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Moralische Motivation in der Stoa und bei Augustinus

2020
978-3-7720-5701-4
A. Francke Verlag 
Markus Held

Die Frage, warum man moralisch sein soll, ist eine der ältesten und schwierigsten Fragen der Moraltheorie: Wie kann der Mensch dem moralischen Anspruch, dem er untersteht, gerecht werden? In welchem Verhältnis stehen moralische Urteile und Überzeugungen zu den Wünschen, Neigungen und Gefühlen des Menschen? Welche Rolle kommt der Vernunft in der Handlungsmotivation zu? Welche Bedeutung hat der religiöse Glaube für die menschliche Praxis? In der zeitgenössischen Moraltheologie werden diese grundlegenden Fragen weitgehend vernachlässigt. Die vorliegende Untersuchung leistet einen Beitrag, die Motivationsproblematik wieder ins Zentrum der moraltheologischen Reflexion zu rücken. Ausgehend von einem Überblick über die gegenwärtige philosophische Diskussion um das Problem der moralischen Motivation wird die Motivationstheorie der Stoa rekonstruiert und ihre Rezeption durch Augustinus herausgearbeitet. Dabei erweisen sich die klassischen Motivationstheorien nicht nur als anschlussfähig an die gegenwärtige Diskussion, sondern sie bieten darüber hinaus auch wichtige Impulse für die Beschäftigung mit dem Motivationsproblem.

28 Die Frage, warum man moralisch sein soll, ist eine der ältesten und schwierigsten Fragen der Moraltheorie: Wie kann der Mensch dem moralischen Anspruch, dem er untersteht, gerecht werden? In welchem Verhältnis stehen moralische Urteile und Überzeugungen zu den Wünschen, Neigungen und Gefühlen des Menschen? Welche Rolle kommt der Vernunft in der Handlungsmotivation zu? Welche Bedeutung hat der religiöse Glaube für die menschliche Praxis? In der zeitgenössischen Moraltheologie werden diese grundlegenden Fragen weitgehend vernachlässigt. Die vorliegende Untersuchung leistet einen Beitrag, die Motivationsproblematik wieder ins Zentrum der moraltheologischen Reflexion zu rücken. Ausgehend von einem Überblick über die gegenwärtige philosophische Diskussion um das Problem der moralischen Motivation wird die Motivationstheorie der Stoa rekonstruiert und ihre Rezeption durch Augustinus herausgearbeitet. Dabei erweisen sich die klassischen Motivationstheorien nicht nur als anschlussfähig an die gegenwärtige Diskussion, sondern sie bieten darüber hinaus auch wichtige Impulse für die Beschäftigung mit dem Motivationsproblem. Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie Herausgegeben von Franz-Josef Bormann und Johannes Brachtendorf ISBN 978-3-7720-8701-1 Held Moralische Motivation in der Stoa und bei Augustinus Markus Held Moralische Motivation in der Stoa und bei Augustinus 38701_Umschlag.indd Alle Seiten 38701_Umschlag.indd Alle Seiten 19.05.2020 14: 39: 26 19.05.2020 14: 39: 26 Moralische Motivation in der Stoa und bei Augustinus Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie Herausgegeben von Franz-Josef Bormann und Johannes Brachtendorf Band 28 Markus Held Moralische Motivation in der Stoa und bei Augustinus © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN 1432-4709 ISBN 978-3-7720-8701-1 (Print) ISBN 978-3-7720-5701-4 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0112-3 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. I. 9 II. 23 II.1 23 II.2 24 II.3 26 II.3. 1 31 II.4 41 II.4. 1 42 II.4. 2 43 II.4. 3 61 II.5 64 II.5. 1 66 II.6 83 III. 87 III.1 87 III.1. 1 87 III.1. 2 115 III.2 189 III.2. 1 189 III.2. 2 194 III.3 260 IV. 273 IV.1 273 IV.1. 1 273 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage der moralischen Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normative Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interne und externe Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motivierende Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Bedeutungen von ‚Wollen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologistische Theorien motivierender Gründe . . . Non-Psychologistische Theorien motivierender Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die motivationale Kraft der Moral: Internalismus vs. Externalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der motivationstheoretische Internalismus . . . . . . . . . . Zwischenfazit: Das Problem der moralischen Motivation . . . . Die stoische Motivationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik - oder die Frage nach internen und externen Gründen . . . . . . . Rationaler Eudämonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die naturphilosophisch fundierte Ethik der Stoa . . . . . Der psychologische Monismus der Stoa - oder die Frage nach den motivierenden mentalen Zuständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Psychologie der Stoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Handlungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit: Die stoische Motivationstheorie . . . . . . . . . . . . Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus . . . Augustins Kenntnis der stoischen Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2 276 IV.2. 1 276 IV.2. 2 287 IV.2. 3 294 IV.2. 4 305 IV.3 322 IV.3. 1 322 IV.3. 2 328 IV.4 406 IV.4. 1 406 IV.4. 2 413 IV.4. 3 431 IV.5 439 V. 457 VI. 479 VI.1 479 VI.2 480 VI.3 484 517 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik - oder die Frage nach internen und externen Gründen . . . . . . . . . . . . Augustins Eudämonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ordo bonorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Augustins Axiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Augustins Rezeption der stoischen οἰκείωσις-Lehre . . Die Psychologie des Augustinus - oder die Frage nach den motivierenden mentalen Zuständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Psychologie des Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Augustins Rezeption der stoischen Handlungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirkweise der göttlichen Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Göttlich inspirierte visa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Göttlich gewirkte consensio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Moral der Heiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit: Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motivation und christlicher Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen, Quellen, Übersetzungen und Literatur . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Vorwort Die Frage nach der Motivation zu moralischem Handeln ist eines der grundle‐ gendsten und ältesten Probleme der Moraltheorie. Wie kann der Mensch dazu motiviert werden, die Handlung, welche er als sittlich richtig erkannt hat, auch tatsächlich auszuführen? Welche Rolle spielen dabei seine Vernunft, Neigungen, Wünsche und Gefühle? Aus moraltheologischer Perspektive stellt sich auch die Frage, welche Bedeutung der religiöse Glaube für die menschliche Praxis hat. Auf diese Fragen sucht die vorliegende Untersuchung im Gespräch mit der zeit‐ genössischen analytischen Philosophie sowie unter Rückgriff auf die Motivati‐ onstheorie der Stoa und ihrer Rezeption bei Augustinus eine Antwort zu finden und einen Beitrag zum gegenwärtigen moraltheologischen Diskurs zu leisten. Die vorliegende Studie stellt eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner im Sommersemester 2019 von der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen angenommenen Dissertationsschrift dar. Die Promotion erfolgte am 26. Juli 2019. Die Arbeit entstand mit einem Promotionsstipendium der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk sowie während einer mehrjährigen Tätigkeit am Lehrstuhl für Theologische Ethik/ Moraltheologie in Tübingen. Mein Dank gilt vor allem Prof. Dr. Franz-Josef Bormann, der mein Interesse für metaethische Fragen und ihre Relevanz für die Moraltheologie geweckt und die Arbeit geduldig und mit zahlreichen Hinweisen und Anmerkungen begleitet hat. Prof. Dr. Johannes Brachtendorf danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie für seinen hilfreichen Rat insbesondere in Fragen der Augus‐ tinus-Interpretation. Beiden möchte ich außerdem für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie danken. Prof. Dr. John Cooper danke ich für die Einladung an das Philosophy Depart‐ ment der Princeton University, wo seine wertvollen Anregungen meine For‐ schungen zur stoischen Philosophie wesentlich vorangebracht haben. Der Bi‐ schöflichen Studienförderung Cusanuswerk bin ich für die langjährige Unterstützung und Förderung zu Dank verpflichtet. Die Drucklegung der Arbeit wurde durch Druckkostenzuschüsse der Diözese Rottenburg-Stuttgart, des Erz‐ bistums Freiburg und der Stiftung Landesbank Baden-Württemberg ermöglicht, für die ich mich ebenfalls herzlich bedanken möchte. Ein besonderer Dank gilt meiner Familie und meinen Freunden, die mich während der Entstehung der Arbeit stets unterstützt haben. Ohne diese Unter‐ stützung wäre diese Arbeit nicht entstanden. 1 Vgl. Anscombe (1958 [1974]), 217. I. Einleitung Die Frage, warum man moralisch sein soll, ist eine der ältesten Fragen der Mo‐ raltheorie. Hinter ihr verbergen sich eine Reihe fundamentaler philosophischer wie theologischer Probleme: Was bedeutet ‚moralisch‘? Welche Lebensbereiche werden vom Begriff der ‚Moral‘ erfasst? Welchen Verpflichtungsgrad haben moralische Forderungen? Wie erfährt der Mensch den sittlichen Anspruch, den moralische Forderungen an ihn stellen? Was bewegt den Menschen dazu, diesem Anspruch gerecht zu werden? In welchem Verhältnis stehen moralische Urteile und Überzeugungen zu den Wünschen, Neigungen und Gefühlen des Men‐ schen? Warum können Menschen in Übereinstimmung mit ihren Überzeu‐ gungen handeln? Wie ist es zu erklären, wenn sie dies nicht tun? Welche Rolle spielt die Vernunft bei der Steuerung konkreter Handlungen? Welche Rolle kommt der Kognition, der Imagination und der Erinnerung bei der Handlungs‐ motivation zu? Und aus moraltheologischer Perspektive nicht zuletzt auch: Welche Bedeutung hat der christliche Glaube für die menschliche Praxis? Im Folgenden werden nicht alle diese Fragen beantwortet werden können. Der Fokus der vorliegenden Untersuchung soll auf der Motivationsproblematik liegen. Fragen der Semantik des Moralbegriffs sowie seiner Extension werden in der Folge ausgeklammert. Zur Frage des Verpflichtungsgrades moralischer Forderungen sowie zur Erfahrung des sittlichen Anspruchs dieser Forderungen seitens des Menschen werden sich in den Ausführungen über unsere Hand‐ lungsgründe einige Bemerkungen finden, die freilich nicht erschöpfend sein können. Es werden in der vorliegenden Arbeit auch keine substantiellen Fragen der normativen Ethik diskutiert, sondern Fragen der Motivations- und Handlungs‐ theorie sowie der Metaethik, insoweit sie für die Motivationsfrage relevant sind. Die Fragen der Motivationstheorie liegen der substantiellen normativ-ethischen Frage, wie man handeln und leben soll, voraus und beschäftigen sich damit, was in einem handelnden Akteur vor sich geht. Diese Fragen, darauf hat Elizabeth Anscombe aufmerksam gemacht, müssen betrachtet werden, bevor man sich normativen Fragen zuwenden kann. 1 So sei eine Erklärung dafür, warum ein ungerechter Mensch ein schlechter Mensch und eine ungerechte Handlung eine schlechte Handlung sei, ohne eine adäquate Philosophie der Psychologie - d. h. 2 Vgl. Anscombe (1958 [1974]), 222. 3 Ebd. Philosophie des Geistes - nicht möglich. 2 Um erklären zu können, warum eine ungerechte Handlung eine schlechte Handlung sei, benötige man mindestens „eine Darstellung dessen, was eine menschliche Handlung überhaupt [sei] und wie ihre Beschreibung als ‚das und das tun‘ von ihren Motiven und den mit ihr verbundenen Absichten abhängig [sei]; was wiederum eine Klärung dieser letzteren Begriffe voraussetz[e].“ 3 Zudem lässt sich die moralische Qualität einer Handlung nicht allein anhand des äußeren Aktes, unabhängig von den Intenti‐ onen und Motiven des Akteurs bestimmen. So macht es für die moralische Qua‐ lität einer Handlung einen Unterschied, ob jemand ein ertrinkendes Kind aus Menschenliebe rettet oder ob er dies aus Geltungssucht tut, weil er sich etwa erhofft, dadurch ins Fernsehen oder in die Zeitung zu kommen. Aus diesen Gründen braucht es Anscombe zufolge, bevor man in sinnvoller Weise Ethik betreiben kann, eine adäquate Handlungstheorie und Philosophie der Psycho‐ logie - zumindest hinsichtlich derjenigen mentalen Kategorien, die für das menschliche Handeln relevant sind: Welche Rolle spielen Lust und Schmerz für unser Handeln? Was ist die Aufgabe der Wahrnehmung dabei? Welche Rolle spielen unsere Wünsche, der Wille und die Vernunft? Wie ist ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen? Welche Funktion hat die Intention bzw. Absicht? Welche Rolle kommt der Antizipation und Vorstellung bzw. Imagination zu? Was ist die Aufgabe der Erinnerung? Was die von Wissen? Da sich alle diese Subsysteme darauf auswirken, wie ein Akteur motiviert ist, auf bestimmte Weise zu handeln, ist es die Aufgabe der Ethik, ein genaueres Verständnis der einzelnen Größen sowie ihres Verhältnisses untereinander zu erlangen. Die folgende Un‐ tersuchung soll einen Beitrag zu einem solchen tieferen Verständnis der ge‐ nannten Begriffe leisten. Auch aus einer dezidiert moraltheologischen Perspektive erscheint eine solche Untersuchung aus einer Reihe von Gründen wichtig. So ist zunächst zu klären, wie die Menschen motiviert werden bzw. motiviert werden können, dem mo‐ ralischen Anspruch, welchem sie unterstehen, gerecht zu werden. Wenn die Menschen einem moralischen Anspruch unterliegen, müssen sie diesen auch erfüllen können. Es ist daher von zentraler Bedeutung, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie die Menschen den an sie gestellten moralischen Anspruch erfüllen können und welche Motivation sie dabei antreibt. Ist die Motivation des Christen und des nichtgläubigen Menschen dieselbe? Oder ist beim Christen ein spezifisch religiöses Motiv wirksam, welches ihn zur Erfüllung der allgemeinen moralischen Forderungen antreibt? Spätestens mit der Thematik des proprium 10 I. Einleitung 4 Rotter (1996a), 285. 5 Rotter (1996b), 187. 6 Siehe dazu Auer ( 2 1989); eine kritische Auseinandersetzung mit dem Auerschen Entwurf einer ‚Autonomen Moral‘ bieten: Hirschi (1992); Schelkshorn (1996); Demmer (1996); Rotter (1996a); Bormann (2002). Christianum in der theologischen Ethik steht man vor der Frage, welche Rele‐ vanz der christliche Glaube für die menschliche Praxis besitzt. Wenn sich die moralische Qualität einer Handlung auch an den Intentionen und Motiven des Akteurs bemisst, lassen „sich […] die Sinnorientierung einer Person und der Glaube nicht mehr ausklammern, nämlich die Frage, was jemand vom mensch‐ lichen Leben, vom Ziel und von der Berufung des Menschen hält, was für ihn der absolute Wert ist, der sich nicht mehr anderen unterordnet“ 4 , wobei freilich noch der nähere Zusammenhang zwischen den Kategorien der Intention, des Motivs und der Sinnorientierung zu erläutern sein wird. Hans Rotter stellt daher zur Bedeutsamkeit der Motivationsfrage für die Ethik fest: „Wenn Moral der Menschlichkeit dienen will, dann muß sie konkret sein und dem Raum der Frei‐ heit des einzelnen Rechnung tragen. Dann muß sie auch wissen um die vielfäl‐ tigen Motive, die den Menschen bewegen, und um die konkreten Bedingungen, unter denen sich der Vollzug der menschlichen Freiheit ereignet.“ 5 Für den Moraltheologen stellen sich aus systematischer Perspektive hinsicht‐ lich der Motivationsproblematik folgende Fragen: Wie sind Natur, Glaube, Gnade und sittlich richtiges Handeln zueinander in Beziehung zu setzen? Exis‐ tieren spezifisch religiöse Handlungsgründe, die für den Christen ein Sonder‐ ethos begründen, welches über ein allgemein menschliches Minimum hinaus‐ geht? Wie kann der Christ in diesem Falle zur Erfüllung dieses Sonderethosʼ motiviert werden? Oder bestehen für den Christen dieselben moralischen Pflichten wie für alle anderen Menschen auch, nur dass seine Motivation zur Erfüllung dieser Pflichten eine andere ist? Welche Rolle kommt der göttlichen Gnade für die Handlungsmotivation der Menschen zu und wie ist ihre Wirk‐ weise näherhin zu verstehen? In der nachkonziliaren Moraltheologie lässt sich eine Tendenz beobachten, diese Fragen als randständig zu betrachten, was ihrem systematischen Gewicht unangemessen ist. Insbesondere mit dem Aufkommen der ‚autonomen Moral‘ 6 und der dort zu findenden Identifizierung der Moraltheorie mit normativer Ethik wurde die Relevanz des christlichen Glaubens und des Gottesbegriffs zuneh‐ mend auf der motivationalen Ebene angesiedelt, ohne jedoch weitere systema‐ tische Reflexionen über die dadurch aufgeworfenen Fragen im Kontext der Handlungsmotivation anzustellen. Diese Tendenz zur Verschiebung der Rele‐ vanz des christlichen Glaubens auf die Ebene der Handlungsmotivation ist das 11 I. Einleitung 7 Vgl. dazu Hartmann ( 4 1962), 811: „Die Jenseitstendenz ist vom ethischen Standpunkt ebenso wertwidrig wie die Diesseitstendenz vom religiösen. Sie ist Vergeudung und Ablenkung sittlicher Kraft von den wahren Werten und ihrer Verwirklichung, und darum unmoralisch. Für sittliches Streben ist alle Transzendenz ein trügender Schein. Und selbst wo sich - wie bei der Selbstentäußerung und Opferfreudigkeit - dem Inhalt nach Diesseits- und Jenseitstendenz wohl vertragen könnten, da ist doch die Tendenz selbst ethisch entwertet, sobald sie beim Opfern mit einem besseren Teil im Jenseits liebäugelt.“ 8 Vgl. Auer ( 2 1989), 193. Ergebnis der Bestrebungen der autonomen Moral, die Rationalität der Norm‐ begründung zu sichern und vor lehramtlichen Zugriffen zu schützen. Nur wenn der Glaube von der Begründungsfrage normativ-ethischer Forderungen ausge‐ klammert werde, könne man sich, so die Annahme, vor Bevormundungen sei‐ tens des kirchlichen Lehramtes schützen. Dies warf freilich die Frage auf, welche Relevanz der Glaube dann überhaupt für das Handeln des gläubigen Christen haben könne. Die naheliegende Antwort bestand dabei darin, seine Bedeutung auf der Motivationsebene anzusiedeln und zu sagen, dass der Christ ein spezi‐ fisch religiöses Motiv besitze, welches ihn zur Ausführung der von ihm unab‐ hängig von seinem Glauben als moralisch richtig erkannten Handlungen be‐ wege. Die Begründung und Erkenntnis der sittlichen Richtigkeit einer Handlung unterscheide sich dabei für den Gläubigen nicht von der des Nichtgläubigen. Doch würden beide, so die These der autonomen Moral, jeweils durch unter‐ schiedliche Motive zu ihrer Ausführung veranlasst. An dieser Stelle ist jedoch auf das Heteronomie-Problem hinzuweisen, wenn der Glaube als Motiv für das Handeln des Christen angesehen wird. Führt ein Akteur eine in äußerer Hinsicht moralisch richtige Handlung aus dem Grunde aus, dass er der Überzeugung ist, dass ihm Gott dies befiehlt, und er sich durch die Ausführung eine göttliche Belohnung bzw. das Vermeiden einer Strafe verspricht, dürfte dies kaum als eine moralisch vorbildliche Handlung gelten können, insofern sich moralisches Han‐ deln dadurch auszeichnet, dass das Richtige allein aus dem Grunde getan wird, weil es das Richtige ist. 7 Eine Theorie, welche die Relevanz des Glaubens für die moralische Praxis des Menschen auf den Bereich der Motivation verschiebt und annimmt, dass sich die Motivation des Gläubigen grundlegend von der des Nichtgläubigen unterscheidet, wird also unserem Verständnis moralisch rich‐ tigen Handelns nicht gerecht und ist dem Vorwurf der Heteronomie ausgesetzt. Es ist des Weiteren zu fragen, „ob die verbreitete Rede von der primär moti‐ vationalen bzw. ‚stimulierenden‘ 8 Funktion religiöser Überzeugungen der tat‐ sächlichen Relevanz des Glaubens für die Moral hinreichend gerecht wird oder selbst das Ergebnis einer problematischen Verengung der Moraltheorie auf die Normproblematik darstellt.“ 9 Zu dieser Engführung dürfte insbesondere eine 12 I. Einleitung 9 Bormann (2002), 496. 10 Vgl. Ebd. Die Motivationsthematik wurde bei Kant freilich nicht vergessen, sondern im Kontext der Unterscheidung zwischen principium diiudicationis und principium execu‐ tionis abgehandelt. Allerdings spielt sie in der Ethik Kants keine allzu prominente Rolle; siehe dazu: Kant (1795 [1974]), 247 f; Patzig (1986); Bormann (2012), 338-340; zur Kant-Rezeption in der katholischen Moraltheologie siehe neuerdings: Reich (2019), bes. 9-28. 11 Vgl. dazu die Diskussionen in Platons Gorgias (bes. 467c5-468e5) und Protagoras; siehe dazu auch: Segvic (2000 [2009]). 12 Vgl. Vogt (2017a). 13 Vgl. Vogt (2017a), 1 f sowie 115-144. unkritische Orientierung an der Kantischen Ethik beigetragen haben, die mit ihrer Eudämonismuskritik und ihrer Fixierung auf den Normbegriff zur Ver‐ drängung der Frage nach einem glücklichen, gelingenden oder guten Leben und der damit verbundenen Motivationsproblematik aus dem philosophischen Dis‐ kurs geführt und dadurch den Weg der Moraltheologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgezeichnet hat. 10 Problematisch an dieser Tendenz ist die Ausklammerung der systematischen Reflexion auf die seit Sokrates und Platon 11 das philosophische Denken beschäftigende Frage, wie der Mensch zur Ausführung der als sittlich richtig erkannten Handlung - seiner Pflicht - bewegt werden könne. In der eudämonistischen Ethiktradition stand diese Frage auf‐ grund des konstitutiven Charakters sittlich richtigen Handelns für ein gutes Leben im Zentrum der philosophischen Reflexion. Da die Menschen glücklich sein und ein gutes Leben führen wollen, müssen sie sittlich richtige Handlungen ausführen, die ein konstitutives Element des guten Lebens bilden. Weil die Men‐ schen ein gutes Leben führen wollen - also eine Motivation zu einem solchen Leben besitzen -, werden sie auch motiviert sein, die Handlungen auszuführen, die Teil eines solchen Lebens sind. Einen solchen von der antiken Ethik inspirierten Versuch der Entfaltung einer Motivationstheorie hat neuerdings Katja Vogt vorgelegt. 12 Sie unterscheidet zwischen einer sog. large-scale motivation, ein gutes Leben zu führen, und sog. mid- und small-scale motivations, bestimmte Projekte zu verfolgen bzw. kon‐ krete Einzelhandlungen auszuführen. 13 Die Motivationen niedrigerer Ordnung speisen sich dabei jeweils aus den Motivationen höherer Ordnung und müssen von diesen her verstanden werden. Die large-scale motivation bildet dabei die Motivation höchster Ordnung, aus welcher sich die mid- und small-scale moti‐ vations speisen. Die mid- und small-scale motivations, bestimmte Projekte zu verfolgen bzw. gewisse Handlungen auszuführen, werden dabei einerseits von der large-scale motivation durch die mit ihr verbundene Vorstellung eines guten Lebens geleitet, andererseits verleihen sie der für die large-scale motivation 13 I. Einleitung 14 Vgl. Vogt (2017a), 122. 15 Vgl. Vogt (2017a), 148. 16 Vgl. Vogt (2017a), 141 und 191. 17 Vgl. dazu Prichard (1912 [2002]). 18 Merklein ( 2 1981). 19 Merklein ( 2 1981), 166. 20 Vgl. Merklein ( 2 1981), 109. 21 Merklein ( 2 1981), 167. 22 Vgl. Merklein ( 2 1981), 222. zentralen Vorstellung eines guten Lebens ihren Inhalt, insofern sie konstitutive Bestandteile desselben sind. 14 Die mid-scale motivations übersetzen die largescale motivation, ein gutes Leben zu führen, in konkrete handlungsleitende Pläne und verleihen den small-scale motivations und den aus ihnen resultierenden Handlungen Form und Struktur und stellen auf diese Weise einen normativen Rahmen für diese zur Verfügung. 15 Die motivationale Kraft der small- und mid-scale motivations hängt dabei von der Kraft der large-scale motivation, ein gutes Leben zu führen, ab. Geht sie verloren - z. B. im Zuge einer depressiven Episode -, kommen auch die mid- und small-scale motivations zum Erliegen. 16 Die Motivationen höherer Ordnung prägen und bestimmen also die unterge‐ ordneten Motivationen zu konkreten Einzelhandlungen. Mit der Verdrängung der Frage nach dem guten Leben aus der ethischen Dis‐ kussion infolge der Eudämonismuskritik Kants und ihrer Wirkungsgeschichte ist jedoch diese natürliche Verbindung zwischen der Motivation, ein gutes Leben zu führen, und der Motivation, das Richtige zu tun, zerbrochen. Es erschien plötzlich fragwürdig, warum man überhaupt moralisch handeln soll. 17 Doch die Fragwürdigkeit bleibt meist unreflektiert, da die Motivationsproblematik an die Peripherie der ethischen Theoriebildung verdrängt wurde. Dies erscheint umso problematischer, da durch die Eudämonismuskritik eine Kluft zwischen das, was der Akteur als seine Pflicht erkannt hat, und das, was er natürlicherweise will und wozu er aufgrund seines Motivationsprofils in psychologischer Hinsicht motiviert werden kann, getreten zu sein scheint. Ob diese Lücke tatsächlich existiert und wie sie gegebenenfalls zu überbrücken ist, wäre eine zentrale Auf‐ gabe ethischer Reflexion, der sich derzeit die Moraltheologie jedoch kaum stellt. Die generelle Tendenz der Vernachlässigung einer systematischen Reflexion auf das Motivationsproblem in der nachkonziliaren (Moral-)Theologie soll hier exemplarisch an einigen Beispielen veranschaulicht werden. Helmut Merklein spricht in seiner Habilitationsschrift Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip  18 zwar von einer „handlungsmotivierende[n] Stringenz“ 19 , einer den Menschen zur Handlung provozierenden Funktion 20 und einem „zwingende[n] Cha‐ rakter“ 21 der Gottesherrschaft und weist ihr die Funktion eines Motivs 22 bzw. 14 I. Einleitung 23 Vgl. Merklein ( 2 1981), 109-172: Überschrift Kapitel III: Die Motivation der Neuorientie‐ rung des Handelns. Die Eigenart der Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft. 24 Merklein (1983), 119. 25 Ebd. 26 Vgl. Göbel (1996). 27 Vgl. Göbel (1996), 491. 28 Göbel (1996), 492 f. einer Motivation des Handelns 23 und eines „Sinnhorizont[s]“ 24 zu, doch bleiben diese Beschreibungen vage und erfahren eine weit weniger intensive Diskussion als die auf der Ebene der normativen Ethik der Gottesherrschaft ebenfalls zu‐ geschriebene Funktion der Handlungsorientierung. Die fehlende Analyse und Differenzierung dieser unterschiedlichen Kategorien lassen die Bedeutung der Gottesherrschaft bzw. des christlichen Glaubens für die konkrete Praxis des Menschen diffus und unverbindlich erscheinen. Worin ist der ‚zwingende Cha‐ rakter‘ der Gottesherrschaft festzumachen? Wie äußert sich ihre ‚handlungs‐ motivierende Stringenz‘ konkret in der Psychologie des Akteurs? Wie kann die Gottesherrschaft ein ‚Motiv‘ oder eine ‚Motivation‘ für das Handeln des Men‐ schen sein? Wie kann sie Zugriff auf das Motivationsprofil eines Akteurs be‐ kommen? Was genau hat es zu bedeuten, wenn man von der Gottesherrschaft als ‚Sinnhorizont‘ spricht, „auf den hin und von dem her sich das menschliche Handeln zu bestimmen hat“ 25 ? Obschon Wolfgang Göbel in seiner kritischen Auseinandersetzung mit den Ausführungen Merkleins 26 auf die Vagheit und Diffusität dieser Aussagen hin‐ weist 27 und eine Ordnung und Systematisierung der verschiedenen Aspekte vornimmt, in welchen Merklein die ethische Bedeutung der Gottesherrschaft festmacht, nimmt auch bei ihm die Diskussion der normativen Ebene - d. h. die handlungsorientierende Funktion der Gottesherrschaft - einen weitaus grö‐ ßeren Raum ein. In Bezug auf die motivationale Funktion der Gottesherrschaft stellt er dagegen lapidar fest: „Die Gottesherrschaft, das präsente und kom‐ mende Reich Gottes als ein, ja, als das Ausführungsprinzip christlichen Handelns zu verstehen, das macht keine Schwierigkeiten. Daß ihre ergreifende Gegenwart christliches Handeln trägt, daß sie eine Kraft ist, die christlicher Schwäche zu Hilfe kommt und daß ihre verheißungsvolle Zukunft den Mut der Glaubenden befreit, sie als Ziel lockt, provoziert, vielleicht auch fasziniert, […] das versteht man […]. […] Die Gottesherrschaft als Ausführungsprinzip des Handelns, dieser eine Teil der These Merkleins macht also keine Schwierigkeiten.“ 28 Doch wie hat man sich diese Hilfe genau vorzustellen? Wie wirkt sie sich in psychologischer Hinsicht aus? Wie kann die Gottesherrschaft - d. h. das präsente und kommende Reich Gottes - als ein Zustand der Welt subjektives Ausführungsprinzip für das 15 I. Einleitung 29 Göbel (1996), 493. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Göbel (1996), 491. 33 Siehe dazu insbesondere: Griffin (1986); Seel (1995); Sumner (1996); Steinfath (1998); Foot (2001); White (2006); Fenner (2007); Hurka (2010); Wessels (2011); Wolf (2012); Hoesch/ Rüther/ Muders (2013); Metz (2013). 34 Siehe dazu insbesondere: Anscombe (1958 [1974]); Stocker (1976); Foot (1978); MacIn‐ tyre (1981); Crisp/ Slote (1997); Hursthouse (1999); Hurka (2001); Adams (2008); Annas (2011); eine kritische Auseinandersetzung mit der Tugendethik bietet: Halbig (2013). 35 Vgl. Honecker (1996); Rotter (1996b); Schuster (1997); Zagzebski (2004); Bormann (2012); Merkl (2015). 36 Vgl. Frankena (1958), 73. 37 Bormann (2012), 348 [Hervorhebung d. Verf.]; siehe dazu auch: Bormann (2002), 503: „Erstens darf die Ethik als praktische Wissenschaft nicht bei der theoretischen Er‐ kenntnis sittlich richtigen Handelns stehenbleiben. Sie muss vielmehr all diejenigen Faktoren in ihre Betrachtung einbeziehen, die - wie eine bestimmte Ordnung der af‐ fektiven Antriebsstruktur - für die praktische Umsetzung des als richtig Erkannten verantwortlich sind. Die praktische Zielsetzung erzwingt also eine umfassende Be‐ schäftigung mit der Motivationsproblematik […].“ Handeln eines Akteurs werden? Worin äußert sich die tragende Kraft der Got‐ tesherrschaft für das Handeln des Menschen? Diese Fragen scheinen keineswegs klar zu sein. Auch dürfte sich ihre Beantwortung nicht ohne Weiteres als un‐ problematisch erweisen. Die Ausblendung dieser Fragen durch Göbel ist umso bedauerlicher, als er selbst die Gottesherrschaft für „das unüberbietbare princi‐ pium executionis der Moraltheologie“ 29 sowie „das Proprium christlicher The‐ orie des Handelns“ 30 - „ihr Nonplusultra“ 31 - hält und noch feststellt, dass „Handlungsorientierung und Handlungsvollzug […] seit jeher die großen Pro‐ bleme der Ethik, der philosophischen wie der theologischen[,] [seien].“ 32 Dass er nur das erste dieser Grundprobleme ausführlicher diskutiert, ist bedauerlich, jedoch auch bezeichnend für die nachkonziliare Moraltheologie. Erst in den letzten Jahren rückte die Motivationsfrage im Zuge der philoso‐ phischen Rehabilitierung der Lehre vom Glück bzw. guten Leben 33 und der Neu‐ belebung der Tugendethik 34 sowie der theologischen Rezeption dieser Ström‐ ungen wieder stärker ins Zentrum der moraltheologischen Reflexion. 35 Entsprechend der wiederentdeckten Relevanz der Motivationsproblematik in der Moraltheologie stellt Franz-Josef Bormann im Anschluss an William Fran‐ kena 36 zurecht fest, „dass wir es […] bei der Frage, warum wir moralisch sein sollen, mit einem Grundproblem der Moraltheorie zu tun haben, das sich kaum handstreichartig lösen lässt, sondern uns in die Tiefen der philosophischen und theologischen Reflexion führt.“ 37 16 I. Einleitung 38 Vgl. Auer ( 2 1989), 177. 39 Vgl. Bormann (2002), 499. 40 Vgl. Bormann (2012), 345. 41 Vgl. Bormann (2012), 346. 42 Ebd. mit Verweis auf Honnefelder (2008), 353, der von der „sinnintegrativ-motivatio‐ nalen […] Dimension“ der Religion spricht. 43 Ebd; zum Wittgensteinschen Ethikbegriff siehe: Wittgenstein ( 2 1991). Es bleibt allerdings zu fragen, ob die in der autonomen Moral vorhandene Tendenz, die Relevanz des christlichen Glaubens auf die Motivationsfrage und möglicherweise einige christliche Sonderpflichten zu beschränken, angemessen ist. Wenn der Glaube, wie Alfons Auer hervorhebt, ein wirklich neues Sein her‐ vorbringt und einen neuen Sinnhorizont eröffnet, 38 dann kann die Relevanz des Glaubens nicht auf bestimmte Felder sittlicher Praxis beschränkt bleiben, und es wäre nach der Vollgestalt christlicher Lebensführung sowie der konstitutiven Bedeutung des christlichen Glaubens für das spezifisch christliche Verständnis menschlicher Vollendung zu fragen. 39 Es wäre auch zu klären, ob die Hand‐ lungsmotivation des Christen in jedem Fall eine andere ist als die des Nicht-Christen oder ob hier weitere Differenzierungen nötig sind - wie etwa die zwischen der Motivation zur Erfüllung elementarer moralischer Pflichten und der Motivation zur Erfüllung spezifischer hochethischer Weisungen. 40 Bormann hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, auf der Ebene der elementaren normativen Pflichten dem Gottesbegriff und dem christlichen Glauben weder eine motivationale noch eine epistemologische Funktion zuzu‐ schreiben. 41 Ziel dieser Begrenzung ist es u. a., die moralische Reinheit der Mo‐ tivation zu sichern, so dass der Akteur das Richtige allein aus dem Grund tut, dass es das Richtige ist, wodurch das Heteronomie-Problem vermieden und un‐ serem Verständnis moralisch vorbildlichen Handelns Rechnung getragen wird. Der christliche Glaube ist Bormann zufolge vielmehr ein „Sinngrund - und damit gewissermaßen als ‚motivationale Kraft zweiter Ordnung‘“ 42 zu ver‐ stehen -, welche ihre motivationale Wirkung vor allem in bestimmten Grenz‐ situationen entfaltet, in denen die Erfüllung der elementaren moralischen Pflichten dem Menschen besonders schwerfällt und die Sinnhaftigkeit der ei‐ genen Praxis in Frage steht, so dass „eine ‚Stellungnahme zur Welt als Ganzer‘ (i.S. des Wittgensteinschen Ethikbegriffs) unausweichlich erscheint.“ 43 Der ein‐ geschränkten motivationalen und epistemologischen Relevanz des christlichen Glaubens im Bereich der elementaren moralischen Pflichten zum Zweck der Wahrung der Selbstzwecklichkeit der Moral steht bei Bormann das Erkenntnis- und Motivationspotential des christlichen Glaubens im Bereich supererogato‐ rischen Handelns bei der Erfüllung spezifisch christlicher, hochethischer Wei‐ 17 I. Einleitung 44 Vgl. Bormann (2012), 346 f. 45 Vgl. Bormann (2012), 347. 46 Vgl. Honnefelder (1996), 122. 47 Vgl. Bormann (2002), 499. 48 Vgl. Bormann (2002), 500; zum Gedanken der Nachfolge siehe auch: Rotter (1996a), 279. 49 Vgl. Schelkshorn (1996), 244. sungen gegenüber. 44 Dieses zeigt sich für ihn exemplarisch im christlichen Liebesgebot mit seiner spezifischen triangulären Struktur von Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe, welches auf einer ganz bestimmten Verhältnisbe‐ stimmung Gottes zur Welt beruhe und sich allein im christlichen Glauben er‐ schließe. 45 Wenn die motivationale Relevanz des Glaubens in dieser Weise eingeschränkt wird, steckt sein modifizierendes Potential für die Ethik vielleicht eher in einer selektiven und akzentuierenden Funktion für das Ethos. 46 Der christliche Glaube und seine Vorstellung menschlicher Vollendung muss sich dabei als Sinnres‐ source auch in der Mitte des alltäglichen Lebens des Christen auswirken und sein Handeln prägen, indem er ihm einen neuen Handlungsspielraum und neue Freiheiten eröffnet. 47 Das Handeln des Christen erhält dabei nicht nur eine eschatologische Signatur, sondern auch traditionelle Grenzziehungen ethni‐ scher oder kultureller Art verlieren ihre Bedeutsamkeit in einer auf die Nach‐ folge Jesu Christi ausgerichteten Existenz. 48 Die Bedeutung des christlichen Sinnhorizonts für das menschliche Handeln wäre in diesem Falle nicht mehr pauschal auf die Motivation zu sittlich richtigem Handeln zu reduzieren. 49 Die Motivationsproblematik und die Frage nach der Relevanz des christlichen Glaubens für die menschliche Praxis erweisen sich damit als äußerst vielschich‐ tige Probleme. Die folgende Untersuchung wird daher in drei Schritten vor‐ gehen, um Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen zu finden. In einem ersten Schritt wird die zeitgenössische Debatte zum Problem der moralischen Motivation aufgearbeitet. Ziel dieser Überlegungen ist es u. a. aufzuzeigen, wie die zeitgenössische Moralphilosophie versucht, die oben angesprochene Kluft zwischen dem als sittlich richtig Erkannten und dem, was man als Akteur na‐ türlicherweise will und wozu man in der Folge aufgrund seines Motivations‐ profils motiviert werden kann, zu überbrücken. Dabei wird insbesondere die Rolle von Handlungsgründen für unsere Motivation von zentraler Bedeutung sein. Es wird herauszuarbeiten sein, wie die Gründe, welche für die Ausführung einer Handlung sprechen, motivational wirksam werden können und worin diese Gründe eigentlich näherhin bestehen. Denn der Mensch zeichnet sich da‐ durch aus, dass er sein Handeln durch Gründe selbst bestimmen kann. Dadurch erhält er rationale Kontrolle über sein Handeln. 50 Hierfür ist es freilich nötig, 18 I. Einleitung 50 Vgl. Wolf (1990), 46-66; Wallace (1999 [2006]), 44 f; Helm (2001), 10 und 161 f. 51 Vgl. Döring (2009), 61 f. dass er nicht nur aus Gründen handelt, sondern diese Gründe auch als Gründe anerkennt. Im Idealfall ist dabei der subjektive Handlungsgrund, aus dem der Akteur handelt, auch zugleich ein objektiver Grund, der für die Ausführung der Handlung spricht, und der Akteur zieht die Gründe, die er für besser hält, den Gründen vor, welche ihm schlechter zu sein scheinen. 51 Des Weiteren ist auf den genauen Zusammenhang zwischen unseren mora‐ lischen Urteilen und unserer Handlungsmotivation einzugehen sowie das Ver‐ hältnis von Vernunft und Wünschen bzw. affektiven und desiderativen Zu‐ ständen zu bestimmen. In unserem Alltagsverständnis nehmen wir eine enge Verbindung zwischen unseren Urteilen bzw. Entscheidungen und unserer Mo‐ tivation an, diesen Urteilen bzw. Entscheidungen entsprechend zu handeln. Wir scheinen somit durch unsere Urteile und Entscheidungen eine Form der Kon‐ trolle über unsere Motivation auszuüben, welche allerdings durch solche Phä‐ nomene wie Willensschwäche oder Antriebslosigkeit in Frage gestellt wird. Es wird sich zeigen, dass in der aktuellen Diskussion über das Problem der mora‐ lischen Motivation sehr unterschiedliche und sich einander ausschließende Po‐ sitionen eingenommen werden, welche sich unversöhnlich gegenüberstehen. Ein Grund für diese festgefahrenen Oppositionen in der zeitgenössischen Hand‐ lungs- und Motivationstheorie dürfte in ihrer starken Fokussierung auf Hand‐ lungsgründe liegen, welche lokal zu begrenzt ist, um eine so grundlegende Problematik wie die Frage der moralischen Motivation zu klären. Dennoch er‐ weist sich das analytische Instrumentarium der gegenwärtigen Diskussion als hilfreich, um das Problem besser zu verstehen und die zentralen Problemlinien zu identifizieren. Es muss jedoch in einem weiteren (moral-)psychologischen Kontext angewendet werden. In einem zweiten Schritt soll unter Rückgriff auf die stoische Motivations- und Handlungstheorie ein möglicher Ausweg aus der zeitgenössischen Eng‐ führung des Motivationsproblems auf den Gründediskurs gesucht werden, wobei das im ersten Teil erarbeitete analytische Instrumentarium zum besseren Verständnis der stoischen Theorie zur Anwendung gebracht wird. Die stoische Theorie bietet sich für diese Aufgabe aus mindestens drei Gründen an: Erstens zeichnet sich die antike und die stoische Handlungs- und Motivationstheorie im Besonderen dadurch aus, dass sie das Motivationsproblem in einem weiteren Kontext der Naturphilosophie und Psychologie situiert und die einzelnen Sub‐ systeme, die einen Beitrag zur Handlungsmotivation leisten - das Strebever‐ mögen, Kognition, Affekte, das Vorstellungsvermögen bzw. Imagination, Erin‐ 19 I. Einleitung 52 Zu den Vertretern einer neo-stoischen Theorie der Emotionen gehören u. a.: Nussbaum (2001); Pies (2008); Irvine (2009; 2019); Robertson (2010; 2013; 2019); Pigliucci (2017); Sellars (2019). nerung -, innerhalb der Psychologie eines Akteurs studiert. Diese Erweiterung der Perspektive wird ein neues Licht auf die hier angesprochenen Fragen werfen und neue Lösungsmöglichkeiten für die aufgetretenen Probleme eröffnen. Zwei‐ tens bietet die Stoa mit ihren ausführlichen Reflexionen im Bereich der Affek‐ tenlehre eine interessante und diskussionswürdige Position zur Verhältnisbe‐ stimmung von Vernunft und affektiven bzw. desiderativen Zuständen, welche es mit Blick auf die Motivationsproblematik auch heute noch verdient, studiert zu werden, und die auch in gegenwärtigen Debatten noch ihre Vertreter findet. 52 Drittens hat die Stoa eine breite Wirkung auf die abendländische Theologie- und Geistesgeschichte ausgeübt, welche bis heute prägend für unser Denken ist. Das primäre Ziel der Untersuchung besteht in der Rekonstruktion und ausgewogenen Darstellung der stoischen Motivationstheorie. Kritik an be‐ stimmten Positionen und abweichenden Forschungsansichten wird meist in den Anmerkungen ihren Platz haben. In diesem dritten Teil der Arbeit wird zunächst das Verhältnis von Eudämo‐ nismus und Naturphilosophie innerhalb des stoischen Denkens zu bestimmen sein, da sich die Art und Weise, wie diese Verhältnisbestimmung vorgenommen wird, auf die Art der Handlungsgründe auswirkt, welchen der Mensch begegnet. Dabei werden auch im Kontext der Erörterung der stoischen οἰκείωσις-Lehre erste Überlegungen zur stoischen Motivationspsychologie angestellt, welche bei der Untersuchung der jeweiligen Rolle der einzelnen psychologischen Subsys‐ teme für die Handlungsmotivation vertieft werden. In diesem Zusammenhang sollen auch die stoische Affektenlehre und die damit verbundene Verhältnisbe‐ stimmung von Vernunft und affektiven bzw. desiderativen Zuständen sowie das Phänomen der Akrasie den ihnen gebührenden Stellenwert erhalten. Im An‐ schluss an die Rekonstruktion der stoischen Motivationstheorie sollen die da‐ raus gewonnen Erkenntnisse noch einmal in einem Zwischenfazit mit den Er‐ gebnissen der Untersuchung aus Teil II in Verbindung gebracht werden. Im vierten Teil der Arbeit wird schließlich die Rezeption der stoischen Moti‐ vationstheorie durch Augustinus von Hippo im Zentrum stehen. Hier soll es nicht darum gehen, eine umfassende Bestimmung des Verhältnisses Augustins zur Stoa vorzulegen, sondern lediglich darum, strukturelle Parallelen und Ein‐ flüsse des stoischen Denkens auf Augustinus im Bereich der Motivationstheorie aufzuzeigen. Dabei ist es hinreichend einen Gedanken als stoisch zu bezeichnen, wenn er seinen Ursprung in der stoischen Philosophie hat, auch wenn dieser durch neuplatonische Vermittlung auf Augustinus gekommen sein mag. Die 20 I. Einleitung 53 Eine ältere Studie, die sich der Rezeption der stoischen Philosophie in der frühchristli‐ chen Sittenlehre allgemein zuwendet, jedoch weitgehend Quellenforschung betreibt, ist: Stelzenberger (1933); an neueren Untersuchungen zu Augustins Verhältnis zur Stoa sind hervorzuheben: Verbeke (1958); O’Connell (1968; 1970); Colish (1985), 142-238; Wetzel (1992); Rist (1994); Brachtendorf (1997); Sorabji (2000); Brittain (2002); Byers (2003; 2006; 2007; 2013; 2016); Irwin (2007), 397-433; Frede (2011); Sellars (2013); insbe‐ sondere die Arbeiten von Sarah Byers leisten einen wichtigen Beitrag zur Neubestim‐ mung des Verhältnisses Augustins zur Stoa, doch stützt sie sich in ihrer Stoa-Interpre‐ tation fast ausschließlich auf Brad Inwoods bedeutende Studie zur stoischen Ethik und Handlungstheorie (Inwood [1985]), die jedoch in manchen Teilen als überholt ange‐ sehen werden muss. Zudem vernachlässigt sie die Bedeutung der οἰκείωσις-Lehre für die Handlungsmotivation. Insofern stellt die hier vorgestellte Rekonstruktion und In‐ terpretation der stoischen Motivationstheorie und ihrer Rezeption bei Augustinus eine Ergänzung und Korrektur zu Sarah Byersʼ Arbeiten dar. Zugleich werden die Ergebnisse in den gegenwärtigen philosophischen und moraltheologischen Diskurs um das Problem der moralischen Motivation eingebettet. 54 Wetzel (1992), 10 f. 55 Für eine Kontinuität zwischen dem Denken des frühen und späten Augustinus argu‐ mentieren Lössl (1997, 3 und 146f; 2010, bes. 315); Harrison (2006) und Bonner (2007). neuplatonischen Adaptionen stoischen Gedankenguts durch Plotin und Por‐ phyrios und ihr Einfluss auf Augustinus sollen daher nicht explizit rekonstruiert werden. Der Fokus liegt auf den strukturellen Parallelen zwischen der stoischen und der augustinischen Motivationstheorie. Der Umgang Augustins mit stoi‐ schem Gedankengut und die Verbindung der stoischen Einflüsse mit anderen Elementen seines Denkens ist in der Forschung bislang wenig untersucht, auch wenn in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse an dieser Fragestellung zu beobachten ist. 53 Entsprechend dieses neuen Interesses am stoischen Einfluss auf Augustins Denken stellt James Wetzel treffend fest: „Stoic rather than Neoplatonic influence informed his early views of virtue, autonomy, and the good life, and disposed him to think Stoically about ethics throughout his career as a philosopher and theologian.“ 54 Nicht nur das frühe Denken Augustins stehe demnach unter stoischem Einfluss, sondern dieser bilde eine Konstante - von unterschiedlicher Intensität - in seiner gesamten Denkentwicklung. 55 Bei der Untersuchung der Stoa-Rezeption Augustins wird es zunächst darum gehen, die Quellen zu identifizieren, durch welche Augustinus Kenntnis der stoischen Phi‐ losophie hatte. Im Anschluss daran wird den stoischen Einflüssen in seiner Ver‐ hältnisbestimmung von Eudämonismus und ordo bonorum nachzugehen sein, welche - wie das Verhältnis von Eudämonismus und Naturphilosophie in der Stoa - Auswirkungen auf sein Verständnis von Handlungsgründen hat. Im Kon‐ text dieser Diskussion der Gründeproblematik wird auch auf Augustins Rezep‐ tion der stoischen οἰκείωσις-Lehre eingegangen, welche die Überleitung zu seiner Motivationspsychologie bildet. Bei deren Untersuchung wird sich zeigen, 21 I. Einleitung dass Augustinus in struktureller Hinsicht stark von der stoischen Theorie be‐ einflusst war, an dieser jedoch einige bedeutsame Modifikationen und Neuak‐ zentuierungen vorgenommen hat. So gewinnt bei ihm die Affektenlehre und die damit verbundene Gewohnheit spezielle Prominenz, die sich schließlich in seiner Diskussion des Phänomens des zerrissenen Willens ausdrückt. Auch Au‐ gustins Gnadenlehre fügt sich passend in die Struktur seiner Handlungspsy‐ chologie ein, so dass man hier ein psychologisch fundiertes und differenziertes Modell für die Relevanz des christlichen Glaubens für die menschliche Praxis vorfindet. Damit stellt sich freilich auch die Frage nach der Möglichkeit des sittlich richtigen Handelns für Nicht-Christen. Dieses Problem soll zum Ab‐ schluss des vierten Teils der Arbeit diskutiert werden, bevor die Ergebnisse in einem Zwischenfazit noch einmal zusammengeführt und mit den Erkenntnissen der vorhergehenden beiden Teile in Beziehung gesetzt werden. Den Abschluss der Arbeit bildet ein Blick auf den systematischen Ertrag der vorhergehenden Überlegungen, in dem die Erkenntnisse der Untersuchung noch einmal gebündelt und mit den oben aufgeworfenen Fragen in Verbindung gesetzt werden, wobei die Relevanz des christlichen Glaubens für die mensch‐ liche Praxis am Ende nochmals besondere Aufmerksamkeit bekommen soll. 22 I. Einleitung II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte II.1 Die Frage der moralischen Motivation Es ist ein alltägliches Phänomen, dass wir das Verhalten und die Haltungen unserer Mitmenschen wie auch unsere eigenen Handlungen und Einstellungen von einem moralischen Standpunkt aus bewerten. So sagen wir: „Es war gut, dass ich die überflüssigen Kleider an Bedürftige gespendet habe.“ „Es ist richtig, das Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben.“ „Es ist falsch, Tiere zu quälen.“ „Ich war ungerecht.“ „Er ist ein schlechter Mensch.“ „Das hast du gut gemacht.“ „Du hast dich tapfer verhalten.“ „Er ist sehr rücksichtsvoll.“ Wenn wir diese Urteile äußern, gehen wir davon aus, dass sie wahr oder falsch sein können und dass sie deshalb wahr sind, weil es etwas gibt, das sie wahr macht - unabhängig davon, was wir darüber denken oder empfinden. Das Urteil „Es ist richtig, das Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben.“ ist also genau deswegen wahr, weil der Handlung die Eigenschaft der (sittlichen) Richtigkeit zukommt. Es ist falsch, wenn die Handlung diese Eigenschaft nicht besitzt. Äu‐ ßern wir also ein moralisches Urteil wie „Es ist richtig, das Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben.“ oder „Er ist ein schlechter Mensch.“, drücken wir damit unsere Überzeugung darüber aus, welche sittliche Eigenschaft einer Handlung bzw. einer Einstellung zukommt, und wie alle Überzeugungen können auch un‐ sere moralischen Überzeugungen wahr oder falsch sein, je nachdem ob sie den Tatsachen, d. h. der Wirklichkeit entsprechen oder nicht. Anders aber als unsere sonstigen Überzeugungen können die moralischen Überzeugungen, die in unseren Urteilen zum Ausdruck kommen - so nehmen wir an - auch unmittelbar handlungswirksam werden. Demnach müssen sich moralische Tatsachen, die Gegenstand unserer moralischen Überzeugungen sind, von sonstigen Tatsachen etwa physikalischer Art unterscheiden. Morali‐ sche Tatsachen sind praktische Tatsachen, d. h. dass derjenige, der das morali‐ sche Urteil fällt, dass es richtig ist, das Portemonnaie seinem Besitzer zurück‐ zugeben, zugleich einen guten Grund für diese Handlungsweise anerkannt hat und auch motiviert sein wird, entsprechend zu handeln, solange zumindest keine konkurrierenden Gesichtspunkte in eine andere Richtung weisen. Es würde uns merkwürdig vorkommen, wenn jemand das Urteil fällt, dass es richtig sei, das Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben, aber anschließend fragt, welchen Grund er eigentlich habe, das zu tun. Wir würden wohl an der Auf‐ 1 Vgl. dazu J. L. Mackies argument from queerness in: Mackie (1977), 38-42. 2 Zu dieser Unterscheidung siehe: McNaughton/ Rawling (2018). 3 Vgl. Scanlon (1998), 18: „[…] a reason is a consideration that ‘counts in favor of ’ some‐ thing […].“ richtigkeit seines moralischen Urteils zweifeln. Moralische Urteile scheinen uns also Gründe für unser Handeln zu geben, die ceteris paribus mit einer entsprech‐ enden Handlungsmotivation einhergehen. An dieser Stelle scheint jedoch ein Problem aufzutreten: Wie kann es möglich sein, dass uns unsere Urteile, die ja der Ausdruck unserer Überzeugungen über bestimmte Tatsachen sind, zum Handeln motivieren? Müssten es nicht ganz absonderliche  1 Tatsachen sein, auf welche sich Überzeugungen beziehen, die uns zum Handeln motivieren können - Tatsachen von ganz anderer Art als das, was wir sonst kennen? Wie sollen uns Tatsachen, die unabhängig von uns existieren, Handlungsgründe geben und eine Art Magnetismus des Guten ausüben können, der uns zum Handeln motiviert? Es geht also letztlich um die Frage, welche Beziehungen zwischen den moralischen Tatsachen, unseren moralischen Ur‐ teilen, unseren Handlungsgründen und unserer Handlungsmotivation bestehen. Den Handlungsgründen wird bei dieser Entschlüsselung der Beziehungen eine entscheidende Rolle zukommen, insofern sie sich nicht nur auf die moralischen Tatsachen beziehen und in unseren moralischen Urteilen erfasst werden, son‐ dern auch für unsere moralische Motivation von entscheidender Bedeutung sind. Daher wird es zunächst nötig sein, die Frage zu klären, was Handlungs‐ gründe sind und welche Arten von Gründen es gibt, bevor wir uns den ver‐ schiedenen Beziehungen zuwenden können, die zwischen Gründen, morali‐ schen Tatsachen, moralischen Urteilen und unserer Handlungsmotivation bestehen. II.2 Handlungsgründe Menschen sind in der Lage, Gründe zu verstehen, auf sie zu antworten und aus ihnen zu handeln. Da allerdings die Gründe, aus denen wir handeln, nicht immer gute Gründe sind und wir auch nicht immer aus den guten Gründen handeln, die wir haben, drängt sich hier eine erste wichtige Unterscheidung auf: Die Un‐ terscheidung zwischen normativen und motivierenden Gründen. 2 Normative Gründe sind die Gründe, die für eine Handlung sprechen, 3 wodurch normative Gründe ipso facto gute Gründe sind. In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf aufmerksam zu machen, dass es keinen Sinn ergibt, normative Gründe für Ereignisse in der Welt anzuführen, die in keiner Verbindung mit einem in‐ 24 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 4 Häufig wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass man in Fällen dieser Art nicht von ‚Grund‘ sondern besser von ‚Ursache‘ sprechen sollte, doch hat Peter Strawson zurecht darauf hingewiesen, dass dadurch zwei Ebenen vermengt würden, die unter‐ schieden werden müssten: die der Verursachung und die der Erklärung. Die Verursa‐ chung bezeichnet er als eine ‚natürliche Beziehung‘, die in der natürlichen Welt zwi‐ schen bestimmten Ereignissen und Umständen bestehe, während die Erklärung ihm zufolge eine intensionale Beziehung sei, die zwischen Tatsachen oder Wahrheiten be‐ stehe. Daher müssten wir zwischen Ursachen und Gründen und folglich zwischen Ur‐ sachen und kausalen Erklärungen unterscheiden. Wenn also ein Temperaturanstieg eine Lawine ausgelöst hat, war der Temperaturanstieg die Ursache des Lawinenab‐ gangs. Dann jedoch erklärt die Tatsache, dass ein Temperaturanstieg stattgefunden hat, die Tatsache, dass die Lawine abgegangen ist. Die Tatsache, dass ein Temperaturanstieg stattgefunden hat, ist daher ein Grund, da wir aufgrund dessen, dass der Temperatur‐ anstieg den Lawinenabgang verursacht hat, die Tatsache, dass die Lawine abgegangen ist, durch die Tatsache, dass ein Temperaturanstieg stattgefunden hat, erklären können (vgl. Strawson [1992], 109). tentionalen Subjekt stehen. Man kann zwar durchaus fragen: „Warum ging die Lawine ab? “ Aber dabei wird nach einer Erklärung gefragt, warum die Lawine abging, also nach dem Grund, warum sie abging, nicht aber nach dem Grund der Lawine für ihr Abgehen. 4 Unsere Handlungsgründe sind von einer anderen Art. Wenn man fragt: „Warum hast du die Lawine ausgelöst? “, fragt man nach etwas anderem. Man fragt nach einer Rechtfertigung für die Handlung - mög‐ licherweise: „Ich habe die Lawine ausgelöst, um einen unkontrollierten Abgang zu verhindern.“ Motivierende Gründe sind im Gegensatz dazu die Gründe, aus denen jemand tatsächlich handelt; sie müssen nicht notwendigerweise auch gute Gründe sein. So könnte jemand auf die Frage: „Warum hast du die Lawine ausgelöst? “ antworten: „Ich habe die Lawine ausgelöst, um das hässliche Hotel zu zerstören.“ Hier erfährt man den Grund, aus dem jemand die Lawine ausgelöst hat - nämlich „um das hässliche Hotel zu zerstören“ -, doch ist es schwerlich ein guter Grund, der für die Handlung spricht. Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass die beiden Arten von Gründen auseinandertreten können, doch zeichnet sich rationales Handeln, wonach wir als rationale Wesen streben, da‐ durch aus, dass sie zusammenfallen, d. h. wir handeln aus den Gründen, die für das entsprechende Handeln sprechen. Aus diesen Differenzierungen folgt also, dass ein Handlungsgrund zwei un‐ terschiedliche Funktionen übernehmen kann: Einen Grund, der für eine Hand‐ lung spricht, nennen wir ‚normativen Grund‘; einen Grund, aus dem jemand tatsächlich handelt, nennen wir ‚motivierenden Grund‘. Es wäre allerdings ver‐ fehlt aufgrund der unterschiedlichen Rollen - normativ und motivierend -, die Gründe spielen können, auf eine grundsätzliche, ontologische Verschiedenheit der Gründe zu schließen. Ein und derselbe Grund kann je nach Kontext, in dem 25 II.2 Handlungsgründe 5 Die Frage nach der Quelle normativer Gründe kann hier ausgeklammert werden, da sie für unsere Fragestellung nicht relevant ist. Uns genügt es zu wissen, dass es normative Gründe gibt - was auch immer ihre Quelle sein mag. Zur Frage der Quelle normativer Gründe vgl. die Debatte um den moralischen Realismus: Mackie (1977); Balckburn (1984; 1993); Nagel (1986; 1997); Railton (1986); Sturgeon (1988); Brink (1989); Gibbard (1990; 2003); Smith (1994); Dworkin (1996; 2011); Scanlon (1998; 2014); Bloomfield (2001); Joyce (2001; 2006); Shafer-Landau (2003); Kalderon (2005); Oddie (2005); Cuneo (2007); Halbig (2007); Wedgwood (2007); Kramer (2009); Enoch (2011); Parfit (2011). 6 Der moralische Rationalismus, der behauptet, dass die moralischen Pflichten einer Person dieser Person gute Gründe geben, diesen Pflichten entsprechend zu handeln, wurde von Foot (1972 [1978]) kritisiert. Eine überzeugende Verteidigung des morali‐ schen Rationalismus findet sich in Smith (1994), 80-84 und Shafer-Landau (2003), 190-214. er vorkommt, ein normativer oder ein motivierender Grund sein - oder auch beide Rollen zugleich ausüben. So kann der Grund, dass man einen unkontroll‐ ierten Abgang einer Lawine verhindern will, ein Grund sein, der dafür spricht, eine Lawine auszulösen (normativ), und er kann der Grund sein, aus dem jemand eine Lawine auslöst (motivierend). Diese allgemeinen handlungstheoretischen Überlegungen gelten auch für den speziellen Fall der moralischen Gründe, die im Fokus der weiteren Untersuchung stehen werden. So ist der Grund, dass es richtig ist, das Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben, ein Grund, der dafür spricht, dem Besitzer das Portemonnaie zurückzugeben (normativ). Er kann aber auch der Grund sein, aus dem ich dem Besitzer das Portemonnaie zurückgebe (motivierend). Wie oben bereits kurz erwähnt, konvergieren die beiden Arten von Gründen im Falle rationalen Handelns, d. h. die Gründe, die für unser Handeln sprechen, sind zugleich auch die Gründe, aus denen wir de facto handeln. Bei der weiteren Analyse des Problems der moralischen Motiva‐ tion wird es also um die Gründe gehen, die eine normative Kraft besitzen und eine Person tatsächlich zum Handeln motivieren. Die normativen und moti‐ vierenden Gründe werden daher im Fokus der folgenden Untersuchung stehen. Betrachten wir also die Kategorien der normativen und motivierenden Gründe näher. II.3 Normative Gründe Was sind normative Gründe? 5 Eine Antwort auf diese Frage ist insofern von großer Bedeutung für das Problem der moralischen Motivation, als Moral eine normative Sphäre ist, welche allen Akteuren Gründe für ihr Handeln gibt, un‐ abhängig von ihren kontingenten Wünschen, Dispositionen und Interessen. 6 Es wurde bereits erwähnt, dass normative Gründe für bzw. gegen etwas sprechen, 26 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 7 Vgl. Alvarez (2010), 13 f. 8 Vgl. Ebd. 9 Vgl. Williams (1980 [1981]), 102: „If there are reasons for action, it must be that people sometimes act for those reasons, and if they do their reasons must figure in some correct explanation of their action.“ 10 Vgl. Raz (2011), 45-47. d. h. sie machen etwas richtig oder angemessen und können dadurch dieses Etwas rechtfertigen. 7 Im Bereich der Moral lässt sich dieses Etwas als Hand‐ lungen und Einstellungen bestimmen, weshalb normative Gründe in der Moral für oder gegen Handlungen und Einstellungen von Menschen sprechen und als normative praktische Gründe bezeichnet werden können. Im Kontext der Moral und des Handelns ist das Kriterium, durch welches beurteilt werden kann, ob normative praktische Gründe für bzw. gegen Handlungen und Einstellungen sprechen, das Wertvolle und Gute bzw. das Gesollte und Richtige. 8 Es ist die eigentümliche Funktion normativer praktischer Gründe im Rahmen der Deliberation und Beratschlagung als Überlegungen vorzukommen, über die Handelnde reflektieren, um zu einem Schluss zu kommen, was sie tun bzw. welche Einstellung sie haben sollen. Dabei können Gründe für eine bestimmte Handlung durch Gründe gegen diese Handlung überwogen werden. Einen sol‐ chen Grund, der durch andere Gründe überwogen wird, nennen wir einen ‚pro tanto Grund‘. Wird ein solcher pro tanto Grund nicht durch andere Gründe überwogen, nennen wir ihn einen ‚pro toto Grund‘; ein solcher Grund spricht pro toto für bzw. gegen eine Handlung. Normative praktische Gründe im Be‐ sonderen geben einer Handlung einen Wert, wodurch sie die Entscheidung und das Handeln einer Person leiten und zugleich eine Basis für die Bewertung der Handlung bilden. Auf diese Weise dienen normative Gründe auch zur Recht‐ fertigung von Handlungen, da sie diejenigen Handlungen erklären bzw. plau‐ sibilisieren, zu denen man nach rationaler Überlegung gelangt ist, d. h. Hand‐ lungen zu denen man aufgrund von Gründen für diese Handlungen gelangt ist. Daraus folgt, dass normative Gründe prinzipiell in der Lage sein müssen, eine Erklärung bzw. Plausibilisierung für eine Handlung zu bieten: 9 Wenn X ein nor‐ mativer Grund zu φ-en ist, dann muss es möglich sein, dass Personen aus dem Grund, dass X, φ-en und dass dies, wenn sie das machen, ihre Handlung erklärt. Daraus folgt aber nicht, dass normative Gründe immer eine Handlung erklären. Handelt die Person nicht aus einem normativen Grund, erklärt der normative Grund die Handlung auch nicht. Dennoch ist es prinzipiell möglich, dass er die Handlung erklärt. Ein weiteres Merkmal normativer praktischer Gründe besteht darin, dass sie präsumtiv hinreichend sind. 10 Ein Grund zu φ-en ist dann zu einem bestimmten 27 II.3 Normative Gründe 11 Raz (2011), 45 bietet eine umfassendere Bestimmung eines präsumtiv hinreichenden Grundes: „For a reason to Φ at a particular time to be presumptively sufficient is for it to be the case that if there is no other reason either for or against so acting then (a) Φ-ing at that time is justified, and (b) if the agent rationally believes that the reason applies, and that there is no other, then his failing to try to Φ is akratic.“ Der zweite Teil (b) dieser Bestimmung ist jedoch umstritten: vgl. Dancy (2004b); Stocker (2004). Da der erste Teil der Bestimmung ausreichend ist, um das Konzept eines präsumtiven Grundes zu charakterisieren und eine wichtige Differenz zwischen praktischen und epistemi‐ schen Gründen hervorzuheben, beschränke ich mich im Text auf diesen. 12 Vgl. Scanlon (1998), 73 f; Manche Philosophen unterscheiden zwischen den Ausdrücken „Es besteht ein Grund für den Akteur zu φ-en“ und „Der Akteur hat einen Grund zu φ-en“. Diesen Philosophen zufolge ist der Grund, den ein Akteur habe zu φ-en, eine besondere Art von Grund, der für den Akteur bestehe zu φ-en, - nämlich ein Grund, dessen sich der Akteur bewusst sei bzw. zu dem er Zugang habe (vgl. Schroeder [2011]). Es scheint jedoch nicht plausibel, dass dieser Unterschied im Deutschen wirklich durch die Verschiedenheit der beiden Satzkonstruktionen markiert wird. Sofern es überhaupt einen Unterschied gibt, besteht er darin, was John Broome unter dem Thema „Owner‐ ship of Reasons“ (vgl. Broome [2013], 12-15. 65) behandelt. So besteht Broome zufolge der Unterschied zwischen den Sätzen „Es gibt einen Grund für Alex, schwer bestraft zu werden.“ und „Alex hat einen Grund, schwer bestraft zu werden.“ darin, dass sich die zweite Formulierung eher mit Gründen beschäftige, die erklärten, was Alex tun solle, während die erste Formulierung sich eher mit Gründen beschäftige, die erklärten, was mit Alex geschehen solle. Im zweiten Fall seien die Gründe durch Alexʼ praktische Si‐ tuation zu einer bestimmten Zeit indiziert, im ersten nicht. Im Folgenden wird diese Unterscheidung jedoch keine Rolle spielen. Zeitpunkt präsumtiv hinreichend, wenn es der Fall ist, dass es zu diesem Zeit‐ punkt gerechtfertigt ist zu φ-en, wenn kein anderer Grund für oder gegen die Handlung spricht. 11 Da normative praktische Gründe, wie oben erwähnt, nur dann existieren, wenn die entsprechende Handlung mit einem Gut in Verbin‐ dung steht, wodurch die Handlung einen Wert erhält, wird deutlich, warum normative praktische Gründe präsumtiv hinreichend sind: Ein einziger norma‐ tiver praktischer Grund reicht aus, um einer Handlung Wert zu verleihen, und ist, solange es keine anderen Gründe gibt, die in eine andere Richtung weisen, hinreichend, um die Handlung zu rechtfertigen. Als letztes Merkmal normativer Gründe ist noch auf die Universalität von normativen Gründen zu verweisen. Dieser Universalität zufolge besteht ein normativer Grund zu φ-en, sofern er wirklich besteht, für alle Akteure, insofern ihre relevanten Umstände dieselben sind. Immer wenn wir ein Urteil über unsere Gründe fällen, machen wir zugleich auch Annahmen über die Gründe, die für andere bestehen, insofern sie sich in denselben Umständen befinden. 12 Bevor nun allerdings mit der weiteren Analyse normativer Gründe fortge‐ fahren werden kann, ist zunächst in einem kurzen Exkurs auf die Vieldeutigkeit der Internalismus/ Externalismus-Unterscheidung innerhalb der Metaethik ein‐ 28 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 13 Für weitere Formen der Internalismus/ Externalismus-Unterscheidung siehe: Halbig (2007, 18-28; 2016); van Roojen (2015), 54-59. 14 Daher werden die hier behandelten Positionen oftmals auch als ‚existence internalism/ externalism‘ bezeichnet: vgl. Darwall (1983), 54. 15 Die Begrifflichkeit selbst geht auf Bernard Williams einflussreichen Aufsatz Internal and External Reasons zurück, wo er zwischen internen und externen Gründen unter‐ scheidet und die Unmöglichkeit externer Gründe aufzuweisen versucht: vgl. Williams (1980 [1981]). zugehen, da eine bestimmte Spielart dieser Unterscheidung in der weiteren Analyse normativer Gründe von zentraler Bedeutung sein wird. Exkurs: Zur Internalismus/ Externalismus-Unterscheidung in der Metaethik Die Unterscheidung von internalistischen und externalistischen Theorien spielt in den zeitgenössischen metaethischen Debatten z. B. über die Struktur prakti‐ scher Rationalität oder über den Status normativer Gründe eine wichtige Rolle. In formaler Hinsicht lassen sich die beiden Theorietypen dadurch unter‐ scheiden, dass der Internalismus eine innere Beziehung zwischen zwei Relata annimmt, während der Externalismus eine solche Verbindung bestreitet. Da die Internalismus/ Externalismus-Unterscheidung in der aktuellen metaethischen Diskussion auf ganz unterschiedlichen Feldern Anwendung findet, besteht die Gefahr der Verwirrung, wenn die unterschiedlichen Kontexte, in denen die Un‐ terscheidung vorgenommen wird, nicht klar voneinander getrennt werden. In diesem Exkurs soll daher der Versuch unternommen werden, die für diese Arbeit relevanten Formen 13 der Unterscheidung deutlich gegeneinander abzugrenzen und terminologisch klar zu unterscheiden. Als Differenzierungskriterium werden dabei die verschiedenen Relata dienen, welche in einer internen bzw. externen Verbindung stehen sollen. Dabei wird auch die Art der internen bzw. externen Beziehung näher betrachtet werden. 1. Interne und Externe Gründe Die erste Form der Internalismus/ Externalismus-Unterscheidung betrifft die Existenz normativer Gründe. 14 Daher soll im Folgenden ein Internalismus in Bezug auf normative Gründe als ‚Theorie interner Gründe‘, ein Externalismus in Bezug auf normative Gründe als ‚Theorie externer Gründe‘ bezeichnet werden. 15 Eine Theorie interner Gründe formuliert eine Bedingung für das Bestehen nor‐ mativer Gründe. Das wesentliche Charakteristikum einer Theorie interner Gründe besteht darin, dass die Wahrheit einer Behauptung über die Existenz eines normativen Grundes an das Vorhandensein eines geeigneten Elements innerhalb des subjektiven Motivationsprofils des Akteurs gebunden wird. Die 29 II.3 Normative Gründe 16 Daher werden die hier behandelten Positionen oftmals auch als ‚judgement internalism/ externalism‘ bezeichnet: vgl. Darwall (1983), 54. 17 Die Begrifflichkeit selbst geht auf W. D. Falks grundlegenden Aufsatz ‘Oughtʼ and Mo‐ tivation zurück, in dem er zwischen einem internen und einem externen Gebrauch von moralischem Sollen unterscheidet: vgl. Falk (1948), 137. Fähigkeit einer Überlegung, den Akteur zu motivieren, wird zu einer notwen‐ digen Bedingung dafür, dass die Überlegung ein normativer Grund sein kann: Theorie interner Gründe: Für einen Akteur besteht nur dann ein normativer Grund zu φ-en, wenn er mit vollem Wissen um alle für sein Handeln relevanten Gesichtspunkte sowie nach Durchlaufen eines rationalen Deliberationsprozesses motiviert wäre zu φ-en. Ein Vertreter einer Theorie externer Gründe würde die hier angenommene innere Beziehung von normativen Gründen und einer entsprechenden Motivation be‐ streiten und stattdessen behaupten, dass für einen Akteur auch dann ein nor‐ mativer Grund zum Handeln bestehe, wenn dieser auf keine Art und Weise zu einem solchen Handeln motiviert werden könne. Die relevanten Relata inner‐ halb dieser Internalismus/ Externalismus-Unterscheidung sind folglich norma‐ tive Gründe einerseits, eine Motivation andererseits, wobei das Vorhandensein einer Handlungsmotivation zu einer notwendigen Bedingung für die Existenz eines normativen Grundes wird. Diese Form der Internalismus/ Externa‐ lismus-Unterscheidung wird im folgenden Kapitel näher untersucht. 2. Der motivationstheoretische Internalismus und Externalismus Eine weitere Form der Internalismus/ Externalismus-Unterscheidung betrifft die Beziehung von moralischen Urteilen und einer entsprechenden Motivation. 16 Die beiden sich aus der Unterscheidung ergebenden Positionen werden in der Folge als ‚motivationstheoretischer Internalismus bzw. Externalismus‘ bezeichnet. 17 Der motivationstheoretische Internalismus geht von der Beobachtung aus, dass un‐ seren moralischen Urteilen eine praktische Dimension innewohnt, insofern sie eine wichtige Rolle bei der Regelung unseres Verhaltens spielen - wir versuchen mit ihnen, das Handeln anderer zu beeinflussen sowie unser eigenes Handeln an ihnen zu orientieren. Der motivationstheoretische Internalismus nimmt nun an, dass unseren moralischen Urteilen eine motivationale Kraft inhäriert, welche für die praktische Dimension der Urteile verantwortlich ist. Dieser Position zu‐ folge besteht eine innere Verbindung zwischen dem moralischen Urteil und einer entsprechenden Handlungsmotivation: 30 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 18 Vgl. Halbig (2007), 26. Motivationstheoretischer Internalismus: Wenn ein Akteur urteilt, dass es für ihn mo‐ ralisch richtig ist zu φ-en, dann ist er notwendigerweise pro tanto motiviert zu φ-en. Der motivationstheoretische Externalismus bestreitet dies und behauptet, dass die Verbindung nur kontingeneterweise bestehe, die Motivation jedoch aufgrund eines weiteren, dem Urteil externen Elements zuverlässig dem moralischen Ur‐ teil folge. Dem motivationstheoretischen Externalismus zufolge ist es also mög‐ lich, ein aufrichtiges moralisches Urteil zu fällen, ohne in irgendeiner Art und Weise zu einem entsprechenden Handeln motiviert zu sein. Für den motivati‐ onstheoretischen Internalismus ist ein moralisches Urteil ohne eine entspre‐ chende Handlungsmotivation nicht denkbar. Die innere Beziehung zwischen dem moralischen Urteil und der entsprechenden Handlungsmotivation ist für den Internalismus eine notwendige Beziehung, die in jeder möglichen Welt be‐ steht. 18 Der Internalismus stellt daher eine begriffliche Wahrheit dar und for‐ muliert eine Bedingung für das Vorliegen eines moralischen Urteils. Fällt jemand ein vermeintliches moralisches Urteil, ohne zu einem entsprechenden Handeln zumindest pro tanto motiviert zu sein, hat er dem Internalismus zufolge nicht wirklich ein moralisches Urteil gefällt, sondern seine Aussage bzw. sein mentaler Zustand des ‚Urteilens‘ erfüllt irgendeine andere Funktion. Für den Externa‐ listen genügt es daher, die bloße Möglichkeit eines aufrichtigen moralischen Urteils ohne eine damit verbundene Handlungsmotivation aufzuweisen, um den motivationstheoretischen Internalismus als falsch zu widerlegen. Diese Form der Internalismus/ Externalismus-Unterscheidung wird in Kapitel II.5 genauer betrachtet. II.3. 1 Interne und externe Gründe Manche Philosophen sind der Überzeugung, dass mehr über normative Gründe gesagt werden könne und müsse als lediglich, dass sie „für etwas sprechen“. Vertreter einer Theorie interner Gründe haben eine wunschbasierte Theorie angeboten, um zu erklären, was Gründe sind. Zu beachten ist, dass es bei dieser Theorie nicht um die substantielle Frage geht, welche normativen Gründe es gibt, sondern um die analytische Frage, was normative Gründe sind. Der Theorie interner Gründe zufolge spricht eine Überlegung genau dann für eine Handlung, wenn das Ausführen der Handlung in der richtigen Beziehung zu den Wün‐ schen - in einem weiten Sinne - des Akteurs steht, typischerweise dadurch, dass die Handlung dazu beiträgt, einen dieser Wünsche zu befriedigen. Das wesent‐ liche Charakteristikum von Theorien interner normativer Gründe besteht also 31 II.3 Normative Gründe 19 Aufgrund der Tatsache, dass es bei der Theorie interner Gründe um die Existenz von normativen Gründen geht, wird diese Position oftmals auch als ‚existence internalism‘ bezeichnet: vgl. Darwall (1983), 54. 20 Christine Korsgaard hat diese Bedingung für das Bestehen normativer Gründe als ‚internalism requirement‘ bezeichnet und folgendermaßen formuliert: „Practical-reason claims, if they are really to present us with reasons for action, must be capable of mo‐ tivating rational persons.“ (Korsgaard [1986], 11). Für Jonathan Dancy stellt diese Be‐ dingung „a motivational constraint on good reasons“ (Dancy [2000], 16) dar. 21 Williams (1989 [1995]), 35. 22 Vgl. Markovits (2014), 5. 23 Vgl. Dancy (1993), 255. darin, dass die Wahrheit einer Behauptung über die Existenz 19 eines normativen Grundes an das Vorhandensein eines geeigneten Elements innerhalb des sub‐ jektiven Motivationsprofils des Akteurs gebunden wird. Die Fähigkeit einer Überlegung, den Akteur zu motivieren, wird also zu einer notwendigen Bedin‐ gung dafür, dass die Überlegung ein normativer Grund sein kann. Diese Bedin‐ gung wird als die ‚internalistische Bedingung‘ bezeichnet. 20 Da das subjektive Motivationsprofil für die Existenz von Gründen in dieser Theorie von entscheidender Bedeutung ist, ist zunächst zu klären, was darunter zu verstehen ist. Bernard Williams bestimmt das subjektive Motivationsprofil (‚motivational set‘) eines Akteurs als „the set of his desires, evaluations, attitudes, projects, and so on“ 21 . Diese offene Formulierung zeigt, dass uns nicht allein unsere Wünsche Gründe zum Handeln geben, sondern dass das subjektive Mo‐ tivationsprofil vielmehr alles umfasst, um dessentwillen wir handeln - alles, was wir verfolgen, befördern, schützen und respektieren. Was wir Grund haben zu tun, hängt also wesentlich davon ab, welche Ziele - in einem umfassenden Sinn - wir bereits haben. 22 Daraus folgt, dass wir, wenn wir rational in Bezug auf unsere Ziele sind, rational schlechthin sind. Der ‚Gründe-Externalist‘ würde dies bestreiten, da für ihn die normativen Gründe, die wir haben, keineswegs mit den Zielen verbunden sein müssen, die wir de facto besitzen. Dem Externa‐ listen zufolge besteht für einen Akteur auch dann ein normativer Grund, in bestimmter Weise zu handeln, wenn dieser aufgrund seines subjektiven Moti‐ vationsprofils in keiner Weise zu der Handlung motiviert werden kann. Wenn er die Dinge so sähe, wie sie sind, würde er die Gründe sehen. So sind moralische Tatsachen für den Externalisten so beschaffen, dass wir durch sie zu entspre‐ chendem Handeln motiviert sein werden, wenn wir sie als das sehen, was sie sind. 23 32 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 24 Eine alternative Interpretation hat Finlay (2009) vorgelegt: Finlay analysiert das Kon‐ zept eines normativen Handlungsgrundes als das Konzept der Handlungserklärung. Ein Handlungsgrund bestehe genau dann, wenn der Handlungsgrund eine Erklärung einer Handlung sei, die jemand ausführen würde bzw. motiviert wäre auszuführen, wenn er nicht im Irrtum oder in relevanter Weise unwissend wäre. Das Konzept eines prakti‐ schen normativen Grundes sei demnach das Konzept einer kontrafaktischen Hand‐ lungserklärung. Dieser Interpretation zufolge sind externe Gründe insofern unmöglich, als nichts als Handlungserklärung dienen könne, was in keinerlei Beziehung zu den Inhalten des subjektiven Motivationsprofils des Akteurs stehe. Diese Interpretation be‐ ruht jedoch auf der kontroversen konzeptionellen Prämisse, dass das Konzept eines praktischen Grundes das Konzept der Erklärung einer Handlung unter bestimmten Be‐ dingungen (vollständige und gültige Deliberation ausgehend von Überzeugungen, die frei von Irrtum und Unwissenheit sind) sei. Aufgrund dieser problematischen Annahme werde ich diese Interpretation nicht weiter diskutieren. 25 Vgl. Williams (1980 [1981]), 101. 26 Williams (1980 [1981]), 106. II.3. 1. 1 Williams’ Argument für interne Gründe Die einflussreichste Formulierung der Theorie interner Gründe findet sich bei Bernard Williams. Er hat sie in seinem bedeutenden Aufsatz Internal and Ex‐ ternal Reasons aus dem Jahre 1980 erstmals formuliert und 1989 in Internal Re‐ asons and the Obscurity of Blame weiter entfaltet und präzisiert. Williams ver‐ sucht zu zeigen, dass es keine externen Gründe gibt. Der Standardinterpretation 24 seiner Version des Internalismus zufolge besteht für einen Ak‐ teur nur dann ein normativer Grund zu φ-en, wenn φ-en auf eine bestimmte Art und Weise mit dem subjektiven Motivationsprofil des Akteurs verbunden ist. 25 Williams illustriert diese These durch das Beispiel von Owen Wingrave aus Henry Jamesʼ gleichnamiger Kurzgeschichte, welche auch von Benjamin Britten für die Oper adaptiert wurde. Owen Wingrave ist der Nachkomme einer Familie mit einer großen und traditionsreichen Militärvergangenheit. Seine Familie drängt ihn dazu, ebenfalls eine militärische Laufbahn einzuschlagen, er selbst hat jedoch keine Motivation dazu und alle seine Wünsche weisen in eine andere Richtung. Wenn Owen auch nach umfassender Information über alle für seine Berufswahl relevanten Faktoren und eingehendem praktischem Überlegen auf Basis seiner bestehenden Wünsche nicht dazu motiviert werden könne, eine militärische Laufbahn einzuschlagen, dann besteht für ihn Williams zufolge auch kein normativer Grund, in die Armee einzutreten. 26 Die obige These der Williams’schen Theorie interner Gründe, der zufolge für einen Akteur nur dann ein normativer Grund zu φ-en besteht, wenn φ-en auf eine bestimmte Art und Weise mit seinem subjektiven Motivationsprofil ver‐ bunden ist, ist noch ein wenig zu unpräzise und wirft die Frage auf: Was bedeutet „in bestimmter Art und Weise“? Für Williams müssen dafür bestimmte Um‐ 33 II.3 Normative Gründe 27 Williams (1989 [1995]), 35. 28 Vgl. Williams (1980 [1981]), 101. 29 Vgl. Williams (1980 [1981]), 103. 30 Vgl. Williams (1980 [1981]), 104. 31 Vgl. Williams (1989 [1995]), 36 f. stände erfüllt sein. Diese Umstände dienen Williams zur Abgrenzung der guten Handlungsgründe von den faktischen Motiven, d. h. zur Vermeidung des Kolla‐ bierens seiner Theorie normativer Gründe in eine Theorie motivierender Gründe. Auf diese Weise versucht er, die Normativität zu bewahren, ohne die normativen Gründe so weit von den Motiven des Akteurs zu entfernen, dass sie ihre praktische Kraft verlieren. Wie genau sehen nun nach Williams diese Um‐ stände aus? Der Akteur muss „by a sound deliberative route from the motiva‐ tions that he has in his actual motivational set - that is, the set of his desires, evaluations, attitudes, projects, and so on” 27 zu dem Schluss gelangen können, dass er φ-en soll. Für den Akteur besteht also nur dann ein Grund zu φ-en, wenn er nach einer rationalen Deliberation (‚a sound deliberative route‘) über ein Ziel verfügt, das durch φ-en erreicht werden kann. 28 Ausgangspunkt dieses Delibe‐ rationsprozesses ist dabei das subjektive Motivationsprofil des Akteurs. Wie sieht für Williams dieser rationale Deliberationsprozess aus? Zunächst einmal muss der Akteur über alle relevanten Informationen verfügen, d. h. er darf keine falschen Überzeugungen in Bezug auf die Entscheidungssituation haben und muss alle relevanten wahren Überzeugungen besitzen. 29 Was die Art und Weise des Deliberationsprozesses angeht, möchte Williams sie möglichst umfassend verstehen: Nicht allein instrumentelle Rationalität spielt dabei eine Rolle, sondern auch die Gewichtung konfligierender Zwecke, die Spezifizierung eines allgemeinen Zwecks sowie die Erschließung neuer Zwecke durch Vor‐ stellungskraft und Ratschläge anderer Personen. 30 Um die Existenz externer Gründe zu vermeiden, schließt Williams prudentielle und moralische Gesichts‐ punkte als Kriterien für den Verlauf des Deliberationsprozesses aus und be‐ stimmt ihn rein formal-prozedural. Eine Überzeugung, die gegen eine morali‐ sche Norm verstößt wird demnach nur dann korrigiert, wenn die Orientierung an dieser Norm bereits zum subjektiven Motivationsprofil des Akteurs gehört. 31 Hat der Akteur auf der Grundlage seines Motivationsprofils diesen rationalen Deliberationsprozess durchlaufen, schafft er eine Distanz zwischen sich und seiner motivationalen Ausgangslage und damit einen Ort für normative Gründe. Die Möglichkeit für Kritik an seinem Handeln ergibt sich dann, wenn der rati‐ onale Deliberationsprozess nicht ganz durchlaufen worden ist, wodurch der Akteur nicht aus den Gründen gehandelt hat, die sich ergeben hätten, wenn er den Prozess bis zum Ende durchlaufen hätte - den normativen Gründen für sein 34 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 32 Vgl. Williams (1989 [1995]), 38 f. 33 Vgl. Williams (1980 [1981]), 108 f; Williams (1989 [1995]), 38 f. 34 Vgl. Williams (1980 [1981]), 110 f; Williams (1989 [1995]), 39 f. 35 Vgl. Williams (1980 [1981]), 111. 36 Vgl. Williams (1980 [1981]), 110 f. (P 1 ) (P 2 ) (P 3 ) (K) Handeln. Auf diese Weise, glaubt Williams, sowohl die Normativität als auch die praktische Kraft guter Gründe sicherstellen zu können - was ihm freilich, wie gleich deutlich werden wird, nicht gelungen ist. Williamsʼ Überlegungen liegen nach eigener Aussage im Wesentlichen zwei Motivationen zugrunde. 32 Zum einen stützt er sich auf ein Argument, das von der oben angesprochenen internalistischen Bedingung (P 1 ) ausgeht, dass nor‐ mative Gründe in der Lage sein müssen, eine Person zum Handeln zu moti‐ vieren, und folgende Form besitzt: Wenn der Akteur einen normativen Grund zu φ-en haben soll, dann muss er sich auch zu φ-en motivieren lassen können. Der Akteur kann nur durch Bestandteile seines subjektiven Motivations‐ profils motiviert werden zu φ-en. Externe Gründe bestehen unabhängig vom subjektiven Motivationsprofil des Akteurs. Es kann keine externen Gründe geben, da sie die in (P 1 ) formulierte in‐ ternalistische Bedingung nicht erfüllen. Aus (P 2 ) und (P 3 ) ergibt sich, dass externe Gründe ungeeignet sind, den Akteur zu φ-en zu motivieren. Sie verstoßen daher gegen die in (P 1 ) formulierte inter‐ nalistische Bedingung und kommen damit als normative Gründe nicht in Frage (K). Alle normativen Gründe sind Williams zufolge demnach interne Gründe. 33 Die zweite Motivation, die Williams Überlegungen zugrunde liegt, speist sich aus dem Phänomen der Indifferenz gegenüber einem guten Grund und der Re‐ aktion, mit der Vertreter einer Theorie interner bzw. externer Gründe darauf reagieren. Der Externalist wird dem Indifferenten vorwerfen, irrational zu sein. 34 Williams zufolge verzerrt dieser Vorwurf den wahren Fehler und ist ein bloßer ‚Bluff ‘ 35 . Der Akteur mag vielleicht unklug, grausam oder selbstsüchtig handeln, nicht jedoch irrational. Der Vorwurf der Irrationalität ließe sich nur dann einlösen, wenn man unabhängig vom subjektiven Motivationsprofil zeigen könnte, dass jeder Mensch einen guten Grund hat, sich prudentiell klug zu verhalten. Dies hält Williams jedoch für unmöglich und folgert daraus, dass es keine externen Gründe geben kann. 36 35 II.3 Normative Gründe 37 Zur Diskussion im Anschluss an Williams’ Theorie interner Gründe: Korsgaard (1986); Hooker (1987); Quinn (1993); McDowell (1995 [1998]); Smith (1995b; 2012); Millgram (1996); Hampton (1998); Scanlon (1998), 363-373; Kriegel (1999); Price (1999); Lille‐ hammer (2000); Copp (2001); Cordner (2001); Gert (2001); Hurley (2001); Sobel (2001); Thomas (2002); Brunero (2003); Robertson (2003); Tiffany (2003); FitzPatrick (2004); Hamilton (2004); Heuer (2004; 2012); Shelton (2004); Moreau (2005); Finlay (2009); Se‐ tiya/ Paakkunainen (2012); Manne (2014); Markovits (2014); Tiberius (2015), 51-54; Lord/ Plunkett (2018); Paakkunainen (2018). 38 McDowell (1995 [1998]). 39 Vgl. McDowell (1995 [1998]), 102. 40 Vgl. McDowell (1995 [1998]), 107. 41 Vgl. McDowell (1995 [1998]), 99. (1) (2) II.3. 1. 2 Kritik an Williams’ Argument für interne Gründe Verteidiger externer Gründe haben Williamsʼ Argumentation immer wieder an‐ gegriffen. 37 Die beiden Grundfragen, die Externalisten dabei aufwerfen, sind die folgenden: Kann jemand in einer Situation, in der er nicht zu φ-en motiviert werden kann, einen Grund haben zu φ-en? Wenn jemand durch einen Grund motiviert werden kann, der nicht im subjektiven Motivationsprofil verankert bzw. aus ihm ableitbar ist, warum sollte dieser Grund erst in dem Augenblick entstehen, in dem er motivati‐ onal wirksam wird? Externalisten beantworten (1) mit Ja und versuchen, in Bezug auf (2) zu zeigen, dass das Bestehen eines normativen Grundes unabhängig von seiner motivati‐ onalen Wirksamkeit ist und die Motivation allein von der Einsicht abhängt, dass man einen guten Grund zu φ-en hat - d. h. einen Grund, der unabhängig von dieser Einsicht schon vorher bestanden hat, jedoch nicht erkannt worden ist. John McDowell 38 verteidigt mit seinem Argument aus der Konversion die These, dass allein die Einsicht in einen normativen Grund motivational wirksam werden könne, und kritisiert Williamsʼ Argumentation dahingehend, dass Wil‐ liams annehme, dass sich diese Einsicht einem deliberativen Prozess verdanken müsse. Für McDowell ist diese Einsicht auch ohne einen vorhergehenden Deli‐ berationsprozess möglich. Als Beispiel führt er ein Konversionserlebnis an, in dessen Folge ein Akteur zur richtigen Einsicht in die Gründe gelangt, ohne dass sich diese Einsicht einem Prozess rationaler Deliberation verdanke. 39 Die Kon‐ version ermöglicht vielmehr das korrekte praktische Überlegen. 40 Durch die Konversion und der mit ihr verbundenen Einsicht in das Bestehen externer Gründe wird McDowell zufolge eine neue Motivation erworben. 41 Die neue Mo‐ tivation wird also allein durch die richtige Einsicht in die Handlungsgründe 36 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 42 Vgl. McDowell (1995 [1998]), 105: „There is thus a sense in which it can be claimed that the resulting picture of the critical dimension of the concept of practical rationality is psychologistic.“ 43 Vgl. McDowell (1995 [1998]), 104. 44 Vgl. McDowell (1995 [1998]), 105. 45 Vgl. McDowell (1995 [1998]), 106. 46 Vgl. Williams (1980 [1981]), 111. 47 Vgl. Halbig (2007), 162. 48 Vgl. Williams (1980 [1981]), 110 f. generiert. Ein Problem dieser Kritik könnte jedoch darin bestehen, dass ein In‐ ternalist einwenden mag, dass es sich im Falle eines Konversionserlebnisses um einen Ausnahmefall handle, der unmöglich als paradigmatisch für die Ausar‐ beitung einer adäquaten Theorie normativer Gründe und praktischer Rationa‐ lität allgemein verwendet werden könne. Über diese Kritik an der Notwendigkeit eines Deliberationsprozesses zur Ein‐ sicht in das Bestehen normativer Gründe hinaus weist McDowell mit dem Ar‐ gument aus dem Psychologismus auch auf die im Kontext einer Theorie interner Gründe bestehende Gefahr der psychologistischen Verkürzung des Begriffs eines normativen Grundes hin. 42 So komme dem Begriff eines normativen Grundes neben seinem erklärenden Potential notwendig auch eine kritische Dimension zu. 43 McDowell wirft die Frage auf, ob Williams die richtige Distanz herstelle zwischen der Grundlage für die Kritik an der Art und Weise, wie die Handlungen einer Person aus ihren psychologischen Zuständen hervorgehen, und der Art und Weise, wie seine psychologische Verfassung zufällig ist. Zwar führe das Einschalten des Deliberationsprozesses zu einer gewissen Distanz zwischen den beiden Aspekten, doch werde der kritische Standard nach wie vor von den Mo‐ tivationen des Akteurs, wie sie nun einmal sind, festgesetzt. Insofern sei das resultierende Bild der kritischen Dimension des Konzepts praktischer Rationa‐ lität psychologistisch. 44 Die Sicherung der kritischen Dimension des Konzepts praktischer Rationalität verlange es daher, die bloßen Tatsachen der individu‐ ellen psychologischen Verfasstheit des Akteurs zu transzendieren. 45 Diese Über‐ legungen lassen auch den Vorwurf der Irrationalität im Falle von Indifferenz gegenüber einem normativen Grund auf Seiten des Externalisten verständlich werden, den Williams als bloßen ‚Bluff ‘ 46 bezeichnet hatte. Wird ein externer Grund nicht motivational wirksam, zeigt dies für den Externalisten keineswegs, dass überhaupt kein guter Grund besteht, sondern vielmehr, dass die Person, für die es ein guter Grund ist, dem Anspruch des Grundes nicht gerecht wird. 47 Williams nimmt nun an, dass der Externalist eine solche Person als irrational bezeichnen müsse, was jedoch ein bloßer ‚Bluff ‘ sei und daher gegen die Existenz externer Gründe spreche. 48 Williamsʼ Vorwurf des ‚Bluff ‘ hängt mit seinem Ir‐ 37 II.3 Normative Gründe 49 Vgl. Scanlon (1998), 25-30: „Irrationality in this sense occurs when a person recognizes something as a reason but fails to be affected by it in one of the relevant ways.“ (25). 50 Vgl. Parfit (1984), 119: „To save words, I shall extend the ordinary use of ‘irrational’. I shall use this word to mean ‘open to rational criticism’. This will allow ‘not irrational’ to mean ‘not open to such criticism’.“ 51 Das Beispiel stammt aus Halbig (2007), 164. 52 Vgl. Halbig (2007), 164. 53 Vgl. Ebd. rationalitätsbegriff zusammen, so dass zunächst der Irrationalitätsbegriff zu klären ist, bevor man darüber entscheiden kann, ob Williamsʼ Vorwurf des ‚Bluff ‘ gerechtfertigt ist. Für die Klärung des Irrationalitätsbegriffs soll von zwei grundlegenden Irra‐ tionalitätsverständnissen ausgegangen werden, um in Abgrenzung von diesen Williamsʼ eigenes Verständnis zu bestimmen. Thomas Scanlon führt einen engen Sinn von Irrationalität in die Diskussion ein, dem zufolge jemand dann irrational ist, wenn er gegenüber Gründen gleichgültig ist, die er selbst jedoch ausdrück‐ lich anerkannt hat. 49 Nach diesem Verständnis ist also jemand als irrational zu bezeichnen, der zwar ausdrücklich anerkannt hat, dass er einen Grund hat, das Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben, und keine anderen Gründe da‐ gegen sprechen, es aber nicht tut und sich weiter daraus bedient. Diesem engen Verständnis steht das weite Irrationalitätsverständnis Derek Parfits gegenüber, der alle Fälle, in denen sich etwas rational kritisieren lässt, als irrational cha‐ rakterisiert. 50 Diesem Verständnis zufolge ist beispielsweise ein Jugendlicher, der abgeschirmt in einem religiös-fundamentalistischen Umfeld aufgewachsen ist, irrational, wenn er eine kritikwürdige kosmologische Meinung vertritt. Es scheint jedoch zumindest problematisch einen solchen Jugendlichen als irrati‐ onal zu bezeichnen, da er gar nicht die Möglichkeit hatte, die epistemischen Bedingungen für die Bildung einer begründeten Meinung über den Ursprung des Kosmos zu erfüllen. 51 Welcher Irrationalitätsbegriff steht nun im Hintergrund der Williams’schen Diskussion? Das weite Irrationalitätsverständnis im Sinne Parfits scheint Wil‐ liams nicht im Blick zu haben, da der Irrationalitätsvorwurf durch den Exter‐ nalisten, sollte eine Person einen externen Grund nicht einsehen, nicht erhoben wird, weil sie dafür allgemein rational kritisiert werden kann, sondern weil sie eine Möglichkeit nicht ergreift, die für sie als rationales Wesen besteht. 52 Aller‐ dings schreibt Williams dem Externalisten auch nicht den engen Irrationali‐ tätsbegriff im Sinne Scanlons zu. Schließlich hat die uneinsichtige Person nicht geurteilt, dass ein guter externer Grund für sie bestehe. Es wäre jedoch für sie möglich gewesen, ein solches Urteil zu fällen. 53 Der Irrationalitätsbegriff, den Williams dem Externalisten zuschreibt, deckt sich also weder mit dem Parfits 38 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 54 Vgl. Halbig (2007), 165. 55 Vgl. Scanlon (1998), 366; ebenso: Halbig (2007), 165. 56 Vgl. Halbig (2007), 165 f. 57 Vgl. Halbig (2007), 166. 58 Millgram (1996). noch mit dem Scanlons, doch besteht eine größere Nähe zum Scanlon’schen Irrationalitätsbegriff: Bleibt jemand einem externen Grund gegenüber indiffe‐ rent, so ist er zwar in Bezug auf seine eigenen Urteile über die Gründe, die für ihn bestehen, nicht irrational, in Bezug auf die Möglichkeit, durch rationale De‐ liberation zur Einsicht in diese Gründe zu kommen, ist er jedoch als irrational zu bezeichnen. 54 Weshalb sollte der Externalist jedoch auf dieses Verständnis von Irrationalität festgelegt sein? Nichts zwingt den Externalisten, diesen stärkeren Begriff von Irrationalität zu gebrauchen. Ein Externalist, der von Scanlons Irrationalitäts‐ begriff ausgeht, wird in dem von Williams geschilderten Fall gar keinen Irrati‐ onalitätsvorwurf erheben, so dass ihn Williamsʼ Vorwurf des ‚Bluff ‘ gar nicht trifft. Für den Externalisten genügt es, eine Person, die einem externen Grund gegenüber indifferent bleibt, insofern als rational kritisierbar zu betrachten, als sie einen Grund nicht erkennt, der tatsächlich für sie besteht. Der Externalist muss sie nicht als irrational bezeichnen. 55 Die bloße Verteidigung externer Gründe ist keineswegs entscheidend für die Frage, ob der Vorwurf der Irratio‐ nalität erhoben wird. Sollte ein Externalist den weiten Irrationalitätsbegriff Par‐ fits übernehmen, kann er eine Person, die einen externen Grund, der für sie besteht, nicht erkennt, zu Recht als irrational bezeichnen, wenn auch mit der Gefahr, den Begriff der Irrationalität soweit zu überdehnen, dass wichtige Dif‐ ferenzierungen unkenntlich werden, wie oben bei der Diskussion des Parfit’schen Irrationalitätsbegriffs aufgezeigt wurde. Der Irrationalitätsvorwurf weist in diesem Falle darauf hin, dass die Person einen guten Grund hat, sich zu ändern, und sich daher in Parfits weitem Sinne als kritikwürdig erweist, da sie dies nicht tut. 56 Der Externalist hält also am normativen Anspruch gegenüber der Person fest und versucht, die epistemischen Hindernisse zu entfernen, welche die Person daran hindern, sich an den für sie bestehenden guten Gründen zu orientieren. 57 Ein weiterer Einwand gegen Williamsʼ These, dass es nur interne Gründe gebe, wurde von Elijah Millgram 58 mit dem Argument aus der Erfahrung vorge‐ bracht. Millgram versucht zu zeigen, dass es externe Gründe gebe, welche rati‐ onale Deliberation nicht in Motivation überführen könne, indem er solche Gründe hervorhebt, die jemand nur dann hat, wenn er nicht in der Lage ist, es durch rationale Überlegung zu ermöglichen, dass er aus diesen Gründen handelt. 39 II.3 Normative Gründe 59 Vgl. Millgram (1996), 203 f. 60 Es hilft zur Verteidigung der Theorie interner Gründe auch nichts, mit Michael Smith (1995b) ein ‚advice model‘ einzuführen, dem zufolge für Archie dann ein Handlungs‐ grund vorliege, wenn ihm sein kontrafaktisches, deliberativ kompetentes Selbst raten würde, aus diesem Grund zu handeln. Warum sollte er nämlich dessen Rat annehmen? Selbst wenn das idealisierte Selbst weiß, was es tun sollte, warum sollte es in einer Position sein, Archie einen Rat zu geben? Falls sich die subjektiven Motivationsprofile der beiden decken und Archies Motivationsprofil keinen besonderen Wert darauflegt, anderen aus der Bredouille zu helfen - was bei einem Misanthropen sehr wahrschein‐ lich ist -, dann wird das idealisierte Selbst wohl kaum die relevanten Eigenschaften der Situation erkennen oder dazu in der Lage sein, sie hilfreich zu analysieren. Warum sollte Archie dann also seinen Rat annehmen? Sollten sich die Motivationsprofile der beiden jedoch unterscheiden - was der weitaus wahrscheinlichere Fall ist -, warum, innerhalb einer Theorie interner Gründe, sollte Archie dann auf den Rat des idealisierten Selbst hören? (vgl. Millgram [1996], 217f Anm. 14). Er illustriert solche Gründe am Beispiel des Misanthropen Archie. 59 Archie ist ein Mensch, der gegenüber anderen unsensibel ist. Aufgrund dieser fehlenden Sensibilität ist sein Leben schlechter als es sein könnte. Er nimmt selbst wahr, dass sein Leben nicht gut verläuft, ist jedoch aufgrund seiner fehlenden Sensi‐ bilität nicht dazu in der Lage zu erkennen, warum dies so ist. Archies fehlende Sensibilität ist ein Handlungsgrund: Sie ist ein Grund, Leute zu meiden, denen es schlecht geht; möglicherweise ist sie auch ein Grund, sensibler zu werden. Seine fehlende Sensibilität stellt jedoch auch ein deliberatives Unvermögen dar: Er kann bestimmte Handlungsgründe nicht erkennen. Aufgrund seiner feh‐ lenden Sensibilität sieht er nicht, dass ihm sein Mangel an Sensibilität Hand‐ lungsgründe gibt. Wenn er auf diese Weise überlegen könnte (z. B. „Ich besuche Peter lieber nicht, solange es ihm schlecht geht. Wenn ich ihn besuche, mache ich es nur noch schlimmer.“), wäre er ipso facto sensibel genug, um diese Gründe nicht zu haben. Archie hat also einen Grund, der ihn nicht zum Handeln moti‐ vieren würde, wenn er korrekt überlegen könnte. Denn wenn er korrekt über‐ legen könnte, hätte er diesen Grund nicht mehr. 60 Wäre Archie also in der Lage, korrekt zu überlegen und dadurch einzusehen, dass er einen Grund hat, Peter nicht zu besuchen, wäre er nicht mehr der unsensible Misanthrop und der Grund, der für ihn bestand, würde sich selbst aufheben. Der Grund ist daher nur dann ein Grund, wenn er Archie nicht zur Verfügung steht. Laut Millgram hält eine gesteigerte Sensibilität Vorteile bereit, die Archie je‐ doch nicht erkennen kann: z. B. die Erfahrung von Vertrauen in Freundschaften oder ein insgesamt erfüllteres Sozialleben. Der Wunsch nach diesen Vorteilen ist allerdings nicht Teil von Archies subjektivem Motivationsprofil, und er rea‐ giert auf diese Vorteile, sollte sie ihm jemand vor Augen stellen, mit Spott und Abscheu. Würde er sie jedoch erfahren, würde er selbst das Ausmaß erkennen, 40 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 61 Vgl. Millgram (1996), 204. 62 Vgl. Millgram (1996), 206. 63 Eine gute Einführung in die Diskussion um psychologistische und non-psychologisti‐ sche Theorien motivierender Gründe bietet Wiland (2018). um das sich sein Leben verbessert hat. Archie hat also Gründe, sich zu ändern - Gründe, die nicht Bestandteile seines Motivationsprofils sind, d. h. externe Gründe. 61 Würde Archie folglich die Vorteile, die ihm eine gesteigerte Sensibi‐ lität gegenüber anderen bringt, erfahren, würde er erkennen, dass er im Irrtum war. Seine Handlungsgründe können durch Erfahrungen - z. B. durch Enttäu‐ schung oder durch unerwarteten Genuss - korrigiert werden. 62 Indem Archie neue Werte erfährt, gewinnt er Einsicht in die in diesen Werten fundierten Gründe, so dass diese Gründe - externe Gründe - nun motivational wirksam werden können. Es gibt also externe Gründe. Nach dieser Klärung des Begriffs eines ‚normativen Grundes‘ soll in einem weiteren Schritt der Frage nachgegangen werden, was motivierende Gründe näherhin sind. Dabei werden wir uns auch dem Problem zuwenden müssen, in welchem Verhältnis die motivierenden zu den normativen Gründen stehen und wie der modale Status der Verbindung von moralischem Urteil und entsprechender Handlungsmotivation zu bestimmen ist. Handelt es sich hierbei um eine notwendige oder um eine bloß kontingente Verbindung? II.4 Motivierende Gründe Motivierende Gründe sind, wie wir gesehen haben, die Gründe, aus denen wir de facto handeln. Die motivierenden Gründe einer Person zu φ-en sind also dazu in der Lage zu erklären, warum die Person φ-t. Geht man der Frage nach, was diese Gründe genauerhin sind, lassen sich die Positionen, die in der zeitgenös‐ sischen Diskussion vertreten werden, in zwei Gruppen einteilen: psychologisti‐ sche und non-psychologistische Theorien motivierender Gründe. 63 Psychologisti‐ sche Theorien nehmen an, dass unsere psychischen Zustände (Wünsche, Überzeugungen, Intentionen etc.) unsere motivierenden Gründe konstituieren. Sie unterscheiden sich darin, welche psychischen Zustände jeweils konstitutiv für einen motivierenden Grund sind. So nimmt die Humeanische Motivations‐ theorie, die als wohl einflussreichste Position innerhalb des Psychologismus gelten kann, an, dass ein Paar aus Wunsch und Überzeugung einen motivier‐ enden Grund bildet. Rein kognitivistische Theorien dagegen vertreten die Auf‐ fassung, dass Überzeugungen alleine einen motivierenden Grund konstituieren können. Diesen psychologistischen Theorien stehen non-psychologistische Po‐ 41 II.4 Motivierende Gründe 64 Vgl. zu dieser Unterscheidung: Schueler (1995), 29-38. (P 1 ) (P 2 ) (K) sitionen gegenüber, denen zufolge Tatsachen in der Wirklichkeit selbst moti‐ vierende Gründe bilden. Unsere psychischen Zustände eröffnen uns nur den epistemischen Zugang zu diesen Gründen, so dass die Gründe auch handlungs‐ wirksam werden können; konstitutiv für den motivierenden Grund sind jedoch die Tatsachen in der Wirklichkeit selbst. Bevor wir diese Theorien näher be‐ trachten können, ist allerdings noch eine wichtige Unterscheidung vorzu‐ nehmen, ohne die die Gefahr einer kurzschlussartigen Verengung der Motiva‐ tionspsychologie auf ein Humeanisches Modell besteht. II.4. 1 Zwei Bedeutungen von ‚Wollen‘ Die Unterscheidung von zwei unterschiedlichen Bedeutungen von ‚Wollen‘ 64 erweist sich als wichtig und notwendig, weil man meinen könnte, dass in jeder Handlung ein Wunsch gegenwärtig sein müsse, da jede intentionale Handlung offenkundig gewollt sei, insofern es unsere Absicht sei, entsprechend zu han‐ deln. Das Argument für die notwendige Präsenz eines Wunsches für die Kon‐ stitution eines motivierenden Grundes hat also die folgende Form: Jede intentionale Handlung ist gewollt. Eine Handlung ist gewollt, wenn ein entsprechender Wunsch vorliegt, den sie erfüllt. Jede intentionale Handlung setzt das Vorhandensein eines entsprech‐ enden Wunsches voraus. Dieser Schluss ist jedoch etwas zu voreilig und beruht auf einer fehlenden Un‐ terscheidung von zwei Bedeutungen von ‚Wollen‘. (P 1 ) und (P 2 ) verwenden ‚Wollen‘ in je unterschiedlichen Bedeutungen. Folgendes Beispiel soll dies ver‐ anschaulichen: Wenn ich an einem sonnigen Tag sage, dass ich ins Büro gehe, weil ich noch einige Hausarbeiten korrigieren will, kann das einerseits - eher unwahrscheinlich - bedeuten, dass ich einen Wunsch verspüre, die Hausar‐ beiten zu korrigieren; andererseits kann es auch nur bedeuten, dass es sich bei meinem Gang ins Büro um eine intentionale Handlung handelt. Möglichweise habe ich an einem sonnigen Tag eher den Wunsch, eine Radtour zu machen, und es widerstrebt mir zutiefst, ins Büro zu gehen und die Hausarbeiten zu korrigieren. Da ich es jedoch für meine Pflicht halte, die Hausarbeiten pünktlich zurückzugeben, mache ich es trotzdem. Ich verspüre also keinerlei Wunsch da‐ nach, ins Büro zu gehen und die Hausarbeiten zu korrigieren; alle meine Wün‐ sche weisen vielmehr in eine ganz andere Richtung - nämlich eine Radtour zu 42 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 65 Vgl. Schueler (1995), 34. 66 Vgl. Schueler (1995), 31 f. 67 Vgl. Davidson (1980), 3-19. machen. Dennoch kann ich meine Handlung als ‚gewollt‘ bezeichnen, da es sich um eine intentionale Handlung handelt. Handlungen aus Pflicht sind auch intentionale Handlungen, obschon kein Wunsch vorliegt, den die Handlung erfüllt. George Schueler spricht in diesem Zusammenhang von einem ‚placeholder sense‘ von ‚Wollen‘. 65 Das ‚Wollen‘ dient hier lediglich als Platzhalter für dasjenige, was den Akteur dazu veranlasst hat, die Handlung auszuführen. Es spielt für das eigentliche praktische Überlegen keine Rolle. 66 Um eine klare Abgrenzung auch auf terminologischer Ebene zwi‐ schen diesen beiden Bedeutungen von ‚Wollen‘ einzuführen, empfiehlt es sich, mit Donald Davidson das ‚Wollen‘ i.S. des Platzhalters als eine ‚pro-attitude‘ zu bezeichnen und den Terminus ‚Wunsch‘ für Wünsche im eigentlichen Sinne vorzubehalten. 67 Man kann demnach, wie aus dem Vorangehenden deutlich wird, die Aussage, dass jemand, der eine intentionale Handlung ausführt, eine pro-attitude dieser Handlung gegenüber besitzt, als eine analytische Aussage betrachten. Ob auch ein Wunsch vorliegt, die Handlung auszuführen, ist eine weitergehende, substantielle Frage. Mit dieser Unterscheidung der doppelten Bedeutung von ‚Wollen‘ als ‚Wunsch‘ einerseits, als ‚pro-attitude‘ andererseits können wir uns nun der Analyse der verschiedenen Theorien motivierender Gründe zuwenden. II.4. 2 Psychologistische Theorien motivierender Gründe II.4. 2. 1 Das philosophische Dogma der Humeanischen Motivationstheorie II.4. 2. 1. 1 Die Humeanische Motivationstheorie Die Humeanische Theorie motivierender Gründe war lange Zeit das dominie‐ rende Modell innerhalb der philosophischen Psychologie und kann auch noch bis heute als die wohl einflussreichste Theorie der Motivation angesehen werden. Dieser Theorie zufolge setzt sich ein motivierender Grund aus einem konativen und einem kognitiven Element zusammen, wobei eine Asymmetrie zugunsten des konativen Elements besteht, insofern die motivierende Kraft al‐ lein beim konativen Element liegt und das kognitive Element (z. B. eine instru‐ mentelle Überzeugung) den vom konativen Element ausgehenden Handlungs‐ impuls nur kanalisiert und in die richtige Richtung lenkt. Das konative und das kognitive Element werden dabei als distinkte Existenzen aufgefasst, da es für eine Person stets möglich ist, über das kognitive Element zu verfügen, aber des 43 II.4 Motivierende Gründe 68 Vgl. Hume (1888 [ 2 1978]), 413-418. 69 Hume (1888 [ 2 1978]), 415. 70 Vgl. McDowell (1981 [1998]), 213: „I suspect that one reason people find the second premise of the Humean argument obvious lies in their inexplicit adherence to a quasi-hydraulic conception of how reason explanations account for action. The will is pictured as the source of the forces that issue in the behavior such explanations explain. This idea seems to me a radical misconception of the sort of explanation a reason ex‐ planation is; but it is not my present concern.“ 71 Vgl. Smith (1994), 102. entsprechenden konativen Elementes zu entbehren, und vice versa. Beide Ele‐ mente können stets auseinandergezogen werden, weshalb auch keine notwen‐ digen metaphysischen Beziehungen zwischen ihnen angenommen werden können, wodurch das eine Element immer das andere mit sich brächte. Da es sich um distinkte Existenzen handelt, ist dies nicht möglich. Ihren Ursprung hat diese Theorie im Werk David Humes. Im dritten Teil des zweiten Buches seines Treatise of Human Nature entfaltet Hume unter dem Titel Of the Influencing Motives of the Will seine Motivationstheorie. 68 Hume zufolge kann die Vernunft niemals allein Motiv eines Willensaktes sein, weshalb sie auch niemals mit den Affekten in Konflikt geraten kann. Hume reduziert die Vernunft auf die theo‐ retische Vernunft und beraubt sie damit ihrer praktischen Funktion. Der Hand‐ lungsimpuls geht immer von den Affekten aus; der Vernunft kommt dann nur noch die Aufgabe zu, den Weg bzw. die Mittel ausfindig zu machen, durch welche sich die Ziele der Affekte möglichst effektiv erreichen lassen - sie hat mithin eine rein kanalisierende Funktion. Folglich kann Hume feststellen: „Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them.” 69 Der Vernunft kommt in Humes Theorie also lediglich die Rolle der Dienerin zu, welche bei der Verwirklichung der Ziele der Affekte behilflich ist. John McDowell hat dieses Modell als eine „quasi-hydraulische Konzeption“ 70 menschlichen Handelns kritisiert, insofern die verschiedenen Kräfte und Im‐ pulse der Affekte mittels der Vernunft in bestimmte Richtungen hin kanalisiert werden und letztlich kombiniert eine Kraft, d. h. eine Handlung hervorbringen. Michael Smith als einer der bedeutendsten Verteidiger der Humeanischen Motivationstheorie wendet gegen diesen Vorwurf McDowells ein, dass die Hu‐ meanische Konzeption weit davon entfernt sei, eine quasi-hydraulische Kon‐ zeption der Handlungserklärung vertreten zu müssen - der Humeaner müsse noch nicht einmal eine kausale Handlungserklärung verteidigen. 71 So ist Smith der Ansicht, dass die Konjunktion ‚weil‘ in dem Satz „Er φ-t, weil er einen Grund zu φ-en hat.“ auf die Verfügbarkeit einer teleologischen Handlungserklärung hinweise. Es gebe an sich keinen Grund in der motivationstheoretischen De‐ 44 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 72 Vgl. Smith (1994), 103. 73 Vgl. Smith (1994), 104. 74 Vgl. Smith (1994), 105-107. 75 Vgl. Hume(1888 [ 2 1978]), 414. batte, der uns anzunehmen zwinge, dass Gründe vielmehr kausal als teleologisch erklärend seien. 72 Smith zufolge ist die Humeanische Konzeption sogar die ein‐ zige Theorie, die dazu in der Lage sei, Motivation i.S. der Verfolgung eines Ziels zu erklären, insofern Wünsche Konstitutionselemente eines motivierenden Grundes sein müssen, wenn diese motivierenden Gründe wiederum durch die Ziele des Akteurs konstituiert werden sollen. 73 Um Einwänden bezüglich der Epistemologie von Wünschen zu begegnen, die gegen Humes Emotionstheorie vorgebracht wurden, betont Smith, dass sich Subjekte hinsichtlich ihrer Wünsche irren können. Es sei einerseits möglich, über einen Wunsch zu verfügen, ohne sich dessen bewusst zu sein und von diesem Wunsch zu wissen. Andererseits sei es auch denkbar, dass man meint, einen Wunsch zu haben, ohne dass man den Wunsch wirklich besitzt. 74 So kann jemand der festen Überzeugung sein, dass er den Wunsch habe, Anwalt zu werden. Sobald er jedoch die ersten juristischen Seminare und Vorlesungen be‐ sucht und rechtswissenschaftliche Kommentare durcharbeitet, bemerkt er, dass er überhaupt kein Interesse an Jura hat und vermutlich nur Anwalt werden wollte, weil er später einmal viel Geld verdienen möchte. Er hatte also gar nicht den Wunsch, Anwalt zu werden, sondern vielmehr den Wunsch, später viel Geld zu verdienen. Wenn er dann auch noch erfährt, dass Anwälte meist nicht be‐ sonders gut verdienen, wird er sicherlich auch den Wunsch verlieren, Anwalt zu werden. Er hat sich also hinsichtlich seines Wunsches, Anwalt zu werden, getäuscht; er hatte diesen Wunsch nie, obwohl er der festen Überzeugung war, ihn zu haben. Gleichzeitig hatte er offensichtlich den Wunsch, viel Geld zu ver‐ dienen, ohne dass ihm dieser bewusst gewesen wäre. Wenn ihm jemand gesagt hätte, er wolle nur Anwalt werden, weil er glaube, damit viel Geld verdienen zu können, hätte er das vehement geleugnet, da ihm dieser Wunsch nicht bewusst war. Die Tatsache, dass er jedoch seinen Wunsch, Anwalt zu werden, genau in dem Moment aufgegeben hat, als er erfahren hat, dass er als Anwalt nicht viel Geld verdienen wird, zeigt jedoch, dass er den Wunsch hatte, viel Geld zu ver‐ dienen, ohne dass es ihm bewusst gewesen wäre und er von dem Wunsch ge‐ wusst hätte. Auch Einwänden, die bezüglich der Phänomenologie von Wünschen gegen Humes Theorie vorgebracht wurden, versucht Smith zu begegnen. Während Hume den intentionalen Gehalt von Wünschen leugnete und ihre phänomenale Qualität als für sie konstitutiv betrachtete, 75 sieht Smith mit den Kritikern an 45 II.4 Motivierende Gründe 76 Vgl. Smith (1994), 108 f. 77 Vgl. Hume (1888 [ 2 1978]), 417: „Now ʼtis certain, there are certain calm desires and tendencies, which, thoʼ they be real passions, produce little emotion in the mind, and are more known by their effects than by the immediate feeling or sensation. These desires are of two kinds; either certain instincts originally implanted in our natures, such as benevolence and resentment, the love of life, and kindness to children; or the general appetite to good, and aversion to evil, consider’d merely as such. When any of these passions are calm, and cause no disorder in the soul, they are very readily taken for the determinations of reason, and are suppos’d to proceed from the same faculty, with that, which judges of truth and falsehood. Their nature and principles have been suppos’d the same, because their sensations are not evidently different.“ 78 Vgl. ebd. 79 Vgl. Halbig (2007), 46. 80 Anscombe (1957). 81 Vgl. Anscombe (1957), § 32; 36; 40. Humes Theorie die Probleme, die sich daraus ergeben. So kann Humes These von der phänomenalen Qualität aller unserer Wünsche langfristigen Wünschen wie dem Wunsch eines Vaters für das Wohlergehen seiner Kinder nicht ange‐ messen Rechnung tragen. Solche langfristigen Wünsche sind phänomenal un‐ auffällig. Auch andere Wünsche wie der Wunsch, die Straße zu überqueren, machen sich nicht phänomenal bemerkbar. Wir verspüren kein drängendes Ge‐ fühl, wenn wir diese Wünsche haben. Man kann diese Wünsche haben, ohne sie zu fühlen und bewusst wahrzunehmen. 76 Humes Lehre von den sogenannten ‚calm passions‘ 77 , zu denen neben unseren Instinkten auch unsere allgemeine Neigung zum Guten bzw. Abneigung gegenüber dem Bösen zählt, kann diesem Phänomen nicht in angemessener Weise gerecht werden. Denn Hume meint, dass diese Wünsche bei genauer introspektiver Prüfung doch eine gewisse Er‐ lebnisqualität besäßen, weshalb er die ‚calm passions‘ auch als ‚little emotions‘ bezeichnet. 78 Doch scheint diese Verteidigung ad hoc zu sein, um seine Motiva‐ tionstheorie mit der ausschlaggebenden Rolle der Affekte zu retten, und kann von daher nicht überzeugen, zumal viele Wünsche nun einmal schlichtweg keine Erlebnisqualität besitzen. 79 Aufgrund dieser Probleme vertritt Smith eine nicht-phänomenologische Konzeption von Wünschen und versucht, Wünsche auf andere Weise näher zu bestimmen. Smith bedient sich bei seiner Charakterisierung von Wünschen einer Meta‐ pher, die Elizabeth Anscombes einflussreichem Werk Intention  80 entlehnt ist. Anscombe unterscheidet in dieser Arbeit grob zwei Arten von mentalen Zu‐ ständen, wobei Überzeugungen als paradigmatisch für die eine Art, Wünsche für die andere Art gelten. 81 Als Unterscheidungskriterium dieser beiden Zu‐ stände dient die ‚Passensrichtung‘ (direction of fit) der mentalen Zustände in Bezug auf die Welt. 82 Überzeugungen zielen demnach auf Wahrheit ab und sind 46 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 82 Zum Konzept der Passensri chtung siehe auch: Williams (1973), 187-206, bes. 203-205; Searle (1983), 7-9; Wollheim (1984), 52 f; Humberstone (1992). 83 Vgl. Platts ( 2 1997), 256 f. 84 Vgl. Smith (1994), 113. 85 Vgl. Smith (1994), 114. dann wahr, wenn sie mit der Welt übereinstimmen. Überzeugungen sollten daher so angepasst werden, dass sie mit der Welt übereinstimmen. Wünsche zielen dagegen auf ihre Realisierung ab, die darin besteht, dass die Welt mit ihnen übereinstimmt. Die Welt sollte dementsprechend so verändert werden, dass sie mit unseren Wünschen übereinstimmt. 83 Dass die Welt nicht so ist, wie wir sie uns wünschen, führt nicht zur Aufgabe unserer Wünsche, sondern veranlasst uns vielmehr dazu, die Welt unseren Wünschen entsprechend zu verändern. Diese Charakterisierung der Wünsche ist freilich hochgradig metaphorisch, weshalb Smith versucht, diese Metapher in nicht-metaphorische Sprache zu übersetzen. Wünsche sind für ihn demnach Zustände, denen eine bestimmte funktionale Rolle zukommt. Für Smith besitzen wir, wenn wir wünschen zu φ-en, bestimmte Dispositionen, nämlich die Disposition unter den Umständen U 1 zu ψ-en, die Disposition untern den Umständen U 2 zu μ-en usw., wobei das Subjekt über weitere Wünsche und bestimmte instrumentelle Überzeugungen - der Form φ-en durch ψ-en, φ-en durch μ-en usw. - verfügen muss, damit die Umstände U 1 und U 2 bestehen. 84 Die Epistemologie der Wünsche wird somit zu einer Epistemologie dispositionaler Zustände, d. h. zur Epistemologie solcher kontrafaktischer Überlegungen. Diese Konzeption von Wünschen erlaube es Smith zufolge, dass sich die Subjekte hinsichtlich ihrer Wünsche irren können, und sei mit der Tatsache vereinbar, dass bestimmte Wünsche phänomenalen Gehalt haben, während andere Wünsche dessen gänzlich entbehren. 85 Auf diese Weise könne laut Smith die dispositionale Konzeption von Wünschen die Pro‐ bleme des Humeschen Modells lösen, ohne die Grundüberzeugung Humes auf‐ zugeben, dass sich ein motivierender Grund aus einem konativen und einem kognitiven Element zusammensetzt, wobei eine Asymmetrie zugunsten des ko‐ nativen Elements besteht, insofern die motivierende Kraft allein beim konativen Element liegt und das kognitive Element (z. B. eine instrumentelle Überzeugung) den vom konativen Element ausgehenden Handlungsimpuls nur kanalisiert und in die richtige Richtung lenkt. Der Unterschied zwischen Wünschen und Über‐ zeugungen besteht bei seiner Konzeption in der unterschiedlichen funktionalen Rolle, die die beiden mentalen Zustände übernehmen. Er besteht, grob gesagt, in der unterschiedlichen kontrafaktischen Abhängigkeit einer Überzeugung und eines Wunsches hinsichtlich der Wahrnehmung einer nicht vorhandenen Tat‐ sache in der Welt: Während die Überzeugung angesichts dieser Wahrnehmung 47 II.4 Motivierende Gründe 86 Vgl. Smith (1994), 115. 87 Vgl. Smith (1994), 116. 88 Vgl. ebd.: „Given just the assumption that reason explanations are teleological expla‐ nations, […] [(P 1 )] seems unassailable; indeed it has the status of a conceptual truth.“ 89 Vgl. Smith (1994), 116-125. (P 1 ) (P 2 ) (P 3 ) (K) aufgegeben wird, besteht der Wunsch nichtsdestotrotz fort und disponiert das Subjekt dazu, die nicht vorhandene Tatsache zu verwirklichen. Somit sind für Wünsche und Überzeugungen unterschiedliche kontrafaktische Überlegungen bezüglich des Subjekts, auf welches sie sich beziehen, wahr - darauf läuft letzt‐ lich die Rede von verschiedenen Passensrichtungen hinaus. 86 Die Rede von unterschiedlichen Passensrichtungen erlaubt es laut Smith nun auch, einer teleologischen Handlungserklärung Sinn zu geben, der zufolge je‐ mand einen motivierenden Grund hat, insofern sie ein Ziel hat. Denn ein Ziel zu haben, heißt für Smith, in einem Zustand zu sein, mit dem die Welt überein‐ stimmen soll. Insofern sei man, wenn man ein Ziel hat, in einem Zustand mit der Passensrichtung eines Wunsches. Daher habe jemand, der ein Ziel habe, einfach einen Wunsch. 87 Smiths Argument aus der Passensrichtung lässt sich fol‐ gendermaßen zusammenfassen: Einen motivierenden Grund zu haben, heißt unter anderem, ein Ziel zu haben. Ein Ziel zu haben, heißt, in einem Zustand zu sein, mit dem die Welt übereinstimmen soll. In einem Zustand zu sein, mit dem die Welt übereinstimmen soll, heißt, einen Wunsch zu haben. Einen motivierenden Grund zu haben, heißt, einen Wunsch zu haben. Der Kern der Humeanischen Motivationstheorie folgt für Smith also analytisch aus dem Begriff der Handlungsmotivation, so dass die Theorie für jeden ein‐ sichtig sein sollte, der die Struktur der Handlungserklärung durch motivierende Gründe betrachtet. Daher lasse sich der Kern der Humeanischen Theorie moti‐ vierender Gründe aus einer Analyse der teleologischen Struktur intentionalen Handelns ableiten. (P 1 ) stellt demnach Smith zufolge eine begriffliche Wahrheit dar, insofern Handlungserklärungen teleologische Erklärungen seien. 88 Auch die anderen Prämissen scheinen Smith unkontrovers oder zumindest rechtfertigbar zu sein. 89 Aus diesem Argument schließt er daher, dass allein die Humeanische Theorie motivierender Gründe für eine teleologische Handlungserklärung ge‐ eignet ist. Da nämlich die Wünsche einer Person konstitutiv für ihre Ziele sind, können nur ihre Wünsche die motivierenden Gründe dieser Person konstitu‐ ieren, so dass die Humeanische Motivationstheorie allein einer teleologischen 48 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 90 Vgl. Smith (1994), 125. 91 Vgl. Shafer-Landau (2003), 135; siehe dazu auch: Wallace (1990 [2006]), 34. Handlungserklärung Sinn verleihen kann. 90 Da die Plausibilität der Humeani‐ schen Motivationstheorie in erheblichem Maße von diesem Argument abhängt, soll dieses zusammen mit den Grundannahmen der Humeanischen Theorie nun einer kritischen Prüfung unterzogen werden. II.4. 2. 1. 2 Kritik der Humeanischen Motivationstheorie Betrachten wir bei der kritischen Prüfung von Smiths Argumentation zunächst die Prämissen seines Arguments. (P 1 ) stellt für Smith, wie bereits gesagt, eine begriffliche Wahrheit dar, die sich aus der teleologischen Struktur der Hand‐ lungserklärung durch Gründe ergibt. Aber handelt es sich wirklich um eine be‐ griffliche Wahrheit? Russ Shafer-Landau ist der Überzeugung, dass diese Prä‐ misse eine petitio principii begehe. Ihm zufolge weist unsere Handlungsmotivation nicht notwendig eine teleologische Struktur auf; es gehe bei unserer Motivation nicht notwendig darum, einen bestimmten Endzustand zu realisieren, wie es die Rede von einem Ziel suggeriere. Eine solche Annahme fälle ein voreiliges, unfaires Urteil zugunsten der Humeanischen Motivations‐ theorie. Seiner Meinung nach sei auch die Überzeugung einer Person, dass eine Handlung ihre Pflicht bzw. wertvoll sei, dazu in der Lage, die Person zu einem entsprechendem Handeln zu motivieren, ohne auf einen Endzustand referieren zu müssen. Nicht jede Motivation muss demzufolge dem Modell instrumenteller Rationalität folgen. Etwas als gut oder richtig zu erkennen, genügt, um je‐ manden dazu zu motivieren, entsprechend zu handeln. Man ist in einem solchen Falle motiviert, ohne ein Ziel zu haben. Es ist vielmehr das Kennzeichen einer ‚deontologischen Motivation‘, dass ein solcher Endzustand keine Rolle spielt. Allein die Überzeugung einer Person, dass eine Handlung eine bestimmte Ei‐ genschaft hat - gut oder verpflichtend zu sein -, reicht als Basis für die Hand‐ lungsmotivation aus. (P 1 ) scheint also keineswegs eine begriffliche Wahrheit zu sein und entscheidet die Frage nach einer überzeugenden Theorie motivierender Gründe illegitimerweise vorschnell zugunsten der Humeanischen Motivations‐ theorie. 91 Sollte sich Smiths Prämisse (P 1 ) jedoch tatsächlich als wahr erweisen, scheint sein Argument gültig zu sein, wenn auch die beiden anderen Prämissen wahr sind. Wäre damit die Wahrheit der Humeanischen Motivationstheorie be‐ wiesen? Die Wahrheit der Prämisse (P 2 ) scheint man Smith zugestehen zu können. Auch (P 3 ) scheint mit der Modifikation akzeptabel zu sein, die Smith vornimmt, um dem Einwand zu begegnen, dass seine Kategorie von Wünschen 49 II.4 Motivierende Gründe 92 Vgl. Smith (1994), 117: „For if ‘desire’ is not a suitably broad category of mental state to encompass all of those states with the appropriate direction of fit, then the Humean may simply define the term ‘pro-attitude’ to mean ‘psychological state with which the world must fit’, and then claim that motivating reasons are constituted, inter alia, by pro-attitudes […].“ 93 Vgl. S. 42 f. nicht die Menge der mentalen Zustände erschöpfe, die eine entsprechende Pas‐ sensrichtung aufweisen. So schlägt er als terminologische Präzisierung den Begriff der ‚pro-attitude‘ vor, um alle mentalen Zustände mit derselben Passen‐ srichtung wie Wünsche darunter zu vereinigen. 92 Führt man sich jedoch die Unterscheidung vor Augen, welche in diesem Kapitel hinsichtlich der doppelten Bedeutung von ‚Wollen‘ vorgenommen wurde, 93 wird deutlich, dass Smith mit dieser harmlos erscheinenden terminologischen Präzisierung Gefahr läuft, seine Sache aufzugeben oder doch zu entleeren. Denn durch diese Modifikation zeigt Smiths Argument nicht mehr das, was es ursprünglich zeigen sollte. Es zeigt dann höchstens, dass kein motivierender Grund existiert, ohne dass auch ein Wunsch präsent wäre. Es zeigt jedoch nicht, dass der Wunsch die Quelle der Handlungsmotivation ist, dass ihm also die entscheidende Rolle bei der Moti‐ vation zukommt. Die Asymmetrie-These der Humeanischen Motivationstheorie kann folglich durch Smiths Argument nicht bewiesen werden. Es scheint diesem Argument zufolge möglich zu sein, dass Überzeugungen allein hinreichend sind, um eine Handlungsmotivation zu generieren. Die Überzeugungen müssen le‐ diglich von Wünschen begleitet werden; diese Wünsche können jedoch selbst durch Überzeugungen hervorgebracht worden sein, so dass schließlich - ent‐ gegen der Humeanischen Motivationstheorie - die Überzeugungen allein hin‐ reichend sind, einen motivierenden Grund hervorzubringen. Smiths Argument ist also letztlich kein Argument für die Humeanische Motivationstheorie, son‐ dern argumentiert vielmehr auf neue Art und Weise für die begriffliche Wahr‐ heit, die oben bereits angesprochen wurde, - nämlich, dass man jede intentio‐ nale Handlung als ‚gewollt‘ bezeichnen kann. Diese Bedeutung von ‚Wollen‘ i.S. einer ‚pro-attitude‘ beinhaltet jedoch keinen spezifischen mentalen Zustand i.S. eines ‚Wunsches‘, der in Verbindung mit einer instrumentellen Überzeugung einen motivierenden Grund konstitu‐ iert. Die ‚pro-attitude‘ bezeichnet stattdessen allgemein einen motivierten Zu‐ stand bzw. die Tatsache, dass ein Akteur motiviert war. Daher sind ‚pro-atti‐ tudes‘ keine distinkten mentalen Zustände, sondern vielmehr eine Art und Weise, die Intentionalität einer Handlung auszudrücken. Nicht jede Handlungs‐ motivation und damit auch nicht jede Intention geht jedoch von Wünschen aus - das ist wohl nur bei der Minderheit der Fälle so. Wie wir oben gesehen haben, 50 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 94 Vgl. Wallace (1990 [2006]), 30; Shafer-Landau (2003), 136-139; Halbig (2007), 52-54. 95 Vgl. Kirchin (2012), 170 f. 96 Vgl. Shafer-Landau (2003), 123-127. kann mich allein die Einsicht in die Pflicht - z. B. trotz des Sonnenscheins und meines Wunsches, eine Radtour zu machen, die Hausarbeiten zu korrigieren - zum Handeln motivieren. Smiths Argument ist also entgegen seiner eigentli‐ chen Absicht nicht dazu in der Lage, die Wahrheit der Humeanischen Motiva‐ tionstheorie zu beweisen. 94 Eine weitere Schwäche der Humeanischen Motivationstheorie besteht zudem darin, dass sie Überzeugungen und Wünsche als distinkte Existenzen betrachtet, die beliebig kombinierbar sind. So könne jede Überzeugung zugleich mit jedem Wunsch vorkommen. In der Regel lässt sich jedoch erklären, warum eine be‐ stimmte Überzeugung mit einem bestimmten Wunsch vorkommt und warum eine bestimmte Überzeugung häufig ins Bewusstsein tritt und ein Wunsch be‐ sonders stark ist. Ich habe den starken Wunsch, eine Radtour zu machen, und denke oft daran, dass das Wetter dafür ausgezeichnet ist. Dass mir die Überzeu‐ gung, dass das Wetter ausgezeichnet für eine Radtour ist, oft ins Bewusstsein tritt, könnte daran liegen, dass ich den starken Wunsch habe, eine Radtour zu machen. Dies würde für eine Verbindung zwischen unseren Überzeugungen und Wünschen sprechen und wäre damit ein Argument gegen die Humeanische These von unseren Überzeugungen und Wünschen als distinkten Existenzen. 95 II.4. 2. 2 Anti-Humeanische Motivationstheorien Da es kein überzeugendes Argument für die Humeanische Motivationstheorie gibt und andere Gesichtspunkte - wie die Handlungsmotivation aus Einsicht in unsere Pflichten, die Motivation für das Ausführen mentaler Akte (z. B. logisches Schließen, Sich-Erinnern, etc.) oder vermeintliche Wünsche, die uns gar nicht motivieren können, da wir sie gar nicht besitzen 96 - gegen sie zu sprechen scheinen, sollen in diesem Abschnitt nun Anti-Humeanische Motivationstheo‐ rien betrachtet werden, die in verschiedener Art und Weise und in unterschied‐ lichem Maße das Dogma der Humeanischen Theorie ablehnen. Diese Theorien versuchen, unseren Überzeugungen einen höheren Stellenwert für die Hand‐ lungsmotivation einzuräumen. Dabei sind sie sich durchaus bewusst, dass nicht alle Überzeugungen dazu in der Lage sind, einen motivierten Zustand hervor‐ zubringen. Doch eine bestimmte Klasse von Überzeugungen, evaluative Über‐ zeugungen, verfüge über diese motivationale Kraft. Evaluative Überzeugungen schreiben bestimmten Handlungen, Zuständen und Haltungen einen Wert zu. Wenn man etwas für erstrebenswert hält, etwas als gut oder tapfer bewertet oder urteilt, dass man einen Grund hat, etwas zu tun, dann können diese Über‐ 51 II.4 Motivierende Gründe 97 Zur Terminologie siehe : Halbig (2007), 62 f. 98 Zur Terminologie siehe: Halbig (2007), 54-62. 99 Vgl. Ross (1930), 157 f. zeugungen, Handlungen motivieren, ohne dass zusätzlich ein vorgängiger Wunsch präsent sein müsste. Die Anti-Humeaner nehmen daher an, dass zu‐ mindest manche evaluative Überzeugungen allein hinreichend sind, um zum Handeln zu motivieren. Dies kann auf zwei Arten verstanden werden. Eine stärkere Interpretation dieser Annahme, die man als reinen Kognitivismus  97 bezeichnen kann, vertritt die These, dass überhaupt keine Wünsche oder affektiven Zustände notwendig sind, um einen motivierenden Grund zu konstituieren. Eine schwächere Inter‐ pretation, ein hybrider Kognitivismus  98 , von dem sich Ansätze in William David Rossʼ Werk finden, 99 behauptet lediglich, dass Überzeugungen insofern für die Handlungsmotivation hinreichend sind, als sie allein dazu in der Lage sind, Wünsche hervorzubringen, mit welchen zusammen sie dann konstitutiv für einen motivierenden Grund sein können. Diese schwächere Interpretation gibt also nur die Humeanische Asymmetrie-These auf, der zufolge der Wunsch die Quelle der Handlungsmotivation sei, hält aber am Wunsch/ Überzeugungs-Paar als konstitutiv für motivierende Gründe fest. Der reine Kognitivismus gibt hin‐ gegen auch diese schwächere Humeanische These auf. Betrachten wir zunächst die hybride Version des Anti-Humeanismus. II.4. 2. 2. 1 Der hybride Kognitivismus Die einflussreichste und deutlichste Formulierung des hybriden Kognitivismus findet sich in Thomas Nagels bedeutender Studie The Possibility of Altruism aus dem Jahre 1970. Nagel entwickelt in dieser Arbeit eine Theorie ‚motivierter Wünsche‘, welche als Kritik an der Humeanischen Asymmetrie-These ver‐ standen werden kann. Er schreibt: The assumption that a motivating desire underlies every intentional act depends, I believe, on a confusion between two sorts of desire, motivated and unmotivated. It has been pointed out before that many desires, like many beliefs, are arrived at by decision and after deliberation. They need not simply assail us, though there are cer‐ tain desires that do, like the appetites and in certain cases the emotions. The same is true of beliefs, for often, as when we simply perceive something, we acquire a belief without arriving at it by decision. The desires which simply come to us are unmoti‐ vated though they can be explained. Hunger is explained by lack of food, but is not motivated thereby. A desire to shop for groceries, after discovering nothing appetizing 52 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 100 Vgl. Nagel (1970), 29. 101 Vgl. Wallace (1990 [2006]), 23; siehe dazu auch: Schueler (1995), 15-28. 102 Nagel (1970), 29: „Rational or motivational explanation is just as much in order for that desire as for the action itself.“ in the refrigerator, is on the other hand motivated by hunger. Rational or motivational explanation is just as much in order for that desire as for the action itself. The claim that a desire underlies every act is true only if desires are taken to include motivated as well as unmotivated desires, and it is true only in the sense that whatever may be the motivation for someone’s intentional pursuit of a goal, it becomes in virtue of his pursuit ipso facto appropriate to ascribe to him a desire for that goal. But if the desire is a motivated one, the explanation of it will be the same as the explanation of his pursuit, and it is by no means obvious that a desire must enter into this further explanation. Although it will no doubt be generally admitted that some desires are motivated, the issue is whether another desire always lies behind the motivated one, or whether sometimes the motivation of the initial desire involves no reference to another, unmotivated desire. […] That I have the appropriate desire simply follows from the fact that these considerations motivate me; […]. 100 Nagel unterscheidet in dieser Passage zwei Arten von Wünschen (desires): mo‐ tivierte und nicht-motivierte Wünsche. Der Unterschied zwischen ihnen besteht in der Art und Weise ihres Zustandekommens. Nicht-motivierte Wünsche finden wir als gegeben vor; sie befallen uns plötzlich wie bestimmte Emotionen. Motivierte Wünsche sind hingegen das Ergebnis praktischen Überlegens. Diese Unterscheidung scheint allerdings wenig hilfreich. Sie erweckt den Eindruck, dass alle motivierten Wünsche immer erst nach einem Deliberationsprozess ge‐ bildet werden, während die nicht-motivierten den Akteur wie animalische Triebe überfallen. Langfristige oder dispositionale Wünsche, welche das Er‐ gebnis einer moralischen Erziehung sind und den Charakter einer Person aus‐ machen, passen in keine der beiden Kategorien: Weder überfallen sie eine Person wie sexuelles Begehren oder Durst, noch sind sie das Ergebnis eines Delibera‐ tionsprozesses oder einer Entscheidung. Der Unterschied zwischen motivierten und nicht-motivierten Wünschen besteht vielmehr in der Art der Erklärung, welcher sie zugänglich sind. 101 Motivierte Wünsche zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine ‚rationale bzw. motivationale Erklärung‘ 102 zulassen. Wenn jemand einen motivierten Wunsch besitzt, ist es stets möglich, diesen Wunsch so zu erklären, dass er durch andere propositionale Einstellungen der Person ratio‐ nalisiert werden kann. Weil die Person bestimmte andere propositionale Ein‐ stellungen besitzt, hat sie den motivierten Wunsch. Auf diese rationalisierende 53 II.4 Motivierende Gründe 103 Vgl. Wallace (1990 [2006]), 23 f. 104 Dieser Überlegung liegt die Annahme zugrunde, dass es eine Forderung der Vernunft sei, dass wir Wünsche in Übereinstimmung mit unseren evaluativen Überzeugungen haben sollten, d. h. dass wir ein kohärentes System von Wünschen und Überzeugungen haben sollten; es besteht ein normativer Grund für den Akteur, diese Kohärenz herzu‐ stellen; vgl. Wallace (1990 [2006]), 25-29; siehe auch: Broome (1999). 105 Vgl. Wallace (1990 [2006]), 24 f. Weise kann der motivierte Wunsch erklärt werden. 103 Bei nicht-motivierten Wünschen ist dies nicht möglich. Die rationalisierende Erklärung, welcher motivierte Wünsche zugänglich sind, erklärt propositionale Einstellungen (motivierte Wünsche) durch andere propositionale Einstellungen, deren Inhalt den zu erklärenden Zustand ratio‐ nalisiert. Diese Rationalisierung hat die Form, dass Gründe bzw. Rechtferti‐ gungen für den betreffenden Zustand angegeben werden. Genau genommen können nun allerdings die Inhalte unserer Wünsche niemals Gründe oder Rechtfertigungen für andere propositionale Einstellungen geben; auch scheinen sie selbst einer rationalisierenden Erklärung nicht direkt zugänglich zu sein. Sie sind jedoch über einen Umweg auf indirekte Weise einer solchen Erklärung zugänglich. Wünsche sind nämlich mit evaluativen Überzeugungen ver‐ bunden. 104 Die Inhalte dieser evaluativen Überzeugungen können freilich un‐ mittelbar in Beziehungen der Rationalisierung und Rechtfertigung mit anderen Inhalten propositionaler Einstellungen treten. Daher sind die evaluativen Über‐ zeugungen einer rationalen Erklärung direkt zugänglich. Da die evaluativen Überzeugungen mit motivierten Wünschen verbunden sind, können die Fak‐ toren, welche eine Überzeugung rechtfertigen und stützen, auch den Wunsch rechtfertigen und stützen, der mit dieser Überzeugung verbunden ist. Die Gründe, die für eine bestimmte Überzeugung sprechen, können daher auch als Gründe für den entsprechenden Wunsch betrachtet werden. Der Wunsch wurde ausgebildet, weil die Person eine bestimmte evaluative Überzeugung besitzt und die Gründe anerkennt, die für sie sprechen. 105 Die Präsenz von Wünschen in‐ nerhalb eines motivierten Zustandes schließt also nicht notwendig eine rein rationale Erklärung der Motivation aus, da die Wünsche selbst einer rationali‐ sierenden Erklärung über die mit ihnen verbundenen evaluativen Überzeu‐ gungen zugänglich sind. Eine rationalisierende Erklärung motivierter Wünsche kann bisweilen allein auf den Überzeugungen - zusammen mit Rationalitätsprinzipien und -normen - einer Person beruhen, so dass es in solchen Fällen möglich ist, eine rein rationale Erklärung sowohl der Motivation als auch der in ihr notwendig implizierten Wünsche zu geben. Die Vernunft allein kann also durchaus praktisch werden, da der Akteur neue Motivationen sowie in ihnen 54 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 106 Wie z. B. die oben erwähnte Rationalitätsforderung, dass unsere Wünsche oder Inten‐ tionen mit unseren evaluativen Überzeugungen übereinstimmen sollten; vgl. dazu z. B. Broome (1999 ). 107 Vgl. Halbig (2007), 56 f. 108 Vgl. Halbig (2007), 57. implizierte motivierte Wünsche allein dadurch erwerben kann, dass er die spe‐ zifischen Gründe erfasst, die für eine bestimmte Handlungsweise sprechen. Al‐ lein seine Überzeugungen, dass solche Gründe vorliegen, - verbunden mit Ra‐ tionalitätsprinzipien und -normen 106 - können ihn somit zum Handeln motivieren. Ein Humeaner mag an dieser Stelle einwenden, dass der Motivation in solchen Fällen, wo allein Überzeugungen zu motivieren scheinen, indem sie kausal für die Bildung motivierter Wünsche verantwortlich sind und diese verständlich machen, letztlich ein weiterer nicht-motivierter Wunsch zugrunde liege. So motiviert mich ihm zufolge nicht die Einsicht im meine Pflicht, die Hausarbeiten bis zum versprochenen Termin zu korrigieren, sondern ein allgemeiner Wunsch, meine Versprechen zu halten. Doch begeht der Humeaner mit diesem Einwand eine petitio principii, da er die Wahrheit der Humeanischen Theorie bereits vo‐ raussetzt; diese gilt es aber zuerst zu beweisen. In dem geschilderten Fall ver‐ spüre ich überhaupt keinen Wunsch, die Hausarbeiten zu korrigieren oder mein Versprechen zu halten. Es lässt sich kein entsprechender allgemeiner nicht-mo‐ tivierter Wunsch finden. Es ist vielmehr die Überzeugung, dass es meine mora‐ lische Pflicht ist, die Hausarbeiten bis zum versprochenen Termin zu korri‐ gieren, welche einen motivierten Wunsch, die Hausarbeiten bis zum versprochenen Termin zu korrigieren, hervorbringt. 107 Es ist daher auch nicht sinnvoll einen allgemeinen nicht-motivierten Wunsch, meine moralischen Pflichten zu erfüllen, zum Ursprung der Handlungsmotivation zu machen, da dies die Tatsachen auf den Kopf stellen würde. Es ist nämlich nicht der Wunsch, moralisch zu sein, der erklärt, warum ich moralisch handle, sondern die Tat‐ sache, dass für mich moralische Erwägungen für mein Handeln eine Rolle spielen, rechtfertigt es vielmehr, mir einen solchen Wunsch zuzuschreiben. 108 Manche Wünsche scheinen demnach in der Tat durch Überzeugungen motiviert zu sein. Doch handelt es sich bei diesen Wünschen wirklich um Wünsche im eigent‐ lichen Sinne oder vielmehr um pro-attitudes, die als Implikat intentionalen Han‐ delns jeder Handlung zugeschrieben werden können und unabhängig von un‐ serer Zuschreibungspraxis keinerlei Existenz besitzen? Nagel ist in der oben zitierten Passage nicht ganz eindeutig. Er scheint zwei Fälle miteinander zu vermischen. Während der erste Passus des Zitats Wünsche im eigentlichen 55 II.4 Motivierende Gründe 109 Vgl. Nagel (1970), 29: „The claim that a desire underlies every act is true only if desires are taken to include motivated as well as unmotivated desires, and it is true only in the sense that whatever may be the motivation for someone’s intentional pursuit of a goal, it becomes in virtue of his pursuit ipso facto appropriate to ascribe to him a desire for that goal. But if the desire is a motivated one, the explanation of it will be the same as the explanation of his pursuit, and it is by no means obvious that a desire must enter into this further explanation. Although it will no doubt be generally admitted that some desires are motivated, the issue is whether another desire always lies behind the moti‐ vated one, or whether sometimes the motivation of the initial desire involves no refe‐ rence to another, unmotivated desire. […] That I have the appropriate desire simply follows from the fact that these considerations motivate me; […].“ 110 Vgl. dazu Halbig (2007), 58. 111 Vgl. Nagel (1970), 29: „But if the desire is a motivated one, the explanation of it will be the same as the explanation of his pursuit, and it is by no means obvious that a desire must enter into this further explanation.“ I) II) III) Sinne im Blick zu haben scheint, legen die Formulierungen des zweiten Ab‐ satzes 109 die Annahme nahe, dass er hier von pro-attitudes spricht. Trifft dies zu, so muss man bei Nagel in Bezug auf motivierende Gründe drei Fälle voneinander unterscheiden: 110 Ein nicht-motivierter Wunsch bildet zusammen mit einer instrumentellen Überzeugung einen motivierenden Grund. Ein motivierter Wunsch wird durch eine Überzeugung hervorgebracht, die für sich ausreicht, um zu einem entsprechenden Handeln zu motivieren. Eine pro-attitude ist das Produkt unserer Zuschreibungspraxis, wie sie dem Verständnis intentionalen Handelns überhaupt zugrunde liegt. Während es sich in den Fällen I) und II) bei den Wünschen um aktuale mentale Zustände handelt, existieren die pro-attitudes in III) nicht in re, sondern sind bloße Zuschreibungsprodukte und dienen als heuristisches Instrument, um unser intentionales Handeln verständlich zu machen. Die pro-attitudes haben jedoch mit den Wünschen im Fall II) gemeinsam, dass sie nichts zur Handlungs‐ motivation beitragen und folglich auch nicht Teil der Handlungserklärung sind. Bei den pro-attitudes ist dies offensichtlich, da sie nur innerhalb unserer Zu‐ schreibungspraxis existieren. In Szenario II) reichen unsere Überzeugungen al‐ lein aus, um unsere Handlungen zu erklären, insofern sie Ursache der Motiva‐ tion und der in ihr implizierten Wünsche sind. 111 Auch der motivierte Wunsch hat daher selbst keine eigene motivationale Wirksamkeit. Aus diesen Überlegungen lassen sich nun zwei Klassifikationskriterien für Wünsche in Nagels Motivationstheorie entwickeln: 56 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 112 Vgl. zu dieser Kritik: Dancy (2000), 81; siehe auch: ders. (1993), 18-21. 113 Vgl. McDowell (1978 [1998]; 1979 [1998]; 1996, 66-86). (1) Sind Wünsche realistisch als mentale Zustände zu deuten oder nicht? I) Ja II) Ja III) Nein (2) Sind Wünsche Bestandteile des motivierten Zustandes oder nicht? I) Ja II) Nein III) Nein Diese Unterscheidung zeigt nochmals deutlich, dass es Fälle gibt, auf welche die Humeanische Motivationstheorie nicht anwendbar ist, so dass die Entwicklung einer überzeugenden Anti-Huemanischen Theorie motivierender Gründe not‐ wendig erscheint. Nagel selbst bietet allerdings keine detaillierte positive Ex‐ plikation der Funktion von Wünschen für die Handlungsmotivation in den Fällen, in denen die Humeanische Theorie nicht zutrifft. Handelt es sich hier um echte Wünsche oder um bloße pro-attitudes? Wie kann man beide trennscharf voneinander unterscheiden? Ein weiteres Problem, das Nagels Theorie zum Vorwurf gemacht wurde, re‐ sultiert aus der Hybridität seines Entwurfs. So sind, wie wir gesehen haben, manche Überzeugungen nur in Verbindung mit einem von ihnen unabhängigen nicht-motivierten Wunsch motivational wirksam (z. B. die Überzeugung, dass im Kühlschrak Eistee steht, mit dem Wunsch, etwas zu trinken), während andere Überzeugungen den motivierten Wunsch selbst kausal hervorbringen können. Doch warum ist das so? Worin besteht der Unterschied zwischen diesen Über‐ zeugungen? 112 Nagel expliziert seine Theorie motivierter Wünsche anhand pru‐ dentieller Gründe. John McDowell überträgt diese Theorie auf den Bereich mo‐ ralischer Gründe. 113 Diese beiden Gegenstandsbereiche können einen Hinweis auf die Überzeugungsart geben, die dazu in der Lage ist, motivierte Gründe her‐ vorzubringen: evaluative Überzeugungen. Evaluative Überzeugungen schreiben bestimmten Handlungen, Zuständen und Haltungen einen Wert zu. Wenn man etwas für erstrebenswert hält, etwas als gut oder tapfer bewertet oder urteilt, dass man einen Grund hat, etwas zu tun, dann können diese Überzeugungen, Handlungen motivieren, ohne dass zusätzlich ein vorgängiger Wunsch präsent sein müsste. Es ist also der spezifische Gehalt evaluativer Überzeugungen, der sie von anderen Überzeugungsarten unterscheidet und ihnen motivationale Wirksamkeit verleiht. 57 II.4 Motivierende Gründe 114 Vgl. Altham (1986), 284. 115 Eine gute Zusammenfassung der besire-Theorie bietet: Kirchin (2012), 165-173; weitere hilfreiche Darstellungen finden sich in: McNaughton (1988), 106-146; van Roojen (2002); Zangwill (2008); eine Verteidigung der Möglichkeit eines solchen mentalen Zustandes bietet: Tenenbaum (2006). Ein und derselbe mentale Zustand hat hierbei sowohl kognitiven als auch motivationalen Gehalt. James Altham spricht in Bezug auf einen solchen Zu‐ stand von einem ‚besire‘ 114 , einer Kombination von Überzeugung und konativer Einstellung, welche dazu in der Lage ist, unsere Handlungen zu motivieren. Ein und derselbe Zustand repräsentiert zugleich die Welt und ist motivational wirksam. 115 Repräsentation und Motivation sind verschiedene Aspekte eines einzigen mentalen Zustands. Ein besire ist eine Überzeugung, dass eine mögliche Handlung gut ist, und zugleich ein Wunsch, diese Handlung auszuführen, bzw. es ist eine Überzeugung, dass ein bestimmter Zustand gut ist, und zugleich ein Wunsch, dass dieser Zustand andauern möge. Der repräsentationale Zustand ist selbst ein Zustand, in dem der Akteur zum Handeln motiviert ist. So ist das besire „Ich muss das ertrinkende Kind retten.“ eindeutig ein motivierter Zustand. Die Vorstellung erschöpft sich nicht im propositionalen Gehalt „Dort ertrinkt ein Kind im Teich.“. Die Phänomenologie des repräsentationalen Zustandes ist kom‐ plexer. Möglicherweise treten alle anderen Überlegungen, die man in der Situ‐ ation anstellen könnte - wie „Ich habe neue Schuhe.“, „Die Hose war teuer.“ oder „Ich komme zu spät zu einem wichtigen Geschäftstermin.“ -, in den Hintergrund oder werden gänzlich zum Schweigen gebracht. Besires präsentieren dem Akteur verschiedene Faktoren seiner Handlungssituation, lassen manche Faktoren wichtiger als andere erscheinen und zeigen, wie verschiedene Faktoren mit an‐ deren verbunden sind bzw. in Spannung zu ihnen stehen. Die Art und Weise, wie sich diese Faktoren einem Akteur präsentieren, ist Ausdruck seiner Hand‐ lungsmotivation. Im Falle des ertrinkenden Kindes werden alle anderen Fak‐ toren zum Schweigen gebracht, und alles, was zählt, ist es, das Kind zu retten. Verschiedene Personen können verschiedene besires haben, obschon sie sich in ihrem propositionalen Gehalt sehr ähnlich sind. So werden sich die besires eines Taschendiebes und eines aufrichtigen Bürgers unterscheiden, wenn sie einen unbeaufsichtigten Rucksack sehen. Beide bemerken den unbeaufsichtigten Rucksack, und der propositionale Gehalt ihrer Überzeugung wird derselbe sein: „Dort steht ein unbeaufsichtigter Rucksack.“ Doch wird ihr besire ein anderes sein, insofern sie die Situation anders repräsentieren und ihre Überzeugung durch ihre Motivation gefärbt sein wird. Der Dieb wird eine günstige Gelegen‐ heit erblicken und motiviert sein, die Wertsachen aus dem Rucksack zu stehlen. 58 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 116 Dancy (2000), 84. 117 Vgl. Dancy (2000), 83 f. Der aufrichtige Bürger wird motiviert sein, den Besitzer des Rucksacks ausfindig zu machen oder ihn im Fundbüro abzugeben. Eine andere Kritik an Nagels Anti-Humeanismus ist deutlich schwerwieg‐ ender. Jonathan Dancy ist der Ansicht, dass Nagels Anti-Humeanismus irrele‐ vant und letztlich mit dem Kern der Humeanischen Motivationstheorie ver‐ einbar sei. In dem von Wunsch und Überzeugung gebildeten motivierten Zustand bestehe insofern eine Symmetrie zwischen Wunsch und Überzeugung, als der eine mentale Zustand jeweils die Präsenz des anderen brauche, um zum Handeln zu motivieren. Allerdings erfüllten beide Zustände je ganz unter‐ schiedliche Rollen, wie oben bei der Unterscheidung der beiden Passensrich‐ tungen aufgezeigt wurde. So dominiert der Wunsch aufgrund seiner Funktion für die Handlungsmotivation die Überzeugung. Dieses asymmetrische Ver‐ hältnis besteht unabhängig von den kausalen Beziehungen zwischen Wünschen und Überzeugungen, so dass selbst dann, wenn die Überzeugung einen moti‐ vierten Wunsch hervorbringt, der Wunsch eine ‚Humeanische Dominanz‘ 116 gegenüber der Überzeugung ausübt und das asymmetrische Verhältnis zu‐ gunsten des Wunsches bei der Handlungsmotivation erhalten bleibt. Die ‚Hu‐ meanische Dominanz‘ bestehe - so Dancy - aus ontologischen Gründen, inso‐ fern sie aus dem Wesen von Wunsch und Überzeugung mit ihrer unterschiedlichen Passensrichtung, nicht aus der kausalen Beziehung folge, die zwischen ihnen bestehe. Die ‚Humeanische Dominanz‘ zwischen Wunsch und Überzeugung bestehe also unabhängig von der ‚kausalen Dominanz‘ unter ihnen. Ein Einwand gegen die Humeanische Motivationstheorie, der sich allein auf die Unterscheidung zwischen motivierten und nicht-motivierten Wünschen stütze, sei daher letztlich irrelevant, da er den Kern des Humeanismus - das Wunsch/ Überzeugungs-Paar in Verbindung mit der Asymmetrie-These - un‐ berührt lasse und nur kleinere Korrekturen an der Peripherie der Theorie vor‐ nehme. 117 Diese Kritik trifft freilich nur den Nagelschen Anti-Humeanismus in Fall II), der motivierte Wünsche realistisch als aktuale mentale Zustände deutet. Der Anti-Humeanismus in Fall III), dem zufolge motivierte Wünsche als pro-attitudes bloße Produkte unserer Zuschreibungspraxis ohne Existenz in re sind, bleibt von dieser Kritik unberührt, ist dann allerdings keine Spielart des hybriden Kogni‐ tivismusʼ mehr, sondern stellt bereits eine Variante des stärkeren reinen Kogni‐ tivismusʼ dar, bei dem allein kognitive Zustände - Überzeugungen - einen mo‐ tivierenden Grund konstituieren. Erst dann, wenn Wünsche überhaupt keine 59 II.4 Motivierende Gründe 118 Vgl. Dancy (1993), 13 f. 119 Vgl. Dancy (1993), 19: „What motivates in the case of a purposive action is always the gap between two representations, and the occurrence of the desire is the agent’s being motivated by the gap.“; siehe ebenso: Dancy (2000), 85. eigenständigen Bestandteile unserer motivierten Zustände bilden und zu bloßen Produkten unserer Zuschreibungspraxis werden (Fall III)), erfolgt also der ent‐ scheidende Bruch mit der Humeanischen Motivationstheorie. Ein solcher Ent‐ wurf des reinen Kognitivismus soll nun betrachtet werden. II.4. 2. 2. 2 Der reine Kognitivismus Der reine Kognitivismus, wie ihn beispielsweise Jonathan Dancy vertritt, be‐ hauptet, dass Wünsche oder affektive Zustände keine konstitutiven Bestandteile eines motivierten Zustandes bilden, sondern Überzeugungen allein für die Handlungsmotivation hinreichend sind. Überzeugungen sind demnach die ein‐ zigen Bestandteile eines motivierenden Grundes. Dieser setzt sich aus einem Überzeugungspaar zusammen, wobei die erste Überzeugung die Welt, wie sie ist, zum Gegenstand hat und die Ausgangssituation repräsentiert. Schließlich muss man zunächst einmal wissen, was einer Veränderung unterzogen werden soll und unter welchen Umständen eine Handlung überhaupt erfolgen kann. Nur auf diese Weise ist zielgerichtetes Handeln möglich. Die zweite Überzeu‐ gung gibt nun das Ziel für die Handlung an, indem sie den Zustand repräsentiert, in den die Welt durch die Handlung gebracht werden soll. Zwischen diesen beiden Überzeugungen besteht eine Lücke, welche den Akteur motiviert. Die beiden Überzeugungen sind daher zusammengenommen für die Handlungsmo‐ tivation hinreichend. 118 Wünsche bilden dem reinen Kognitivismus zufolge keine notwendigen Be‐ standteile motivierender Gründe. Das heißt jedoch nicht, dass Wünsche in dieser Motivationstheorie überhaupt nicht vorkommen. Dancy identifiziert Wünsche mit dem Zustand, motiviert zu sein. 119 Wenn jemand durch ein entsprechendes Überzeugungspaar zum Handeln motiviert wird, befindet er sich ipso facto in einem Zustand, dem gemäß die Welt verändert werden soll. Diese Passensrich‐ tung ist allerdings für Wünsche konstitutiv, so dass die Handlungsmotivation die Präsenz eines Wunsches impliziert, ohne dass ihm eine motivationale Rolle zukäme. Das Problem der ‚Humeanischen Dominanz‘, welches sich für Nagels hybriden Kognitivismus stellte, tritt daher für den reinen Kognitivismus à la Dancy gar nicht auf, da Überzeugungen allein konstitutiv für die Handlungs‐ motivation sind und Wünsche überhaupt keinen Bestandteil des motivierenden Grundes bilden. Deswegen können Wünsche auch realistisch als unabhängig existierende mentale Zustände, nicht bloß als Produkte unserer Zuschreibungs‐ 60 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 120 Vgl. Dancy (1993), 19. 121 Dancy (2000), 98-158. 122 Halbig (2007), 64-86. 123 Vgl. Dancy (2000), 128-130. 124 Vgl. Dancy (2000), 127 f. praxis verstanden werden, wodurch sie auch phänomenale Qualität besitzen können. 120 II.4. 3 Non-Psychologistische Theorien motivierender Gründe Vertreter einer non-psychologistischen Theorie motivierender Gründe wie der spätere Jonathan Dancy 121 oder Christoph Halbig 122 stellen die These auf, dass es nicht unsere psychischen Zustände sind, die einen motivierenden Grund konstituieren, sondern Tatsachen in der Wirklichkeit selbst. So antworten wir auf die Frage „Warum hast du ihm geholfen? “ mit (A 1 ) „Ich habe ihm geholfen, weil er meine Hilfe brauchte,“ nicht mit (A 2 ) „Ich habe ihm geholfen, weil ich glaubte, dass er meine Hilfe brauche.“ Der Psychologist versteht (A 1 ) als ellipti‐ sche Formulierung von (A 2 ). Der Non-Psychologist bestreitet dies und sieht es als einen großen Vorzug seiner Theorie an, dem alltäglichen Sprachgebrauch eher gerecht zu werden. 123 Allein Tatsachen in der Wirklichkeit sind ihm zufolge konstitutiv für unsere motivierenden Gründe. Unsere psychischen Zustände stellen für den Non-Psychologisten lediglich ermöglichende Bedingungen für den Erfolg einer Handlungserklärung dar, ohne jedoch selbst Bestandteil dieser zu sein. 124 Das Vorhandensein einer Überzeugung ist insofern eine notwendige Bedingung für den Erfolg einer Handlungserklärung, bildet jedoch kein Element der Erklärung der Handlung selbst. Die Erklärung als Verweis auf eine Tatsache als motivierenden Grund ist in sich vollständig. Sie bleibt freilich angewiesen auf das Erfülltsein bestimmter ermöglichender Bedingungen wie des epistemi‐ schen Zugangs des Akteurs zu der Tatsache. Wenn der Akteur nichts von der Tatsache wüsste, könnte sie sein Handeln auch nicht erklären. Dennoch erklärt allein die Tatsache sein Handeln. Ein Grundanliegen, das hinter diesen non-psychologistischen Überlegungen steht, besteht in der Annahme, dass es möglich sein muss, dass die motivier‐ enden Gründe, aus denen eine Person de facto handelt, auch die guten Gründe sind, die für das entsprechende Handeln sprechen. Diese normativen Gründe sind jedoch, wie dargelegt wurde, meist keine psychischen Zustände des Ak‐ teurs, sondern Tatsachen in der Wirklichkeit, die für eine bestimmte Handlung bzw. Einstellung sprechen. Folglich könnten auch die motivierenden Gründe, wenn sie auch die guten Gründe sind, die für die Handlung bzw. Einstellung 61 II.4 Motivierende Gründe 125 Vgl. Dancy (2000), 102-104. 126 Dancy (2000), 103. 127 Siehe dazu auch: Mantel (2014; 2016; 2017). 128 Vgl. S. 24-26. 129 Vgl. dazu Wallace (2003 [2006] ), 65 f. sprechen, nicht in psychischen Zuständen bestehen. 125 Jonathan Dancy be‐ zeichnet diese Bedingung, welche verlangt, dass unsere motivierenden Gründe auch die normativen Gründe sein können, die für eine Handlung sprechen, als ‚normative constraint‘ 126 in Bezug auf motivierende Gründe. Obschon Dancy darin zuzustimmen ist, dass normative Gründe nicht generell als in psychischen Zuständen bestehend betrachtet und motivierende Gründe auf eine Art und Weise verstanden werden sollten, die ihre Verbindung mit den normativen Er‐ wägungen, die für eine Handlung bzw. Einstellung sprechen, bewahrt und ver‐ ständlich macht, führt seine allzu wörtliche Interpretation des ‚normative constraint‘ in Bezug auf motivierende Gründe, welche letztlich ein psychologisti‐ sches Verständnis dieser Gründe ausschließt, in die Irre. 127 Daher soll eine In‐ terpretation des ‚normative constraint‘ vorgestellt werden, welche an der Idee festhält, dass es möglich sein muss, aus guten Gründen zu handeln, ohne jedoch eine psychologistische Theorie motivierender Gründe schlichtweg auszu‐ schließen. Ein wichtiges Merkmal der Unterscheidung zwischen normativen und moti‐ vierenden Gründen, welches bei der Betrachtung der verschiedenen Arten von Handlungsgründen deutlich geworden sein dürfte, 128 besteht darin, dass nor‐ mative und motivierende Gründe niemals streng genommen identisch sind. Zwar repräsentieren sie keine zwei verschiedenen Kategorien von Gründen, doch unterscheiden sie sich durch den Kontext, in dem sie vorkommen. So kor‐ respondieren die beiden Arten von Gründen grob mit zwei verschiedenen Fragen, auf welche sie eine Antwort geben. Diese Fragen können zwei unter‐ schiedlichen Perspektiven zugeordnet werden. 129 Die Frage, auf welche moti‐ vierende Gründe eine Antwort geben, bezieht sich typischerweise auf bereits ausgeführte Handlungen und wird aus der Perspektive der dritten Person ge‐ stellt. Man möchte zu einer bestimmten Erklärung der Handlung kommen. Nor‐ mative Gründe lassen sich dagegen einer Frage zuordnen, die sich auf eine erst noch auszuführende Handlung bezieht. Die Perspektive ist daher prospektiv und meist die der ersten Person. In einem Deliberationsprozess versucht ein Akteur herauszufinden, was er tun soll. Die Frage, auf welche normative Gründe eine Antwort geben, ist daher vor allem die Frage des Akteurs selbst. Motivierende Gründe beantworten dagegen die Frage des Zuschauers, der eine Erklärung für eine bereits ausgeführte Handlung möchte. Normative und motivierende 62 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 130 Vgl. Wallace (2003 [2006]), 66 f; siehe auch: Korsgaard (1996), 14-16. 131 Vgl. Wallace (2003 [2 006]), 67 f. Gründe sind also insofern nicht streng identisch, als Handlungserklärung und Deliberation verschiedene Kontexte definieren, in welchen motivierenden und normativen Gründen je spezifische Rollen zukommen. Es scheint daher durchaus plausibel, dass diese beiden Arten von Gründen sich auch systematisch unterscheiden können. Dancy ist darin zuzustimmen, dass normative Gründe nicht generell als in psychischen Zuständen bestehend betrachtet werden sollten. Wenn man jedoch von der erstpersönlichen deliberativen Perspektive des Akteurs abstrahiert und einen drittpersönlichen Standpunkt einnimmt, von dem aus man den Akteur als Objekt der Reflexion betrachtet, rücken die psy‐ chischen Zustände in den Vordergrund, wenn man die Frage nach der Hand‐ lungserklärung stellt, auf welche die motivierenden Gründe eine Antwort geben. Es scheint demnach natürlich, bei der Handlungserklärung nicht die normativen Gründe anzuführen, die für eine Handlung sprechen, sondern die Zustände, welche den Akteur die Handlung im Lichte dieser normativen Gründe haben sehen lassen. Motivierende Gründe lassen folglich eine psychologistische Interpretation zu, während dies bei normativen Gründen nicht möglich ist. 130 Trotz dieses Unterschieds besteht freilich eine wesentliche Verbindung zwi‐ schen normativen und motivierenden Gründen, welche es erlaubt, dass wir auch aus den guten Gründen handeln können, die für eine Handlung sprechen, und damit Dancys ‚normative constraint‘ erfüllt. So können die psychischen Zu‐ stände, welche im Kontext der Handlungserklärung als motivierende Gründe angeführt werden, ihr Ziel der Erklärung der Handlung nur dann erreichen, wenn sie die deliberative Perspektive des Akteurs verständlich machen können. Die Überzeugung, dass etwas für eine bestimmte Handlung spricht, ist die ge‐ nerische Form eines motivierenden Grundes, welcher die Frage nach der Hand‐ lungserklärung beantwortet. Aber ein solcher psychischer Zustand ist über‐ haupt nur deshalb dazu in der Lage, die Rolle eines motivierenden Grundes in der Handlungserklärung zu übernehmen, weil er auf die richtige Art und Weise mit den normativen Erwägungen verbunden ist, welche der Akteur angestellt hat, als er herauszufinden versucht hat, was er tun soll. Aus der deliberativen Perspektive des Akteurs bleiben es freilich die normativ signifikanten Tatsachen in der Wirklichkeit, die für eine Handlung sprechen und bestimmen, was er tun soll. Aufgabe der Handlungserklärung durch motivierende Gründe ist es daher, die psychischen Zustände des Akteurs zu finden, welche verständlich machen, dass er bestimmte Tatsachen von seinem deliberativen Standpunkt aus auf diese Weise sieht. 131 Es ist diese Art der Wahrnehmung einer Situation, welche in der 63 II.4 Motivierende Gründe 132 Vgl. Dancy (2000), 69 f. drittpersönlichen Perspektive der Handlungserklärung angeführt werden kann, um dem Zuschauer den deliberativen Standpunkt des Akteurs und die intenti‐ onale Handlung verständlich zu machen, die daraus hervorging. Dancys ‚nor‐ mative constraint‘ ist dann erfüllt, wenn es gute Gründe für einen Akteur gibt, die für eine bestimmte Handlung sprechen, und der Akteur entsprechend han‐ delt, weil er der Überzeugung ist, dass diese Gründe vorliegen. Motivierende Gründe erklären folglich Handlungen, indem sie diejenigen psychischen Zu‐ stände angeben, welche die normativen Erwägungen des Akteurs in Bezug auf eine bestimmte Handlung verständlich machen. 132 Auf diese Weise kann man dem Grundanliegen der Non-Psychologisten, dass es zumindest manchmal der Fall sein muss, dass die motivierenden Gründe, aus denen eine Person de facto handelt, auch die guten Gründe sind, die für das entsprechende Handeln spre‐ chen, gerecht werden, ohne den Boden psychologistischer Theorien motivier‐ ender Gründe verlassen zu müssen, wie sie im vorangehenden Kapitel entfaltet worden sind und bei der Analyse der stoischen Motivationstheorie wieder auf‐ tauchen werden. Bevor jedoch die stoische Motivationstheorie analysiert werden kann, muss noch ein zentrales Problem der gegenwärtigen Diskussion über die Frage der moralischen Motivation diskutiert werden: Wie kann das, was wir als moralisch richtig erkannt haben und uns einen guten Grund zum entsprechenden Handeln gibt, auch tatsächlich für ein solches Handeln motivational wirksam werden? II.5 Die motivationale Kraft der Moral: Internalismus vs. Externalismus In unserem Alltag gehen wir davon aus, dass moralische Urteile eine praktische Dimension haben, insofern sie eine wichtige Rolle bei der Regelung unseres Verhaltens übernehmen. Wenn jemand urteilt, dass für ihn die moralische Pflicht bestehe, etwas zu tun, so nehmen wir an, dass er auch in irgendeiner Form motiviert sein wird, entsprechend zu handeln. Wenn ich also urteile, dass es richtig sei, das Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben, dann nehmen wir an, dass ich auch motiviert bin, das Portemonnaie seinem Besitzer zurück‐ zugeben, und es tun werde, solange keine anderen Gesichtspunkte in eine an‐ dere Richtung weisen oder ein Fall von Akrasie vorliegt. Damit moralische Ur‐ teile jedoch diese Funktion übernehmen können, ist es nötig, dass ihnen motivationale Kraft zukommt. Es ist nun jedoch strittig, wie sich diese motiva‐ 64 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 133 Für eine Übersicht siehe: Halbig (2007, 18-28; 2016); van Roojen (2015), 55-59. 134 Vgl. Darwall (1983), 54. 135 Vgl. Brink (1989), 40. 136 Die Rede von Internalismus und Externalismus in diesem Sinne findet sich erstmals bei Frankena (1958); eine gute Einführung in die Debatte um den motivationstheoretischen Internalismus und Externalismus bieten: Björnsson et al. (2015); Tiberius (2015), 79-83; und Faraci/ McPherson (2018). tionale Kraft erklären lässt, welche wir moralischen Urteilen offenkundig zu‐ schreiben. Besitzt das Urteil selbst diese motivationale Kraft - ist also die Mo‐ tivation dem Urteil selbst inhärent? Oder wird die motivationale Kraft des moralischen Urteils auf andere Weise sichergestellt? Möglichweise durch einen unabhängigen Wunsch, das moralisch Richtige zu tun? Anhand der Art der Er‐ klärung, wie die motivationale Kraft und damit die praktische Dimension mo‐ ralischer Urteile sichergestellt wird, lassen sich zwei Positionen festmachen. Der motivationstheoretische Internalismus nimmt an, dass die motivationale Kraft dem moralischen Urteil inhäriert und eine notwendige bzw. intrinsische Ver‐ bindung zwischen dem moralischen Urteil und der Handlungsmotivation be‐ steht. Der Externalismus bestreitet diese These und behauptet, dass diese Ver‐ bindung nur kontingenterweise bestehe, die Motivation jedoch aufgrund eines dem Urteil externen Elements zuverlässig dem moralischen Urteil folge. Für den Externalisten kann die motivierende Kraft unserer moralischen Urteile nur lokal, d. h. basierend auf der individuellen psychologischen Beschaffenheit des urteilenden Subjekts zu einer bestimmten Zeit erklärt werden. Bevor diese Thesen im Einzelnen näher geprüft werden, sind einige Anmer‐ kungen zur Terminologie nötig. Die Opposition von Internalismus und Exter‐ nalimus wird gegenwärtig in der Philosophie auf vielerlei Weise verwendet. 133 Eine Verwendungsweise hatten wir bereits bei der Unterscheidung von internen und externen Gründen kennengelernt. Dort ging es um die notwendigen Be‐ dingungen, die für die Existenz von normativen Gründen erfüllt sein müssen. Jetzt geht es hingegen beim motivationstheoretischen Internalismus - auch be‐ kannt als ‚moral judgement internalism‘ 134 bzw. ‚appraiser internalism‘ 135 - bzw. dem motivationstheoretischen Externalismus um die Art der Verbindung zwi‐ schen einem moralischen Urteil und einer entsprechenden Motivation, genau‐ erhin um den modalen Status dieser Verbindung. 136 Des Weiteren ist beim mo‐ tivationstheoretischen Internalismus zwischen einer starken und einer schwachen Form zu unterscheiden. Der schwachen Form zufolge kann die Mo‐ tivation, die mit dem moralischen Urteil einhergeht, durch andere konkurrie‐ rende Motivationen überwogen werden, d. h. die Motivation ist pro tanto; bei der starken Version ist dies nicht möglich, so dass die Motivation aus dem mo‐ 65 II.5 Die motivationale Kraft der Moral: Internalismus vs. Externalismus 137 Zu dieser Terminologie siehe: Shafer-Landau (2003), 143. ralischen Urteil immer ausschlaggebend ist, d. h. die Motivation ist pro toto. Da die starke Version das Phänomen der Akrasie unmöglich macht, besitzt sie nur eine geringe Plausibilität. Der hier diskutierte motivationstheoretische Internalismus ist noch von zwei anderen internalistischen Positionen abzugrenzen, die andere Phänomene zu beschreiben suchen. So behauptet der sog. ‚reasons judgement internalism‘ 137 , dass es eine notwendige Verbindung zwischen unseren moralischen Urteilen und normativen Gründen gibt. Wenn also jemand urteilt, dass eine Handlung richtig ist, hat er einen guten Grund, diese Handlung auszuführen. Auch hier kann man zwischen einer starken und einer schwachen Variante des Internalismus unter‐ scheiden, je nachdem, ob der normative Grund ein pro tanto oder ein pro toto Grund ist. Auch in diesem Fall genießt die starke Version eine geringe Plausi‐ bilität, da sie die Möglichkeit falscher moralischer Urteile ausschließt. Schließ‐ lich ist der motivationstheoretische Internalismus auch von einem hybriden In‐ ternalismus abzugrenzen, der behauptet, dass eine Person, die urteilt, dass eine Handlung richtig ist, einen Grund hat, motiviert zu sein, die Handlung auszu‐ führen. Auch dieser hybride Internalismus verfügt wiederum über eine starke und eine schwache Spielart, je nachdem, ob der Grund zur Motivation ein pro toto oder ein pro tanto Grund ist. Auch hier ist die schwache Variante die plau‐ siblere, da jemand, der ein falsches moralisches Urteil fällt, keinen pro toto Grund hat, motiviert zu sein, entsprechend zu handeln, sondern, wenn überhaupt, nur einen pro tanto Grund, der durch andere Erwägungen überwogen werden kann. Im Folgenden soll nun der motivationstheoretische Internalismus einer eingeh‐ enden Untersuchung unterzogen werden, der, um es nochmals deutlich zu ma‐ chen, die Existenz einer notwendigen bzw. intrinsischen Verbindung zwischen moralischem Urteil und einer entsprechenden Handlungsmotivation behauptet. II.5. 1 Der motivationstheoretische Internalismus II.5. 1. 1 Die Funktion des motivationstheoretischen Internalismus Der motivationstheoretische Internalismus wird für gewöhnlich als eine Bedin‐ gung für das Vorhandensein eines moralischen Urteils verstanden. D. h. der In‐ ternalismus ist eine begriffliche Wahrheit und ist eine Aussage a priori. Das Vorhandensein einer Handlungsmotivation wird somit diesem Verständnis des motivationstheoretischen Internalismus zufolge zu einer notwendigen und bis‐ weilen auch hinreichenden Bedingung für das Vorliegen eines moralischen Ur‐ teils. Fällt also jemand ein vermeintliches moralisches Urteil, ohne zu einem 66 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 138 Vgl. zum Ursprung dieses Arguments: Hume (1888 [ 2 1978]), 457; Es ist allerdings unklar, ob Hume wirklich dieses Argument vertreten hat: vgl. Persson (1997); Radcliffe (2006); Sayre-McCord (2006). Ein ähnliches Argument, allerdings gegen den moralischen Ob‐ jektivismus, entwickelt Mackie (1977), 40: vgl. dazu Clark (2009). 139 Vgl. zu dieser Strategie: Nagel (1970); McDowell (1978 [1998]; 1979 [1998]); Dancy (1993), 1-59; Garrard/ McNaughton (1998); Scanlon (1998), 17-77; Pendlebury (2002); van Roojen (2002); Shafer-Landau (2003), 119-141; Tenenbaum (2006); Bromwich (2010). 140 Für eine solche Position vgl.: Tresan (2006; 2009a; 2009b; 2015); ähnlich: Jackson (1998), 161; Radcliffe (2006); Sturgeon (2007). 141 Für eine solche Position vgl.: Railton (1986); Sturgeon (1988); Brink (1989), 37-80; Mele (1996); Svavarsdóttir (1999); Roskies (2003); Miller (2008). entsprechenden Handeln zumindest pro tanto motiviert zu sein, hat er nicht wirklich ein moralisches Urteil gefällt, sondern seine Aussage bzw. sein mentaler Zustand des ‚Urteilens‘ erfüllt irgendeine andere Funktion. Aufgrund der notwendigen motivationalen Kraft des moralischen Urteils, die diesem dem Internalismus zufolge inhäriert, wurde der Internalismus häufig in Argumenten für den Nonkognitivismus angeführt. Wenn nämlich das morali‐ sche Urteil nichts anderes als der Ausdruck unserer Emotionen, Präferenzen oder Dispositionen zu Präferenzen ist, lässt sich die motivationale Kraft des Ur‐ teils leicht erklären, da diese mentalen Zustände die entsprechende Passensrichtung haben, um eine Handlung zu motivieren. 138 Dieses Argument basiert freilich auf der Wahrheit der Humeanischen Motivationstheorie, welche, wie oben gezeigt, nicht bewiesen werden kann und starker Kritik ausgesetzt ist. Auch moralische Kognitivisten können dem Internalismus jedoch durchaus Rechnung tragen, indem sie beispielsweise bestreiten, dass Überzeugungen mo‐ tivational wirkungslos sind, und argumentieren, dass evaluative Überzeu‐ gungen - z.B. i.S. von besires - durchaus entweder selbst motivieren oder mo‐ tivierende mentale Zustände hervorbringen können. 139 Alternativ können sie auch versuchen zu zeigen, dass der Kognitivismus mit dem Internalismus ver‐ einbar ist, obwohl Überzeugungen selbst motivational wirkungslos sind. 140 Trotz dieser Möglichkeiten, den Internalismus mit dem Kognitivismus zu versöhnen, haben zahlreiche Kognitivisten eine in motivationstheoretischer Hinsicht externalistische Position vertreten und die notwendige bzw. intrinsi‐ sche Verbindung von moralischem Urteil und Handlungsmotivation bestritten, um ihre kognitivistischen Grundüberzeugungen zu wahren. Oftmals ist eine solche Strategie durch eine Verteidigung der Humeanischen Motivationstheorie motiviert. 141 Bevor wir uns jedoch diese externalistische Position sowie die Mo‐ tive und Gründe, die diese Position motivieren bzw. für sie sprechen, näher an‐ sehen, sollen zunächst die klassischen Argumente betrachtet werden, die für den Internalismus vorgebracht wurden. 67 II.5 Die motivationale Kraft der Moral: Internalismus vs. Externalismus 142 Vgl. Stevenson (1937), 16. 143 Vgl. Hare (1965), 55; ähnlich: Falk (1945), 141. 144 Vgl. ein ähnliches Beispiel in Smith (1994), 60. II.5. 1. 2 Argumente für den motivationstheoretischen Internalismus Zunächst einmal ist der Internalismus besser als der Externalismus dazu in der Lage, unsere alltägliche moralische Praxis zu erklären. Wir nehmen an, dass moralische Urteile unsere Handlungen motivieren und eine praktische Rolle in unserer Deliberation spielen. Der Internalismus bietet eine einfache Erklärung zentraler Eigenschaften unseres moralischen Denkens und Sprechens. Charles Leslie Stevenson wies beispielsweise darauf hin, dass eine Art ‚Magnetismus des Guten‘ existiere, welchem zufolge eine Person, die eine Handlung als gut erk‐ enne, ipso facto eine stärkere Tendenz zu dieser entwickeln müsse als sie es getan hätte, wenn sie dies nicht erkannt hätte. 142 Richard Mervyn Hare argumentierte, dass die verbreitete Akzeptanz des klassischen moralphilosophischen Grund‐ satzes, dass ‚Sollen‘ ‚Können‘ voraussetze, am besten dadurch erklärt werden könne, dass die Akzeptanz von Sollens-Urteilen die Verpflichtung zu entspre‐ chendem Handeln impliziere: Solche Verpflichtungen ergäben nur dann einen Sinn, wenn die in Frage stehenden Handlungen auch wirklich ausgeführt werden könnten. 143 Hinzu kommt, dass wir, wenn jemand ein moralisches Urteil fällt, ohne mo‐ tiviert zu sein, dem Urteil entsprechend zu handeln, an der Aufrichtigkeit des Urteils zweifeln und annehmen, dass das Urteil bloße Heuchelei war. Wenn ich urteile, dass es richtig ist, das Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben, zugleich jedoch in keiner Weise motiviert bin, entsprechend zu handeln, und womöglich sage: „Ich weiß, dass ich das Portemonnaie seinem Besitzer zurück‐ geben sollte. Aber welchen Grund habe ich, das zu tun? “, wird man zurecht an der Aufrichtigkeit meines Urteils und vielleicht auch an meiner geistigen Ge‐ sundheit zweifeln. Die bloße Überzeugung, dass ich das Portemonnaie zurück‐ geben sollte, scheint also auszureichen, mich zu einem entsprechenden Handeln zu motivieren. Die Verwunderung ist insofern verständlich, als mit der im Urteil ausgedrückten Überzeugung alle Bedingungen erfüllt sind, mich zum Handeln zu motivieren. Man erwartet zu Recht, dass ich, wenn ich das Urteil fälle, dass es richtig ist, dem Besitzer das Portemonnaie zurückzugeben, entsprechend zu handeln motiviert bin und handeln werde, solange keine anderen Gesichts‐ punkte in eine andere Richtung weisen oder ein Fall von Akrasie vorliegt. 144 Die Überzeugung, dass ich etwas tun sollte, scheint also eine Motivation zu ent‐ sprechendem Handeln mit sich zu bringen. Das ist genau, was der Internalismus behauptet und durch die notwendige bzw. intrinsische Verbindung zwischen moralischem Urteil und einer entsprechenden Handlungsmotivation erklärt. 68 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 145 Vgl. Smith (1994), 71. 146 Vgl. zum Amoralisten: Brink (1986), 30. Schließlich vermag der Internalismus auch, eine überzeugende Erklärung der Kovarianz von moralischem Urteil und Handlungsmotivation zu geben. Wir nehmen nämlich an und beobachten auch, dass ein verändertes moralisches Ur‐ teil mit einer entsprechend veränderten Handlungsmotivation einhergeht. Auf dieser unterstellten Kovarianz gründet auch unsere Praxis moralischen Argu‐ mentierens. Wir nehmen nämlich an, dass es ausreiche, jemanden von einer moralischen Tatsache zu überzeugen, um sein Verhalten zu ändern; über diese Überzeugungsarbeit hinaus sei nichts nötig, damit der andere sein Verhalten entsprechend ändere. Wenn jemand überzeugt ist, dass sich die Liberalen für Steuererleichterungen für Reiche einsetzen, und er Steuererleichterungen für Reiche für gut hält und deswegen motiviert ist, die Liberalen zu wählen, es mir jedoch gelingt, ihn davon zu überzeugen, dass Steuererleichterungen für Reiche fundamental falsch sind und soziale Gerechtigkeit gut ist sowie dass die Sozialdemokraten die wahren Verteidiger sozialer Gerechtigkeit sind, dann, nehmen wir an, wird er auch motiviert sein, die Sozialdemokraten zu wählen. 145 Wir nehmen also an, dass eine neue Motivation das neu geformte Urteil begleitet. Die Frage ist, wie man die Verlässlichkeit dieser Kovarianz von moralischem Urteil und entsprechender Handlungsmotivation erklären kann. Der Internalist hat eine einfache Erklärung für dieses Phänomen, da er ja eine notwendige bzw. intrinsische Verbindung zwischen den beiden Komponenten annimmt; verän‐ dert sich die eine, hat dies notwendig die Veränderung der anderen zur Folge. Der Externalist bestreitet diese Kovarianz keineswegs, doch muss er eine andere Erklärung dafür finden. II.5. 1. 3 Argumente gegen den motivationstheoretischen Internalismus Gegen diese klassischen Argumenten für den motivationstheoretischen Inter‐ nalismus wurden von externalistischer Seite immer wieder Einwände erhoben und Beispiele vorgebracht, die eher für den Externalismus in der Motivations‐ theorie sprechen. Versteht man den Internalismus, wie oben vorgeschlagen, als eine begriffliche Wahrheit, genügt es für den Externalisten, die bloße Möglich‐ keit eines moralischen Urteils ohne korrespondierende Handlungsmotivation aufzuzeigen, um den Internalismus zu widerlegen. Als klassische Figur, um diese Möglichkeit zu illustrieren, diente den Externalisten dabei der sog. ‚Amora‐ list‘. 146 Ein Amoralist fällt aufrichtige moralische Urteile, ohne in irgendeiner Art und Weise motiviert zu sein, diesen Urteilen entsprechend zu handeln. Er bezieht sich mit seinen moralischen Begriffen auf dieselben Tatsachen wie wir, 69 II.5 Die motivationale Kraft der Moral: Internalismus vs. Externalismus 147 Vgl. Stocker (1979); Halbig (2007), 367 f. 148 Vgl. Shafer-Landau (2003), 145. 149 Vgl. Railton (1986); Brink (1989); Schaber (1997); Svavarsdóttir (1999); Zangwill (2003). wenn wir moralische Begriffe verwenden. Daher dürfte seine Verwendung mo‐ ralischer Begriffe auf dieselbe Weise verlässlich durch moralische Tatsachen geleitet sein wie unsere Verwendung dieser Begriffe. Allerdings unterscheidet sich der Amoralist darin von uns, dass er überhaupt nicht motiviert ist, das als moralisch gefordert Erkannte zu tun. Er fällt also aufrichtige moralische Urteile, ohne motiviert zu sein, diesen Urteilen entsprechend zu handeln. Ähnlich wie der Amoralist wurde auch das Beispiel des Depressiven gegen die Wahrheit des Internalismus ins Feld geführt. 147 Seine moralischen Urteile mögen dieselben wie vor seiner depressiven Episode bleiben, doch hat er während seiner Depression keinerlei Motivation, seinen moralischen Urteilen entsprechend zu handeln. Die bloße Möglichkeit eines solchen Amoralisten bzw. Depressiven erweist daher den Internalismus als falsch. Dabei muss der Amoralist bzw. Depressive nicht einmal als einer vorgestellt werden, der systematisch von allen moralischen Ur‐ teilen in motivationaler Hinsicht unberührt bleibt. Um den Internalismus als inadäquates Erklärungsmodell moralischer Moti‐ vation zu erweisen, genügt es für den Externalisten, die bloße Möglichkeit der Existenz eines Akteurs aufzuzeigen, der zu einer einzigen Begebenheit, nicht motiviert ist, seinen gegenwärtigen moralischen Urteilen entsprechend zu han‐ deln. 148 Es scheint für den Externalisten begrifflich möglich zu sein, dass eine Person sich ihrer Urteile über das moralisch richtige Verhalten durchaus be‐ wusst ist und aufrichtig urteilt, dass eine bestimmte Handlung moralisch richtig ist, aber in keinerlei Weise motiviert ist, entsprechend zu handeln. Insofern wir uns eine solche Person, einen Amoralisten, vorstellen können, ist sie auch be‐ grifflich möglich, weshalb der Internalismus falsch, der Externalismus wahr ist. Über diese Kritik am motivationstheoretischen Internalismus hinaus muss der Externalist selbst auch eine konstruktive Aufgabe erfüllen: Er muss die Ko‐ varianz von moralischem Urteil und Handlungsmotivation erklären. Der Exter‐ nalist weist den begrifflichen Zusammenhang von moralischem Urteil und Handlungsmotivation zurück. Er kann jedoch annehmen, dass die Verbindung zwischen beiden eine empirische oder metaphysische ist und auf zahlreichen psychologischen, pädagogischen und sozialen Voraussetzungen beruht. Zahl‐ reiche Externalisten nehmen an, dass das moralische Urteil, um motivational wirksam zu werden, durch ein von ihm unabhängiges konatives Element er‐ gänzt werden muss, über welches ein Akteur aufgrund seiner kontingenten psychologischen Verfasstheit, seiner genossenen Moralerziehung oder des so‐ zialen Umfeldes, in dem er lebt, verfügt. 149 Diese vermittelnde Rolle könnte der 70 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte Wunsch übernehmen, das moralisch Richtige zu tun. Dadurch kann der Exter‐ nalist die verlässliche Kovarianz von moralischem Urteil und Motivation er‐ klären. Der allgemeine Wunsch, das moralisch Richtige zu tun, bringt zusammen mit dem Urteil, dass φ-en das moralisch Richtige ist, die Motivation zu φ-en hervor. Eine Urteilsänderung wie die, dass nicht φ-en, sondern ψ-en das mora‐ lisch Richtige ist, bringt dann zusammen mit dem allgemeinen Wunsch, das moralisch Richtige zu tun, die neue Motivation zu ψ-en hervor, während die Motivation zu φ-en verschwindet. Diese Theorie kann auch an unserem obigen Beispiel illustriert werden. Das moralische Urteil, dass Steuererleichterungen für Reiche moralisch richtig sind, bringt zusammen mit der Überzeugung, dass die Liberalen Steuererleichte‐ rungen für Reiche durchsetzen wollen und dass die Liberalen zu wählen, ein Mittel ist, dies zu erreichen, und dem Wunsch, das moralisch Richtige zu tun, die Motivation hervor, die Liberalen zu wählen. Ändert die Person nun ihr mo‐ ralisches Urteil und erkennt, dass Steuererleichterungen für Reiche moralisch falsch sind und soziale Gerechtigkeit moralisch richtig ist, bringt dieses Urteil zusammen mit der Überzeugung, dass die Sozialdemokraten die wahren Ver‐ teidiger sozialer Gerechtigkeit sind und dass die Wahl der Sozialdemokraten ein geeignetes Mittel ist, diese zu befördern, und dem allgemeinen Wunsch, das moralisch Richtige zu tun, die Motivation hervor, die Sozialdemokraten zu wählen. Durch die Ergänzung des moralischen Urteils durch den allgemeinen Wunsch, das moralisch Richtige zu tun, gelingt es dem Externalisten also si‐ cherzustellen, dass die Kovarianz zwischen moralischem Urteil und Handlungs‐ motivation i. d. R. verlässlich ist, ohne jedoch ausnahmslos zu gelten, was dem Phänomen des Amoralisten Rechnung trägt. Dem Amoralisten fehlt der allge‐ meine Wunsch, das moralisch Richtige zu tun. Er fällt zwar aufrichtige morali‐ sche Urteile, doch können diese ohne den allgemeinen Wunsch, das moralisch Richtige zu tun, nicht motivational wirksam werden. II.5. 1. 4 Die Antwort des motivationstheoretischen Internalismus Wie antwortet nun der Internalist auf die vorgebrachte Kritik an seiner eigenen Position? Und wie beurteilt er die Erklärung der Kovarianz von moralischem Urteil und Motivation, welche der Externalist anbietet? In Bezug auf die gegen seine Theorie vorgebrachten Gegenbeispiele bieten sich dem Internalisten zwei Möglichkeiten, auf sie zu antworten: Er kann erstens bestreiten, dass in solchen Fällen überhaupt ein moralisches Urteil vorliegt; zweitens kann er argumen‐ tieren, dass allem Anschein zum Trotz in diesen Fällen tatsächlich eine Hand‐ lungsmotivation vorliegt, diese nur nicht wahrgenommen wird. So könnte er 71 II.5 Die motivationale Kraft der Moral: Internalismus vs. Externalismus 150 Vgl. dazu Halbig (2007), 373. 151 Vgl. Smith (1994), 68-70. 152 Vgl. Peacocke (1985), 29 f und 37 f. hinsichtlich des Depressiven versuchen zu zeigen, dass dieser nicht nur keine Motivation erkennen lasse, seinen moralischen Urteilen entsprechend zu han‐ deln, sondern dass er überhaupt keine moralischen Urteile fälle. In diesem Falle wäre das Ausbleiben der Handlungsmotivation überhaupt kein Problem, da ja auch kein moralisches Urteil vorliegt. Die Wirklichkeit stellt sich für den De‐ pressiven als grau dar, so dass überhaupt keine positiven Werte hervortreten, welche seinen Willen derart engagieren könnten, dass er zum Handeln motiviert wäre. 150 Die Vorstellung eines Amoralisten ist dem Internalisten zufolge begrifflich inkonsistent und wird von ihm daher aus begrifflichen Gründen abgelehnt. Der Amoralist, argumentiert der Internalist, versuche zwar, moralische Urteile zu fällen, scheitere jedoch - möglicherweise ohne dass ihm dies bewusst sein mag. Michael Smith versucht, dies anhand einer Analogie zu verdeutlichen: 151 Stellen wir uns jemanden vor, der von Geburt an blind ist, jedoch eine verlässliche Me‐ thode für die Verwendung von Farbtermini besitzt. Eine solche Person ist gewiss gewandt im Umgang mit Farbtermini und kann in vielerlei Hinsicht an der ge‐ wöhnlichen Farbzuschreibungspraxis teilnehmen. Denn so, wie sie Farbtermini verwendet, weisen diese dieselbe Extension auf wie unsere Farbtermini. Au‐ ßerdem sind die Eigenschaften eines Objekts, welche ihre Verwendung dieser Termini erklären, dieselben Eigenschaften, die unsere Verwendung von Farb‐ termini erklären. Trotz der Gewandtheit im Umgang mit Farbtermini besitze eine solche blinde Person jedoch keine Farbbegriffe (concepts), weil die entspre‐ chende visuelle Erfahrung von Farben zumindest teilweise konstitutiv für den Besitz von Farbbegriffen sei. 152 Daher könne eine solche blinde Person trotz ihrer Gewandtheit im Umgang mit Farbtermini auch keine echten Farburteile fällen. Sie versucht zwar, Farburteile zu fällen, aber weil sie keine Farbbegriffe besitzt, scheitert sie. Sie verwendet Farbtermini nur in Anführungszeichen: Sie sagt, dass der Himmel ‚blau‘ bzw. Gras ‚grün‘ sei. Analog verhalte es sich mit dem Amoralisten. Er besitze keine moralischen Begriffe, da für ihren Besitz zumin‐ dest teilweise eine entsprechende Handlungsmotivation konstitutiv sei. Da er diese Begriffe nicht besitze, fälle er auch keine moralischen Urteile. Jemand fälle nur dann moralische Urteile, wenn der mentale Zustand (z. B. eine Überzeu‐ gung), der durch das moralische Urteil ausgedrückt werde, von einer entsprech‐ enden Motivation begleitet werde. Da dies beim Amoralisten nicht der Fall sei, fälle er auch kein moralisches Urteil. Wenn er jedoch kein moralisches Urteil fälle, sei auch die fehlende Handlungsmotivation kein Problem, da der Interna‐ 72 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 153 Vgl. Hare (1952, 124-126 und 163-165; 1965, 100-102). 154 Vgl. Halbig (2007), 374 f. list nur eine intrinsische bzw. notwendige Verbindung zwischen moralischen Urteilen und einer Handlungsmotivation annehme, nicht aber zwischen an‐ deren Urteilen und einer Handlungsmotivation. Andere Internalisten haben versucht, das Problem des Amoralisten dadurch zu lösen, dass sie zeigten, dass dieser mit der Verwendung moralischer Urteile eine andere Absicht verfolge als die, seine moralischen Wertungen auszudrü‐ cken. Möglicherweise ist er ein Heuchler, der nur vorgibt, etwas für moralisch richtig zu halten, es in Wahrheit aber gar nicht tut. In diesem Fall hätte der Amoralist sich die moralischen Urteile nicht zu eigen gemacht, so dass auch hier die fehlende Motivation kein Problem darstellt. Vielleicht verwendet er, wie Ri‐ chard Mervyn Hare meinte, seine moralischen Urteile als Zitate allgemein ge‐ teilter Moralvorstellungen, von denen er sich jedoch distanziert. Er redet folglich über moralische Urteile, fällt selbst jedoch keine. Auch er verwendet daher mo‐ ralische Termini in Anführungszeichen: „Der Einsatz für soziale Gerechtigkeit ist ‚richtig‘.“; „Es ist ‚falsch‘, Tiere zu quälen.“; „Du hast dich ‚tapfer‘ verhalten.“. Er bringt mit diesen moralischen Termini lediglich zum Ausdruck, dass die Ge‐ sellschaft, in der er lebt bzw. auf die er sich bezieht, Handlungen bzw. Zustände so bewertet und diese Moralvorstellungen besitzt. Er selbst grenzt sich jedoch davon ab. 153 Es ist freilich auch möglich, dass der Amoralist seine moralischen Urteile nur simuliert, diese simulierten Urteile jedoch gar nicht teilt. Dies kann er durch Ironie oder Sarkasmus zum Ausdruck bringen, wodurch das Urteil in seiner Geltung suspendiert wird und daher auch keine Motivation mit sich bringt. 154 Ein weiterer Fall, bei dem das Fehlen einer entsprechenden Handlungsmoti‐ vation für den Internalisten kein Problem darstellt, besteht dann, wenn jemand sehr allgemeine ‚moralische‘ Urteile fällt: z. B. „Ich soll den Armen helfen.“; „Es ist richtig, den Klimawandel zu bekämpfen.“ Die fehlende Handlungsmotivation stellt für den Internalisten in solchen Fällen deswegen kein Problem dar, weil die Urteile zu unspezifisch und damit unterdeterminiert sind. Man kann immer nur zu einer konkreten Handlung motiviert werden. Dies ist im Falle der oben angeführten Urteile nicht der Fall, da es jeweils viele unterschiedliche Möglich‐ keiten gibt, sie zu realisieren. Im Falle der Unterstützung von Armen kann ich beispielsweise Geld spenden, Spenden sammeln, eine Hilfsorganisation gründen, mich ehrenamtlich engagieren etc. Solange ich nicht näher spezifi‐ ziere, was genau ich tun soll, kann ich auch nicht motiviert sein, den Armen zu helfen. Das Urteil, dass ich den Armen helfen soll, ist kein wirklich moralisches 73 II.5 Die motivationale Kraft der Moral: Internalismus vs. Externalismus 155 Zum praktischen Sollen siehe: Moore (1903), 149; Broome (2013), 40. 156 Vgl. Smith (1994), 71-76. Urteil, da das ‚Sollen‘ im Urteil „Ich soll den Armen helfen.“ kein praktisches Sollen 155 ist. Das ‚Sollen‘ kann nicht unmittelbar praktisch werden, da ich nicht weiß, welche Handlung ich genau ausführen soll. Erst wenn die Handlung näher spezifiziert und hinreichend determiniert ist, kann man von einem praktischen Sollen und damit von einem genuin moralischen Urteil sprechen, insofern wir annehmen, dass unsere moralischen Urteile eine praktische Dimension haben, da sie, wie oben erwähnt, eine wichtige Rolle bei der Regelung unseres Verhal‐ tens übernehmen. Ist ein Urteil jedoch kein genuin moralisches Urteil, stellt die fehlende Handlungsmotivation kein Problem dar, da nicht alle unsere Urteile eine praktische Dimension besitzen. Die Möglichkeit des Amoralisten ist also keineswegs so einfach aufzuweisen, wie der Externalist meint. Allerdings hat der Internalist auch noch nicht bewiesen, dass er nicht existieren kann. Der Internalismus wie der Externalismus basieren in Bezug auf den Amoralisten auf gegensätzlichen Intuitionen. In dieser Pattsituation ist ein unabhängiges Argu‐ ment nötig, welches eine der beiden Thesen als falsch erweist. Internalisten haben versucht, ein solches Argument zu entwickeln. Michael Smiths Fetischismus-Vorwurf  156 gegen den Externalismus stellt ein solches unabhängiges Argument dar. Dieser Vorwurf richtet sich gegen die ex‐ ternalistische Erklärung der Verlässlichkeit der Kovarianz zwischen moral‐ ischem Urteil und Handlungsmotivation. Wie oben dargestellt, erklärt der Ex‐ ternalist diese Kovarianz mit Hilfe des Wunsches, das moralisch Richtige zu tun, wobei dies de dicto (das Richtige an sich), nicht de re (die einzelnen, konkreten als richtig angesehenen Handlungen) verstanden wird. Die aktuelle Motivation ist dabei jeweils derivativ, insofern sie vom nicht-derivativen Wunsch, das mo‐ ralisch Richtige zu tun, abgeleitet ist. Die Motivationen, einzelne richtige Hand‐ lungen auszuführen - d. h. die Motivation, das Richtige de re zu tun -, leiten sich von der höheren Motivation ab, das Richtige an sich - d. h. de dicto - zu tun. Dies verzeichnet jedoch dem Internalisten zufolge das Bild des tugendhaften Akteurs. Wie oben dargelegt wurde, kümmert sich der tugendhafte Akteur dem Externalisten zufolge um soziale Gerechtigkeit, weil er den Wunsch hat, das moralisch Richtige zu tun. Der tugendhafte Akteur möchte das moralisch Rich‐ tige tun, das in der konkreten Situation, in der Verwirklichung sozialer Gerech‐ tigkeit besteht. Seine Sorge um soziale Gerechtigkeit ist also eine derivative Motivation, die vom nicht-derivativen Wunsch, das moralisch Richtige zu tun, abgeleitet ist. Dies entspricht jedoch nicht unserem Bild vom tugendhaften Menschen, dem zufolge dieser ein nicht-derivatives Interesse an sozialer Ge‐ 74 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 157 Ähnlich stellt auch Rotter (1996b), 182 fest: „Es gibt keine Entscheidung zu einem völlig abstrakten Guten, sondern immer nur Entscheidungen, die auch zu konkreten Werten in Beziehung stehen.“ 158 Vgl. dazu Williams (1976 [1981]). 159 Vgl. Smith (1994), 71-76. rechtigkeit hat. Ebenso sorgt er sich unmittelbar um Wahrhaftigkeit oder das Wohlergehen seiner Mitmenschen, nicht nur um eine einzige Sache, nämlich das zu tun, was er für moralisch richtig hält, wo dies de dicto und nicht de re verstanden wird. Der Tugendhafte, so nehmen wir an, wird unmittelbar durch diese Dinge motiviert, zu ihrer Realisierung beizutragen, nicht erst in abgelei‐ teter Form, weil er zudem den übergeordneten Wunsch hat, das moralisch Rich‐ tige zu tun. 157 Werte wie Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit oder das allgemeine Wohlergehen müssen als solche angestrebt werden und dürfen nicht in einem bloß instrumentellen Verhältnis zur Moral selbst stehen. Der Externalist erhebe so einen Fetisch oder ein moralisches Laster zur einzigen moralischen Tugend. Jemand, der durch das Gute oder Richtige an sich - also de dicto - motiviert wird, scheint zu sehr damit beschäftigt zu sein, ein Ideal in die Höhe zu heben und sich darauf zu konzentrieren, anstatt sich um die Dinge zu kümmern, die dieses Ideal exemplifizieren. Der Tugendhafte habe im externalistischen Erklärungsmodell ‚einen Ge‐ danken zu viel‘ 158 . Er ist laut Smith von den Zielen, welche die Moral eigentlich verfolgt, entfremdet, so dass der Externalist letztlich den verlässlichen Zusam‐ menhang von moralischem Urteil und Motivation nur um den Preis herstellen könne, den Geist der Moral aufzugeben. Er verfälsche das Phänomen der mo‐ ralischen Motivation. Es sei nämlich konstitutiv für den Tugendhaften, sich un‐ mittelbar um die Dinge zu kümmern, welche er für moralisch richtig hält, wo dies de re, nicht de dicto verstanden werde - also um Gerechtigkeit, Wohler‐ gehen, Wahrhaftigkeit etc. Diese Lesart sei allerdings für den Externalisten un‐ möglich, da dann der Wunsch, das moralisch Richtige zu tun, seine explanato‐ rische Aufgabe hinsichtlich der verlässlichen Kovarianz von moralischem Urteil und Handlungsmotivation nicht mehr erfüllen könne. 159 Es dürfte etwas seltsam erscheinen, wenn man in einer konkreten Situation urteilte, dass es richtig sei, das ertrinkende Kind zu retten, und man von seiner Sorge um die Richtigkeit an sich motiviert wäre, welche Motivation dann zu einer spezifischeren Motivation führte, das Kind zu retten. Man sollte sich stattdessen eher um das Kind selbst kümmern, dem zu helfen man für richtig befunden hat, nicht um die Richtigkeit der eigenen Handlung. Der Externalist verzeichnet damit unser Bild vom tu‐ gendhaften Menschen und seiner Handlungsmotivation. Mit diesem unabhän‐ 75 II.5 Die motivationale Kraft der Moral: Internalismus vs. Externalismus 160 Zur Kritik am Fetischismus-Vorwurf siehe: Miller (1996); Brink (1997); Copp (1997); Lillehammer (1997); Shafer-Landau (1998); Cuneo (1999); Svavarsdóttir (1999); Dreier (2000); Olson (2002); Zangwill (2003); Halbig (2007), 380-386; Strandberg (2007); Tenen‐ baum (2011); Mabrito (2013); Kauppinen (2015); für eine Antwort auf einige dieser Ein‐ wände siehe: Smith (1997). 161 Die folgende Taxonomie des Internalismus orientiert sich an Björnsson et al. (2015), die eine umfassendere und differenziertere Unterscheidung der verschiedenen Arten des Internalismus bieten, die jedoch für die folgende Untersuchung zu speziell ist. gigen Argument hat der Internalist einen starken Einwand gegen den Externa‐ lismus formuliert, welchen dieser nicht ohne weiteres widerlegen kann. Allerdings ist letztlich auch dieses Argument von Michael Smith nicht we‐ niger kontrovers als die auf Intuitionen hinsichtlich der Möglichkeit von Amo‐ ralisten basierenden Argumente, wie die zahlreichen Einwände gegen den Vor‐ wurf zeigen. 160 Beispielsweise bedürfte die strikte Alternative zwischen Motivation de dicto und de re einer weitergehenden Begründung. Warum sollten bei einem Akteur nicht beide Arten der Motivation möglich sein? Nichts würde den Externalisten dann darauf verpflichten, den Tugendhaften als motiviert durch den Wunsch zu verstehen, das moralisch Richtige - verstanden de dicto - zu tun. Ist es darüber hinaus nicht möglich, dass aus einem ursprünglichen Wunsch, das moralisch Richtige - verstanden de dicto - zu tun, ein Wunsch, das moralisch Richtige - verstanden de re - zu tun, werden kann? Die Motivation de dicto könnte eine wichtige heuristische Funktion erfüllen, die moralisch rich‐ tige Handlung zu identifizieren, und sich später in eine Motivation de re ver‐ wandeln. Es ist folglich nicht verwunderlich, dass die vorgestellte externalisti‐ sche Kritik nicht vollkommen wirkungslos in Bezug auf die nähere Ausgestaltung des Internalismus blieb und zu vielerlei Differenzierungen und Modifikationen innerhalb des motivationstheoretischen Internalismus geführt hat. Im folgenden Kapitel soll eine systematische Unterscheidung der wich‐ tigsten Versionen des Internalismus vorgenommen werden, welchen man ge‐ genwärtig in der Literatur begegnet. II.5. 1. 5 Versionen des motivationstheoretischen Internalismus 161 a) Der Einfache Internalismus In seiner einfachsten Version vertritt der Internalismus die These: Einfacher Internalismus: Wenn jemand urteilt, dass es für ihn moralisch richtig ist zu φ-en, dann ist er notwendigerweise motiviert zu φ-en. Die notwendige Verbindung zwischen moralischem Urteil und Motivation be‐ steht hier immer, unabhängig von der mentalen Verfassung der jeweiligen Person. 162 An dieser Stelle ergibt sich bereits ein notwendiger Differenzierungs‐ 76 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 162 Für einen solchen Einfachen Internalismus siehe: Lenman (1999); Bromwich (2016); Eg‐ gers (2015). 163 Eine weitere Möglichkeit hinsichtlich der Rolle, welche die moralische Motivation in der Deliberation und im Handeln eines Akteurs spielen kann, findet sich in John McDo‐ wells (1979 [1998]) Ausführungen über die Handlungen und Motive des Tugendhaften. Das Erfassen der Situation durch den Tugendhaften, wie es in seinen moralischen Ur‐ teilen zum Ausdruck komme, bringe alle möglichen konkurrierenden Gründe zum Schweigen, statt sie bloß zu überwiegen. Wenn man wirklich denke, dass nur ein einziger Grund in einer bestimmten Situation relevant oder zutreffend sei, dann dürfte dieser Gedanke ausnahmslos hinreichend sein, jemanden zu einem entsprechenden Handeln zu motivieren. bedarf. So ist zu fragen, wie stark die aus dem Urteil resultierende Motivation ist. Ist die Motivation immer eine ausschlaggebende, also pro toto, oder ist es vielmehr so, dass sie bloß ausschlaggebend sein kann, jedoch von anderen Mo‐ tivationen überwogen werden kann, dass sie also lediglich pro tanto ist. 163 Die stärkere Lesart der Motivation als pro toto ist nicht sehr plausibel, da auf diese Weise Akrasie unmöglich gemacht wird. Daher ist es naheliegender, sie als pro tanto Motivation zu verstehen. Der Einfache Internalismus besagt dann, dass bei einem moralischen Urteil notwendig eine Motivation zu entsprechendem Han‐ deln vorliegt, die jedoch nicht notwendig ausschlaggebend für das faktische Handeln ist. Eine Handlung wird nur dann folgen, wenn kein Fall von Akrasie vorliegt oder keine konfligierenden, nicht-moralischen Faktoren vorliegen bzw. diese zwar vorliegen, jedoch schwächer als die moralische Motivation sind. b) Der Bedingte Internalismus Die oben entfaltete externalistische Kritik am Einfachen Internalismus mit Hilfe von Gegenbeispielen wie dem Amoralisten hat dazu geführt, dass die These des Einfachen Internalismus verschiedenen Abschwächungen und Modifikationen unterzogen wurde, um die klassischen internalistischen Intuitionen mit der scheinbaren Möglichkeit von unterschiedlichen Fällen von Amoralisten zu ver‐ söhnen bzw. den Internalismus mit dem Kognitivismus in Einklang zu bringen. Der Einfache Internalismus kam ohne irgendwelche seine Gültigkeit einschränk‐ enden Bedingungen aus. Die notwendige Verbindung zwischen moralischem Urteil und Motivation besteht immer, unabhängig von der mentalen Verfassung der jeweiligen Person. Diese Ansicht schien zahlreichen Internalisten zu stark zu sein, so dass sie die Möglichkeit einräumten, dass man zumindest unter psy‐ chologisch anormalen Bedingungen wie z. B. Apathie zwar ein moralisches Ur‐ teil fällen könne, ohne jedoch motiviert zu sein, entsprechend zu handeln. Diese Internalisten verteidigen daher die folgende These: 77 II.5 Die motivationale Kraft der Moral: Internalismus vs. Externalismus 164 Vgl. Blackburn (1998), 59-68; Timmons (1999), 140; Björnsson (2002); Gibbard (2003), 154; Eriksson (2006), 172-187; zu Kritik siehe: Strandberg (2012); eine Antwort auf diese Kritik bietet Eriksson (2014). Bedingter Internalismus: Wenn jemand urteilt, dass es moralisch richtig ist zu φ-en, dann ist er notwendigerweise (pro tanto) motiviert zu φ-en, wenn er B ist. Durch die einschränkende Bedingung ‚wenn er B ist‘ ist der Bedingte Interna‐ lismus dazu in der Lage, der Möglichkeit Rechnung zu tragen, dass das morali‐ sche Urteil und die Handlungsmotivation divergieren können - nämlich dann, wenn der Urteilende nicht B ist. Diese einschränkende Bedingung ermöglicht es, nicht nur das Phänomen des Amoralisten in den Internalismus zu integrieren, sondern auch den Kognitivismus mit dem Internalismus zu versöhnen, insofern die Möglichkeit eröffnet wird, dass moralische Urteile motivational wirkungs‐ lose Überzeugungen sein können, da moralisches Urteil und Handlungsmoti‐ vation auseinandertreten können. Vieles hängt für diese Form des Internalismus davon ab, wie die Bedingung B näher bestimmt wird, unter welcher moralische Urteile notwendig motivieren. Im Wesentlichen lassen sich drei Arten der Spe‐ zifizierung ausmachen: (1) Die Person muss psychologisch normal sein. (2) Die Person muss praktisch rational sein. (3) Die Person muss moralisch perzeptiv sein. Betrachten wir diese drei Spezifizierungsvorschläge genauer: Psychologisch normal: Durch die Bedingung psychologischer Normalität sollen solche psychischen Zustände wie Apathie, Depression, Erschöpfung oder emotionale Verwirrtheit ausgeschlossen werden, da hier moralisches Urteil und Motivation auseinander treten können. Diese Zustände scheinen alle Abwei‐ chungen von der normalen Funktionsweise unserer Deliberation und Hand‐ lungsleitung zu involvieren. Durch diese Form der Einschränkung der Geltung des Internalismus ist es freilich Nonkognitivisten möglich, die externalistischen Gegenbeispiele in ihren Internalismus zu integrieren. So haben manche Non‐ kognitivisten argumentiert, dass moralische Urteile wunschähnliche Dispositi‐ onen zum Handeln seien, welche eine normale psychologische Funktionsweise des Akteurs erfordern, um motivational wirksam zu werden. Unter anormalen Bedingungen ist keine Motivation zu erwarten. 164 Eine ähnliche Version des In‐ ternalismus argumentiert, dass es die Funktion moralischer Urteile sei, Hand‐ lungen hervorzubringen, d. h. dass moralische Urteile (durch biologische, kul‐ turelle oder soziale Selektion) dazu entwickelt wurden, Handlungen hervorzubringen. 165 78 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 165 Vgl. Björnsson (2002), 329-330; Bedke (2009). 166 Vgl. Korsgaard (1986); Smith (1994); Wallace (2006); Wedgwood (2007), 23-26; van Roojen (2010). 167 Vgl. Smith (1994; 1995a). 168 Vgl. oben S. 57 f; zum Begriff des ‚besire‘ siehe: Altham (1986), 284. 169 Vgl. McDowell (1978 [1998]; 1979 [1998]); McNaughton (1988); Wiggins (1991); Tolhurst (1995). Praktisch rational: Die oben aufgeführten anormalen psychischen Zustände (Apathie, Depression, Erschöpfung etc.) können auch als Bedingungen vermin‐ derter rationaler Handlungskontrolle beschrieben werden: Der Apathische bzw. Depressive hat eine geringere rationale Kontrolle über seine Handlungen. Daher kann B auch im Sinne praktischer Rationalität bestimmt werden. Diese ratio‐ nalistische Form des Bedingten Internalismus wurde insbesondere als mit einem Kognitivismus kompatibel betrachtet. Die moralischen Urteile einer Person be‐ stehen dann in Überzeugungen darüber, was zu tun sie normative Gründe hat. Amoralisten sind dann insofern irrational, als ihre Motivation nicht mit ihren Überzeugungen darüber übereinstimmen, was zu tun sie normative Gründe haben. 166 Man kann darüber hinaus argumentieren, dass der rationalistische Bedingte Internalismus der intrinsisch normativen Verbindung zwischen moral‐ ischem Urteil und Motivation - i.S. des hybriden Internalismus - Rechnung trägt, da die fehlende Motivation, in Übereinstimmung mit den eigenen moralischen Urteilen zu handeln, als ein Mangel an Rationalität beschrieben wird, insofern es der Akteur unterlässt, Kohärenz zwischen seinen Überzeugungen und seiner Motivation herzustellen. 167 Moralisch perzeptiv: Der moralisch perzeptiven Interpretation der ein‐ schränkenden Bedingung B zufolge scheitern Amoralisten daran, die morali‐ schen Eigenschaften einer Handlung wirklich wahrzunehmen. Dagegen wird ein Akteur, der mit einer Art moralischer Einsicht bzw. moralischer Perzeptivität ausgestattet ist, nicht nur erkennen, was die moralisch richtige Handlung ist, sondern er wird auch motiviert sein, die Handlung auszuführen. Diese Ansicht scheint anzunehmen, dass moralische Einsicht sowohl eine Überzeugung als auch eine konative Einstellung (z. B. einen Wunsch) involviert, wodurch sie ein ‚besire‘ 168 darstellt. Vertritt man eine besire-Theorie, nimmt man an, dass eine innere Verbindung zwischen unseren moralischen Urteilen und unserer Hand‐ lungsmotivation existiert, und ist auf die Position eines motivationstheoreti‐ schen Internalismus festgelegt. Ein moralisches Urteil ist hier zugleich der Aus‐ druck eines motivierten Zustandes. Eine besire-Theorie impliziert zudem eine anti-humeanische Motivationstheorie. 169 79 II.5 Die motivationale Kraft der Moral: Internalismus vs. Externalismus 170 Vgl. Dancy (1993); Simpson (1999); Shafer-Landau (2003), 119-161. 171 Vgl. Copp (1997); Sayre-McCord (1997); Mason (2008). 172 Vgl. Strandberg (2013). 173 Vgl. Lenman (1996), 298 f; Sayre-McCord (1997), 64 f; Miller (2003), 221; Roskies (2003), 53-55. 174 Vgl. Björnsson et al. (2015), 9. 175 Vgl. Dreier (1990), 9-14; Blackburn (1998), 59-68; Tresan (2006, 149-152; 2009b, 185-193); Bedke (2009), 191-195. Neben diesen drei Hauptformen des Bedingten Internalismus findet man in der Literatur noch weitere Varianten dieser Spielart des Internalismus, die zwar annehmen, dass moralische Überzeugungen intrinsisch motivierend sind, es al‐ lerdings unterlassen, die Bedingung B zu spezifizieren, unter der sie auch not‐ wendig motivierend sind, wenn der Akteur B ist. 170 Trotz aller Unterschiede dieser verschiedenen Versionen des Bedingten Inter‐ nalismus, stehen sie alle ähnlichen Problemen gegenüber. So müssen sie eine überzeugende Theorie moralischer Urteile anbieten, welche erklärt, warum zwischen solchen Urteilen und der Handlungsmotivation eine notwendige Ver‐ bindung besteht, wenn der Urteilende B ist. 171 Darüber hinaus müssen sie B in einer Weise spezifizieren, die den Internalismus nicht seiner explanatorischen Kraft beraubt 172 oder ihn nichtssagend 173 macht. Schließlich sollten sie B so spe‐ zifizieren, dass sie den relevanten Arten von Amoralisten gerecht werden und die Argumente, die für den Internalismus sprechen, auch ihre spezifische Ver‐ sion des Bedingten Internalismus unterstützen. 174 c) Der Indirekte Internalismus Einige Internalisten haben den Versuch unternommen, den motivationstheore‐ tischen Internalimus nicht direkt, sondern auf indirekte Weise zu verteidigen. Das Gegenbeispiel des Amoralisten war für sie nicht Anlass zur Modifikation ihrer Position. Der Amoralist ergibt ihnen zufolge nur vor dem Hintergrund von Fällen einen Sinn, die moralische Motivation involvieren, weshalb eine Form des Internalismus wahr sein müsse. 175 Man kann sich diese Form des Interna‐ lismus an folgendem Beispiel verdeutlichen: Jemand äußert das Urteil, dass so‐ ziale Gerechtigkeit gut sei, und war früher auch motiviert, diesem Urteil ent‐ sprechend zu handeln, um soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen; jetzt allerdings kümmert er sich um nichts mehr außer seinem eigenen Wohlergehen und ist folglich in keiner Weise motiviert, soziale Gerechtigkeit zu verwirkli‐ chen. Dennoch scheint es sinnvoll zu sein, ihm das Urteil zuzuschreiben, dass soziale Gerechtigkeit gut sei, da er sein Urteil nicht geändert, sondern lediglich seine Motivation verloren hat. Wenn dagegen jemand, der sich immer nur um sein eigenes Wohlergehen gekümmert hat, sagt, dass soziale Gerechtigkeit gut 80 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 176 Vgl. Dreier (1990); Lenman (1999); Bedke (2009); Tresan (2009b). 177 Vgl. Blackburn (1998), 63. 178 Vgl. Greenspan (1998); Tresan (2009b), 180. 179 Vgl. Dreier (1990), 9-14. 180 Vgl. Svavarsdóttir (2001), 23; Gert/ Mele (2005). 181 Vgl. Bedke (2009), 193-195. sei, scheint es weniger plausibel, ihm ein solches Urteil zuzuschreiben. Insbe‐ sondere widerstrebt es uns, Individuen moralische Urteile zuzuschreiben, die in einer Gemeinschaft leben, deren Mitglieder Handlungen auf dieselbe Weise wie wir mit ‚richtig‘ und ‚falsch‘ bewerten, jedoch niemals auch nur im mindesten durch diese moralischen Wertungen zum Handeln motiviert werden. 176 Die Ver‐ treter dieser Art des Internalismus vertreten daher folgende These: Indirekter Internalismus: Wenn jemand urteilt, dass es moralisch richtig ist zu φ-en, dann ist er entweder notwendigerweise (pro tanto) motiviert zu φ-en, oder auf rele‐ vante Weise verbundene moralische Urteile werden von einer Motivation begleitet. Im Gegensatz zu den oben diskutierten Formen des direkten Internalismus, muss im Falle des Indirekten Internalismus nicht jedes einzelne moralische Urteil zu jedem Zeitpunkt, an dem es gefällt wird, von einer Motivation begleitet werden. Der Indirekte Internalismus kann unterschiedliche Formen annehmen, je nachdem ob er die auf relevante Weise verbundenen moralischen Urteile als die Urteile derselben Person - möglicherweise zu einem früheren Zeitpunkt - ver‐ steht 177 oder ob er sie als die Urteile der Gemeinschaft auffasst, welcher der Urteilende angehört 178 . Denkbar ist auch eine Kombination beider Formen: Der Urteilende muss entweder früher moralisch motiviert gewesen sein oder seine moralischen Urteile müssen mit einer Praxis verbunden sein, in welcher mora‐ lische Urteile oft motivational wirksam sind. 179 Externalisten haben gegen den Indirekten Internalismus eingewandt, dass Amoralisten sehr wohl auch ohne den Hintergrund einer moralische Urteile begleitenden Motivation vorstellbar seien. 180 Indirekte Internalisten werden hingegen antworten, dass Externalisten, die diesen Einwand vorbringen, immer noch stillschweigend genau diesen Hintergrund annehmen. 181 d) Der a posteriori Internalismus Der Internalismus wird, wie oben erwähnt, meist als eine These a priori ver‐ standen, welche eine begriffliche Wahrheit darstellt und als einschränkende Bedingung für Theorien moralischer Urteile dient. Da jedoch internalistischen Intuitionen externalistische gegenüberstehen, und keine der beiden Theorien endgültig als korrekt bzw. falsch erwiesen werden kann, wurden in jüngerer 81 II.5 Die motivationale Kraft der Moral: Internalismus vs. Externalismus 182 Vgl. Björnsson (1998, 7 f; 2002, 331-333); Roskies (2003; 2006); Prinz (2006), 38 f; Cholbi (2011), 29-34. 183 Zu Untersuchungen mit Patienten mit verletztem ventromedialem präfrontalem Cortex siehe: Roskies (2003); zu Kritik an ihren Ergebnissen siehe: Cholbi (2006a); Kennett/ Fine (2008b); für Experimente mit Psychopathen siehe: Cholbi (2006b); Roskies (2006; 2008); Kennett/ Fine (2008a); Smith (2008); für Studien an Depressiven siehe: Cholbi (2011). 184 Vgl. für einen solchen Ansatz: Nichols (2002; 2004); Prinz (2006; 2007); siehe auch: Björnsson (2002); Cholbi (2006a); Strandberg/ Björklund (2012). Zeit Versuche unternommen, den Streit zwischen Internalisten und Externa‐ listen mit Hilfe empirischer Untersuchungen zu entscheiden. 182 Der a posteriori Internalismus kann im Wesentlichen in zwei Arten unterteilt werden, die sich darin unterscheiden, wie sie mit empirischen Daten umgehen. Die erste Form konzentriert sich vor allem auf wirkliche Fälle angenommener Amoralisten und ihre vermeintlichen moralischen Urteile. Dieser Ansatz untersucht beispiels‐ weise Patienten mit verletztem ventromedialem präfrontalem Cortex, Psycho‐ pathen oder Depressive, um die Debatte zwischen motivationstheoretischem Internalismus und Externalismus zu entscheiden. 183 Die zweite Form des a pos‐ teriori Internalismus versucht dagegen, eine allgemeinere, umfassende empirisch motivierte Theorie moralischer Urteile zu entwickeln. Dazu wird auf Studien zurückgegriffen, welche unsere Erfahrungen bei absichtlichen Verletzungen von Normen, unsere moralische Entwicklung, den Einfluss von Emotionen auf unsere moralischen Urteile, Psychopaten u. v. m. untersuchen. 184 So interessant diese Untersuchungen auch sein mögen, beantworten sie letzt‐ lich doch eine andere Frage als der a priori Internalismus - verstanden als eine begriffliche Wahrheit -, welcher als einschränkende Bedingung für Theorien moralischer Urteile dient. Der motivationstheoretische Internalismus ist näm‐ lich dann falsch, wenn die Verbindung zwischen moralischem Urteil und Moti‐ vation nur kontingenterweise besteht, selbst wenn sie aufgrund einer psycho‐ logischen Gesetzmäßigkeit notwendig ist. Angenommen es existiert ein kontingentes psychologisches Gesetz, welches den mentalen Zustand, der einem moralischen Urteil zugrunde liegt, mit unserer Motivation verknüpft, dann wäre die Verbindung zwischen moralischem Urteil und Motivation kontingent, je‐ doch aufgrund unserer psychologischen Verfasstheit gesetzmäßig notwendig. Dennoch wäre der motivationstheoretische Internalismus - als begriffliche Wahrheit - falsch, obwohl wir niemanden finden werden, der ein moralisches Urteil fällt, ohne zu einem entsprechenden Handeln motiviert zu sein. Eine zwar gesetzmäßig notwendige, doch kontingente Verbindung von moralischem Urteil und Motivation kann den motivationstheoretischen Internalismus nicht als wahr erweisen, da der Internalismus die These vertritt, dass eine begrifflich not‐ wendige Verbindung zwischen moralischem Urteil und Handlungsmotivation 82 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 185 Vgl. Smith (2008), 210. besteht. Der Internalismus fungiert als eine einschränkende Bedingung a priori hinsichtlich der Frage, was als moralisches Urteil gelten kann. Die Verbindung zwischen moralischem Urteil und Handlungsmotivation muss daher aufgrund des Inhalts des moralischen Urteils selbst bestehen und kann keine Verbindung sein, welche wir empirisch entdecken, indem wir eine kontingente psychologi‐ sche Gesetzmäßigkeit aufweisen. Daher stellt sich die Frage, wie ein a posteriori Internalismus philosophisch relevant sein kann. 185 II.6 Zwischenfazit: Das Problem der moralischen Motivation In unserer Diskussion des Problems, wie unsere moralischen Urteile auch hand‐ lungswirksam werden können, wurde deutlich, dass unsere Handlungsgründe für die Klärung dieser Frage eine Schlüsselstellung einnehmen. Die normativen Gründe, die für den Akteur aufgrund bestimmter, vom Akteur selbst unabhän‐ giger moralischer Tatsachen in der Wirklichkeit bestehen und für bestimmte Handlungsweisen und Einstellungen sprechen, geben an, wie der Akteur han‐ deln soll - sie sind ipso facto gute Gründe. Jedoch müssen sie auch motivational wirksam werden können. Für einen Vertreter einer Theorie interner Gründe ist diese Frage leicht zu beantworten, da ihm zufolge für einen Akteur überhaupt nur dann ein normativer Grund besteht, etwas zu tun, wenn dieser mit dem subjektiven Motivationsprofil des Akteurs in Verbindung steht und der Akteur nach einem rationalen Deliberationsprozess, der rein formal prozedural be‐ stimmt wird, zu einem entsprechenden Handeln motiviert werden kann. Da immer schon ein motivationales Element mit dem normativen Grund mitge‐ geben ist, kann der normative Grund leicht handlungswirksam werden. Vertei‐ diger externer Gründe haben jedoch gegen die Theorie interner Gründe einge‐ wandt, dass diese die Normativität nicht sicherstellen könne und für einen Akteur auch dann ein normativer Grund bestehe, wenn er in keiner Weise zu einem entsprechenden Handeln motiviert werden könne. Es sei dann nicht so, dass für den Akteur kein Grund bestehe; vielmehr werde der Akteur dem An‐ spruch des Grundes an ihn nicht gerecht, der unabhängig von ihm aufgrund bestimmter moralischer Tatsachen in der Wirklichkeit selbst bestehe. Ein Ver‐ treter einer Theorie externer Gründe muss nun allerdings erklären, wie ein sol‐ cher vom subjektiven Motivationsprofil des Akteurs unabhängig bestehender normativer Grund auch handlungswirksam werden kann. 83 II.6 Zwischenfazit: Das Problem der moralischen Motivation Eine naheliegende Lösung dieses Problems für den Vertreter einer Theorie externer Gründe besteht darin, einen motivationstheoretischen Internalismus zu vertreten, der eine notwendige bzw. innere Verbindung zwischen moralischem Urteil und einer entsprechenden Handlungsmotivation annimmt. Wenn uns nämlich unsere moralischen Urteile über das Bestehen eines normativen Grundes aufgrund der inneren Verbindung zwischen Urteil und Handlungsmo‐ tivation notwendig zum Handeln motivieren - auch wenn diese Motivationen freilich von konkurrierenden Motivationen überwogen werden können -, reicht das Fällen eines solchen Urteils aus, um zu erklären, wie die für uns bestehenden normativen Gründe handlungswirksam werden können - aufrichtige morali‐ sche Urteile sind nämlich ohne Motivation gar nicht möglich. Allerdings ist auch diese Lösung des Motivationsproblems keineswegs un‐ umstritten. So wurden von motivationstheoretischen Externalisten immer wieder Gegenbeispiele ins Feld geführt, welche zeigen sollen, dass eine Person durchaus aufrichtige moralische Urteile fällen könne, ohne dass diese notwendig von einer entsprechenden Handlungsmotivation begleitet würden. Zwar nehmen auch Externalisten eine Kovarianz von moralischem Urteil und Handlungsmo‐ tivation an, doch müssen sie diese auf andere Weise erklären als Internalisten, welchen zufolge die Motivation notwendig dem Urteil folgt. So kann aufgrund der psychologischen Verfasstheit, der genossenen Moralerziehung oder der so‐ zialen Umgebung, in der der Akteur lebt, eine verlässliche, wenn auch nicht notwendige Verbindung von moralischem Urteil und entsprechender Hand‐ lungsmotivation verteidigt werden. So könnte der - z. B. durch Erziehung mit‐ gegebene - allgemeine Wunsch, das moralisch Richtige zu tun, sicherstellen, dass die Motivation zuverlässig den moralischen Überzeugungen des Akteurs folgt, ohne jedoch vereinzelte Ausnahmen auszuschließen, wenn beispielsweise jemand diesen Wunsch nicht ausgebildet oder wieder verloren hat. Zwar steht auch er weiterhin unter dem Anspruch, dem normativen Grund entsprechend zu handeln; allerdings wird er in keiner Weise zu einem solchen Handeln mo‐ tiviert sein. Wir haben gesehen, dass beide Theorien - der Internalismus wie der Externalismus - ihre Stärken und Schwächen haben, ohne dass die eine die andere - isoliert betrachtet - definitiv als falsch erweisen könnte. Sie appellieren beide an unsere Intuitionen, die jedoch keineswegs einheitlich sind. Auf diesem Wege lässt sich keine Lösung des Motivationsproblems herbeiführen. Man muss das Problem in einem größeren moralpsychologischen Kontext betrachten. Um die Perspektive zu erweitern, wurden daher auch Theorien motivierender Gründe betrachtet, also der Gründe, aus denen wir de facto handeln, ohne dass sie notwendig auch gute Gründe wären. Die moderne Debatte über das Ver‐ ständnis dieser Gründe lässt sich folgendermaßen strukturieren: In einer ersten 84 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte Unterscheidung lassen sich psychologistische von non-psychologistischen The‐ orien motivierender Gründe unterscheiden. Während non-psychologistische Theorien behaupten, dass Tatsachen in der Wirklichkeit selbst motivierende Gründe bilden und uns unsere psychischen Zustände nur den epistemischen Zugang zu diesen Gründen eröffnen, so dass die Gründe auch handlungs‐ wirksam werden können, nehmen psychologistische Theorien an, dass unsere psychischen Zustände (Wünsche, Überzeugungen, Intentionen etc.) unsere mo‐ tivierenden Gründe konstituieren. Die psychologistischen Theorien lassen sich danach differenzieren, welche psychologischen Zustände die motivierenden Gründe konstituieren. So behauptet die Humeanische Motivationstheorie, dass sich ein motivierender Grund aus einem konativen (z. B. ein Wunsch) und einem kognitiven Element (z. B. eine Überzeugung) zusammensetze, wobei eine Asym‐ metrie zugunsten des konativen Elements bestehe, insofern die motivierende Kraft allein beim konativen Element liege und das kognitive Element den vom konativen Element ausgehenden Handlungsimpuls lediglich kanalisiere und in die richtige Richtung lenke. Kognitives und konatives Element werden dabei als distinkte Existenzen verstanden, so dass das eine keinen kausalen Einfluss auf das andere hat. Aufgrund der zahlreichen Probleme dieser Theorie sind ver‐ schiedene Alternativen dazu entwickelt worden, die sich alle in ihrer Ablehnung der Humeanischen Theorie einig sind, weshalb man sie für gewöhnlich als Anti-Humeanische Motivationstheorien bezeichnet. Diese Theorien gehen davon aus, dass unsere evaluativen Überzeugungen allein hinreichend sein können, uns zum Handeln zu motivieren. Für eine starke Interpretation des Anti-Hu‐ meanismus, den reinen Kognitivismus, sind dazu überhaupt keine Wünsche oder affektiven Zustände nötig. Eine schwächere Interpretation, der hybride Kogni‐ tivismus behauptet dagegen lediglich, dass evaluative Überzeugungen insofern für die Handlungsmotivation hinreichend seien, als sie allein dazu in der Lage sind, Wünsche hervorzubringen, mit welchen zusammen sie dann einen moti‐ vierenden Grund konstituieren können. Allerdings lässt sich auch in dieser Frage keine der Theorien als die einzig richtige erweisen. Auch in der Gesamtzusammenschau aller Problemkomplexe lässt sich das Motivationsproblem bislang nicht lösen. Die zeitgenössische Diskussion scheint in eine aporetische Situation gekommen zu sein, in der sich die Vertreter interner bzw. externer Gründe, motivationstheoretische Internalisten und Externalisten, Psychologisten und Non-Psychologisten sowie Humeaner und Anti-Humeaner in festgefahrenen Oppositionen gegenüberstehen. Diese Pattsituation scheint innerhalb der moralpsychologischen Systeme, mit welchen in der zeitgenössi‐ schen Debatte operiert wird, unüberwindbar. Die Fokussierung der zeitgenös‐ sischen Motivationstheorie auf Handlungsgründe scheint dabei - trotz des 85 II.6 Zwischenfazit: Das Problem der moralischen Motivation (1) (2) (3) (4) (5) enormen analytischen Nutzens, der davon ausgeht - mitverantwortlich für diese Diskussionslage zu sein. Um aus dieser Engführung heraus zu kommen, ist es nötig, die Perspektive zu erweitern. Daher soll in einem weiteren Schritt, wie in der Einleitung bereits angekün‐ digt, ein Blick auf die Motivationstheorie der Stoa geworfen werden, um durch die im Vergleich zu den in modernen Diskussionen oft anzutreffenden psycho‐ logischen Modellen reichere und differenziertere Moralpsychologie der Stoa einer Lösung des Motivationsproblems näher zu kommen. Die antike und ins‐ besondere die stoische Handlungs- und Motivationstheorie zeichnet sich da‐ durch aus, dass sie weniger auf Handlungsgründe konzentriert ist und statt‐ dessen vielmehr einzelne Subsysteme - das Strebevermögen, Kognition, Affekte, das Vorstellungsvermögen bzw. Imagination, Erinnerung - innerhalb der Psychologie eines Akteurs studiert, die alle einen Beitrag zur Handlungs‐ motivation leisten. Diese Erweiterung der Perspektive wird ein neues Licht auf die in diesem Teil diskutierten Fragen werfen und neue Lösungsmöglichkeiten für die aufgetretenen Probleme eröffnen. In einem ersten Schritt soll daher die stoische Motivationstheorie rekonstruiert werden. Diese Rekonstruktion soll anhand von fünf Leitfragen unternommen werden, die sich aus den oben skiz‐ zierten Problemkomplexen ergeben: Wie können den Stoikern zufolge normative Gründe motivational wirksam werden? Vertreten die Stoiker eine Theorie interner oder externer normativer Gründe? Vertreten die Stoiker eine psychologistische oder eine non-psychologisti‐ sche Motivationstheorie? Vertreten die Stoiker eine Humeanische oder eine Anti-Humeanische Mo‐ tivationstheorie? Sind die Stoiker motivationstheoretische Internalisten oder Externalisten? Die Analyse der stoischen Motivationstheorie mithilfe des oben entwickelten Instrumentariums ermöglicht dabei nicht nur ein besseres Verständnis der stoi‐ schen Theorie selbst, sondern zeigt zugleich auch die Anschlussfähigkeit der stoischen Überlegungen zum Motivationsproblem an die moderne Diskussion. 86 II. Moralische Motivation: Die aktuelle Debatte 1 Einzig die Ethik der Kyrenaiker stellt hier eine Ausnahme dar: vgl. Annas (1993), 230 und 235 f. 2 Stob.Ecl. 2. 46.5-10: τέλος ἐστὶν οὗ ἕ νεκα πάντα πράττεται καθηκόντως, αὐτὸ δὲ πράττεται οὐδενὸς ἕνεκα. […] ἐφʼ ὃ πάντα τὰ ἐν τῷ βίῳ πραττόμενα καθηκόντως τὴν ἀναφορὰν λαμβάνει, αὐτὸ δʼ ἐπʼ οὐδέν. Die zitierte Passage stammt zwar nicht direkt aus Areios’ Darstellung der stoischen Ethik, jedoch aus seiner allgemeinen Einleitung, wo er das Wort τέλος erklärt und diese Definitionen als stoische ausweist. 3 Stob.Ecl. 2.77.26 f = LS 63A: καίτοι γε λέγοντε ς τὴν μὲν εὐδαιμονίαν σκοπὸν ἐκκεῖσθαι, τέλος δ ʼ εἶναι τὸ τυχεῖ ν τῆς εὐδαιμονίας, ὅπερ ταὐτὸν εἶναι τῷ εὐδαιμονεῖν. III. Die stoische Motivationstheorie III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik - oder die Frage nach internen und externen Gründen In einem ersten Schritt der Analyse der stoischen Motivationstheorie soll un‐ tersucht werden, welches Verständnis normativer Gründe die Stoiker besaßen. Waren sie Vertreter einer Theorie interner oder externer Gründe? Wenn diese Frage beantwortet ist, kann im Weiteren herausgearbeitet werden, wie ein nor‐ mativer Handlungsgrund den Stoikern zufolge auch motivational wirksam werden kann. Zunächst ist jedoch das Verhältnis von Naturphilosophie und Eu‐ dämonismus in der Stoa zu klären, um die Frage beantworten zu können, ob die Stoiker eine Theorie interner oder externer Gründe vertreten haben. III.1. 1 Rationaler Eudämonismus Wie beinahe alle Moralsysteme der Antike 1 weist auch das stoische eine eudä‐ monistische Struktur auf. Ihr Entwurf eines guten menschlichen Lebens und die normativen Gründe, welche für bestimmte Haltungen und Handlungen spre‐ chen, sind letztlich immer rückgebunden an die Glückseligkeit (εὐδαιμονία) des handelnden Individuums. Wie schon Aristoteles sprechen auch die Stoiker von einem Ziel (τέλος) unseres Lebens, „um dessentwillen alles angemessen getan wird, während es wiederum nicht um eines anderen willen getan wird“ - bzw. von einem solchen, „dass alles im Leben angemessene Handeln auf es bezogen ist, während es auf nichts bezogen ist“ 2 . Unter diesem Ziel verstehen sie „das Erlangen von Glück, was gleichbedeutend mit Glücklichsein ist“ 3 . Die εὐδαιμονία des Akteurs ist das Letztziel, auf welches das rationale Streben 4 Vgl. Alex.Mant. 162.32-163.1 = SVF 3.65: ἔτι εἰ αἱ κοιναὶ περὶ εὐδαιμονίας ἔννοιαι αὐτάρκείαν τε αὐτὴν ζωῆς τίθενται (ἀνεπιδεῆ γὰρ τὸν εὐδαίμονα προειλήφασιν) καὶ τὴν εὐδαιμονίαν τὸ ἔσχατον τῶν ὀρεκτῶν ὑπολαμβάνουσιν (ἀλλὰ καὶ τὸ ζῆν κατὰ φύσιν καὶ τὸν κατὰ φύσιν βίον εὐδαιμονίαν λέγουσιν, πρὸς δὲ τούτοις τὸ εὖ ζῆν καὶ τὸ εὖ βιοῦν καὶ τὴν εὐζωΐαν εὐδαιμονίαν φασίν εἶναι) εἰ τοιοῦτον μὲν ἡ εὐδαιμονία προείληται, πρὸς μηδὲν δὲ τούτων αὐτάρκης ἡ ἀρετή, οὐδʼ ἂν πρὸς εὐδαιμονίαν αὐτάρκης εἴη; Stob.Ecl. 2.76.21-23 = SVF 3.3: τὸ δὲ τέλος λέγεσθαι τριχῶς ὑπὸ τῶν ἐκ τῆς αἱρέσεως ταύτης· κατὰ δὲ τὸν τρίτον σημαινόμενον λέγουσι τέλος τὸ ἔσχατον τῶν ὀρεκτῶν, ἐφʼ ὃ πάντα τὰ ἄλλα ἀναφέρεσθαι; siehe auch: Stob.Ecl. 2.98.14-19: πάντα δὲ τὸν καλὸν καὶ ἀγαθὸν ἄνδρα τέλειον εἶναι λέγουσι διὰ τὸ μηδεμιᾶς ἀπολείπεσθαι ἀρετῆς· τὸν δὲ φαῦλον τοὐναντίον ἀτελῆ διὰ τὸ μηδεμιᾶς μετέχειν ἀρετῆς. διʼ ὃ καὶ πάντως εὐδαιμονεῖν ἀεὶ τῶν ἀνθρώπων τοὺς ἀγαθούς, τοὺς δὲ φαύλους κακοδαιμονεῖν. 5 Vgl. Stob.Ec l. 2. 85.13-15 = LS 59B = SVF 3.494: ὁρίζεται δὲ τὸ καθῆκον· „τὸ ἀκόλουθον ἐν ζωῇ, ὃ πραχθὲν εὔλογον ἀπολογίαν ἔχει“. 6 Vgl. D. L. 7.87 = LS 63C = SVF 1.552: διόπερ πρῶτος ὁ Ζήνων ἐν τῷ Περὶ ἀνθρώπου φύσεω ς τέλος εἶπε τὸ ὁμολογουμέ νως τῇ φύσει ζῆν, ὅπερ ἐστὶ κατʼ ἀρετὴν ζῆν· ἄγει γὰρ πρὸς ταύτην ἡμᾶς ἡ φύσις; siehe auch: Stob.Ecl. 2.77.16-19 = LS 63A = SVF 3.16: τέλος δέ φασιν εἶναι τὸ εὐδαιμονεῖν, οὗ ἕνεκα πάντα πράττεται, αὐτὸ δὲ πράττεται μὲν οὐδενὸς δὲ ἕνεκα· τοῦτο δὲ ὑπάρχειν ἐν τῷ κατ ʼ ἀρετὴν ζῆν, ἐν τῷ ὁμολογουμένως ζῆν, ἔτι, ταὐτοῦ ὄντος, ἐν τῷ κατὰ φύσιν ζῆν; 2.78.1-6: δῆλον οὖν ἐκ τούτων, ὅτι ἰσοδυναμεῖ „τὸ κατὰ φύσιν ζῆν“ καὶ „τὸ καλῶς ζῆν“ καὶ „τὸ εὖ ζῆν“ καὶ πάλιν „τὸ καλὸν κἀγαθό ν“ καὶ „ἡ ἀρετὴ καὶ τὸ μέτοχον ἀρετῆς“· καὶ ὅτι πᾶν ἀγαθὸν καλόν, ὁμοίως δὲ καὶ πᾶν αἰσχρὸν κακόν· διʼ ὃ καὶ τὸ Στωικὸν τέλος ἶσον δύνασθαι τῷ κατʼ ἀρετὴν βίῳ. 7 Vgl. Cooper (1996 [1999]), 430. (ὀρέξις bzw. βούλησις im Fall des stoischen Weisen) bzw. die large-scale moti‐ vation des Akteurs gerichtet ist und von dem her alle seine Handlungen mittels normativer Gründe gerechtfertigt werden und als rational gelten können. 4 Der Begriff stellt damit die basalste Beschreibung dar, unter der eine Handlung als rational gelten kann. 5 Über die Bestimmung des τέλος als glückseliges Leben hinaus fassen die Stoiker das Ziel auch noch in anderen Begriffen, nämlich als „Leben in Übereinstimmung mit der Natur“ und als „tugendhaftes Leben“, was ihnen zufolge das Gleiche ist. 6 Freilich sind diese unterschiedlichen Beschrei‐ bungen des τέλος nicht intensional äquivalent, doch ist ihre Extension dieselbe: Das Leben in Übereinstimmung mit der Natur ist ihrer Ansicht nach das tu‐ gendhafte und glückliche Leben. Es gibt den Stoikern zufolge für jeden von uns ein einziges Ziel, auf welches hin all unser Handeln im Leben auszurichten für uns angemessen ist, und dieses Ziel besteht im Erlangen von Glückseligkeit bzw. einem glücklichen Leben, was gleichbedeutend ist mit einem Leben in Übereinstimmung mit der Natur, res‐ pektive einem tugendhaften Leben. Das Letztziel dient daher dazu, eine Einheit des Lebens herzustellen, so dass man sein Leben auch wirklich führt - und zwar als ein einziges - und nicht einfach nur lebt, d. h. von einer Sache zur nächsten übergeht, bis man stirbt. 7 Man benötigt ein einzelnes Letztziel, um einem Leben 88 III. Die stoische Motivationstheorie 8 Vgl. Annas (1993), 33: „a single final end is what is required to make sense of a single life as a whole“. 9 Annas (1993), 27. 10 Vgl. Annas (1993), 28 f. 11 Vgl. Ebd. als Ganzem Sinn zu verleihen. 8 An dieser Stelle sieht Julia Annas den „entry-point for ethical reflection“ 9 in der ganzen antiken philosophischen Tra‐ dition: die Sorge um das eigene Leben und das Anliegen, es zu verbessern, indem man es ordnet und zu einer Einheit formt. Wenn man als reife oder zumindest beinahe reife Person, die bereits über eine ganze Reihe evaluativer Überzeu‐ gungen und entsprechender Motivationen verfügt, auf sein Leben als Ganzes schaut, empfindet man zunächst Unbehagen, da es die ersehnte Einheit ver‐ missen lässt. Um diese Einheit herzustellen, brauchen wir das Letztziel, auf wel‐ ches wir all unser Handeln und unsere Haltungen beziehen müssen. 10 Wie sieht nun jedoch der Prozess aus, welchen wir durchlaufen müssen, um diese Einheit unseres Lebens herzustellen? Die Suche nach einem Letztziel, wel‐ ches unserem Leben Einheit verleihen soll, und damit die Suche nach einer adä‐ quaten Konzeption von Glückseligkeit wird auf alle Fälle Reflexion über unser bisheriges Leben verlangen, wie wir es bis zum Beginn dieses systematischen Reflexionsprozesses geführt haben. Im Laufe dieses Reflexionsprozesses sollen unsere bislang disparaten Anliegen, Beziehungen und praktischen Einstel‐ lungen - d. h. unsere mid- und small-scale motivations - in ein harmonisches Ganzes integriert werden. Dies kann zu einer Neuordnung der bisherigen Pri‐ oritäten und zum Überdenken bestimmter Anliegen und Beziehungen führen. Wir werden einige unserer früheren evaluativen Überzeugungen aufgeben, wenn wir zu der Einsicht gelangen, dass die Dinge, die wir bislang für wertvoll gehalten haben, in Wahrheit gar nicht wertvoll sind oder dass einige unserer Wertvorstellungen mit anderen in Konflikt stehen. Zugleich werden wir auch neue evaluative Überzeugungen erwerben, wenn wir beispielsweise die unbe‐ merkten Implikationen unserer bisherigen Wertvorstellungen entdecken und die Hindernisse, welche unsere alten, jetzt zurückgewiesenen Überzeugungen aufgerichtet hatten, überwinden und den wahren Wert der Dinge erkennen. 11 Für manche Interpreten des stoischen Eudämonismus - wie Julia Annas - ist dies bereits der ganze Prozess, der vor sich geht, wenn man versucht, seinem Leben durch Hinordnung auf ein Letztziel Einheit zu verleihen. Da der Prozess der ethischen Reflexion von einem vorliegenden Profil von evaluativen Über‐ zeugungen und entsprechenden Motivationen ausgeht, sei der Versuch, un‐ serem Leben Einheit zu verleihen, auf eine Reflexion innerhalb und auf Basis dieses Profils von Überzeugungen und Motivationen begrenzt, so dass die Er‐ 89 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 12 Vgl. LS 63A-M. 13 Vgl. Annas (1993); Engberg-Pedersen (1986, 149 f; 1990, 40-42); hinter dieser Interpre‐ tation dürfte so etwas wie das Anliegen einer ‚Ethik ohne Metaphysik‘ stehen, wie man es immer wieder in der ethischen Diskussion findet; vgl. dazu Rawls (1980); Patzig ( 2 1983). weiterung und Revision der evaluativen Überzeugungen auch auf diesen Be‐ reich beschränkt bleiben. Auch unsere normativen Gründe für bestimmte Hand‐ lungen und Haltungen bleiben damit auf diesen Rahmen begrenzt und letztlich - wie in Williamsʼ Theorie interner Gründe - an das subjektive Motivationsprofil des Akteurs rückgebunden, wie es zu Beginn des ethischen Reflexionsprozesses bestand und allmählich in dessen Verlauf überformt und umgestaltet wurde. Ein solch subjektivistisches Verständnis des Eudämonismus lässt keine Bezug‐ nahme auf irgendetwas außerhalb des so verstandenen Überzeugungs- und Mo‐ tivationsprofils zu, um bereits Vorhandenes zu rechtfertigen, zu begründen und zu bekräftigen oder zu ersetzen und etwas Neues hinzuzufügen. Die Existenz externer Gründe wird mithin ausgeschlossen. Doch welche Aufgabe hat innerhalb dieser Interpretation die Bestimmung des τέλος als „Leben in Übereinstimmung mit der Natur“? Ist die Bezugnahme auf die Natur nicht etwas, was außerhalb des subjektiven Überzeugungs- und Motivationsprofils des Akteurs liegt und für die stoische Theorie des τέλος von großer Bedeutung ist, wie die zahlreichen Belege der τέλος-Formel mit Bezug‐ nahme auf die Natur 12 unterstreichen? Warum sollte einer Person, die in den ethischen Reflexionsprozess über ihr Leben eintritt, die Freiheit verweigert werden, in ihrer Reflexion über ihr Leben und darüber, wie sie ihm Einheit ver‐ leihen kann, auf allgemeine Ansichten zurückzugreifen, die unabhängig von ihrem vorhergehenden Überzeugungs- und Motivationsprofil existieren? Warum sollte eine solche Person nicht auf diese Ansichten zurückgreifen, um ihre Situation in einem neuen Licht zu sehen, Vorhandenes zu rechtfertigen, zu begründen und zu bekräftigen, bisherige Überzeugungen als irrig aufzugeben oder neue evaluative Überzeugungen zu erwerben? Könnte nicht die Bezug‐ nahme auf die Natur, wie sie sich explizit in der stoischen Bestimmung des τέλος findet, genau diese Funktion haben? Interpreten, die das oben skizzierte enge Verständnis des Eudämonismus ver‐ treten, lehnen trotz der zahlreichen Textbelege eine solche Funktion der Bezug‐ nahme auf die Natur innerhalb einer ethischen Theorie ab, da sie dadurch die eudämonistische Struktur der Theorie gefährdet sehen. 13 Doch ist eine natur‐ philosophische Fundierung der Ethik notwendig inkompatibel mit einem Eu‐ dämonismus? Das ist nicht zwangsläufig der Fall, und auch die Stoiker scheinen hier anderer Meinung gewesen zu sein. Es scheint durchaus möglich zu sein, die 90 III. Die stoische Motivationstheorie 14 Annas (1995; 2007). 15 Siehe zu diesem Ansatz auch die Arbeiten von: Engberg-Pedersen (1986, 149 f; 1990, 40-42) und Irwin (2003b), 346. 16 Vgl. Annas (1993), 43-46. naturphilosophische Basis der stoischen Ethik als vereinbar mit der eudämo‐ nistischen Struktur antiker Moralsysteme allgemein zu betrachten. Bevor jedoch der stoische Vermittlungsversuch von Naturphilosophie und Eudämonismus näher untersucht werden soll, sollen die Argumente derjenigen Interpreten be‐ trachtet werden, welche eine naturphilosophische Fundierung der Ethik als mit dem eudämonistischen Charakter antiker Moraltheorien inkompatibel ansehen und daher der Bezugnahme auf die Natur im ethischen Reflexionsprozess über das eigene Leben nur einen begrenzten Raum einräumen wollen. Es wird sich zeigen, dass diese Argumente keineswegs überzeugend sind und die Interpre‐ tation der stoischen Ethik im Sinne eines subjektivistischen Eudämonismus weder dem Quellenbefund noch dem Gesamtsystem der stoischen Ethik gerecht wird. Stattdessen wird vielmehr deutlich werden, dass die Naturphilosophie der Stoa eine grundlegende Funktion für ihre Ethik hat, ohne die ihre zentralen Lehren nicht verstanden werden können. III.1. 1. 1 Argumente für die Eigenständigkeit der stoischen Ethik - Ethik ohne Metaphysik? Den umfassendsten und interessantesten Versuch, die Unvereinbarkeit einer grundlegenden Bezugnahme auf die Natur mit der eudämonistischen Struktur der stoischen Ethik aufzuweisen, hat Julia Annas in ihrer beeindruckenden Studie The Morality of Happiness aus dem Jahre 1993 unternommen und in spä‐ teren Arbeiten 14 weiter entwickelt und verteidigt. 15 Annas versucht in ihren Ar‐ beiten zu zeigen, dass die antike ethische Theorie als Ganze einen relativ auto‐ nomen Zweig innerhalb der Philosophie darstellt und ohne Bezugnahme auf die anderen Gebiete der Philosophie - wie sie die Antike kannte -, d. h. auf Logik und Physik bzw. Naturphilosophie, verstanden werden kann. Die zentrale Idee, die dem Eudämonismus zugrunde liegt, besteht für Annas darin, dass ein Akteur seine eigenen Prioritäten überdenkt und so seinen eigenen Weg zu einem ein‐ heitlichen, guten Leben findet. Er wird dabei von einer schwachen Konzeption von Glückseligkeit geleitet, welche durch einige weitgehend formale Eigen‐ schaften wie Vollständigkeit und Selbstgenügsamkeit charakterisiert ist, die durchaus mit vorhergehenden Intuitionen über das Wertvolle und Erstrebens‐ werte in Spannung stehen können. 16 Der Reflexionsprozess und die damit ver‐ bundene Neuordnung der Prioritäten bleibt für Annas immer auf das subjektive Profil von evaluativen Überzeugungen und damit verbundenen Motivationen 91 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 17 Vgl. Annas (1993), 173-175. 18 Vgl. Annas (1993), 159 f. beschränkt. Dieses subjektivistische Eudämonismusverständnis scheint in der Tat in gewisser Spannung zur objektivistisch-naturphilosophischen Grundle‐ gung der stoischen Ethik zu stehen. Wie geht Annas nun mit den zahlreichen Belegen einer Bezugnahme auf die Natur in der stoischen Bestimmung des τέλος um? Liegt hier keine Bezugnahme auf etwas außerhalb des Akteurs selbst Lie‐ gendes vor, was ihm gute Gründe gibt, sein Handeln nach ihm auszurichten, um seinem Leben Einheit zu verleihen und ein glückliches Leben zu führen? Annas verteidigt eine Ethikkonzeption, welche die Bezugnahme auf die Natur als den Überlegungen des Akteurs intern versteht. Sie argumentiert gegen jede Bezugnahme auf die Natur in einem stärkeren Sinn. Die Bezugnahme auf die Natur ist für Annas immer eine Bezugnahme auf die menschliche Natur - d. h. jeder Akteur bezieht sich in der Reflexion über sein Leben stets immer nur auf das, was er über seine eigene (Individual-)Natur denkt. 17 Auch in diesem Punkt bleibt Annas ihrem Subjektivismus verpflichtet, der bereits in ihrem Eudämo‐ nismusverständnis deutlich wurde. Für eine Bezugnahme auf die Natur des Kosmos innerhalb der ethischen Theorie der Stoa sieht sie keine Hinweise und lehnt sie daher ab. Ihre Argumentation gegen eine stärkere Funktion des Na‐ turbegriffs in der stoischen Ethik ist zweigeteilt: zuerst negativ, dann positiv. Betrachten wir zunächst ihre negative Argumentation. Annas versucht zu zeigen, dass Texte, welche der Natur des Kosmos eine zentrale Rolle innerhalb der ethischen Theorie der Stoa einzuräumen scheinen, im Gesamt des antiken Quellenbefundes gesehen werden müssten, wodurch sie weit weniger ins Gewicht fielen. 18 Sie denkt dabei insbesondere an eine Passage bei Diogenes Laertios, in welcher die Naturphilosophie eine fundierende Rolle für die Ethik zu spielen scheint: Daher erklärte Zenon in seinem Buch Über die Natur des Menschen als erster, das Endziel sei, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben, was eben heißt, im Einklang mit der Tugend zu leben. Denn die Natur führt uns zur Tugend. Ebenso stellte es auch Kleanthes in seinem Buch Über die Lust dar, ferner Poseidonios und Hekaton in ihren Büchern Über Ziele. Hinwiederum ist, im Einklang mit der Tugend zu leben, dasselbe wie gemäß der Erfahrung dessen zu leben, was durch die Natur geschieht, wie Chry‐ sipp im ersten Buch Über Ziele sagt. Denn unsere eigenen Naturen sind Teile der Natur des Ganzen. In Übereinstimmung mit der Natur zu leben, kommt deshalb als das End‐ ziel heraus, nämlich sowohl in Übereinstimmung mit der Natur von einem selbst als auch in Übereinstimmung mit der Natur von allem insgesamt, ohne etwas von dem zu unternehmen, was das allgemeine Gesetz für gewöhnlich verbietet, welches Gesetz 92 III. Die stoische Motivationstheorie 19 D. L. 7.87 f = LS 63C = SVF 1.552 und 3. 4: διόπερ πρῶτος ὁ Ζήνων ἐν τῷ Περὶ ἀνθρώπου φύσεως τέλος εἶπε τὸ ὁμολογοθμένως τῇ φύσει ζῆν, ὅπερ ἐστὶ κατʼ ἀρετὴν ζῆν· ἄγει γὰρ πρὸς ταύτην ἡμᾶς ἡ φύσις. ὁμοίως δὲ καὶ Κλεάνθης ἐν τῷ Περὶ ἡδονῆς καὶ Ποσειδώνιος καὶ Ἑκάτων ἐν τοῖς Περὶ τελῶν. πάλιν δʼ ἴσον ἐστὶ τὸ κατʼ ἀρετὴν ζῆν τῷ κατʼ ἐμπειρίαν τῶν φύσει συμβαινόντων ζῆν, ὥς φησι Χρύσιππος ἐν τῷ πρώτῳ Περὶ τελῶν· μέρη γάρ εἰσιν αἱ ἡμέτεραι φύσεις τῆς τοῦ ὅλου. διόπερ τέλος γίνεται τὸ ἀκολούθως τῇ φύσει ζῆν, ὅπερ ἐστὶ κατά τε τὴν αὑτοῦ καὶ κατὰ τὴν τῶν ὅλων, οὐδὲν ἐνεργοῦντας ὧν ἀπαγορεύειν εἴωθεν ὁ νόμος ὁ κοινός, ὅσπερ ἐστὶν ὁ ὀρθὸς λόγος, διὰ πάντων ἐρχόμενος, ὁ αὐτὸς ὢν τῷ Διί, καθηγεμόνι τούτῳ τῆς τῶν ὄντων διοικήσεως ὄντι· εἶναι δʼ αὐτο τοῦτο τὴν τοῦ εὐδαίμονος ἀρετὴν καὶ εὔροιαν βίου, ὅταν πάντα πράττηται κατὰ τὴν συμφωνίαν τοῦ παρʼ ἑκάστῳ δαίμονος πρὸς τὴν τοῦ τῶν ὅλων διοικητοῦ βούλησιν […]. 20 Annas (1993), 160 [Kursivierung MH]. 21 Vgl. Annas (1993), 160 Anm. 4. 22 Vgl. Annas (1993), 160 f. die richtige Vernunft ist, die alles durchdringt und identisch ist mit Zeus, dem Lenker der Verwaltung dessen, was ist. Und eben darin besteht die Tugend des glücklichen Menschen und der gute Fluss seines Lebens, wenn alle Handlungen im Einklang des δαίμων eines jeden Menschen mit dem Willen des Verwalters von allem insgesamt erfolgen […]. 19 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Annas versucht, die Bedeutung dieses Textes herunterzuspielen, indem sie sagt: „This passage, important from many points of view, appears to give priority within ethical theory to cosmic nature.“ 20 Der Text scheine der Natur des Kosmos nur eine zentrale Rolle im stoischen Moralsystem zuzuschreiben, doch sei dies nicht das Bild, welches wir aus unseren anderen stoischen Quellen gewännen. Annas führt zur Untermauerung dieser These Texte von Sextus Empiricus und Areios Didymos an, in welchen die Natur des Kosmos überhaupt keine Erwäh‐ nung finde. 21 Wie problematisch dieses Vorgehen ist, wird gleich deutlich werden. Außer auf den Quellenbefund stützt sich Annas in ihrer Argumentation auch auf philosophische Erwägungen, welche die Unvereinbarkeit der stoischen Na‐ turphilosophie mit dem rationalen Eudämonismus der antiken Moralsysteme allgemein zeigen sollen. Die naturphilosophisch fundierte Theorie der Stoa sei keine ethische Position. Tugend bestehe dieser Position zufolge darin, das zu tun, was notwendig sei, um mit der Natur des Kosmos übereinzustimmen, welche als vollkommen unabhängig von der menschlichen Natur verstanden wird. Aber die Bestimmung der Tugend als Übereinstimmung mit einem Standard, welcher dem Grund der Tugend selbst extern sei, bedeute, die Tugend auf etwas anderes zu reduzieren, und dies werde dem moralischen Standpunkt in seiner Unab‐ hängigkeit und Autarkie nicht gerecht. 22 93 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 23 Vgl. Annas (1993), 162. 24 Ebd. 25 Vgl. Ebd. 26 Vgl. Ebd. Über diesen Reduktionismusvorwurf hinaus sei die Naturphilosophie auch als Basis für eine eudämonistische Ethik gänzlich ungeeignet. In einer ethischen Theorie gehe es darum, ausgehend von den evaluativen Überzeugungen und Motivationen des Akteurs und der Reflexion über das τέλος die Prioritäten des Akteurs neu zu ordnen und seinem Leben als Ganzem Einheit und Sinn zu ver‐ leihen. Die Bezugnahme auf die Natur des Kosmos leiste jedoch genau das Ge‐ genteil. Sie lenke den Akteur von der Sorge um seine persönlichen Anliegen ab, welche jedoch für die Möglichkeit einer nützlichen Reflexion über das τέλος notwendig sei. Selbst wenn der Akteur ein bestimmtes Verständnis von der Natur des Kosmos und ihren Forderungen an ihn hätte, so würden diese erst dann relevant für irgendwelche Anliegen, die Gegenstand der Ethik sind, wenn er sie durch Reflexion vom relevanten Standpunkt aus gutgeheißen habe. 23 Hier ergebe sich auch ein methodologisches Problem. Es mag sein, dass die Forde‐ rungen der kosmischen Natur rational seien und uns dazu veranlassten, die Natur wertzuschätzen und unser Handeln in Übereinstimmung mit ihr zu bringen, doch stelle sich immer noch die Frage: „[W]hat is the relevance of any kind of pattern to my life, until endorsed by reflection from the point of view from which I rationally order my life as a whole? ” 24 Die Forderungen der Natur könnten nicht aus der Natur des Kosmos abgeleitet werden, ohne auf das Problem der Heteronomie zu stoßen: Die bloße Akzeptanz eines Prinzips, wie ausgezeichnet sein Inhalt auch sein möge, reiche für moralisches Handeln noch nicht aus; der Akteur müsse es auch selbst durch eine bestimmte Form des ra‐ tionalen Überlegens gutheißen. 25 Des Weiteren wendet Annas gegen die Interpretation des τέλος als Leben in Übereinstimmung mit der Natur des Kosmos ein, dass dies ein sehr schwacher Begriff von Glückseligkeit sei. Denn welche Art von Glückseligkeit sollte ein‐ fach darin bestehen, mein Leben in Übereinstimmung mit einem bestimmten externen Standard zu bringen? 26 Schließlich kritisiert Annas die naturphilosophische Fundierung der stoi‐ schen Ethik dafür, dass sie für das Verständnis der zentralen ethischen Lehren der Stoa nutzlos sei. Lehren wie die, dass die Tugend das einzige Gut, das Laster das einzige Übel und alle anderen Dinge indifferent seien, oder die, dass die Tugend eine Kunst sei, nämlich die des richtigen Auswählens der indifferenten Dinge, ließen sich nur von einem eudämonistischen Standpunkt aus verstehen - zumal wenn die Ethik der Stoa einen praktischen Effekt haben sollte. Es sei 94 III. Die stoische Motivationstheorie 27 Vgl. Ebd. 28 Annas (1993), 164. 29 Vgl. Annas (2007b), 58 f. 30 Vgl. D. L. 7. 40 = LS 26B = SVF 2. 41: καὶ οὐθὲν μέρος τοῦ ἑτέρου ἀποκεκρίσται, καθά τινες αὐτῶν φασιν, ἀλλὰ μεμίχθαι αὐτά. καὶ τὴν παράδοσιν μικτὴν ἐποίουν. 31 D. L. 7.40 f = LS 26B = SVF 1. 46 , 2. 43 und 3 Arch. 5: ἄλλοι δὲ πρῶτον μὲν τὸ λογικὸν τάττουσι, δεύτερον δὲ τὸ φυσικόν, καὶ τρίτον τὸ ἠθικόν· ὧν ἐστι Ζήνων ἐν τῷ Περὶ λόγου καὶ Χρύσιππος καὶ Ἀρχέδημος καὶ Εὔδρομος. Ὁ μὲν γὰρ Πτολεμαεὺς Διογένης ἀπὸ τῶν ἠθικῶν ἄρχεται, ὁ δʼ Ἀπολλόδωρος δεύτερα τὰ ἠθικά, Παναίτιος δὲ καὶ Ποσειδώνιος ἀπὸ τῶν φυσικῶν ἄρχονται, καθά φησι Φανίας ὁ Ποσειδωνίου γνώριμος ἐν τῷ πρώτῳ τῶν Ποσειδωνείων σχολῶν. gänzlich unklar, wie man irgendeine dieser Lehren von der Natur des Kosmos ableiten könne. 27 Annasʼ positive Argumentation gegen die naturphilosophische Fundierung der stoischen Ethik stützt sich vor allem auf die Beobachtung, dass die Ethik in der Stoa zuerst als unabhängiger Zweig der Philosophie gelehrt worden sei, und dass die Naturphilosophie erst auf einer Metaebene in der stoischen Ethik ins Spiel komme: Thus there are two levels on which one studies ethics: first as a subject in its own right with the proper kind of methodology, in which our intuitions are subjected to reflec‐ tion and articulation, and theoretical concepts and distinctions are introduced which explain and make sense of our intuitions; and then later (if one advances that far) as a subject within Stoic philosophy as a whole. 28 Diesen zwei verschiedenen Ebenen des Studiums der stoischen Ethik korres‐ pondieren Annas zufolge zwei Arten der Präsentation stoischer Philosophie. 29 Der zweiten (Meta-)Ebene entspricht eine gemischte Form der Darstellung 30 , welche verschiedene Sätze der drei Teile der stoischen Philosophie (Physik, Logik, Ethik) als Teile eines Gesamtpakets zusammenbringt. Eine Alternative zu dieser gemischten Form stellt das separate Studium der drei Teile der Philo‐ sophie dar, wobei die Reihenfolge hier durchaus variierte. So überliefert uns Diogenes Laertios, dass Zenon und Chrysipp mit dem Studium der Logik be‐ gannen, dann zur Physik übergingen und mit der Ethik endeten. Panaitios und Poseidonios hätten dagegen mit der Physik begonnen, während Diogenes Pto‐ lemaios die Ethik an den Anfang setzte. 31 Sextus Empiricus überliefert uns die Reihenfolge Logik, Ethik, Physik als pädagogische Ordnung der stoischen Lehre und nennt dafür folgende Begründung: Die Stoiker sagen auch, dass die Logik den Anfang mache, die Ethik an zweiter Stelle komme und die Physik an letzter Stelle der Ordnung stehe. Zunächst müsse nämlich der Intellekt gestärkt werden, um die Tradition unüberwindlich zu schützen, und das 95 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 32 S. E. M. 7.22 f = SVF 2. 44: ‛Οι δὲ ἀπὸ τῆς στοᾶς καὶ αὐτοὶ ἄρχειν μέν φασι τὰ λογικά, δευτερεύειν δὲ τὰ ἠθικά, τελευταῖα δὲ τετάχθαι τὰ φυσικά. Πρῶτον γὰρ δεῖν κατησφαλίσθαι τὸν νοῦν εἰς δυσέκκρουστον τῶν παραδιδομένων φυλακήν, ὀχυρωτικὸν δὲ εἶναι τῆς διανοίας τὸν διαλεκτικὸν τόπον· δεύτερον δὲ ὑπογράφειν τὴν ἠθικὴν θεωρίαν πρὸς βελτίωσιν τῶν ἠθῶν· ἀκίνδυνος γὰρ ἡ παραδοχὴ ταύτης ἐπὶ προϋποκειμένῃ τῇ λογικῇ δυνάμει· τελευταίαν δὲ ἐπάγειν τὴν φυσικὴν θεωρίαν· θειοτέρα γάρ ἐστι καὶ βαθυτέρας δεῖται τῆς ἐπιστάσεως. 33 Vgl. D. L. 7.40 f = LS 26B = SVF 1. 46; 2. 43; 3 Arch. 5. 34 Vgl. Ierodiakonou (1993). 35 Ierodiakonou (1993), 67. 36 Ebd. Feld der Dialektik mache das Denken sicher; an zweiter Stelle werde die ethische Theorie hinzugefügt, um den Charakter zu verbessern (denn das Hinzufügen dieser zum zugrunde liegenden logischen Vermögen sei ungefährlich); die physikalische Theorie sei aber als letztes einzubringen (denn sie ist göttlicher und verlangt größere Aufmerksamkeit). 32 Es finden sich also zwei verschiedene Ansätze, um stoische Philosophie zu stu‐ dieren: zum einen die gemischte Form, in der die verschiedenen Sätze der ein‐ zelnen Teile miteinander in Beziehung gesetzt werden; zum anderen das sepa‐ rate Studium der einzelnen Teile selbst. 33 An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie sich die Teile zum Ganzen der stoischen Philosophie verhalten. Katerina Ierodiakonou zufolge gibt es zwei Ansätze innerhalb der Stoa, den philosophi‐ schen Diskurs einzuteilen. 34 Zum einen werde er in Teile (μέρη oder τόποι) auf‐ geteilt, die jeweils nur einige philosophische Theoreme (θεωρήματα) behan‐ delten. In diesem Ansatz werde die stoische Philosophie „as a unitary whole divided into independent parts which deal separately with a portion of the phi‐ losophical theorems“ 35 gesehen. Zum anderen könne der Diskurs jedoch auch als in Arten (εἴδη) eingeteilt betrachtet werden, wodurch die Philosophie „as a plurality of independent parts which are united as far as they all share the same theorems from different perspectives“ 36 erscheine. Die Ansätze, Physik, Logik und Ethik als Teile bzw. Arten zu betrachten, seien, so Annas, als komplementär zu verstehen, und implizierten daher, dass das Studium allein eines einzelnen Teils - z. B. des ethischen - zu keinem adäquaten Verständnis dieses Teils selbst führen könne. Dennoch stelle auch die Ethik einen Teil der Philosophie dar - d. h. einen abgrenzbaren Bereich -, der unabhängig von den anderen beiden Teilen studiert werden könne. Als eine Art von Philosophie habe jedoch auch die Ethik ihre θεωρήματα mit den anderen Teilen gemein, untersuche sie jedoch von ihrer eigenen besonderen Perspektive aus. Die Ethik besitze demnach etwas Eigentümliches - nämlich ihre Perspektive; dennoch könnten die θεωρήματα, welche sie untersucht, nicht vollständig verstanden werden, bis sie auch von 96 III. Die stoische Motivationstheorie 37 Vgl. Annas (19 93), 61 f; Annas verweist auch auf die Metaphern, mit welchen die Stoiker ihre Philosophie charakterisieren, um die Einheit ihrer Teile hervorzuheben: So sei die Philosophie ein Ei, wobei die Logik die schützende Schale bilde, die Physik das Eiweiß darstelle, während die Ethik den Dotter bilde. Darüber hinaus findet man auch den Vergleich der Philosophie mit einem Tier, wobei die Logik die tragenden Knochen bilde, die Physik das Fleisch sei und die Ethik die belebende Seele darstelle; vgl. D. L. 7.39-41 = LS 26B; S. E. M. 7.16-19 = LS 26D. 38 Vgl. Annas (2007b), 66. 39 Vgl. Annas (2007b), 68; siehe auch: Gill (2004, 101-125; 2007). 40 Vgl. Annas (2007b), 71. 41 Vgl. Long (1989 [1996]), 186. 42 Vgl. Annas (2007b), 73. 43 Vgl. Long (1989 [1996]), 185. den anderen beiden Perspektiven - der der Physik und Logik - betrachtet worden seien. Der Student der Ethik müsse daher dazu übergehen, auch die anderen beiden Teile - die Physik bzw. Naturphilosophie und die Logik - zu studieren und die Ergebnisse seines Studiums in ein einheitliches Verständnis von allen drei Perspektiven aus zu integrieren, um auch zu einem vollständigen Verständnis der Ethik zu gelangen. 37 Aus diesem integrierten Verständnis der stoischen Philosophie leitet Annas eine Symmetrie der einzelnen Teile ab, wodurch eine fundierende Funktion der Physik bzw. der Naturphilosophie für die Ethik ausgeschlossen werde, da dies eine Asymmetrie zugunsten der Naturphilosophie impliziere, für die es in den antiken Quellen keinen Anhalt gebe. 38 Vielmehr erhellten sich die verschiedenen Sätze der Naturphilosophie und Ethik gegenseitig. 39 Man verstehe die Ethik also besser, wenn man ihre Sätze mit denen der Naturphilosophie in ein einheitliches Gesamtsystem integriere. Doch gewähre dies der Naturphilosophie keine Vor‐ rangstellung gegenüber der Ethik als Teil der stoischen Philosophie, da schließ‐ lich auch die Sätze der Naturphilosophie durch Kenntnis der Ethik besser ver‐ standen würden. 40 Zudem führe die Asymmetriethese über die Grundlegung der stoischen Ethik in der Naturphilosophie zu einem weiteren Problem: Wenn die Naturphilosophie die Grundlage der stoischen Ethik bilde, welchen Status habe dann diese Grundlage? Anthony Longs These von der Naturphilosophie als theoretischem Postulat, von welchem die Ethik abhänge, 41 lehnt Annas ab, da sie der stoischen Epistemologie fremd sei. 42 Long nimmt an, dass die stoische Ethik letztlich auf einer Intuition über die Natur beruhe, 43 doch sieht Annas dafür keine Anhaltspunkte in den antiken Quellen, zumal es schwer falle, zu glauben, dass Systemdenker wie die Stoiker ihr System auf eine Intuition gegründet hätten, die ja, so Annas, per definitionem ein unintegriertes Element darstelle. Es sei daher im Allgemeinen schwierig, irgendwelche fundierenden Elemente in ein holistisches System wie das der Stoa einzupassen. 44 97 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 44 Vgl. Annas (2007b), 73. 45 Vgl. Plu.Stoic.rep. 1035C-D = LS 60A = SVF 3. 68: „οὐ γὰρ ἔστιν εὑρεῖν τῆς δικαιοσύνης ἄλλην ἀρχὴν οὐδʼ ἄλλην γένεσιν ἢ τὴν ἐκ τοῦ Διὸς καὶ τὴν ἐκ τῆς κοινῆς φύσεως· ἐντεῦθεν γὰρ δεῖ πᾶν τὸ τοιοῦτον τὴν ἀρχὴν ἔχειν, εἰ μέλλομέν τι ἐρεῖν περὶ ἀγαθῶν καὶ κακῶν.“ πάλιν ἐν ταῖς Φυσικαῖς θέσεσιν „οὐ γὰρ ἔστιν ἄλλως οὐδʼ οἰκειότερον ἐπελθεῖν ἐπὶ τὸν τῶν ἀγαθῶν καὶ κακῶν λόγον οὐδʼ ἐπὶ τὰς ἀρετὰς οὐδʼ ἐπʼ εὐδαιμονίαν, ἀλλʼ <ἢ> ἀπὸ τῆς κοινῆς φύσεως καὶ ἀπὸ τῆς τοῦ κόσμου διοικήσεως.“ προελθὼν δʼ αὖθις· „δεῖ γὰρ τούτοις συνάψαι τὸν περὶ ἀγαθῶν καὶ κακῶν λόγον, οὐκ οὔσης ἄλλης ἀρχῆς αὐτῶν ἀμείνονος οὐδʼ ἀναφορᾶς, οὐδʼ ἄλλου τινὸς ἕνεκεν τῆς φυσικῆς θεωρίας παραληπτῆς οὔσης ἢ πρὸς τὴν περὶ ἀγαθῶν ἢ κακῶν διάστασιν.“ 46 Vgl. Plu.Stoic.rep. 1035A-B = LS 26C = SVF 2. 42: τὰ ἐν τῷ τετράτῳ Περὶ βίων ἔχοντα κατὰ λέξιν οὕτως· „πρῶτον μὲν οὖν δοκεῖ μοι κατὰ τὰ ὀρθῶς ὑπὸ τῶν ἀρχαίων εἰρημένα τρία γένη τῶν τοῦ φιλοσόφου θεωρημάτων εἶναι, τὰ μὲν λογικὰ τὰ δʼ ἠθικὰ τὰ δὲ φυσικά· εἶτα τούτων δεῖν τάττεσθαι πρῶτα μὲν τὰ λογικὰ δεύτερα δὲ τὰ ἠθικὰ τρίτα δὲ τὰ φυσικά· τῶν δὲ φυσικῶν ἔσχατος εἶναι ὁ περὶ τῶν θεῶν λόγος· διὸ καὶ τελετὰς ἠγόρευσαν τὰς τούτου παραδόσεις.“ 47 Vgl. Annas (2007b), 80-82; siehe auch: Ierodiakonou (1993), 71. 48 Vgl. Brunschwig (1991). 49 Vgl. Annas (1993), 163 f. 50 Vgl. Annas (1993), 164. Über dieses Argument mit Hilfe der Symmetriethese hinaus entwickelt Annas, ausgehend von der oben bereits angesprochenen variierenden Reihen‐ folge der unterschiedlichen Teile in der Unterweisung, ein weiteres Argument für die Unabhängigkeit der Ethik von den anderen beiden Teilen des stoischen Systems. So überliefere uns zwar Plutarch, dass Chrysipp seinen ethischen Werken stets naturphilosophische Präfationen vorgeschaltet und damit ethische Themen ausgehend von naturphilosophischen Erwägungen diskutiert habe, 45 doch schließe das zum einen nicht aus, dass Chrysipp auch Werke verfasst habe, in welchen er ethische Themen wie Tugend, Emotionen oder den Handlungs‐ impuls unabhängig von naturphilosophischen Lehren behandelt habe, worauf dieselbe Passage bei Plutarch etwas früher hinweise, in welcher die Ethik der Naturphilosophie vorangestellt wird. 46 Die jeweilige Reihenfolge sei vielmehr pädagogischen Erwägungen geschuldet, je nachdem ob ein Anfänger an die stoischen Lehren herangeführt werden soll oder bestimmte Detailfragen inner‐ halb der stoischen Ethik behandelt werden sollen. 47 Zum anderen stammten, wie Annas unter Bezug auf Jacques Brunschwig 48 zu zeigen versucht, alle Zitate, welche die Physik der Ethik voranstellten, aus naturphilosophischen, nicht aus ethischen Werken Chrysipps, so dass sich kein Problem für die Autonomie der Ethik ergebe. 49 Die kosmische Natur spiele zwar eine Rolle für das Studium der ethischen Theorie und ihren Ort innerhalb des Ganzen der stoischen Philoso‐ phie, nicht jedoch in der ethischen Theorie selbst. 50 Es gebe daher nicht eine einzige maßgebliche Weise der Präsentation der stoischen Philosophie, sondern 98 III. Die stoische Motivationstheorie 51 Vgl. Annas (2007b), 83 und 85. 52 Vgl. Annas (1993), 163. 53 Cic.Fin. 3.72 f = SVF 3.281 f: Ad easque virtutes de quibus disputatum est dialecticam etiam adiungunt et physicam, easque ambas virtutum nomine appellant […]. Physicae quoque non sine causa tributus idem est honos, propterea quod qui convenienter naturae victurus sit, ei proficiscendum est ab omni mundo atque ab eius procuratione. Nec vero potest quis‐ quam de bonis et malis vere iudicare nisi omni cognita ratione naturae et vitae etiam deorum, et utrum conveniat necne natura hominis cum universa. Quaeque sunt vetera praecepta sapientium, qui iubent “tempori parere” et “sequi deum” et “se noscere” et “nihil nimis”, haec sine physicis quam vim habeant (et habent maximam) videre nemo potest. Atque etiam ad iustitiam colendam, ad tuendas amicitias et reliquas caritates quid natura valeat haec una cognitio potest tradere. Nec vero pietas adversus deos nec quanta iis gratia vielmehr eine Vielzahl gleichermaßen legitimer Weisen, die stoische Philoso‐ phie darzustellen. 51 Aufgrund der verschiedenen Zugangsweisen zur stoischen Philosophie und ihrer unterschiedlichen Darstellung müssten auch die ein‐ zelnen Teile der stoischen Philosophie separat untersucht und studiert werden können, so dass die Ethik einen von der Naturphilosophie unabhängigen Phi‐ losophiezweig darstelle, dem die Berufung auf die Natur des Kosmos nichts hinzufügen könne. Dies werde Annas zufolge auch durch die Tatsache unter‐ strichen, dass Chrysipp in seinen ethischen Unterweisungen dialektische Me‐ thoden einsetzte, die sich bekanntlich auf allgemeine Meinungen (ἐνδόξα) stützen und damit ein autonomes Fundament für die Ethik bilden. 52 Des Weiteren stützt sich Annas zur Untermauerung ihrer Unabhängigkeits‐ these auf Ciceros Cato in De finibus 3.72 f: An die Tugenden, über die wir gehandelt haben, schließen sie auch die Dialektik und die Physik an. Beide bezeichnen sie als Tugenden […]. Dieselbe Ehre ist nicht ohne Grund auch der Physik zugewiesen worden. Denn derjenige, der in Übereinstimmung mit der Natur leben will, muss notwendigerweise vom Kosmos als Ganzem und seiner Verwaltung ausgehen. Niemand kann nämlich über das Gute und Schlechte richtig urteilen, wenn er nicht zuvor den gesamten Plan der Natur und auch das Leben der Götter kennengelernt hat, und die Frage zu beantworten vermag, ob die Natur des Menschen mit derjenigen des Kosmos übereinstimmt oder nicht. Außerdem kann niemand ohne die Physik einsehen, welchen Sinn die alten Sprüche der Weisen haben (und ihr Sinn ist überaus bedeutend), man müsse ‚dem richtigen Zeitpunkt gehorchen‘, ‚Gott nachfolgen‘, ‚sich selbst erkennen‘ und ‚nichts im Übermaß tun‘. Es ist dasselbe Wissen, das allein uns lehren kann, was die Natur vermag, wenn es gilt, die Gerech‐ tigkeit zu üben und die Freundschaft und die sonstigen menschlichen Beziehungen zu pflegen. Auch, was die Frömmigkeit den Göttern gegenüber bedeutet und wie dankbar wir ihnen zu sein verpflichtet sind, kann ohne die Einsicht in den Aufbau der Natur nicht begriffen werden. 53 99 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik debeatur sine explicatione naturae intellegi potest; Annas (1993), 165 Anm. 22 möchte omni cognita ratione naturae et vitae etiam deorum als Hendiadyoin lesen und damit die für Chrysipp so wichtige Unterscheidung von Theologie und der restlichen Physik (Plu.Stoic.rep. 1035A = LS 26C = SVF 2. 42) verwischen. Es gibt jedoch keinen Grund, hier ein Hendiadyoin zu sehen, zumal Annas auch etiam zu übersehen scheint. 54 Vgl. Annas (1993), 165 f. Für Annas zeigt diese Passage lediglich, dass das Studium der Physik allein das Verständnis der Ethik betreffe, also auf der oben angesprochenen Metaebene liege. Unser Wissen über die Natur des Kosmos helfe uns dabei, unsere mensch‐ lichen Anliegen in einen weiteren Rahmen einzuordnen und uns so über ihre wahre Bedeutung bewusster zu werden. Unsere naturphilosophischen Kennt‐ nisse ermöglichten es uns, uns sicherer über die Basis unserer ethischen Urteile zu fühlen, indem wir sie in einen größeren Kontext stellten. Darüber hinaus könnten wir durch sie isolierte ethische Sätze verbinden und sie als Teile einer größeren Einheit betrachten. Schließlich seien wir mit Hilfe der Physik dazu in der Lage, Phänomene unseres ethischen Lebens wie Freundschaft, Gerechtigkeit oder unsere Beziehung zu Gott besser zu verstehen. Dennoch sei es nötig, die ethischen vor den naturphilosophischen Studien zu betreiben, da wir sonst nicht wüssten, was wir in einen größeren Kontext stellen. Die Perspektive der Natur des Kosmos füge folglich weder irgendwelche ethischen Lehren hinzu, noch verändere oder modifiziere sie diejenigen, die wir aus dem unabhängigen Stu‐ dium der Ethik als einer praktischen Unternehmung bereits kennen. Die weitere Perspektive eröffne uns nur ein tieferes Verständnis eines Faches, dessen Inhalt wir bereits unabhängig von ihr kennen. Daher könne uns die kosmische Per‐ spektive auch keine neue Motivation zu tugendhaftem Handeln geben: Wenn man die ethische Theorie verstanden und ihr entsprechend gelebt hat, hat man bereits eine hinreichende Motivation, tugendhaft zu handeln; und wenn die kosmische Perspektive eine neue Motivation hervorgebracht hat, dann hatte man vorher noch keine echte ethische Perspektive eingenommen. 54 Freilich sei es laut Annas möglich, dass die bisherigen Überlegungen über Tugend und Glückseligkeit beim Akteur rein theoretisch blieben, so dass sie es nicht vermöchten, ihn zu einem internalisierten und rational gerechtfertigten Erfassen der stoischen Lehre zu führen. In solchen Fällen könnten die Sätze der Physik es durchaus erreichen, dass der Akteur auch den Rest des stoischen Sys‐ tems akzeptiere und es für rational gerechtfertigt halte. Doch sei dies eine Be‐ hauptung über die menschliche Psychologie, nicht über die stoische Ethik. Sie sage lediglich, dass die Sätze der Physik bzw. Naturphilosophie eine stärkere und tiefere Anziehungskraft auf den Menschen ausübten, als es Tugend und Glückseligkeit allein vermöchten. 55 100 III. Die stoische Motivationstheorie 55 Vgl. Annas (2007b), 72. 56 D. L. 7. 87 f = LS 63C = SVF 3. 4. 57 Stob.Ecl. 2.75.11-76.8 = LS 63B = SVF 1.179, 1.552 und 3.12. 58 Dass Areiosʼ Überarbeitung der stoischen Ethik philosophisch motiviert war, versuchen Hahm (1983) und Long (1983a [1996]) zu zeigen. 59 Man kann Areiosʼ Behandlung der kosmischen Natur mit seiner Behandlung der οἰκείωσις-Lehre vergleichen. Er übergeht die οἰκείωσις-Lehre völlig, während sie doch in den anderen beiden zentralen Quellen für die stoische Ethik, Diogenes Laertios (7.85f = LS 57A = SVF 3.178) und Cicero (Fin. 3.16-25 = LS 59D und 64H), eine fundamentale Rolle spielt. III.1. 1. 2 Die Naturphilosophie als Fundament der stoischen Ethik Wie sind diese Argumente für die Ablehnung einer naturphilosophischen Fun‐ dierung der stoischen Ethik und damit für die Eigenständigkeit der Ethik als Zweig der stoischen Philosophie zu bewerten? Betrachten wir zunächst wiederum Annas negative Argumentation und die Passage bei Diogenes Laertios 56 . Annas versucht diesem Text, welcher eindeutig sagt, dass eine teleologische Natur die Lebewesen - den Menschen einge‐ schlossen - zu dem macht, was sie sind, so dass letztlich die kosmische Natur dafür verantwortlich ist, dass die Vernunft in unserem Leben eine zentrale Rolle spielt, seine Schlagkraft zu nehmen, indem sie ihn in den weiteren antiken Quellenbefund einordnet. Dazu verweist sie insbesondere auf Sextus Empiricus und Areios Didymos, die in ihrer Darstellung der stoischen Ethik ohne jede Erwähnung der kosmischen Natur auskommen. Der Verweis auf diese Texte ist jedoch problematisch. Areios Didymos versucht, in seiner Zusammenschau der stoischen und peripatetischen Ethik 57 gerade die Gemeinsamkeiten der beiden philosophischen Systeme herauszustellen, so dass es nicht verwunderlich sein dürfte, dass er dafür bestimmte Aspekte einer Theorie ausblendet. 58 Seine Dar‐ stellung der stoischen Ethik war geradezu darauf ausgerichtet, die Rolle der kosmischen Natur zu minimieren. 59 So berichtet er, dass Zenons ursprüngliche τέλος-Formel ὁμολογουμένως ζῆν (‚in Übereinstimmung leben‘) gelautet habe und somit ohne Verweis auf die Natur ausgekommen sei. Sein Schüler Kleanthes habe dies jedoch als zu wenig explizit empfunden und daher die Spezifizierung τῇ φύσει eingefügt, was schließlich zur Formel ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν (‚in Übereinstimmung mit der Natur leben‘) geführt habe. Chrysipp wollte dies noch weiter verdeutlichen und bestimmte das τέλος als κατʼ ἐμπειρίαν τῶν φύσει συμβαινόντων ζῆν (‚gemäß der Erfahrung dessen, was durch die Natur geschieht, leben‘). Areiosʼ Bericht ist also offensichtlich darauf ausgerichtet, eine mit jeder Generation zunehmende Bedeutung der Natur in der stoischen Lehre aufzuweisen. Seine Darstellung kann daher nicht von gleichem Gewicht sein wie die des neutralen Berichterstatters Diogenes Laertios. 60 Dieser zitiert die 101 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 60 Zur Unglaubwürdigkeit der Geschichte von der unvollständigen Formel siehe: Striker (1991 [1996]), 223. 61 Vgl. D. L. 7. 87 = LS 63C = SVF 1.552. 62 Vgl. S. E. M. 11.108; siehe dazu: Schofield (1983), 34. 63 Vgl. Annas (1993), 303 Anm. 50. 64 Vgl. Inwood (1995), 655. 65 Betegh (2003), 286. 66 Vg l. dazu auch Sen.Ep. 66.39: Quod est summum hominis bonum? Ex naturae voluntate se gerere. Annas stellt lediglich einige Überlegungen dazu an, wie der Bezug auf die κοινὴ φύσις in D. L. 7.89 = LS 63C = SVF 1.555 zu verstehen sei. Ihrer Meinung nach sei mit κοινὴ φύσις lediglich die allen rationalen Wesen gemeinsame Vernunftnatur ge‐ meint, welche es uns erlaube, uns von unseren eigenen partikularen Interessen zu dis‐ tanzieren und ihnen nicht mehr Gewicht zu geben als denjenigen der anderen, worin Annas zufolge letztlich der moralische Standpunkt bestehe. Folglich sieht sie auch in der Spezifizierung des τέλος als οὐδὲν ἐνεργοῦντας ὧν ἀπαγορεύειν εἴωθεν ὁ νόμος ὁ κοινός, ὅσπερ ἐστὶν ὁ ὀρθὸς λόγος nicht mehr als die Forderung, in Übereinstimmung umfassendere τέλος-Formel ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν („in Übereinstim‐ mung mit der Natur leben“) und führt sogar das genaue Buch an, in welchem sie sich findet, 61 was die Bezugnahme auf die Natur in der Bestimmung des τέλος auf den Gründer der stoischen Schule Zenon zurückführt. Sextus Empiricus ist dagegen ein polemischer Autor, der es sich vor allem zum Ziel gesetzt hat, die Schwächen der stoischen Lehre - insbesondere ihre vermeintlichen Selbstwidersprüche - aufzuzeigen, so dass man ihn nur mit großer Vorsicht zur Rekonstruktion der stoischen Philosophie heranziehen kann. Zudem stimmt die Behauptung auch nicht, dass die kosmische Natur in Sextusʼ Diskussion der ethischen Theorie der Stoa keine Erwähnung finde. Er berichtet nämlich von frühen Reaktionen auf Zenons kosmologisches Argu‐ ment, 62 was zeigt, dass er Zenons Verwendung der kosmischen Natur kannte, auch wenn er ihr in seinen Berichten eine marginale Rolle zuschreibt. Darüber hinaus lässt sich zur Untermauerung der These von der zentralen Rolle der kos‐ mischen Natur in der stoischen Ethik auch Kleanthesʼ Hymnus auf Zeus an‐ führen, der keinen Zweifel an der grundlegenden Funktion der kosmischen Natur für die stoische Ethik lässt, von Annas aber nur in einer Fußnote 63 in ihrer Diskussion über Gerechtigkeit erwähnt wird. 64 Wenn nun also die Darstellung bei Diogenes Laertios „the most authoritative account“ 65 der stoischen Ethik darstellt, ist es umso bedauerlicher, dass es Annas unterlässt, die Ausführungen über das τέλος am Ende der Passage näher zu untersuchen, in welchen der kosmischen Natur, dem universellen Gesetz, der alles durchdringenden rechten Vernunft und Zeus als dem Herrscher und Ordner alles Seiendem eine besondere Rolle für das stoische τέλος zuge‐ schrieben wird. 66 Des Weiteren wird nicht klar, wie Annas die Aussage verstehen 102 III. Die stoische Motivationstheorie mit unserer Vernunft zu handeln, welche allen Menschen gemeinsam sei. Die Vernunft werde als eine präskriptive Kraft vorgestellt, welche uns Regeln und Prinzipien für unser Handeln vorgebe. Doch sei dies keine neue Erkenntnis: „we know this already from reflecting on human nature“. Daher beinhalte auch die Bestimmung des ὀρθὸς λόγος als ὁ αὐτὸς ὢν τῷ Διὶ, καθηγεμόνι τούτῳ τῆς τῶν ὄντων διοικήσεως ὄντι nichts wirklich Neues. Sie besage lediglich, dass die Vernunft nicht nur in mir, sondern auch in allen anderen Menschen und möglicherweise auch in anderen Teilen des Kosmos - z. B. bei den Göttern - zu finden sei (vgl. dazu Annas [1993], 173-175). Es stellt sich allerdings die Frage, wozu sich dann der Bezug auf die κοινὴ φύσις überhaupt im Text findet, wenn doch mit der ἀνθρωπίνη φύσις bereits alles gesagt sei? Die Deutung der κοινὴ φύσις als der allen Menschen gemeinsamen Natur passt schlecht zu der Kon‐ trastierung von κοινὴ und ἀνθρωπίνη φύσις in D. L. 7.89 = LS 63C = SVF 1.555, zumal auch die Formulierung ὁ νόμος ὁ κοινός nur eine Variante von τὴν τοῦ ὅλων διοικητοῦ βούλησιν in D. L. 7.88 = LS 63C = SVF 3.4 zu sein scheint. ὁ νόμος ὁ κοινός dürfte daher wohl eher das universelle Gesetz des Kosmos bezeichnen und nicht nur die menschliche Rationalität. Das universelle Gesetz wird von Zeus, nicht von den Menschen auferlegt. Jedoch ist es ein vernünftiges Gesetz, d. h. es basiert auf guten Gründen, und kann daher von uns kraft unserer Vernunft eingesehen werden. Zudem erscheint die Identifikation des ὀρθὸς λόγος mit der menschlichen Vernunft problematisch, da die Texte immer nur von einer λόγος-Teilhabe des Menschen sprechen und einen kategorialen Unterschied zwischen dem Wissen des Menschen - auch des stoischen Weisen - und dem Wissen Gottes sehen (vgl. dazu z. B. Sen.Ep. 109.5: non enim omnia sapiens scit; siehe dazu auch: Kerferd [1978], 125-136; Frede [1996], 16 f). 67 Vgl. D. L. 7. 88 = LS 63C = SVF 3 . 4: εἶναι δʼ αὐτο τοῦτο τὴν τοῦ εὐδαίμονος ἀρετὴν καὶ εὔροιαν βίου, ὅταν πάντα πράττηται κατὰ τὴν συμφωνίαν τοῦ παρʼ ἑκάστῳ δαίμονος πρὸς τὴν τοῦ τῶν ὅλων διοικ ητοῦ βούλησιν. 68 Vgl. dazu auc h Epict.Diss. 2. 6. 9 = LS 58J = SVF 3.191: διὰ τοῦτο καλῶς ὁ Χρύσιππος λέγει ὅτι μέχρις ἂν ἄδηλά μοι ᾖ τὰ ἑξῆς, ἀεὶ τῶν εὐφθεστέρων ἔχομαι πρὸς τὸ τυγχάνειν τῶν κατὰ φύσιν· αὐτὸς γάρ μʼ ὁ θεὸς ἐποίησεν τούτων ἐκλεκτικόν. εἰ δέ γε ᾔδειν ὅτι νοσεῖν μοι καθείμαρτει νῦν, καὶ ὥρμων ἂν ἐπʼ αὐτό. καὶ γὰρ ὁ πούς, εἰ φρένας εἶχεν, ὥρμα ἂν ἐπὶ τὸ πηλοῦσθαι; siehe auch: Inwood (1995), 653. will, dass unsere Glückseligkeit davon abhänge, dass wir unseren inneren δαίμων mit dem Willen des Ordners des Universums in Einklang bringen. 67 Diese Aussage legt es nicht nur nahe, dass die kosmische Natur grundlegend für die stoische Ethik ist, sondern in manchen Fällen sogar die Rolle eines Kriteriums einnimmt. 68 Insofern nämlich die Natur des Menschen ein Teil der Natur des Kosmos und damit in einem partiellen Sinne die Natur des Kosmos ist und beide Naturen somit eine Form der Vollendung darstellen, ist das tugendhafte Leben (die eigentümliche Vollendung vernünftiger Wesen) das Leben in Übereinstim‐ mung mit der Natur. Wenn nun das tugendhafte Leben die eigentümliche Voll‐ endung des Menschen darstellt und die Eigentümlichkeit des Menschen in seiner Vernunftnatur besteht, so gilt es, diese Vernunftnatur zur Vollendung zu führen. Wie dies gelingen kann, kann man an der Natur des Kosmos ablesen, welche vollkommene Rationalität bzw. rechte Vernunft (ὀρθὸς λόγος) ist. 103 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 69 Vgl. Cooper (2012), 152 -154; zur folgenden Unterscheidung siehe bereits: Striker (1986 [1996]), 300 f. 70 Diese Qualifikation ist aus zwei Gründen nötig: Zum einen hat Zeus Gedanken über jede einzelne Person zu jedem Zeitpunkt der Weltgeschichte - und kein Mensch kann alle diese Gedanken haben. Die vollkommen rationale und tugendhafte Person kann nur die Gedanken mit Zeus gemeinsam haben, die seine eigene Situation als Individuum mit ihren ganz persönlichen Bedürfnissen und Entscheidungen betreffen. Zum anderen wird jeder von uns auch zahlreiche Gedanken in der ersten Person haben, die wir, uns auf uns selbst beziehend, in der Ich-Form formulieren. Zeus kann diese Gedanken nicht in Form der ersten Person haben (dennoch sind diese Gedanken bei einer tugendhaften Person in Übereinstimmung mit Zeusʼ Gedanken). 71 Vgl. Cooper (2012), 152 f. 72 Vgl. Cooper (2012), 153 f. 73 Vgl. Betegh (2003). John Cooper 69 hat zudem darauf hingewiesen, dass die stoischen τέλος-For‐ meln das glückselige Leben nicht nur als ‚naturgemäßes Leben‘ (κατὰ φύσιν ζῆν), sondern auch als ‚Leben in Übereinstimmung mit der Natur‘ (ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν) bestimmen. Das Adverb ὁμολογουμένως hat die Ver‐ nunft (λόγος) als Wurzel und bedeutet wörtlich ‚die gleichen bzw. gemeinsamen (ὁμο-) vernünftigen Gedanken haben‘. Damit ist jedoch nicht allein gemeint, dass man die gleichen Gedanken mit sich selbst hat - d. h. konsistent ist -, wie es die Zenonische Formel ‚in Übereinstimmung leben‘ (ὁμολογουμένως ζῆν) nahelegen könnte, sondern dass man auch manche 70 Gedanken mit der Natur des Kosmos - unter Zeusʼ Leitung - teilt. ‚In Übereinstimmung mit der Natur zu leben‘, heißt daher, diejenigen Gedanken, mit denen man sein Leben führt, in vollkommener Übereinstimmung mit Zeusʼ Gedanken zu haben, mit welchen er das gesamte Weltgeschehen lenkt, insofern sie unser eigenes Leben be‐ treffen. 71 Beim ‚naturgemäßen Leben‘ wird dagegen kein Bezug auf Zeusʼ Ge‐ danken genommen, sondern es handelt sich hier um das Leben gemäß den na‐ türlichen Ereignissen, die durch Zeusʼ Gedanken hervorgebracht werden und die wir im Laufe der Zeit beobachten können. Aus der Beobachtung der Natur können wir so Rückschlüsse auf Zeusʼ Gedanken ziehen und normative Prinzi‐ pien darüber ableiten, wie wir leben sollen. Auch auf diese Weise folgt man letztlich den Forderungen der kosmischen Natur hinsichtlich der Frage, wie ein menschliches Wesen leben sollte. 72 Dies zeigt, von welch großer Bedeutung die Natur des Kosmos für das sittliche Leben der Menschen und damit letztlich auch für die ethische Theorie der Stoa ist. Außerdem hat Gabor Betegh 73 überzeugend nachgewiesen, dass die Bestim‐ mung des τέλος und der Tugend des glücklichen Menschen (εὐδαίμων) bei Di‐ ogenes Laertios 74 auf Platons Timaios anspielt. Der δαίμων bezeichnet an dieser Stelle das leitende Seelenvermögen (ἡγεμονικόν), welches eine konstitutive 104 III. Die stoische Motivationstheorie 74 D. L. 7. 88 = LS 63C = SVF 3. 4: πάντα πράττηται κατὰ τὴν συμφωνίαν τοῦ παρʼ ἑκάστῳ δαίμονος πρὸς τὴν τοῦ τῶν ὅλων διοικητοῦ βούλησιν. 75 Vgl. Betegh (2003), 286 f; siehe dazu auch unten: S. 130-135; anderer Ansicht ist dagegen Rist (1969), 262 f; zum menschlichen δαίμων siehe auch: D. L. 7.151 = SVF 2.1102: φασὶ δʼ εἶναι καί τινας δαίμονας ἀνθρώπων συμ πάθειαν ἔχοντας, ἐπόπτας τῶν ἀνθρωπείων πραγμάτων; zum Verhältnis des menschlichen δαίμων zur Vernunft und zu Zeus siehe: Epict.Diss. 1.14.12: ἀλλʼ οὖν οὐδὲν ἧττον καὶ ἐπίτροπον ἑ κάστῳ παρέστησεν [sc. ὁ Ζεύς] τὸν ἑκάστου δαίμονα καὶ παρέδωκεν φυλάσσειν αὐτὸν αὐτῷ καὶ τοῦτον ἀκοίμητον καὶ ἀπαραλόγιστον; Marc.Aurel. 5.27: συζῇ δὲ θεοῖς ὁ συνεχῶς δεικνὺς αὐτοῖς τὴν ἑαυτοῦ ψυχὴν ἀρεσκομένην μὲν τοῖς ἀπονεμομένοις, ποιοῦσαν δέ, ὅσα βούλεται ὁ δαίμων, ὃν ἑκάστῳ προστάτην καὶ ἡγεμόνα ὁ Ζεύς ἔδωκεν ἀπόσπασμα ἑαυτοῦ. οὗτος δέ ἐστιν ὁ ἑκαστοῦ νοῦς καὶ λόγος. 76 Siehe dazu: Inwood (1985), 42-102. 77 Vgl. Arist.Top. 112a 36-38 = IP frg. 236: ὁμοίως δὲ καὶ εὐδαίμονα, οὗ ἂν ὁ δαίμων ᾖ σπουδαῖος, καθάπερ Ξενοκράτης φησὶν εὐδαίμονα εἶναι τὸν τὴν ψυχὴν ἔχοντα σπουδαίαν· ταύτην γὰρ ἑκάστου εἶναι δαίμονα. 78 Vgl. Betegh (2003), 287 ; siehe dazu auch: Goulet (1999), ad loc.; Reydams-Schils (1999), 69 f; Tieleman (2003), 230. 79 Vgl. zum Folgenden: Betegh (2003), 289-293. Funktion für die Bestimmung des stoischen τέλος hat, insofern es das Vermögen ist, welches unser Handeln lenkt. 75 Es ist freilich auffällig, dass der Terminus δαίμων an dieser Stelle auftaucht, obschon er nicht zum technischen psycholo‐ gischen Vokabular der Stoa 76 gehört. Man kann natürlich ein Spiel mit der Ety‐ mologie von εὐδαιμονία (hier präsent in εὐδαίμων) oder eine Anspielung auf Xenokratesʼ Bestimmung von εὐδαιμονία 77 vermuten, jedoch scheint es ele‐ ganter und einfacher, eine Anspielung auf Platons Timaios 90b-d darin zu sehen. 78 Denn die spezifische Betonung der zentralen Rolle der Verbindung und Harmonie (συμφωνία) zwischen unserem leitenden Seelenvermögen (hier: δαίμων) und dem herrschenden Prinzip des Kosmos für das Erreichen der εὐδαιμονία in unserer Passage ist genau das, was wir im Timaios finden. Zudem weist der Timaios einige Charakteristika auf, die ihn unter den Schriften Platons für die Stoiker besonders interessant machten. 79 So durch‐ dringt im Timaios die göttliche Vernunft in Form des Demiurgen und der Welt‐ seele den gesamten Kosmos - eine Funktion, die im stoischen System Zeus als aktives Prinzip übernimmt. Zudem ist in beiden Systemen die Rationalität des Kosmos der Garant seiner Gutheit. Der Kosmos ist gut, weil er eine rationale Ordnung besitzt und rational funktioniert. Zudem ist Rationalität auch das kennzeichnende Charakteristikum des Menschen, welches ihm eine Sonder‐ stellung im Kosmos einräumt, da er das Geschehen im Kosmos verstehen und daran mitwirken kann. Im Timaios finden wir eine Gleichförmigkeit von Welt- und Menschenseele. Ein ähnlicher Gedanke findet sich in der Stoa, der zufolge nur die Natur des Kosmos und die vollkommen rationale und tugendhafte 105 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 80 Vgl. D. L. 7.87 = LS 63C = SVF 3.4; Cic.Fin. 3.63-68 = LS 57F = SVF 3.333, 340, 342, 369, 371, 616; Cic.ND 2.37 = LS 54H = SVF 2.1153; siehe dazu auch Kerferd (1978); Inwood (1999). 81 Vgl. Stob.Ecl. 2.73.19-74.1 = LS 41H = SVF 3.112: εἶναι δὲ τὴν ἐπιστήμην κατάληψιν ἀσφαλῆ καὶ ἀμετάπτωτον ὑπὸ λόγου· ἑτέραν δὲ ἐπιστήμην σύστημα ἐξ ἐπιστημῶν τοιούτων, οἷον ἡ τῶν κατὰ μέρος λογικὴ ἐν τῷ σπουδαίῳ ὑπάρχουσα· ἄλλην δὲ σύστημα ἐξ ἐπιστημῶν τεχνικῶν ἐξ αὑτοῦ ἔχον τὸ βέβαιον, ὡς ἔχουσιν αἱ ἀρεταί; siehe auch: Kerferd (1978), 126 f und 130; White (1985), 71-73; Menn (1995), 29 Anm. 35; Vog t (2008), 117. 82 Zum Gedanken der ὁμοίωσις θεῷ siehe: Plat.Symp. 207e-209e; Theaet. 176b-c; Rep. 611d-e; 500c-501b; 613a-b; Nom. 716c-d; Phaed. 81a-84b; Phdr. 245c-249a; Ti. 41d-47c; 79c; 90a-d; zu Platons K onzeption der ὁμοίωσις θεῷ siehe: Annas (1999), 52-71; Sedley (1997), 327-229; zu früheren Konzeptionen siehe: Roloff (1970). Ein ähnlicher Gedanke ist der Vergleich der εὐδαιμονία des Weisen mit derjenigen Gottes in der Stoa; vgl. Stob.Ecl. 2.98.17-99.2 = SVF 3.54: Διʼ ὃ καὶ πάντως εὐδαιμονεῖν ἀεὶ τῶν ἀνθρώπων τοὺς ἀγαθούς, τοὺς δὲ φαύλους κακεδαιμονεῖν. καὶ <ἐκείνων> τὴν εὐδαιμονίαν μὴ διαφέρειν τῆς θείας εὐδαιμονίας, μηδὲ τὴν ἀμεριαίαν ὁ Χρύσιππός φησι διαφέρειν τῆς τοῦ Διὸς εὐδαιμονίας, <καὶ> κατὰ μηδὲ αἱρετωτέραν εἶναι μήτε καλλίω μήτε σεμνοτέραν τὴν τοῦ Διὸς εὐδαιμονίαν τῆς τῶν σοφῶν ἀνδρῶν; Orig.Cels. 6.48 = SVF 3.248: εἶτα ἐὰν μὲν Handlung des Weisen in einem strengen Sinne gut sind. Folglich ist die mensch‐ liche Vernunft nicht nur der einzige Teil der Welt, der an der Vernunft des Kosmos teilhat, sondern auch der einzige Teil, der die Rationalität und Gutheit des Kosmos nachahmen und reproduzieren kann. 80 Des Weiteren kann sich sowohl für die Stoiker als auch für den Platon des Timaios die Korrespondenz zwischen der Natur des Menschen und der Natur des Kosmos nur dann manifestieren, wenn der einzelne aktiv die Tätigkeiten der Natur des Kosmos studiert und sich so ihrer teleologischen Struktur, ihrer Harmonie und Rationalität bewusst wird. Der Mensch kann diese Eigenschaften der Natur des Kosmos nachahmen, indem er sie beobachtet. Dies meint auch Chrysipp mit seiner τέλος-Formel „gemäß der Erfahrung dessen leben, was durch die Natur geschieht“. Dadurch wird der Mensch vollkommen rational, tugendhaft und vernünftig. Aufgrund dessen muss man sowohl dem Timaios als auch der Stoa zufolge ein gewisses naturphilosophisches Wissen besitzen, um das τέλος des menschlichen Lebens erreichen zu können. Denn man kann die rationale und teleologische Struktur der kausalen Prozesse des Kosmos nur mit‐ hilfe naturphilosophischer Forschungen verstehen. Dabei ist es für das Erlangen der Glückseligkeit freilich keineswegs notwendig, ein vollständiges und umfas‐ sendes Wissen der Naturphänomene zu erwerben, sondern es reicht aus, sich ein klares Verständnis der Kausalprinzipien anzueignen, die sich in den ein‐ zelnen Phänomenen manifestieren. 81 Durch diese Beobachtung der Natur des Kosmos verwirklicht der Mensch zugleich auch seine inneren Vermögen und wird Gott gleich. 82 Darin besteht seine Tugendhaftigkeit und damit seine 106 III. Die stoische Motivationstheorie τὴν αὐτὴν ἀρετὴν λέγοντες ἀνθρώπου καὶ θεοῦ οἱ ἀπὸ τῆς Στοᾶς φιλόσοφοι μὴ εὐδαιμονέστερον λέγωσιν εἶναι τὸν ἐπὶ πᾶσι θεὸν τοῦ ἐν ἀνθρώποις κατʼ αὐτοὺς σοφοῦ, ἀλλʼ ἴσην εἶναι τὴν ἀμφοτέρων εὐδαιμονίαν Κέλσος οὐ καταγελᾷ; siehe dazu auch: Vogt (2008), 114-116. 83 Vgl. zu diesem Ged anken in der Stoa: Cic.ND 2.153: Quid vero hominum ratio non in caelum usque penetravit? Soli enim ex animantibus nos astrorum ortus, obitus cursusque cognovimus, ab hominum genere finitus est dies, mensis, annus, defectiones solis et lunae cognitae praedictaeque in omne posterum tempus, quae, quantae, quando futurae sint. Quae contuens animus accedit ad cognitionem deorum, e qua oritur pietas, cui coniuncta iustiti a est reliquaeque v irtutes, e quibus vita beata exsistit par et similis deorum, nulla alia re nisi immortalitate, quae nihil ad bene vivendum pertinet, cedens caelestibus; zur Ebenbürtigkeit der Tugend des Weisen mit der der Götter bzw. Zeusʼ siehe auch: Procl.Tim. 106F = SVF 3.252; Alex.Fat. 211.13-17 = SVF 3.247; Them.Or. 2.27C = SVF 1.564; 3.251; Cic.Leg. 1. 25 = SVF 3.245; Sen.Dial. 2. 8. 2; Ep. 59. 14; 73. 13; Clem.Strom. 7. 88.5 f = SVF 3.250; Orig.Cels. 4. 29 = SVF 3.249; Plu.Comm.not. 1076A = LS 61J = SVF 3.246; Stoic.rep. 1038C-D = SVF 3.526. 84 Vgl. Annas (1993), 163. 85 Vgl. Cooper (1995), 597; Betegh (2003), 278; Ein solches Vorgehen scheint auch eine aristotelische Methodologie nahezulegen, der zufolge der Unterricht ebenso wie die Forschung vom Bekannten ausgehen soll. Wenn also die ersten Prinzipien tatsächlich aus der Physik stammen, scheint es aus didaktischer Sicht klug zu sein, nicht von dort auszugehen, da ein Anfänger dann nicht dazu in der Lage wäre zu folgen. Dennoch bedeutet das nicht, dass eine vorläufige Darstellung der Physik auf Basis von ἐνδόξα nicht Teil des Studiums der Ethik sein könne (vgl. Betegh [2003], 277 Anm. 13). εὐδαιμονία, welche das Ziel und die Vollendung seines Lebens ist. 83 Platons Timaios argumentiert ebenso wie Chrysipps τέλος-Formel dafür, dass sich die Natur des Kosmos und die Natur des Menschen von demselben rationalen Prinzip herleiten und die εὐδαιμονία letztlich dadurch erlangt werden kann, dass man die menschliche und die kosmische Vernunft in die rechte Beziehung zu‐ einander setzt. Aufgrund dieser Überlegungen scheint es Betegh nicht möglich zu sein, das Studium der stoischen Ethik zu betreiben und die ethischen Lehren der Stoa zu verstehen, wenn nicht vorher zumindest ein vorläufiges Wissen über die Natur des Kosmos vermittelt worden ist. Er denkt daher, dass in den von den Stoikern in ihrem Unterricht verwendeten dialektischen Methoden, deren Einsatz ja auch Annas anerkennt, 84 neben anderen ἐνδόξα über die Natur des Kosmos auch auf Lehren aus Platons Timaios zurückgegriffen wurde. 85 Auf diese Weise konnte als Grundlage für die Ethik ein Grundwissen in Bezug auf naturphilosophische Lehren vermittelt werden, ohne dass bereits eine umfassende Darstellung der stoischen Psychologie, Physik und Theologie vorgenommen werden müsste - diese wird zu einem späteren Zeitpunkt noch folgen. Des Weiteren bietet Diogenes Laertios nicht nur eine bloße Sammlung stoi‐ scher τέλος-Formeln, sondern skizziert auch ein Argument, welches dazu dient, 107 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 86 Vgl. D. L. 7. 87 = LS 63C = SVF 3. 4. 87 Vgl. Inwood (1995), 653 f. 88 Vgl. D. L. 7. 89 = LS 63C = SVF 1. 555: Φύσιν δὲ Χρύσιππος μὲν ἐξακούει, ᾗ ἀκολούθως δεῖ ζῆν, τήν τε κοινὴν καὶ ἰδίως τὴν ἀνθρωπίνην· ὁ δὲ Κλεάνθης τὴν κοινὴν μόνην ἐκδέχεται φύσιν, ᾗ ἀκολουθεῖν δεῖ, οὐκέτι δὲ καὶ τὴν ἐπὶ μέρους. 89 Zu Annas wenig überzeugendem Versuch, die κοινὴ φύσις als die allen rationalen Wesen gemeinsame Vernunftnatur zu interpretieren, Siehe S. 102 f Anm. 66. 90 Vgl. Cooper (1996 [1999]), 433. das tugendhafte Leben mit dem Leben gemäß der Erfahrung dessen, was durch die Natur geschehe (κατʼ ἐμπειρίαν τῶν φύσει συμβαινόντων ζῆν), zu identifi‐ zieren. Wenn nämlich - wofür der Partikel γὰρ in 7. 88 spricht - die Tatsache, dass unsere menschliche Natur Teil der kosmischen Natur ist, der Grund dafür ist, warum die Tugend mit dem Leben gemäß der Erfahrung dessen, was in der Natur geschieht, identisch ist, 86 dann wird der kosmischen Natur offensichtlich ein wichtiger Vorrang eingeräumt. 87 Diese besondere Stellung der kosmischen Natur geht auch aus der weiteren Schilderung bei Diogenes Laertios hervor. Er geht dort auf die Debatte um das richtige Naturverständnis zwischen Kleanthes und Chrysipp ein. Während Kleanthes unter der Natur, mit welcher wir in Übereinstimmung leben sollen, allein die Natur des Kosmos versteht, ist Chry‐ sipp der Ansicht, dass wir in Übereinstimmung sowohl mit der Natur des Kosmos als auch mit der menschlichen Natur, welche ja ein Teil der kosmischen ist, leben sollen. 88 Auch hier spielt also die kosmische Natur eine besondere Rolle für das stoische τέλος und damit für die stoische Ethik überhaupt. 89 Annasʼ Ver‐ such, die Bedeutung dieses Textes für die Rekonstruktion der stoischen Ethik herunterzuspielen, muss von daher für gescheitert angesehen werden. Der an‐ tike Quellenbefund zeigt folglich keineswegs, dass die kosmische Natur für die stoische Ethik keine grundlegende Rolle gespielt habe. Vielmehr ist das Gegen‐ teil der Fall: Die verlässlichsten Quellen zeigen, dass die kosmische Natur von entscheidender Bedeutung für die stoische Ethik ist. Das Studium der Natur des Kosmos dient dazu, unsere moralischen Anliegen von einem Standpunkt aus zu bekräftigen, der außerhalb des rein ethischen Denkens liegt. Die externe Per‐ spektive erlaubt es uns, unser tugendhaftes Handeln von einer anderen Per‐ spektive zu sehen und neue Gründe für dieses Handeln zu erschließen. 90 Die kosmische Natur fundiert also - im Gegensatz zu Annas’ These - unser ethisches Denken. Es existieren für die Stoiker also externe Handlungsgründe. Vielleicht vermögen jedoch Annasʼ eher philosophische Einwände, uns vom Gegenteil zu überzeugen? Annas hat gegen die Theorie der naturphilosophischen Fundierung der stoi‐ schen Ethik eingewandt, dass sie überhaupt keine ethische Position sei, insofern sie die Tugend auf einen ihr externen Standard reduziere und damit dem mo‐ 108 III. Die stoische Motivationstheorie 91 Vgl. Inwood (1995), 655. 92 Vgl. dazu Long (1970/ 1971 [1996]). 93 Vgl. Cic.Tusc. 5.68-72; siehe dazu auch Jedan (2009), 112-118. 94 Vgl. zu diesem Verständnis der stoischen Ethik: Striker (1991 [1996]). 95 Vgl. Ebd. 96 Annas (1993), 162. ralischen Standpunkt nicht gerecht werde. Doch ist dies gerade die Frage, die zur Diskussion steht: Welche Rolle hat die Natur des Kosmos in der stoischen ethischen Theorie? Indem Annas die naturphilosophisch fundierte Theorie der Stoa einfach als eine nicht-ethische Position ansieht, begeht sie eine petitio prin‐ cipii. Denn bei der Frage um die Vereinbarkeit von Naturphilosophie und rati‐ onalem Eudämonismus geht es ja gerade darum zu klären, ob die naturphiloso‐ phisch fundierte Theorie der Stoa nicht doch eine ethische Position sein könne. 91 Darüber hinaus deutet die Stoa die kosmische Natur auch nicht als ein wertneutrales Gebilde, welches dem moralischen Standpunkt gegenübersteht, sondern sie besitzt vielmehr ein teleologisch aufgeladenes Naturverständnis, von dem aus man durchaus moralische Forderungen ableiten kann. Der Kosmos als Ganzer besitzt eine rationale Ordnung und einen Plan, die die Dinge für alle zum Besten lenken. 92 Die Tugend besteht dann darin, uns selbst als Teile eines größeren Ganzen zu betrachten, weil die Tugend es dem einzelnen erlaubt, die Perspektive seiner eigenen Interessen zu überschreiten und die Rolle wahrzu‐ nehmen, welche diese Interessen im größeren Plan spielen. 93 Die Ethik fordert daher Übereinstimmung mit der Natur des Kosmos, weil die Natur des Kosmos ein Modell rationaler Ordnung darstellt, welches wir als rationale Wesen wahr‐ nehmen und wertschätzen können. 94 Der nächste Einwand, den Annas gegen die Naturphilosophie als Fundament der stoischen Ethik vorbrachte, betrifft die Unvereinbarkeit von Naturphiloso‐ phie und rationalem Eudämonismus. Dieser Einwand setzt allerdings ein ganz bestimmtes Eudämonismusverständnis voraus: nämlich das oben skizzierte sub‐ jektivistische Eudämonismusverständnis. Es ist jedoch keinesfalls klar, warum wir dieses Eudämonismusverständnis akzeptieren und uns von ihm bei unserer Interpretation der stoischen Texte leiten lassen sollten. Es müsste zunächst ge‐ zeigt werden, dass die Stoiker dieses Eudämonismusverständnis teilten. 95 Dafür gibt es jedoch keine Hinweise. Was das methodologische Problem und den Vorwurf der Heteronomie gegen die naturphilosophisch fundierte Ethik der Stoa betrifft, so ist zunächst zu klären, was Annas mit ‚Relevanz‘ überhaupt meint, wenn sie fragt: „[W]hat is the relevance of any kind of pattern to my life, until endorsed by reflection from the point of view from which I rationally order my life as a whole? “ 96 Meint sie 109 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 97 Vgl. Inwood (1995), 656. 98 Cooper (2003 [2004]). 99 Vgl. Cooper (2003 [2004]), 235. 100 D. L. 7.87 f = LS 63C = SVF 3. 4. 101 Der Autonomiebegriff ist der stoischen Ethik nicht gänzlich fremd, insofern er bei Epiktet (Diss. 4.1.27) und Dion von Prusa, einem Schüler des Stoikers Musonius Rufus, Verwendung findet (fünfmal in D. Chr. 80); zur Legitimität der Verwendung des Auto‐ nomiebegriffs in Bezug auf die stoische Ethik siehe: Cooper (2003 [2004]). Es besteht damit: „Wie kann man sich der Relevanz kosmischer Strukturen reflexiv bewusst sein, bevor man sie bewusst in seinen Überlegungen anerkannt hat? “, ist die Antwort klar: Man kann es nicht. Meint sie jedoch: „Wie können kosmische Strukturen für meine moralische Deliberation wirklich relevant sein? “, scheint es eine Antwort zu geben, die freilich nicht so unkontrovers ist wie die erste: Die Stoiker waren der Überzeugung, dass uns unsere Stellung im Kosmos gute Gründe gibt, auf bestimmte Weise zu handeln - egal, ob man sie eingesehen hat oder nicht. Daraus ergibt sich auch die Antwort auf Annasʼ Heteronomievor‐ wurf gegen die naturphilosophisch fundierte Ethik der Stoa. Wenn die ethische Theorie der Stoa tatsächlich auf die Existenz kosmischer Strukturen angewiesen ist, um ihre Lehren zu begründen, scheint sie in der Tat dem Heteronomievor‐ wurf ausgesetzt zu sein. Doch zeigt dies nicht, dass dies nicht die stoische Po‐ sition war. Alles was daraus folgt, ist, dass die stoische Lehre diesem Vorwurf ausgesetzt ist. 97 Dass auch dies letztlich nicht der Fall ist, hat John Cooper 98 gezeigt, der argumentiert, dass das kosmische Gesetz, auf welches die stoischen τέλος-Formeln Bezug nehmen, letztlich unser eigenes, uns selbst auferlegtes Gesetz ist, insofern es ein vernünftiges Gesetz ist. Zeusʼ gesetzgeberische Au‐ torität ist abgeleitet von der Autorität der Vernunft, welche mit Zeus identisch ist. Da unser Sein als Menschen gänzlich durch unser Vernunftvermögen kon‐ stituiert ist und sich dadurch gegenüber dem der anderen Wesen auszeichnet, ist das kosmische Gesetz auch unser eigenes Gesetz, insofern es uns von unserer eigenen Vernunftnatur - d. i. von uns selbst, wie wir unserem Wesen nach sind - auferlegt worden ist. Nur wenn wir also dem Gesetz des Kosmos entsprechend leben, werden wir dem Gesetz gerecht, welchem gegenüber uns unsere eigene Natur als rationale Wesen verantwortlich macht. 99 Indem wir folglich „nichts unternehmen, was das allgemeine Gesetz für gewöhnlich verbietet“ (οὐδὲν ἐνεργοῦντας ὧν ἀπαγορεύειν εἴωθεν ὁ νόμος ὁ κοινός), und uns dieses Gesetz, weil es „die richtige Vernunft ist, die alles durchdringt und identisch ist mit Zeus, dem Lenker der Verwaltung dessen, was ist“ (ὅσπερ ἐστὶν ὁ ὀρθὸς λόγος, διὰ πάντων ἐρχόμενος, ὁ αὐτὸς ὢν τῷ Διί, καθηγεμόνι τούτῳ τῆς τῶν ὄντων διοικήσεως ὄντι) 100 , aufgrund unserer Vernunftnatur selbst auferlegen, handeln wir Cooper zufolge wahrhaft ‚autonom‘ 101 - nicht in einem rein formalen Sinne 110 III. Die stoische Motivationstheorie freilich eine wesentliche Differenz zum Autonomiebegriff Immanuel Kants, insofern die Stoa „eine objektiv-teleologische, noch dazu pantheistische Weltsicht [vertritt], während Kants Autonomie-Verständnis […] entscheidend an die neuzeitliche Verab‐ schiedung der Möglichkeit einer theoretisch-objektiven Naturteleologie gebunden ist“ (Forschner [2013], 402); zum Autonomiebegriff bei Kant siehe: Forschner (1974). 102 Vgl. Cooper (2004), bes. 236. 103 Vgl. Inwood (1996), 656. 104 Siehe dazu z. B.: Forschner ( 2 1995; 2018); Striker (1991 [1996]); Cooper (1996 [1999]; 2012); Jedan (2009); Klein (2012); Dienstbeck (2015); Tieleman (2018). 105 Vgl. Inwood (1995), 657. 106 Vgl. D. L. 7.156 f = SVF 2.774, wo die Exposition der stoischen Psychologie auf die Dar‐ stellung ihrer Meteorologie und Geographie folgt. 107 Vgl. Betegh (20 03), 276 f. von Autonomie, sondern in einem substantielleren Sinne, insofern unser Wissen über den Kosmos und unseren Platz in ihm diesem Autonomieverständnis zu‐ grunde liegt. 102 Auch der Einwand, dass das Leben in Übereinstimmung mit der Natur des Kosmos als τέλος des Lebens einen sehr schwachen Begriff von Glückseligkeit impliziere, vermag nicht zu überzeugen. Wer sagt denn, dass die Stoiker bei dieser umrisshaften Skizze des τέλος stehenbleiben? Vielmehr werden sie den Rest ihrer Theorie heranziehen, um das Bild weiter auszufüllen, und dadurch aufzeigen, wie das Leben in Übereinstimmung mit der Natur in einem stoischen Sinne zur menschlichen Glückseligkeit beiträgt. 103 Schließlich wendet Annas gegen die naturphilosophische Fundierung der stoischen Ethik ein, dass sie für das Verständnis der zentralen ethischen Lehren der Stoa nutzlos sei, da man diese nur von einem eudämonistischen Standpunkt aus verstehen könne und es gänzlich unklar sei, wie man zeigen könne, dass diese ihren Grund in der Natur des Kosmos hätten und von ihr abgeleitet seien. Es wurden jedoch zahlreiche Interpretationen vorgelegt, die gerade die zent‐ ralen ethischen Lehren der Stoa in den stoischen Ansichten über die Natur des Kosmos verankern. 104 Des Weiteren scheint es auch nicht unmöglich zu sein, eine fundierende Funktion der Naturphilosophie für die stoische Ethik anzu‐ nehmen, ohne auch der Ansicht sein zu müssen, dass jeder interessante Aspekt der stoischen Ethik unmittelbar aus ihr ableitbar sei. 105 Nicht zuletzt dürfte es unmöglich sein, eine kohärente und umfassende Darstellung der stoischen Ethik vorzunehmen, ohne auf zumindest die grundlegendsten Begriffe der stoischen Psychologie zu rekurrieren, welche jedoch eine Teildisziplin der Physik 106 und damit der Naturphilosophie ist. 107 Wie ist es schließlich um Annasʼ positive Argumentation bestellt? Vermag sie es, uns von der Eigenständigkeit der Ethik gegenüber der Naturphilosophie zu überzeugen? Wie wir gesehen haben, versucht Annas, zwei verschiedene 111 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 108 Vgl. Inwood (1995), 660. 109 Cic.Fin. 3.72 f = SVF 3.281 und 282. 110 Zur Physik als Tugend siehe: Menn (1995). 111 Cic.Fin. 3. 73 = SVF 3.282: propterea quod qui convenienter naturae victurus sit, ei profi‐ ciscendum est ab omni mundo atque ab eius procuratione. 112 Annas (1993), 165. Ebenen des Studiums der stoischen Ethik auszumachen, welchen zwei verschie‐ dene Arten der Exposition der stoischen Philosophie korrespondieren. Der Me‐ taebene, welche sich mit dem Studium der ethischen Theorie und ihrem Ort im Ganzen der stoischen Philosophie befasse, entspreche eine gemischte Form der Darstellung, in der auch naturphilosophische Lehren vorkämen. Der zweiten Ebene, der ethischen Theorie selbst, entspreche dagegen das separate Studium der ethischen Lehren allein. Das Problem an der Lehre von zwei Ebenen des Studiums der stoischen Ethik besteht nun allerdings darin, dass diese subtile Unterscheidung keinerlei Anhalt in den Quellen hat. 108 Es scheint vielmehr An‐ nasʼ eigene Interpretation des stoischen Eudämonismus zu sein, welche jedoch gerade in Frage steht und daher nicht als korrekt vorausgesetzt werden kann. Annas führt zur Untermauerung ihrer These von zwei Ebenen des Studiums der stoischen Ethik und der Eigenständigkeit der ethischen Theorie eine Passage aus Ciceros De finibus  109 an, welche angeblich zeige, dass die Naturphilosophie nur unser Verständnis der Ethik und ihres Ortes im Gesamt der stoischen Phi‐ losophie betreffe, nicht jedoch ihren Inhalt. Ihre Interpretation dieser Textstelle ist jedoch höchst zweifelhaft. Catos Aussagen dürften eine weitaus weniger globale Rolle spielen als Annas annimmt. Die Behauptung, dass die Physik selbst eine Tugend sei, 110 sollte man nicht als eine Aussage verstehen, die das Verhältnis von Naturphilosophie und Ethik näher bestimmt. Dafür bietet der Text keine Hinweise. Die Aussagen Catos scheinen vielmehr innerhalb des Bereichs des Ethischen zu bleiben und nicht auf einer Metaebene das Verhältnis von Natur‐ philosophie und Ethik zu bestimmen - schließlich wird hier über eine Tugend gehandelt. Darüber hinaus erscheinen zwei weitere Punkte an Annasʼ Interpre‐ tation problematisch. Zum einen paraphrasiert sie den Satz „Denn derjenige, der in Übereinstimmung mit der Natur leben will, muss notwendigerweise vom Kosmos als Ganzem und seiner Verwaltung ausgehen“ 111 als „It tells us about the world as a whole, which we need to know if we are to live in accordance with nature” 112 , was dem Ganzen einen deutlich schwächeren Sinn verleiht. Der Gedanke, dass wir tatsächlich von einem Verständnis des Kosmos als Ganzem, d. h. von der Naturphilosophie ausgehen (proficisci), spricht eindeutig für eine fundierende Funktion der Naturphilosophie für die Ethik, welche Annas jedoch vehement bestreitet. 113 112 III. Die stoische Motivationstheorie 113 Vgl. Inwood (1995), 658. 114 Cic.Fin. 3. 73 = SVF 3.282: nec vero potest quisquam de bonis et malis vere iudicare nisi omni cognita ratione naturae et vitae etiam deorum, et utrum conveniat necne natura hominis cum universa. 115 Vgl. Inwood (1995), 658. 116 Vgl. Annas (1993), 165: „Clearly all these things that physics does for the person who has learned ethics up to this point concern her understanding of ethics. Learning about cosmic nature helps us to set our human concerns in a wider picture, and thus get a better view of their significance; it enables us to feel more secure about our basic ethical judgements when we put them in a larger context than ethics […].“ 117 Vgl. Inwood (1995), 659. 118 Vgl. dazu au ch Cic.Fin. 3. 64 = LS 57F = SVF 3.333, wo ein moralisches Urteil (unser Vorzug des Gemeinwohls gegenüber unserem eigenen Wohlergehen) mit Rekurs auf die kosmologische These begründet wird, dass der Kosmos vom göttlichen Willen ge‐ lenkt werde und wir Menschen ein Teil des ganzen Kosmos seien und mit den Göttern als Bürger die kosmische Stadt bewohnten: Mundum autem censent regi numine deorum, eumque esse quasi communem urbem et civitatem hominum et deorum, et unum quemque nostrum eius mundi esse partem; ex quo illud natura consequi, ut communem utilitatem nostrae anteponamus; siehe des Weiteren auch Cic.ND 2. 79, wo der Grund der Tugenden Zum anderen scheint auch die Aussage „Niemand kann nämlich über das Gute und Schlechte richtig urteilen, wenn er nicht zuvor den gesamten Plan der Natur und auch das Leben der Götter kennengelernt hat und die Frage zu beantworten vermag, ob die Natur des Menschen mit derjenigen des Kosmos übereinstimmt oder nicht“ 114 klar für den grundlegenden Charakter der Naturphilosophie für die Ethik zu sprechen. Ein solides Verständnis der stoischen Theologie, der Natur des Kosmos sowie des Verhältnisses zwischen der menschlichen Natur und der des Kosmos ist Ciceros Cato zufolge eine notwendige Bedingung dafür, richtige Urteile über das Gute und Schlechte fällen zu können (nec vero potest quisquam de bonis et malis vere iudicare nisi), was wiederum die Voraussetzung für korrekte moralische Urteile überhaupt darstellt. 115 Annas Behauptung, dass die natur‐ philosophischen Studien nur unser Verständnis der Ethik und ihres Ortes im Gesamt der stoischen Philosophie beträfen, welches uns ein größeres Gefühl von Sicherheit in Bezug auf unsere moralischen Urteile verleihe, 116 hat mithin keinen Anhalt im Textbefund. Nichts deutet auf eine Metaebene hin, welche den bereits gefällten moralischen Urteilen Richtigkeit verleiht und dadurch für ein größeres Vertrauen des Akteurs in seine Urteile sorgt. Weder spricht der Text überhaupt von einem Vertrauen oder einem Gefühl von Sicherheit hinsichtlich unserer moralischen Urteile, noch finden sich sonstige Hinweise für irgend‐ welche Überzeugungen höherer Ordnung, welche dafür verantwortlich sein könnten. 117 Alles in allem spricht die Passage aus De finibus daher eher für eine grundlegende Funktion der Naturphilosophie für die stoische Ethik. 118 113 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik in den Göttern festgemacht wird: Quod si inest in hominum genere mens fides virtus concordia, unde haec in terram nisi ab superis defluere potuerunt? 119 Daher erscheint Annasʼ Aussage „This is a claim about human psychology, a claim that Providence appeals in a deeper and more transformative way than virtue and happiness alone ever could.“ (Annas [2007], 72) nur schwer nachvollziehbar. 120 Vgl. dazu den Wittgensteinschen Ethikbegriff in Wittgenstein ( 2 1991). 121 Zur stoischen Theologie siehe: Frede (2005). 122 Vgl. Inwood (1995), 659. Auch die von Annas versuchte Reduktion der Rolle der Naturphilosophie für die stoische Ethik auf eine rein motivationale Ebene scheint wenig überzeugend. Der Gedanke, dass Überlegungen über Tugend, Glückseligkeit und das richtige Handeln rein theoretisch bleiben können, ist gänzlich unstoisch, wie bei der Erörterung der stoischen Psychologie, insbesondere des Zusammenhangs von Zustimmung und Handlungsimpuls deutlich werden wird. Die Stoiker vertreten eine extrem intellektualistische Psychologie und es ist für sie undenkbar, dass eine Überzeugung über das richtige Handeln in einer bestimmten Situation rein theoretisch und damit motivational wirkungslos bleibt. Des Weiteren fällt es schwer, sich vorzustellen, wie naturphilosophische Lehren eine nicht vorhan‐ dene Motivation erzeugen könnten. 119 Es ist höchstens denkbar, dass in be‐ stimmten Extremsituationen, in welchen moralisches Handeln eine Stellung‐ nahme zur Welt als Ganzer 120 erforderlich macht, die naturphilosophischen Lehren, zu welchen auch die Theologie 121 zählt, einer bereits vorhandenen mo‐ ralischen Motivation zum Durchbruch verhelfen können. Spricht Annas Beobachtung einer variierenden Reihenfolge der einzelnen Teile der stoischen Philosophie im Unterricht der Schule für eine Unabhängig‐ keit der Ethik von der stoischen Naturphilosophie? Das scheint nicht der Fall zu sein. Sie stützt sich in ihren Überlegungen vor allem auf einen Artikel von Jacques Brunschwig, der jedoch lediglich zeigt, dass dialektische Methoden in der Ethik verwendet wurden. 122 In diesem dialektischen Vorgehen konnte je‐ doch, worauf bereits hingewiesen wurde, auch auf ἐνδόξα über die Natur des Kosmos und auf Lehren aus Platons Timaios zurückgegriffen werden. Natur‐ philosophische Prämissen konnten also durchaus im Unterricht und der dort erfolgenden Entwicklung der ethischen Theorie eine Rolle spielen, so dass allein von der variierenden Reihenfolge der einzelnen Teile der stoischen Philosophie im philosophischen Unterricht noch nicht auf die Unabhängigkeit der Ethik von der stoischen Naturphilosophie geschlossen werden kann. Diese Argumente gegen Annasʼ These von der Unabhängigkeit der stoischen Ethik zeigen schließlich, dass die stoische Ethik auf einem naturphilosophischen Fundament basiert und der stoischen Naturphilosophie und ihren Lehren über die Natur des Kosmos dadurch eine große Bedeutung innerhalb der ethischen 114 III. Die stoische Motivationstheorie 123 Vgl. D. L. 7. 13 4 = LS 44B = SVF 2.3 00; S . E. M 9. 11 = SVF 2.301 ; siehe dazu auch: Schriefl (201 9), 88-91. 124 Vgl. D. L. 7.88 = LS 6 3C = SVF 3.4; Ter t.Apol. 21.10 = SVF 1.160; zu Heraklit siehe: DK I, 15 2 f frg. B 10 sowie DK I, 157 f frg. B 30 und 31; zum Einfluss Heraklits auf die Kosmologie der Stoa siehe: Lapidge (1973); Long (1975/ 6 [1996]). 125 Vgl. D. L. 7. 13 4 = LS 44B = SVF 2 .300; Alex.Mi xt. 225.1 f = L S 45H = S V F 2.310; S en.Ep. 65. 2 = LS 55E = SVF 2.303. 126 Vgl. G al.Plen. 7.525.9-14 = LS 47F = SVF 2.439f; Plu.Prim.frig. 946A = SVF 2.407. 127 Vgl. D. L. 7. 13 8 f = LS 47O = SVF 2.634 ; Aët. 1 .7. 33 = L S 4 6A = SVF 2. 1 02 7; Phil. Quod deus. 35 f = LS 47Q = SVF 2.458; Phil .QG 2. 4 = LS 47R = SVF 2.802. Theorie der Stoa zukommt. Mit der Bezugnahme auf die Natur des Kosmos und damit auf etwas außerhalb des subjektiven Überzeugungs- und Motivations‐ profils des einzelnen Akteurs Liegendes erteilten die Stoiker einem subjektivis‐ tischen Eudämonismus eine klare Absage und ließen die Möglichkeit zu, dass externe Handlungsgründe existieren. Wie die naturphilosophisch fundierte Ethik der Stoa näherhin aussah, soll im folgenden Kapitel untersucht werden, wobei die für die Motivationsproblematik zentralen Theorieelemente wie die stoische οἰκείωσις-Lehre und die für die Ausbildung evaluativer Überzeugungen bedeutsame Axiologie im Zentrum der Analyse stehen sollen. III.1. 2 Die naturphilosophisch fundierte Ethik der Stoa III.1. 2. 1 Grundlagen der stoischen Naturphilosophie Wie im vorherigen Kapitel bemerkt wurde, pflegte Chrysipp, seinen ethischen Werken kurze naturphilosophische Abhandlungen vorzuschalten und so die Grundlagen darzulegen, auf denen seine ethische Theorie gründet. Um ein adä‐ quates Verständnis der stoischen Ethik zu gewährleisten, soll im Folgenden dieser Methode gefolgt werden. Die Naturphilosophie der Stoa beruht auf ihrer Prinzipienlehre. Die Frage nach dem Ursprung aller Dinge beantworteten die Stoiker mit Verweis auf die zwei Prinzipien (ἀρχαί) der Welt: das Passive, Leidende, Unbestimmte (τὸ πάσχον) und das Aktive, Formende, Belebende (τὸ ποιοῦν). 123 Das passive Prinzip wird in Anlehnung an Aristoteles auch als Stoff (ὕλη), das aktive, in‐ spiriert durch Heraklit, als Vernunft (λόγος) bzw. Gott (θεός) bezeichnet. 124 Während der Stoff selbst formlose Materie ist, bringt das aktive Prinzip durch den Stoff jedes einzelne Seiende hervor, indem es ihn formt. 125 Die formende und bindende Kraft 126 der Vernunft realisiert sich dabei im Pneuma (πνεῦμα), welches das materielle Universum durchdringt und in dem die göttliche Vernunft ent‐ halten ist. 127 Stoff und Vernunft werden dadurch zu den beiden Grundmomenten der Welt und alles Seienden. Sie sind dabei immer schon vereint, wobei die gött‐ 115 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 128 Vgl. D. L. 7. 15 6 = SVF 2.774; Cic. ND 2. 57 = SVF 1 .171 ; Aët. 1. 7. 33 = LS 4 6 A = SVF 2. 1027; zum π ῦρ τεχνικόν siehe auch: Stob.Ecl. 1.213 .15-21 = LS 46D = SVF 1.120. 129 Vgl. D. L. 7. 13 4 -136; Alex.Mixt. 225. 1 f = LS 4 5H = SVF 2.3 10 ; Aët. 1 . 7. 33 = LS 46A = SVF 2 .10 2 7; Plu.Stoic.rep. 1052C-D = LS 4 6E = SVF 2.604. 130 Vgl. Cic.ND 1. 39 = LS 54B = SVF 2. 1077. 131 Vgl. D.L . 7 . 138 f = LS 47O = S VF 2.634 ; Eus.P E 15.15.3- 5 = LS 67L = SVF 2.528. 132 Vgl. Alex.Mixt. 223.25-36 = LS 47L = SVF 2.441; Plu.De se ipsum 547D = S VF 2.912; S. E. M 9. 78 = SVF 2. 1013; siehe d azu auch (insbesondere zur stoischen συμπάθεια-Lehre): Reinhardt (1926); Forsch ner ( 2 1995), 55. 133 Vgl. Phil.Leg. 2.22 f = LS 47P = SVF 2.458. 134 Vgl. Nemes.Nat.h om. 70.6-71. 4 = LS 47J = SVF 2.451; Plu.St oic.rep. 1053F -1054B = LS 47M = SVF 2.449; zur Entstehung d ieser Spannung durch die Expansion des heißen Feuers und die Kontraktion der kal ten Luft im Pneuma siehe: T iel eman (2018), 686. liche Vernunft alles Bestimmte hervorbringt und formt. Sie wird daher von den Stoikern in physiologischer Hinsicht auch an das Feuer als materiellem Träger gebunden und als ‚kunstverständiges Feuer‘ (πῦρ τεχνικόν) bezeichnet. 128 Die göttliche Vernunft als aktives, gestaltendes Prinzip ist stets in der Materie vor‐ handen und für alle Veränderungen in der Welt verantwortlich. 129 Der ‚Schöp‐ fergott‘ inhäriert der Welt und ist die Quelle all ihrer Entwicklung. Die Welt‐ vernunft - enthalten in der Weltseele 130 - lenkt dabei durch ihre Gedanken die ganze Welt. Wie diese Metaphern deutlich machen, wird die Welt von den Stoi‐ kern als ein Lebewesen verstanden, welches eine Weltseele besitzt, die die Be‐ wegungen dieses Lebewesens durch ihre Gedanken verursacht. 131 Dass die Welt ein Lebewesen mit einer Seele ist, wird für die Entwicklung der stoischen Psy‐ chologie und Motivationstheorie, wie wir sehen werden, von entscheidender Bedeutung sein. Das aktive Prinzip durchdringt als Pneuma das gesamte materielle Universum und bindet es so zu einer Einheit zusammen, deren einzelne Teile aufeinander bezogen sind und voneinander abhängen. 132 Das Pneuma grenzt des Weiteren auch die unterschiedlichen Wesen und Entitäten voneinander ab. Obschon es zwar den ganzen Stoff durchdringt, findet es sich in den verschiedenen Wesen und Dingen in unterschiedlicher Reinheit und Spannung, woraus sich ein Stu‐ fenbau des Seienden - eine scala naturae - ergibt, in welchem die höheren Ent‐ itäten die Qualitäten der niedrigeren in sich integrieren und durch neue über‐ bieten. 133 Die individuelle Beschaffenheit eines Wesens bzw. Gegenstandes ist dabei das Resultat der spezifischen energetischen Verfassung bzw. Spannung (τόνος) des ihn durchströmenden Pneumas. 134 Das Pneuma zieht einen Teil der vorhandenen Materie zu einem Körper zusammen und sorgt für sein weiteres Bestehen. In den Wesen und Gegenständen findet sich aufgrund der Bewe‐ gungsenergie (τονικὴ κίνησις) des Pneumas ein Spannungsfeld, welches für den Zusammenhalt, die Konsistenz und spezifische Eigenart der Entität verantwort‐ 116 III. Die stoische Motivationstheorie 135 Vgl. Alex.Mixt. 224 .23-26 = LS 47I = SVF 2.442; Nemes.Nat.hom. 70.6-71.4 = LS 47J = SVF 2.451; Phil.Leg. 2.22 f = L S 74P = SVF 2.458; Phil.Quod deus. 35 f = LS 47Q = SVF 2.458; Stob.Ecl. 1.153.24 = SVF 2.471; Gal.CC 1.1-2. 4 = LS 55F; Hierocl.El.Eth. 4.28 -39; siehe dazu auch: Sambursky (1959), 29-40. 136 Eine vollständige scala naturae findet sich in: Cic.Off. 2.11; Phil.Leg . 2.22f = LS 47P = SVF 2.458; Phil.Aet. 2 48.2 = SVF 2.459; Phil.Mund. 73 = SVF 3.372, obschon Runia ( 2001), ad loc. den spezifisch sto ischen Charakter der Passage bestreitet („The passage is suf‐ ficiently general to be subscribed to by Stoics, Platonists and Aristotelians.“); eine voll‐ ständige scala ist impliziert in einer Passage üb er verschiedene Bewegungsarten be i Simp.Cat. 306.14-27 = SVF 2.499; allerdings ist die Passage stark von aristotelischer Terminologie durchsetzt; eine scala ohne die unterste Stufe der leblosen Dinge findet sich in: S. E. M 9.88 = SVF 1.529; Cic.ND 2.33-36; die höchste Stufe fehlt in: Clem.Strom. 2.20.110f = SVF 2.714; Orig.Princ. 3.1.2f = LS 53A = SVF 2.988; Or. 6.1 = SVF 2.989; zur scala naturae in der Stoa siehe: Inwood (1986, 21-26; 2018, 45-47); Bénatouïl (2002); Brouwer (2014), 72-74. 137 Der Unterschied zwischen der Vernunft auf der vierten und de r fünften Stuf e wird von Seneca pr ägnant char akterisiert: Ratio vero dis hominibusque communis est: haec in illis consummata est, in nobis consummabilis (Sen.Ep. 92. 27) . 138 Vgl. Eus.PE 15. 15.3-5 = LS 6 7L = SVF 2.528; siehe dazu auch : Schofield ( 1991); Obbink (1999) ; Vogt (20 08). 139 Vgl. Ci c.ND 2.58 = LS 53Y = SVF 1.172. lich ist. 135 Die Qualitäten des Stoffes sind folglich das Resultat der Wirkung der Weltvernunft auf ihn, indem sie ihre Gedanken in Bezug auf den Stoff und da‐ rüber denkt, wie er in physiologischer Hinsicht beschaffen sein soll. Die aus der unterschiedlichen Spannung des Pneumas resultierende Verschiedenheit der Körper bringt den bereits erwähnten Stufenbau des Seienden hervor: 136 Die un‐ terste Stufe bildet dabei die Struktur der Einheit anorganischer Körper - z. B. Steine (ἕξις). Hierauf folgt die φύσις organischer Körper wie Pflanzen, welche sich durch ihre Fähigkeit zu wachsen auszeichnen, und die ψυχή animalischer Körper wie Tiere, die über das Wachstum hinaus auch über Wahrnehmung und die Fähigkeit, sich zu bewegen, verfügen. Die vierte Stufe dieser Skala findet sich dort, wo das Pneuma zur Vernunft (λόγος) wird. Die höchste Stufe, welche Göttern und Weisen vorbehalten ist, stellt die Vollendung der Vernunft 137 dar und wird als νοῦς bzw. ἀρετή bezeichnet. Die vernünftigen Wesen partizipieren am λόγος der Weltvernunft und unterhalten dadurch eine besondere Beziehung zu ihr, welche in einer Gemeinschaft von Göttern und Menschen ihren Nieder‐ schlag findet. 138 Durch das Pneuma, das in allem Seienden präsent ist, berührt die göttliche Weltvernunft alle Teile der Welt und verursacht alle Zustände und Beschaffen‐ heiten des Stoffes und der materiellen Dinge sowie ihre Veränderungen in der Zeit. Dies geschieht alles durch ihr teleologisches Denken, durch welches sie für das äußere Leben des Weltlebewesens verantwortlich ist. 139 Die Seele und das 117 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 140 Vgl. Nemes.Nat.hom. 78.7-79.2 = LS 45C = SVF 1.518; 81.6-10 = LS 45D = S VF 2.790. 141 Vgl. Cic.Ac. 1 . 39 = LS 45A = SVF 1. 90; Eus.PE 15. 14. 1 = LS 45G = SVF 1. 98; Gal.PHP 5. 3. 8 = LS 47H = SVF 2.841; Alex.Mixt. 224.14-17 = LS 47I = SVF 2.442. 142 Vgl. Cic.ND 2.37-39 = LS 54H; Plu.Comm.not. 1075E = LS 54K = SVF 2.1126. 143 Vgl. Cic.ND 2.37-39 = LS 54H; Cic.ND 2.75 f = LS 54J; Eus.PE 15.14.2 = LS 46G = SVF 1.98. 144 Vgl. Plu.Stoic.rep. 1044D = LS 54O = SVF 2.1163 ; 1051B-C = LS 54S = SVF 2.1178; Porph.Abst. 3.20.1.3 = LS 54P = SVF 2.1152; Lact.Ira 13.9f = LS 54R = SVF 2.1172. 145 Vgl. D. L. 7. 147 = LS 54A = SVF 2.1021; Cic.N D 2.37-39 = LS 54H. 146 Vgl. Cic.ND 1. 39 = LS 54B = SVF 2 . 1077 . 147 Vgl. Alex.Mix t. 225.1 f = LS 4 5 H = SVF 2.3 10; Aët . 1. 7.33 = LS 46A = SVF 2.1027. ihr eigentümliche Pneuma werden dabei als Werkzeug der Weltvernunft zur Verursachung der Bewegungen und Veränderungen in der Welt materiell ver‐ standen, da sie den Stoikern zufolge nur so kausale Wirkung haben können. 140 Die Stoa entwickelte dafür ein Verständnis von ‚Körper‘, das nicht auf materielle Körper, die man sehen und wahrnehmen kann, beschränkt ist. Die Vernunft ist dieser Theorie zufolge auch ein Körper, da sie bei der Verursachung von Bewe‐ gungen eine aktive Wirkung entfaltet. Allerdings ist sie kein materieller Körper, der aus den physikalischen Elementen Erde, Luft, Feuer und Wasser besteht. 141 Dem göttlichen λόγος wohnt nun nicht nur ein Interesse an der Wahrheit inne, sondern auch eine Neigung zum und ein Streben nach dem Guten 142 - er ist also zugleich theoretische und praktische Vernunft. Die Weltvernunft hat demzufolge in all ihren Aktivitäten, durch welche sie dem Stoff seine Eigen‐ schaften verleiht, sowie hinsichtlich aller materieller Gegenstände und Wesen in der Welt und beim Hervorbringen der Bewegungen und Veränderungen dieser Entitäten die Herstellung eines vollkommenen bzw. bestmöglichen Er‐ gebnisses zum Ziel. 143 Auf diese beste aller möglichen Welten ist ihr teleologi‐ sches Denken ausgerichtet. Die Strukturen und Gegenstände der Welt werden auf eine Weise Gestalt annehmen und im Laufe der Weltgeschichte miteinander interagieren, welche ein äußeres Leben des Weltlebewesens hervorbringen wird, das äußerst komplex, aber wohlgeordnet und effizient bei der Aufrechterhaltung des Organismus des Weltlebewesens als einem wohlfunktionierendem System sein wird. 144 Die Weltvernunft ist dabei frei von irgendwelchen inneren oder äußeren Quellen des Irrtums und der Verderbnis. 145 Sie hat deswegen das best‐ mögliche Ergebnis zum Ziel, welches im maximal komplexen, aber wohlgeord‐ neten äußeren Leben des Weltlebewesens besteht. Dem Erreichen dieses Ziels stehen dabei keine äußeren Hindernisse im Weg. 146 Die göttliche Weltvernunft erreicht alle ihre Ziele: Dem vollkommen passiven Stoff können von ihr alle Eigenschaften verliehen werden - je nachdem, welche sie für die besten hält. 147 Daher ist das äußere Leben des Weltlebewesens das bestmögliche Leben, auf 118 III. Die stoische Motivationstheorie 148 Vgl. Stob.Ecl. 1.25.3-27.4 = LS 54I = SVF 1.537; Cic.ND 2.37-39 = LS 54H. 149 Vgl. Cic.ND 2. 37- 39 = LS 54H; D.L . 7. 87 = LS 63C = SVF 3 . 4; Stob. E c l. 2. 7 6. 8 = SVF 3. 1 2. 150 Vgl. Ci c. Fin. 3.16 = SVF 3. 182: Placet his […] quorum ratio mihi probatur, simul atque natum sit animal (hinc enim est ordiendum), ipsum sibi conciliari et commendari ad se conservandum et ad suum statum eaque quae conservantia sint eius status diligenda, alienari autem ab interitu iisque rebus quae interitum videantur adferre. 151 Vgl. Klein (2016), 143. welches die göttliche Weltvernunft hinzielt - die Welt ist die bestmögliche aller möglichen Welten. Teil dieses komplexen Plans der göttlichen Vernunft ist die Erschaffung von Menschen als unabhängige Geister, die selbst entscheiden können und als Partner der Weltvernunft an diesem Plan zur Verwirklichung und Aufrechterhaltung des bestmöglichen äußeren Lebens der Welt mitar‐ beiten. 148 Das Gut der Welt wird dadurch zu unserem Gut, ebenso wie es das Gut der Weltvernunft ist. Wir können den göttlichen Plan erkennen, indem wir be‐ obachten, wie die Natur und damit die göttliche Weltvernunft, die dieser inhä‐ riert, das Leben der Pflanzen und nicht-vernünftigen Lebewesen lenkt, die, da sie selbst keine Vernunft besitzen, ganz durch das Denken der Weltvernunft gesteuert werden. 149 Wie genau die Stoiker sich dies vorgestellt haben, soll im Folgenden untersucht werden. III.1. 2. 2 Die οἰκείωσις-Lehre In den beiden umfassendsten und wichtigsten Darstellungen der stoischen Ethik in De finibus 3 und Diogenes Laertios 7.84-131 nimmt die Entfaltung des stoi‐ schen Systems von der Erörterung unserer ursprünglichen, eingeborenen Nei‐ gungen ihren Ausgang. Aus der Beobachtung der Natur, wie sie sich in diesen Neigungen zeigt, schließen die Stoiker, dass neugeborene Lebewesen über Selbstwahrnehmung verfügen und ihnen bestimmte Interessen und Neigungen eingeboren sind, welche sich sofort nach der Geburt zeigen: das Verlangen nach Nahrung sowie das Erstreben von Lust bzw. das Vermeiden von Schmerz. Diese ursprünglichen Neigungen seien alle auf die Erhaltung ihres Seins bzw. ihrer natürlichen Konstitution (status, constitutio bzw. συστάσις) ausgerichtet. 150 Diese Lehre bezeichneten die Stoiker als οἰκείωσις. Die stoische οἰκείωσις-Lehre weist zwei grundlegende Charakteristika auf: Zum einen gehen die Stoiker von der deskriptiven These aus, dass das komplexe und zweckhafte Verhalten aller Lebewesen in Bezug auf ihre Umwelt auf dem anspruchsvollen Vermögen der Selbstwahrnehmung beruht. Zum anderen gelangen sie ausgehend von dieser deskriptiven These zur normativen These, dass das Gute für den Menschen - seine εὐδαιμονία - in einem vernunftgemäßen Leben besteht. 151 Wie die Stoiker von der rein deskriptiven Annahme, dass alle Lebewesen über das Vermögen 119 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 152 Vgl. Pohlenz (1940, 1-47; 1959); Brink (1955); Pembroke (1971); Kerferd (1972); White (1979); Striker (1983 [1996]; 1991 [1996]); Inwood (1985), 184-194; Brunschwig (1986); Engberg-Pedersen (1986; 1990); Blundell (1990); Annas (1993), 262-290; Sorabji (1993), 122-133; Long (1991 [1996]; 1993 [1996]); Forschner ( 2 1995), 142-159; Schofield (1995); Frede (1999a); Radice (2000); Lee (2002); Reydams-Schils (2002); Algra (2003); Bees (2004); Brennan (2005), 154-168; McCabe (2005); Salles (2005), 48; Zagdoun (2005); Gill (2006), 36-46; Kühn (2011; 2014); Toivanen (2013); Klein (2016); eine umfassende Bibli‐ ographie zur οἰκείωσις-Lehre findet sich in: Ramelli (2009), 141-171. 153 Vgl. Plu.Stoic.rep. 1038B = LS 57E = SVF 3.179; 2.724; Gal.PHP 5. 5.2-26 = LS 65M. 154 Vgl. Phot.Bibl. 278, 529b11-23, frg. 435 in Fortenbaugh et al. (1992). 155 Zum etymologischen Ursp run g des Verbalsubstantivs οἰκείωσις siehe: Pembroke (1971), 114-116 und 132-142; Kerferd (1972); Inwood (1985), 184 f; Forschner ( 2 1995), 144 f; Ramelli (2009), 54. 156 Vgl. Hierocl.El.Eth. 7. 15f; Plu. St oic.rep. 1038B = LS 57E = SVF 3.179; Gal.PHP 5. 5.8-26 = LS 65M; Alex.Quaest. 119. 23 = SVF 3.165; Mant. 150. 25 = SVF 3.183; 162. 29 = SVF 3.185; siehe dazu auch: Inwood (1985), 311f mit Fn. 34f; Klein (2016), 149. 157 Cic.Fin. 3. 16 = SVF 3.182. 158 Cic.F in. 3.16 = SVF 3.182; Fin. 3. 21 = SVF 3.188; Sen.E p. 121.24. der Selbstwahrnehmung verfügen, welches ihr Verhalten reguliert, zur norma‐ tiven These gelangen, dass der Mensch sein Gut in einem vernunftgemäßen Leben findet, soll im Folgenden näher untersucht werden. Dazu sind zunächst die überlieferten Textzeugnisse zur οἰκείωσις-Lehre zu betrachten. Die erhaltenen Quellen zur stoischen οἰκείωσις-Lehre und ihre Interpretation sind ein dorniges Gefilde in der jüngeren Stoaforschung, wie die zahlreichen und stark divergierenden Auslegungsversuche zeigen. 152 Bevor man sich jedoch diesen interpretatorischen Schwierigkeiten zuwenden kann, ist zunächst der Quellenbefund zu betrachten. Hier ist festzustellen, dass es eine ungeklärte Frage ist, ob die Stoiker das Verbalsubstantiv οἰκείωσις selbst geprägt haben. Wir finden zumindest für die alte Stoa keinen unmittelbaren Textbeleg dafür, obschon Belege für andere Termini derselben Wortfamilie vorliegen. 153 Der erste direkte Beleg für das Verbalsubstantiv οἰκείωσις findet sich in einem Theophrast zugeschriebenen Fragment. 154 Das Substantiv οἰκείωσις ist vom Verb οἰκειοῦν (sich aneignen bzw. auf seine Seite bringen) abgeleitet, welches wiederum auf das Adjektiv οἰκεῖον (zum Haus gehörig, eigen) bzw. das Substantiv οἶκος (Haus) zurückgeht. 155 Eine Sache oder eine Person wird als οἰκείον bezeichnet, wenn sie entweder durch Verwandtschaft - wie im Falle der Familie - oder durch Besitz - wie im Falle des Eigentums und der Sklaven - zu einem gehört. In einigen Texten findet sich auch das Medio-Passiv οἰκειοῦσθαι (mit jemandem oder etwas vertraut bzw. bekannt sein), um auszudrücken, dass etwas durch die göttliche Natur zum Gegenstand des Interesses und der Sorge eines Lebewesens gemacht wurde. 156 οἰκείωσις bzw. ihr lateinisches Äquivalent commendatio  157 oder conciliatio  158 beschreiben einen Zustand eines Lebewesens, der zugleich 120 III. Die stoische Motivationstheorie 159 Vgl. Klein (2016), 149 f; siehe dazu auch Gisela Strikers Umschreibung der οἰκείωσις als „recognition and appreciation of something belonging to one“ in: Striker (1983 [1996]), 281. 160 Vgl. Plu.Stoic.rep. 1038C = SVF 1.197: ἡ γὰρ οἰκείωσις αἴσθησις ἔοικε τοῦ οἰκείου καὶ ἀντίληψις εἶναι. 161 Vgl. D. L. 7.85 f = LS 57A = SVF 3.178; siehe dazu auch Inwood (1985), 186-189. 162 Vgl. Klein (2016), 151. 163 Cic.Fin. 3.16-23 = LS 59D. 164 In Cic.Fin. 3. 16-23 stütz t er sich wo hl v. a. auf Diogenes von Babylon; in Off.1.11-14; 1.53-58; 3. 27 auf Panaitios. 165 Vgl. Schmitz (2014), bes. 16-38; Klein (2016), 187-189. 166 Sen.Ep. 121. 167 Cic.Off.1.11-1 4; 1.53-58; 3.27; Akademische und peripatetische Versionen der Lehre, d ie vermutlich alle von Antiochos von Askalon stammen und durch Karneades beeinflusst sind, finden sich in Cic.Fin. 4.16-34; 5.16-21, 24-27 und Ac. 1.22 f; siehe des Weiteren dazu auch: Gell. 12.5.7 = SVF 3.181; Stob.Ecl. 2.47 f; 2.118-123. 168 Plu.Stoic.rep. 1038A-E. 169 Alex.Mant. 150 .20-153. 27. 170 E p ict. Dis s. 1.6 .16 -21; 1.19.15; 2.22.15; 3.24.11; Ench. 31.3. kognitiv wie motivational wirksam ist. 159 Folglich erklärt Plutarch den stoischen Begriff der οἰκείωσις auch als eine Wahrnehmung (αἴσθησις) und ein Erfassen (ἀντίληψις) - das kognitive Element - dessen, was οἰκεῖον ist - das motivatio‐ nale Element. 160 Diese Komplexität des Begriffs der οἰκείωσις mit der Integration eines kognitiven und eines motivationalen Elements in einen einzigen Begriff macht deutlich, dass sich kein angemessenes deutsches Äquivalent dafür finden lässt, welches auch nur annährend die verschiedenen Dimensionen des Begriffs der οἰκείωσις zum Ausdruck bringen könnte. Deshalb bleibt der Begriff im Fol‐ genden auch unübersetzt, und es wird weiterhin von οἰκείωσις gesprochen. Es wurde bereits erwähnt, dass die umfangreichsten und bedeutendsten Dar‐ stellungen der stoischen Ethik ihren Ausgang von der οἰκείωσις-Lehre nehmen. Daher spielen diese Texte für die Rekonstruktion dieser Lehre eine wichtige Rolle. Diogenes Laertios, der sich in seiner Exposition der οἰκείωσις-Lehre auf Chrysipps verlorenen Traktat Über Ziele (Περὶ τέλων) zu stützen scheint, 161 bietet uns dabei die verlässlichste Darstellung der stoischen οἰκείωσις-Lehre. 162 Ciceros Version 163 ist zwar in zahlreichen Punkten detaillierter als Diogenesʼ Darstellung, jedoch ist nicht ganz klar, auf welche Quellen er seine Überle‐ gungen stützt 164 , die zudem nicht frei von akademisch-peripatetischem Einfluss zu sein scheinen 165 . Neben diesen in eine Gesamtdarstellung der stoischen Ethik eingebetteten Expositionen der οἰκείωσις-Lehre finden sich weitere, wenn auch unvollständige Darstellungen und Bezüge in Senecas Epistulae morales  166 und kürzeren Passagen Ciceros 167 , bei Plutarch 168 sowie bei Alexander von Aphro‐ disias 169 und bei dem römischen Stoiker Epiktet 170 . Eine weitere detaillierte, je‐ 121 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 171 Hierocl.El.Eth. 172 Vgl. Hierocl.El.Eth. 1.50-3. 29. 173 Vgl. Hierocl.El.Eth. 3.20-29; zum Zusammenhang von Selbstwahrnehmung und Sorge um den eigenen Nachwuchs siehe auch: Plu.Stoic.rep. 1038B-C. 174 Vgl. Klein (2016), 152. doch leider nur fragmentarische Entfaltung der stoischen οἰκείωσις-Lehre findet sich im Traktat des Stoikers Hierokles, der im 2. Jh. n. Chr. einige spezifische Aspekte der Lehre gegen spätere Kritiker verteidigte. 171 Aus diesen verschie‐ denen Darstellungen, die freilich alle der Einzelbetrachtung bedürften, lässt sich jedoch auch ein gemeinsamer Kern der Lehre herausarbeiten, der für die weitere Untersuchung der Lehre und ihrer Relevanz in motivationstheoretischer Hin‐ sicht hinreichend spezifisch ist. In den überlieferten Quellen finden sich des Öfteren Aussagen über die Fä‐ higkeit der Lebewesen zur Selbstwahrnehmung, welche den frühesten Impulsen und Neigungen des Lebewesens vorhergeht und diese erklärt, wodurch es in die Lage versetzt wird, sich zu orientieren und seine verschiedenen Tätigkeiten so zu koordinieren, dass es sein eigenes Überleben sicherstellen kann. Von Geburt an besitzen Tiere und Menschen eine erstaunliche Kenntnis darüber, wozu ihre Gliedmaßen vorhanden sind, welche Fähigkeiten sie haben und welche gefähr‐ lichen Dinge sie meiden bzw. welche nützlichen Dinge sie erstreben sollen, um am Leben zu bleiben. All dies muss ihnen nicht erst beigebracht werden, sondern sie wissen dies von Natur aus. Diese Kenntnis ist nicht nur auf die eigenen physischen Fähigkeiten beschränkt, sondern umfasst auch die Fähigkeiten an‐ derer Lebewesen, so dass Tiere wissen, ob Flucht oder Angriff die angemessene Reaktion diesen anderen Lebewesen gegenüber ist. 172 Die Selbstwahrnehmung ist also nicht auf die eigenen Fähigkeiten und das eigene Verhalten beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf das Verhalten, welches Lebewesen anderen Le‐ bewesen gegenüber an den Tag legen wie die Sorge um den eigenen Nachwuchs oder die Kooperation mit anderen Spezies. 173 Ein zentrales Element der οἰκείωσις-Lehre ist daher die Selbstwahrnehmung der Lebewesen, welche es ihnen erlaubt, sich auf angemessene Weise zu ihrer - durchaus komplexen - Umwelt zu verhalten. 174 Dieser anfängliche Fokus auf das Tierleben und das Verhalten von Tieren und Neugeborenen ist jedoch nicht das zentrale Anliegen der οἰκείωσις-Lehre. Des‐ wegen wenden sich die genannten Quellen nach dieser anfänglichen Analyse der Selbstwahrnehmung bei neugeborenen Lebewesen schnell der psychologi‐ schen Entwicklung des Menschen zu und gelangen von dort zu Aussagen über das Wesen des Guten für den Menschen - seine εὐδαιμονία. Leider sind die Quellen über den genauen Ablauf dieses Entwicklungsprozesses nicht sonder‐ 122 III. Die stoische Motivationstheorie 175 Bei Hierokles findet sich gerade an dieser Stelle eine große Lacuna, und Cicero und Diogenes Laertios skizzieren die Entwicklung lediglich, ohne ins Detail zu gehen. 176 Vgl. Sto b.E cl. 2. 73.19-74. 1 = SVF 3.112; S. E. M 11.182. 177 Vgl. Hierocl .El .E th. 7.50- 8. 9; siehe auch: Bastianini/ Long (1992), 445-448; Tieleman (1996), 178; Brittain (2002), 171-173; Klein (2016), 152 f. 178 Vgl. Gal .PHP 5. 3. 1 = LS 53 V = SVF 2.841: ἀναμιμνῄσκων ἴσως ἡμᾶς τῶν ἐν τοῖς Περὶ τοῦ λόγου γεγραμμένων ὧν σὺ διῆλθες, ὡς ἔστιν ἐννοιῶν τέ τινων καὶ προλήψεων ἄθροισμα; zum stoischen Rationalitätsbegriff siehe auch: Schofield (1991), 70f; Frede (1994a); Cooper (2004), 216-218; Brittain (2005). 179 D. L. 7. 86 = LS 57 A = SVF 3 .1 78: τεχνίτης γὰρ οὗτος [sc. ὁ λόγος] ἐπιγίνεται τῆς ὁρμῆς. 180 Cic.Fin . 3. 21 = L S 59D = S VF 3.188: Simul autem cepit intellegentiam vel notionem potius […] viditque rerum agendarum ordinem et […] concordiam […]. 181 Vgl. Klein (2016), 153. lich ergiebig. 175 Es lässt sich jedoch feststellen, dass sich die frühen Wahrneh‐ mungen, Neigungen und Interessen der noch nicht rationalen Kinder im Idealfall hin zu einem propositional strukturierten System von Kognitionen entwickeln, in welchem die Tugend als τέχνη besteht. 176 Dieser Prozess vollzieht sich durch den Erwerb neuer Begriffe (ἔννοιαι) und ein wachsendes und aufgrund dieser Begriffe verfeinertes Bewusstsein dessen, welche Art von Lebewesen sie sind und welche Verhaltensweisen für diese Art Lebewesen angemessen sind. 177 Die erworbenen Begriffe konstituieren das Vernunftvermögen, 178 welches das menschliche Verhalten steuert und erklärt. Folglich wird der Übergang vom noch nicht rationalen Kindesalter ins rationale Erwachsenenalter auch so be‐ schrieben, dass „die Vernunft […] als kunstverständige Könnerin zum Impuls hinzu[kommt]“ 179 bzw. der Mensch „ein Verständnis erlangt […] und die Ord‐ nung und […] Harmonie der Pflichten“ 180 sieht. Ein zentrales Anliegen der οἰκείωσις-Lehre ist es demnach, die Rolle der Vernunft in der Gestaltung der Handlungsmotivation erwachsener Menschen zu klären und dies als das cha‐ rakteristische Merkmal menschlichen Handelns auszuweisen. 181 Eines der zentralen Interpretationsprobleme besteht nun in der Erklärung, wie aus der anfänglichen Motivation des Lebewesens zur Selbsterhaltung, welche das Verhalten des Lebewesens von Geburt an kennzeichnet, die Moti‐ vation zur Erfüllung der umfassenden moralischen Pflichten werden kann, welche die Stoiker für den vernünftigen erwachsenen Menschen annehmen. Betrachten wir hierzu zunächst Diogenes Laertiosʼ Darstellung der stoischen οἰκείωσις-Lehre: Sie [die Stoiker] sagen, der erste Impuls (ἡ πρώτη ὁρμή) eines Lebewesens richte sich darauf, sich selbst zu erhalten (τηρεῖν ἑαυτό), weil die Natur es von Anfang an sich zueigen mache (οἰκειοῦν), wie Chrysipp im ersten Buch seiner Schrift Über Ziele sagt. Für jedes Lebewesen, so erklärt er, ist das erste ihm Eigene (πρῶτον οἰκεῖον) seine 123 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 182 D. L. 7.85 f = LS 57A = SVF 3.178 mit folgenden Änderungen zum Text in LS 57A (siehe dazu auch Klein [2016], 154 Anm. 22): In Zeile 2 ergänze ich mit Korais und Dorandi <ἑαυτῷ> und lese in Zeile 4 mit Kühn und Dorandi αὑτῷ statt αὐτὸ in den wichtigsten Handschriften (B, P und F), da, wie Inwood (1985), 311 Anm. 30 feststellt, an beiden Stellen das Reflexivpronomen notwendig ist, um zur Schlussfolgerung in Zeile 6 zu gelangen, dass die Natur das Lebewesen sich selbst (d. h. dem Lebewesen) zueigen ge‐ macht hat. In Zeile 4 lese ich mit Pohlenz συναίσθησιν für συνείδησιν in den Hand‐ schriften, da es zum einen bei Hierocl.El.Eth. häufig im Zusammenhang der οἰκείωσις verwendet wird und eine Form der Kognition, wie sie mit εἰδέναι zum Ausdruck ge‐ bracht wird, Tieren kaum zugeschrieben werden kann (vgl. dazu Pohlenz [1940], 7 Anm. 1 und Inwood [1985], 313 Anm. 42; dagegen: Rist [1969], 44 f). Der Text lautet dann folgendermaßen: τὴν δὲ πρώτην ὁρμήν φασι τὸ ζῷον ἴσχειν ἐπὶ τὸ τηρεῖν ἑαυτό, οἰκειούσης αὐτὸ <ἑαυτῷ> τῆς φύσεως ἀπʼ ἀρχης, καθά φησιν ὁ Χρύσιππος ἐν τῷ πρώτῳ Περὶ τελῶν, πρῶτον οἰκεῖον λέγων εἶναι παντὶ ζῴῳ τὴν αὑτοῦ σύστασιν καὶ τὴν ταύτης συναίσθησιν· οὔτε γὰρ ἀλλοτριῶσαι εἰκὸς ἦν αὑτῷ τὸ ζῷον, οὔτε ποιήσασαν αὐτό, μήτʼ ἀλλοτριῶσαι μήτʼ [οὐκ] οἰκειῶσαι. ἀπολείπεται τοίνυν λέγειν συστησαμένην αὐτὸ οἰκειῶσαι πρὸς ἑαυτό· οὕτω γὰρ τά τε βλάπτοντα διωθεῖται καὶ τὰ οἰκεῖα προσίεται. ὃ δὲ λέγουσί τινες, πρὸς ἡδονὴν γίγνεσθαι τὴν πρώτην ὁρμὴν τοῖς ζῴοις, ψεῦδος ἀποφαίνουσιν. ἐπιγέννημα γάρ φασιν, εἰ ἄρα ἔστιν, ἡδονὴν εἶναι ὅταν αὐτὴ καθʼ αὑτὴν ἡ φύσις ἐπιζητήσασα τὰ ἐναρμόζοντα τῇ συστάσει ἀπολάβῃ· ὃν τρόπον ἀφιλαρύνεται τὰ ζῷα καὶ θάλλει τὰ φυτά. οὐδέν τε, φασι, διήλλαξεν ἡ φύσις eigene Konstitution (σύστασις) und ihre Wahrnehmung (συναίσθησις). Denn es stünde der Natur weder an, das Lebewesen von sich selbst zu entfremden, noch, es zwar zu schaffen, dann aber weder zu entfremden noch sich zueigen zu machen. Es bleibt also übrig zu sagen, dass die Natur, als sie es konstituierte, es sich selbst zueigen machte. So nämlich erklärt sich, dass das Lebewesen das abwehrt, was schädlich ist, und das akzeptiert, was ihm zueigen ist. Sie halten ausdrücklich für falsch, was manche sagen, nämlich dass der erste Impuls sich bei den Lebewesen auf die Lust richtet. Sie sagen nämlich, dass die Lust, wenn sie denn auftritt, ein Nebenprodukt (ἐπιγέννημα) ist, das dann entsteht, wenn die Natur [einer Kreatur] ganz von sich aus das ausgesucht und angeeignet hat, was für ihre Konstitution erforderlich ist, auf welche Weise [dann] die Tiere herumtollen und die Pflanzen blühen. Die Natur, sagen sie, ist in Bezug auf die Pflanzen und in Bezug auf die Tiere nicht verschieden zu der Zeit, wenn sie sie ohne Impuls und Sinneswahrnehmung einrichtet (und lenkt) und wenn bei uns be‐ stimmte Prozesse vegetativer Art stattfinden. Weil die Tiere aber zusätzlich mit dem Impuls ausgestattet sind, durch dessen (zusätzlichen) Gebrauch sie sich auf die Suche nach dem machen, was ihnen zueigen ist, deshalb ist es für sie naturgemäß, ihrem Impuls gemäß verwaltet zu werden. Und weil aufgrund eines vollendeteren Manage‐ ments (προστασία) den vernunftbegabten Lebewesen die Vernunft verliehen wurde, deshalb ergibt sich für diese zu Recht, dass es für sie naturgemäß ist, vernunftgemäß zu leben. Die Vernunft kommt nämlich als kunstverständige Könnerin (τεχνίτης) zum Impuls hinzu (ἐπιγίνεται). 182 (Übers. Hülser mit Modifikationen) 124 III. Die stoische Motivationstheorie ἐπὶ τῶν φυτῶν καὶ ἐπὶ τῶν ζῴων, ὅτε χωρὶς ὁρμῆς καὶ αἰσθήσεως κἀκεῖνα οἰκονομεῖ καὶ ἐφʼ ἡμῶν τινα φυτοειδῶς γίνεται. ἐκ περιττοῦ δὲ τῆς ὁρμῆς τοῖς ζῴοις ἐπιγενομένης, ᾗ συγχρώμενα πορεύεται πρὸς τὰ οἰκεῖα, τούτοις μὲν τὸ κατὰ φύσιν τῷ κατὰ τὴν ὁρμὴν διοικεῖσθαι· τοῦ δὲ λόγου τοῖς λογικοῖς κατὰ τελειοτέραν προστασίαν δεδομένου, τὸ κατὰ λόγον ζῆν ὀρθῶς γίνεσθαι <τού>τοις κατὰ φύσιν· τεχνίτης γὰρ οὗτος ἐπιγίνεται τῆς ὁρμῆς. In der obigen Übersetzung verstehe ich mit Striker (1983 [1996]), 288 Anm. 11 und gegen LS ad loc. das Adverb ὀρθῶς im vorletzten Satz als eine Modifikation von γίνεσθαι, die zum Ausdruck bringt, dass die Schlussfolgerung korrekt und damit gerechtfertigt ist. Die Verbindung des Adverbs ὀρθῶς mit τὸ κατὰ λόγον ζῆν und damit die Behandlung der Formulierung als eine Variante von ὀρθὸς λόγος scheint insbeson‐ dere aufgrund der vorliegenden Wortstellung das Griechische überzustrapazieren. 183 Vgl. Cic.Fin. 1. 30 und 2.31 f; siehe dazu auch: Brunschwig (1986), 115-128. 184 Lebewesen führen die ihrer Konstitution entsprechenden Handlungen aus, auch wenn diese mit Schmerz verbunden sind: Sen.Ep. 121.7f = LS 57B; S. E. M 11.99f. 185 Vgl. D. L. 7.85 f = LS 57A = SVF 3.178. Diesem Bericht des Diogenes zufolge existiert von Geburt an eine Form der Motivation in jedem Lebewesen, welche auf die Selbsterhaltung (τηρεῖν ἑαυτό) gerichtet ist; diese bezeichnet er als ‚ersten Impuls‘ (ἡ πρώτη ὁρμή). Die Erhal‐ tung der eigenen Konstitution (σύστασις) sowie die Wahrnehmung (συναίσθησις) derselben werden somit für das Lebewesen zum ersten ihm Ei‐ genen (πρῶτον οἰκεῖον). Die Lust, welche das Lebewesen dabei empfindet, wenn ihm dies gelingt, ist nicht das eigentliche Strebensziel, wie beispielsweise die Epikureer in einer ähnlichen Argumentationsfigur behaupteten, 183 sondern stellt lediglich ein Nebenprodukt bzw. Begleitphänomen (ἐπιγέννημα) des ei‐ gentlichen Verhaltens dar. 184 Das Verlangen des Lebewesens ist am Anfang rein auf es selbst gerichtet und sucht, die Dinge zu sichern, welche für seinen Selbst‐ erhalt notwendig sind, bzw. die Dinge zu vermeiden, die für es schädlich sind. Die Stoiker schließen nun von dieser ursprünglichen, naturalen Ausstattung der neugeborenen Lebewesen, dass die Verhaltensweisen, die diese Lebewesen de facto automatisch, d. h. instinktiv an den Tag legen, Verhaltensweisen sind, die sie an den Tag legen sollen. Die Dinge, nach welchen sie streben, sind in Über‐ einstimmung mit der Natur - d. h. sie sind die Objekte ihrer ursprünglichen Instinkte - und sind um ihrer selbst willen zu wählen: Sie werden nicht nur de facto aufgrund ihrer Neigungen gewählt, sondern sie sollen auch gewählt werden. Begehen die Stoiker aber an dieser Stelle nicht einen naturalistischen Fehlschluss vom Sein auf das Sollen, indem sie vom faktischen Verhalten der neugeborenen Lebewesen auf das gesollte Verhalten schließen? Eine Antwort auf diese Frage findet sich in einem teleologischen Argument bei Diogenes Laertios. 185 Die Dinge, die de facto gewählt werden, besitzen, indem sie auch gewählt werden sollen, einen positiven Wert. Denn die Motivation zum Verfolgen dieser Dinge trägt, wie den Aussagen der Textstelle bei Diogenes La‐ 125 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik ertios über den Charakter der natürlichen ursprünglichen Ausstattung des neu‐ geborenen Lebewesens zu entnehmen ist, zu seinem Überleben und Wohler‐ gehen bei. Es sei nämlich nicht plausibel anzunehmen, dass die Natur ein Lebewesen mit einer instinktiven Abneigung gegen sich selbst und einer kor‐ respondierenden Neigung für Dinge ausstatten würde, die schädlich oder gar verderblich für es wären. Ebenso unplausibel sei eine Aussatttung mit Nei‐ gungen, die nichts mit den Bedürfnissen des Lebewesens für sein Überleben und seine weitere natürliche Entwicklung zu tun hätten. Denn für die Stoiker ist die Natur - wie aus ihrer Naturphilosophie deutlich wird - eine wohlwollende und rational agierende Instanz, die Lebewesen mit einer bestimmten natürlichen Konstitution und Entwicklungsstruktur hervorbringt, welche auf die umfas‐ sende Wesensentfaltung der jeweiligen Entität zielt. Um diese Wesensentfaltung zu erreichen, versieht sie das Lebewesen mit Instinkten und Neigungen, die für gewöhnlich für diese Entwicklung nötig sind. Es wäre ganz unverständlich, wenn die Natur die Lebewesen, die sie hervorbrächte, mit Instinkten versehen würde, die zu ihrer Vernichtung führten. Doch wie wollen die Stoiker von diesem geschilderten Selbsterhaltungstrieb aus die umfassenden moralischen Pflichten anderen gegenüber begründen, wie sie sich beispielsweise in Ciceros Darstellung der stoischen οἰκείωσις-Lehre finden: Wichtig ist nach ihrer Ansicht, zu verstehen, dass die Liebe der Eltern zu den Kindern von der Natur hervorgebracht wird. Von diesem Ausgangspunkt aus erreichen wir stufenweise die universale Gemeinschaft des Menschengeschlechts. Das muss als erstes klar sein aufgrund der Gestalt und der Glieder des Körpers, die durch sich selbst deutlich machen, dass die Reproduktion ein Prinzip ist, das die Natur besitzt. Es könnte aber für die Natur untereinander nicht stimmig sein, sowohl die Reproduktion zu wollen, als auch nicht dafür zu sorgen, dass die Nachkommenschaft geliebt wird. Selbst bei den wilden Tieren kann man die Kraft der Natur beobachten; wenn wir die Mühe sehen, die sie darauf verwenden, ihre Jungen zur Welt zu bringen und aufzuziehen, scheinen wir die Stimme der Natur selbst zu hören. Wie es daher offensichtlich ist, dass wir natürlicherweise vor Schmerz zurückschrecken, so liegt es auf der Hand, dass wir von der Natur selbst getrieben werden, die zu lieben, die wir gezeugt haben. Daraus ergibt sich, dass auch die allgemeine wechselseitige Anziehung der Menschen unter‐ einander ein Werk der Natur ist. Infolgedessen macht die bloße Tatsache, dass jemand ein Mensch ist, es für einen anderen Menschen zur Obliegenheit, ihn nicht als fremd zu betrachten. Gerade so, wie einige Teile des Körpers, etwa die Augen und die Ohren, sozusagen für sich selbst geschaffen sind, während andere, etwa die Beine und die Hände, dem Bedürfnis der übrigen Glieder dienen, so sind einige große Tiere nur für sich selbst geschaffen, während […] die Ameisen, Bienen und Störche manches auch 126 III. Die stoische Motivationstheorie 186 Cic.Fin. 3.62-68 = LS 57F: Pertinere autem ad rem arbitrantur intellegi natura fieri ut liberi a parentibus amentur. A quo initio profectam commune humani generis societatem per‐ sequimur. Quod primum intellegi debet figura membrisque corporum, quae ipsa declarant procreandi a natura habitam esse rationem. Neque vero haec inter se congruere possent, ut natura et procreari vellet et diligi procreatos non curare. Atque etiam in bestiis vis naturae perspici potest; quarum in fetu et in educatione laborem cum cernimus, naturae ipsius vocem videmur audire. Quare <ut> perspicuum est natura nos a dolore abhorrere, sic apparet a natura ipsa ut eos quos genuerimus amemus impelli. Ex hoc nascitur ut etiam communis hominum inter homines naturalis sit commendatio, ut oporteat hominem ab homine ob id ipsum quod homo sit non alienum videri. Ut enim in membris alia sunt tamquam sibi nata, ut oculi, ut aures, alia etiam ceterorum membrorum usum adiuvant, ut crura, ut manus, sic immanes quaedam bestiae sibi solum natae sunt, at […] formicae apes ciconiae aliorum etaim causa quaedam faciunt. Multo haec coniunctius homines. Itaque natura sumus apti ad coetus concilia civitates. Mundum autem censent regi numine deorum, eumque esse quasi communem urbem et civitatem hominum et deorum, et unum quemque nostrum eius mundi esse partem; ex quo illud natura consequi, ut communem utilitatem nostrae anteponamus. […] Ex quo fit ut laudandus is sit, qui mortem oppetat pro re publica, quod deceat cariorem nobis esse patriam quam nosmet ipsos. […] Impellimur autem natura ut prodesse velimus quam plurimis in primisque docendo rationibusque prudentiae tradendis. Itaque non facile est invenire qui quod sciat ipse non tradat alteri; ita non solum ad discendum propensi sumus verum etiam ad docendum. […] Quoniam ea natura esset hominis ut ei cum genere humano quasi civile ius intercederet, qui id conser‐ varet, eum iustum, qui migraret, iniustum fore. […] Cum autem ad tuendos conservan‐ der anderen wegen tun. Das Verhalten des Menschen ist in dieser Hinsicht vielmehr gebunden. Daher sind wir von Natur aus geneigt, Vereinigungen, Gesellschaften und Staaten zu bilden. Die Welt wird nach stoischer Lehre durch den Willen der Götter gelenkt und ist gleichsam die gemeinsame Stadt der Menschen und der Götter, und jeder einzelne von uns ist ein Teil dieser Welt; daraus folgt natürlicherweise, dass wir den allgemeinen Nutzen unserem eigenen vorziehen. […] Dies erklärt, warum derje‐ nige Lob verdient, der zugunsten des Staates den Tod sucht, da unser Vaterland uns lieber sein sollte als wir uns selbst. […] Des Weiteren werden wir durch die Natur gedrängt, möglichst vielen Menschen nutzen zu wollen, und zwar besonders dadurch, dass wir sie lehren und ihnen die Grundsätze der Klugheit weitergeben. Man tut sich daher schwer, jemanden zu finden, der das, was er selbst weiß, einem anderen nicht weitergibt. Somit neigen wir nicht nur dem Lernen, sondern auch dem Lehren zu. […] Weil ferner die Natur des Menschen so beschaffen ist, dass eine Art bürgerliches Recht das Bindeglied zwischen ihm und dem Menschengeschlecht darstellt, wird der‐ jenige gerecht sein, der dieses Recht aufrecht erhält, und derjenige ungerecht, der es übertritt. […] Da wir ferner sehen, dass der Mensch dazu geschaffen ist, seine Mit‐ menschen zu schützen und zu erhalten, entspricht es dieser Natur, dass der Weise in der Verwaltung des Staates eine Rolle spielen will und dass er, um natürlich zu leben, heiratet und von seiner Frau Kinder haben möchte. 186 (Übers. Hülser mit Modifikati‐ onen) 127 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik dosque homines hominem natum esse videamus, consentaneum est huic naturae, ut sapiens velit gerere et administrare rem publicam atque, ut e natura vivat, uxorem adiungere et velle ex ea liberos; siehe dazu auch: Cic.Leg. 1. 28 = SVF 3.343; Marc.Aurel. 2. 1; 5. 16; 5. 30; 11. 21; Plu.Am.Prol. 495C. 187 Vgl. zum Folgenden: Klein (2016), 155 f. 188 Vgl. Pohlenz (1959), 115: „Wenn sich dann aber im Laufe der Jahre der Logos ausbildet und seiner selbst bewusst wird, wendet sich die Oikeiosis dem Logos als dem wahren Wesen des Menschen zu und erkennt in der reinen Entfaltung der Vernunft das, was für den Menschen wahrhaft ‚naturgemäß‘ und ‚gut‘ ist.“ 189 Vertreter dieser ersten Interpretationslinie sind: Pohlenz (1959); ders. (1940), 12: „Das Grundmotiv der Lehre ist, die Normen für die Lebensgestaltung aus einem Urtriebe der menschlichen Natur abzuleiten.“; Pembroke (1971), 132: „the morality which the Stoics derived from self-preservation“; Inwood (1985), bes. 184 und 194: „Man’s commitment to virtue could be derived […] from the basic instinct of self-preservation.“; Salles (2005), 48: „On [the Stoic] view, our moral evolution is determined by development of our concern for self-preservation.“ Wie wollen die Stoiker diese anspruchsvollen moralischen Forderungen be‐ gründen, die sie scheinbar in unserem natürlichen Selbsterhaltungstrieb be‐ gründet sehen? Welche Rolle spielt die πρώτη ὁρμή für die Ausgestaltung un‐ serer praktischen Rationalität, zu deren Erklärung die οἰκείωσις-Lehre, wie wir gesehen haben, ursprünglich gedacht war? In der jüngeren Stoaforschung finden sich vor allem zwei Interpretationsstrategien, um diese Fragen zu beant‐ worten. 187 Der ersten Interpretationsstrategie zufolge ist der erste Impuls (ἡ πρώτη ὁρμή) zur Selbsterhaltung (τηρεῖν ἑαυτό), wie wir ihn im Text des Dio‐ genes finden, nicht in einem zeitlichen Sinne eine der ersten motivationalen Strebungen, welche in einem Lebewesen beobachtet werden kann, sondern er stellt in einem hierarchischen Sinne die dominante Form der Motivation dar, wie sie sich in allen Lebewesen - vollkommen rationale Menschen, d. h. stoische Weise eingeschlossen - finde. Die πρώτη ὁρμή zur Selbsterhaltung kenn‐ zeichnet damit das Motivationsprofil des stoischen Weisen nicht weniger als das von Tieren oder noch nicht rationalen Kindern. Der Selbsterhaltungstrieb be‐ steht über den Übergang zum rationalen Erwachsenenalter hinaus fort, nur dass sich der Mensch nun nicht mehr als Sinnenwesen mit all seinen Bedürfnissen am Leben erhält, sondern eben als rationales Wesen, indem er all die Handlungen ausführt, welche ein vollkommen rationales menschliches Wesen ausführen sollte. 188 Obschon der Selbsterhaltungstrieb nun ein Impuls zur Erhaltung der rationalen Natur ist, bleibt er dennoch primär, d. h. dominant im Motivations‐ profil des rationalen Akteurs, und strukturiert damit dessen rationale motiva‐ tionale Strebungen. Damit wird nicht nur die οἰκείωσις, sondern letztlich der Selbsterhaltungstrieb zum Ausgangspunkt der stoischen Ethik. 189 128 III. Die stoische Motivationstheorie 190 Striker (1991 [1996]), 231: „[…] her [sc. a person’s] desire for agreement with nature will not simply be an enlightened form of self-love“. 191 Vertreter dieser zweiten Interpretationslinie sind: White (1979); Frede (1994a; 1999a); Striker (1983 [1996]; 1991 [1996]). 192 Inwood (2014a), 118; siehe dazu auch: Striker (1991 [1996]), 261-270, bes. 269 und Sharples (2004), 149 f. 193 Alex.Mant. 150, 25-28 = SVF 3.183: τοῦτο δὴ τὸ πρῶτον οἰκεῖον ἐζήτηται τί ποτέ ἐστι παρὰ τοῖς φιλοσόφοις καὶ οὐ ταὐτὸ πᾶσιν ἔδοξεν, ἀλλὰ σχεδὸν κατὰ τὴν τοῦ ἐσχάτου ὀρεκτοῦ διαφορὰν καὶ ἡ περὶ τοῦ πρώτου τοῖς περὶ αὐτοῦ λέγουσιν γίνεται. Gegen diese Interpretation wurde eingewandt, dass die Motivation des stoi‐ schen Weisen nicht einfach eine aufgeklärte Form der Selbstliebe sein werde. 190 Statt eine kontinuierliche Entwicklung der menschlichen Motivationsstuktur unter Vorherrschaft des Selbsterhaltungstriebs anzunehmen, argumentiert die zweite Interpretationsstrategie für einen umfassenden Bruch in der menschli‐ chen Motivationsstruktur beim Übergang vom noch nicht rationalen Kindeszum rationalen Erwachsenenalter. Es sei gänzlich unplausibel, dass sich die oben angesprochenen, umfassenden moralischen Pflichten, wie sie sich in der stoi‐ schen Ethik finden, allein vom Selbsterhaltungstrieb des Lebewesens ableiten lassen. Stattdessen werde diese ursprüngliche Motivation - die πρώτη ὁρμή in einem zeitlichen Sinne - im Laufe der Entwicklung des Menschen von einem neuen Motiv abgelöst, von dem aus dann auch die verschiedenen Pflichten be‐ gründet werden können, welche dem rationalen erwachsenen Menschen zu‐ kommen. Das neue Motiv besteht dieser zweiten Interpretationslinie zufolge in einem Gefühl der Achtung und Bewunderung gegenüber der rationalen Ord‐ nung, wie sie sich in der Natur als ganzer zeige und vom Weisen um ihrer selbst willen geschätzt werde. 191 Problematisch an dieser Rekonstruktion der οἰκείωσις-Lehre scheint zu sein, dass sie die von Brad Inwood sogenannte ‚Ang‐ leichungsbedingung‘ (alignment condition) 192 nicht erfüllt, wie sie sich in einigen antiken Quellen findet. So heißt es bei Alexander von Aphrodisias: Und es wurde von den Philosophen untersucht, was dieses erste uns Eigene (πρῶτον οἰκεῖον) eigentlich ist, und es schien nicht allen dasselbe zu sein, sondern die Ver‐ schiedenheit in Bezug auf das erste uns Eigene ergibt sich gemäß der Verschiedenheit des letzten Erstrebten (ἔσχατον ὀρεκτόν). 193 Es besteht demnach eine Korrespondenz zwischen dem πρῶτον οἰκεῖον und dem Letztziel unseres Strebens (ἔσχατον ὀρεκτόν), d. h. unserem τέλος. Diese Kor‐ respondenz ist allerdings bei der zweiten Interpretationsstrategie und dem an‐ genommenen Bruch in der menschlichen Entwicklung nicht mehr gegeben. Jedoch waren die stoische wie die epikureische Untersuchung des Motivations‐ profils Neugeborener (das sogenannte ‚Wiegenargument‘ [cradle argument] 194 ) 129 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 194 Vgl. Brunschwig (1986). 195 Vgl. Brunschwig (1986), 113-115 und 119-122. 196 Vgl. Klein (2016), 158. 197 Vgl. dazu Striker (1983 [1996]), 293; Menn (1995), 30 und 31 Anm. 36 sowie Brennan (2005), 163 f; siehe dazu auch: Engberg-Perdersen (1986), 158-160. 198 Klein (2016), bes. 160-195. dazu gedacht, Aufschlüsse über Stuktur und Inhalt des menschlichen τέλος zu liefern. 195 Somit haben unterschiedliche Ansichten über das πρῶτον οἰκεῖον un‐ terschiedliche Ansichten über das höchste Gut, das menschliche τέλος zur Folge, so dass zwischen diesen beiden Objekten eine Korrespondenz in einem bedeut‐ samen Sinne besteht. 196 Die zweite Interpretationslinie kann dieser Korrespon‐ denz jedoch nicht Rechnung tragen: Wenn der Selbsterhaltungstrieb von ratio‐ nalen erwachsenen Menschen aufgegeben und ihre Motivationsstruktur grundlegend transformiert wird, warum bestehen die stoischen Berichte von der οἰκείωσις-Lehre dann überhaupt auf den Vorrang dieses Impulses? Die zentrale Herausforderung für ein angemessenes Verständnis der stoi‐ schen οἰκείωσις-Lehre ist es daher, die Aussagen der Stoiker über die Psycho‐ logie und Motivationsstruktur der Lebewesen sowie die natürliche Teleologie mit ihren Aussagen über das Handeln rationaler erwachsener Menschen zu‐ sammenzubringen. Es scheint eine überzeugende psychologische Theorie zu fehlen, welche die bestehende Lücke zwischen der noch nicht rationalen und der rationalen Form der Motivation überbrücken könnte, bzw. eine Erklärung dafür, wie der Selbsterhaltungstrieb neugeborener Lebewesen die umfassenden moralischen Pflichten auch anderen gegenüber, deren Bestehen die Stoiker im Falle erwachsener Menschen annehmen, begründen kann. Ist diese Spannung zwischen psychologischem Egoismus und umfassenden moralischen Pflichten anderen gegenüber so gravierend, dass man mit einigen Interpreten die Schluss‐ folgerung ziehen sollte, dass die οἰκείωσις-Lehre nicht dazu gedacht war, die Struktur und den Inhalt des menschlichen τέλος - d. h. den kognitiven Charakter der Tugend, die für unsere εὐδαιμονία hinreichend ist - zu rechtfertigen, son‐ dern lediglich den psychologischen Weg zu beschreiben, auf welchem wir zu Tugend gelangen 197 ? Die Lage ist nicht so aussichtslos, wie es scheinen mag. Jacob Klein hat eine neue Interpretation 198 der stoischen οἰκείωσις-Lehre entwickelt, welche sie nicht nur als eine Beschreibung des psychologischen Weges hin zum menschlichen τέλος - hin zur Tugend - ansieht, sondern sie darüber hinaus auch als Recht‐ fertigung der stoischen Behauptungen über die Struktur und den Inhalt dieses τέλος - d. h. den kognitiven Charakter der Tugend, die für unsere εὐδαιμονία hinreichend ist - versteht. Dieser Interpretation zufolge sollte die πρώτη ὁρμή 130 III. Die stoische Motivationstheorie 199 Vgl. D. L. 7.159 = SVF 2.837: ἡγεμονικὸν δʼ εἶναι τὸ κυριώτατον τῆς ψυχῆς, ἐν ᾧ αἱ φαντασίαι καὶ αἱ ὁρμαὶ γίνονται καὶ ὅθεν ὁ λόγος ἀναπέμπεται; SVF 2.821: ἔχειν δὲ πᾶσαν ψυχὴν ἡγεμονικόν τι ἐν αὑτῇ, ὃ δὴ ζωὴ καὶ αἴσθησίς ἐστι καὶ ὁρμή; siehe dazu auch: Powers (2012), 257. 200 Vgl. Klein (2016), 160 f. 201 Vgl. dazu auch: Sen.Ep. 121. 5: Quaerebamus an esset omnibus animalibus constitutionis suae sensus. 202 Alex.Mant. 150.28-33 = SVF 3.183: οἰ μὲν οὖν Στωϊκοί, οὐ πάντες δέ, λέγουσιν πρῶτον οἰκεῖον εἶναι τὸ ζῷον αὑτῷ (ἕκαστον γὰρ ζῷον εὐθὺς γενόμενον πρὸς αὑτὸ οἰκειοῦσθαι καὶ δὴ καὶ τὸν ἄνθρωπον) οἱ δὲ χαριέστερον δοκοῦντες λέγειν αὐτῶν καὶ μᾶλλον als ein Impuls verstanden werden, der auf das Aufrechterhalten eines naturge‐ mäßen Zustandes des leitenden Seelenvermögens (ἡγεμονικόν) bzw. im Falle des Menschen auch auf einen Zustand desselben in Übereinstimmung mit der Natur zielt. Insofern die πρώτη ὁρμή auf das ἡγεμονικόν gerichtet ist, ist sie nicht primär, weil sie in einem zeitlichen Sinne früher oder weil sie als domi‐ nanter Impuls stärker als die anderen Impulse ist, sondern insofern sie auf die Erhaltung derjenigen Instanz gerichtet ist, in welcher alle Vorstellungen und (Handlungs-)Impulse eines Lebewesens ihren Ursprung haben. 199 Der Impuls des Lebewesens zur Erhaltung dieser Instanz in einem naturgemäßen Zustand ist daher ein Impuls höherer Ordnung - i.S. einer large-scale motivation. Er ist auf die Erhaltung des naturgemäßen Zustands derjenigen Instanz ausgerichtet, welche all unsere Motivationen erster Ordnung - unsere small-scale motiva‐ tions - sowie unsere Motivationen, zur Verfolgung bestimmter Projekte - unsere mid-scale motivations - bestimmt. 200 Die πρώτη ὁρμή zur Aufrechterhaltung eines naturgemäßen Zustandes des ἡγεμονικόν ist deswegen primär, weil sie jedem Verhalten des Lebewesens zugrunde liegt und seine Neigung zum Aus‐ üben dieses Verhaltens erklärt. Anhalt für diese Position finden wir in den Texten zur οἰκείωσις-Lehre. Wenn man die oben zitierte Passage aus Diogenes Laertios genauer betrachtet, wird deutlich, dass die πρώτη ὁρμή nicht eigentlich auf die Selbsterhaltung ausge‐ richtet ist, sondern dass das wirkliche πρῶτον οἰκεῖον die eigene Konstitution (σύστασις) des Lebewesens ist. 201 Ebenso heißt es bei Alexander von Aphrodi‐ sias: Die Stoiker, obschon nicht alle, sagen also, dass das Lebewesen das erste ihm Eigene ist (denn jedes Lebewesen ist sich vertraut, sobald es geboren wurde, und also auch der Mensch); diejenigen von ihnen aber, die genauer zu sprechen und mehr Ausfüh‐ rungen darüber zu machen scheinen, sagen, dass wir, sobald wir geboren wurden, mit unserer Konstitution (σύστασις) und mit der Erhaltung unserer selbst vertraut sind. 202 131 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik διαρθροῦν περὶ τοῦδέ φασιν πρὸς τὴν σύστασιν καὶ τήρησιν ᾠκειῶσθαι εὐθὺς γενομένους ἡμᾶς τὴν ἡμῶν αὐτῶν. 203 Für eine ähnl iche Unters ch eidung siehe: Cic.Fin. 3. 16 = SVF 3. 18: „Placet his“ inquit „quorum ratio mihi probatur, simul atque natum sit animal (hinc enim est ordiendum), ipsum sibi conciliari et commendari ad se conservandum et ad suum statum eaque quae conservantia sint eius status diligenda, alienari autem ab interitu iisque rebus quae inte‐ ritum videantur adferre. […]“; siehe dazu auch: Pembroke (1971), 130 Anm. 77; White (1979), 166 Anm. 93; Inwood (1985), 190, 313 Anm. 38 und 40 sowie ders. (2007), 335-337; gegen diese Interp retation argumentiert Kühn (2014), bes. 367 Anm. 18; Philippson (1932), 455 f und Pohlenz (1940), 9 meinen, in der Passage einen Unterschied in den Lehren Zenons und Chrysipps finden zu können, doch kann man, wie oben gezeigt wird, beide Aussagen als Ausdrücke einer einzigen Auffassung verstehen. 204 Vgl. dazu auch Brennan (2009), 402. 205 Sen.Ep. 121. 10 = LS 29F = SVF 3.184: Constitutio [… ] est prin cipale animi quodam modo se habens erga corpus. Diese Definition der Konstitution ist zwar in keiner anderen Quelle belegt, doch scheint sie genuin stoisch zu sein, insofern sie einen stoischen Klang aufweist und sich in ihr die stoischen Kategorien ὑποκείμενον, ποιόν und π ρός τί πως ἔχον wiederfinden. Seneca scheint hier wörtlich die griechische Definition der σύστασις als ἡγεμονικόν πως ἔχον πρὸς τὸ σῶμα zu übersetzen; siehe zu dieser Passage auch: Brunschwig (1986), 136f; Inwood (2007), 337; Brennan (2009), 399-406; Kühn (2011), 282-288; Powers (2012), 257f und Klein (2016), 171f. 206 Vgl. dazu die Zeugnisse zur scala naturae in der Stoa: siehe S. 117 Anm. 136. Alexander kontrastiert hier die οἰκείωσις in Bezug auf die eigene Konstitution mit der οἰκείωσις in Bezug auf einen selbst. 203 Vereinfacht scheinen die Stoiker also davon zu sprechen, dass das Lebewesen das erste ihm Eigene ist und die πρώτη ὁρμή auf den Selbsterhalt des Lebewesens gerichtet ist. Genau ge‐ nommen richtet sich die πρώτη ὁρμή jedoch auf die Erhaltung der Konstitution (σύστασις/ constitutio), welche das eigentliche πρῶτον οἰκεῖον ist. Wie lässt sich diese verkürzte Redeweise rechtfertigen? Sprechen die Stoiker hier nicht von zwei verschiedenen Dingen, so dass hier ein Beleg für die Rede von zwei ver‐ schiedenen οἰκείωσεις vorliegt? Diese zweite Schlussfolgerung ist keineswegs zwingend. Die Stoiker scheinen mit den beiden Redeweisen dasselbe zu meinen, wobei die zweite Formulierung, der zufolge die οἰκείωσις auf die Konstitution bezogen ist, genauer ist. 204 Dies wird deutlich wenn man sich anschaut, was die Stoiker unter der Konstitution verstehen: „Die Konstitution […] ist das leitende Seelenvermögen, insofern es sich auf gewisse Weise zum Körper verhält.“ 205 Die Konstitution eines Lebewesens ist also sein ἡγεμονικόν bzw. genauer sein ἡγεμονικόν in einer bestimmten auf den Körper bezogenen Disposition. Die Konstitution ist das ἡγεμονικόν - jedoch auf bestimmte Art und Weise be‐ schrieben, nämlich in Bezug auf den Körper. Da nun das ἡγεμονικόν die Seele beherrscht und die Seele wiederum festlegt, welche Art von Wesen ein Lebe‐ wesen ist, 206 können die Stoiker sagen, dass die οἰκείωσις, welche eigentlich auf 132 III. Die stoische Motivationstheorie 207 Vgl. dazu auc h Gal.PHP 2. 2.9-11 = LS 34J = SVF 2.89 5: ἃ δʼ οὖν ὑπὲρ τῆς „ἐγὼ“ φωνῆς ἔγραψεν ἐν τῷ πρώτῳ Περὶ ψυχῆς ὁ Χρύσιππος ὑπὲρ ἡγεμονικοῦ διαλεγόμενος […] „οὕτως δὲ καὶ τὸ ἐγὼ λέγομεν, κατὰ τοῦτο δεικνύντες ἑαυτοὺς ἐν ᾧ ἀποφαινόμεθα τὴν διάνοιαν εἶναι, τῆς δείξεως φυσικῶς καὶ οἰκείως ἐνταῦθα φερομένης· καὶ ἄνευ δὲ τῆς κατὰ τὴν χεῖρα τοιαύτης δείξεως νεύοντες εἰς αὑτοὺς τὸ ἐγὼ λέγομεν, εὐθὺς καὶ τῆς ἐγὼ φωνῆς τοιαύτης οὔσης καὶ κατὰ τὴν ἑξῆς ὑπογεγραμμένην δεῖξιν συνεκφερομένης. τὸ γὰρ ἐγὼ προφερόμεθα κατὰ τὴν πρώτην συλλαβὴν κατ ασπῶντες τὸ κάτω χεῖλος εἰς αὑτοὺς δεικτικῶς· ἀκολούθως δὲ τῇ τοῦ γενείου κιν ήσει καὶ ἐπὶ τὸ στῆθος νεύσει καὶ τῇ το ιαύτῃ δείξει ἡ ἑξῆς συλλαβὴ παράκειται οὐδὲν ἀποστηματικὸν παρεμφαίνουσα ὅπερ ἐπὶ τοῦ ἐκεῖνος συντέτευχεν.“ Galen macht hier darauf aufmerksam, dass Chrysipp der Ansicht war, dass wir, wenn wir „Ich“ (ἐγώ) sagen, auf unsere Brust - den Sitz unserer διάνοια und damit des ἡγεμονικόν - zeigen. Wenn wir auf unsere Brust zeigen, zeigen wir auf uns selbst. Unser Selbst, auf welches wir uns beziehen, wenn wir „Ich“ sagen, ist also dasselbe wie unsere Seele, genauer unser ἡγεμονικόν (vgl. zur Dis‐ kussion dieser Stelle: Tieleman [1996], 206-214; Brennan [2009], 400 f). 208 Vgl. Brennan (2009), 404. 209 Vgl. Powers (2012), 257 f. Für diese Ansicht spricht auch ein Bericht bei Galen (Foet.Form. 4.698.2-9 = LS 53D = SVF 2.761), dem zufolge die Stoiker der Ansicht waren, dass das Herz - der Sitz des ἡγεμονικόν - bei einem Fötus als erstes entsteht und die anderen Organe und Körperteile sich aus dem Herzen herausbilden, wobei die Ent‐ wicklung durch das Pneuma im Herzen gesteuert wird (siehe dazu des Weiteren: Gal.Foet.Form. 4.677 = SVF 2.761 sowie Foet.Form. 4.685-687). So ist das ἡγεμονικόν in seinem Bezug zum Körper dasjenige, was das Lebewesen z u dem Lebewesen macht, das es ist - d. h. das ἡγεμονικόν als σύστασις ist das Lebewesen selb st. 210 Vgl. Klein (2016), 161. die Konstitution - d. h. das ἡγεμονικόν - des Lebewesens gerichtet ist, das Le‐ bewesen als ihr Objekt hat. 207 Wir selbst sind unsere Konstitution, also unser ἡγεμονικόν, insofern es eine bestimmte Rolle spielt und in dieser Rolle be‐ schrieben wird. 208 Das ἡγεμονικόν als Organisationsprinzip des Lebewesens - nichts anderes ist mit Konstitution gemeint - legt fest, welche Art von Lebe‐ wesen das Lebewesen ist. 209 Daher beziehen sich ‚Konstitution‘ und ‚Lebewesen‘ auf dasselbe Objekt, und die Stoiker können mit derselben Bedeutung von der Konsitution wie vom Lebewesen als dem πρῶτον οἰκεῖον des Lebewesens spre‐ chen. Die jeweilige Konstitution stellt nun also das eigentliche πρῶτον οἰκεῖον des Lebewesens dar und ist das ἡγεμονικόν, insofern dieses in einer bestimmten Disposition auf den Körper bezogen ist. Die Konstitution, insofern sie bestimmt, welche Art von Wesen ein bestimmtes Lebewesen ist, bildet nun den Hinter‐ grund für die Impulse erster Ordnung und spezifiziert, welche Verhaltensweisen für ein Lebewesen mit dieser Konstitution angemessen sind. 210 So erklärt die Konstitution der Henne, warum sie weder vor einem Pfau noch vor einer Gans, jedoch vor einem Habicht flieht. Ebenso erklärt die Konstitution der Kücken, warum sie sich vor einer Katze, jedoch nicht vor einem Hund fürchten. 211 Ein 133 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 211 Für diese Beispiele siehe: Sen.Ep. 121. 19. 212 Vgl. Cic.Fin. 3. 63 = SVF 3.369; ND 2.12 3 f = SVF 2.729; Plu.Soll. 980A = SVF 2.729b; Athenaeus 89C-D = SVF 2.729a. 213 Vgl. dazu Brouwer (2014), 76-79, der den Übergang vom Status des Nichtweisen in den Status des Weisen - d. h. zur Tugend - in physiologischen Begriffen als eine Verwand‐ lung der Seele des Nichtweisen, die aus Luft und Feuer besteht, in reines Feuer inter‐ pretiert („The change from the state of vice to the character of virtue is in physical terms, then, the change to the state of unmixed, pure fire.“ [79]). 214 Vgl. Gal.PHP 5. 5. 8 = LS 65M = EK frg. 169: τριῶν οὖν τούτων ἡμῖν οἰκειώσεων ὑπαρχουσῶν φύσει καθʼ ἕκαστον τῶν μορίων τῆς εἶδος, πρὸς μὲν τὴν ἡδονὴν διὰ τὸ ἐπιθυμητικόν, πρὸς δὲ τὴν νίκην διὰ τὸ θυμοειδές, πρὸς δὲ τὸ καλὸν διὰ τὸ λογιστικόν, Ἐπίκουρος μὲν τὴν τοῦ χειρίστου μορίου τῆς ψυχῆς οἰκείωσιν ἐθεάσατο μόνην, ὁ δὲ Χρύσιππος τὴν τοῦ βελτίστου, φάμενος ἡμᾶς οἰκειοῦσθαι πρὸς μόνον τὸ καλόν, ὅπερ εἶναι δηλονότι καὶ ἀγαθόν. 215 Vgl. Cic.Tusc. 5. 39: […] id est absoluta ratio, quod est idem virtus. 216 Zum stoischen Tugendverständnis siehe unten S. 145-151. weiteres Beispiel, welches Chrysipp besonderes interessierte, ist der Muschel‐ wächter (pinnotheres pisum), der eine Art symbiotische Beziehung mit der Steckmuschel (pinna) führt. Aufgrund seiner Konstitution sucht der Muschel‐ wächter das Zusammenleben mit der Steckmuschel und geht mit ihr eine sym‐ biotische Beziehung ein. 212 Die πρώτη ὁρμή dient also nicht nur der Selbsterhaltung, sondern bestimmt auch alle für das Lebewesen aufgrund seiner Konstitution angemessenen Ver‐ haltensweisen. Daher sind für einen rationalen erwachsenen Menschen auch die Handlungen entsprechend der umfangreichen moralischen Pflichten, auf welche oben hingewiesen wurde, angemessen. Es entspricht seiner Konstitution als rationales Wesen, diese Handlungen auszuführen. Wenn er sein ἡγεμονικόν in einem naturgemäßen Zustand halten möchte, worauf seine πρώτη ὁρμή ja gerichtet ist, muss er diese Handlungen ausführen. Insofern es auch für den stoischen Weisen angemessen ist, diese Handlungen auszuführen, um seine Konstitution - sein ἡγεμονικόν - in einem naturgemäßen Zustand zu erhalten, ist die οἰκείωσις auch auf das Gute und die Tugend - verstanden als bestimmte materiale Beschaffenheit der Seele des Weisen 213 - ausgerichtet, wie Galen be‐ richtet. 214 Die Tugend stellt den Stoikern zufolge den Vollendungszustand des ἡγεμονικόν dar und ist mit dem Zustand vollkommener Rationalität identisch 215 , weshalb sie auch das τέλος von Lebewesen darstellt, deren ἡγεμονικόν wesent‐ lich von der Vernunft (λόγος) bestimmt ist. 216 An dieser Stelle wird deutlich, dass diese Interpretation der stoischen οἰκείωσις-Lehre auch der oben benannten ‚Angleichungsbedingung‘ Rechnung tragen kann, insofern eine Korrespondenz zwischen πρῶτον οἰκεῖον und menschlichem τέλος existiert und Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf das 134 III. Die stoische Motivationstheorie 217 Vgl. Klein (2016), 162 unter Verweis auf Cic.Tusc. 5.38 f. 218 Vgl. Tieleman (1996), 177; zum Vermögen der Selbstwahrnehmung siehe auch: Heller-Roazen ( 2 2012), bes. 123-161; Toivanen (2013). 219 D. L. 7. 85 = LS 57A = SVF 3.178: πρῶτον οἰκεῖον λέγων εἶναι παντὶ ζῴῳ τὴν αὑτοῦ σύστασιν καὶ τὴν ταύτης συναίσθησιν. 220 Vgl. Cic.Fin. 3. 1 6 = SVF 3.182: Fieri autem non posset ut appeterent aliquid nisi sensum haberent sui eoque se diligerent; Hierocl.El.Eth. 6.1-10: καθόλου γὰρ οὐ συντελεῖται τῶν ἐκτός τινος ἀντίληψις δίχα τῆς ἑαυτῶν αἰσθήσεως. μετὰ γὰρ τῆς τοῦ λευκοῦ φέρε εἰπεῖν αἰσθήσεως καὶ ἑαυτῶν αἰσθανόμεθα λευκαινομένων καὶ μετὰ τῆς τοῦ γλυκέως γλυκαζομένων καὶ μετὰ τῆς τοῦ θερμοῦ θερμαινομένων κἀπὶ τῶν ἄλλων τἀνάλογον· ὥστʼ ἐπειδὴ πάντως μὲν γεννηθὲν εὐθὺς αἰσθάνεταί τινος τὸ ζῷον, τῇ δʼ ἑτέρου τινὸς αἰσθήσει συμπέφυκεν <ἡ> ἑαυτοῦ, φανερὸν ὡς ἀπʼ ἀρχῆς αἰσθάνοιτʼ ἂν ἑαυτῶν τὰ ζῷα. πρῶτον οἰκεῖον Meinungsverschiedenheiten über das menschliche τέλος kor‐ respondieren. Als eine Beschaffenheit des ἡγεμονικόν ist die Tugend das πρῶτον οἰκεῖον vollkommen rationaler Menschen, und die Sorge um diese Tugend - als Motivation höherer Ordnung bzw. large-scale motivation - wird die verschie‐ denen Motivationen erster Ordnung - die small-scale motivations - und die mid-scale motivations zur Verfolgung bestimmter Projekte sowie die ihnen ent‐ sprechenden Handlungen bestimmen, so dass die πρώτη ὁρμή eines Lebewe‐ sens, seine Konstitution zu erhalten, unmittelbar der Sorge eines vollkommen rationalen Menschens entspricht, die Tugend zu wahren. 217 Jede Stufe der scala naturae besitzt den Stoikern zufolge ein eigenes Kriterium, anhand dessen der teleologische Erfolg der Lebewesen gemessen werden kann. Die verschiedenen Lebewesen erreichen jeweils ihr τέλος, wenn sie ihr ἡγεμονικόν in einem na‐ turgemäßen Zustand bewahren und ihr Verhalten, welches dort seinen Ur‐ sprung hat, dadurch der von Zeus verwalteten natürlichen Ordnung entspricht. So dient die Analyse des Verhaltens von Tieren und Neugeborenen der Entfal‐ tung und Rechtfertigung der stoischen These, dass die Tugend allein hinrei‐ chend für unsere εὐδαιμονία sei. Die Sorge um einen naturgemäßen Zustand des ἡγεμονικόν wird durch ein Vermögen ermöglicht, welches alle Lebewesen von Geburt an besitzen: die Selbstwahrnehmung (συναίσθησις). 218 Dieser sind wir bereits in Diogenes La‐ ertiosʼ Darstellung der stoischen οἰκείωσις-Lehre begegnet: Für jedes Lebewesen, so erklärt er [sc. Chrsysipp], ist das erste ihm Eigene (πρῶτον οἰκεῖον) seine eigene Konstitution (σύστασις) und ihre Wahrnehmung (συναίσθησις). 219 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Das Verhalten des Lebewesens wird jeweils erst dadurch ermöglicht, dass es sich selbst wahrnimmt, wobei diese Selbstwahrnehmung stets die Wahrnehmung der Umwelt begleitet und informiert. 220 Die Lebewesen sind nur durch die Wahr‐ 135 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 221 Vgl. Sen.Ep. 121 . 9 = LS 57B: Ergo omnibus c onstitutionis suae sensus est et inde mem‐ brorum tam expedita tractatio, nec ullum maius indicium habemus cum hac illa ad vi‐ vendum venire notitia quam quod nullum animal ad usum sui rude est; siehe dazu auch: Inwood (2007), 332-346. 222 Vgl. Klein (2016), 170. 223 Vgl. Hierocl.El. E th. 7.40-61; Sen.Ep. 121. 12; siehe dazu auch: Tieleman (1996), 181 f. 224 Zum Verhältnis von Leib und Seele in der Stoa siehe u. a.: Long (1982 [1996]), 224-249; Brennan (2009), 389-407; zur κρᾶσις in der Stoa siehe: Lewis (1988); de Harven (2018b); Schriefl (2019), 91-97. 225 Vgl. Alex.Mixt. 2 16.14-218. 6 = LS 48C = S VF 2.473; siehe auch: D. L. 7.151 = LS 48A = SVF 2.479; Plu.Comm.not. 1078E = LS 48B = SVF 2.480; siehe auch: de Harven (2018b). 226 Vgl. Hierocl.El.E th. 3.57-4 . 53, bes. 4.49 -53: καὶ ἀπὸ τῶν μερῶν τῶν ἄκρων εἴσω νεῦον ἐπὶ τὴν ἡγεμονίαν τοῦ στήθους εἰσαναφέρεται, ὡς ἀντίληψιν γίνεσθαι μερῶν ἁπάντων nehmung ihrer eigenen Konstitution dazu in der Lage, ihre Bewegungen zu koordinieren und sich gegenüber ihrer Umwelt zu verhalten. 221 Die Selbstwahr‐ nehmung dient dabei dazu, das zielgerichtete und arttypische Verhalten der Le‐ bewesen zu erklären. Das artentsprechende und damit für das Lebewesen an‐ gemessene Verhalten ist abhängig von dem jeweiligen Wesen - d. h. der jeweiligen Konstitution - und den damit verbundenen Fähigkeiten. Daher setzt dieses Verhalten die Fähigkeit der Selbstwahrnehmung voraus, da das Lebe‐ wesen zunächst die besonderen Eigenschaften seiner Konstitution und die mit dieser einhergehenden Fähigkeiten wahrnehmen und erkennen muss. 222 Diese Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung besitzt das Lebewesen von Geburt an, wobei sie sich im Laufe der Entwicklung des Lebewesens verfeinert und ein genaueres Erfassen der eigenen charakteristischen Eigenschaften (ἰδιώματα) ermög‐ licht. 223 Wie ist jedoch diese Fähigkeit der Selbstwahrnehmung von Geburt an zu erklären? Wodurch wird sie möglich? Es wurde im Kapitel zu den Grundlagen der stoischen Naturphilosophie aufgezeigt, dass unsere Seele - insbesondere unser ἡγεμονικόν - eine besondere Form von Pneuma ist, welches unseren Körper durchdringt. Die ‚Verschmelzung‘ (κρᾶσις) von Körper und Seele 224 ist dabei so zu verstehen, dass beide Elemente der Verschmelzung zum einen ihr eigenes Wesen bewahren, andererseits räumlich vollständig koextensiv sind. 225 Diese vollständige Vermischung von Körper und pneumatischem Substrat, wel‐ ches das ἡγεμονικόν des Lebewesens konstituiert, ermöglicht nun die Selbst‐ wahrnehmung des Lebewesens. Weil sein ἡγεμονικόν in allen Teilen seines Körpers präsent ist, kann das Lebewesen seine Gliedmaßen wahrnehmen und erkennen, wozu diese da sind. Das Lebwesen nimmt dabei nun nicht den Körper unabhängig vom ἡγεμονικόν wahr, sondern vielmehr die Verbindung von ἡγεμονικόν und Körper, mit anderen Worten: seine Konstitutiton - d. h. das ἡγεμονικόν in Bezug auf den Körper. 226 Diese stoischen Überlegungen zur 136 III. Die stoische Motivationstheorie τῶν τε τοῦ σώματος καὶ τῶν τῆς ψυχῆς· τοῦτο δέ ἐστιν ἴσον τῷ τὸ ζῷον αἰσθάνεσθαι ἑαυτοῦ. 227 Zur Propriozeption siehe: Sherrington (1906), 343 f; Sacks (1987), 43, der die Proprio‐ zeption als „continuous but unconscious sensory flow from the movable parts of our bodies (muscles, tendons, joints), by which their position and tone and motion are con‐ tinually monitored and adjusted“ (ebd.) bestimmt. 228 Vgl. Brunschwig (1986), 137; Long (1993 [1996]), 258-262. 229 Vgl. hierzu z. B. Hierocl.E l .Eth. 4.54-5. 31. 230 Vgl. Hierocl.El.Eth. 3.20-29: Ἦ μὴν ἔδει ταῦτα λέγειν, ὅπου γε τὰ ζῷα καὶ τῶν ἐν ἑτέροις ἀσθενειῶν καὶ δυνάμεων ἀντίληψιν ἔχει, καὶ τίνα μὲν αὐτοῖς ἐπίβουλα, πρὸς τίνα δὲ αὐτοῖς ἀνοχαὶ καὶ οἷον σύμβασις ἀδιάλυτος. Λέων μὲν γοῦν, εἰ μὲν ταύρῳ μάχοιτο, εἰς τὰ κέρατα δέδορκεν αὐτοῦ, τῶν δʼ ἄλλων τοῦ ζῴου μέρων καταπεφρόνηκεν· ἐν δὲ ταῖς πρὸς τὸν ὄναγρον διαμίλλαις παντοῖός ἐστι προσέχων τοῖς λακτίσμασι καὶ τὰς ὁπλὰς φεύγειν σπεύδων. ὅ γε μὴν ἰχνεύμων τὸν πρὸς τὴν ἀσπίδα πόλεμον οὐκ ἀστρατηγήτως διατίθεται, τό τε τῶν δηγμάτων τοῦ θηρίου φυλαττόμενος ὀλέθριον […]. 231 Vgl. Sen.Ep. 121. 8 = LS 57B : Sic infans q ui stare meditatur et ferre se adsuescit, simul temptare vires suas coepit, cadit et cum fletu totiens resurgit donec se per dolorem ad id quod natura poscit exercuit. 232 Vgl. Klein (2016), 172. 233 Vgl. Sen.Ep. 1 21. 20: quidquid n at ura tradit et aeq ua le omnibus est et statim. 234 Vgl. Aët. 4.8.1 = SVF 2.850; 4.8.12 = SVF 2.72; 4.9.4 = SV F 2.78; siehe dazu auch die zweite Be deutung von αἴσθησις in D. L. 7.52 = SVF 2.71, die sich auch in Stob.Ecl. 2.82.31 findet; zur αἴσθησις als wahrheitsgetreue Form der Wahrnehmung in der Stoa siehe auch: Sandbach (1985), 22: „For the Stoics phantasia preceded aisthēsis, which was always Selbstwahrnehmung wurden auch mit heutigen Theorien der Propriozeption 227 verglichen, welche die Wahrnehmung von Körperbewegungen bzw. die Lage des Körpers im Raum und der Gliedmaßen zueinander erklären. 228 Obschon un‐ sere Texte von diesen basalen Formen der Wahrnehmung sprechen, 229 gehen die Stoiker in ihren Überlegungen zur Selbstwahrnehung der Lebewesen jedoch auch darüber hinaus und schreiben ihnen auch viel spezifischere Formen der Wahrnehmung und des Verhaltens zu, wenn z. B. Tiere die anderen Lebewesen gegenüber angemessenen Verhaltensweisen wahrnehmen 230 oder ein Kleinkind erkennt, dass der aufrechte Gang seinem Wesen entspricht, und es sich abmüht, aufrecht zu stehen 231 . 232 Die Selbstwahrnehmung ist diesen Zeugnissen zufolge also von großer Bedeutung für das artentsprechende Verhalten der Lebewesen. Dass es nun allen Lebewesen 233 - und mit gewissen Einschränkungen, auf die noch zurückzukommen sein wird, auch dem Menschen - gelingt, dieses für ihre Art angemessene Verhalten zu erwerben, liegt daran, dass die Form der Selbst‐ wahrnehmung, welche den Lebewesen zukommt, eine wahrheitsgetreue Wahr‐ nehmung ist, wie die Begriffe deutlich machen, mit welchen die Selbstwahr‐ nehmung bezeichnet wird und die für den Erfolgsfall - also die wahrheitsgetreue Wahrnehmung - vorbehalten sind. So sprechen die Stoiker von αἴσθησις ἑαυτοῦ bzw. συναίσθησις und von ἀντίληψις. 234 Beide Begriffe - sowohl 137 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik true, being the perception of something really there.“ Daher konnte Chrysipp die αἴσθησις auch als κριτήριον τῆς ἀληθείας betrachten (vgl. D. L. 7.54 = LS 40A = SVF 2.105). 235 Vgl. Plu.Stoic.rep. 1038C = SVF 1.197: ἡ γὰρ οἰκείωσις αἴσθησις ἔοικε τοῦ οἰκείου καὶ ἀντίληψις εἶναι. 236 Dafür scheint a uch zu sprechen, dass manche Q uellen ( z. B. S. E . M 7.424 = LS 40L = SVF 2. 68) die κατάληψις als eine Form der ἀ ντίληψις be handeln - nämlich eine pro‐ position ale , wahre und stabile ἀντίληψις (vgl. dazu auch Klein [2016], 173 Anm. 72). 237 Vgl. Klein (2016), 174. αἴσθησις als auch ἀντίληψις - sind uns bereits in Plutarchs Erklärung der οἰκείωσις begegnet: „Denn die οἰκείωσις scheint die Wahrnehmung (αἴσθησις) und das Erfassen (ἀντίληψις) des uns Eigenen (οἰκεῖον) zu sein.“ 235 Der Begriff des ‚Erfassens‘ (ἀντίληψις) scheint - wie die stoischen Bestimmungen der αἴσθησις - den Erfolgsfall nahezulegen, so dass die Wahrnehmung, welche mit der οἰκείωσις verbunden ist, ein ausschließlich wahrheitsgetreues Erfassen des jeweiligen Objekts - der Konstitution des Lebewesens - ist. 236 Die mit der οἰκείωσις verbundene Selbstwahrnehmung spiegelt also eine Tatsache in der Welt wider und erfasst die tatsächliche Konstitution des Lebewesens, so dass dieses ein seiner Art angemessenes - d. h. artgemäßes - Verhalten ausbilden kann und dies auch wirklich ausbildet. 237 Die Lehre von der Selbstwahrnehmung der Lebewesen bildet, wie diese Über‐ legungen zeigen, das Bindeglied zwischen der kosmischen Teleologie der stoi‐ schen Naturphilosophie und ihrer psychologischen Theorie. Die Konstitution des Lebewesens bildet den Hintergrund, auf dem sich die Handlungsimpulse erster Ordnung ereignen können. Sie steckt für diese sozusagen den Horizont ab, innerhalb dessen sich die Impulse erster Ordnung ereignen können, so dass diese nicht vollkommen beliebig sind, sondern ihnen bereits durch die Konsti‐ tution - d. h. die Vermögen des jeweiligen Lebewesens - gewisse Grenzen ge‐ setzt sind. Die Konsitution wird von der Natur für einen bestimmten Zweck geschaffen, weshalb sie den Verhaltensweisen des Lebewesens einen natürli‐ chen Rahmen vorgibt, damit das Lebewesen seinen Zweck innerhalb der kos‐ mischen Teleologie erfüllen kann. Dass das Lebewesen dann auch tatsächlich ein entsprechendes, für es angemessenes Verhalten an den Tag legt, hängt ent‐ scheidend von seiner Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung ab. Diese ermöglicht es ihm, seine Konstitution wahrzunehmen und zu erkennen und ein dieser ent‐ sprechendes Verhalten auszubilden. Die stoische οἰκείωσις-Lehre ist daher eine Form einer Motivationstheorie, welche zu erklären versucht, wie auf Grundlage der Fähigkeit zur Selbstwahr‐ nehmung und dem korrekten Erfassen der eigenen Konstitution das angemes‐ sene - d. h. naturgemäße - Verhalten von Menschen und Tieren zustande 138 III. Die stoische Motivationstheorie 238 Vgl. Klein (2016), 174 f . 239 Zur ἕξις ὁρμητική siehe: Stob.Ecl. 2. 87. 7 = SVF 3.169. 240 Vgl. Inwood (198 5), 190f; siehe dazu auch Klein (2016), 175. 241 Vgl. dazu Klein (2016), 175 mit Anm. 76. 242 Vgl. Hierocl.El.Eth . 3 . 19-29; Cic.Fin . 3.63 = SVF 3.369; Cic.Fin. 65 = LS 57F = SVF 3.342; ND 2.123 f = SVF 2.729; Sen.Ep. 121.19; Plu.Soll. 980A = SVF 2.729b; Athenaeus 89C-D = SVF 2.729a; Marc.Aurel. 9.9. 243 Vgl. Klein (2016), 178. 244 Zur Selbsterk en ntnis als conditio sine qua non für das Erreichen des menschlichen τέλος siehe: Jul.Or. 6. 6, 185D-186A: ὅτι δὲ τὸ ‚γνῶθι σαυτὸν‘ κεφάλαιον τίθεντ αι φιλοσο φίας, οὐ μόν ον ἐξ ὧν κατεβάλλοντο ξυγγραμμάτων ὑπὲρ α ὐτοῦ τοῦτου πεισθείης ἄν, εἴπερ ἐθέλοις, ἀλλὰ πολὺ πλέον ἀπὸ τοῦ τῆς φιλοσοφίας τέλους· τὸ γὰρ ὁμολογουνένως ζῆν τῇ φύσει τέλος ἐποιήσα ντο, οὗπε ρ οὐχ οἷόν τ ε τυχεῖν τὸν ἀγνοοῦντα τ ίς καὶ ὁποῖος πέφυκεν· ὁ γὰρ ἀγνοῶν ὅστις ἐστίν, οὐκ εἴσεται δήπουθεν ὅτι πράττειν ἑαυτῷ προσήκει; siehe dazu auch: Brouwer (2014), 36. kommt. 238 Dieser Interpretation zufolge dürfte die πρώτη ὁρμή des Lebewesens dann auch als eine Disposition - i.S. einer ἕξις ὁρμητική 239 - verstanden werden, welche basierend auf der Selbstwahrnehmung des Lebwesens die artentsprech‐ enden Verhaltensweisen bestimmt und koordiniert. 240 Die πρώτη ὁρμή sollte dabei jedoch nicht als zusätzliches psychologisches Element unabhängig von der Selbstwahrnehmung verstanden werden, sondern sie bildet vielmehr die motivationale Seite dieser Selbstwahrnehmung. 241 Die πρώτη ὁρμή zur Erhal‐ tung der eigenen Konstitution ist genau dann befriedigt, wenn alle Impulse erster Ordnung und die daraus resultierenden Verhaltensweisen bzw. Hand‐ lungen artentsprechend sind - d. h. wenn sie für die Art von Lebewesen ange‐ messen sind, welcher das jeweilige Lebewesen zugehört. Auf diese Weise lassen sich durch ein und denselben Impuls zur Erhaltung der Konstitutiton des Lebe‐ wesens - die πρώτη ὁρμή - sowohl die egoistischen Impulse erster Ordnung, welche auf die Selbsterhaltung des Lebwesens ausgerichtet sind, als auch die sozialen und altruistischen Impluse erster Ordnung erklären, wie sie in den um‐ fassenden moralischen Pflichten anderen gegenüber zum Ausdruck kommen. 242 Nimmt ein Lebwesen sich selbst wahr und erhält es seine ihm eigentümliche Konstitution, so erhält sich das Lebewesen als das Lebewesen, als welches es die Natur geschaffen hat - d. h. mit allen damit verbundenen Verhaltensweisen und Handlungen, welche nötig sind, um den ihm von der Natur zugedachten Zweck zu erfüllen. 243 Der Verweis auf die Konstitution des Lebewesens in der stoischen οἰκείωσις-Lehre ist also von teleologischer Bedeutung. Das Verständnis des ei‐ genen Wesens bildet die notwendige Vorrausstzung dafür, das richtige Verhalten und Handeln auszubilden und das jeweilige τέλος zu erreichen. 244 „[S]elf-per‐ ception provides a cognitive basis for the activities that constitute a life accor‐ 139 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 245 Klein (2016), 179. 246 Vgl. D. L. 7. 88 = L S 63C = SVF 3. 4 zur Erhaltung unseres δαίμων in Übereinstimmung mit Zeusʼ Willen (vgl. S. 102-106); siehe des Weiteren auch: Epict.Diss. 2. 2.1-4; 3. 6.3 f; 3. 10. 16; 4. 5. 6; Ench. 4; Marc.Aurel. 2. 17; 7. 17; ebenso sagen die Stoiker, dass unange‐ messene Handlungen die charakteristischen Eigenschaften des Menschen zerstören: Epict.Diss. 2. 4.1-4; 2. 10.10-18; 2. 22.15-21; 2. 23.17-19; 3. 7. 36; siehe dazu auch: Klein (2016), 180 mit Anm. 88. 247 Epict.Diss. 1. 6.16 f: ὧν γὰρ αἱ κ ατασκευαὶ διάφοροι, τούτων καὶ τὰ ἔργα καὶ τὰ τέλη; siehe dazu auch: Sto b.Ecl. 4.502 sowie dazu Long (1970/ 71 [1996]), 153 f. 248 Vgl. Klein (2016), 186. ding to nature.“ 245 Folglich wird im Falle des rationalen Menschen von den Stoi‐ kern auch die Erhaltung der Konstitution - des ἡγεμονικόν in Bezug auf den Körper - als mit der Tugend und den Handlungen, die aus dieser hervorgehen, identifiziert. 246 Anderen Wesen kommt jedoch infolge ihrer unterschiedlichen Konstitution ein anderes τέλος zu: „Von den Lebewesen nämlich, deren Konsti‐ tution verschieden ist, sind auch die Tätigkeiten und Ziele verschieden.“ 247 Die jeweilige Konstitution legt also für das Lebewesen das τέλος fest. Das τέλος entspricht dem natürlichen Impuls - der πρώτη ὁρμή - des Lebewesens, die eigene Konstitution zu erhalten, da der Inhalt des τέλος von den spezifischen Eigenschaften der Konstitution abhängt, welche das Lebewesen zu erhalten sucht. Obschon sich also die verschiedenden Lebewesen auf der scala naturae hinsichtlich der spezifischen Beschaffenheit und der Komplexität ihres ἡγεμονικόν unterscheiden, besteht ihr τέλος dennoch darin, naturgemäß bzw. in Übereinstimmung mit der Natur zu leben und sich ausgehend von ihrem ἡγεμονικόν entsprechend zu verhalten, weshalb sie um die Integrität dieser In‐ stanz bemüht sind. Die Erhaltung der Konstitution ist daher für jedes Lebewesen notwendig und hinreichend, um sein jeweiliges τέλος zu erreichen. Das Ver‐ halten, das es dafür ausbilden muss, wird durch die verschiedenen Vermögen bestimmt, welche in seiner Konstitution ihren Grund haben. Obwohl also das für jedes Lebewesen angemessene Verhalten von Fall zu Fall variieren wird, hängt das τέλος für jedes Lebewesen von der Befriedigung seines Impulses hö‐ herer Ordnung - seiner πρώτη ὁρμή - ab, seine ihm von der Natur gegebene Konstitution zu erhalten. 248 Diese Variabilität in Bezug auf das τέλος findet sich nun nicht nur über die verschiedenen Arten von Lebewesen hinweg, sondern ist auch in einem einzigen Menschenleben nachweisbar, wie uns Seneca berichtet: Jedes Lebensalter hat seine eigene Konstitution; es gibt eine für das Kleinkind, eine andere für den Jungen, <wieder eine andere für die Jugend,> noch eine andere für den Greis: Alle sind passend auf die Konstitution bezogen, in der sie existieren. Das Klein‐ 140 III. Die stoische Motivationstheorie 249 Sen.Ep. 121.15 f: Unicuique aetati sua constitutio est, alia infanti, alia puero, <alia adu‐ lescenti>, alia seni: omnes ei constitutioni conciliantur in qua sunt. Infans sine dentibus est: huic constitutioni suae conciliatur. Enati sunt dentes: huic constitutioni conciliatur. […] Alia est aetas infantis, pueri, adulescentis, senis; ego tamen idem sum qui et infans fui et puer et adulescens. Sic, quamvis alia atque alia cuique constitutio sit, conciliatio con‐ stitutionis suae eadem est. Non enim puerum mihi aut iuvenem aut senem, sed me natura commendat. 250 Vgl. Cic.Off. 1.122 f: Et quoniam officia non eadem disparibus aetatibus tribuuntur aliaque sunt iuvenum, alia seniorum, aliquid etiam de hac distinctione dicendum est. Est igitur adulescentis maiores natu vereri, exque iis deligere optimos et probatissimos quorum con‐ silio atque auctoritate nitatur; ineuntis enim aetatis inscitia senum constituenda et regenda prudentia est. Maxime autem haec aetas a libidinibus arcenda est exercendaque in labore patientiaque et animi et corporis, ut eorum et in bellicis et in civilibus officiis vigeat in‐ dustria. Atque etiam cum relaxare animos et dare se iucunditati volent, caveant intempe‐ rantiam, meminerint verecundiae, quod erit facilius si <ne> in eiusmodi quidem rebus maiores natu nolent interesse. Senibus autem labores corporis minuendi, exercitationes animi etiam augendae videntur, danda vero opera ut et amicos et iuventutem et maxime rempublicam consilio et prudentia quam plurimum adiuvent. Nihil autem magis ca‐ vendum est senectuti quam ne languori se desidiaeque dedat; luxuria vero cum omni aetati turpis, tum senectuti foedissima est. Sin autem etiam libidinum intemperantia accessit, duplex malum est, quod et ipsa senectus dedecus concipit et facit adulescentium impuden‐ tiorem intemperantiam. 251 Den Stoikern zufolge tritt ungefähr mit einem Alter von 14 Jahren das Vernunftver‐ mögen zu den übrigen Vermögen des Menschen hinzu: D. L. 7.55 f = LS 33H = SVF 3 Diog. 17 f; ΣPlat.Alc. 1.121E = SVF 1.149. Manche Quellen setzen das Vernunftalter be‐ reits bei 7 Jahren an (vgl. Aët. 4. 11.1-4 = LS 39E = SVF 2. 83; Stob.Ecl. 1.317.21-24 = SVF 1.149; 2.835), doch dürfte dies auf einer Verwechslung der Bedeutung von λόγος i.S. des Vermögens, eine Sprache zu sprechen, und der stärkeren Bedeutung i.S. des Vermögens, in all seinem Handeln von vernünftigen Begriffen geleitet zu sein (vgl. Plu.Virt.mor. 450D = SVF 3.390), beruhen. Das letztere Vermögen wird sich wohl erst im Alter von 14 Jahren einstellen, während das erstere durchaus bereits im Alter von 7 Jahren vo‐ rausgesetzt werden kann; siehe dazu auch: Long (1982 [1996]), 50; Frede (1994a), 56-63; Brouwer (2014), 74 Anm. 75. kind ist ohne Zähne: Es ist auf diese als seine Konstitution bezogen. Die Zähne sind gekommen: Es ist auf diese Konstitution bezogen. […] Das Lebensalter des Kleinkinds, des Jungen, des Jugendlichen und des Greises ist jeweils ein anderes; dennoch bin ich derselbe, der ich als Kleinkind, als Junge und als Jugendlicher war. So ist, obschon jeder jeweils eine andere Konstitution hat, der Bezug auf die eigene Konstitution der‐ selbe. Denn mir hat die Natur nicht ein Kleinkind, einen Jungen oder einen Greis anvertraut, sondern mich. 249 Die stoische οἰκείωσις-Lehre ist demnach eine lebensaltersensitive Theorie, die den jeweiligen Entwicklungsstand des Lebewesens für die Bestimmung seines τέλος berücksichtigt. 250 Ist die οἰκείωσις des Menschen, solange er im Kindes‐ alter ist und sein ἡγεμονικόν noch nicht vernünftig ist, 251 wie beim Tier auf die 141 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 252 Vgl. Brunschwig (1986), 138, siehe dazu auch: Sedley (1982; 2018); Lewis (1995); Irwin (1996); Bowin (2003); Gill (2006), 66-73; Nawar (2017). 253 Vgl. Frede (1999a), 72, auch wenn die Rede von einem ‚radical change‘ unserer Moti‐ vationsstruktur nach dem vorher Gesagten etwas zu drastisch erscheint - schließlich ist unsere Motivation immer noch auf die Erhaltung unserer Konstition ausgerichtet, welche freilich jetzt eine andere ist. 254 Vgl. Cic.Fin. 3.62-68 = LS 57F; Cic.Leg. 1. 28 = SVF 3.343; Marc.Aurel. 2. 1; 5. 16; 5. 30; 11. 21; Plu.Am.Prol. 495C. Erhaltung seiner Konsitution als nicht vernünftiges Wesen gerichtet, ändert sich dies mit dem Übergang zum Erwachsenenalter und er strebt danach, seine Kon‐ stitution als vernünftiges Wesen zu erhalten, indem er all jene Handlungen aus‐ führt, die für ihn als vernünftiges Wesen angemessen sind. Diese Handlungen können wiederum entsprechend des Lebensalters variieren. Der Grund hierfür liegt darin, dass, wie oben ausgeführt wurde, die Konstitution des Lebewesens als das ἡγεμονικόν in Bezug auf den Körper bestimmt wird. Da der Körper eines alten Mannes ein anderer ist als der eines jungen Mannes, ist folglich auch die Konstitution beider eine andere - wenn auch nicht grundlegend, insofern beide vernünftige Wesen sind. Wollen sie nun jeweils ihre Konstitution erhalten und die dazu entsprechenden Handlungen ausführen, werden dies jeweils andere sein, da die Konstitution eines alten Mannes einen anderen Hintergrund für die Motivationen erster Ordnung abgibt als die Konstitution eines jungen Mannes. Folglich sind für beide unterschiedliche Handlungen angemessen, um ihre Kon‐ stitution zu erhalten und ihr ἡγεμονικόν in einen naturgemäßen Zustand zu bringen, der ihnen ein tugendhaftes und damit glückseliges Leben ermöglicht. Die Veränderung der Konstitution im Laufe unseres Lebens führt nun allerdings, wie Seneca betont, nicht dazu, dass unsere persönliche Identität aufgelöst wird: „So ist obschon jeder jeweils eine andere Konstitution hat, der Bezug auf die eigene Konstitution derselbe. Denn mir hat die Natur nicht ein Kleinkind, einen Jungen oder einen Greis anvertraut, sondern mich.“ Obwohl sich die jeweilige Konstitution und damit die οἰκείωσις bzw. conciliatio, die auf sie bezogen ist, also jeweils entsprechend des Lebensalters unterscheidet, ist dennoch die Form der οἰκείωσις bzw. conciliatio stets dieselbe, was es uns erlaubt, von der οἰκείωσις bzw. conciliatio des Individuums in Bezug auf sich selbst und damit von der Kontinuität der persönlichen Identität zu sprechen. 252 Das Hinzutreten des Vernunftvermögens verändert, wie aufgezeigt wurde, die Deliberations- und Motivationsstruktur des Menschen, 253 insofern nun seine Konstitution als vernünftiges Wesen den Horizont für seine Handlungsimpulse erster Ordnung absteckt. Dem Menschen kommen von nun an auch Pflichten anderen Menschen gegenüber - insbesondere seinen Kindern und seiner Fa‐ milie, aber auch seiner Bürgerschaft und der Menschheit als ganzer 254 - zu, wel‐ 142 III. Die stoische Motivationstheorie 255 Vgl. Cooper (1996 [1999]), 436. 256 Cic.Fin. 3.20 f = LS 59D = SVF 3.188: Primum est officium (id enim appello καθῆκον) ut se conservet in naturae statu, deinceps ut ea teneat quae secundum naturam sint pellatque contraria. Qua inventa selectione et item reiectione, sequitur deinceps cum officio selectio, deinde ea perpetua, tum ad extremum constans consentaneaque naturae. In qua primum inesse incipit et intellegi quid sit quod vere bonum possit dici. Prima est enim conciliatio hominis ad ea quae sunt secundum naturam. Simul autem cepit intelligentiam vel noti‐ chen nun auch Handlungsimpulse auf motivationaler Ebene entsprechen, die durch die neue Art der Konstitution ermöglicht werden. Der Mensch handelt von nun an aus Gründen, welche er selbst anerkennt und sich bewusst macht, nicht mehr aufgrund von natürlichen, eingeborenen Neigungen. 255 Für diese Transformation der Deliberations- und Motivationsstruktur ist den Stoikern zufolge der Erwerb des Begriffs des Guten verantwortlich. Cicero bietet uns ein - wenn auch recht kurzes und vages - Bild davon, wie der Prozess vonstat‐ tengeht, in dessen Verlauf wir den Begriff des Guten erwerben: Nachdem die ersten Prinzipien also dahingehend festgestellt sind, dass das, was na‐ turgemäß ist, um seiner selbst willen zu ergreifen und alles Entgegengesetzte dem‐ entsprechend zurückzuweisen ist, besteht die erste zukommende Handlung - diesen Ausdruck setze ich für καθῆκον - darin, sich in seinem natürlichen Zustand zu er‐ halten, und die zweite darin, das festzuhalten, was naturgemäß ist, und alles Gegen‐ teilige zurückzuweisen. Nachdem diese Prozedur von Wahl und Zurückweisung ent‐ deckt ist, ist die nächste Konsequenz die in Verbindung mit der zukommenden Handlung ausgeübte Wahl, dann weiter diese Wahl als ständige Praxis und schließlich eine Wahl, die absolut konsistent und mit der Natur übereinstimmend ist. An dieser Stelle taucht auch im Menschen erstmals das auf und wird das verstanden, was als wahrhaft gut bezeichnet werden könnte. Denn die erste Zugehörigkeit des Menschen erstreckt sich auf das, was naturgemäß ist. Sobald er aber einmal ein Verständnis erlangt hat - oder besser den ‚Begriff ‘, für den die Stoiker ἔννοια sagen - und die Ordnung und sozusagen Harmonie der Pflichten gesehen hat, beginnt er, sie viel mehr zu schätzen als alles, was er zunächst geschätzt hat. Und so kommt er zu der ver‐ nünftigen Erkenntnis und zieht den Schluss, dass darin jenes höchste, per se schätzens- und erstrebenswerte Gut des Menschen besteht. Weil dieses Gut in dem liegt, was die Stoiker ὁμολογία nennen (wir nennen es ‚Übereinstimmung‘, wenn du nichts dagegen hast) - weil also darin dasjenige Gut liegt, wozu alles andere das Mittel ist, deshalb folgt: richtige Handlungen und die Richtigkeit selbst, die allein als etwas Gutes gilt, obwohl sie später entsteht, sind gleichwohl das einzige, was dank seiner eigenen Natur und Werthaftigkeit erstrebenswert ist. Von den ursprünglichen Gegenständen der Natur ist dagegen nichts um seiner selbst willen erstrebenswert. 256 (Übers. Hülser mit Modifikationen) 143 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik onem potius quam appellant ἔννοιαν illi, viditque rerum agendarum ordinem et, ut ita dicam, concordiam, multo eam pluris aestimavit, quam omnia illa quae prima dilexerat. Atque ita cognitione et ratione collegit ut statueret in eo collocatum summum illud hominis per se laudandum et expetendum bonum. Quod cum positum sit in eo quod ὁμολογίαν Stoici, nos appellemus convenientiam, is placet, cum igitur in eo sit id bonum quo omnia referenda sunt, honeste facta ipsumque honestum, quod solum in bonis ducitur, quamquam post oritur, tamen id solum vi sua et dignitate expetendum est: eorum autem quae sunt prima naturae propter se nihil est expetendum. 257 Vgl. D. L. 7. 53 = LS 60C = SVF 2. 87. 258 Vgl. Tieleman (1996), 160-168; Reydams-Schils (2011), 303. 259 Der zentrale Text für diese Ansicht findet sich bei Galen, der eine Passage aus Chrysipps Buch Über die Vernunft zitiert: Die Vernunft ist „eine Ansammlung bestimmter Begriffe und Vorbegriffe“ (ἐννοιῶν τέ τινων καὶ προλήψεων ἄτροισμα); Gal.PHP 5.3.1 = LS 53V = SVF 2.841). Zum stoischen Rationalitätsbegriff siehe: Schofield (1991), 70 f; Frede (1994a); Cooper (2004), 216-218; Brittain (2005). Der Begriff des Guten wird dieser Passage zufolge natürlich von uns im Verlauf unserer Entwicklung erworben. 257 Den Stoikern zufolge hat uns die Natur so angelegt, dass wir im Laufe unserer Entwicklung auf natürliche Weise be‐ stimmte Begriffe und Konzeptionen von Objekten und ihren Eigenschaften er‐ werben, welchen wir in unserer Erfahrung in der Welt begegnen. Diese Begriffe haben wir folglich mit allen Menschen gemein, da sie von allen auf natürliche Weise erworben werden. Zu diesen sog. κοιναὶ ἔννοιαι (‚gemeinsamen Be‐ griffen‘) gehört auch der Begriff des Guten. 258 Diese gemeinsamen Begriffe helfen uns, uns in der Welt zu orientieren, und ermöglichen es uns, wahrheits‐ fähige Überlegungen über die Dinge, die uns in der Welt begegnen, anzustellen und gemeinsam mit anderen Menschen nachzudenken, um zu einem gemein‐ samen Verständnis der Dinge zu kommen, auf das wir uns verlassen können. Insofern diese ersten, gemeinsamen Begriffe nicht-inferentiell erworben werden, sondern das Resultat einer natürlichen Entwicklung sind, nehmen die Stoiker an, dass alle diese Begriffe richtig und wahr sind - d. h., dass sie mit der Welt übereinstimmen. Da wir selbst und unsere individuellen Besonderheiten nichts zur Bildung dieser Begriffe beigetragen haben, besteht keine Möglichkeit der Verwirrung oder eines Fehlers hinsichtlich dieser Begriffe seitens unseres Verstandes. Der Besitz der Vernunft ist nun an das Verfügen über eine hinrei‐ chende Zahl solcher Begriffe gebunden, insbesondere derartiger Begriffe, welche es uns ermöglichen, über die Dinge nachzudenken, über die wir in un‐ serem täglichen Leben in unseren Familien und Gemeinschaften nachdenken müssen. 259 So wird es verständlich, dass sich das Vernunftvermögen erst mit der Zeit einstellt - nämlich dann, wenn wir die Begriffe erworben haben, welche es konstituieren. Freilich muss es auch dann, wie unsere anderen Vermögen auch, erst noch vervollkommnet werden. 260 Dennoch findet bereits mit dem Hinzu‐ 144 III. Die stoische Motivationstheorie 260 Vgl. dazu Aët . 4. 11.1-4 = LS 39E = SVF 2. 83. 261 Vgl. Stob.Ec l. 2. 79.20-80. 1 = LS 58C = SV F 3.1 40; 2. 80.22-81. 6 = SVF 3.136; D.L . 7.102 = LS 58A = SVF 3.117; 7.106 = SVF 3.127; Cic.Fin. 3. 51 = SVF 3.129. 262 Vgl. D. L. 7.97 = SVF 3.107; Stob.Ecl. 2. 72 .3-6 = LS 60M = SVF 3.106. 263 Vgl. D. L. 7.127 = SVF 1.187; Cic.Tusc. 2.29 f = SVF 1.185. 264 Vgl. S. E. M 7.22 7 = SVF 2 . 56; S. E. M 11 .110f ; Sieh e auch: O lymp.in Grg. 12. 1 = LS 42A = SVF 1. 73; ΣDThrax 649 = SVF 2. 94; S. E. M 11.200f = LS 59G = SVF 3.516. Zum Ver‐ ständnis der Tugend als τέχνη sowie zur These, dass die Tugend hinreichend für die εὐδαιμονία sei, siehe: Striker (1991 [1996]); Long (1988 [1996]). 265 Zur Tugend al s ἐπι στήμη sie h e auch: Gal.PH P 7. 2.2-17 = SVF 3. 256 sowie Forschne r (2013) und Schri efl (2019), 126-129. treten der Vernunft eine Transformation unserer nicht-rationalen Seele und ihrer Motivationsstruktur statt, welche wir als Kinder mit den Tieren gemein hatten. Die nicht-rationale Seele wird durch die Vernunft ersetzt, was zur oben angesprochenen Veränderung unserer Deliberations- und Motivationsstruktur führt. III.1. 2. 3 Die stoische Axiologie Mit dem Übertritt ins vernunftgeleitete Erwachsenenalter verlieren die natur‐ gemäßen Dinge (z. B. Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Kraft etc.) 261 , welche bislang die Objekte unserer natürlichen ursprünglichen Nei‐ gungen waren, ihren absoluten Wert für uns. Von nun an gibt es nur eine Sache von absolutem Wert: das vernunftgemäße Leben, welches, wie wir oben in den τέλος-Formeln gesehen haben, mit dem tugendgemäßen Leben identisch ist. Das einzige Gut ist für die Stoa daher das tugendgemäße Leben bzw. die Tugenden, insofern sie sowohl ‚produktive‘ Güter (ποιητικὰ ἀγαθά) - indem sie εὐδαιμονία hervorbringen - als auch ‚finale‘ Güter (τελικὰ ἀγαθά) - indem sie εὐδαιμονία konstituieren - sind und damit das glückselige bzw. tugendgemäße Leben kon‐ stituieren. 262 Die Tugend allein ist hinreichend für die εὐδαιμονία. 263 Sie wird von den Stoikern als eine τέχνη (Kunst) verstanden, welche in einer Art Exper‐ tenwissen besteht, ein Wissen darüber, wie man leben soll. 264 Tugend ist daher für die Stoiker wesentlich Wissen (ἐπιστήμη) 265 : Alle Tugenden, die Wissenschaften und Künste sind, teilen ihre Theoreme und haben, wie gesagt, dasselbe Ziel. Daher sind sie auch nicht trennbar. Wer nämlich eine von ihnen hat, hat sie alle; und wer in Übereinstimmung mit einer handelt, handelt in Übereinstimmung mit allen. Sie unterscheiden sich voneinander durch ihre jeweiligen Perspektiven. Die Perspektiven der Klugheit sind nämlich in erster Linie die Theorie und Praxis dessen, was getan werden sollte, und um das, was getan werden sollte, untrüglich zu tun, in zweiter Linie auch die Theorie dessen, was zugeteilt, <was ge‐ wählt und was ertragen> werden sollte. Die spezielle Perspektive der Besonnenheit 145 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 266 S tob.Ecl. 2.63.6-24 = LS 61D = SVF 3.280: πάσας δὲ τὰς ἀρετὰς ὅσαι ἐπιστῆμαὶ εἰσι καὶ τέχναι κοινά τε θεωρήματα ἔχειν καὶ τέλος, ὡς εἴρηται, τὸ αὐτό· διὸ καὶ ἀχωρίστους εἶναι· τὸν γὰρ μίαν ἔχοντα πάσας ἔχειν, καὶ τὸν κατὰ μίαν πράττοντα κατὰ πάσας πράττειν. διαφέρειν δʼ ἀλλήλων τοῖς κεφαλαίοις. φρονήσεως μὲν γὰρ εἶναι κεφάλαια τὸ μὲν θεωρεῖν καὶ πράττειν, ὃ ποιητέον, προηγουμένως, κατὰ δὲ τὸν δεύτερον λόγον τὸ θεωρεῖν καὶ ἃ δεῖ ἀπονέμειν <καὶ ἃ δεῖ αἱρεῖσθαι καὶ ἃ δεῖ ὑπομένειν>, χάριν τοῦ ἀδιαπτώτως πράττειν ὃ ποιητέον. τῆς δὲ σωφροσύνης ἴδιον κεφάλαιόν ἐστι τὸ παρέχεσθαι τὰς ὁρμὰς εὐσταθεῖς καὶ θεωρεῖν αὐτὰς προηγουμένως, κατὰ δὲ τὸν δεύτερον λόγον τὰ ὑπὸ τὰς ἄλλας ἀρετὰς, ἕνεκα τοῦ ἀδιαπτώτως ἐν ταῖς ὁρμαῖς ἀναστρέφεσθαι· καὶ ὁμοίως τὴν ἀνδρείαν προηγουμένως μὲν πᾶν ὃ δεῖ ὑπομένειν, κατὰ δὲ τὸν δεύτερον λόγον τὰ ὑπὸ τὰς ἄλλας· καὶ τὴν δικαιοσύνην προηγουμένως μὲν τὸ κατʼ ἀξίαν ἑκάστῳ σκοπεῖν, κατὰ δὲ τὸν δεύτερον λόγον καὶ τὰ λοιπά. πάσας γὰρ τὰς ἀρετὰς τὰ πασῶν βλέπειν καὶ τὰ ὑποτεταγμένα ἀλλήλαις. 267 Eine gewisse Ausnahme bildet in der stoischen Tradition Kleanthes, der die Tugend der Klugheit (φρόνησις) durch die Selbstbeherrschung (ἐγκράτεια) ersetzt hat (Plu.Stoic.rep. 1034D-E = LS 61C = SVF 1.563); siehe dazu: Gourinat (2007), bes. 232-239. 268 Zur These von der Antakoluthie der Tugenden siehe: Vlastos (1981). 269 Vgl. Plu.Stoic.rep. 1046E-F = LS 61F = SVF 3.299: τὰς ἀρετάς φασιν ἀντακολουθεῖν ἀλλήλαις; οὐ μόνον τῷ τὸν μίαν ἔχοντα πάσας ἔχειν ἀλλὰ καὶ τῷ τὸν κατὰ μίαν ὁτιοῦν ἐνεργοῦντα κατὰ πάσας ἐνεργεῖν· οὔτε γὰρ ἄνδρα φασὶ τέλειον εἶναι τὸν μὴ πάσας ἔχοντα τὰς ἀρετὰς οὔτε πρᾶξιν τελείαν ἥτις οὐ κατὰ πάσας πράττεται τὰς ἀρετάς. 270 Vgl. Vogt (2017b), 184. ist in erster Linie, die Impulse gesund zu erhalten sowie deren Theorie zu verstehen, und um sich in seinen Antrieben untrüglich bewegen zu können, in zweiter Linie auch die Theorie dessen, was unter die anderen Tugenden fällt. Ähnlich richtet sich die Tapferkeit in erster Linie auf die Theorie alles dessen, was ertragen werden sollte, und in zweiter Linie auf das, was unter die anderen Tugenden fällt. Und die Gerechtigkeit untersucht in erster Linie, was ein jeder (an Lohn oder Strafe) verdient, und in zweiter Linie auch das Übrige. Denn die Tugenden schauen alle auf die ganze Skala dessen, was zu ihnen allen gehört, und auf das, was unter die jeweils anderen fällt. 266 (Übers. Hülser) In diesem Passus erfahren wir neben der Tatsache, dass die Stoiker die Tugend als Kunst (τέχνη) und Wissen (ἐπιστήμη) verstanden haben, auch, dass sie die vier klassischen Kardinaltugenden Klugheit (φρόνησις), Besonnenheit (σωφροσύνη), Tapferkeit (ἀνδρεία) und Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) anerkannt haben. 267 Zudem vertraten auch die Stoiker die in der Antike verbreitete These von der Antakoluthie (ἀντακολουθία) der Tugenden. 268 Wer eine der Tugenden besitzt, besitzt sie alle. Die Stoiker gingen jedoch noch einen Schritt darüber hinaus und behaupteten, dass jeder, der eine Handlung in Übereinstimmung mit einer Tugend ausführe, sie in Übereinstimmung mit allen Tugenden ausführe. 269 Diese These ist dezidiert stoisch, da sie eine monistische Psychologie voraus‐ setzt, aus welcher die Handlungsmotivation entspringt. 270 Die Tugend als 146 III. Die stoische Motivationstheorie 271 Vgl. Stob.Ecl. 2. 73.16-74. 3 = LS 41H = SVF 3.112. 272 Stob.Ecl. 2. 59.4-11 = LS 61H = SVF 3.263: φρόνησιν δʼ εἶναι ἐπιστήμην ὧν ποιητέον καὶ οὐ ποιητέον καὶ οὐδετέρων, ἢ ἐπιστήμην ἀγαθῶν καὶ κακῶν καὶ οὐδετέρων φύσει πολιτικοῦ ζῴου […]· σωφροσύνην δʼ εἶναι ἐπιστήμην αἱρετῶν καὶ φευκτῶν καὶ οὐδετέρων· δικαιοσύνην δὲ ἐπιστήμην ἀπονεμητικὴν τῆς ἀξίας ἑκάστῳ· ἀνδρείαν δὲ ἐπιστήμην δεινῶν καὶ οὐ δεινῶν καὶ οὐδετέρων; siehe auch: Cic.Tusc. 4. 53 = LS 32H. 273 Plu.Stoic.rep. 1034C = LS 61C = SVF 1.200: πάλιν δὲ ὁριζόμενος αὐτῶν ἑκάστην τὴν μὲν ἀνδρείαν φησὶν εἶναι φρόνησιν <ἐν ὑπομενετέοις τὴν δὲ σωφροσύνην φρόνησιν ἐν αἱρετέοις τὴν δʼ ἰδίως λεγομένην φρόνησιν φρόνησιν> ἐν ἐνεργητέοις τὴν δὲ δικαιοσύνην φρόνησιν ἐν ἀπομενητέοις […]. Wissen - verstanden im Sinne eines unerschütterlichen Systems von Kogniti‐ onen 271 - ist ein einheitlicher Zustand der Seele. Folgerichtig vertreten die Sto‐ iker daher die These von der Antakoluthie der Tugenden. Dieses Wissenssystem kann jedoch in verschiedene Unterfelder aufgeteilt werden, wie uns die oben zitierte Passage zeigt und folgendes Zitat verdeutlicht: Klugheit ist das Wissen darum, was zu tun, was nicht zu tun und was keins von beidem ist, oder das Wissen von dem, was gut, was schlecht und was keins von beidem ist für ein Lebewesen, dessen Natur politisch ist […]. Besonnenheit ist das Wissen um das, was zu wählen, was zu meiden und was keins von beidem ist. Gerechtigkeit ist das Wissen, welches sich darauf bezieht, jedem nach Verdienst zuzuteilen. Tapferkeit ist das Wissen um das, was fürchterlich, was nicht fürchterlich und was keins von beidem ist. 272 (Übers. Hülser) Hier werden die vier Kardinaltugenden jeweils mit einem bestimmten Teilgebiet des Wissens identifiziert. So ist die Klugheit das Wissen darum, welche Hand‐ lungen geboten, verboten und erlaubt sind; die Besonnenheit ist das Wissen darum, was gewählt bzw. gemieden werden sollte, - und damit das Wissen um den rechten Umgang mit den Impulsen; die Gerechtigkeit ist das Wissen um die rechte Verteilung; die Tapferkeit das Wissen darum, wovor man sich fürchten bzw. nicht fürchten muss. Wie die Definition der Klugheit deutlich macht, welche für alle Handlungen zuständig ist, kommt ihr in Bezug auf die anderen Tugenden eine besondere Rolle zu. Sie ist die zentrale Tugend, mittels derer sich auch die anderen Tugenden bestimmen lassen: Wo er [sc. Zenon] jedoch jede von ihnen [sc. den Tugenden] definiert, sagt er, die Tapferkeit sei Klugheit <in Dingen, die Ausdauer verlangen, die Besonnenheit sei Klugheit in Dingen, die eine Wahl verlangen, und die Klugheit im engeren Sinne sei Klugheit> in Dingen, die eine Handlung verlangen; die Gerechtigkeit sei Klugheit in Dingen, die zu verteilen sind […]. 273 (Übers. Hülser) 147 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 274 Vgl. Stob.Ecl. 2. 63.6-8 = LS 61D = SVF 3.280: πάσας δὲ τὰς ἀρετὰς ὅσαι ἐπιστῆμαὶ εἰσι καὶ τέχναι κοινά τε θεωρήματα ἔχειν καὶ τέλος, ὡς εἴρηται, τὸ αὐτό· διὸ καὶ ἀχωρίστους εἶναι. 275 Dies ist die Position Aristons von Chios, einem heterodoxen Stoiker und Schüler Zenons von Kitium: Plu.Virt.mor. 440F-441A = LS 61B = SVF 1.375; Gal.PHP 7.1.12-15 = LS 29E = SVF 3.259; 7.2.2-4 = SVF 1.374; Clem.Strom. 1 = SVF 1.376; siehe dazu auch: Ioppolo (1980), 208-243; Schofield (1984); Striker (1991 [1996]), 235; Porter (1996). 276 Vgl. Vogt (2017b), 191 f. 277 Vgl. Schofield (1984), 93. Dies lässt verständlich werden, dass die Tugenden miteinander zusammen‐ hängen und man die eine nicht ohne die anderen haben kann. Ihre Theoreme sind ihnen gemeinsam. 274 Dennoch unterscheiden sie sich hinsichtlich der Ge‐ genstände, die ihnen vorrangig zukommen und ihnen spezifisch sind. So be‐ schäftigt sich die Tapferkeit vorrangig damit, was erduldet werden muss bzw. wovor man sich fürchten bzw. nicht fürchten muss; nachrangig jedoch auch damit, womit sich die anderen Tugenden beschäftigen. Dies liegt daran, dass die Tugenden Unterfelder eines größeren Wissenssystems sind: Sie verfügen über einen ihnen spezifischen Gegenstand, sind jedoch zugleich mit einem größeren Wissenssystem verbunden, indem sie dessen Theoreme teilen. Es ist nicht der Fall, dass ein Wissenssystem auf verschiedene Umstände angewendet wird, so dass der Unterschied zwischen den verschiedenen Tugenden vollständig außer‐ halb der Seele des Akteurs liegen würde. 275 Als Unterfelder eines größeren Sys‐ tems haben sie ihren spezifischen Gegenstand und sind doch in das größere Wissenssystem integriert. 276 Dies ist der Grund, warum die Tugend von den Stoikern auch als ein einheitlicher Zustand der Seele verstanden wurde. Es ge‐ hört daher den Stoikern zufolge zum Wesen der Besonnenheit, dass sie auch das Wissen beherrscht, welches vorrangig zur Klugheit, Tapferkeit und Gerechtig‐ keit gehört. Der Besonnene kann dieses Wissen jedoch nur besitzen, wenn er auch über die entsprechenden Tugenden verfügt. 277 So wird die stoische Lehre von der Antakoluthie der Tugenden den Feinheiten des praktischen Vernunft‐ gebrauchs gerecht und eine Handlung, die in Übereinstimmung mit einer der Tugenden ausgeführt wird, wird zu einer Handlung, die in Übereinstimmung mit allen Tugenden ausgefüghrt wird. Das Verständnis der Tugend als Wissen mit verschiedenen Unterfeldern er‐ möglicht es auch, eine weitere Eigenheit des stoischen Tugendbegriffs ver‐ ständlich zu machen. Die Stoiker verstanden nämlich, wie wir oben bereits ge‐ sehen haben, auch die Logik, Physik und Ethik - also die drei Teilbereiche der Philosophie - als Tugenden. 278 Logik, Physik und Ethik können insofern als Tu‐ genden angesehen werden, da auch sie als Unterfelder des größerern Wissens‐ systems spezifische Gegenstände haben. 279 Die verschiedenen Einteilungen des 148 III. Die stoische Motivationstheorie 278 Vgl. Aët. 1 Prooem. 2 = LS 26A = SVF 2. 35; Cic.Fin. 3.72 f = SVF 3.281 und 282; zur Frage, inwiefern Logik, Physik und Ethik als Tugenden gelten können siehe: Vogt (2017b), 187-190; zur Physik siehe auch unten S. 187-189. 279 Vgl. Vogt (2017b), 186. 280 Für diese Analogie siehe: Vogt (2017b), 186. 281 Vgl. Plu.Stoic.rep. 1034D-E = LS 61C = SVF 1.563; zur physiologischen Seite der Tugend siehe: Bénatouïl (2005); Brouwer (2014), 76-79; zum Zusammenhang von ἐπιστήμη und Spannung des Seelenpneumas siehe: Voelke (1973), 45-49. 282 Vgl. Stob.Ec l. 2. 73 .16 -74 . 3 = LS 41H = SVF 3.112; siehe auch: Bénatouïl (2005), 16 f. 283 Vgl. Plu.Vir t.pr of. 7 5C = LS 61S = SVF 3.539; Plu.Comm.not. 1063A-B = LS 61T = SVF 3.539; Cic.F in. 3.48 = SVF 3.530; siehe dazu auch: Brouwer (2014), 68-79. 284 Vgl. Plu.Syn op. 1 05 8B; Pl u .Comm.not. 1062B = LS 61U; Plu.Virt.prof. 75C = LS 61S = SVF 3.539; Clem. Stro m. 4. 6 = SVF 3.221; siehe dazu auch: Brouwer (2014), 56 f. Wissens in Logik, Physik und Ethik einerseits, Klugheit, Besonnenheit, Tapfer‐ keit und Gerechtigkeit andererseits konkurrieren dabei nicht miteinander. Es ist möglich ein Wissenscorpus unterschiedlich einzuteilen. So wird das Wissens‐ coprus der Medizin im Studium heute einerseits in die Fächer Mikrobiologie, Chemie, Pathologie etc. eingeteilt, andererseits werden eigene Kurse zu ein‐ zelnen Organen und Körperteilen wie dem Herzen, dem Auge oder dem Gehirn angeboten. Beides sind mögliche Zugänge zum selben Fach, jedoch mit unter‐ schiedlicher Einteilung des Faches. 280 Der systematische Charakter des Wissens, in dem die Tugend besteht, hat auch eine physiologische Seite. So wurde die Tugend auch als die rechte Span‐ nung des Seelenpneumas eines Akteurs bestimmt - d. h. als mentale Stärke. 281 Der vollkommen Tugendhafte handelt aus einer starken Disposition der Seele heraus, d. h. er hält unerschütterlich an seinen Überzeugungen fest und setzt diese auch in die Tat um. Er handelt auf Basis von Wissen. Die Unerschütter‐ lichkeit des Wissens liegt in den konsistenten und kohärenten Überzeugungen begründet, welche dieses konstituieren und die sich gegenseitig stützen. 282 Die Zusammenhänge zwischen den Überzeugungen stabilisieren diese und machen sie unerschütterlich. Das Verständnis der Tugend als Wissen erklärt auch, warum die Tugend für die Stoiker eine Angelegenheit von ‚Alles oder nichts‘ ist. 283 Die Tugend ist für die Stoiker nicht graduierbar und der Umschlag vom Status des Nichtweisen in den des Weisen ereignet sich instantan. 284 Man ist nicht mehr oder weniger tugendhaft, sondern man ist tugendhaft oder man ist es nicht. Entweder man hat ein konsistentes Überzeugungssystem oder man hat es nicht. Eine falsche Überzeugung genügt, um das System ins Wanken zu bringen und die Spannung der Seele zu schwächen. Entweder man verfügt über Wissen i.S. eines konsistenten Überzeugungssystems oder aber nicht. Graduie‐ rungen sind hier nicht möglich. Daher bezeichneten die Stoiker die Tugend auch als eine διάθεσις, 285 einen „Habitus im Status der Vollkommenheit, der sowohl 149 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 285 Vgl. D. L. 7 .89 = SVF 3.197: τήν τʼ ἀρετὴν διάθεσιν εἶναι ὁμολογουμένην; siehe auch: Simp.Cat. 237.25-238.20 = LS 47S = SVF 2.393; Plu.Virt.mor. 441C = LS 61B = SVF 3.459; Stob.Ecl. 2.60.7 = SVF 3.262. 286 Forschner ( 2 1995), 174 f. 287 Vgl. Simp.Ca t. 23 8. 10 = LS 47S = SVF 2.393. 288 Vgl. Simp.Ca t. 23 7. 25-238. 2 0 = LS 47S = SVF 2.393. 289 Vgl. Forsc hner ( 2 1995), 64; zur Di fferenzie rung von σχέσις, ἕξις und διάθεσ ις sie he: Rieth (1933), 120-124; Forschner ( 2 1995), 63 f; der zentrale Text ist: Simp.Cat. 237.25-238.20 = LS 47S = SVF 2.393. 290 Cic.Fin. 3.20 f = LS 59D = SVF 3.188. 291 Vgl. Frede (1999a); eine hilfreiche Diskussion von Fredes Theorie des Guten und ihren Konsequenzen für die stoische Ethik findet sich in: Brittain (2001), 247-253. 292 Vgl. Klein ( 2016), 185; siehe da zu auch : Epict.Diss. 1. 6 .1 8-22; 2. 8. dem Begriff nach wie in der Wirklichkeit keine Graduierungen zuläßt“ 286 . Die διάθεσις ist für die Stoiker eine ἕξις - ein Habitus, der ganz aus sich heraus ist 287 - im Zustand der Vollendung. 288 Die διάθεσις ist das, was sie ist, ganz aus sich heraus, eine ἕξις, die keine Graduierung zulässt und von externen Faktoren unabhängig ist. 289 Nur wer sich ein konsistentes und kohärentes Überzeugungs‐ system in Form von Wissen aufgebaut hat, ist daher im Besitz der Tugend. An‐ dernfalls ist er unwissend und damit lasterhaft. Die Konsistenz und Kohärenz, welche mit der Tugend als dem einzigen Gut verbunden sind, erstrecken sich nun nicht nur auf die Überzeugungen und die Seele des Menschen, sondern umfassen auch seine Handlungen, die aus diesen Überzeugungen hervorgehen, und damit auch die Welt, in der diese Handlungen stattfinden. Das Gute besteht, wie uns Cicero in der oben zitierten Passage aus De finibus  290 sagt, in der ‚Übereinstimmung‘ (ὁμολογία/ convenientia), worunter die Übereinstimmung all unserer Handlungen mit der vollkommen rationalen Ordnung der Natur des Kosmos gemeint ist, was die Konsistenz und Kohärenz der Überzeugungen und Entscheidungen des Akteurs voraussetzt, so dass sich die vollkommen rationale Ordnung des Kosmos schließlich auch im Akteur wiederfindet. 291 Die erworbenen Begriffe seiner Vernunft ermöglichen es dem Menschen, mittels vernünftiger Kognition die Schönheit und Ordnung des Kosmos zu erfassen und diese im eigenen Denken und Handeln widerzuspie‐ geln, so dass er zum Mitarbeiter an der Vollkommenheit des Kosmos werden kann. 292 Demnach dürfte mit der ὁμολογία, in welcher in der zitierten Ci‐ cero-Passage das Gute besteht, nicht nur das Leben in ‚Übereinstimmung‘ mit der Natur des Kosmos gemeint sein, sondern auch die innere Konsistenz, Ko‐ härenz und Ordnung des Akteurs selbst, welche aus dem Leben in Übereinstim‐ mung mit der Natur des Kosmos resultieren. Die innere Konsistenz und Kohä‐ renz, worin für die Stoiker das Kennzeichen vollkommener Rationalität und damit von Weisheit und Tugend besteht, 293 ermöglichen den ‚guten Fluss des 150 III. Die stoische Motivationstheorie 293 Vgl. dazu Frede (1994a). 294 Vgl. D. L. 7.88 = LS 63C = SVF 3.4. 295 Vgl. S. E. M 11. 22 = LS 60 G = SVF 3. 7 5; Clem.Paed. 1 . 8. 63.1 f = LS 60I = SVF 2. 1116; Sen.Ep. 117. 2 = LS 60S. 296 Vgl. S. E. M 11.2 2-25 = LS 60G = SVF 3 . 75. 297 Frede (1999a), 88. 298 Z ur Attraktivität des Guten siehe: S tob.Ecl. 2.100.21 f = SVF 3.208; Gell. 12.5.7 = SVF 3.181; Cic.Fin. 3.28 = SVF 3.34. 299 Vgl. Cic.Fin. 3. 45 = SVF 3. 60: Ut enim obscuratur e t offunditur luce solis lume n lucernae, et ut interit <in > magnitudi ne maris Aegaei stilla mellis, et ut in divitiis Croesi teruncii accessio et gradus unus in ea via, quae est hinc in Indiam, sic, cum sit is bo norum finis, quem Stoici dicunt, omnis ista rerum corporearum aestimatio splendore virtutis et mag‐ nitudine obscuretur et obruatur atque intereat necesse est. 300 Vgl. Plat.Chrm. 165e-166a; siehe auch: Cic.Fin. 5. 16 = LS 64E. 301 Was genau die St oiker dazu veranlasst hat, die Lehre v on den indifferenten Dingen zu entwickeln, ist eine schwierige Frage. Ein Argument aus Platons Euthydemos (279-281) hat sicher eine wichtige R olle gespielt (vgl. D. L. 7.103 = LS 58A = SVF 3.117; S. E. M 11.61 = SVF 3.122), doch dürfte dieses Argument allein nur schwerlich dazu in der Lage Lebens‘ (εὔροια βίου), wie die Stoiker auch das τέλος des Menschen zu be‐ stimmen pflegten. 294 Insofern uns die vollkommene Rationalität, Weisheit oder Tugend das gute Leben ermöglicht, ist sie uns auch stets nützlich, worin den Stoikern zufolge ein weiteres Kennzeichen des Guten besteht. Den Stoikern zu‐ folge ist nur das gut, was uns nützt. 295 Da allein die Tugend immer nützlich ist, gilt sie als das einzige Gut - sie allein ist ihrem Wesen nach gut. 296 Die Handlungen des Tugendhaften zeichnen sich dieser extrem intellektua‐ listischen Konzeption des Guten nach durch „amazing ingenuity, insight, ima‐ gination, resourcefulness, elegance and simplicity in the solution of technical problems“ 297 aus und zielen auf vollkommen rationales Verhalten, worin das Gute i.S. der ὁμολογία besteht. Diese Vollkommenheit, welche sich auch in der vollkommen rationalen Ordnung der Natur des Kosmos findet, macht das Gute für uns überwältigend attraktiv - es ist καλόν (schön bzw. attraktiv) -, 298 so dass wir in unserem Handeln die Rationalität, die dieser Ordnung zugrunde liegt, ausdrücken wollen. Eine Handlung oder ein Leben, welches diese vollkommene Rationalität - Weisheit und Tugend - ausdrückt, wird ‚gut‘ genannt werden. Der Wert der bisherigen Objekte unserer Strebungen verblasst demgegenüber. 299 Wenn die Tugend jedoch eine τέχνη ist, muss sie auch ein Ziel haben, welches sie zu erreichen sucht, sowie ein bestimmtes Material, mit dem sie arbeiten kann. 300 Dieses Material stellen die sog. ‚indifferenten Dinge‘ (ἀδιάφορα/ indif‐ ferentia) dar, die diesen Namen tragen, weil sie mit Blick auf die εὐδαιμονία des Menschen - das Ziel der τέχνη - indifferent sind, d. h. sie tragen zur εὐδαιμονία - sei es durch ihre Anwesenheit oder ihre Abwesenheit im Leben eines Akteurs - nichts bei. 301 151 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik sein, die ganze Last der stoischen Lehre von den ἀδιάφορα zu tragen. Sokrates argu‐ mentiert im Euthydemos, dass allein die Weisheit immer nützlich sei, wohingegen die äußeren Ressourcen nur in bestimmten Fällen nützten. Er schließt daraus, dass die äu‐ ßeren Ressourcen entweder keine Güter (281e) oder aber nur bedingte Güter (292b) sind. Nirgends im Euthydemos findet sich jedoch die stärkere stoische These, dass die äußeren Ressourcen niemals nützlich seien (vgl. Brennan [2005], 132 Anm. 4; Klein [2015], 236 Anm. 13). John Cooper hat eine weitere Begründung für die Lehre von den ἀδιάφορα vorgelegt: Die These, dass Gesundheit und Reichtum, Schmerz und Armut indifferent seien, sei eine Konsequenz des von den Stoikern unternommenen Versuchs, ihr Verständnis von der Natur als vernünftiger Ordnung, welche durch ihre Vorsehung das Geschehen im Kosmos lenkt, mit der Tatsache zu versöhnen, dass diese Ordnung nicht so gestaltet ist, dass die Akteure diese Dinge, die sie verfolgen, stets auch erlangen (vgl. Cooper [1996 [1999], 437-439; 2012, 175-180]). 302 Der Terminus ἀξία ἐκλεκτική soll in der Auseinandersetzung mit Karneades von An‐ tipater von Tarsos eingeführt worden sein, um die προηγμένα näher zu charakterisieren (vgl. Stob.Ecl. 2. 83.10-84. 3 = LS 58D = SVF 3.124); Brennan (2003; 2005) überstezt den Terminus als ‚planning-value‘; Cooper (2012) spricht von ‚pursuit value‘. 303 Nur die Tugend als das einzige Gut ist laut den Stoikern zu erstreben (αἱρετόν/ expe‐ tendum). 304 Vgl. D. L. 7.101-103 = LS 58A = SVF 3.117. 305 Vgl. D. L. 7.104 f = LS 5 8B = SVF 3.119. Die indifferenten Dinge sind jedoch für die Stoiker nicht alle von gleichem Wert. Es macht durchaus einen Unterschied für das Leben eines Menschen, ob sie vorhanden sind und gebraucht werden können oder nicht. So besitzen die naturgemäßen Dinge (τὰ κατὰ φύσιν/ secundum naturam) einen außermorali‐ schen Wert (ἀξία ἐκλεκτική/ aestimatio) 302 und sind daher unter normalen Be‐ dingungen, insofern es möglich ist, ihren Gegenteilen vorzuziehen und zu wählen (ληπτόν/ seligendum) 303 , weshalb sie auch als ‚vorzuziehende Dinge‘ (προηγμένα/ praeposita) bezeichnet werden. Entsprechend werden die Dinge, die diesen Wert nicht besitzen, als ‚zurückzuweisende Dinge‘ (ἀποπροηγμένα/ reiecta) bezeichnet, und man versucht, sie wenn möglich zu vermeiden. Zu den vorzuziehenden Dingen werden Leben, Gesundheit, Lust, Schönheit, Kraft, Reichtum, Ansehen und adlige Abstammung gezählt, zu den zurückzuwei‐ senden Tod, Krankheit, Schmerz, Hässlichkeit, Schwäche, Armut, Ruhmlosig‐ keit und niedrige Abstammung. 304 Darüber hinaus gibt es als dritte Unterart der in einem qualifizierten Sinn indifferenten Dinge noch die in einem unqualifi‐ zierten Sinn indifferenten Dinge wie z. B. eine gerade oder ungerade Anzahl Haare auf dem Kopf oder das Ausstrecken oder Einziehen des Fingers. 305 Für gewöhnlich treffen wir unsere Entscheidungen und verfolgen bestimmte Hand‐ lungsziele entsprechend unserem Urteil darüber, welche Dinge von außermo‐ ralischem Wert - d. h. προηγμένα - zu verfolgen, das Leben in Übereinstimmung mit der Natur von uns verlangt. Allerdings ist es möglich, dass die Natur des 152 III. Die stoische Motivationstheorie 306 Vgl. Cooper (20 12), 179 f. 307 z. B. Ci c.F in. 3 . 58 = LS 5 9F = SVF 3.498. 308 Vgl. Forschner ( 2 1995), 183 f. 309 Vgl. Cic.Fin. 3.58 = LS 59F = SV F 3.498: […] id officium nec in bonis ponamus nec in malis. 310 Vg l. S. E. M 1 1 . 3 = SVF 3. 71; Cic.Fin. 3. 58 = LS 5 9F = SVF 3.498; Cic.Ac. 1. 37 = SVF 1.231; Stob.Ecl. 5.906.18-907. 5 = LS 59I = SVF 3.510. 311 Cic.Fin. 3.20 f = LS 59D. 312 Stob.Ecl. 2. 85. 1 3 = LS 59B = SVF 3.494; Cic .Fin. 3. 58 = LS 59F (Cicero überse tzt εὔλογος ἀπολογία an dieser Stelle mi t probabilis ratio); D. L. 7.107. Kosmos, der es immer um die Schönheit und gute Ordnung des Kosmos als Ganzem geht und nicht vorzugsweise um das Leben eines einzelnen Indivi‐ duums, um der kosmischen Ordnung willen etwas Anderes für uns intendiert hat, und wir diese Handlungsziele nicht erreichen. In einem solchen Fall gilt es, sich vor Augen zu führen, dass die Anbzw. Abwesenheit der Dinge, die zu erlangen wir versucht haben, in unserem Leben keinen Einfluss auf unsere εὐδαιμονία hat. In dieser entscheidenden Hinsicht sind diese Dinge indifferent. Folglich ist es unangemessen, über unser Scheitern, die vorzuziehenden Dinge zu erlangen, oder über ihren Verlust betrübt zu sein. Es spielt keine Rolle, ob man sie erreicht, wenn man sie verfolgt. Allein der Versuch zählt. 306 Die indifferenten Dinge spielen also eine zentrale Rolle in unseren Überle‐ gungen, welche Ziele wir verfolgen und welche Handlungen wir in einer kon‐ kreten Situation unternehmen sollen. Sie helfen uns dabei zu entscheiden, welche Handlung diejenige ist, welche auszuführen in der gegenwärtigen Situ‐ ation in einem nichtmoralischen Sinne naturgemäß - bzw. in stoischer Termi‐ nologie ‚zukommend‘ bzw. ‚angemessen‘ (καθῆκον) - ist. Die Stoiker unter‐ scheiden dabei zwischen zwei Arten von Handlungen, die der Akteur ausführen sollte: den sog. ‚zukommenden Handlungen‘ (καθήκοντα/ officia) und den ‚sitt‐ lich richtigen Handlungen‘ (κατορθώματα/ recte facta). 307 καθήκοντα sind jene Handlungen, die in der jeweiligen Situation in einem nichtmoralischen Sinne naturgemäß sind. 308 Sie zählen weder zu den sittlich guten noch zu den sittlich schlechten Handlungen, 309 sondern gelten als sog. ‚mittlere Handlungen‘ (μέσαι πράξεις bzw. τὰ μεταξύ/ media) 310 , die auf das Erreichen der naturgemäßen bzw. das Vermeiden der naturwidrigen Dinge ausgerichtet sind. 311 Sie sind einer ver‐ nünftigen Verteidigung bzw. Rechtfertigung (εὔλογος ἀπολογία) zugäng‐ lich 312 - d. h. es gibt gute Gründe, die für das Ausführen der Handlung sprechen und die Handlung unter den Umständen, unter welchen sie ausgeführt wird oder wurde, zur naturgemäßen Handlung machen. Vernünftige Überlegungen spielen demnach für ‚zukommende Handlungen‘ eine Rolle. Die vernünftige Verteidigung der ‚zukommenden Handlungen‘ muss sich auf den Wert der ‚in‐ 153 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 313 Vgl. Plu.Comm.not. 1069E-1070A = LS 59A = SVF 3.491; 1071B = LS 64C = SVF 3.195. 314 Vgl. Clem.St r o m . 4. 6 = SVF 3.114; Cic.F in. 3.60 f = LS 66G = SVF 3.763; SV F 3.766. 315 Vgl. Cic.Fin. 3.60 = SVF 3.76 3: sed cum ab his omnia proficiscantur officia, non sine causa dicitur ad ea referri omnes nostras cogitationes. 316 Vgl. Forschner ( 2 1995), 185 f, der sich gegen Poh lenz (1959), 119, 129 und 186 und Tse‐ kourakis (1974), 19 wendet, die unter den καθήκοντα primär jene Aktivitäten verstehen, welche die ‚animalische Natur‘ des Menschen betreffen. 317 Die Stoiker leiteten den Begriff von κατά τινας ἥκειν ab, was ‚in Übereinstimmung mit bestimmten Personen ankommen‘ bedeutet und vermutlich eine Übereinstimmung mit der Natur der Menschen impliziert. Zur nie vollständig geklärten Etymologie siehe: Bonhöffer (1894), 208; Dyroff (1897), 134. 318 Vgl. Cooper (2012), 202 f. 319 Siehe z. B.: Steinmetz (1994), 544; Forschner ( 2 1995), 173 und 184; seine früheren Aus‐ führungen korrigierend und präszisierend: Forschner (2018), 207-216. 320 Insofern die Forderungen an uns durch die naturale Ordnung vermittelt sind, ist hier nicht an einen theologischen Voluntarismus zu denken. differenten Dinge‘ beziehen, welche das Material (ὕλη) der Tugend und die Grundlage (ἀρχή) der καθήκοντα bilden. 313 Die ‚indifferenten Dinge‘ stellen demnach nicht nur das Material dar, mit welchem die ‚zukommende Handlung‘ umgeht, sondern sie werden auch für die Bestimmung der ‚zukommenden Handlung‘ in einer konkreten Situation wesentlich sein. 314 Die indifferenten Dinge spielen also eine fundamentale Rolle in der Deliberation des rationalen Akteurs, 315 der in Übereinstimmung mit der Natur leben möchte, sowie in der vernünftigen Rechtfertigung seiner Handlung, die er gäbe, wenn man ihn da‐ nach fragen würde. Inhalt der καθήκοντα ist nun alles, was der Erhaltung und Entfaltung der spezifisch menschlichen Natur dient. 316 Der Begriff τὸ καθῆκον stellt im Sprachgebrauch der Stoiker eine semitech‐ nische Verwendung des Partizips Präsens aktiv als Substantiv dar und bedeutet wörtlich in etwa das einer Person ‚Zukommende‘ oder ‚Obliegende‘. 317 Ciceros lateinische Übersetzung des Begriffs τὸ καθῆκον als officium enthält die Kon‐ notation der Pflicht, welche nur im Rahmen der naturphilosophisch fundierten Ethik der Stoa verständlich wird, 318 weshalb sie von zahlreichen Interpreten nicht verstanden und kritisiert wurde 319 . Die kosmische Natur bzw. Zeus hat den Menschen mit seiner spezifischen Konstitution für eine bestimmte Art von Leben geschaffen, welches uns daher - so gut wir können - als etwas zukommt, was uns vorgeschrieben ist - als unser Ort in der Schöpfung und ihrer zeitlichen Entwicklung. Zukommende Handlungen sind auch Pflichten, die wir erfüllen - und zwar, wenn wir tugendhaft sind, um ihrer selbst willen -, weil sie die kos‐ mische Natur bzw. Zeus uns auferlegt und ihre Erfüllung von uns verlangt. Was uns natürlicherweise zukommt, leitet sich von den Entscheidungen Gottes, d. i. Zeusʼ ab, welcher der Schöpfer und Erhalter der Weltordnung ist. 320 Wenn der 154 III. Die stoische Motivationstheorie 321 Vgl. D. L. 7. 88 = LS 63C = SVF 3. 4: οὐδὲν ἐνεργοῦντας ὧν ἀπαγορεύειν εἴωθεν ὁ νόμος ὁ κοινός, ὅσπερ ἐστὶν ὁ ὀρθὸς λόγος, διὰ πάντων ἐρχόμενος, ὁ αὐτὸς ὢν τῷ Διί, καθηγεμόνι τούτῳ τῆς τῶν ὄντων διοικήσεως ὄντι. 322 D. L. 7.108 f = LS 59E = SVF 3.495 f. 323 Vgl. Ci c.Fin. 3 . 5 8 f = LS 5 9F = SVF 3.3 98; S. E. M 1 1.200 f = L S 59G = SVF 3.516; Stob.Ecl. 5.906.18-907. 5 = SVF 3.510; siehe auch: Forschner ( 2 1995), 199. 324 Vgl. St ob.Ecl. 2 . 93.14-18 = LS 59K = SVF 3 .500; siehe auc h: Cic .Fin . 3.58f = LS 59F = SVF 3.498. Stoiker tugendhaft handelt, handelt er folglich auf die ihm zukommende Weise nicht nur deswegen, weil dies seiner Natur bzw. Konstitution angemessen und damit gut für ihn ist, sondern auch weil ihm Gott gerade diese Handlung als Pflicht auferlegt hat; er führt sie im Gehorsam gegenüber diesem göttlichen Befehl aus. 321 Damit ist das tugendhafte Leben - d. i. unser τέλος - identisch mit dem Leben in Erfüllung unserer Pflichten um ihrer selbst willen. Ciceros Über‐ setzung von τὸ καθῆκον als officium erweist sich also entgegen aller geäußerten Kritik als durchaus zutreffend. Die καθήκοντα selbst werden der stoischen Theorie zufolge nochmals un‐ terschieden in ‚von Umständen abhängige zukommende Handlungen‘ (καθήκοντα περιστατικά) und ‚von Umständen unabhängige zukommende Handlungen‘ (καθήκοντα ἄνευ περιστάσεως). 322 Zu den καθήκοντα ἄνευ περιστάσεως gehören die Handlungen, welche auf das Erlangen der sog. προηγμένα ausgerichtet sind, die für gewöhnlich unter normalen Umständen einem Menschen zur Verfügung stehen - wie z. B. die Sorge um die eigene Ge‐ sundheit oder die eigenen Sinnesorgane. ‚Unabhängig von Umständen‘ (ἄνευ περιστάσεως) bedeutet hier allerdings nicht, dass diese Handlungen immer καθήκοντα sind, sondern lediglich, dass sie unter normalen Umständen, also für gewöhnlich καθήκοντα sind. Als καθήκοντα περιστατικά gelten jene Hand‐ lungen, bei denen es außergewöhnliche Umstände erforderlich machen, dass wir bestimmte der sog. ἀποπροηγμένα in unseren Handlungen verfolgen - also z. B. Selbstverstümmelung oder das Verschleudern unseres Vermögens wählen. Unter außergewöhnlichen Umständen können diese eigentlich ‚zurückzuwei‐ senden Dinge‘ in Übereinstimmung mit der Natur gewählt werden. Die κατορθώματα als sittlich richtige Handlungen zeichnen sich nun gegen‐ über den καθήκοντα als in einem nichtmoralischen Sinne naturgemäße Hand‐ lungen dadurch aus, dass sie nicht nur καθήκοντα sind, sondern darüber hinaus auch noch mit der richtigen Haltung - der der Tugend - ausgeführt werden. 323 Die κατορθώματα gehören folglich zur Gattung der καθήκοντα und bilden eine bestimmte Art innerhalb dieser Gattung von Handlungen, weshalb alle κατορθώματα καθήκοντα, nicht jedoch alle καθήκοντα κατορθώματα sind. 324 Dies zeigt auch die Bezeichnung der κατορθώματα als ‚vollendete καθήκοντα‘ 155 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 325 Vgl. Stob.Ec l. 2.85.13-86.4 = SVF 3.494; 2.86.10-16 = SVF 3.499; Cic.Fin. 3.58 = LS 59F = SVF 3.498. 326 Vgl. Stob.Ecl. 2.86 .10 f = S VF 3.499; siehe auch: Forschner ( 2 1995), 200. 327 Vgl. Stob.Ecl. 2 . 9 6.18-97. 14 = LS 59M = SVF 3.501f; Stob.E cl. 2. 99.3- 8 = LS 5 9N = SVF 1.21 6; für eine abweichen de Interpretation der Texte siehe: Gourinat (2014), 28f, der der Ansicht ist, dass der Nichtweise seine Handlungen zwar nicht gut ausführen könne und schlecht handle, die Handlungen dadurch jedoch nicht zu schlechten Handlungen werden. 328 Vgl. Forschner ( 2 19 95) , 197 f. 329 Vgl. Stob.Ecl. 2 . 9 9.3-8 = LS 59N = SVF 1.21 6; Cic.Fin. 4. 15 = S VF 3. 13; sie h e auch: SVF 3.557-566. 330 Vgl. S. E. M 11.200f = LS 59G = SVF 3.516. 331 Vgl. Cic.Fin. 3. 5 9 = L S 59F = SVF 3.498 ; Fin. 4.1 5 = SVF 3 .13; Off. 3. 1 4; Phil.Leg. 3.210 = SVF 3.512; si ehe auch: Sedley (1999), 133; Gourinat (2014), 27 f. (τέλεια καθήκοντα/ perfecta officia), während die καθήκοντα nur als ‚mittlere καθήκοντα‘ (μέσα καθήκοντα/ media officia) oder bloß als καθήκοντα bestimmt werden. 325 Es ist nun nicht so, dass die καθήκοντα eine dritte Klasse von Hand‐ lungen neben den sittlich richtigen (κατορθώματα) und den sittlich falschen Handlungen (ἁμαρτήματα) darstellen. Es ist vielmehr so, dass die καθήκοντα, wenn sie aus einer tugendhaften Haltung ausgeführt werden, κατορθώματα sind. Werden sie aus einer lasterhaften Haltung ausgeführt, sind sie - wie die naturwidrigen Handlungen (παρὰ τὸ καθήκον) 326 - ἁμαρτήματα. 327 Auch hier hält die Stoa an ihrer vollständigen Disjunktion von Tugend und Laster fest. 328 Da die κατορθώματα die Haltung der Tugend voraussetzen, können sie nur vom ‚stoischen Weisen‘ - einem vollendeten und vollkommen tugendhaften Men‐ schen - ausgeführt werden, 329 da nur er über das volle Verständnis aller guten Gründe verfügt, die für das Ausführen der Handlung sprechen. 330 Das Ausführen der καθήκοντα steht hingegen uns allen offen, die wir über dieses volle Ver‐ ständnis all unserer normativen Handlungsgründe nicht verfügen. 331 Um jedoch moralische Fortschritte auf unserem Weg hin zum Ziel der Selbstvervollkomm‐ nung zu machen, müssen wir auch unter wechselnden Umständen beständig die καθήκοντα erkennen und auch ausführen. Der Unterschied zwischen καθήκοντα und κατορθώματα besteht demzufolge ausschließlich in der Disposition, mit welcher der Akteur die Handlung aus‐ führt. Sie ist es, die über die sittliche Qualität einer Handlung entscheidet. Wäh‐ rend der naturgemäße bzw. naturwidrige Inhalt darüber entscheidet, ob eine Handlung in einem nichtmoralischen Sinne naturgemäß bzw. καθήκον oder na‐ turwidrig bzw. παρὰ τὸ καθήκον ist, bestimmt die Disposition des Akteurs - seine tugend- oder lasterhafte Haltung - die sittliche Qualität der Handlung als sittlich richtige bzw. κατόρθωμα oder sittlich falsche bzw. ἁμάρτημα. 332 κατορθώματα sind demnach καθήκοντα, die auf Basis von wahrem und be‐ 156 III. Die stoische Motivationstheorie 332 Vgl. Sen.Ep. 95. 43: Amico aliquis aegro adsidet: probamus. At hoc hereditatis causa facit: vultur est, cadaver expectat. Eadem aut turpia sunt aut honesta: refert quare aut quem‐ admodum fiant. Omnia autem honeste fient si honesto nos addixerimus idque unum in rebus humanis bonum iudicarimus quaeque ex eo sunt; cetera in diem bona sunt. 333 Frede (1999a), 89. 334 Zum Folgenden vgl. Klein (2015), 227-229. 335 Vgl. dazu die Aussagen von Long (1967), 89: „the obscure and paradoxical relation bet‐ ween happiness and τὰ κατὰ φύσιν which resulted from the indifferent status of the latter“; Nussbaum (1994), 360: „It is extremely difficult to tell exactly what worth (ἀξία) is, and how it is related to goodness (τὸ ἀγαθόν), which is consistently denied to all indifferents.“ ständigem Wissen (ἐπιστήμη) über die Ordnung des Kosmos und die Natur des Guten ausgeführt werden. Mit Blick auf die oben vorgenommene, extrem intel‐ lektualistische Bestimmung des Guten in der stoischen Ethik kann man daher sagen: „[W]hat confers goodness on what they [sc. die tugendhaften Akteure] do and makes them, their disposition, and their behaviour appropriate objects of this particular appreciation is not what they do, but the wisdom, the insight, the understanding, the circumspection, the thoughtfulness, the inventiveness which determine what they do and how they do it - in short, the perfection of reason behind their behavior.” 333 Nicht nur das Was, sondern primär das Wie verleihen einer Handlung sittliche Qualität. Wie können wir jedoch zunächst erkennen, ob eine Handlung in einer konkreten Situation καθῆκον ist? Hierzu müssen wir den Inhalt der Handlung und damit die stoische Lehre von den indifferenten Dingen betrachten. III.1. 2. 3. 1 Die Lehre von den indifferenten Dingen Wenn die Tugend, wie die Stoiker behaupten, das einzige Gut und allein hin‐ reichend für das Erlangen unseres Letztziels - der εὐδαιμονία - ist, von dem her alle unsere Handlungen mittels normativer Gründe gerechtfertigt werden können, welche Rolle können dann die indifferenten Dinge spielen, welche wir den Stoikern zufolge rationalerweise verfolgen müssen? 334 Welche Funktion haben sie für die Motivation des Akteurs und in seinen Überlegungen über das richtige bzw. zukommende Handeln? Die Lehre von der Tugend als dem einzigen Gut des Menschen, welches für seine εὐδαιμονία hinreichend ist, in Verbindung mit der Lehre von den indiffe‐ renten Dingen, welche, insofern sie einen Wert besitzen und zu den ‚vorzuzieh‐ enden Dingen‘ gehören, verfolgt werden sollen, hat immer wieder für Verwir‐ rung und Kritik an der stoischen Ethik insgesamt gesorgt. 335 Die antiken Kritiker der Stoa stellten die Stoiker vor ein Dilemma, welches sich aus ihrer Güterlehre und ihrem Verständnis der Tugend als τέχνη ergebe: 336 Wenn die Stoiker 157 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 336 Bei Cicero (Fin. 3. 22; 4.46-48) und Plutarch (Comm.not. 1070F-1072F) finden wir das Dilemma in folgender pointierter Form: Die Stoiker müssen zugestehen, dass entweder (a) das τέλος nicht das Ziel ist, auf welches hin alle rationalen Handlungen bezogen werden, oder (b) es de facto zwei Ziele gibt: die Tugend und die indifferenten Dinge. Siehe dazu auch: Alex.Mant. 159.15-168. 21. Die Formulierung des Dilemmas dürfte vermutlich auf Karneades zurückgehen. Es ist zumindest implizit in seiner polemischen Charakterisierung des stoischen τέλος und der Struktur der sog. Carneadea divisio enthalten, wie wir sie bei Cicero in Fin. 5.15-22 und Tusc. 5.84 f finden. Zur Carneadea divisio siehe: Algra (1997); Annas (2007a); zu Ciceros Verwendung Karneadeischer Ar‐ gumente siehe: Allen (1997); Schofield (2013). 337 Vgl. Plu.Comm.not. 1069E-1070A. 338 Vgl. Arist.EN I.6. 339 Alexander von Aphrodisias nimmt in seiner Kritik an der stoischen Position in Mant. 162.26-163. 4 an, dass die Stoiker eine solche Vollständigkeitsbedingung akzeptieren. Auch Cicero scheint sie in seiner Verteidigung der stoischen Position in Tusc. 5. 23 und seiner Kritik derselben in Fin. 4. 46 vorauszusetzen. glauben, dass die ‚vorzuziehenden Dinge‘ in irgendeiner Art und Weise für die Tugend notwendig sind, da sie das Material der Tugend bilden, 337 sollten sie zugestehen, dass es Güter sind und sie entweder konstitutiv für die Glückselig‐ keit sind oder zumindest instrumentell zum Erreichen dieser beitragen - d. h. sie sollten ihren Besitz in ihr Verständnis von εὐδαιμονία integrieren und eine gemischte Konzeption von εὐδαιμονία vertreten, welche die Tugend und die ‚vorzuziehenden Dinge‘ enthalte. Wenn sie jedoch sagen, dass die ‚vorzuzieh‐ enden Dinge‘ es verdienen, unabhängig von der εὐδαιμονία erstrebt zu werden, sollten sie zugestehen, dass die εὐδαιμονία nicht das einzige τέλος unseres Han‐ delns sei und die ‚vorzuziehenden Dinge‘ ein zweites praktisches τέλος konsti‐ tuierten. In beiden Fällen, wären die indifferenten Dinge nicht wirklich indiffe‐ rent. Da die Stoiker der Ansicht sind, dass die εὐδαιμονία im tugendhaften Leben besteht und dieses in keiner Weise von Dingen abhängt, die außerhalb der Kon‐ trolle des Akteurs liegen, können sie den ‚vorzuziehenden Dingen‘ allein schon deswegen keine konstitutive oder instrumentelle Funktion hinsichtlich der εὐδαιμονία zuweisen, weil ihr Erlangen und ihr Besitz stets auch von äußeren Faktoren abhängen. Folglich müssen sie die indifferenten Dinge von ihrer εὐδαιμονία-Konzeption ausschließen. Darüber hinaus stimmen sie auch mit Aristoteles darin überein, 338 dass die εὐδαιμονία autark und vollständig ist, wes‐ halb sie alle Ziele enthalte, welche ein Akteur rationalerweise verfolgen könne. 339 Die Stoiker stehen damit vor der Aufgabe zu erklären, wie Dinge, welche nichts zur εὐδαιμονία und zum tugendhaften Leben beitragen, es den‐ noch verdienen, verfolgt zu werden. 158 III. Die stoische Motivationstheorie 340 Zur Motivation sub specie bzw. sub ratione τοῦ καθήκοντου siehe: S. 199-203; zur Iden‐ tifikation der καθήκοντα siehe: S. 181-189. 341 Vgl. Taylor (1987), 238-240: „Choice is not rational in virtue of its form alone, but in virtue of its content, as being the kind of choice which may be expected best to promote the agent’s ends. […] The Stoics hold that the only good is rationality, defined as rati‐ onality in the choice of natural things, but rationality thus conceived requires that the natural things chosen are independently good, and are chosen because they are good.“; siehe auch Plu.Comm.not. 1072D: ἔπειτα, ὃ μεῖζόν ἐστι, τῷ μὲν δικαιοτάτῳ λόγῳ τὴν εὐλόγιστον ἐκλογὴν ἀγαθῶν ἔδει καὶ ὠφελίμων καὶ συνεργῶν πρὸς τὸ τέλος ἐκλογὴν εἶναι· τὸ γὰρ ἐκλέγεσθαι τὰ μήτε συμφέροντα μήτε τίμια μήθ᾿ ὅλως αἱρετὰ πῶς εὐλόγιστόν ἐστιν; ἔστω γάρ, ὡς αὐτοὶ λέγουσιν, εὐλόγιστος ἐκλογὴ τῶν ἀξίαν ἐχόντων πρὸς τὸ εὐδαιμονεῖν· ὅρα τοίνυν ὡς εἰς πάγκαλόν τι καὶ σεμνὸν αὐτοῖς ὁ λόγος ἐξήκει κεφάλαιον. ἔστι γάρ, ὡς ἔοικε, τέλος κατ᾿ αὐτὺς τὸ εὐλογιστεῖν ἐν τῇ ἐκλογῇ τῶν ἀξίαν ἐχόντων πρὸς τὸ εὐλογιστεῖν. Wenn rationales Handeln einem vernünftigen Ziel dient, stellt sich die Frage, wie die Stoiker behaupten können, dass es gute Gründe gebe, die indifferenten Dinge zu verfolgen, wo sie doch offenkundig keinem vernünftigen Ziel dienen. Diese Frage wird umso dringlicher, wenn man sich bewusst macht, dass sich die stoische Handlungsmotivation stets sub specie bzw. sub ratione τοῦ καθήκοντου, d. h. mit Bilck auf die ‚zukommende Handlung‘ vollzieht, zu deren Bestimmung die indifferenten Dinge herangezogen werden müssen. 340 Wenn also die indifferenten Dinge eine bedeutsame Rolle für eine zentrale Kategorie innerhalb der stoischen Motivationstheorie spielen, ist es von großer Bedeu‐ tung, zu einem genauen Verständnis der indifferenten Dinge innerhalb der stoi‐ schen Ethik zu gelangen. Der rationale Eudämonismus der Stoiker scheint die Identifikation von Tu‐ gend und εὐδαιμονία zu gefährden, denn es scheint, dass es, um der Tugend und dem tugendhaften Handeln einen Inhalt zu geben, außer der Tugend noch ein anderes Ziel rationalen Handelns geben müsse. 341 Dies würde allerdings die Aufgabe des rationalen Eudämonismus bedeuten. Wie lässt sich dieser jedoch bewahren und zugleich den indifferenten Dingen eine zentrale Rolle für unser Handeln einräumen, ohne sie zu Gütern zu erheben und in die εὐδαιμονία-Kon‐ zeption zu integrieren? In der jüngeren Forschungsliteratur wurden dafür im Wesentlichen drei Vor‐ schläge gemacht, die jedoch alle in unterschiedlicher Weise unbefriedigend bleiben: a) Die These von der Kommensurabilität b) Die These vom instrumentellen Wert c) Die These vom intrinsischen Wert 159 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 342 Cic.Fin. 3. 45 = SVF 3. 60: Ut enim obscuratur et offunditur luce solis lumen lucernae, et ut interit <in> magnitudine maris Aegaei stilla mellis, et ut in divitiis Croesi teruncii accessio et gradus unus in ea via, quae est hinc in Indiam, sic, cum sit is bonorum finis, quem Stoici dicunt, omnis ista rerum corporearum aestimatio splendore virtutis et magnitudine obs‐ curetur et obruatur atque intereat necesse est. 343 Vgl. Irwin (1986), 236-239. (1) Im Folgenden sollen diese drei Theorien zur Bestimmung des Verhältnisses der indifferenten Dinge zum Guten - der Tugend - kurz betrachtet und der Kritik unterzogen werden. Aus ihrem Scheitern können wertvolle Erkenntnisse da‐ rüber gewonnen werden, wie eine adäquate Theorie der indifferenten Dinge aussehen sollte. Die Entfaltung einer solchen Theorie soll im Anschluss an die Diskussion der drei Theoriemodelle unter Rückgriff auf Überlegungen Jacob Kleins unternommen werden. a) Die These von der Kommensurabilität Eine Möglichkeit, das Problem zu lösen, wie die indifferenten Dinge eine Rolle für unser Handeln spielen können, ohne dabei den rationalen Eudämonismus preiszugeben, besteht darin, anzunehmen, dass die ‚vorzuziehenden Dinge‘ auf dieselbe Weise einen Wert besitzen wie das Gute. Die Unterscheidung zwischen dem Wert des Guten und dem der ‚vorzuziehenden Dinge‘ wäre dann ein gra‐ dueller, kein kategorialer Unterschied. Eine Passage, die dieses Verständnis des Verhältnisses von den indifferenten Dingen zum Guten nahelegen könnte, findet sich bei Cicero: Wie nämlich das Licht des Leuchters durch das Licht der Sonne verdunkelt und ver‐ deckt wird, wie in der Weite des ägäischen Meeres ein Tropfen Honig untergeht und wie das Hinzutreten eines Viertelas zu den Reichtümern des Krösus und ein Schritt auf dem Weg von hier nach Indien untergehen, so muss dieser ganze Wert der kör‐ perlichen Dinge durch den Glanz und die Größe der Tugend verdunkelt und verdeckt werden und zugrunde gehen, da diese das höchste Gut der Stoiker ist. 342 Diese Vergleiche scheinen zu implizieren, dass die indifferenten Dinge, obschon ihr Wert im Vergleich zur Tugend verschwindend gering ist, und die Tugend auf derselben Skala gemessen werden können. Der Wert der indifferenten Dinge ist daher kommensurabel mit dem Wert des Guten, so dass die beiden miteinander verrechnet werden können. 343 Daraus ergeben sich zwei Optionen für das Ver‐ ständnis der ‚vorzuziehenden Dinge‘: Die ‚vorzuziehenden Dinge‘ sind bedingungslos gut und gelten als echte Güter, unabhängig von der Frage, ob sie mit der Tugend verknüpft sind oder nicht. Der Akteur profitiert zumindest in einem gewissen Maß vom 160 III. Die stoische Motivationstheorie 344 Diese Position wird mitunter Sokrates zugeschrieben: vgl. Vlastos (1991), 214-224; Ex‐ plizit finden wir diese Position in der Antike bei Antiochos von Askalon: vgl. Cic.Fin. 5. 71; zu Antiochos siehe: Dillon (1977), 52-106; Glucker (1978); Barnes (1989); Görler (1994), 938-980; Sedley (2012). 345 Vgl. Stob.Ecl. 2 . 98. 17 = SVF 3. 54; siehe auch Procl.Tim. 106F = SVF 3.252. 346 Vgl. Cic.Fin. 5. 8 3: In virtute enim sola et in ipso honesto cum sit bonum positum, cumque nec virtus, ut placet illis, nec honestum crescat, idque bonum solum sit, quo qui potiatur, necesse est beatus sit, cum id augeri non possit, in quo uno positum est beatum esse, qui potest esse quisquam alius alio beatior? (2) Besitz der ‚vorzuziehenden Dingen‘, da der tugendhafte Gebrauch dieser Güter keine Bedingung für den aus ihnen resultierenden Nutzen für den Akteur darstellt. Die ‚vorzuziehenden Dinge‘ gelten nur dann als Güter, wenn sie mit der Tugend des Akteurs verknüpft sind. Obwohl in diesem Fall die Tugend allein notwendig und hinreichend für die εὐδαιμονία des Akteurs ist, er‐ laubt die Tugend in Verbindung mit den ‚vorzuziehenden Dingen‘ ein hö‐ heres Maß an εὐδαιμονία. Eine tugendhafte Person lebt dann ein glück‐ licheres Leben, wenn sie im Besitz der ‚vorzuziehenden Dinge‘ ist als wenn sie diese nicht besitzt oder gar ihren Gegenteilen ausgesetzt ist. 344 Keine der beiden Optionen lässt sich jedoch mit dem Quellenbefund verein‐ baren. Wenn die indifferenten Dinge auf einer Skala mit dem Guten lägen - wenn auch nur unter der Bedingung, dass sie mit der Tugend verknüpft sind -, müssten die Stoiker das Gute als einen aggregativen Wert betrachten, so dass sie die Gutheit der Tugend in Verbindung mit den ‚vorzuziehenden Dingen‘ höher schätzen müssten als die Gutheit der Tugend allein. Dies kann jedoch nicht die stoische Position sein, da sie verneinen, dass es verschiedene Grade von Tugend und εὐδαιμονία gebe. Sie sind der Ansicht, dass kein tugendhafter Mensch mehr oder weniger tugendhaft ist als irgendein anderer; ebenso sei auch kein Mensch, der glücklich ist, mehr oder weniger glücklich als ein anderer. 345 Da Gutheit und Tugend für die Stoiker dieselbe Extension haben, lässt die Gut‐ heit der Tugend keine Graduierungen zu und kann folglich auf keine Weise vergrößert werden. 346 Daraus folgt, dass der Wert der ‚vorzuziehenden Dinge‘ nicht dem Wert der Tugend hinzugefügt werden kann: Weil nämlich der Wert (griechisch ἀξία) weder zu den Gütern noch zu den Übeln gezählt werden kann, wird er in seiner Gattung bleiben, ganz egal wie viel du ihm hinzufügst. Der der Tugend eigentümliche Wert ist also ein anderer: Sie hat Wert aufgrund ihrer Gattung, nicht durch Wachstum. 347 161 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 347 Cic.Fin. 3. 34 = LS 60D = SVF 3. 72: Νam cum aestimatio, quae ἀξία dicitur, neque in bonis numerata sit nec rursus in malis, quantumcumque eo addideris, in suo genere manebit. Αlia est igitur propria aestimatio virtutis, quae genere, non crescendo valet. 348 Vgl. Frede (1999a), 92: „But if things which have mere value are not desirable in them‐ selves, then the desire for them in a rational person can only be the desire for them as mere means to the good. This means that they are not desirable in their own right and independently of a desire for the good. They are not appropriate objects of choice except as means to the good.“ Zu dieser Position siehe auch: Lesses (1989). 349 Vgl. Lesses (1989), 106, der sich in seiner Argumentation im Wesentlichen auf die fol‐ genden beiden Textstellen stützt: 1) D. L. 7.105 = SVF 3.126: ἀξίαν δὲ τὴν μέν τινα λέγουσι σύμβλησιν πρὸς τὸν ὁμολογούμενον βίον, ἥτις ἐστὶ περὶ πᾶν ἀγαθόν· τὴν δὲ εἶναι μέσην τινὰ δύναμιν ἢ χρείαν συμβαλλομένην πρὸς τὸν κατὰ φύσιν βίον, ὅμοιον εἰπεῖν ἥτινα προσφέρεται πρὸς τὸν κατὰ φύσιν βίον πλοῦτος ἢ ὑγίεια. 2) Cic.Fin. 3. 20 = LS 59D = SVF 3.143: aestimabile esse dicunt - sic enim, ut opinor, appellemus - id quod aut ipsum secundum naturam sit aut tale quid efficiat, ut selectione dignum propterea sit, quod aliquod pondus habeat dignum aestimatione, quam illi ἀξία vocant, contraque inaestimabile quod sit superiori contrarium. 350 Vgl. D. L. 7.104 = LS 58B = SVF 3.119, wo die die indifferenten Dinge als τὰ μήτε πρὸς εὐδαιμονίαν μήτε πρὸς κακοδαιμονίαν συνεργοῦντα bestimmt werden; siehe auch: Stob.Ecl. 2. 85.8-11 = LS 58E = SVF 3.128; S. E. M 11. 61 = SVF 3.122. Ein bloß gradueller Unterschied von Tugend und ‚indifferenten Dingen‘ ist der stoischen Position also fremd. b) Die These vom instrumentellen Wert Eine weitere Antwort auf die Frage, welche Rolle die indifferenten Dinge für unser Handeln spielen, besteht darin, den ‚vorzuziehenden Dingen‘ einen in‐ strumentellen Wert zuzuschreiben. Die ‚vorzuziehenden Dinge‘ sind bloße Mittel für das Erlangen der Tugend. 348 So argumentiert Glenn Lesses dafür, dass die indifferenten Dinge bloße Mittel zum Erlangen der konstitutiven Elemente des Lebens in Übereinstimmung mit der Natur und damit kausale Mittel zum Erreichen des Guten seien. 349 Die Stärke dieser Interpretation liegt darin, dass sie erklären kann, warum der Wert der vorzuziehenden Dinge nicht mit der Gutheit der Tugend konfligieren kann. Wenn nämlich der Wert der indifferenten Dinge von ihrem instrumentellen Beitrag zur Erlangung der Tugend abhängt, dann kann es niemals vernünftig sein, die indifferenten Dinge auf Kosten der Tugend zu verfolgen. Die These vom instrumentellen Wert der indifferenten Dinge konfligiert je‐ doch mit einer anderen Behauptung der Stoiker, dass nämlich die εὐδαιμονία im Leben in Übereinstimmung mit der Natur bestehe - dass beide also identisch miteinander seien - und die indifferenten Dinge für die εὐδαιμονία nicht nötig seien. 350 Lesses hat diese Schwierigkeit erkannt und versucht daher zu zeigen, dass die Stoiker einen ‚subtileren und komplexeren Instrumentalismus‘ 351 ver‐ 162 III. Die stoische Motivationstheorie 351 Lesses (1989), 105: „a more subtle and complex instrumentalism“. 352 Vgl. Lesses (1989), 123: „The initial objects of desire have a complicated causal role in leading agents to make the ascent and to modify their beliefs about what is fully natural for them.“ Die indifferenten Dinge sind „means to the acquisition and ultimate exercise of ethical dispositions“ (122). „The preferred indifferents, then, have value because they help cause something else - namely, moral virtue - that is intrinsically in accord with nature“ (ebd.). 353 Vgl. Klein (2015), 244; dies wird in folgenden Textstellen deutlich: Cic.Fin. 3.20-22 = LS 59D = SVF 3.188; 3.497; 3. 56 = SVF 3.134; D. L. 7.105 = SVF 3.126; Stob.Ecl. 2. 83.10-84. 2 = LS 58D = SVF 3.124. 354 Vgl. Cic.Fin. 3.20-22 = LS 59D. treten haben, dem zufolge der Wert der indifferenten Dinge von ihrer kausalen Rolle in der Ausbildung der ethischen Dispositionen abhänge, in welchen die Tugend bestehe. 352 Allerdings macht Lesses nie ganz deutlich, wie dieser subti‐ lere und komplexere Instrumentalismus mit der expliziten Ablehnung einer kausalen, instrumentellen Rolle der indifferenten Dinge für das Erlangen der εὐδαιμονία seitens der Stoiker versöhnt werden kann. Entgegen Lesses Annahme bietet auch der Quellenbefund keine Grundlage für die These vom instrumentellen Wert der indifferenten Dinge für das Er‐ langen der Tugend. Die von ihm herangezogenen Passagen sprechen keines‐ wegs für eine Unterscheidung zwischen dem instrumentellen außermoralischen Wert der indifferenten Dinge und dem intrinsischen moralischen Wert der Güter, welche sie hervorbringen, sondern lediglich für eine Unterscheidung zwischen instrumentellem und intrinsischem außermoralischem Wert inner‐ halb der Klasse der ‚vorzuziehenden Dinge‘. 353 Die Stoiker betonen gerade den kategorialen Unterschied zwischen dem moralisch Guten, das um seiner selbst willen zu loben und zu erstreben ist (per se laudandum et expetendum), und den ‚vorzuziehenden Dingen‘, die entweder aufgrund ihres eigenen intrinsischen außermoralischen Werts (sumendum propter se) oder aber aufgrund ihres Nut‐ zens zu wählen (sumendum propter eius usum) sind. 354 Aufgrund dieses katego‐ rialen Unterschieds können die ‚vorzuziehenden Dinge’ daher keinen kausalen Beitrag zur Erlangung der Tugend leisten. Die Stoiker müssen ein anderes Ver‐ ständnis der indifferenten Dinge besessen haben, als die These vom instrumen‐ tellen Wert annimmt. c) Die These vom intrinsischen Wert Ein weiterer Versuch, das Problem zu lösen, wie die indifferenten Dinge eine Rolle für unser Handeln spielen können, ohne den rationalen Eudämonismus preiszugeben, besteht darin, zu behaupten, die ‚vorzuziehenden Dinge‘ instan‐ tiierten einen intrinsischen außermoralischen Wert, der von jeder Beziehung 163 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 355 Anthony Long und David Sedley scheinen in der Kommentierung ihrer Fragmentaus‐ gabe eine solche Position zu vertreten. Sie sprechen von ‚intrinsic differences of value‘ zwischen den naturgemäßen und den naturwidrigen indifferenten Dingen. Dabei cha‐ rakterisieren sie diese Unterschiede als ‚objective‘, ‚a feature of the world‘, beruhend auf der ‚natural preferability of health to sickness‘ und ‚intrinsic preferability‘ (vgl. LS 357-359); als weitere Vertreter der These vom intrinsischen Wert können gelten: Rist (1969), 11-14; Kidd (1971); Sandbach (1975), 28 f; Inwood (1985), 198 und 208-210; Long (1986), 71-94; Annas (1993), 171; Wolterstorff (2008), 163 Anm. 26. 356 Siehe dazu: Korsgaard (1983); Langton (2007). 357 Siehe dazu: Teil II. 358 Zur materialen Verbindung zwischen Werten und normativen Gründen, welche unsere Handlungen und Handlungsmotivationen rechtfertigen siehe: Scanlon (1998), 95: „to claim that something is valuable (or that it is ‘of value’) is to claim that others also have reason to value it, as you do“; Zur Beziehung von intrinsischem Wert und normativen Gründen siehe: Audi (2003); Darwall (2003); Crisp (2005); Wedgwood (2009). zur Tugend und zum moralisch Guten vollkommen unabhängig ist. 355 Der au‐ ßermoralische Wert der indifferenten Dinge ist dieser Position nach als ein un‐ bedingter, nicht-abgeleiteter zu verstehen, da er von keiner Beziehung zur Tu‐ gend des Akteurs abhängig ist. Die Stoiker vertreten den Anhängern der These vom intrinsischen Wert zufolge einen axiologischen Dualismus, wonach eine Art von Wert - nämlich moralische Gutheit (ἀγαθόν/ bonum) - notwendig und hinreichend für die εὐδαιμονία ist und ausschließlich zur Tugend bzw. zum tu‐ gendhaften Handeln gehört, während eine zweite Art von Wert - die außermo‐ ralische ἀξία/ aestimatio der ‚vorzuziehenden Dinge‘ - in den äußeren Objekten und Umständen gründet, welche die natürlichen Bedürfnisse der Menschen be‐ friedigen, deren Besitz jedoch zur εὐδαιμονία nichts beiträgt. Der Textbefund scheint diese Interpretation des Werts der ‚vorzuziehenden Dinge‘ zu stützen. Die Quellen schreiben den ‚vorzuziehenden Dingen‘ einen außermoralischen Wert (ἀξία/ aestimatio) zu und verknüpfen diesen mit dem Begriff der Naturge‐ mäßheit. Die Schwierigkeit dieser Interpretation besteht jedoch darin, den Be‐ griff des Werts so verständlich zu machen, dass sie nicht mit zentralen Lehren der stoischen Philosophie in Konflikt gerät. Gegenwärtige Theorien von intrinsischen Werten 356 sind eng verbunden mit Vorstellungen rationaler Rechtfertigung und normativen Handlungsgründen. 357 In der Regel analysieren solche Theorien Werte mit Hilfe normativer Gründe bzw. normative Gründe mit Hilfe von Werten. Eine solch enge Verbindung von normativen Gründen und Werten ist naheliegend. Warum sollten wir uns näm‐ lich um intrinsische Werte kümmern und welche praktische Relevanz könnten solche Wertzuschreibungen haben, wenn der Wert eines Gegenstandes oder Zustandes nicht mit einem normativen Grund verbunden wäre, der für das Ver‐ folgen des Gegenstandes oder die Beförderung des Zustandes spräche? 358 164 III. Die stoische Motivationstheorie 359 Vgl. Cic.Fin. 4. 23; 5. 22. 360 Zur Rekonstruktion der Irwinschen Interpretation siehe: Irwin (1986; 1998; 2007). Entsprechend dieser zeitgenössischen Überlegungen behaupten die Vertreter der These vom intrinsischen Wert der ‚vorzuziehenden Dinge‘, die Stoiker hätten die ‚vorzuziehenden Dinge‘ als rationale Strebensziele von eigenem Recht betrachtet, so dass sie eine Quelle normativer praktischer Gründe darstellten, welche es uns erlaube, unsere Handlungen und Handlungsmotivationen ohne Bezug auf das Gute zu rechtfertigen. Daraus folgt, dass der Wert des Naturge‐ mäßen und die normativen Gründe, welche wir haben, das Naturgemäße zu verfolgen, letztlich nicht vom Wert der εὐδαιμονία und der Tugend abhängen, auf welcher unsere εὐδαιμονία beruht. Der Bereich der rationalen Rechtferti‐ gung wird damit über den Bereich des menschlichen τέλος ausgedehnt, was letztlich auf eine Zurückweisung des rationalen Eudämonismus hinausläuft, wie er oben entfaltet wurde. Dieses Ergebnis allein ist freilich noch kein entscheid‐ ender Einwand gegen die These vom intrinsischen Wert. Schließlich könnten die Stoiker unabhängig davon gute Gründe gehabt haben, den rationalen Eu‐ dämonismus, wie er oben dargestellt wurde, zurückzuweisen oder zu modifi‐ zieren. Ein anderes Problem stellt allerdings die Tatsache dar, dass die aus der These vom intrinsischen Wert resultierende stoische Position genau den polemischen Charakterisierungen der stoischen Theorie seitens der skeptischen Akademie entspricht, welche die Stoiker beschuldigte, die ‚vorzuziehenden Dinge‘ als Güter unter anderem Namen zu behandeln. 359 Nimmt man nämlich an, dass die ‚vorzuziehenden Dinge‘ intrinsischen Wert besitzen und Strebensziele von ei‐ genem Recht darstellen, fällt es schwer auszumachen, wie sich die stoische Po‐ sition substantiell von der aristotelischen unterscheidet, welche sie als echte Güter betrachtet. Dieses Ergebnis passt allerdings schlecht zu unserem Zeugnis der antiken Quellen zur Stoa, und eine wohlwollendere Interpretation der stoi‐ schen Theorie wäre wünschenswert, da die These vom intrinsischen Wert der ‚vorzuziehenden Dinge‘ letztlich nur schwer mit den Anliegen zu vereinbaren ist, welche die Stoiker motiviert haben, die indifferenten Dinge vom menschli‐ chen τέλος auszuschließen. Terence Irwin gibt in seiner Entwicklung der These vom intrinsischen Wert der ‚vorzuziehenden Dinge‘ in der Tat den rationalen Eudämonismus in der Form auf, wie wir ihn oben verstanden haben. 360 So stellt Irwin fest, dass die Stoiker annähmen, „that value does not depend on relation to an end; it may also be conferred by relation to an objective; and the life according to nature is the objective that confers value on preferred indifferents“ 361 . Folglich könne ein 165 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 361 Irwin (1986), 235. Die Unterscheidung von ‚objective‘ und ‚end‘ stützt sich auf das Mo‐ dell einer stochastischen Kunst wie Medizin oder Bogenschießen und die Tatsache, dass die Stoiker die Tugend mit einer stochastischen Kunst verglichen hätten, was letztlich auf eine umstrittene Lesart von Cic.Fin. 3. 22 in Rieth (1934) zurückgeht; siehe dazu auch: Long (1967); Soreth (1968); Inwood (1986); Wolterstorff (2008); zur Kritik dieser Lesart siehe: Annas (1993), 400-404 und Klein (2014), der den Vergleich der Tugend mit einer stochastischen Kunst auf Karneades zurückführt und eine alternative Interpreta‐ tion von Cic.Fin 3. 22 vorlegt. 362 Vgl. Irwin (1986), 231. 363 Zur Kombination der sokratischen Position, dass die Tugend allein hinreichend für unsere εὐδαιμονία sei, und der aristotelischen Bestimmung der Extension der rationalen Strebensziele siehe: Irwin (1990). 364 Vgl. Plu.Stoic.rep. 1040C-E. rationaler Akteur eine Sorge um die indifferenten Dinge ausbilden, welche un‐ abhängig von seiner Sorge um die Tugend ist. 362 Die Stoiker wären demnach zum einen der Ansicht, dass die Tugend allein hinreichend für unsere εὐδαιμονία sei, zum anderen, dass die ‚vorzuziehenden Dinge‘ eine Art von int‐ rinsischem Wert instantiierten, der eigenes, unabhängiges rationales Gewicht besitzt. Sie tragen nämlich zu einem Leben in Übereinstimmung mit der Natur bei, und dies gibt rationalen Akteuren nicht-eudämonistische Gründe, sie zu verfolgen. 363 Wie bereits dargelegt wurde, finden sich in den stoischen Quellen zahlreiche Belege für die sokratische Position, dass die Tugend allein hinreichend für un‐ sere εὐδαιμονία sei. Doch dürften die Stoiker nur schwerlich auch die zweite, aristotelische These vertreten haben, der zufolge die ‚vorzuziehenden Dinge‘ eine Art intrinsischen Wert instantiierten, welcher sie zu Strebenszielen eigenen Rechts mache und den Handelnden nicht-eudämonistische Gründe gebe, sie zu verfolgen. Schließlich war es ein wesentliches Motiv dafür, die ‚vorzuziehenden Dinge‘ vom menschlichen τέλος auszuschließen, dass Gerechtigkeit und damit die Tugend nicht sichergestellt werden kann, wenn die ‚vorzuziehenden Dinge‘ als Bestandteile des menschlichen τέλος behandelt würden. 364 Besäßen die vor‐ zuziehenden Dinge jedoch intrinsischen Wert, stünde man demselben Problem gegenüber. Denn durch den Ausschluss der indifferenten Dinge vom mensch‐ lichen τέλος bildeten die ‚vorzuziehenden Dinge‘ der These vom intrinsischen Wert zufolge ein rationales Strebensziel von eigenem Recht, was den Bereich rationaler Handlungen über die εὐδαιμονία hinaus ausdehnte. Dies eröffnet je‐ doch die Möglichkeit des Konflikts zwischen eudämonistischen und nichteu‐ dämonistischen Handlungsgründen. Die praktische Vernunft besitzt hier eine zweigeteilte Struktur. Es existieren sowohl eudämonistische als auch nichteu‐ dämonistische Gründe zur Rechtfertigung unserer Handlungen und Handlungs‐ 166 III. Die stoische Motivationstheorie 365 Vgl. Irwin (1986), 216: „A Stoic critic might argue that once we allow external advantages to count against virtue, we cannot plausibly maintain that they never dominate over virtue.“ 366 Vgl. White (2010), 112 Anm. 3: „Value is primarily an attribute of types, and in some situations, tokens of a preferred type (healthy meals), while still ‘worth getting’ (ληπτά), are not ‘to be gotten’ (ληπτέα), and conversely for dispreferreds; accordingly, our sources report token-variability in duties ‘according to circumstance’, but no cor‐ responding variability in value by circumstance, no circumstantial preferreds and dis‐ preferreds.“ Siehe dazu auch: Brennan (1996), 332 f. Dass der Wert der indifferenten Dinge mit den Umständen variiert, scheint die heterodoxe Position Aristons von Chios gewesen zu sein: S. E. M 11.64-67 = LS 58F = SVF 1.361; vgl. auch: Ioppolo (1980), bes. motivationen, die nicht immer schon in einer prästabilierten Harmonie zuei‐ nanderstehen und damit Gefahr laufen, miteinander zu konfligieren. Wenn die ‚vorzuziehenden Dinge‘ unabhängig von ihrem Beitrag zum Guten rationales Gewicht besitzen, scheint der bloße Ausschluss der indifferenten Dinge vom menschlichen τέλος nicht hinreichend zu sein, um zu zeigen, dass es niemals rational sei, die ‚vorzuziehenden Dinge‘ auf moralisch verwerfliche Weise zu erlangen. Der Ausschluss zeigt lediglich, dass nicht alles, was wir ver‐ nünftigerweise verfolgen, konstitutiv oder auf instrumentelle Weise zum menschlichen τέλος gehört. Die Stoiker könnten freilich einfach behaupten, dass die Gutheit der Tugend niemals durch den Wert der anderen rationalen Strebensziele überwogen werden könne; doch wäre dies nicht mehr als eine bloße Behauptung, welche zudem, wie noch deutlich werden wird, nicht recht zu den antiken Zeugnissen passt. 365 Eine mögliche Lösung des formulierten Problems könnte darin liegen, die Verbindung zwischen intrinsischem Wert und ‚vorzuziehenden Dingen‘ zu wahren, aber anzunehmen, der Status, ein ‚vorzuziehendes Ding‘ bestehe nur solange, als der jeweilige Gegenstand der Wahl nicht mit der Tugend konfligiere. Sobald es einen Konflikt zwischen der Tugend und dem Objekt unserer Wahl gebe, verliere dieses seinen Status als ‚vorzuziehendes Ding‘ und damit seinen intrinsischen Wert, wodurch der Konflikt aufgelöst werde. Der Status des ‚vor‐ zuziehenden Dinges‘ wäre damit von den Erfordernissen der Tugend in der je‐ weiligen Situation abhängig, so dass die auf dem Wert der indifferenten Dinge basierende Wahl letztlich immer mit der Motivation des Tugendhaften zusam‐ menfallen würde. Dieses Modell steht jedoch mindestens zwei schwerwiegenden Problemen gegenüber. Zum einen ist es nicht mit dem Quellenbefund vereinbar. Es exis‐ tieren zwar die sog. ‚von Umständen abhängigen zukommenden Handlungen‘ (καθήκοντα περιστατικά), doch gibt es keine ‚korrespondierende Variabilität‘ hinsichtlich der ‚vorzuziehenden‘ und ‚zurückzuweisenden Dinge‘. 366 Gesund‐ 167 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 149-154 und 188-207; Chrysipps Kritik an Ariston dürfte sich bei Plutarch finden: Plu.Comm.not. 1069E = SVF 3.491; vgl. auch: Cic.Fin. 4.70 f. 367 Siehe dazu das Beispiel des stoischen Weisen, der mit Blick auf die ihn künftig erwar‐ tenden indifferenten Dinge entscheidet, aus dem Leben zu scheiden oder nicht: Cic.Fin. 3. 60 = LS 66G = SVF 3.767; Plu.Stoic.rep. 1042D = SVF 3.759; vgl. dazu auch: Cooper (1989 [1999]). 368 Vgl. LS 358 f; Annas (19 93), 121 und 170-172 ist der Ansicht, dass die Gründe, welche aus der Gutheit der Tugend entsprängen, die Gründe, welche sich aus unserer Sorge um den Wert der indifferenten Dinge ergäben, überwögen bzw. zum Schweigen brächten. Irwin (2007), 333 weist die ἀξία nur denjenigen indifferenten Dingen zu, welche zu wählen von uns die Tugend ohnehin verlange, so dass der Wert der indiffe‐ renten Dinge niemals mit der tugendhaften Handlung konfligieren kann: „We can now understand why the Stoics claim that virtue alone has the same selective value as virtue plus indifferents. For the purposes of selection the two states of affairs are equivalent; for in selecting the fully virtuous action we necessarily select the appropriate preferred indifferents, and hence we could never select virtuous action that does not aim at pre‐ ferred indifferents. Hence, from the forward-looking point of view of the agent selec‐ ting, any selection of virtuous action is necessarily a selection of appropriate preferred indifferents, and so includes the selective value of this latter selection“ (ebd.). (Proble‐ matisch an dieser Charakterisierung der stoischen Position ist allerdings, dass die Sto‐ iker der Tugend keinen ‚selective value‘ [ἀξία] zuschreiben und auch die tugendhafte Handlung nicht zum Gegenstand der Wahl [ἐκλογή] machen. Darüber hinaus scheint Irwins Modell zu verlangen, dass der Wert der verschiedenen indifferenten Dinge von den Forderungen der Tugend abhängig ist, so dass er je nach den Forderungen der Tugend vorhanden ist bzw. verschwindet, wodurch unsere auf dem Wert der indiffe‐ heit als ‚vorzuziehendes Ding‘ behält demnach seinen Status als ‚vorzuziehendes Ding‘ auch unter Umständen, in welchen die Tugend von mir verlangt, sie zu opfern. Zum anderen muss der Status der ‚vorzuziehenden‘ und ‚zurückzuwei‐ senden indifferenten Dinge‘ unabhängig von jeder Bezugnahme auf die Tugend festgesetzt werden, wenn die indifferenten Dinge die Rolle in unserer Delibe‐ ration spielen sollen, welche ihnen die Stoiker zuweisen. So sind unsere Urteile über ‚zukommende Handlungen‘ durch den Verweis auf ‚vorzuziehende‘ bzw. ‚zurückzuweisende Dinge‘ gerechtfertigt. 367 Wie sollten die indifferenten Dinge diese Rolle spielen, wenn ihr Status als ‚vorzuziehende‘ bzw. ‚zurückzuweisende Dinge‘ nicht ohne Bezugnahme auf die situativ ‚zukommende Handlung‘ fest‐ gesetzt wäre? Alternativ könnten die Stoiker auch behaupten, dass zwar der Status der ‚vorzuziehenden‘ und ‚zurückzuweisenden Dinge‘ festgesetzt sei, doch die ‚vor‐ zuziehenden‘ bzw. ‚zurückzuweisenden Dinge‘ ihre rationale Kraft nur dann entfalteten, wenn es keinen Konflikt mit der Tugend gebe. In diesem Fall bliebe der Status der ‚vorzuziehenden Dinge‘ stets derselbe, aber die Gründe, die mit dem Wert (ἀξία/ aestimatio) der ‚vorzuziehenden Dinge‘ verbunden sind, könnten je nach Umständen variieren. 368 So würde sichergestellt, dass es, ob‐ 168 III. Die stoische Motivationstheorie renten Dinge basierende Wahl konstant mit der tugendhaften Motivation und Hand‐ lung zusammenfällt. Man kann jedoch nicht zugleich annehmen, dass die ‚vorzuzieh‐ enden Dinge‘ ihren Wert unabhängig von der Tugend besitzen und dass der Wert nur den indifferenten Dingen zukommt, die der Tugendhafte wählen würde.) Brennan (2003, 271; 2005, 101) spricht dagegen von einer Art ‚planning-value‘ - seine Überset‐ zung von ἀξία -, welcher nur in der prospektiven Deliberation des Akteurs eine Rolle spielt, jedoch verschwindet, sobald die Zukunft zur Gegenwart wird. Cooper (2012), 189 f argumentiert dafür, dass die Stoiker jede sich bietende künftige Gelegenheit nutzen werden, die ‚vorzuziehenden Dinge‘ zu erlangen, jedoch nicht betrübt sein werden, wenn ihre Anstrengungen scheitern. Mit einem ähnlichen Gedanken spricht Vogt (2014) davon, dieselben Dinge ernst und nicht ernst zu nehmen. 369 Vgl. Annas (1993), 121 und 170-172. 370 Vgl. Irwin (2007), 333. 371 Vgl. Brennan (2003, 271; 2005, 101). 372 Vgl. Cooper (2012), 189 f; Vogt (2014). 373 Je nachdem, ob man Gründe oder Werte als die primitive normative Kategorie be‐ trachtet. schon die ‚vorzuziehenden Dinge‘ ihren Status behielten, stets vernünftig sei, die tugendhafte Handlung auszuführen. Dem Wert der indifferenten Dinge werden dann bisweilen mysteriöse Eigenschaften zugeschrieben, wodurch er unter bestimmten Umständen verschwinde 369 oder zufällig stets mit der von der Tugend geforderten Handlung koinzidiere 370 . Bisweilen wird auf seiten des Ak‐ teurs eine Art rationale Ambivalenz angenommen, so dass er unterschiedliche prospektive und retrospektive Haltungen den indifferenten Dingen gegenüber einnehmen 371 oder zugleich geteilter Meinung hinsichtlich der indifferenten Dinge sein müsse 372 . Beide Strategien sind sich jedoch darin einig, dass zwei voneinander unabhängige Wertordnungen existierten, die beide für sich ge‐ nommen in der Lage seien, unsere Handlungen und Handlungsmotivationen zu rechtfertigen, deren Beziehung zueinander jedoch höchst mysteriös bleibt: An sich seien die ‚vorzuziehenden Dinge‘ wertvoll; aber sobald sie mit der Tugend konfligierten, verschwinde ihre rationale Kraft. Dieser Versuch der Erklärung der stoischen Position hat allerdings zur Folge, dass der Begriff des intrinsischen Werts vollkommen unklar wird. Gemäß dem in der gegenwärtigen Diskussion anzutreffenden Verständnis von intrinsischem Wert hängt das normative Gewicht bzw. der ontologische Status eines solchen Werts, der die Basis für bzw. das Resultat von 373 normativen Handlungsgründen ist, nicht von seiner zeitlichen Beziehung zum Akteur ab. Der Wert superveniert vielmehr auf natürlichen, objektiven Eigenschaften der Welt und rechtfertigt unsere Sorge um diese Eigenschaften nicht nur prospektiv, sondern gleicher‐ maßen auch retrospektiv. Wenn wir also den ‚vorzuziehenden Dingen‘ einen unabhängigen Wert zuschreiben, wie es die These vom intrinsischen Wert ver‐ 169 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 374 Vgl. Klein (2015), 258 f. 375 Vgl. Klein (2015), 259. 376 Vgl. ebd. (1) (2) langt, dann ist es nicht plausibel anzunehmen, dass ein solcher Wert in Kon‐ fliktfällen mit anderen praktischen Zielen einfach verschwindet. Man kann je‐ doch die Möglichkeit des Konflikts zwischen zwei rationalen Strebenszielen auch nicht dadurch ausschließen, dass man behauptet, der intrinsische Wert der ‚vorzuziehenden Dinge‘ und die mit ihm verbundenen Handlungsgründe könnten niemals die Gutheit der Tugend und die aus ihr entspringenden nor‐ mativen Gründe überwiegen. Eine solche Behauptung wäre ad hoc, und die Möglichkeit des Konflikts würde durch ein fiat anstelle eines Arguments besei‐ tigt. Dies spricht gegen ein Verständnis der indifferenten Dinge i.S. der These vom intrinsischen Wert. Zudem ist dieses Verständnis der indifferenten Dinge mit dem Bekenntnis der Stoiker zum rationalen Eudämonismus unvereinbar, welcher die rationale Rechtfertigbarkeit von Handlungen und Handlungsmoti‐ vationen auf ihren Beitrag zur εὐδαιμονία des Akteurs und damit auf die Tugend einschränkt. Es ist daher nach einem anderen Verständnis der indifferenten Dinge zu suchen. d) Indifferente Dinge als Quelle epistemischer Gründe Wie aus den vorhergehenden Überlegungen deutlich wird, gibt der Quellenbe‐ fund zwei Bedingungen vor, die jede adäquate Interpretation der stoischen Lehre von den indifferenten Dingen zu erfüllen hat: 374 Es besteht eine enge Verbindung zwischen den ‚zukommenden Hand‐ lungen‘ und dem Wert der indifferenten Dinge. Der Wert der indifferenten Dinge ist schlicht inkommensurabel mit der Gutheit der Tugend. Bei der Erfüllung dieser beiden Bedingungen sollte eine adäquate Interpretation zugleich auch erklären, warum die indifferenten Dinge, obschon ihr Status als ‚vorzuziehende‘ bzw. ‚zurückzuweisende Dinge‘ die Deliberation des rationalen Akteurs leiten kann, dennoch selbst keine von der Tugend und der εὐδαιμονία unabhängige Quelle normativer Handlungsgründe sind - diese Motivation liegt der stoischen Identifikation der εὐδαιμονία mit der Tugend und dem Ausschluss der indifferenten Dinge von der εὐδαιμονία zugrunde. 375 Des Weiteren sollte die Interpretation, auch die Annahme vermeiden, die ‚vorzuziehenden Dinge‘ leis‐ teten in irgendeiner Art und Weise einen Beitrag zur Erlangung der Tugend und εὐδαιμονία, während die ‚zurückzuweisenden Dinge‘ dies beeinträchtigten. 376 170 III. Die stoische Motivationstheorie 377 Vgl. Klein (2015), 258-277. 378 Vgl. Klein (2015), 259. 379 So Tad Brennans Interpretationsvorschlag im Anschluss an Klein in: Brennan (2014), 43. 380 Vgl. Brennan (2014), 43. 381 Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass es bestimmte ‚vorzuziehende Dinge‘ gebe, welche sich diesem Verständnis der ‚indifferenten Dinge‘ entzögen, da sie nicht zum Gegenstand der Wahl gemacht werden könnten - z. B. εὐγένεια (gute Abkunft) und εὐφυΐα (gute Anlage). Hiergegen ist jedoch zum einen anzuführen, dass man für seine eigenen Kinder durchaus εὐγένεια wählen kann, indem man den richtigen Partner wählt. Andererseits heißt es bei Stob.Ecl. 2.107.14-108. 4 = SVF 3.366, dass εὐφυΐα und εὐγένεια durch Lernen (μελέτη) und Bildung (κατασκευή) hervorgebracht werden können. Eine gute Anlage bzw. eine gute Abkunft sind dann - wie so oft von der Stoa uminterpretiert - Zustände des Charakters, die einen für den Erwerb der Tugend ge‐ eignet machen. Dies zählt, insofern es nur eine Anlage zur Tugend und nicht die Tugend selbst ist, zu den indifferenten Dingen und damit zu etwas, was man durchaus wählen und verfolgen kann (vgl. Brennan [2014], 43 Anm. 7); siehe dazu auch: Tieleman (1996), 230-233, der aufzeigt, dass Chrysipp eine streng moralische Bedeutung von εὐγένεια verteidigte. Eine mögliche Lösung des Problems, wie ein Gegenstand oder Zustand, der selbst weder ein praktisches Strebensziel eigenen Rechts ist, noch ein instru‐ mentelles Mittel darstellt, um ein solches zu erreichen, dennoch die Handlungen und Handlungsmotivationen eines rationalen Akteurs leiten kann, hat Jacob Klein vorgelegt: Klein zufolge geben die ‚vorzuziehenden Dinge‘ einem Akteur epistemische Gründe dafür zu glauben, dass eine Handlung zum Erreichen eines bestimmten Strebensziels führt, dessen Wert die Grundlage für die rationale Rechtfertigung der Handlung bildet. 377 Der Wert der indifferenten Dinge stellt demnach keine eigenständige Quelle der rationalen Rechtfertigung unserer Handlungen mittels normativer Handlungsgründe dar, sondern bildet vielmehr die Quelle bestimmter Überlegungen, welche uns als rationale Akteure in un‐ serem Handeln hinsichtlich eines von ihm verschiedenen rationalen Strebens‐ ziels leiten, das dann die Grundlage für die rationale Rechtfertigung unserer Handlungen bildet. 378 Die indifferenten Dinge haben also einen semiotischen Wert  379 , so dass sie einem Akteur in seiner Deliberation über die richtige Hand‐ lungsweise Zeichen und Hinweise geben, welches für gewöhnlich die Handlung in Übereinstimmung mit der Natur und damit die ihm ‚zukommende Handlung‘ ist. 380 Auf diese Weise spielen die indifferenten Dinge eine wichtige Rolle in seinem Handeln - sie rechtfertigen seine Überzeugungen über die ‚zukomm‐ enden Handlungen‘ -, ohne jedoch selbst eine unabhängige Quelle normativer Handlungsgründe zu bilden und damit die eudämonistische Struktur der stoi‐ schen Ethik in Frage zu stellen. 381 171 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 382 Epict.Diss. 2. 6. 9 = LS 58J = SVF 3.191: διὰ τοῦτο καλῶς ὁ Χρύσιππος λέγει ὅτι μέχρις ἂν ἄδηλά μοι ᾖ τὰ ἑξῆς, ἀεὶ τῶν εὐφυεστέρων ἔχομαι πρὸς τὸ τυγχάνειν τῶν κατὰ φύσιν· αὐτὸς γάρ μʼ ὁ θεὸς ἐποίησεν τούτων ἐκλεκτικόν. εἰ δέ γε ᾔδειν ὅτι νοσεῖν μοι καθείμαρτει νῦν, καὶ ὥρμων ἂν ἐπʼ αὐτό. καὶ γὰρ ὁ πούς, εἰ φρένας εἶχεν, ὥρμα ἂν ἐπὶ τὸ πηλοῦσθαι. 383 Vgl. zu dieser Interpretation: Klein (2015), 267 f. Diese Rolle der indifferenten Dinge in der rationalen Deliberation des Akteurs scheint durch eine Passage bei Epiktet belegt zu werden, in welcher er die Po‐ sition Chrysipps referiert: Deshalb hatte Chrysipp recht als er sagte: „Solange das Zukünftige mir verborgen ist, werde ich mich immer an das halten, was besser geeignet ist, um das zu bekommen, was der Natur entspricht; denn Gott selbst hat mich so gemacht, dass ich disponiert bin, diese Dinge zu wählen. Aber wenn ich wirklich wüsste, dass es mir vom Schicksal bestimmt war, jetzt krank zu sein, dann hätte ich auch einen Antrieb, krank zu sein. Auch mein Fuß hätte ja, wenn er Einsicht besäße, einen Antrieb, schmutzig zu werden. 382 (Übers. Hülser) Chrysipp spricht in dieser Passage davon, welche Rolle die ‚vorzuziehenden Dinge‘ - d. i. was der Natur entspricht - unter den Bedingungen epistemischer Beschränktheit in der Deliberation eines Akteurs über die ‚zukommenden Handlungen‘ spielen. Solange er nicht wissen kann, was das Schicksal für ihn bestimmt hat, sollte er sich an die ‚vorzuziehenden Dinge‘ halten, da Gott ihn in seiner Fürsorge für den Kosmos so geschaffen hat, dass er natürlicherweise dazu geneigt ist, diese Dinge zu verfolgen, und sie aufgrund des fürsorglichen und rationalen Wesens Gottes im Normalfall zur ‚zukommenden Handlung‘ führen. Der Wert der ‚vorzuziehenden Dinge‘ gibt ihm also gute Gründe zu glauben, dass die Handlung, welche auf ihr Erreichen zielt, die in der jeweiligen Situation ‚zukommende Handlung‘ ist. Solange wir also nicht mehr darüber wissen, was die kosmische Natur für uns intendiert hat, werden wir diese Dinge verfolgen. Sollte jedoch unsere Situation der epistemischen Beschränktheit durch zusätzliches Wissen aufgehoben oder zumindest abgemildert werden, ist es möglich, dass wir aufhören, die ‚vorzuziehenden Dinge‘ zu verfolgen, und stattdessen die ‚zurückzuweisenden Dinge‘ wählen, weil es die Natur des Kosmos so für uns bestimmt hat. 383 Die Stoiker scheinen also zwischen der Basis zur Rechtfertigung unserer Hand‐ lungen und dem Grund unserer gerechtfertigten Überzeugung, dass eine Handlung ‚zukommend‘ ist, unterschieden zu haben. Der Wert der ‚vorzuziehenden Dinge‘ diente demnach als ein pro tanto Indikator dafür, dass eine bestimmte Handlung in Übereinstimmung mit der Natur und damit eine ‚zukommende Handlung‘ 172 III. Die stoische Motivationstheorie 384 ‚Zurückzuweisende Dinge‘ sind freilich gleichermaßen informative pro tanto Indika‐ toren dafür, dass eine Handlung im Widerspruch zur Natur steht und damit παρὰ τὸ καθῆκον ist. 385 Vgl. Klein (2015), 266. 386 Vgl. Klein (2015), 262. 387 Vgl. Cic.Fin . 4. 4 7: […] cum ad beatam vitam nullum momen tum cetera haberent , ad appetitionem tamen rerum esse i n iis momenta diceret. 388 Vgl. Klein (2015), 262; siehe dazu auch: Frede (1999a); Cooper (2012), 166-184. (καθῆκον) sei. 384 Das Ergebnis einer Handlung stellt demnach für die Stoiker eine wesentliche Überlegung innerhalb der Deliberation des rationalen Akteurs hinsichtlich der Frage dar, welche Handlung er ausführen soll. Es spielt diese deliberative Rolle aufgrund der der epistemischen Position des Akteurs stets inhärenten Beschränkungen. Das intendierte Ergebnis stellt jedoch selbst keinen normativen Handlungsgrund dar, der für das Ausführen der entsprech‐ enden Handlung spricht, sondern gibt dem Akteur nur einen normativen Grund zu glauben, dass die Handlung die ‚zukommende Handlung‘ ist und damit eine Forderung erfüllt, welche auf einem weiteren Strebensziel beruht. ‚Vorzuzie‐ hende‘ und ‚zurückzuweisende Dinge‘ geben uns also Gründe für Überzeu‐ gungen hinsichtlich des Inhalts unserer Pflichten - d. h. epistemische Gründe -, die Pflichten selbst jedoch werden von einer anderen Basis aus gerechtfertigt - nämlich der der Tugend und εὐδαιμονία. 385 Diese Überlegungen zeigen, dass sich die Analyse der rationalen Motivation eines Akteurs in diesem Modell substantiell von den oben betrachteten Theorien unterscheidet und die Charakteristika der stoischen Lehre von den indifferenten Dingen gut integriert. Insbesondere vermag diese Analyse zu erklären, warum indifferente Dinge die Motivation des Akteurs leiten und strukturieren können, ohne sie zugleich auch zu rechtfertigen. 386 Die indifferenten Dinge haben zwar keine Bedeutung für unsere εὐδαιμονία, beeinflussen aber dennoch unser Streben. 387 Gutheit kommt der rationalen Ordnung zu, wie sie im Kosmos sowie in der Weisheit und in den Tätigkeiten, in denen sie ihren Ausdruck findet, instantiiert ist. Obwohl sie kein spezifisches Ziel sein kann, welches unsere Handlungen leitet, kann sie dennoch zu den inneren Eigenschaften einer rati‐ onalen Handlung gehören, wie man auch anhand der in Zeusʼ Schöpfungshan‐ deln realisierten Strukturen erkennen kann. 388 Um in Übereinstimmung mit der Natur zu leben, wie es die Tugend von uns verlangt, müssen wir die ὁμολογία bzw. Harmonie mit Zeusʼ eigenen Zielen bewahren. Eine solche Harmonie ist für die Stoiker eine rein kognitive Angelegenheit, da die Tugend allein von einem epistemischen Erfassen der teleologischen Struktur der Natur und der Normen abhängt, die das soziale Zusammenleben der Menschen bestimmen. 389 Doch ist, wie bereits oben bei der Diskussion des für den Weisen nötigen na‐ 173 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 389 Vgl. Stob.Ecl. 2.58.5 -62.14; siehe dazu auch oben S. 145-151 und Cooper (2012), 166-184; Klein (2015), 263 f. 390 Vgl. Stob.Ec l. 2 . 67.13-16 = SVF 3.654: μόνον δέ φ ασι τὸν σ οφὸν καὶ μάντιν ἀγα θὸν εἶναι καὶ ποιητὴν καὶ ῥήτορα καὶ διαλεκτικὸν καὶ κριτικόν, οὐ πάντα δέ, διὰ τὸ προσ δεῖσθαι ἔτ ι τινὰ τούτων καὶ θεωρημάτων τινῶν ἀναλήψεως; Sen.Ep. 88.33-45; 109. 3: semper enim etiam sapienti restabit, quod inveniat et quo animus eius excurrat; 109. 5: non enim omnia sapiens scit; siehe auch: Kerferd (1978); Striker (1989), 98; Menn (1995), 29 Anm. 35; Frede (1996), 16f; Vogt (2008), 117.120-126; Brouwer (2014), 33; ent‐ gegen dieser Textzeugnisse interpretieren Christensen (1962), 82; Mackenzie (1988), 348-352 und Liu (2008), 248 das Wissen des Weisen als Allwissenheit. 391 Vgl. Frede (1996), 16 f. 392 Vgl. D. L. 7. 47 = LS 31B = SVF 1. 68; Stob.Ecl. 2. 73.19-74. 1 = LS 41H = SVF 1. 68; S. E. M 7.151 = LS 41C = SVF 1. 68; [Gal.]Def.med. 7 = SVF 2. 93; Phil.Congr. 101. 5 = SVF 2. 95. 393 D. L. 7. 88 = LS 63C = SVF 3. 4. 394 D. L. 7.87 = LS 63C = SV F 3 .4; s iehe auch: Stob.Ecl. 2.76.8 = SVF 3.12. 395 Cic.Fin . 3. 31 = LS 64A = SV F 3. 15. 396 Vgl. Brennan (2014), 60 Anm. 43; Klein (2015), 264f. Zum Gedanken der ὁμοίωσις θεῷ (vgl. S. 106 f Anm. 82 ) in diesen τέλος-Formeln und zur nur teilweisen Erreichbarkeit dieses Ideals siehe: Inwood (1985), 119; Cooper (2012), 166-183. turphilosophischen Wissens deutlich wurde, selbst ein Weiser, der diesen aus‐ gezeichneten kognitiven Zustand erreicht, nicht allwissend. 390 Er verkörpert vielmehr ein epistemisches Ideal, welches Michael Frede als „perfect rationality under partial ignorance“ 391 charakterisiert hat. Der Weise hat keine falschen Überzeugungen und sein begrenzter Wissensbestand zeichnet sich durch Fes‐ tigkeit und Stabilität aus. 392 Chrysipps Bestimmung des menschlichen τέλος scheint dieser Limitiertheit des Wissens selbst im Falle des Weisen Rechnung zu tragen, wenn sie das τέλος nicht einfach mit dem ὀρθὸς λόγος identifiziert, sondern darüber hinaus sagt, dass es darin bestehe, das zu vermeiden, was gewöhnlich (εἴωθεν) durch ihn verboten werde (οὐδὲν ἐνεργοῦντας ὧν ἀπαγορεύειν εἴωθεν). 393 Auch die zweite Bestimmung des τέλος, welche oben bereits betrachtet wurde, enthält ein epis‐ temisches Element: „das Leben gemäß der Erfahrung dessen, was durch die Natur geschieht“ (κατʼ ἐμπειρίαν τῶν φύσει συμβαινόντων ζῆν). 394 Ein solches lässt sich auch in einer Formulierung des stoischen τέλος bei Cicero nachweisen: „das Wissen über die Dinge, die durch die Natur geschehen, anwendend leben“ (vivere scientiam adhibentem earum rerum quae natura eveniant). 395 Diese epis‐ temischen Qualifizierungen des menschlichen τέλος dürften wohl dazu gedient haben, das für ein begrenztes epistemisches Wesen unmögliche Ideal der voll‐ kommenen Übereinstimmung mit Zeusʼ Willen (βούλησις) abzuschwächen. 396 Aus diesen Überlegungen folgt für die ‚zukommenden Handlungen‘, dass es sich bei ihnen nicht um Handlungen handelt, die aus einer all-things-considered bzw. Gottes-Perspektive unternommen werden, sondern, da der Weise alle ‚zukomm‐ 174 III. Die stoische Motivationstheorie 397 Vgl. Klein (2015), 265. 398 Vgl. ebd. 399 Unter ‚probabilistisch‘ bzw. ‚wahrscheinlich‘ sollte hier keine mathematische oder gar bayesianische Wahrscheinlichkeit verstanden werden - die eine Errungenschaft des 17. bzw. 18. Jahrhunderts darstellt (vgl. Hacking [ 2 2006]) -, sondern vielmehr das, was das Lateinische mit probabile bzw. das Griechische mit πιθανόν als ‚billigenswert‘ bzw. ‚überzeugend‘ ausweist (zu probabile/ πιθανόν vgl. Glucker [1995]); siehe dazu auch: Tsekourakis (1974), 26-28; Striker (1980 [1996]), 101f; Inwood (1985), 204; Tieleman (1996), 266 und 271f. 400 Es gibt keinen Grund, U rteile über Vernünftiges oder Wahrscheinliches vom unfehl‐ baren Wissen des Weisen auszuschließen, solange der Inhalt, über den der Weise urteilt, durch einen entsprechenden probabilistischen Operator qualifiziert wird, so dass der Weise keine Vermutungen anstellt und nicht-kataleptischen oder bloß wahrscheinli‐ chen Vorstellungen seine Zustimmung gibt. Der Weise kann so einer kataleptischen Vorstellung mit dem Inhalt „Es ist wahrscheinlich (εὔλογον), dass ich m orgen gesund sein werde.“ seine Zustimmung geben; die daraus resultierende Überzeugung kann dann sein Urteil über die in seiner Situation ihm ‚zukommende Handlung‘ leiten. Ein solcher Inhalt muss dabei nicht direkt in die Zustimmung eingebaut sein, welche den Hand‐ lungsimpuls auslöst. Der εὔλογον-Operator könnte in den Überzeugungen des Akteurs über die Zukunft enthalten sein, welche seine Zustimmung zu einer im Präsens for‐ mulierten φαντασία ὁρμετική leiten (vgl. Brennan [1996, 323 f; 2000, 166 f]). So würde der Weise einer kataleptischen Vorstellung seine Zustimmung geben, dass bestimmte künftige Ereignisse basierend auf den zur Verfügung stehenden Evidenzen wahrschein‐ lich sind. enden Handlungen‘ ausführt, um Handlungen, die angesichts des Wissens des Weisen über die Ziele der rationalen Natur vernünftig sind. 397 Die ‚zukomm‐ enden Handlungen‘ können daher nicht einfach durch Anwendung der Normen der kosmischen Natur auf eine konkrete Situation bestimmt werden. Vielmehr müssen die epistemischen Gründe des Akteurs - mit all ihren Limitationen - mit diesen Normen in Verbindung gebracht werden, um die ‚zukommende Handlung‘ in einer bestimmten Situation zu identifizieren. Die καθήκοντα müssen also anhand dessen bestimmt werden, was der Weise aus seiner Per‐ spektive wissen kann. 398 Auch der Weise wird sich dabei in seinen Überlegungen auf probabilistische Urteile 399 verlassen müssen. 400 Die tugendhaften Handlungen des Weisen werden daher von seinen Einschätzungen abhängen, welche Handlungen an‐ gesichts dessen, was er weiß, am meisten mit der Natur übereinstimmen. Er muss seine vollkommene Rationalität auf die Evidenzen anwenden, über die er verfügt. Wenn folglich die Urteile des Weisen sowohl probabilistischer Natur als auch, wie die Stoiker behaupten, unfehlbar wahr sind, kann der Weise nicht annehmen, dass seine Handlungen mit den Zielen der Natur in einem all-things-considered Sinn übereinstimmen. Er nimmt stattdessen lediglich an, dass die von ihm als ‚zukommende Handlung‘ beurteilte Handlungsalternative 175 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 401 Vgl. Klein (2015), 265 f; die ‚zukommende Handlung‘ wird oft - vielleicht sogar fast immer - eine Handlung sein, die angesichts der Gesichtspunkte, die nur Zeus kennt, überhaupt nicht vernünftig ist. Aber solange sie in Bezug auf das Wissen, welches der Weise besitzt, vernünftig ist, ist sie die ‚zukommende‘ und für den Weisen tugendhafte Handlung, die er auszuführen hat. 402 Vgl. Klein (2015), 266. 403 Vgl. ebd. 404 Stob.Ecl. 2 . 85. 13 = LS 59B = SVF 3.494; D. L. 7.107; siehe dazu auch: T sekourakis (1974), 26-28; Striker (1980 [1996]), 10 1f; Inwood (1985), 204; Tieleman (1996), 266 und 271f; Gourinat (2014), bes. 23-38; zu dieser Verwendung von εὔλογος siehe auch: Gal.PHP 4. 4.141. 405 Vgl. Klein (2015), 266. 406 Cic.Fin. 3. 5 8 = LS 59F = SVF 3.498. diejenige Handlung ist, hinsichtlich welcher er am meisten Grund hat zu glauben, dass sie in Übereinstimmung mit der Natur ist. Wenn demnach φ-en tatsächlich die Handlung ist, hinsichtlich welcher der Weise am meisten Grund hat zu glauben, dass sie in Übereinstimmung mit der Natur ist, dann wird φ-en, egal ob φ-en auch wirklich in einem all-things-considered Sinn in Übereinstim‐ mung mit der Natur ist, die ‚zukommende Handlung‘ sein, die der Weise aus‐ zuführen hat. 401 Die stoische Klassifizierung der indifferenten Dinge in ‚vorzuziehende‘ und ‚zurückzuweisende Dinge‘ scheint die Gegenstände und Zustände zu be‐ zeichnen, welche die rationale Natur für uns Menschen nicht absolut, aber für gewöhnlich und im Großen und Ganzen zu verfolgen vorschreibt. 402 Daher er‐ schließt sie uns zumindest teilweise die Gründe, anhand welcher ein rationaler Akteur seine Entscheidungen treffen wird. Wenn ein bestimmtes Resultat einer Handlung zu den ‚vorzuziehenden Dingen‘ gehört, gibt uns diese Tatsache zu‐ mindest einen pro tanto Grund zu glauben, dass die Natur es von uns verlangt, dieses Ergebnis zu wählen. Dieser Interpretation zufolge wird in einer konkreten Situation die ‚zukommende Handlung‘ nicht anhand eines Übergewichts von normativen Handlungsgründen bestimmt, die verschiedenen unabhängigen Strebenszielen entspringen, sondern anhand einer Gewichtung der vorhan‐ denen Evidenzen: Die ‚zukommende Handlung‘ ist die Handlung, hinsichtlich welcher ein vollkommen rationaler Akteur von seinem in epistemischer Hin‐ sicht eingeschränkten Standpunkt aus am meisten Grund hat zu glauben, dass sie in Übereinstimmung mit der Natur ist. 403 Eine epistemische Rechtfertigung dieser Art scheint die grundlegende Bedeutung von εὔλογος ἀπολογία 404 - der vernünftigen Verteidigung bzw. Rechtfertigung - zu sein, welche eines der De‐ finitionsmerkmale der ‚zukommenden Handlung‘ darstellt. 405 Dafür scheint auch Ciceros Übersetzung der Junktur als probabilis ratio  406 zu sprechen, welche das im Urteil enthaltene probabilistische Element explizit zur Sprache bringt. 176 III. Die stoische Motivationstheorie 407 Sie ist auch mit der stoischen Lehre von der Zustimmung unter Vorbehalt (ὑπεξαίρεσις bzw. exceptio) vereinbar, welche cum grano salis besagt, dass die prospektiven Urteile des Weisen hinsichtlich ihrer epistemischen Li mitiertheit mit Blick auf Zeusʼ βούλησις qualifiziert werden müssen; siehe dazu: Epict.Diss. 2.6.9f; Ench. 2.2; S. E. M 11.64-67 = LS 58F = SVF 1.361; Marc.Aurel. 4.1; 5.20; 6.50; 11.37; Sen.Ben. 4.34.4 = SVF 3.565; Dial. 9.13.2-14.1; Stob.Ecl. 2.115.5-9 = LS 65W = SVF 3.564; eine Diskussion dieser Passagen findet sich in: Brennan (2000); zur ὑπεξαίρεσις siehe auch: Inwood (1985), 119-126; Sorabji (2000), 53f. 408 Epict.Diss. 2. 6. 9 = LS 58J = SVF 3.191: διὰ τοῦτο καλῶς ὁ Χρύσιππος λέγει ὅτι μέχρις ἂν ἄδηλά μοι ᾖ τὰ ἑξῆς, ἀεὶ τῶν εὐφθεστέρων ἔχομαι πρὸς τὸ τυγχάνειν τῶν κατὰ φύσιν· αὐτὸς γάρ μʼ ὁ θεὸς ἐποίησεν τούτων ἐκλεκτικόν. εἰ δέ γε ᾔδειν ὅτι νοσεῖν μοι καθείμαρτει νῦν, καὶ ὥρμων ἂν ἐπʼ αὐτό. καὶ γὰρ ὁ πούς, εἰ φρένας εἶχεν, ὥρμα ἂν ἐπὶ τὸ πηλοῦσθαι. 409 Epict.Diss. 2. 10.5 f: διὰ τοῦτο καλῶς λέγουσιν οἱ φιλόσοφοι ὅτι εἰ προῄδει ὁ καλὸς καὶ ἀγαθὸς τὰ ἐσόμενα, συνήργει ἂν καὶ τῷ νοσεῖν καὶ τῷ ἀποθνῄσκειν καὶ τῷ πηροῦσθαι, αἰσθανόμενός γε, ὅτι ἀπὸ τῆς τῶν ὅλων διατάξεως τοῦτο ἀπονέμεται, κυριώτερον δὲ τὸ ὅλον τοῦ μέρους καὶ ἡ πόλις τοῦ πολίτου. νῦν δʼ ὅτι οὐ προγιγνώσκομεν, καθήκει τῶν πρὸς ἐκλογὴν εὐφυεστέρων ἔχεσθαι, ὅτι καὶ πρὸς τοῦτο γεγόναμεν. Diese Interpretation der stoischen Lehre von den indifferenten Dingen passt darüber hinaus auch zum Quellenbefund, der das stoische Modell rationaler Deliberation charakterisiert: 407 Deshalb hatte Chrysipp recht als er sagte: „Solange das Zukünftige mir verborgen ist, werde ich mich immer an das halten, was besser geeignet ist, um das zu bekommen, was der Natur entspricht (κατὰ φύσιν); denn Gott selbst hat mich so gemacht, dass ich disponiert bin, diese Dinge zu wählen. Aber wenn ich wirklich wüsste, dass es mir vom Schicksal bestimmt war, jetzt krank zu sein, dann hätte ich auch einen Antrieb, krank zu sein. Auch mein Fuß hätte ja, wenn er Einsicht besäße, einen Antrieb, schmutzig zu werden. 408 (Übers. Hülser) Deswegen sagen die Philosophen treffend, dass der gutschöne Mann, wenn er vorher wüsste, was geschehen werde, am Kranksein, Sterben und Verstümmeln mitwirken würde, da er wahrnehmen würde, dass dies von der Ordnung des Kosmos auferlegt werde - das Ganze aber wichtiger ist als der Teil, der Staat als der Bürger. Jetzt aber, da wir nicht in die Zukunft sehen, ist es angemessen (καθήκει), Dinge zu haben, die von Natur aus zur Wahl geeigneter sind, weil wir dazu geboren sind. 409 In den beiden Passagen, von denen wir die erste oben bereits kurz betrachtet haben, steht offensichtlich ein deliberatives Szenario vor Augen, bei dem eine Lücke zwischen den von der Natur tatsächlich festgesetzten Ereignissen und dem dem Akteur zugänglichen Wissen existiert. Unter diesen Bedingungen der Unsicherheit ist es den Texten zufolge für den Akteur rational, die ‚vorzuzieh‐ enden Dinge‘ zu wählen. Wenn der Akteur jedoch ein umfassenderes Wissen 177 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 410 Zur Interpretation dieser Passagen siehe auch: Klein (2015), 267 f. 411 Vgl. Klein (2015), 268. 412 Plu.Comm.not. 1064C: ἀπὸ προστάγματος τῶν ἀδιