 Vgl. ibid., p. 63-64. couteau (ou sécateur trouvé près de la maison) tailla les doigts jusqu’à la première phalange puis il mit phalanges et phalangettes dans les poches de son pantalon. 62 Während Genet den Leichnam der Frau in „Quatre Heures à Chatila“ rein de‐ skriptiv erfasst und als Ergebnis der brutalen und sadistischen Vorgehensweise der libanesischen Miliz vergegenwärtigt, imaginiert er in seinem literarischen Text die Hintergründe und Zusammenhänge dieser Hinrichtung in einer er‐ zählten Handlung. Diese unterschiedliche narrative Herangehensweise an das Ereignis führt zu einem Umschreiben des ursprünglichen Textes, der durch eine imaginierte Erzählung ergänzt wird, und spiegelt sich in der Aussage wider: „Cette première impression évaporée dès que j’eus un peu de repos je vécus mentalement une autre scène.“ 63 Die Motivation für das Anlegen der gesamten Ringe an alle zehn Finger wird von Genet als absurde Handlungsweise hinter‐ fragt - „[a]insi couvertes d’or, essayèrent-elles de s’enfuir? “ 64 - und die Pha‐ langisten trennen in dieser zweiten Fassung die Fingerglieder nicht mehr ab, um das Opfer zu quälen, sondern um sich selbst zu bereichern. Auch das sich in Un captif amoureux anschließende Textfragment lässt sich inhaltlich den Ereignissen im Libanon zuordnen und enthält in ähnlicher Weise ergänzende Überlegungen zum Gründer der christlichen Partei, Pierre Gemayel, der Genets Ausführungen zufolge seine Miliz nach Hitlers Vorbild schuf. 65 Im Vergleich der beiden Texte fällt auf, dass „Quatre Heures à Chatila“ trotz seiner literarischen Charakteristika ereigniszentriert und faktenbezogen bleibt. Die beschriebenen Eindrücke von Genets erster Reise in die palästinensischen Gebiete in den siebziger Jahren heben durch die Gegensätzlichkeit das Ausmaß der Zerstörung in Sabra und Schatila hervor, wodurch sie hinsichtlich ihrer Funktion als rhetorisches Stilmittel bezeichnet werden können. In Un captif amoureux gehen die Beschreibungen zu Sabra und Schatila in der Erzählung auf und werden aus einer retrospektiven Sicht neu reflektiert. Somit muss hinter‐ fragt werden, inwieweit Un captif amoureux der postulierten Ästhetik des Au‐ genzeugenberichtes gehorcht. Dieser Frage soll anhand eines längeren Text‐ auszuges nachgegangen werden, der „Quatre Heures à Chatila“ zwar eindeutig als Intertext kennzeichnet, an dem aber vor allem die unterschiedliche textuelle Aufarbeitung der Ereignisse aufgezeigt wird. Bevor dieser Aspekt im Detail analysiert wird, soll diese Passage aus „Quatre Heures à Chatila“ und ihre über‐ arbeitete Fassung aus Un captif amoureux an dieser Stelle zur besseren Veran‐ 4.1 Der Einfluss der journalistischen Reportage 283 66 Genet: „Quatre Heures à Chatila“, p. 243. Eigene Hervorhebung. 67 Genet: Un captif amoureux, p. 365-366. Eigene Hervorhebung. 68 Vgl. Dichys Annotationen zum Text in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 406. schaulichung zunächst in zwei Spalten einander gegenübergestellt und die Un‐ terschiede zwischen den beiden Texten typographisch fett markiert werden: Personne, ni rien, aucune technique du récit, ne dira ce que furent les six mois passés par les feddayin dans les mon‐ tagnes de Jerash et d’Ajloun en Jordanie, ni surtout leurs premières semaines. Donner un compte rendu des événements, établir la chronologie, les réussites et les erreurs de l’O. L. P., d’autres l’ont fait. L’air du temps, la couleur du ciel, de la terre et des arbres, on pourra les dire, mais jamais faire sentir la légère ébriété, la démarche au-dessus de la poussière, l’éclat des yeux, la transparence des rapports non seulement entre feddayin, mais entre eux et les chefs. Tout, tous, sous les arbres étaient frémissants, rieurs, émer‐ veillés par une vie si nouvelle pour tous, et dans ces frémissements quelque chose d’étrangement fixe, aux aguets, réservé, protégé comme quelqu’un qui prie sans rien dire. Tout était à tous. Chacun en lui-même était seul. Et peut-être non. En somme souriants et hagards. La région jordanienne où ils s’étaient repliés, selon un choix politique, était un périmètre allant de la frontière syrienne à Salt, pour la longueur, délimitée par le Jourdain et par la route de Jerash à Irbid. 66 Personne ni rien, aucune technique du récit ne diront ce que furent les six mois imposés aux feddayin dans les mon‐ tagnes de Jérash et d’Ajloun, surtout dès les premières semaines, avant que commencent les grands vents, les grands froids. Donner un compte rendu des événements, établir la chronologie, les réussites et les erreurs des feddayin, l’air du temps, la couleur du ciel, de la terre et des arbres, je pourrai les dire mais jamais faire éprouver cette légère ébriété, la dé‐ marche au-dessus de la poussière et des feuilles mortes, l’éclat des yeux, la trans‐ parence des rapports non seulement entre feddayin mais entre eux et les chefs. Ils étaient prisonniers de ce quadrilatère de soixante kilomètres de long sur quarante de large, ils s’y comportaient au point d’évoquer les jeunes seigneurs des tapisseries. On pouvait en le voyant dire d’eux, prisonniers mais sur parole. Tout, tous, sous les arbres étaient frémissants, rieurs, émerveillés par une vie si nouvelle pour tous, aussi pour moi, et dans ces frémissements quelque chose d’étrangement fixe, aux aguets, ré‐ servé, protégé comme quelqu’un qui épie sans rien dire. Tous étaient à tous. Chacun était en lui-même, non saoul, mais seul. Et peut-être non. En somme souriants et hagards. La région jordanienne où ils s’étaient repliés - je peux utiliser les mots enfuis ou repliés selon certaines dates - le bonheur sous les arbres était si grand qu’aux yeux des privilégiés du monde arabe la révolution palestinienne passait pour une simple fronde. 67 Während dieser Textauszug in „Quatre Heures à Chatila“ als einleitender Teil fungiert und dem Artikel, wie Albert Dichy in seinen Annotationen erläutert, 68 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 284 69 Genet: „Quatre Heures à Chatila“, p. 244. 70 Ibid., p. 243. 71 Ibid. 72 Genet: Un captif amoureux, p. 365. Eigene Hervorhebung. 73 Ibid. 74 Ibid. als letztes Element hinzugefügt wurde, wird er in Un captif amoureux mit leichten Änderungen als ein Textfragment in der Mitte des Werks aufge‐ nommen. Statt mit einem Verweis auf die Überlegenheit des Verschriftlichungsgegenüber dem Verbildlichungsprozess - „[u]ne photographie a deux dimen‐ sions, l’écran du téléviseur aussi, ni l’un ni l’autre ne peuvent être parcourus“ 69 - beginnt die Reportage „Quatre Heures à Chatila“ so mit einem metatextuellen Hinweis auf die Unmöglichkeit, die Erfahrungen in den palästinensischen Ge‐ bieten zwischen Jerash und Ajloun 1970 darzustellen: „Personne, ni rien, aucune technique du récit, ne dira ce que furent les six mois passés par les feddayin dans les montagnes de Jerash et d’Ajloun en Jordanie, ni surtout leurs premières se‐ maines.“ 70 Die nachfolgende programmatische Aussage, dass bereits andere sich der Aufgabe gestellt hätten, „[de] donner un compte rendu des événements, [d’] établir la chronologie, les réussites et les erreurs de l’O. L. P.,“ 71 verweist auf seine individuelle journalistische Umsetzung der politischen Ereignisse. Auch in Un captif amoureux liegt die Betonung zunächst auf dem selbstkritischen Hinter‐ fragen der eigenen literarischen Darstellungsmöglichkeiten, wodurch sich die Textpassage in die metareferentielle Struktur des Werks einordnen lässt, doch erhält sie hinsichtlich der politischen Situation der Palästinenser eine stärker bewertende Bedeutungsebene. So befasst sich Genet nicht mehr nur mit den sechs Monaten, welche die Palästinenser im Gebirge zwischen Jerash und Aj‐ loun verbracht haben, sondern welche ihnen aufgezwungen wurden, nämlich „que furent les six mois imposés aux feddayin“ 72 . Dieser Aspekt wird durch das Attribut der Gefangenschaft akzentuiert. Denn die palästinensischen Kämpfer werden als „prisonniers de ce quadrilatère de soixante kilomètres de long sur quarante de large“ 73 bezeichnet und erfahren darüber hinaus durch den Ver‐ gleich mit der Darstellung von Landesfürsten auf Wandteppichen eine Ästhe‐ tisierung: „[I]ls s’y comportaient au point d’évoquer les jeunes seigneurs des tapisseries.“ 74 In Un captif amoureux schmückt Genet die Beschreibung des pa‐ lästinensischen Rückzugs zu einer literarischen Kulisse aus, indem er klima‐ tisch-saisonale Details einflicht wie etwa den Kälteeinbruch oder das abgefal‐ lene Blattwerk auf dem Boden. Dahingegen schildert er die geographische Lage in „Quatre Heures à Chatila“ ohne entsprechende Ausschmückungen und er‐ gänzt diese faktische Situierung durch einen kurzen Abriss der Lebensgewohn‐ 4.1 Der Einfluss der journalistischen Reportage 285 75 Genet: „Quatre Heures à Chatila“, p. 244. 76 Genet: Un captif amoureux, p. 365-366. 77 Ibid., p. 503-504. Hervorhebung im Original. heiten im palästinensischen Rückzugsgebiet, wie den Umgang mit den Waffen oder die Gesprächskultur, um schließlich auf die zehn Jahre später stattfind‐ enden Ereignisse überzuleiten: „Il se passa dix ans et je ne sus rien d’eux, sauf que les feddayin étaient au Liban. La presse européenne parlait du peuple pa‐ lestinien avec désinvolture, dédain même. Et soudain, Beyrouth-Ouest.“ 75 Sein journalistischer Artikel versteht sich folglich auch als ein Beitrag zur Aufarbei‐ tung der seinem Verständnis nach von der europäischen Presse einseitig geleis‐ teten Informationsarbeit. In Un captif amoureux münden die Beschreibungen hingegen in einer rückblickenden und damit abschließenden Bewertung der palästinensischen Revolution als „fronde“: „La région jordanienne où ils s’é‐ taient repliés - je peux utiliser les mots enfuis ou repliés selon certaines dates - le bonheur sous les arbres était si grand qu’aux yeux des privilégiés du monde arabe la révolution palestinienne passait pour une simple fronde.“ 76 Genets sich daran anschließende Darstellung der Lebensweise in diesem Gebiet legt den Schwerpunkt auf die gemeinsamen Gespräche und gibt schließlich einen bei‐ spielhaften Dialog zwischen dem Autor und einigen palästinensischen Kämp‐ fern wieder über seine plakativ negativen Vorstellungen von den USA als eine Anhäufung Kot ausscheidender Wolkenkratzer, wohingegen die Ereignisse um die Mordoperation von Sabra und Schatila in diesem Kontext nicht mehr er‐ wähnt werden. Stärker noch als in seiner Reportage rückt Genet in seinem literarischen Werk von einem rein informativen Aussagegehalt ab und unterstreicht die Subjekti‐ vität seiner Beobachtungen. Entsprechend wird die literarische Transkription von Ereignissen als sprachliche Metamorphose interpretiert und auf die per‐ sönliche Sichtweise zurückgeführt: Les métamorphoses d’un fait en mots, signes, série de mots, séries de signes et de mots, sont d’autres faits qui ne restituent jamais le premier à partir duquel je vais transcrire. Cette vérité première je dois la dire afin de me mettre en garde moi-même. S’il ne s’agit que de commune morale, mentir ou non serait sans importance à mes yeux, je dois dire pourtant que ce sont mes yeux, mon regard, qui ont vu ce que j’ai cru décrire, mes oreilles entendu. La forme que j’ai donnée dès le commencement au récit n’eut jamais pour but d’informer le lecteur réellement de ce que fut la révolution palestinienne. La construction même, l’organisation, la disposition du récit, sans vouloir délibérément trahir ce que furent les faits, arrangent la narration de telle sorte qu’apparaîtra probablement que je fus le témoin peut-être privilégié, ou l’ordonnateur? 77 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 286 78 Ibid, p. 504. 79 Bougon: „The Politics of Enmity“, p. 143. 80 Genet: Un captif amoureux, p. 610. Die Beschreibung der Ereignisse wird daher in seinen Augen durch die Kon‐ struktion, Organisation und Anordnung der Erzählung subjektiviert. Dieser äs‐ thetische Vorgang der Deobjektivierung wird von ihm durch das auch in seinen frühen Romanen thematisierte Konzept des Verrates als Verfälschung der Tat‐ sachen ausgelegt. Seine eigene Rolle wird abwägend als die eines Augenzeugen und eines Organisators benannt und im Weiteren durch die Metapher eines einzelne Bilder herstellenden und zusammenfügenden „maître [d’un rêve, S. I.]“ 78 veranschaulicht, welche womöglich auch William S. Burroughs zu seinem Book of Dreams inspirierte. Das von Genet beanspruchte Prinzip der Augenzeu‐ genschaft dient vielmehr der Rechtfertigung eines fiktiven Anteils der Erzäh‐ lung, deren Sinn und Deutungsspielraum durch die Erzählinstanz gesteuert und entfaltet wird. So relativiert sich der Wahrheitsgehalt seines als Reportage ge‐ kennzeichneten Werks durch die Subjektivität des Erzählers. Wie Patrice Bougon in einer frühen Studie zur Frage nach der Nähe zur engagierten Literatur von Un captif amoureux in Bezug auf den autobiographischen Aspekt des Werks hervorhebt, zielt es nicht auf die Kommunikation einer konsistenten politischen Wahrheit ab: „As a result of the equivocal nature of source of the words spoken, the narrator’s responsibility, and thus his political stance, are problematized, even more so because Prisoner of Love does not aim to communicate a consistent truth or worldview.“ 79 Eine weitere Facette der sich in obigem Zitat aus Un captif amoureux andeutenden Verwebung ästhetischer und ethischer Grundsätze findet sich im letzten Textfragment des Werks, in dem Genet seiner in Bezug auf den journalistischen Augenzeugenbericht erläuterten Auffassung einer re‐ lativen Wahrheit vor dem Hintergrund der Zeugenaussage vor Gericht zusätz‐ liche Tiefe verleiht: Après son nom, son âge, les premiers mots du témoin sont à peu près ceux-ci: ‚Je jure de dire toute la vérité …‘ Avant de l’écrire, je m’étais juré de dire la vérité dans ce livre, ce ne fut pas lors d’une cérémonie mais chaque fois qu’un Palestinien me demandait à lire soit le début, soit d’autres passages, d’en publier dans une ou une autre revue, je fis mon possible pour me préserver. 80 Genet deutet seine eigene Rolle nun nicht mehr einfach als Beobachter be‐ stimmter Geschehnisse, sondern als vereidigter Zeuge vor Gericht. Die be‐ schriebenen Ereignisse werden entsprechend als Gegenstand einer Gerichts‐ verhandlung begriffen, in deren Verlauf seine literarische Darstellung den Stellenwert und die Merkmale einer Zeugenaussage annimmt. Es handelt sich 4.1 Der Einfluss der journalistischen Reportage 287 81 Ibid. Hervorhebung im Original. 82 Ibid., p. 610-611. Hervorhebung im Original. dabei um eine Stellungnahme für die Palästinenser in einem imaginären Prozess, welche das juristische Denkmuster aus einigen seiner politischen Interventi‐ onen in den frühen siebziger Jahren wiederaufgreift. Wie die sich anschließende Definition des Zeugen vor Gericht unterstreicht, deutet Genet die Zeugenaus‐ sage nicht als sachlich-objektive Wiedergabe eines Tathergangs, sondern er scheint die Wahrheitsverpflichtung unter Berufung auf eine ästhetische Per‐ spektivierung der Zeugenaussage aufzuheben: Juridiquement, le témoin n’est ni l’homme qui s’oppose aux magistrats ni celui qui les sert. Selon le droit français il a juré de dire la vérité, non de la dire aux juges. Le témoin jure à l’audience, devant le tribunal et devant l’assistance. Le témoin est seul. Il parle. Les magistrats écoutent et se taisent. Il ne répond pas seulement à l’implicite question comment, mais afin de faire voir pourquoi ce comment, il éclaire le comment, il l’éclaire d’une lumière qu’on dit quelquefois artistique. 81 Die reliefartige Hervorhebung bestimmter Aspekte der Darstellung wird als künstlerischer Prozess beschrieben und mithilfe einer Licht-Schatten-Meta‐ phorik verbildlicht, die darüber hinaus als unabdinglich für die Aussagenver‐ mittlung bewertet wird: Les juges, n’étant jamais aux endroits où s’accomplissent les actes qu’ils jugeront, le témoin est indispensable mais il sait que le vérisme d’une description ne dira rien à personne, aux magistrats non plus, s’il n’y ajoute les ombres et les lumières qu’il fut le seul à distinguer. Les juges peuvent le déclarer précieux, il l’est. Pourquoi, dans la salle d’audience, ce serment d’aspect médiéval, presque carolingien? Parce que, peut-être, il enveloppe de solitude le témoin, cette solitude lui donnant la légèreté d’où il peut dire la vérité, car dans la salle d’audience se trouvent peut-être trois ou quatre personnes sachant écouter un témoin. 82 Genet unterteilt jedoch die Zuhörerschaft des Zeugen in einen privilegierten Teil des Publikums einerseits, der für diese ästhetische Dimension seiner Aus‐ sage sensibel ist, und in die breite Masse andererseits, der die künstlerische Be‐ deutungsebene verschlossen bleiben muss. Durch diese abschließende Erläuterung wird der Leser dazu angeleitet, seine Lektüre im Lichte jener Präzisierungen zu reevaluieren, welche Genet zum Zeugen des palästinensischen Widerstandes stilisieren. Während die Proble‐ matik der Zeugenaussage in Genets politischen Interventionen vornehmlich im Zusammenhang mit den Gerichtsprozessen gegen politische Dissidenten und gegen Mitglieder der Black Panthers thematisiert wurde, überträgt er den darin 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 288 83 Vgl. zum Kontext Kapitel 2.3.2: Bei einer Demonstration gegen die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen der Immigranten in Frankreich, an der u. a. auch Genet und Sartre partizipierten, kam es zu einem Zusammenstoß mit den Ordnungskräften. Einer der Demonstranten, Roland Castro, geriet in eine tätliche Auseinandersetzung mit der Polizei, nachdem er versucht hatte zu fliehen, und wurde dafür angeklagt. Am Ge‐ richtsprozess nahmen unter anderem Genet und Sartre teil. 4.2 verhandelten Aspekt der Wahrheitsfindung in Un captif amoureux auf den Nahost-Konflikt und beleuchtet auf metatextueller Ebene die Funktionsweise seines Textes. Denn für Genet entfaltet sich die Wahrheit durch eine Subjekti‐ vierung und Fiktionalisierung der Aussage. Während Genet in seinem literari‐ schen Werk stärker an die ursprüngliche Bedeutung des Zeugen als unbeteiligter Dritter anknüpft und dessen gesonderte bzw. einsame Stellung untermauert, interpretiert er die Rolle des Zeugen beispielsweise im realen Prozess gegen Roland Castro 1970 83 als Gegenkläger in einem Zweifrontenkrieg gegen Staat und Justiz. Die Problematik der Wahrheitsfindung betrifft nun nicht mehr die diskursive Filterung durch die richtende Instanz wie in den konkreten Straf‐ prozessen im Nach-Mai, sondern das Spannungsverhältnis zwischen Fakti‐ schem und Fiktionalem. Der Akzent verlagert sich somit von der vernichtenden Kritik an der Justiz hin zu einer Reflexion über die ästhetischen Prinzipien der Zeugenschaft und damit des eigenen Textes. Abschließend lässt sich sagen, dass sich in Un captif amoureux die beiden aus dem politischen Kontext stammenden diskursiven Fragestellungen nach den Möglichkeiten der gerichtlichen Zeugen‐ aussage einerseits und den Darstellungsformen des journalistischen Ereignis‐ berichtes andererseits ineinander verschränken und auf metatextueller Ebene in ihrer Beziehung zur literarischen Darstellungsweise diskutiert werden. Autoreflexive Kritik zur eigenen Funktion in der Öffentlichkeit: die Transkription des Interviews als dialogische Selbstbefragung in «Un captif amoureux» Während Genet seine Rolle als Augenzeuge der politischen Ereignisse in den palästinensischen Gebieten auf die Erlebnisse in Sabra und Schatila zurückführt, hinterfragt er seine Funktion für die Black Panthers in mehreren Textpassagen mit einer stark selbstkritischen Stimme. So überlegt er beispielsweise, inwieweit die beobachtende und bezeugende Position auch seine Präsenz bei den Black Panthers gerechtfertigt hat: „Mais de cette tête blanche, blanche par sa peau, ses cheveux, sa barbe non rasée, blanche, rose et ronde toujours présente au milieu d’eux que voulaient-ils faire? Un témoin? Mon corps ne comptait pas: il portait 4.2 Autoreflexive Kritik zur eigenen Funktion in der Öffentlichkeit 289 84 Genet: Un captif amoureux, p. 138. 85 Ibid., p. 138-139. 86 Ibid., p. 139. 87 Genet: „Entretien avec Michèle Manceaux“, p. 57. seulement ma tête ronde et blanche.“ 84 Zum einen betont er durch die vierfache Nennung seiner weißen Hautfarbe seine optische Andersartigkeit und zum an‐ deren erweckt die beschriebene Verselbstständigung seines Kopfes vom Körper den Mechanismus der Emblematisierung. Genet unterstreicht im weiteren Text‐ fluss aber nicht die Bedeutung seiner eigenen Person für die Bewegung, sondern charakterisiert im Gegenteil die Beziehung zu den Black Panthers als eine Inob‐ hutnahme seiner selbst durch die Verantwortlichen: Ce fut beaucoup plus simple: les Panthères Noires avaient, au lieu d’un enfant, découvert un vieillard abandonné, et ce vieillard était un Blanc. […] Or, déjà vieillard, redevenir un enfant adopté, était très agréable puisque c’est grâce à cela que je connaissais une véritable protection et une éducation affectueuse […]. Cette protection des Panthères était telle que je n’eus jamais peur en Amérique - sauf pour eux. 85 In diesem Zitat invertiert er somit das in der Öffentlichkeit wahrgenommene Rollenverhältnis symbolisch, indem er sich selbst dem Schutz der Black Panthers unterstellt. In einer rückblickenden Perspektive bewertet Genet in diesem Kontext schließlich die Wirksamkeit der Black Panthers für die gesellschaftliche Eman‐ zipierung der Afroamerikaner in Bezug auf ihr Markenzeichen, „cette image, si l’on veut théâtrale et dramatique“ 86 , welches durch die Waffen, die Lederjacken, die Frisur und die Rhetorik visualisiert wird. Genet revidiert somit die von ihm während der heißen politischen Phase Anfang der 1970er Jahre kontinuierlich in seinen unterschiedlichen Reden und Stellungnahmen als Mahnung formu‐ lierte Meinung, dass Symbole und Embleme niemals revolutionäre Handlungen ersetzen dürfen, wie beispielsweise in seinem Gespräch mit Michèle Manceaux: Les symboles renvoient à une action qui a lieu, non à une action qui sera, puisque toute action qui se fait (je parle des actions révolutionnaires) ne peut s’aider sérieusement d’exemples déjà connus. […] Mais un geste ou un ensemble de gestes symboliques sont idéalistes en ce sens qu’ils comblent les hommes qui les accomplissent ou qui adoptent le symbole, les empêchent de réaliser des actes réels, au pouvoir irréversible. […] Il vaut mieux accomplir des actes réels et apparemment de peu d’envergure que des manifestations théâtrales et vaines. 87 Um die Revision seiner Sichtweise zu pointieren, fügt er ein indirektes Zitat aus einem angeblich in der amerikanischen Zeitschrift Ramparts veröffentlichten 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 290 88 Genet: Un captif amoureux, p. 139-140. 89 Vgl. Jean Genet: „Here and Now for Bobby Seale“, in: Ramparts 8, 12 (1970), pp. 30-33. 90 Peter Richardson: A Bomb in Every Issue. How the Short, Unruly Life of Ramparts Ma‐ gazine Changed America, New York: The New Press 2009, p. 2. 91 Ibid., p. 74. 92 Genet: Un captif amoureux, p. 140. 93 Ibid. 94 Ibid., p. 141. Interviewtext an und nimmt die darin formulierte Fragestellung zum Anlass, um sich von seinen früheren Einschätzungen zu distanzieren: Dire par exemple que ‚l’échec des Panthères est lié au fait qu’ils se donnèrent une ‚image de marque‘ avant de réaliser des actions réelles qui imposeraient une telle vision‘ (je résume à peu près une question que me posa le journal Remparts [sic! ]) appelle plusieurs remarques. 88 Dieses Zitat ist nicht nur aufgrund seiner werkexternen Verweisfunktion von Interesse, sondern reproduziert darüber hinaus die dialogische Struktur der Ge‐ sprächsform, welche es dem Autor auch ermöglicht, in einem autoreflexiven Gestus die im Rahmen seines Engagements für die Black Panthers inkarnierte Rolle des öffentlichen Sprachrohrs oder Mediators nachzuahmen. Während je‐ doch gerade seine frühen Interviews insbesondere der Popularisierung der Black Panther Party und der Mobilisierung für diese politische Bewegung dienten, be‐ zieht sich Genet hier auf eine Diskussion zu einem späteren Zeitpunkt, in der bereits von deren Scheitern ausgegangen wird und der daher keine interventive Funktion im eigentlichen Sinne mehr zugeschrieben werden kann. Auch evo‐ ziert Genet fälschlich die zwischen Mai 1962 und August 1975 aufgelegte Ram‐ parts, in der er selbst nur einen Artikel für die Befreiung von Bobby Seale 1970 veröffentlichte, 89 aber deren Erfolgsgeschichte als gegenkulturelles Informati‐ onsmedium und als eine „platform and a seedbed for a generation of reporters, activists and social critics“ 90 eng mit dem Aufstieg und Fall der Black Panther Party verbunden ist, wie Richardson konstatiert: „Ramparts made celebrities of the Black Panthers, and their star power increased the magazine’s cachet.“ 91 Statt jedoch als Sprachrohr der Bewegung aufzutreten, analysiert er die Bedeutung von deren Image für die veränderte Situation der Afroamerikaner, welche er als „métamorphose du Noir“ 92 bezeichnet, und zergliedert seine Erläuterung durch eingeschobene, vertiefende Fragen, wie „[c]ette métamorphose est-elle un chan‐ gement? “ 93 oder „[c]’était du théâtre? “ 94 . Dadurch gewinnt der Leser den Ein‐ druck, als beantworte der Erzähler die Fragestellungen seines damaligen Ge‐ sprächspartners ausgehend von seinem aktuellen Erfahrungshorizont erneut. 4.2 Autoreflexive Kritik zur eigenen Funktion in der Öffentlichkeit 291 95 Sylvain Dreyer: „Au risque du dialogue: les entretiens de Genet“, in: Marie-Claude Hu‐ bert / Michel Bertrand (Hgg.): Jean Genet. Du roman au théâtre, Aix-en-Provence: Presses universitaires 2011, pp. 49-62, hier 56. 96 Ibid., p. 61. 97 Vgl. Bernhard Metz: „Der Autor und sein Double. Hubert Fichte - Jean Genet“, in: Mat‐ thias N. Lorenz / Oliver Lubrich (Hgg.): Jean Genet und Deutschland, Gifkendorf: Merlin 2014, pp. 319-345. 98 Das Zitat von Albert Dichy stammt aus seinen Annotationen zum Interview in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 372. Tatsächlich aber sind die Fragen mit Stimuli einer dialogisch inszenierten Selbst‐ befragung zu vergleichen. Durch diesen simulierten Dialog, der sich als Retranskription eines früheren Interviewtextes präsentiert, problematisiert Genet implizit auch seine in den meisten politischen Interviews eingenommene verweigernde Kommunikati‐ onshaltung, die Sylvain Dreyer als Transformation des Dialoges in „une sorte de duel“ 95 bezeichnet. Eindrücklich analysiert Dreyer die Mechanismen, mithilfe derer Genet in Interviews die Dialogizität unterläuft und zu denen beispiels‐ weise die ironische Beantwortung von Fragen, verbale Angriffe auf den Ge‐ sprächspartner sowie der Rollentausch zwischen Fragendem und Befragtem zählen. Begründet werden kann dies sicher mit einem tiefen Misstrauen gegen‐ über einzelnen Gesprächspartnern und den durch sie vertretenen Medien, ob‐ wohl auf deren Interesse für seine Persönlichkeit auch die Verbreitung der für die Black Panthers oder die Palästinenser relevanten politischen Fragestellungen beruht. Diesen inneren Widerspruch, der Genets Interviews charakterisiert und der sich in seinen Reaktionen widerspiegelt, beschreibt Dreyer als „tension nou‐ velle entre la tentative de rentrer dans le jeu médiatique pour exprimer son soutien aux Black Panthers et aux Palestiniens, et le souci de préserver son au‐ tonomie […].“ 96 Deutlich manifestiert sich Genets desavouierende Haltung auch in seinem Interview mit dem deutschen Autor Hubert Fichte im Dezember 1975, dem Bernhard Metz dahingehend eine präzise Analyse widmet, 97 obwohl Albert Dichy gerade diesem Gespräch insofern eine Sonderstellung einräumt, als Genet hier mit großer Offenheit zu einer großen Vielzahl unterschiedlicher Themenbereiche Stellung bezieht, wie sie höchstens Un captif amoureux ver‐ gleichbar prägt: Est-ce dû à la personnalité de Fichte en qui il a trouvé un véritable interlocuteur […], à sa disponibilité momentanée ou au bénéfice du recul pris cette année par rapport à ses expériences politiques, rarement comme ici, Genet ne s’est exprimé avec autant de liberté. 98 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 292 99 Metz: „Der Autor und sein Double“, p. 328. 100 Genet: „Entretien avec Hubert Fichte“, p. 154-155. 101 Ibid., p. 163. 102 Ibid., p. 176. Als Triebfeder muss wohl ersterer Grund in Anbetracht der tatsächlichen De‐ montage von Fichtes Gesprächsführung ausscheiden, denn Genet versucht, sich der unliebsamen Interviewsituation zu entziehen, wie auch Metz hervorhebt: „[…] Genet spricht der ganzen Situation des Interviews als Dialog zwischen zwei gleichberechtigten und einander schätzenden Partnern ab, in irgendeiner Weise wahre Sätze zu produzieren.“ 99 So nämlich negiert Genet mehrfach im Interview die Möglichkeit, in der Konfrontation mit seinem Gegenüber die Wahrheit zu sagen. In einem ersten Kommentar begründet Genet dies durch die Produktion seines Selbstbildes in der interagierenden Situation des Gesprächs: „Quand je vous parle, là devant le micro, je ne suis pas tout à fait sincère. Je veux donner une certaine image de moi. Et je ne peux pas dire exactement qui je suis ni ce que je désire, parce que je suis comme n’importe qui, essentiellement chan‐ geant.“ 100 In einem weiteren metadiskursiven Kommentar wägt Genet die nur begrenzte Wahrheitsproduktion eines Dialoges gegenüber den Möglichkeiten von Kunst ab. Auf die Frage von Hubert Fichte, ob seine Fragestellungen gut gewählt seien, antwortet Genet: „Elles [les questions, S. I.] sont bonnes, mais je ne peux pas dire toute la vérité. Je ne peux dire la vérité qu’en art.“ 101 Diesen Gedanken greift Genet am Ende des Gesprächs erneut auf und präzisiert, dass die dialogische Situation die Wahrheit unterbinde, welche er nur vor sich selbst äußern könne: „Elle [la vérité, S. I.] est possible si je suis tout seul. La vérité n’a rien à voir avec une confession, elle n’a rien à voir avec un dialogue, je parle de ma vérité. J’ai essayé de répondre au plus près de vos questions. En fait, j’étais très loin.“ 102 Genet vergleicht hier die Dialogform mit einem Geständnis bzw. einer Beichte, die im Unterschied zur Kunst niemals zur Aufdeckung einer tie‐ feren Wahrheit oder gar wahrheitsgetreuen Äußerungen führen könne, ob‐ gleich der Wahrheitsbegriff im literarischen Werk keinen Absolutheitsanspruch vertritt, sondern subjektiv ausgelegt wird. In Un captif amoureux unterläuft Genet die dialogische Gesprächssituation, indem der Erzähler selbst die Rolle von Fragendem und Befragtem übernimmt und in ein Zwiegespräch mit sich selbst tritt, das Genets Verständnis nach dem Leser im Rahmen seines literarischen Textes grundsätzlich Zugang zu seiner persönlichen Wahrheit erlaubt. Insbesondere aber die bereits zitierte finale Textpassage über die Einsamkeit des Zeugen vor Gericht, „cette solitude lui donnant la légèreté d’où il peut dire la vérité, car dans la salle d’audience se 4.2 Autoreflexive Kritik zur eigenen Funktion in der Öffentlichkeit 293 103 Genet: Un captif amoureux, p. 611. Hervorhebung im Original. 104 Das Zitat von Dichy stammt aus seinen Annotationen zum Interview in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 371. 105 Genet: „Entretien avec Hubert Fichte“, p. 149-150. 106 Genet: Un captif amoureux, p. 248. Hervorhebung im Original. trouvent peut-être trois ou quatre personnes sachant écouter un témoin“ 103 , schränkt diese positive Auffassung einer zielführenden Kommunikation durch das Kunstwerk wieder ein, insofern die Entschlüsselung der subjektiven Wahr‐ heit nur einer zahlenmäßig überschaubaren, privilegierten Zuhörerschaft gelingen kann. In dem in Un captif amoureux simulierten Interview bleibt die Position des direkten Dialogpartners mit dessen spezifischen Interessenschwer‐ punkten unbesetzt, sodass die abgedruckten Fragen alleine Genets analytischen Blick auf das Phänomen der Black Panther Party bespiegeln und dem Leser von Un captif amoureux einen Einblick in die aus den gesellschaftlichen Entwick‐ lungen entstandene, persönliche Umdeutung der politischen Bewegung ge‐ währen. Die so präsentierte literarische Stellungnahme zu der Gruppierung der Black Panthers nährt sich aus einer Distanz gegenüber seinen politischen Er‐ fahrungen, die Albert Dichy bereits zum Zeitpunkt seines Interviews mit Hubert Fichte feststellt und als „reflux de l’activité politique“ 104 kenntlich macht. Darin spricht Fichte auch seine Aufnahme als Weißer in einem Kreise ausschließlich schwarzer Bürger an, eine Problematik, die Genet mit den Worten kommentiert „[p]lusieurs fois je me suis posé la question. J’étais tout seul, il n’y avait pas de Blanc, j’étais là au milieu d’eux […]“ 105 und die schließlich in abgeänderter Form die Einleitung in die hier besprochene Textpassage bildet. An einer anderen Stelle im Text ergründet Genet die Nähe seiner Person zu der politischen Grup‐ pierung und führt ihre Beziehung auf ein geheimes Einverständnis zurück, wel‐ ches auf den ihnen gemeinsamen fingierenden Qualitäten fundiert wird: Les quelques mois passés aux États-Unis avec les Panthères Noires seront aussi la preuve de la mauvaise interprétation de ma vie et de mes livres, les Panthères me voyant en révolté, à moins qu’il n’y eût, entre eux et moi, une complicité qu’ils ne soupçonnaient pas eux-mêmes car leur mouvement, plus révolte poétique et jouée que volonté d’un changement radical, était un rêve flottant sur l’activité des Blancs. Une fois ces pensées admises, celles-ci découlaient d’elles: si toute ma vie fut en creux alors qu’on la vit en relief, si le Mouvement noir fut surtout simulacre pour l’Amérique et pour moi, si j’y vins avec le naturel, la candeur que j’ai dits, si j’y fus accepté promptement, c’est qu’on avait reconnu en moi le spontané simulateur. 106 Genet begründet das Interesse der Black Panthers an seiner Person mit deren Fehlinterpretation seines Lebens und Werks, das, wie er hier berichtigt, nicht dem eines „révolté“ gleichkomme, sondern eines „spontané simulateur“. Gerade 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 294 107 Ibid. 108 Ibid. 109 Ibid., p. 143. 110 Genet: „May Day Speech“, p. 47. 111 Genet: Un captif amoureux, p. 248. 112 Ibid. in dieser Eigenschaft, mithilfe welcher er das von ihm verkörperte Image negiert, vermutet er aber Gemeinsamkeiten zu den Black Panthers, deren gesamte Be‐ wegung er mehr als „révolte poétique et jouée que volonté d’un changement radical“ 107 beurteilt sowie als „rêve flottant sur l’activité des Blancs“ 108 . Genet interpretiert die auf der Produktion eines Images (z. B. durch Kleidung, Haare und Rhetorik) basierende Selbstaffirmation der Afroamerikaner in der US -ame‐ rikanischen Gesellschaft jedoch nicht als Scheitern, wie es seine Argumentation gegen die Kreation von Emblemen und Symbolen in den 1970er Jahren vorgeben würde, sondern er betrachtet jene Metamorphose des Schwarzen als poetischen Sieg: Les Panthères allaient donc soit dans la folie, soit vers la métamorphose de la communauté noire, soit dans la mort ou en prison. Le résultat de l’entreprise fut tout cela, mais c’est la métamorphose qui l’emporta, de loin, sur le reste, et c’est pour ça qu’on peut dire que les Panthères ont vaincu grâce à la poésie. 109 Während Genet in seinen politischen Interventionen dahingehend eine Distanz zwischen seiner eigenen Position und den von ihm unterstützten Black Panthers aufbaut, dass sich seine Situation in den USA durch eine Form der Irrealität kennzeichnet, wie etwa in der „May Day Speech“ - [d]ans ma situation vis-à-vis de l’administration du pays, il entre une certaine irréalité dont je dois tenir compte. […] Je veux dire que, dans mes interventions, aucune irréalité ne doit se glisser, car elle serait préjudiciable au Black Panther Party, et à Bobby Seale, qui lui est bel et bien dans une prison réelle […], 110 - so stellt er diesen Aspekt der Irrealität rückblickend als verbindendes Glied heraus und betrachtet sich selbst in der „fonction de rêveur“ 111 und als „un de plus, un élément deréalisateur“ 112 für die Bewegung. So, wie er auf diese Weise die Authentizität der Black Panthers als revolutionäre Gruppierung mit dem Ziel einer radikalen gesellschaftlichen Veränderung in Abrede stellt, so negiert er mit dem Begriff des ‚spontané simulateur‘ auch die Ernsthaftigkeit seines ei‐ genen Engagements oder, wie Marie Redonnet formuliert, „[il] brouill[e] son 4.2 Autoreflexive Kritik zur eigenen Funktion in der Öffentlichkeit 295 113 Marie Redonnet: „Jean Genet et la politique“, in: Elisabeth Boyer / Jean-Pierre Boyer (Hgg.): Genet, exposition présentée au Musée des Beaux-Arts de Tours du 8 avril au 3 juillet 2006, Tours: Farrago 2006, pp. 223-230, hier 226. 114 Genet: Un captif amoureux, p. 410. 115 Vgl. ibid., p. 251. 116 Dreyer: Révolutions! , p. 229. 4.3 image d’écrivain engagé, devenue celle, irréelle, du rêveur.“ 113 Vor diesem Hin‐ tergrund bildet auch Genets Retranskription seines früheren Interviews die Ver‐ schiebung seiner Rolle von einem in der Öffentlichkeit vermittelnden und agier‐ enden hin zu einem simulierten Gesprächspartner ab, wenn auch seinem Verständnis zufolge erst die künstlerisch-literarische Adaption des Gespräches eine Wahrheit produzieren kann, wohingegen die reale Gesprächssituation dies nicht leisten könne. Dabei bleibt jedoch nicht nur in der hier näher betrachteten Textpassage des simulierten Interviews, sondern vor allem auch im gesamten Text offen, an wen sich Genet in Un captif amoureux richtet und wen er zu jener privilegierten Zuhörerschaft seiner Zeugenschaft zählt, der es gelingen kann, aus seinem Text die Wahrheit zu filtern. So hinterfragt er beispielsweise in einem autoreflexiven Kommentar den Adressaten seines Textes: „Puisque ce livre ne sera jamais traduit en arabe, jamais lu par un Français ni aucun Européen, puisque cependant sachant cela je l’écris, à qui s’adresse-t-il? “ 114 Diese textim‐ manent reflektierte, verfehlte Kommunikation begründet er mit dem man‐ gelnden Interesse der europäischen Leserschaft an der Thematik seines Werks. 115 Am Beispiel jener „ambiguïté constante vis-à-vis du destinataire“ 116 kann auch die undefinierte Zielsetzung von Un captif amoureux aufgezeigt werden. Denn anhand des werkexternen Verweises auf einen ehemaligen In‐ terviewtext stellt Genet zur Schau, wie die interventiven Textfunktionen zu‐ gunsten einer Selbstreflexion ihrer eigenen Mechanismen und Kommunikati‐ onsfähigkeit ausgehöhlt werden. Die Transposition des Selbstbildes als ‚voyageur‘ in eine makrokosmische Erzählperspektive Bereits zum Zeitpunkt seiner politischen Interventionen in den frühen siebziger Jahren versuchte Genet sich dem Konzept des engagierten Autors zu entziehen und verweigerte die Titulierung als Revolutionär unter Berufung auf seinen politisch unbeschriebenen Status als staatenloser Vagabund. Die Aussage aus seiner „May Day Speech“ von 1970, dass „[sa] façon de vivre, ici et ailleurs, est 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 296 117 Genet: „May Day Speech“, p. 47. 118 Dieser Aspekt wurde insbesondere in Kapitel 3.1.3 im Kontext von Genets Positionie‐ rung im gegenkulturellen Feld herausgearbeitet, in dem er die Bezeichnung des Vaga‐ bunden und Reisenden zwar zur Distanzierung von den revolutionären Bewegungen benutzt, aber zugleich einen gegenkulturellen Topos bedient. 119 Genet: Un captif amoureux, p. 516. celle d’un vagabond et non d’un révolutionnaire“ 117 , steht dafür als Banner. Auch in Un captif amoureux knüpft er an diesen Existenzentwurf an, um seiner un‐ beteiligten Haltung auf politischer Ebene Ausdruck zu verleihen. 118 Dies zeigt sich beispielsweise in seiner rückblickenden Bewertung der Gefängnisrevolten in Europa und Nordamerika, welche im Ursprung mit der Forderung der Ge‐ fangenen nach einem politischen Status einherging: En Europe et en Amérique du Nord, un courant d’air allait traverser les prisons et mettre en danger l’activité nocturne qu’on y vivait depuis longtemps, et qui appelle les mots croupir, soupir, gémir, vagir, geindre, râler, tousser, rêver solitairement mais avec orgueil. Les jeunes et les vieux prisonniers soudainement refuseront la soupe, ils se barricaderont dans leurs ateliers où l’occupation la plus adulte est la confection de ronces en fer et de sapins de Noël en plastique vert sombre, vert crépuscule; ils mettront le feu aux objets capables de flamber ou de se consumer dans une braise rouge, au milieu de beaucoup de fumée; les flammes sortiront des lucarnes dont les vitres auront pété dans la fournaise. Les hommes enfermés croyaient participer au dévergondage général par une effusion que je ne parvenais pas à transmuter en réflexion politique, comme ils l’eussent désiré, car je ne pouvais mettre fin à mon vagabondage, mon temps chez les Palestiniens n’étant qu’une étape, un repos, un jardin où l’on se détend pour repartir, où j’apprenais en me déplaçant que la Terre est probablement ronde. 119 Genet positioniert sich selbst kritisch gegenüber den Aufständen in den Ge‐ fängnissen und bekräftigt sein eigenes Unvermögen, die Ansprüche der Ge‐ fängnisinsassen auf eine politische Anschauung zurückzuführen, wie sie - so betont er - es gewünscht hätten. Darüber hinaus definiert er die Gefängnisre‐ volten als Gefahr für das nächtliche Treiben in den Gefängnissen und reißt somit eine Kluft zwischen den revoltierenden und den übrigen Gefangenen auf. Jene gegensätzliche Haltung hatte er bereits in seinem zu Lebzeiten unveröffent‐ lichten Artikel „Un enchantement - ou plutôt une sorcellerie“ als Opposition nachgezeichnet: Nous sommes - et en France aussi - à une époque où la population des prisons s’affronte: ceux qui veulent y vivre, y poursuivre de micro-événements toujours 4.3 Die Transposition des Selbstbildes als ‚voyageur‘ 297 120 Genet: „Un enchantement“, p. 210. 121 Vgl. ibid., p. 211. 122 Genet: Un captif amoureux, p. 516. 123 Ibid. 124 Ibid., p. 477. répétés - poétisés - et ceux qui veulent détruire cette conception de la peine qui est va-et-vient insignifiant d’un jour à l’autre. 120 In Un captif amoureux reflektiert Genet die noch in seinem Artikel dargelegten Gemeinsamkeiten der revolutionären („révolutionnaires“) und der isolierten („isolés“) Gefangenen hinsichtlich ihres Widerstandes und ihrer Verweigerung gegenüber der legislativen Macht sowie der durch sie abgesicherten geltenden Ordnung nicht weiter, 121 sondern motiviert vielmehr seine Dissoziation von dieser Bewegung mit der Begründung „car je ne pouvais mettre fin à mon va‐ gabondage“ 122 . Er beansprucht für sich die Rolle des Umherreisenden und nimmt die bereits in einigen seiner Artikel beobachtete, auf die Erde herabblickende Perspektive ein, aus der ihm die Feststellung gelingt, „que la Terre est proba‐ blement ronde.“ 123 Hervorgehoben wird auch, dass selbst sein Verweilen bei den Palästinensern nur die Bedeutung einer vorübergehenden Etappe auf seiner Reise hat und seine Existenz als Vagabund nicht infrage stellt. Genet definiert in zwei Textpassagen in Un captif amoureux die Prinzipien des Umherreisenden nun folgendermaßen: In der ersten bildet die Lossagung von jeglicher Form der Ordnung - sogar der revolutionären Ordnung des pa‐ lästinensischen Widerstandes - den Kern und in der zweiten Textstelle die Ab‐ kehr von materiellen Besitzansprüchen. Dies veranschaulicht Genet jeweils in einem gleichnishaften Bild. Als Motiv der Distanz zum palästinensischen Frei‐ heitskampf führt Genet eine beispielhafte Episode an: Eines Morgens be‐ obachten er und die palästinensischen Kämpfer, wie die Ziegenherde eines Hir‐ tenjungen außer Kontrolle gerät und die gesamten, an die Schlafstelle angrenzenden Gersten- und Roggenfelder abgrast. Genet vergleicht das unge‐ ordnete und wilde Verhalten der Ziegen mit den Fedajin, „étaient-elles l’image agile, dévergondée de la liberté, de la révolte, de l’anarchisme, tels qu’eux-mêmes se voulaient, se croyaient être,“ 124 und kritisiert, dass sie dem befreundeten Hirten nicht dabei helfen, die Ziegen aus den Feldern zu treiben, um die Ernte zu retten: Quand je dis au responsable d’aider le petit berger, il rit plus fort que ses soldats-enfants réunis. Je vis alors la distance qui séparait le vagabond que j’étais 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 298 125 Ibid., p. 478. 126 Ibid. 127 Ibid., p. 521. 128 Ibid. 129 Ibid. 130 Ibid., p. 523. encore et le gardien d’un ordre que je risquais de devenir si je me laissais aller à la tentation de l’ordre et du confort qu’il assure. 125 Genet kontrastiert somit seine eigene Ungebundenheit mit der durch den revo‐ lutionären Kampf der Palästinenser gestellten Ordnung, von der aus, versteckt hinter ihrer poetischen Form, kaum wahrnehmbare Aufrufe zum Konformismus ausgingen, so Genet: De temps en temps je devrai revenir sur le combat à mener contre les sollicitations, non d’un régime en France, la réponse étant trop claire si l’on pense au prosaïsme de cette nation, mais de celles qui semblent venir de révoltes où la poésie très visible dissimule, presque imperceptibles encore, des appels au conformisme. 126 Der Existenzentwurf des Vagabunden wird folglich als unabhängige und anti‐ konformistische Verhaltensweise begriffen. In einer zweiten autoreflexiv ge‐ stalteten Textstelle wird nicht das Selbstbild des „vagabond“ entworfen, sondern es ist die Rede vom „principe du voyageur“ 127 , welches Genet als „le souci de se débarrasser de tout objet extérieur“ 128 definiert. Genet knüpft bildlich dabei an das nomadische Umherziehen eines alten Mannes an, der jeglicher Form von Besitztum ablehnend gegenübersteht: Le vieillard qui va de pays en pays, chassé par celui où il se trouve autant qu’aspiré par les suivants […] refusant le repos que donne la propriété, même modeste, connut l’étonnement de sa chute en lui-même, il s’écouta, il se regarda vivre. Par propriété il faut entendre, selon le droit presque universel, un certain nombre d’objets, ou d’immeubles, ou de terres, ou de gens, extérieurs à soi, mais desquels un propriétaire aurait la disposition, d’en user, jouir, en abuser. Une maison est un immeuble dans lequel on se tient, où l’on circule, se déplace. 129 Im Unterschied zum Prinzip der Sesshaftigkeit basiert Genets Vorstellung vom Reisen auf einer Rückbesinnung auf sich selbst, einer „chute en lui-même“, welche den Rückzug in eine Behausung substituiert. Statt eines äußeren Refu‐ giums konstruiert er durch die Lossagung von materiellen Besitztümern eine innere Zuflucht, „une maison à l’intérieur de moi“ 130 , die erst ein Dasein in stän‐ diger Bewegung und ohne einen festen, jenseits des Individuums selbst befind‐ lichen Fixpunkt ermöglicht. Genets Selbstverständnis als Reisender manifestiert 4.3 Die Transposition des Selbstbildes als ‚voyageur‘ 299 131 Ibid., p. 421. 132 Vgl. ibid., p. 76-80. 133 Vgl. zu den Abweichungen zwischen La Sentence und Un captif amoureux hinsichtlich der jeweiligen kontextuellen Verankerung der Textstelle: Bertrand: „La Sentence“, p. 627. 134 Genet: Un captif amoureux, p. 80. sich in Un captif amoureux, das er als „livre de voyage“ 131 bezeichnet, auch durch die Aufnahme einer gesamten Textpassage aus dem zu Lebzeiten unveröffent‐ lichten Manuskript La Sentence, in der Genet seinen Flug nach Japan be‐ schreibt. 132 Obwohl diese inhaltlich unverändert bleibt, ergibt sich durch das neue Textumfeld eine Bedeutungsverschiebung. Die von der Begrüßung einer Stewardess mit dem japanischen Wort ‚Sayonara‘ ausgehende kathartische Wir‐ kung des Fluges auf Genets Bindung an das jüdisch-christliche Moralver‐ ständnis wird in La Sentence durch die Annotationen mit der Entstehung und Entwicklung des westlichen Rechtssystems verknüpft, von dem er sich los‐ sagt. 133 Daher bildet der Flug über Japan hier das auslösende Moment einer um‐ fassenden Reflexion über die Entstehung und Wirkung des Gerichtsurteils, das als Ausdruck des okzidentalen Wertesystems verstanden wird. Im Unterschied zu La Sentence kontrahiert Genet in Un captif amoureux drei Textabschnitte, so dass neben den Randbemerkungen zum rechtsstaatlichen Themenkomplex auch die Ausführungen über die Bedrohung durch einen atomaren Krieg ausgeklam‐ mert werden. Dadurch gerät der ursprüngliche politische Zusammenhang der Kritik an der Rechtsstaatlichkeit in den Hintergrund, und das Motiv der Reise nach Japan schreibt sich in Un captif amoureux in die selbstreflexiven Ausfüh‐ rungen der letzten Jahrzehnte seines Lebens ein. Die rechtskritischen Kommen‐ tare dienen entsprechend nicht mehr als Hintergrundfolie einer allmählichen Distanzierung von der auf dem Rechtssystem basierenden okzidentalen Moral‐ vorstellung, sondern fließen in diffuser und gebrochener Form in Un captif amoureux ein. Aus diesem Deutungsansatz in seiner Gesamtheit herausgerissen erhalten auch die einzelnen Fragmente in ihrem jeweiligen neuen Kontext eine andere Bedeutungsdimension, wie sich am Beispiel des an die Episode im Flug‐ zeug anschließenden Textausschnitts zeigen lässt. Darin erklärt Genet, dass ein Verurteilter kurz vor seinem Tod noch über den Sinn seines Lebens bestimmen möchte: Tout aura lieu sur fond de nuit: sur le point de mourir, malgré le peu de poids de ces mots, leur peu de substance, le peu d’importance de l’événement, le condamné voudrait encore décider seul du sens de ce que fut sa vie - écoulée sur fond de nuit qu’il voulait épaissir non illuminer. 134 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 300 135 Genet: La Sentence, p. 18. 136 Genet: Un captif amoureux, p. 373. 137 Genet: La Sentence, p. 14. 138 Ibid. 139 Genet: Un captif amoureux, p. 373. Zwar verweist die Passage durch ihre Situierung zwischen der Beschreibung des Fluges nach Japan und einer Rückblende auf Genets Teilnahme an der Kampagne für die Freilassung von Bobby Seale weiterhin auf ihr ursprüngliches Textumfeld in La Sentence, kann aber im Gesamtkontext von Un captif amoureux auch au‐ tobiographisch gedeutet werden, insofern Genet nämlich mehrfach eine Vo‐ rausschau auf sein eigenes Lebensende vornimmt. Anders als in La Sentence endet der Satz nicht mit der typographisch als Ausruf gekennzeichneten An‐ klage „ VOL S ! “ 135 , doch wird die Situation des Fluges, des „vol“, auch in Un captif amoureux in seiner homonymen Doppeldeutigkeit ausgelegt, auch wenn nur implizit eine Anknüpfung an den rechtskritischen Diskurs fortbesteht. Genet wendet die Homonymie des Verbs ‚voler‘ in der Bedeutung von ‚stehlen‘ und ‚fliegen‘ in Un captif amoureux insbesondere in Bezug auf den palästinensischen Freiheitskampf an, wie seine Beschreibung einer Plünderung durch die Palästi‐ nenser 1970 in Jordanien aufzeigt: En 1970-71, en Jordanie, j’ai vu aussi des feddayin heureux de pouvoir sans trop de risques chaparder des voitures, des appareils-photos, des disques, des livres et des pantalons. Pour se protéger d’une sanction morale ils se disaient et disaient aux autres: ‚Je suis un révolutionnaire.‘ Dans les deux sens des deux mots ils volaient […]. 136 Die Begriffe der Revolution und des Diebstahls im Sinne einer Überschreitung der moralischen Grundsätze werden miteinander verknüpft und wie bereits in La Sentence durch das im Verb ‚voler‘ verwurzelte Bewegungsmotiv ausge‐ weitet. Die in La Sentence formulierte Interpretation der kriminellen Geste, der „geste criminel“ 137 , als „préfiguration de l’acte révolutionnaire“ 138 wird in diesem Beispiel der Plünderung jedoch kritisch bewertet. Tatsächlich definiert Genet die Revolution als „une autorité, une instance supérieure à toutes les autres“ 139 , unter deren Deckmantel die Eigentumsvergehen von den Palästinensern durch‐ geführt werden. Ähnlich wie in der in die Erzählung integrierten Parabel über das Missgeschick des Ziegenhüters beschreibt Genet die Revolution selbst als ein Ordnungsprinzip, dem er abschwört. In diesem Verständnis bezieht Genet das in La Sentence entwickelte poetische Konzept der Revolution, welches auf seinen etymologischen Ursprung zurückgeführt als zirkularer Bewegungsme‐ chanismus aufgefasst und veranschaulicht wird, in Un captif amoureux indes nicht mehr auf seine eigene Position, sondern baut es zur Darstellung der Ge‐ 4.3 Die Transposition des Selbstbildes als ‚voyageur‘ 301 140 Genet benutzt den Ausdruck des kosmogonischen Gesetzes nicht so sehr, um die Ent‐ stehung des Weltalls und der Himmelskörper zu beschreiben, sondern verwendet diesen metaphorisch, um den Wandel gesellschaftlicher Dispositionen zu verbildlichen. 141 Genet: La Sentence, p. 14. 142 Genet: Un captif amoureux, p. 215. sellschaftsordnung zu einem vermeintlichen kosmogonischen Gesetz aus. 140 Zwar knüpft er zur Definition seiner eigenen Haltung weiterhin an das Prinzip des Reisenden und Vagabunden an, ohne dabei jedoch auf das durch seine Um‐ drehungskraft im etymologischen Sinne als ‚revolutionär‘ zu bezeichnende Be‐ wegungsprinzip zu rekurrieren, wie noch in La Sentence: Un voleur qui vole vers le Japon peut sans doute mal se dépêtrer des émotions et des souvenirs qui le lient à un autre voleur qui, sans bouger d’un poil, continue son destin de voleur, au milieu d’une cellule cubique emportée plus vite que l’avion le plus vite. Il est préférable de croire que rien ne fut jamais décidé clairement quant au rôle de pivot du monde. C’est peu à peu que les voyages décrits dans ce livre déroulaient autour de la prison des cercles au rayon de plus en plus large ou subitement très court comme pour enfermer le voleur encore mieux, de le boucler en bouclant une circonférence, de le surveiller et en même temps de parcourir à sa place le monde […]. 141 Stattdessen wird der umkreisende Bewegungsablauf in Un captif amoureux zu einer makrokosmischen Betrachtungsperspektive verwandelt, bei der nicht mehr die eigene Umdrehung um eine selbstbestimmte, variable Erdachse das Sichtfeld determiniert, sondern die Gesellschaftsordnung als kosmogonisches Kräfteverhältnis durch einen nochmal stärker ausgezoomten Blickpunkt ver‐ anschaulicht wird. Ausgehend von einer Beschreibung der Roma-Lager in Ser‐ bien am Rande des Dorfes Oujitsé-Pojega, welche für Genet symptomatisch die auf deren abweichender Moralvorstellung basierende, marginalisierte gesell‐ schaftliche Stellung der Roma charakterisiert, vergleicht er das palästinensische Gebiet und dessen palästinensische Widerstandsbewegung in Relation zu den übrigen arabischen Staaten im Nahen Osten mit einem Wandertrabanten: La Palestine satellite erratique, se déplaçant à l’intérieur du monde arabe, une pseudo-tribu, sous-satellite de la Palestine, tournait autour d’elle sans jamais s’y écraser. Ce résidu tribal demeurait en orbite comme autrefois, en Serbie, les campements tziganes, tenus par les Serbes à l’écart par leurs habitudes, leur morale ou par eux-mêmes car c’était là leur façon de survivre. Si l’ordre du cosmos exige des soleils autour desquels gravitent des astres, l’ordre social alors me parut semblable; tout soleil garde ses distances au sens géométrique de ce terme. Cette loi cosmogonique des sphères sociales est si vieille! 142 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 302 143 Ibid. 144 Ibid. 145 Ibid. 146 Ibid. 147 Vgl. ibid., p. 216-217. 148 Ibid., p. 217-218. Mit dem hier beschriebenen Bild, demzufolge die Umlaufbahn des Wandertra‐ banten stets im konstanten Abstand zur ordnungsbestimmenden Sonne als stellarem Dynamo bleibt, illustriert Genet das soziale Ordnungsprinzip der Ge‐ sellschaft. Die sozialen Sphären des Gesellschaftsgefüges werden nur gelegent‐ lich durch als Unfälle, „accidents“ 143 , bezeichnete Ereignisse von gesellschaftlich geringer bis großer Bedeutung durchbrochen, wie etwa die „mariages d’intérêts, amours fous, victoires d’une minuscule dynastie sur la rivale, spéculations dé‐ sastreuses de la banque Lazard, et les suites […].“ 144 Während Genet im obigen Zitat die politische Situation im Nahen Osten als kosmisches Kräfteverhältnis zwischen dem als Palästina bezeichneten Gebiet und einem „pseudo-tribu, sous-satellite de la Palestine“ 145 darstellt, um die palästinensische Revolution auf einer figürlichen Ebene zu reflektieren, beruft er sich in dem anschließenden, ergänzenden Kommentar zu diesem System auf Israel, das sich in seiner dem Urknall entsprungenen Absolutheit definiere: „Israël était le soleil qui se veut le plus singulier, s’il ne peut être le plus éclatant ni le plus éloigné dans le cosmos, mais le premier-né en somme du bang primordial.“ 146 Die nachfolgende histori‐ sche Betrachtung verdeutlicht dieses Prinzip der sozialen Sphären, indem Genet zunächst auf die Vorherrschaft zweier palästinensischer Großfamilien unter os‐ manischer Befehlsgewalt verweist, welche schließlich durch die israelische Be‐ setzung enteignet werden. 147 Er veranschaulicht so zum einen die Distanz zwi‐ schen dem palästinensischen Widerstand und den führenden palästinensischen Großfamilien und exemplifiziert zum anderen deren allmählichen Abfall von der einstmals durch sie repräsentierten moralischen Ordnung nach der israeli‐ schen Land- und Machtübernahme. Aus einem Gespräch mit einem palästinen‐ sischen Zeitungsredakteur in Beirut erfährt Genet, wie dieser durch die verän‐ derte Besatzungssituation zum Dieb und damit zum Abtrünnigen der neuen Ordnung wird: Mon fils est revenu plusieurs fois à la maison avec des fruits très frais. La première, j’ai refusé d’en manger, leur origine me paraissait peu sûre. La deuxième fois j’en ai mangé, j’avais si faim. Après, j’attendis que mon fils m’en apportât, et finalement je suis devenu son précepteur dans cet art, le vol. […] L’invasion a fait de nous des délinquants de droit commun. Mais surtout des menteurs, et en cela seulement notre morale un moment voilée s’est effondrée. 148 4.3 Die Transposition des Selbstbildes als ‚voyageur‘ 303 149 Ibid., p. 535. Wenngleich sich Genets Ordnungsmodell grundsätzlich auf jene gesellschafts‐ politischen Konstellationen anwenden lässt, in denen mindestens zwei Parteien hinsichtlich ihrer moralischen Anschauung in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, rückt er doch in seinem konkreten Beispiel vor allem auch den Wandel der politischen Situationen in den Vordergrund, im Zuge dessen neue Kräfte und dadurch auch ständig neue Konstellationen entstehen können. Sich einander ablösende Ordnungen implizieren auch stets neue, von diesen abweichende Gruppierungen, so dass selbst die palästinensische Revolution fortwährend droht, in einem eigenständigen Ordnungsprinzip aufzugehen. Genet schafft damit ein Anschauungs- und Erklärungsmodell, das ihn selbst in einer überschauenden Position vermuten lässt, aus der er mit historischem Weitblick urteilt. Dieser Aspekt manifestiert sich auch in einer weiteren Text‐ passage, in der ausgehend vom französischen Terminus ‚éclipser‘ für den Pro‐ zess der Verfinsterung die Verflechtung sich gegenseitig ablösender revolutio‐ närer Bewegungen mit dem altostasiatischen Bild für die Sonnenfinsternis, nämlich dem die Sonne verschlingenden Drachen, beschrieben wird: Éclipser est un mot riche. Outre le soleil, plus visible si la lune l’éclipse, tout événement, homme, figure, éclipsés par d’autres ou d’autres choses reviennent régénérés, la disparition fût-elle brève a fait son œuvre qui est de nettoyage, de polissage. […] Les maléfices du verbe éclipser laissent apparaître la vieille image chinoise, indienne, arabe, iranienne, japonaise, du dragon avalant le soleil, celui que la lune éclipse. […] Partons de l’Est, nous verrons les soulèvements et les boursouflures de la jeunesse sans cesse éclipsés par ce qui vient, s’éclipsant un moment de l’Histoire afin de réapparaître inconnu et neuf. En 1966, les Zengakuren au Japon, les Gardes Rouges en Chine, les révoltes étudiantes à Berkeley, les Panthères Noires, Mai 1968 à Paris, les Palestiniens; autour de la Terre, ces vifs anneaux étaient le contraire de ces autres tours du monde, suivant d’autres parallèles: les accroupissements et la ligne de failles telluriques. L’image du dragon bâfreur de soleils rend compte peut-être de la loi gouvernant les étoiles, la gravitation. 149 Genet verwebt dabei jenes mythologische Abbild der Sonnenfinsternis mit dem der ‚revolutionären‘ Umlaufbahnen, obschon er den Fokus nun nicht mehr auf das kosmogonische Gesetz der Ordnung zwischen den Entitäten legt, sondern auf das Verschwinden verschiedener Kräfte: Einzelne Gestirne im System - hier symbolisch für die zuvor enumerierten aufständischen Gruppen - verfinstern sich, da sie von neuen ersetzt werden. Die Umlaufbahnen dieser unterschiedli‐ chen revolutionären Bewegungen verlaufen in diesem Beispiel gegensätzlich zu den übrigen und werden darüber hinaus in einem Rückgriff auf die ursprüng‐ 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 304 150 Ibid., p. 535-536. 151 Vgl. beispielsweise die Textpassage, in der der Erzähler ankündigt, „de voir les choses d’un peu haut“ und sich mit einem vertikal aufsteigenden Flugzeug vergleicht: Ibid., p. 175; sowie die längere Sequenz über einen Flug oberhalb brasilianischer Mari‐ huana-Plantagen, der als Rückzug in ein eigenes Universum beschrieben wird: Ibid., pp. 485-492. 152 Vgl. ibid., p. 421. liche Entwicklung dieses kreisförmigen Bewegungskonzeptes in La Sentence mit der Destabilisierung von Zeit im Gefängnis verkettet: À peine le temps de penser que la prison est creuse, si l’on veut pleine de trous, d’alvéoles, et dans chacun un homme s’invente un temps et un rythme échappant à ceux des astres. Au centre de chaque alvéole, un chant d’une seule note ou pas un cri. Les prisons sont creuses. Verbe malicieux, un peu craintif, s’éclipser permet d’être à toute chose l’astre éclipsant l’autre. 150 In Anlehnung an diese monadische Sichtweise werden die revolutionären Be‐ wegungen als von der Ordnung abrückend und die Zeit destabilisierend darge‐ stellt, obschon Genet in Un captif amoureux aus unterschiedlichen Perspektiven deren Endlichkeit thematisiert. Sich selbst platziert er innerhalb dieses Kon‐ zeptes in einer absoluten Distanz zu den historischen Ereignissen und nimmt eine erklärende und rückblickend bewertende Funktion ein. Seine Autodesig‐ nation als ‚vagabond‘ und ‚voyageur‘ setzt, wie bereits in seinen politischen Reden und Texten, die Konzeption eines Daseinsentwurfs voraus, der einerseits die Charakteristik einer unablässigen Widerständigkeit gegenüber jeder kohä‐ renten Ordnung aufweist und andererseits dem Ideal einer unentwegten Fort‐ bewegung entspricht. Im Unterschied zu der in La Sentence wiedergegebenen Beschreibung seiner eigenen Umkreisung um einen Gefangenen, der die Erd‐ achse und damit den Dreh- und Angelpunkt seiner Bewegung bildet, positioniert sich Genet in Un captif amoureux als entfernter Beobachter des als kosmisches Modell entworfenen Gesellschaftssystems. Damit wird mithin die Perspektive eines aus dem fliegenden Flugzeug blickenden Reisenden überboten, wie sie auch weiterhin in unterschiedlichen Textpassagen als metaphorisches und nar‐ ratives Mittel der Distanzierung in Szene gesetzt wird. 151 Diesem makrokosmi‐ schen Blickwinkel gegenüber stehen die zahlreichen, während seiner Reisen gesammelten Beobachtungen aus nächster Nähe, die anekdotisch und dialogisch als Begegnungen aufgearbeitet werden und sich auch als Einträge eines Reise‐ berichtes interpretieren lassen, als welcher Un captif amoureux bezeichnet wird. 152 Für Jerôme Neutres schreibt sich Genet mit Un captif amoureux in die europäische Tradition literarischer Reiseberichte über den Orient ein, auch 4.3 Die Transposition des Selbstbildes als ‚voyageur‘ 305 153 Vgl. Neutres: Genet sur les routes du Sud, p. 28-29 und zur These der Entgrenzung p. 322. 154 Genet: Un captif amoureux, p. 149. 155 Ibid. 156 Vgl. ibid., p. 252. 157 Ibid., p. 253. wenn bei ihm die Entdeckung des Orients als Konsequenz einer Flucht vor dem Okzident zu bewerten sei und die Form einer totalen Entgrenzung annehme. 153 Tatsächlich bleibt der Akt des Reisens in Un captif amoureux einem Prinzip der Disjunktion nicht alleine vom Okzident, sondern auch von den revolutionären Gruppierungen untergeordnet. Zwar wird durch die Reise in den Nahen Osten die räumliche Distanz überwunden, jedoch bleibt die Haltung weiterhin desin‐ tegrativ. In Bezug auf den palästinensischen Freiheitskampf verwendet Genet auch die Metapher des Zuschauers in einem Theater oder Kino, um sein eigenes Detachement herauszukristallisieren. Seine Beobachtungen erfolgen in diesem Verständnis „d’une fenêtre ou d’une loge, et comme avec une lorgnette de nacre, j’aurai regardé la révolte des Palestiniens.“ 154 Betont wird dabei die Entfernung zur Bewegung trotz seiner persönlichen Präsenz bei den Palästinensern, welche auch durch den Akt des Schreibens selbst manifest wird und schließlich in der Erzählperspektive aufgeht: Que j’étais loin d’eux - par exemple quand j’écris ce livre, au milieu des feddayin, je demeurais en deçà d’une lisière, je me savais épargné, non par la grâce de mon physique celte, non par un enrobement de graisse d’oie mais d’une cuirasse autrement étincelante et sûre: ma non-appartenance à une nation, à une action où je ne me confondis jamais. Le cœur y était; le corps y était; l’esprit y était. Tout y fut à tour de rôle; la foi jamais totale et moi jamais en entier. 155 Genet vertieft diesen Ansatz im Gespräch mit dem sudanesischen Kämpfer für den palästinensischen Widerstand, Moubarak, der ihm vorschlägt ein Filmdreh‐ buch über die Bewegung zu schreiben 156 und Genet schließlich in einem meta‐ phorischen Vergleich vorwirft, niemals die Funktion eines Akteurs einzu‐ nehmen, sondern lediglich hinter den Kulissen seinen Platz zu finden: „Tu étais dans la salle tu es venu dans les coulisses. Tu as fait pour ça le voyage de Paris. Mais tu ne seras jamais acteur.“ 157 Diesem Urteil geht eine längere autoreflexive Passage voraus, in der Genet sein Unwohlsein während eines Kinobesuchs näher beleuchtet. Dieses ist den komfortablen Polstersitzen geschuldet, welche ihn schließlich dazu bewegen aufzustehen und sich auf den auch noch als zu weich empfundenen Stufen niederzulassen. Die Selbstkritik richtet sich hierbei gegen die behütete Position des Zuschauers und führt ihn zum endgültigen Verlassen 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 306 158 Ibid. 159 Ibid., p. 421. 160 Najet Limam-Tnani: „Guerre et création artistique dans Un captif amoureux de Jean Genet“, in: Ralph Heyndels (Hrsg.): Les passions de Jean Genet. Esthétique, poétique et politique du désir, Fasano / Paris: Schena Editore / Alain Baudry 2010, pp. 133-146, hier 144. Hervorhebung im Original. 4.4 des Saals: „Avec les zooms, les grues, la féerie par câbles montrerait la mort des Palestiniens jusqu’à la béatitude des spectateurs.“ 158 In Moubaraks Vorwurf ent‐ springt der Reise die nur bedingte Möglichkeit einer Überwindung der Distanz, weil der Beobachter sich von den Zuschauerrängen hinter die Kulissen begibt und sich folglich aus geringer Sichtweite den Ereignissen annähert. Dennoch bleibt er trotz - oder gerade wegen - seiner künstlerischen Arbeit hinter den Kulissen der außenstehenden, betrachtenden Rolle verhaftet, deren erzählper‐ spektivische Transposition par excellence im makrokosmischen Blick zum Aus‐ druck kommt. Dem Reisen kommt somit in Bezug auf den palästinensischen Widerstand die widersprüchliche Bewegungsfunktion der Annäherung und gleichzeitigen Distanzierung zu. Mit der Bezeichnung des „livre de voyage“ 159 wird Un captif amoureux folglich nicht einfach der Reiseliteratur zugeordnet, sondern Genet markiert sein Werk damit als Erzählung eines Detachements, das auch im Akt des Schreibens selbst begründet liegt. Zur Umdeutung des Kanons in «Un captif amoureux»: Von der revolutionären Kunstform zum kriegerisch-musikalischen Täuschungsmanöver „Un captif amoureux: livre de témoignage ou chant épique à la gloire des ‚guer‐ riers-artistes‘? “ 160 - mit dieser Fragestellung widmet sich Najet Limam-Tnani der gattungsspezfischen Klassifizierung von Un captif amoureux unter Rekurs auf den Augenzeugenbericht und den epischen Gesang als zwei einander ausschlie‐ ßende Kategorien. Dabei untermauert ihre Untersuchung die Nähe des Werks zum epischen Gesang im Kontrast zum Augenzeugenbericht, ungeachtet der Definition, die Genet selbst in seinem Werk elaboriert. Denn wie herausgear‐ beitet wurde, versteht Genet die Zeugenschaft als eine subjektive Darstellung von Realität, die das Konzept der Wahrheit alleine künstlerisch-poetischen Prin‐ zipien unterstellt. Die richtigerweise konstatierte Entwicklung von der Bericht‐ erstattung unmittelbar nach den blutigen Ereignissen in Sabra und Schatila in „Quatre Heures à Chatila“ zu einer literarischen Darstellung der palästinensi‐ schen Befreiungsbewegung in einer ausgedehnten Zeitspanne von mehr als 4.4 Zur Umdeutung des Kanons in «Un captif amoureux» 307 161 Ibid., p. 146. 162 Genet: Un captif amoureux, p. 14-15. Hervorhebung im Original. 163 Ibid., p. 201. 164 Ibid. zehn Jahren wird bei Limam-Tnani als Argument für die epische Überschreibung von Un captif amoureux verwendet: Entre „Quatre Heures à Chatila“ écrit juste après les massacres des camps et fortement marqué par la violence des images perçues par l’auteur et Un Captif amoureux, où la guerre est sans cesse considérée à partir de l’art et qui se veut un chant à la gloire des révolutionnaires, nous relevons un décalage […]. 161 Die Beschreibung von Un captif amoureux als Ruhmeshymne auf die heroischen Taten im palästinensischen Befreiungskampf wirkt jedoch einseitig und wird der Vielschichtigkeit und der gattungsspezifischen Hybridität des Werks nicht gerecht. Denn bei Genet schließen sich die literarischen Gattungen des Augen‐ zeugenberichtes und des Heldenepos nicht aus, sondern ergänzen sich, wie nachfolgendes Zitat verdeutlichen soll: La gloire des héros doit peu à l’immensité des conquêtes, tout à la réussite des hommages; L’Iliade plus que la guerre d’Agamemnon; les stèles chaldéennes que les armées de Ninive; la colonne Trajane; La Chanson de Roland; les peintures murales de l’Armada; la colonne Vendôme; toutes les images de guerres furent exécutées après les batailles grâce aux butins, à la vigueur des artistes, à la négligence des révoltes et des pluies. Demeurent seuls, les témoignages plus ou moins exacts mais toujours excitants, accordés aux siècles à venir par les conquérants. 162 Tatsächlich nämlich werden hier die Hommage als Würdigung ruhmreicher Helden und der mehr oder weniger exakte Augenzeugenbericht der Sieger beide als in die Zukunft projizierte und für die Nachwelt konzipierte Darstellungs‐ formen einander gleichgesetzt. Durch die Nennung illustrer Beispiele der Lite‐ ratur- und Kunstgeschichte hinterfragt Genet den Konnex zwischen den realen Kriegen und ihrer künstlerischen Aufarbeitung hinsichtlich der ereignishisto‐ rischen Bedeutung von Kunst. Auch in weiteren autoreflexiven Textpassagen beruft sich Genet auf den Heldengesang und Homers Ilias, um den Status seines eigenen Werks zu beleuchten. Genet evoziert beispielsweise in einer ironischen Tonalität den „très vieux débat“ 163 zur Beziehung zwischen Künstler und Helden: „Homère se crève les yeux puisqu’il n’est pas Achille; mourir en un temps bref ou chanter pour l’éternité? “ 164 An anderer Stelle wird diese gleichsam symbio‐ tische wie konfliktbehaftete Relationalität zwischen Homer und Achilles in einem werkinternen Selbstverweis auf die doppelte Rolle des Memoirenschrei‐ 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 308 165 Ibid., p. 70. 166 Ibid., p. 610-611. 167 Ibid., p. 69. 168 Ibid. bers als Barde einer Gemeinschaft und seiner eigenen Lebensgeschichte erneut thematisiert: Puisque tout peuple, toute famille a son barde, sans trop l’avouer le mémorialiste voudrait être son propre barde et c’est en lui-même que se joue ce drame: Homère aurait-il écrit ou récité L’Iliade sans Achille en colère, ou de la colère d’Achille que saurions-nous sans Homère? 165 In diesem Textfragment, welches als Konklusion einer zuvor geschilderten Er‐ zählung über den Gesang nächtlicher Patrouillen des palästinensischen Frei‐ heitskampfes zu lesen ist, erläutert Genet auch die Aufgabe des „mémorialiste“, welche in einer Veredelung der Ereignisse durch deren erzählte Wiedergabe liegt. Dabei steht wie bereits in seiner Definition des Zeugen, „[qui] sait que le vérisme d’une description ne dira rien à personne […], s’il n’y ajoute les ombres et les lumières qu’il fut le seul à distinguer“ 166 , nicht die wahrheitsgetreue Dar‐ stellung im Vordergrund, die aufgrund der Unstetigkeit des Gedächtnisses kaum möglich ist, sondern die Überhöhung von Banalitäten: Passons sur le fait très connu que la mémoire est incertaine. Sans malice elle modifie les événements, oublie les dates, impose sa chronologie, elle oublie ou transforme le présent qui écrit ou récite. Elle magnifie ce qui fut quelconque: il est plus intéressant pour chacun d’avoir été le témoin d’événements rares jamais rapportés. Qui connut un fait singulier, unique, participe de cette singularité d’exception. Tout mémorialiste voudrait aussi demeurer fidèle à son choix initial. Avoir été si loin pour s’apercevoir que derrière la ligne d’horizon la banalité est celle d’ici! Le mémorialiste veut dire ce que personne n’a vu dans cette banalité. 167 Die grundsätzlich banalen Beobachtungen werden durch den Memoiren‐ schreiber zu seltenen und bedeutsamen Ereignissen umgeschrieben, wobei sich Genet mit seiner verallgemeinernden Anmerkung im Konkreten auf den Gesang der in diesem Zusammenhang als „guerriers-artistes“ 168 bezeichneten palästi‐ nensischen Kämpfer bezieht. Er erhebt diesen mithin zur Inspirationsquelle seiner eigenen Erzählung, die sich aus einer inneren Melodie heraus entfaltet und ausgehend von der palästinensischen Musik freigesetzt wird: Les Palestiniens inventaient des chants comme oubliés, découverts en eux-mêmes où ils étaient cachés avant qu’ils ne les chantent, et peut-être ainsi toute musique, même la plus nouvelle, plutôt que découverte me semble réapparaître alors qu’elle était déjà, enfouie dans la mémoire où elle reposait - la mélodie surtout - encore inaudible mais 4.4 Zur Umdeutung des Kanons in «Un captif amoureux» 309 169 Ibid., p. 70. 170 Ibid., p. 65. 171 Vgl. Pierre Boulez: „Über Répons - ein Interview mit Josef Häusler“, in: Josef Häusler (Hrsg.): Teilton, Schriftenreihe der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks, Kassel: Bärenreiter 1985, pp. 7-15, hier 13. 172 Genet: Un captif amoureux, p. 68-69. 173 Genet: „Les Palestiniens“, pp. 89-99. 174 Vgl. dazu Albert Dichys Annotationen zum entsprechenden Text in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 354. comme creusée dans un sillon de chair, et le compositeur nouveau me fait entendre le chant qui était depuis toujours enfermé en moi mais silencieux. 169 Es handelt sich dabei im Konkreten um einen mehrstimmigen Gesang, der den palästinensischen Patrouillen dazu dient, nachts von unterschiedlichen Hügeln aus miteinander in Kommunikation zu treten: „Dans la nuit, un peu avant l’aube, trois groupes de feddayin […] chantaient en se répondant de colline en colline. […] Les trois sommets invisibles les uns aux autres, à tour de rôle se répon‐ daient - à cette époque ou un peu plus tard Boulez préparait Répons - […].“ 170 Genet vergleicht den polyphonen Gesang mit dem 1981 entstandenen Werk von Pierre Boulez, in dem nach dem Prinzip der Wechselrede ein Dialog zwischen den Solisten und dem Background inszeniert wird. 171 In einem nachgebildeten Gespräch mit einem der anwesenden Kämpfer bestimmt Genet die Eigenart des Kanons näher als leitmotivisches Frage-Antwort-Spiel: - Chacun invente sa réponse. Un premier thème a été donné par le premier groupe, le second sera celui qui répond le plus vite, le troisième envoie au premier une réponse-question et ainsi de suite. - De quoi parle-t-on surtout? - Mais … d’amour, bien sûr. Et un peu de la révolution. 172 Um die Bedeutungsvielfalt dieses musikalischen Kommunikationsmodells für die Struktur und Schreibweise in Un captif amoureux zu verdeutlichen, soll der Artikel „Les Palestiniens“ 173 von 1971 herangezogen werden, in dem Genet be‐ reits in einem deskriptiven Kommentar auf den Kanon der palästinensischen Kampfeinheiten eingeht. Im Vergleich mit diesem frühen bedeutenden Artikel von Genet über die Palästinenser, dem eine Fotoreportage des Fotografen Bruno Barbey für das luxuriöse Magazin Zoom zugrunde liegt, 174 kann eine wichtige Bedeutungsverschiebung hinsichtlich der Darstellung des mehrstimmigen Ge‐ sanges festgestellt werden. Tatsächlich beschreibt Genet in „Les Palestiniens“ insgesamt zehn Fotografien ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen in den palästinensischen Lagern, ohne dabei jedoch den Verdacht aufkommen zu 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 310 175 Genet: „Les Palestiniens“, p. 89. 176 Vgl. dazu Albert Dichys Annotationen zum entsprechenden Text in: Genet: Œuvres complètes, VI: L’Ennemi déclaré, p. 355. 177 Genet: Un captif amoureux, p. 26. 178 Genet: „Les Palestiniens“, p. 94. 179 Genet: Un captif amoureux, p. 65. lassen, dass es sich um eine künstlerische Kooperation mit dem Fotografen han‐ deln könnte. Bereits die einleitenden Worte zeugen von seiner bildkritischen Kommentierung und Distanzierung: „Les images, on le sait, ont une double fonction: montrer et dissimuler. Celles-ci s’ouvrent sur un tireur et son fusil, mais pourquoi? Ensuite, pourquoi tant d’armes? Pourquoi tant de photographies qui montrent une Palestine en armes et décharnée? “ 175 Dichy zitiert in diesem Zusammenhang eine Textstelle in Un captif amoureux, welche er dem Artikel als Leitsatz für die Lektüre voranstellt, 176 und die wie ein impliziter Verweis auf die Zoom-Reportage anklingt: Nous devions nous défendre contre cette élégance qui eût pu nous faire croire que le bonheur était là, sous tant de fantaisie, tout de même qu’il faut regarder avec défiance les photos des camps au soleil sur le papier glacé des magazines de luxe. Un coup de vent fit tout voler, voiles, toiles, zinc, tôle, et je vis au jour le malheur. 177 Die fünfte Fotografie schließlich, welche eine Panoramaaufnahme einer zwi‐ schen zwei Hügeln zum Blickfeld des Betrachters hin hervor marschierenden, palästinensischen Patrouille repräsentiert, regt Genet zu den Ausführungen über den mehrstimmigen Gesang der Palästinenser an: Quand cette patrouille aura repris sa souplesse et que chaque combattant marchera en désordre, la patrouille chantera, c’est-à-dire que chacun improvisera un air et des paroles qui seront repris par les autres - si l’on veut une sorte de canon - mais pour les paroles selon l’imagination qui joue dans cette guerre, et pour la musique à partir des vieux airs arabes, où le quart de ton et le vibrato de la glotte sont conservés. 178 Während Genet sich selbst in Un captif amoureux als Begleiter der ersten Pat‐ rouille zu erkennen gibt - „[j’]étais dans le groupe le plus proche du Jour‐ dain“ 179 -, berichtet er in seinem Artikel aus einer grundsätzlich außenstehenden Haltung. Seine Beschreibung fügt sich darin zu einem musikkritischen Kom‐ mentar zusammen, in dem er die Marschmusik kolonialistischer Militärparaden mit dem als revolutionär charakterisierten Gesang der Palästinenser kontras‐ tiert. Der Kanon wird dabei als eine dem Guerillakampf eigene musikalische Schöpfung verstanden, mithilfe derer Genet die Verknüpfung von Revolution und Kunst veranschaulicht: 4.4 Zur Umdeutung des Kanons in «Un captif amoureux» 311 180 Genet: „Les Palestiniens“, p. 94. 181 Ibid. 182 Ibid., p. 98. Il serait désastreux de diffuser un art contestable - je parle de ce qui ressemble à ‚Sambre et Meuse‘ - et de freiner une recherche musicale révolutionnaire. C’est peut-être par le biais d’un art poétique que chacun, au plus fort d’une entreprise solidaire, peut sauvegarder une intimité et développer une sensibilité où se découvrent de nouvelles formes et des valeurs nouvelles. 180 Im Unterschied dazu wird die kolonialistische Militärmusik, welche jeglicher revolutionären Schlagkraft entgegenwirkt, als Ausdruck des okzidentalen Wer‐ tesystems und seiner konventionellen Kriegsführung begriffen, wie Genet durch die für seine aus diesem Zeitraum stammenden Texte typische Opposition zwi‐ schen leeren Gesten und vollen Handlungen exemplifiziert: L’impact qu’elle aura sur ceux qui l’écoutent n’est que guerrier selon la guerre conventionnelle, avec défilés et parades, non avec une guerre plus souple, plus agile. Une musique d’adjudants, qui ne parle que d’héroïsme imbécile, de bravoure et non de vrai courage, incite à des gestes creux, non à des actes pleins. 181 Genets Beschreibung des revolutionären Gesanges als Teil und Ausdrucksform eines neuen Wertesystems fügt sich in die übergeordnete Zielsetzung seines Artikels ein, den Leser nicht nur über die palästinensische Befreiungsbewegung zu informieren, sondern zum Kampf für deren Ziele aufzurufen: „Le but de ces photos dans ce magazine, c’est de faire mieux comprendre qui sont les Palesti‐ niens, et surtout les feddayin. Pourtant, si l’on veut vraiment les comprendre, il n’y a qu’un moyen: combattre avec eux, combattre comme eux.“ 182 Während Genet in seinem Artikel die Improvisation des Kanons als revolutionäre Kunst‐ form hervorhebt, die sich von der traditionell okzidentalen Militärmusik ab‐ grenzt, vergleicht er den Gesang in Un captif amoureux wiederum mit den Werken bekannter westlicher Komponisten - wie Boulez’ Répons oder Stra‐ winskys Histoire du soldat. Er bewertet ihn somit zwar weiterhin als eine revo‐ lutionäre Kunstform, jedoch nicht mehr im politischen Sinne als individuellen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Veränderung wie noch in „Les Palestiniens“, sondern im ästhetischen Sinne als Ausdrucksform einer gesellschaftlichen Vi‐ sion, wie Genet im Interview mit Hubert Fichte am Beispiel der künstlerischen Revolutionen erläutert: Ce qu’on appelle révolutions poétiques ou artistiques ne sont pas exactement des révolutions. Je ne crois pas qu’elles changent l’ordre du monde. Elles ne changent pas non plus la vision qu’on a du monde. Elles affinent la vision, elles la complètent, elles 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 312 183 Genet: „Entretien avec Hubert Fichte“, p. 152. 184 Genet: Un captif amoureux, p. 66-67. 185 Ibid., p. 72. 186 Ibid., p. 93. la rendent plus complexe, mais elles ne la transforment pas du tout au tout, comme une révolution sociale ou politique. 183 Die Ausführungen zum polyphonen Gesang werden in Un captif amoureux zu einer eigenständigen Erzählung ausgeweitet, deren Wahrheitsanspruch und Exaktheit unter Berufung auf die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses sowie das Prinzip der literarischen Veredelung des Erzählgegenstandes von Genet mehrfach negiert wird. In einer narrativen Spannungskurve werden so die ge‐ sungenen Fragen und Antworten durch das Rauschen eines Bachs durchbro‐ chen, der in crescendo die Stimmen der Kämpfer überdeckt und zunächst von Genet für eine subjektive Sinnestäuschung gehalten wird: Entre les strophes, d’une colline à l’autre, je crus que le silence était total. Mais la seconde et la quatrième laissaient filtrer la voix d’un ruisseau, assez proche ou lointain, je ne sus jamais; […] C’est seulement entre la cinquième et la sixième strophe qu’il éleva la voix, emplit la vallée. Comme si le sens du mot passant du filet d’eau à filet de voix, il s’enrouât et se gonflât jusqu’à devenir impérieux, brutal, chassant les voix enfantines et graves, et finalement assez coléreux. Il me sembla absurde que ce dictateur fît taire les amoureux, mais probablement ils n’entendirent jamais le torrent ni le ruisseau. 184 Schließlich aber geht aus dem Dialog mit einem der anwesenden Kämpfer hervor, dass der Bach von den Sängern selbst als störend wahrgenommen wurde, denn „dès qu’il [le ruisseau, S. I.] a pris la parole, il voulait la garder pour lui tout seul.“ 185 Durch dieses Bild betont Genet einerseits die Bedeutung der Harmonie zwischen den Kämpfern, deren Stimmen gleichberechtigt zusammenwirken und von denen niemand versucht, als Solist bzw. Diktator zu dominieren. Zum an‐ deren rekurriert er im Laufe seines Textes in unterschiedlichen Kontexten immer wieder auf den Bach und schafft dadurch ein Leitmotiv für sein eigenes Werk. So hinterfragt er in einem Textfragment erneut die Signifikanz des Baches, der als eigene Singstimme begriffen wird: Mais pourquoi cette voix du ruisseau, la nuit, était-elle devenue si forte, jusqu’à m’agacer? Les chœurs et les collines s’étaient-ils rapprochés de l’eau, sans qu’on s’en doutât? Je suppose plutôt que les chanteurs avaient la voix fatiguée, ou que d’eux-mêmes ils écoutaient celle du torrent parce qu’elle les charmait, ou bien au contraire elle était perçue comme un bruit mauvais. 186 4.4 Zur Umdeutung des Kanons in «Un captif amoureux» 313 187 Ibid., p. 125-126. 188 Ibid., p. 300. Hervorhebung im Original. Während der Wasserlauf hier ähnlich wie in der Ausgangspassage eine Perso‐ nifizierung erfährt und als unerwartete Gegenstimme eine magische Stimmung erzeugt, wird er an anderer Stelle, von diesem ursprünglichen Kontext losgelöst, als Speicher feindlicher Ressentiments gedeutet, der seine Dominanz als Ge‐ gengewicht aus der Isolierung der palästinensischen Bevölkerung zieht: À voix d’abord basse le ruisseau a retenu que toutes les nations arabes s’étaient défiées des Palestiniens, aucune ne se souciant d’aider efficacement un peuple aussi torturé: par l’ennemi israélien, par ses divergences révolutionnaires et politiques, par les déchirements intimes de chaque homme. Le peuple sans terre, croyait-on, menaçait toutes les terres. 187 Schließlich berichtet Genet von der Eindämmung des Baches bei seiner Rück‐ kehr 1984, welche zum einen die Entwicklung der im Ursprung provisorisch angelegten Lager hin zu betonierten Behausungen zeigt und zum anderen eine grundsätzlich veränderte, weniger mystisch-geheimnisvolle Atmosphäre, denn eine zweckdienliche und funktionalistische Baulandschaft evoziert: En juillet 1984, retournant à Ajloun où je voulais voir les cinquante dunums de Abou Hicham (moins de cinquante hectares), je repassai sur une des deux collines où les feddayin s’étaient renvoyé leurs chants; je cherchai le ruisseau ou le torrent entendu une nuit. Il était là, mais canalisé en trois tuyaux, et complètement silencieux. Ce ruisseau, servait à conduire son eau près des plants de salades et de choux-fleurs. Tout devenait éternel les oiseaux seuls étant neufs. Le ruisseau ne dit plus rien, pas même la nuit. […] Dans les camps de Palestiniens, le béton est au sol, aux murs, partout. La route de Deraa à Akaba est goudronnée et large. 188 Diese leitmotivische Wiederkehr und Verkettung einzelner Textpassagen zu einer übergeordneten Thematik charakterisiert die Textstruktur von Un captif amoureux insgesamt. Thematisch verwandte Textfragmente beziehen sich zu‐ einander gleich einem Nachhall, so dass der polyphone Gesang der palästinen‐ sischen Patrouillen als mise en abyme der literarischen Komposition in Erschei‐ nung tritt. Dabei muss jedoch die aus der Präsenz unterschiedlicher Truppen bezogene Mehrstimmigkeit von der durch die Erzählinstanz bestimmten Ein‐ stimmigkeit des Textes unterschieden werden. Die Korrespondenz einzelner Textfragmente zueinander entsteht erst durch die Filterung und Anordnung durch den Autor. Der Bach ist als spannungserzeugender Motor nicht das einzige narrative Element, denn mit dem Tagesanbruch fällt auch die Auflösung der Erzählung 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 314 189 Ibid., p. 68. 190 Ibid. 191 Ibid., p. 50. 192 Ibid., p. 72. 193 Ibid., p. 94-95. zusammen, im Zuge welcher der Kanon als kriegerisches Täuschungsmanöver enttarnt wird. Genet wird sich bei Tageslicht bewusst, dass er mit der Patrouille immer um ein und denselben Hügel gezogen ist, um die israelischen Kämpfer glauben zu machen, die palästinensischen Truppen seien überall: Grande clarté à l’est: devançant la montée du soleil, sur les collines il fit jour. J’étais au pied de vieux oliviers que je connaissais bien. Nous fîmes encore le tour d’une colline, toujours la même, alors que je croyais avancer sur plusieurs. Il s’agissait d’une misérable ruse de guerre afin de laisser croire à l’adversaire que les Palestiniens étaient partout et toujours. 189 Der Gesang manifestiert sich zwar wie in „Les Palestiniens“ weiterhin als Aus‐ drucksform des palästinensischen Guerillakampfes, jedoch nur noch in der Funktion einer taktisch-strategischen Irreführung der Gegner, wodurch die Wirksamkeit des Kampfes in Frage gestellt wird: „Ainsi, pendant près de dix ans, aux instruments ultra-sensibles d’Israël, les Palestiniens usaient de trou‐ vailles totalement inefficaces mais distrayantes, souvent poétiques et dange‐ reuses.“ 190 Der zunächst als revolutionär bezeichnete Gesang wird nun zu einer poetischen und politisch wirkungsarmen Waffe umgedeutet. Auch in seiner Be‐ stimmung als trügerische Strategie verweist der Kanon zurück auf Genets Werk selbst, das sich mehrfach als Lüge und Trugbild zu erkennen gibt. Beispielsweise überlegt Genet, ob sein Text den Effekten eines Trompe-l’Œil unterliegt: „Mais s’il était vrai que l’écriture est un mensonge? Elle permettrait de dissimuler ce qui fut, le témoignage n’étant qu’un trompe-l’œil? “ 191 Das Prinzip der Dissimu‐ lation beschreibt Genet gleichsam ausgehend von seiner auditiven Wahrneh‐ mung des Baches, „cette voix que j’avais d’abord supposée discrète, secrète même au point de n’être perçue par aucune oreille que la mienne.“ 192 Denn in einem impliziten Verweis auf dieses Phänomen betrachtet Genet es als ein Gebot der Vorsicht, seine Eindrücke und Empfindungen vor den Palästinensern zu verbergen: „Si leurs facultés [celles des Palestiniens, S. I.] discernent ce que je crois être le seul à discerner, je dois dissimuler ce que j’éprouve, car bien souvent il m’arrive d’être choqué par eux. Dissimuler n’est plus alors politesse mais pru‐ dence.“ 193 Dadurch erscheint auch seine eigene Haltung gegenüber dem paläs‐ tinensischen Befreiungskampf in einem zwiespältigen Licht, gibt er doch vor, 4.4 Zur Umdeutung des Kanons in «Un captif amoureux» 315 194 Ibid., p. 95. 195 Vgl. ibid., p. 193-195. 196 Ibid., p. 195. den Akt des Schreibens selbst aufgrund seines unscharfen Darstellungsprinzips vor den Kämpfern zu verheimlichen: Malgré la franchise des visages et des gestes, des actions, malgré leur transparence, je sus vite que j’étonnais autant, peut-être plus que je ne fus étonné. Si tant de choses sont là pour être vues, seulement vues, aucun mot ne les décrira. Un fragment de main sur un fragment de branche, un œil qui ne les voyait pas mais qui me voyait, comprenait. Chacun savait que je me savais surveillé. ‚Feignent-ils l’amitié, la camaraderie? Suis-je visible ou transparent? […] Certainement transparent car trop visible, une pierre, une mousse mais pas l’un des leurs. Je croyais avoir beaucoup à cacher, ils avaient le regard du chasseur: méfiant et compréhensif.‘ 194 Genet entwickelt in seinen metatextuellen Kommentaren in Un captif amoureux eine regelrechte Ästhetik des Betruges und schafft Bilder, die ihn selbst als ‚im‐ posteur‘ konturieren. Zu nennen ist hier sein Vergleich mit einem sehr betagt aussehenden, etwa sechzigjährigen palästinensischen Anführer des Lagers von Baqa, der morgens vor Tagesanbruch mit Nonchalance über die Grenze nach Jordanien läuft und dabei aufgrund seines vermeintlich hohen Alters bei den jordanischen Grenzsoldaten keinen Verdacht erweckt, tatsächlich aber den Spa‐ ziergang dazu nutzt, die Grenzregion auszuspähen sowie seine Schritte zu zählen, um so den Kämpfern im Lager die genaue Distanz zu übermitteln, aus welcher sie ihre Geschosse positionieren müssen. 195 Ausgehend von der Be‐ schreibung dieser List affirmiert Genet wie durch den Blick in einen Spiegel: „[ J’]étais un imposteur, comme lui. N’ayant ni crayon ni papier, je n’écrivais rien du tout, il m’avait peut-être observé et deviné? “ 196 Die Lesart von Un captif amoureux als Heldengesang muss unter diesen Vo‐ raussetzungen relativiert werden. Genet orientiert sich vielmehr an einer illu‐ sionistischen und als Täuschungsmanöver konzipierten Form des Gesanges, der eine Entsprechung in seiner eigenen Ästhetik der Dissimulation und des Be‐ truges findet. Die bereits für die Definition des Augenzeugenberichtes heraus‐ gearbeiteten Grundsätze einer subjektiven Transformation der Realität mithilfe narrativ-ästhetischer Mittel werden durch die Anknüpfung an den Gesang er‐ gänzt und erweitert. Denn das Prinzip des Verhüllens und Verstellens von Tat‐ sachen oder Beobachtungen repräsentiert eine besondere Herausforderung für den Leser, jene Wahrheit aus dem Text zu filtern, die Genet alleine dem Kunst‐ werk zuerkennt. Durch den Vergleich mit der Beschreibung des mehrstimmigen Gesanges in seinem früheren Text „Les Palestiniens“ konnte aufgezeigt werden, dass die musikkritische Bewertung des revolutionär empfundenen Kanons zu 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 316 197 Ibid., p. 553. 198 Neutres: Genet sur les routes du Sud, p. 36. Hervorhebung im Original. 199 Vgl. dazu Kapitel 3.3.3. 200 Baquey: „Un captif amoureux“, p. 126. 4.5 einem narrativen Spannungsmoment umgeschrieben wird und im Werk selbst sowohl in Hinblick auf die leitmotivische Verknüpfung von Themeneinheiten als auch auf die Ästhetik der Täuschung die Funktion einer mise en abyme einnimmt. Durch diese Spiegelung seines Werks in der poetischen Verbalisie‐ rung des Kampfes gerät er selbst jedoch auch in ein ambivalentes Verhältnis zum palästinensischen Widerstand, denn die Dissimulation stellt nicht nur ein verbindendes Element dar, sondern auch ein dissoziatives. Die Interpretation der ‚écriture arachnéenne‘ als eine erinnerungsliterarische Gegenform zur westlichen Memoriakultur „L’écriture du livre commença vers octobre 1983. Et je devins étranger à la France.“ 197 Der hier devisenhaft zum Ausdruck gebrachte Grundsatz der natio‐ nalen Entfremdung, welche mit dem Verfassen von Un captif amoureux einher‐ geht, determiniert tatsächlich sehr tiefgründig die Genese von Genets Gesamt‐ werk. Wie auch Jérôme Neutres in seiner Studie im Zusammenhang mit dem Motiv des Reisens bei Genet erarbeitet, bestimmt die Entwurzelung bereits seine frühen Texte, konkretisiert sich dann aber zu einem bedeutenden Aspekt ins‐ besondere in seinen im politischen Kontext entstandenen Schriften: „Dans sa littérature, et particulièrement dans Un captif amoureux et dans les textes au seuil des sa dernière œuvre, il n’a de cesse de se défranciser. Se détacher de la France, devenir étranger à sa patrie, voilà un des enjeux majeurs de l’écriture de Genet.“ 198 Die Negation einer nationalen Zugehörigkeit und Identität ist im Kontext seiner politischen Texte vor dem Hintergrund einer Entkoppelung vom gesamten okzidentalen Wertesystem zu betrachten, wie sich emblematisch in La Sentence eruieren lässt. Nicht nur der bildlich vermittelte Vorgang des Puri‐ fizierens im Flugzeug über Japan, sondern vor allem die darin experimentierte Schreibart der Fragmentierung konzeptualisieren die Distanzierung von der westlichen Denkweise, wie in einem Vergleich mit Burroughs’ Cut-up-Methode konkretisiert werden konnte. 199 Das Manuskript La Sentence, welches in Bezug auf Un captif amoureux mit Baquey als „première expérimentation, associant mise en œuvre typographique de la fragmentation, retour sur soi et méditation sur le jugement à portée tout à la fois ontologique et morale“ 200 begriffen werden 4.5 Die Interpretation der ‚écriture arachnéenne‘ 317 201 Genet: La Sentence, p. 22. 202 Genet: Un captif amoureux, p. 544. 203 Vgl. Dichy / Fouché: Jean Genet, matricule 192.102., p. 216. 204 Ibid. 205 Genet: Un captif amoureux, p. 491. 206 Vgl. Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique, nouvelle édition augmentée, Paris: Seuil 1997. kann, stellt für die fragmentierte Struktur von Un captif amoureux die Weichen. Genets darin elaboriertes Konzept der ‚écriture arachnéenne‘ kennzeichnet sich durch eine sprunghafte Zersetzung des linearen Textflusses: „Par ‚mutations brusques‘, par ‚saute‘, voilà ce qu’on dit quand on ne sait pas lire l’écriture arachnéenne […]“ 201 Dieses Bild des textuellen Spinnengewebes wird in Un captif amoureux in Form einer anekdotischen Erzählung aufgegriffen, die in einem autoreflexiven Selbstverweis auf das paratextuelle Element der Untertitel „sou‐ venirs I“ und „souvenirs II “ zum autobiographischen Tatsachenbericht stilisiert wird: „Puisque le mot souvenir est écrit dans le titre […], il faut par gaieté ac‐ cepter le jeu de littérature mémoriale et remonter au jour quelques faits.“ 202 Genet erinnert sich an einen ersten Aufenthalt im Nahen Osten zum Zeitpunkt seiner Stationierung in Damaskus während des Militärdienstes. Wie ein Abgleich mit der von Albert Dichy und Pascal Fouché erstellten biographischen Chronologie seiner ersten Lebensjahrzehnte zeigt, begab sich Genet, anders als in Un captif amoureux erwähnt, nicht schon 1929, sondern erst 1930 nach Damaskus. 203 Ob‐ gleich bei Dichy / Fouché der „statut autobiographique […] du moins plus af‐ firmé“ 204 von Un captif amoureux im Vergleich zu Genets autofiktionalen Ro‐ manen der späten vierziger Jahre betont wird, rückt die in obigem Zitat zur Schau gestellte Anknüpfung an die Tradition der autobiographischen Erinne‐ rungsliteratur vielmehr das Spiel mit deren Erzählmustern in den Vordergrund. Zum einen unterliegen die Fakten einer narrativen Fiktionalisierung, wie Genet im Textverlauf mehrfach wiederholt: „Mais un livre de souvenirs est aussi peu vrai qu’un roman.“ 205 Ein autobiographischer Pakt nach Lejeune 206 wird folglich nur dem Schein nach postuliert. Zum anderen realisiert er in seiner Darstellung der Ereignisse in Damaskus vor allem den erzähltechnischen Effekt der Zeitlupe, um einerseits ein Spannungsmoment zu erzeugen und die narrative Einheit an‐ dererseits durch metatextuelle Einschübe zu zersprengen, wie im Nachfol‐ genden gezeigt werden soll. Der vermeintliche Tatsachenbericht dient somit vielmehr als Ausgangspunkt, um die narrative Funktion des eigenen Werks zu reflektieren. Genets Narration zufolge obliegt ihm in Syrien die Aufgabe, einen sechs‐ eckigen Geschützturm innerhalb des nach einem französischen Colonel be‐ 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 318 207 Genet: Un captif amoureux, p. 548. 208 Ibid., p. 545. Hervorhebung im Original. 209 Ibid., p. 547. 210 Ibid., p. 548-549. nannten „fort Andréa“ 207 zu erbauen. Obwohl er selbst keinerlei Erfahrungen als Maurer mitbringt, vertrauen die tunesischen Arbeiter seinem Geschick und seinen Entscheidungskompetenzen aufgrund seiner französischen Staatsbür‐ gerschaft: Les tirailleurs tunisiens ne savaient pas mieux que moi s’y prendre, mais aux yeux d’un lointain, d’un invisible capitaine, je devais à la France d’être le responsable du fort et du travail réussi des soldats, tous plus âgés que moi. Qu’importe, s’ils m’obéissaient ce n’était pas à moi mais certainement à une certaine idée de la France. 208 Denn Genet selbst wird als Inkarnation einer gewissen Idee von Frankreich wahrgenommen. Zur Fertigstellung der Konstruktion wird Genet für seine Dienste ein militärischer Orden, die „Croix de guerre avec palmes“ 209 , in Aussicht gestellt, den er schließlich jedoch wegen der mangelnden Stabilität des Baus niemals erhalten wird. Bei dessen Einweihung nämlich wird zu Ehren des Na‐ mensgebers Colonel Andréa und der Konstrukteure eine Kanonensalve vom Turm aus abgefeuert, die dessen Einsturz verursacht. Die Beschreibung des Zer‐ falls wird durch den Einschub metatextueller Überlegungen zu schriftlichen Zeugnissen über die Bildung eines Spinnennetzes durchzogen, sodass der sich eigentlich innerhalb eines Augenblicks abspielende Zusammenbruch retardiert wird: Existe-t-il des livres ou un seul livre, une seule page, sur la formation la nuit, dans l’obscurité, des toiles d’araignées? Je ne suis pas sûr que des observateurs se soient cachés dans l’ombre pour mieux voir comment tissent les araignées. Ou plutôt si. Il existe un livre italien décrivant l’Italie du Sud et la Sicile en évoquant Ariane ou Ariadne pendue au bout d’un fil de la Vierge. 210 Genet fragt, ob ein Buch oder gar eine Seite über die nächtliche Entstehung eines Spinnennetzes existiert und beantwortet diese Frage scheinbar mit einem iro‐ nischen Verweis auf den mythologischen Ariadnefaden, der Theseus nach seinem Sieg über den Minotaurus aus dem Labyrinth herausführt. Rein visuell ähneln sich dabei die geflechtartige Struktur des Spinnennetzes und die Oben‐ ansicht des durch das Labyrinth geführten Fadens. Darüber hinaus bietet sich auch ein Vergleich mit dem Mythos der jungfräulichen Weberin Arachne an, die als Strafe für ihren Hochmut gegenüber der Göttin der Kunst und des Hand‐ 4.5 Die Interpretation der ‚écriture arachnéenne‘ 319 211 Vgl. dazu die Darstellung in Ovids sechstem Buch der Metamorphosen: P. Ovidius Naso: Metamorphosen. Epos in 15 Büchern, übersetzt und herausgegeben von Hermann Brei‐ tenbach mit einer Einleitung von L. P. Wilkinson, Stuttgart: Reclam 2015, p. 184-185. Aus dem Wettstreit mit der Göttin geht Arachne tatsächlich als ebenbürtige Gegnerin hervor und ihre Webarbeit gilt aus diesem Grund als „himmlische Schmähung“. Bevor sich Arachne erhängen kann, um sich selbst das Leben zu nehmen, verdammt die Göttin sie dazu, als Spinne ihre Webkunst fortzusetzen. 212 Genet: Un captif amoureux, p. 549. 213 Ibid. 214 Auch diese Anmerkung der Entstehung eines Kontinents kann als Hinweis auf den Mythos der Arachne interpretiert werden, die im Wettkampf mit Pallas Athene in ihrer Webarbeit den Mythos der Europa darstellt. Vgl. Ovidius: Metamorphosen, p. 184. werks Pallas Athene nach einem Wettstreit mit dieser in eine Spinne verwandelt wird. 211 In Genets Erzählung entspricht das Spinnennetz den Verästelungen der Risse im Geschützturm nach der Detonation und präfiguriert den Moment des Einsturzes: „Très lentement, presque trop doucement afin de m’épargner, afin que je n’en croie pas mes yeux, une toile d’araignée apparut. Doucement la tourelle se fissura, frissonna je crois, et j’en fus certain s’écrasa, devint gravats, le noble canon de marine tangua […].“ 212 In Zeitlupe wird die Entstehung eines Spinnennetzes beschrieben, das so unklar erscheint, dass Genet vermutet, einer Sinnestäuschung zu unterliegen. Mithilfe seiner Gewebemetapher schafft er dabei ein Spannungsverhältnis zwischen der langsamen Bildung des kaum sichtbaren Netzes und dem Einriss des Mauerwerks, zwischen Kreation und Zerfall, das sich darüber hinaus hier als Kausalprinzip interpretieren lässt. Denn erst durch die Vernetzung der Risse zu einem Ganzen stürzt der Festungsteil zusammen. Insbesondere durch den zusätzlichen mythologischen Vergleich wird betont, dass der Faden selbst nicht zerrissen ist, sondern lediglich die Fis‐ suren abbildet: „Mais à midi, en plein soleil de Syrie, qui eut la chance d’observer comment un fil de bave devient cette dentelle de rides, comment la toile d’arai‐ gnée devient un continent et surtout, surtout, où ce fil non cassé est-il venu au monde? “ 213 Das Spinnennetz bildet sich, so Genet hier, zu einem eigenen Kon‐ tinent heraus. 214 Wenn auch nicht mehr explizit die Rede von einer ‚écriture arachnéenne‘ ist, wie noch in La Sentence, so schafft Genet durch seine Überle‐ gung zur Existenz eines Buches über die Herausbildung eines Spinnennetzes auch eine autoreflexive Rückkoppelung an sein eigenes Werk. Tatsächlich kenn‐ zeichnet der Einsturz des Geschützturms emblematisch Genets Ausscheiden aus der kolonialistischen Armee, wie er ironisch zum Ausdruck bringt: On me rapatria en France avec le bénéfice d’un mois de convalo mais la carrière militaire brisée. Jamais après ma mort je ne serai statufié sur un cheval de bronze, moi-même ou mon image de bronze, dans l’ombre se découpant sous la lumière de la 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 320 215 Genet: Un captif amoureux, p. 550. 216 Ibid. 217 Ibid., p. 552. lune. Cependant ce minuscule, grotesque mais monumental naufrage me préparait à devenir l’ami des Palestiniens. 215 Genet beschreibt seinen militärischen Misserfolg nicht nur als Ursprung seiner eigenen nationalen Entfremdung, sondern auch als Beginn seiner Freundschaft zu den Palästinensern. Mit der Herausbildung des Spinnennetzes, mit dem Zu‐ sammensturz des Geschützturms bricht auch die Option der Karriere und Wür‐ digung in der französischen Armee zusammen. Statt der Verewigung durch ein Denkmal, wie es der westliche Memoriakult vorsieht, erleidet er einen ‚monu‐ mentalen‘ Schiffbruch, der seine Distanz zur französischen Gesellschaft vertieft und ihn dem palästinensischen Freiheitskampf näher bringt. Genet verknüpft dabei seine persönliche Entfremdung von einem nationalen Wertesystem mit der Genese von Un captif amoureux: Le fait palestinien seul me fit écrire ce livre, mais pourquoi ai-je si bien adhéré à la logique apparemment folle de cette guerre, je ne le trouve qu’en ceci, rappelant ce qui m’est précieux, c’est-à-dire l’une ou l’autre de mes prisons, un peu de mousse, quelques tiges de foin, peut-être des fleurs des champs soulevant une chape de béton ou une dalle de granit, ou, mais ce sera le seul luxe que je m’accorde, deux ou trois églantines sur un buisson épineux et sec. 216 Die hier evozierten Gewächsformen werden dann im Weiteren als metaphori‐ sche Verbildlichung des palästinensischen Widerstandes identifiziert, denn „[m]ousse, lichen, herbe, quelques églantines capables de soulever des dalles de granit rouge étaient l’image du peuple palestinien qui sortait un peu partout des fissures …“ 217 Das Motiv des durch die Gräser und Farne durchstoßenen Gra‐ nitblocks symbolisiert für Genet die Stoßkraft des palästinensischen Freiheits‐ kampfes. Dabei erinnern die hier beschriebenen Fissuren im Steinwerk an die netzartigen Einrisse in dem von Genet konstruierten Geschützturm als Teil des kolonialistischen Bollwerks. Sein Zusammenbruch bedeutet den Abfall von einem ganzen Denk- und Wertesystem und ermöglicht schließlich die Entste‐ hung von Un captif amoureux, das sich im metaphorischen Sinne gleich dem palästinensischen Widerstand einen Weg durch die Einrisse des Gemäuers bahnt und als Resultat eines Entfremdungsprozesses verstanden werden kann. Auch das im selben Kontext angeführte Beispiel der brüchigen Gefängnismauern ver‐ mittelt ebenjene Idee eines natürlichen Widerstandes gegenüber der Solidität 4.5 Die Interpretation der ‚écriture arachnéenne‘ 321 218 Ibid., p. 550. 219 Genet: La Sentence, p. 26. 220 Bereits in „Un salut aux cent mille étoiles“ bildet die Kritik an der westlichen bzw. amerikanischen Erinnerungskultur einen thematischen Schwerpunkt. In diesem Text werden jedoch die amerikanische und vietnamesische Trauerarbeit in einem antithe‐ tischen Vergleich kontrastiert. Vgl. dazu Kapitel 3.3.1. 221 Balcázar Moreno: Travailler pour les morts, p. 47. 222 Genet: Un captif amoureux, p. 195. des Bauwerks, das wie die Befestigungsanlage als Sinnbild des okzidentalen Selbstverständnisses begriffen werden kann: Que la prison fût solide, les blocs de granit assemblés par le plus fort ciment et encore par des joints de fer forgé, et de fissures inattendues, provoquées par l’eau de pluie, une graine, un seul rayon de soleil, et un brin d’herbe avaient déjà disloqué les blocs de granit, le bien était fait, je veux dire la prison ruinée. 218 Bereits in La Sentence findet diese Kritik in symbolischer Form als Aufzählung einzelner architektonischer und institutioneller Gebilde Eingang in den Text, deren Zusammensturz ersehnt und die als Demonstration einer von Genet als „phallisch“ bezeichneten Rhetorik nicht nur der französischen Gesellschaft, sondern auch der westlichen Staaten insgesamt interpretiert wird: [L]’arc de Triomphe rasé, la cathédrale de Chartres, Versailles, des palais de justice de Paris, Rome, Bruxelles, tous les palais de justice d’Europe, des archives, des chambres de commerce, toute cette rhétorique phallique qui veut convier le monde, monuments et institutions dressés, durement dressés, et plutôt que le soudain écroulement, leur lent grignotage par les mandibules inapaisées des hippies. 219 Die Einbettung der Episode von Errichtung und Zerfall des Geschützturms, welche Genets Ausschluss von einer Ehrung nach den Regeln der westlichen Memorialkultur sinnbildlich besiegelt, in eine metatextuelle Rahmenreflexion über die Erzählform der autobiographischen Erinnerungsliteratur nimmt hier die Form einer textuellen Subversion der nationalen Gedächtniskultur an. 220 So erwächst der Text aus dem Zerfall der im kolonialen Konstrukt verbildlichten Rhetorik und entwirft selbst ein Erinnerungskonzept, das sich strukturell als „esthétique de l’éclatement et de la discontinuité“ 221 entfaltet, wie Balcázar Mo‐ reno beschreibt. Tatsächlich betont Genet wiederholt die fragmentierte Struktur des Textes, welche einerseits bewusst der linearen Zeitform der westlichen Kultur entgegenläuft und andererseits der willkürlichen Zersplitterung des Er‐ innerungsflusses Rechnung trägt. Mehrfach kontrastiert Genet die kritikwür‐ dige Linearität des gregorianischen Kalenders, „la ligne droite du temps mesuré par votre calendrier grégorien“ 222 , mit dem beweglichen Kalender des islami‐ 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 322 223 Ibid., p. 259. 224 Ibid. Diese positive Darstellung des islamischen Kalenders darf jedoch nicht überbe‐ wertet werden, da Genet allen Religionen gegenüber eine kritische und ironische Hal‐ tung einnimmt und keinem ideologischen Dogmatismus verfällt. Vgl. dazu Patrice Bougon: „Politique, ironie et religion“, in: Bernard Alazet / Marc Dambre (Hgg.): Jean Genet. Rituels de l’exhibition, Dijon: Éditions universitaires 2009, pp. 81-90. 225 Genet: Un captif amoureux, p. 57. 226 Ibid., p. 192. 227 Ibid., p. 376 228 Ibid. 229 Neutres: „Un captif amoureux“, p. 147. 230 Ibid. schen Kulturkreises, „un calendrier mobile qui décalait toujours les fêtes, les prières, les jeûnes“ 223 , der darüber hinaus als Projektionsfläche der als „le vaga‐ bondage, l’errance de l’islam“ 224 dargestellten nomadenhaften Existenz des Islam interpretiert wird und Analogien zu der narrativen Darstellungsweise des Ein‐ tauchens in ein uneinheitliches „va-et-vient dans le temps et bien sûr dans l’es‐ pace“ 225 aufweist. Beispielhaft für den zweiten Aspekt eines diskontinuierlichen Erinnerungs‐ prozesses ist eine Textpassage zu nennen, in der die Erinnerung als Bildspren‐ gung hervorgehoben wird: „Le souvenir arrive par ‚éclat d’images‘ […].“ 226 Dabei geht Genet aber nicht von einer völligen Zusammenhanglosigkeit der Erinne‐ rungsbilder aus, sondern knüpft an das frühe Gedächtnis der Palästinenser an, die „mémoire ancienne des Palestiniennes“ 227 , welche er als „assemblage de mé‐ moires minimales et momentanées mises bout à bout afin de savoir qu’il faut acheter du fil“ 228 beschreibt und mit einer palästinensischen Handarbeit ver‐ gleicht. Diese Auffädelung einzelner Momentaufnahmen bildet auch die Form von Un captif amoureux ab, worin anekdotisch aufgearbeitete Begebenheiten der Vergangenheit zusammengestellt und reflektiert werden, und erinnert da‐ rüber hinaus an jenen Faden des Spinnennetzes, welcher unversehrt und laby‐ rinthisch den Verlauf der Fissuren im Mauerwerk nachzeichnet. So spiegeln die einzelnen Textfragmente zwar eine Diskontinuität wider, „qui rend difficile une lecture continue“ 229 , wie Jérôme Neutres zu Recht konstatiert, jedoch stehen die einzelnen Textelemente nicht ohne inneren Bezug zueinander und ohne Zu‐ sammenhalt nebeneinander. Neutres’ Bewertung, wonach „ni ordre apparent, ni transitions claires; ni sujet circonscrit, ni fil conducteur“ 230 das Werk kenn‐ zeichnen, kann gerade in Verbindung mit dem vorausgehenden Kapitel entge‐ gengehalten werden, dass stets wiederkehrende Motive eine leitmotivische und echoartige Struktur reproduzieren, sodass innerhalb des Werks dennoch eine Entwicklung einzelner Motivketten nachgezeichnet werden kann. Die von 4.5 Die Interpretation der ‚écriture arachnéenne‘ 323 231 Ibid., p. 148. 232 Vgl. ibid., p. 152-154. 233 Vgl. ibid. 234 Balcázar Moreno: Travailler pour les morts, p. 181. 235 Ibid., p. 210. 236 Ibid., p. 213. 237 Genet: Un captif amoureux, p. 543. 238 Vgl. Balcázar Moreno: Travailler pour les morts, p. 214. Neutres als „éclatement du texte“ 231 bezeichnete Textfragmentierung gleicht einer Zerstreuung von Bilderketten, die im Textgefüge trotz der Unterbre‐ chungen und Digressionen miteinander korrespondieren. Ähnlich wie in seiner umfassenderen Studie, welche Genet in die Tradition der Reiseliteratur rückt, postuliert Neutres in seinem Artikel eine Verwandtschaft zur französischen Memorialiteratur und zitiert Chateaubriand sowie Malraux als Vorgänger. 232 Neutres führt darin in Anlehnung an Malraux den vielversprechenden Begriff der „Antimémoires“ ein, mit dem er aber nicht auf einen Konflikt mit der Ge‐ dächtniskultur der westlichen Gesellschaft verweist, sondern erzähltechnische Aspekte, wie etwa die autoreflexive und autokritische Erzählhaltung oder die Fiktionalisierung der autobiographischen Erlebnisse, reflektiert und als symp‐ tomatisch für die Gattung der Memoiren generell einstuft. 233 Bei Balcázar Mo‐ reno hingegen findet man den Deutungsansatz der „invention d’une nouvelle mémoire“ 234 bei Genet, womit sie ihr letztes Kapitel überschreibt. Balcázar Mo‐ reno definiert diese neue Erinnerungsform als gegenläufig zu den traditionellen Vorstellungen der Memoria: „La parole due aux morts travaille au plus profond ce ‚livre de souvenirs‘ lui faisant détourner les rituels de commémoration, entrepris par les forces au pouvoir, de leur enjeu initial […].“ 235 Genet hingegen setzt den kommemorativen Ritualen eine Aufarbeitung nicht der bedeutenden historischen Ereignisse, sondern der flüchtigen Erlebnisse entgegen, durch welche die chronologische Logik des Geschichtsverständnisses durchbrochen wird: „Pour lui, il ne suffit pas de se souvenir des morts, de se retourner vers le passé par un acte d’anamnèse obsessionnel. Son écriture cherche à trouver ce point critique qui détraquerait l’enchaînement logique et chronologique de l’Histoire […].“ 236 Genets Misstrauen gegenüber dem okzidentalen Memorial‐ brauchtum richtet sich gegen die Vorstellung eines Nationalheldentums und manifestiert sich prototypisch im Zusammensturz des Geschützturms während seines ersten Aufenthaltes im Orient. Mit Bezug auf die Textstelle „[j]e laisse sur l’eau les traces déjà brouillées que les combattants veulent dans le marbre“ 237 aus dem Textfragment vor der Episode über den Festungsbau in Syrien erhebt Balcázar Moreno die Flüchtigkeit und Inkonsistenz zu den charakteristischen Kriterien von Genets Vorstellung einer Erinnerungsliteratur. 238 Nicht die in 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 324 239 Michel Foucault: „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“ [1971], in: Dits et Écrits. 1954- 1988, t. II: 1970-1975, édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris: Gallimard 1994, pp. 136-156, hier 155. 240 Ibid., p. 154-155. 241 Ibid., p. 156. Marmor verewigten Spuren der Vergangenheit bilden das Modell für seine Er‐ zählung, sondern jene vagen, konturlosen und konstant veränderlichen Spuren auf der Wasseroberfläche, die alsbald verschwimmen. Neben Neutres’ Begriff der Antimemoiren und Balcázar Morenos Definition einer neuen Form der Er‐ innerung bei Genet kann auch auf Foucaults Terminus der ‚contre-mémoire‘ 239 rekurriert werden, den er in seinem Artikel über „Nietzsche, la généalogie, l’his‐ toire“ verwendet, um eine Entgrenzung des traditionellen Geschichtsbegriffs bei Nietzsche kenntlich zu machen. Foucault identifiziert drei unterschiedliche, ty‐ pische Merkmale, nämlich l’usage parodique et destructeur de réalité, qui s’oppose au thème de l’histoire-réminiscence ou reconnaissance […], l’usage dissociatif et destructeur d’identité qui s’oppose à l’histoire-continuité ou tradition […], l’usage sacrificiel et destructeur de vérité qui s’oppose à l’histoire-connaissance. 240 Das Konzept der ‚contre-mémoire‘ agiert als destruktives Element folglich auf den drei Ebenen der Reminiszenz und Anerkennung, der Kontinuität und Tra‐ dition sowie der Wahrheitsforschung und dient ihm letztlich zur Konturierung des Begriffs der Genealogie. Wenn auch letzterer in diesem Kontext keine An‐ wendung auf Genets literarisches Werk finden soll, so sind doch die Ähnlich‐ keiten der ersten beiden, aus Nietzsches Texten herausgefilterten Definitions‐ merkmale frappierend: „[L]a vénération des monuments devient parodie; le respect des anciennes continuités devient dissociation systématique […].“ 241 Tatsächlich werden, wie herausgearbeitet wurde, die Parodie und Destruktion des traditionellen Gedenkkultes sowie die systematische Diskontinuität bei Genet als literarische Mittel eingesetzt, um die Prinzipien einer linearen und chronologischen Aufarbeitung der Vergangenheit durch ein entgrenztes Raum-Zeit-Kontinuum zu destabilisieren. Dazu zieht Genet das in La Sentence experimentierte Konzept der ‚écriture arachnéenne‘ als Strukturgrundlage einer prozessualen Desidentifikation und Entfremdung vom westlichen Wertesystem heran und entwickelt es in Un captif amoureux zu einer die Gedächtniskultur zersetzenden Schreibweise weiter. Sein textuelles ‚Gegendenkmal‘ gehorcht jener Ästhetik des nur kurz und vage in Erscheinung tretenden, transparenten Spinnennetzes in der Mittagssonne von Damaskus, das sich erst als destruktives 4.5 Die Interpretation der ‚écriture arachnéenne‘ 325 4.6 Moment im Zusammenfall des Mauerwerks manifestiert und (ent-)materiali‐ siert. Zwischenbilanz Die vorangehende Analyse konnte die eingangs als Thesen formulierten An‐ nahmen bestätigen. In Form einer distanzierten Wiederaufnahme des journa‐ listischen und politischen Materials der frühen 1970er Jahre nimmt Genet in Un captif amoureux eine Umgestaltung und Umdeutung einzelner politischer, aber auch ästhetischer Konzepte vor. Zu beobachten ist folglich die Transformation des eigenen Aussagensystems aus einer zeitlichen Distanz und ausgehend von einer metatextuellen Reflexionsebene innerhalb seines literarischen Textes. Es konnte aufgezeigt werden, dass Genet nach dem Prinzip einer kritischen Ver‐ weisstrategie auf werkexterne Texte Bezug nimmt, um dabei nicht nur geäu‐ ßerte politische Standpunkte zu bestätigen, revidieren oder kritisch abwägend zu erörtern, sondern auch vor allem um sie zu einer werkinternen Metareflexion der narrativen Struktur, der Schreibweise und der Genese von Un captif amou‐ reux umzugestalten. Es zeigt sich dabei, wie dicht die Intertextualität als mediale Selbstreferentialität mit dem Prinzip der Metaisierung in seinem Werk verknotet ist. Die Texte und Konzepte, die zunächst innerhalb eines spezifischen politi‐ schen Aussagensystems entwickelt wurden, werden in einen neuen, literari‐ schen Kontext eingeschrieben und verweisen dort vor allem auf die Textualität des Werks selbst. Diese Metaisierung des revolutionären Diskurses kann als Strategie einer kritischen Aufarbeitung des politisch-journalistischen Materials begriffen werden. In Hinblick auf die Entstehung des Werks wird mehrfach auf die Reportage „Quatre Heures à Chatila“ als Ausgangspunkt verwiesen, wodurch in Un captif amoureux auch journalistische Zielsetzungen sowie die Erzählhaltung des Be‐ obachters und Augenzeugen rezipiert werden. Genet nimmt kommentierend und zitierend Bezug auf seinen eigenen Artikel, sodass in einem direkten Ver‐ gleich die Entwicklung von seiner Reportage unmittelbar nach den Massakern von Sabra und Schatila hin zu einer literarischen Aufarbeitung nicht nur seiner Beobachtungen, sondern auch vor allem deren Bedeutung für die innerhalb einer Dekade gesammelten, persönlichen Erlebnisse bei der palästinensischen Widerstandsbewegung herausgearbeitet werden kann. Dabei kann nachge‐ zeichnet werden, dass bereits im Ansatz im journalistischen Artikel manifeste Elemente in Un captif amoureux aufgegriffen werden und dort noch prägnanter zum Vorschein treten. Dazu zählt etwa die Verknüpfung unterschiedlicher Zeit‐ 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 326 ebenen, nämlich der akuten Begebenheiten nach dem Blutbad 1982 sowie der vormaligen Eindrücke von den palästinensischen Lagern Anfang der 1970er Jahre, welcher in Un captif amoureux in Form von Erinnerungsschichten Rech‐ nung getragen wird. Auch die subjektive Schilderung der Ereignisse in „Quatre Heures à Chatila“, welche die objektive Informationsvermittlung hinter den persönlichen Impressionen zurückstellt und typisch für Genets journalistische Beiträge ist, wie in Kapitel 3.2 erarbeitet wurde, artikuliert sich in seinem lite‐ rarischen Text vor der Folie autobiographischer Ansprüche und Zielvorstel‐ lungen. Die Rolle des Erzählers als Augenzeuge determiniert folglich keine ob‐ jektive Erzählhaltung, sondern begründet die Fiktionalisierung der beschriebenen Beobachtungen, wobei Genet diese am Ende seines Werks mit der Rolle des Zeugen vor Gericht verwebt und somit dem Leser in einem meta‐ textuellen Selbstverweis einen Lektüreschlüssel an die Hand gibt. Diese eben‐ falls aus seinem politischen Engagement insbesondere für die Black Panthers gefilterte Thematik des Gerichtsurteils bzw. die Konzeptualisierung der Argu‐ mentation in Form einer Gerichtsverhandlung findet in Un captif amoureux durch deren Bespiegelung auf der Metaebene einen neuen, ästhetisch determi‐ nierten diskursiven Kontext. Genet hinterfragt auch die in einer sehr viel komprimierteren Rückblende reflektierte eigene Funktion für die Black Panther Party sowie den Stellenwert der Gruppierung für die Emanzipation der Afroamerikaner. In einem werkex‐ ternen Verweis auf ein angeblich in der amerikanischen Zeitschrift Ramparts abgedrucktes Gespräch revidiert Genet seine Ansicht über die Relevanz des öf‐ fentlichen Images der Black Panthers, indem er das Kommunikationsformat des Interviews imitiert. Dabei gibt er vor, einzelne Fragen zu zitieren und erneut von einem retrospektiven Standpunkt aus zu beantworten. Durch das Einflechten dieser simulierten Interviewsituation unterminiert er sein eigenes Engagement als öffentliches Sprachrohr der Bewegung in den frühen siebziger Jahren und vertieft darüber hinaus indirekt den in seinen öffentlichen Gesprächen zum Vorschein tretenden Aspekt der verfehlten Kommunikation. Während nämlich der direkte verbale Austausch die Produktion einer wahrheitsgetreuen Äuße‐ rung unterbindet, ermöglicht das Kunstwerk vom einsamen Standpunkt des Autors aus, eine persönliche Wahrheit zu erzeugen, die jedoch nur eine ausge‐ wählte Leserschaft zu dechiffrieren befähigt ist. Die bereits in seinen politischen Texten und Stellungnahmen verfochtene Positionierung als Vagabund und Reisender, mithilfe derer Genet sein eigenes Detachement inszeniert, wird auch in Un captif amoureux zu diesem Zwecke beansprucht. Durch das Selbstbild des Vagabunden widersetzt sich Genet der Vereinnahmung seitens unterschiedlicher Gruppierungen. Er definiert dieses in 4.6 Zwischenbilanz 327 seinem literarischen Text am Beispiel zweier Gleichnisse als einen widerstän‐ digen und nicht durch Ideologien oder politische Programme assimilierbaren Daseinsentwurf, der auf einer ständigen Mobilität beruht. Obgleich die Rezep‐ tion dieses Konzeptes eine unveränderte Haltung zu signalisieren scheint, können durch die Aufnahme einer längeren Textpassage aus La Sentence über den für die westliche Moralvorstellung als kathartisch charakterisierten Flug nach Japan dennoch einige Unterschiede festgestellt werden. Dieser weitestge‐ hend aus dem ursprünglichen, rechtskritischen Textumfeld des Manuskriptes herausgelöste Auszug findet in Un captif amoureux in Form einer Verkettung mit einzelnen Fragmenten Eingang, die das makrokosmische Kräfteverhältnis einzelner Mächte und Gruppierungen als kosmogonisches Gesetz thematisieren. Im Unterschied zu La Sentence reflektiert Genet nicht mehr symbolisch seine eigene Position als eines die selbst gewählte Drehachse umkreisenden Rei‐ senden, der so seinen Abfall vom westlichen Wertesystem besiegelt, sondern reflektiert aus einem teleskopischen Weitblick die Relationalität einzelner po‐ litischer Bewegungen, um seine eigene Distanz diesen gegenüber kenntlich zu machen. Der rechtskritische Diskurs hingegen tritt nur noch in fragmentierter Form auf. Das Prinzip des Reisens markiert in diesem Verständnis zwar einer‐ seits eine räumliche und emotionale Annäherung an die revolutionären Grup‐ pierungen, andererseits aber geht von diesem eine perspektivische Distanzie‐ rung aus. Dieses ambivalente Konzept muss auch berücksichtigt werden, wenn Un captif amoureux auf metatextueller Ebene als Reisebericht klassifiziert wird. Denn unter diesem analytischem Blickwinkel entzieht sich das Werk einer Deu‐ tung als politische Intervention. Ein weiteres Gattungsformat, mit dem Genet in seinem Text experimentiert, ist der Heldengesang, der die Frage nach der künstlerischen Aufarbeitung von Heldentaten einerseits und nach dem symbiotischen Verhältnis zwischen Künstler und Helden andererseits aufwirft. Genet sieht die Aufgabe des Schrift‐ stellers in diesem Zusammenhang in einer literarischen Veredelung von Bana‐ litäten, die zu seltenen Ereignissen umgeschrieben werden, und zeigt dies am Beispiel des revolutionären Gesangs palästinensischer Kampfeinheiten auf. Dabei bezieht er sich auf einen Aspekt, den er bereits in seinem politischen Artikel „Les Palestiniens“ von 1971 beschreibt. In einem direkten Vergleich zwi‐ schen diesen beiden Texten kann dargelegt werden, dass der Kanon nicht mehr als revolutionäre musikalische Schöpfung und als Ausdrucksform eines sich anbahnenden revolutionären Wandels interpretiert wird, sondern in einer nar‐ rativen Spannungskurve als kriegerisches Täuschungsmanöver entmystifiziert wird. Der ursprüngliche kunstkritische Kommentar erfährt in der narrativen Episode eine Umdeutung als strategische Irreführung der Gegner, die darüber 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 328 hinaus als mise en abyme richtungsweisend für die Struktur und ästhetischen Ansprüche von Un captif amoureux ist. Denn der mehrstimmige Gesang bildet zum einen in nuce die leitmotivische Korrespondenz einzelner Textfragmente zueinander ab, die sich zu einzelnen Motivketten zusammensetzen. Zum an‐ deren entspricht auch die Zielsetzung der Verwirrungstaktik der auf metatex‐ tueller Ebene präsentierten Ästhetik der ‚imposture‘, welche Genet als dissozi‐ atives Vehikel auch gegenüber der palästinensischen Widerstandsbewegung dient. Die vermeintlich veranschlagte Funktion als Barde der Widerstands‐ kämpfer wird damit gleichsam zersetzt. Nach einem ähnlichen Prinzip fließt auch ein implizites Zitat aus La Sentence in Un captif amoureux ein und wird in einer anekdotischen Narration als mise en abyme der Werkstruktur und -ästhetik rezipiert. Die auch in La Sentence als ästhetisches Konzept der Fragmentierung und Entfremdung von den westlichen Moral- und Wertvorstellungen beschriebene ‚écriture arachnéenne‘ wird zu einer autobiographischen Erzählung umgeschrieben, in der Konstruktion und Zerfall eines militärischen Geschützturms in Syrien als Ausgangspunkt einer Desidentifikation vom französischen und westlichen Gesellschaftssystem und als Anbeginn seiner Freundschaft zu den Palästinensern bewertet werden. In der Narration werden mithilfe des Spinnennetzes die Einrisse im Gemäuer dar‐ gestellt, welche den Einsturz des als Symbol der französischen Kolonialherr‐ schaft figurierenden Turms verursachen und dadurch dem autobiographischen Erzähler auch eine mögliche Verewigung durch ein Militärdenkmal verwehren. Durch die Einbindung der Erzählung in eine metatextuelle Rahmenreflexion über die autobiographische Erinnerungsliteratur und die in der Gewebemeta‐ phorik versinnbildlichte autoreflexive Rückkoppelung an den literarischen Text charakterisiert er Un captif amoureux als ein den traditionellen Gedächtniskult unterlaufendes Werk. Er schafft somit eine literarische Gegenform zur westli‐ chen Memoriakultur. Un captif amoureux vollzieht folglich eine Metaisierung des revolutionären Diskurses, wie anhand werkexterner Verweise auf eigene politische Schriften („Quatre Heures à Chatila“, „Les Palestiniens“, La Sentence und ein Interview) illustriert werden konnte. In Form eines Rückblicks überdenkt Genet seine ei‐ genen Interventionen kritisch. Es konnte dargelegt werden, wie Gegenstände und Fragestellungen des revolutionären Diskurses in metaisierter Form im li‐ terarischen Werk aufgenommen und weiterentwickelt werden. Dabei werden jene ursprünglich aus dem politischen Kontext stammenden Konzepte jedoch hinsichtlich ihrer interventiven Wirkungskraft weitestgehend demontiert und zu ästhetischen Konzepten umgewertet. Insbesondere der Vergleich zwischen den in journalistischen Beiträgen oder öffentlichen Stellungnahmen geäußerten 4.6 Zwischenbilanz 329 Überlegungen und deren literarischer Verarbeitung in Un captif amoureux legt eine Distanzierung vom Prinzip der unmittelbaren Stellungnahme für eine po‐ litische Gruppierung offen. Die bereits in den journalistischen Artikeln konsta‐ tierte Vermengung fiktionaler und faktischer Elemente wird durch den An‐ spruch der Fiktionalisierung im literarischen Werk neu gewichtet. Einige im öffentlichen Diskurs beanspruchte Funktionen, wie die des Augenzeugen bzw. des Zeugen vor Gericht oder des Mediators, werden in Un captif amoureux klaren ästhetischen Grundsätzen unterstellt. Die in La Sentence vorgedachten Konzepte erhalten in Un captif amoureux hingegen vielmehr ein neues Textumfeld. An‐ hand des Prinzips des Reisens wird dort beispielsweise ein zeitlich bedingtes, fortschreitendes Detachement von den revolutionären Bewegungen markiert, das durch eine makrokosmische Erzählperspektive zum Ausdruck kommt. Tat‐ sächlich kennzeichnet der Akt des Schreibens selbst ein dissoziatives Moment, wie sich auch am Beispiel von Genets Ästhetik des Betrugs exemplifizieren lässt. 4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 330 1 Im Detail finden sich diese Teilergebnisse in den Zwischenbilanzen zum zweiten und dritten Kapitel (2.4 und 3.4) zusammengefasst. 5 Ergebnisse Die vorliegende Untersuchung der politischen Interventionen von Jean Genet konnte zeigen, dass sich seine Stellungnahmen in feldspezifisch determinierten Aussagensystemen situieren lassen, die sich zu einem revolutionären Diskurs zusammenfügen. Durch seine Verortung im intellektuellen Feld in Frankreich und im gegenkulturellen Feld in den USA konnten charakteristische Diskurs‐ gegenstände und diskursive Argumentationsmuster herausgearbeitet werden, die sich als symptomatisch für den historisch determinierten revolutionären Diskurs erweisen. Dazu zählen die Überlegungen zu möglichen interventiven Handlungsentwürfen, das Spannungsfeld zwischen rechtlich illegaler, aber ethisch legitimierbarer revolutionärer Gewalt und der als kritikwürdig emp‐ fundenen Rechtsstaatlichkeit, die Frage nach der journalistischen Aufarbeitung von gesellschaftspolitischen Ereignissen in Form einer Gegenberichterstattung sowie die Kritik an den USA und dem Westen. 1 Jean Genets feldspezifische Po‐ sitionierung kristallisiert sich dabei in für das jeweilige Feld typischen Perso‐ nenkonstellationen besonders deutlich heraus: Im intellektuellen Feld positio‐ niert er sich in Auseinandersetzung mit Sartre und Foucault, im gegenkulturellen Feld in Verbindung mit Ginsberg und Burroughs. Die aussa‐ genspezifischen Bezugssysteme beschreiben Korrelationsräume gegenseitiger Einflüsse und Wechselwirkungen, in denen sich jedoch auch gerade die Beson‐ derheit der politischen Position von Jean Genet abhebt. Denn diese kennzeichnet sich vor allem durch die prononcierte Haltung einer poetischen Negation und Dissidenz. In seinem Selbstverständnis als Poet negiert er die Funktion des In‐ tellektuellen insbesondere in Abgrenzung zu Sartres Modell, ohne jedoch ein kohärentes alternatives Interventionsmuster zu entwerfen. Sein Konzept der Poesie selbst basiert auf der Vorstellung einer uneingeschränkten Opposition, die sich im politischen Kontext in seiner Feindschaft gegenüber dem französi‐ schen Rechtsstaat und der amerikanischen Gesellschaft offenbart. Während er jedoch insbesondere in seinen frühen politischen Schriften einzelnen revoluti‐ onären Bewegungen, wie etwa den Black Panthers oder den Hippies, das Poten‐ tial einer gesellschaftlichen Veränderung zuerkennt, vertritt er selbst keine ein‐ deutig politisch affirmative Haltung und hebt, anders als etwa Ginsberg, auch nie explizit die politische Wirkungskraft seiner eigenen Interventionen hervor. In Anbetracht seines Verständnisses der Revolution als Zusammenwirken von poetischer Negation und politischer Affirmation, erscheint es begreiflich, dass er selbst sich nie als Revolutionär, sondern vielmehr als Reisender und Vagabund bezeichnet. Es konnte aufgezeigt werden, wie er dennoch beide Existenzent‐ würfe unter Rekurs auf den etymologischen Ursprung des Terminus ‚Revolu‐ tion‘ in einem Bewegungsprinzip verquickt und das Revolutionskonzept für sich poetisch entpolitisiert. So nimmt Genet in beiden Feldern eine Sonderstellung ein und erweitert dadurch zugleich deren Raum der Möglichkeiten, wie sich in besonderem Maße am Beispiel der rechtskritischen Diskursformation be‐ stimmen lässt. Durch seine Affinität zur Thematik des Gefängnisses als Mittel einer gesellschaftlichen Ausgrenzung nämlich kommt ihm hinsichtlich dieses diskursiven Problemfeldes eine richtungsweisende Signifikanz zu, auch wenn eine Vielzahl der in diesem Kontext entstandenen Texte bewusst unveröffent‐ licht bleibt. Dabei erweist sich gerade die Ausarbeitung der Wechselwirkungen zwischen Genet und Foucault als aufschlussreich, da sich hier ein kontinuierli‐ cher gemeinsamer Reflexionsraum entfaltet, wie sich in den Schriften für den G. I. P., dem unveröffentlichten Drehbuch Le Langage de la muraille, dem posthum erschienenen Manuskript La Sentence, aber implizit auch im Vorwort für die Gefängnisbriefe der Roten Armee Fraktion zeigen lässt. In einem zu‐ künftigen Forschungsprojekt wäre es interessant, nach einem ähnlichen Muster die intertextuellen Relationen zu Jacques Derrida im politischen Kontext zu er‐ schließen, der gegenüber dem Konzept des Engagements stärker noch als Genet eine ablehnende Haltung vertritt und dessen Einfluss hier nur punktuell, bei‐ spielsweise im Kontext der Zeugenaussage, einbezogen werden konnte. Durch die Elaboration einzelner textbasierter Bezugssysteme aus der Kons‐ tellation mit Sartre und Foucault sowie mit Ginsberg und Burroughs konnten somit zum einen neue Textzusammenhänge erstellt und untersucht werden, welche bislang von der Forschung noch kaum berücksichtigt wurden, da die interpersonalen Beziehungen zumeist aus einer biographistischen Perspektive behandelt wurden. Dabei wurden auch noch wenig untersuchte Texte einer kontextuell determinierten Deutung unterzogen. Gerade die Vielzahl der zu Genets Lebzeiten und teilweise weiterhin unveröffentlichten Texte aus dem po‐ litischen Kontext bildet einen noch nicht erschöpften Fundus, der neue Per‐ spektiven auf sein politisches Werk eröffnet. Zum anderen konnte das stark heterogene Korpus der thematisch und stilistisch sehr unterschiedlichen poli‐ tischen Schriften von Jean Genet mit dem gewählten methodischen Ansatz in diskursiven Einheiten erfasst und auch klassifiziert werden. So beispielsweise 5 Ergebnisse 332 2 Die Teilergebnisse sind in der Zwischenbilanz zum vierten Kapitel unter 4.6 zusam‐ mengefasst. unterscheiden sich seine pragmatisch ausgerichteten Interventionen für die Black Panthers von seinen journalistischen Artikeln, die durch die subjektiv-im‐ pressionistische Überschreibung der Realität und die Selbstinszenierung des Augenzeugen im Grenzbereich zwischen Literatur und Journalismus kategori‐ siert wurden. Symptomatisch für seine politische Stellung erscheint auch seine Hinwendung zur Gattung des Vorwortes, das ihm auf textueller Ebene par ex‐ cellence einen Zwischenraum zwischen Engagement und poetischer Entpflich‐ tung ermöglicht. Während sich die bisherigen Studien zu Genets politischem Œuvre vornehm‐ lich seinem Einsatz für die Black Panther Party sowie die palästinensische Be‐ freiungsbewegung als Einzelphänomenen zuwenden und zur Analyse die poli‐ tischen Texte aus L’Ennemi déclaré sowie das letzte literarische Werk Un captif amoureux ungeachtet des zeitlichen Abstandes ihrer Erscheinung heranziehen, verlegt die vorliegende Untersuchung den Schwerpunkt auf die Vernetzung der politischen Schriften vor dem Hintergrund eines weiter gefassten Diskurses. Dabei erschien es notwendig, zwischen den in das politische Zeitgeschehen eingreifenden Texten und dem rückblickenden literarischen Werk zu unter‐ scheiden, da sich auf diese Weise ein diskursiver Wandel offenbart. Tatsächlich vollzieht Genet in Un captif amoureux nach dem Prinzip eines werkexternen Rückverweises auf eigene politische Texte und Konzepte eine Metaisierung des revolutionären Diskurses. 2 In Form einer intertextuellen Bezugnahme und Um‐ schreibung werden so ehemals politische zu ästhetischen Konzepten umge‐ staltet, die wiederum auf der Metaebene eine werkreferentielle Selbstreflexion eröffnen. Die damit beschlossene Distanzierung von seinem eigenen politischen Einsatz verschließt Un captif amoureux vor seiner Lesart als engagierter litera‐ rischer Text. Zwar charakterisiert sich Genets Haltung bereits zum Zeitpunkt seiner politischen Aktivitäten durch seine ambivalente Grundeinstellung zwi‐ schen Partizipation und Detachement, doch konnte gerade im textuellen Ver‐ gleich zwischen seinen politischen Schriften und Un captif amoureux eine per‐ sönliche Entwicklung nachgezeichnet werden. Denn obgleich auch viele seiner politischen Schriften in den Grenzbereich zwischen pragmatischen und litera‐ rischen Texten fallen, fungieren sie im ereignispolitischen Kontext als Inter‐ ventionen. Ein Wandel des revolutionären Diskurses lässt sich jedoch auch schon an ihnen ablesen. Bereits in seinen Beiträgen zum französischen Wahl‐ kampf von 1974 oder in seinem Interview mit Fichte von 1975 konstatiert Genet einen Verlust der revolutionären Stoßkraft in der Gesellschaft. Angeführt wurde 5 Ergebnisse 333 dazu beispielhaft der Skandal um seinen Artikel für die Rote Armee Fraktion von 1977, der dem diskursiven Argumentationsmuster seiner rechtskritischen Texte aus den frühen siebziger Jahren verhaftet bleibt. Seine politische Distan‐ zierung fällt mit dem allmählichen Eindämmen der revolutionären Bewegungen zusammen, von denen er sich in Un captif amoureux schließlich mit literarischen Mitteln dissoziiert. Im Unterschied zu jenen Studien, die Genets politischen Einsatz ausgehend von Un captif amoureux erfassen und sich damit folglich auf das Stadium der selbstreflexiv überschriebenen Bilanz stützen, legt der vorlie‐ gende Beitrag den Wandel des revolutionären Diskurses ausgehend von den politischen Schriften offen. Denn in Un captif amoureux inszeniert Genet letzt‐ lich eine Zersprengung seiner politischen Texte, deren Fragmente sich als Pro‐ dukte eines literarischen Urknalls in einem neu geschaffenen Kosmos anordnen. 5 Ergebnisse 334 I. Literaturverzeichnis Schriften von Jean Genet Genet, Jean: La Sentence, suivi de J’étais et je n’étais pas, Paris: Gallimard 2010. Genet, Jean: L’Ennemi déclaré. Textes et entretiens choisis 1970-1983, édition établie et annotée par Albert Dichy, Paris: Gallimard 2010. Genet, Jean: Notre-Dame-des-Fleurs, Paris: Gallimard 2007 [1948]. 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Literaturverzeichnis 358 lendemains Diese Arbeit befasst sich mit dem noch wenig erforschten politischen Spätwerk des französischen Autors Jean Genet (1910-1986) aus diskursanalytischer und feldtheoretischer Perspektive. Die Singularität und Ambivalenz seines im Mai ’68 einsetzenden politischen Engagements wird in einem Vergleich mit den intellektuellen Bezugsgrößen von Jean-Paul Sartre und Michel Foucault einerseits und den gegenkulturellen Positionen von Allen Ginsberg und William S. Burroughs andererseits herausgearbeitet. Durch die historisch determinierte und diskursspezifische Kontextualisierung der vor dem Hintergrund weltweiter Protestbewegungen verfassten politischen und journalistischen Schriften werden die diskursiven Problemfelder einer gesamten Protestgeneration von ihren Anfängen bis zu ihrem allmählichen Niedergang beleuchtet. Einen Wandel markiert insbesondere die retrospektive literarische Bilanz Un captif amoureux (1986), wie die darin in Form eines intertextuellen Dialoges vollzogenen Umschreibungen und Umdeutungen des politisch-journalistischen Materials aufzeigen. edition lendemains 41 ISBN 978-3-8233-8059-7 Sara Izzo Jean Genet und der revolutionäre Diskurs Sara Izzo Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext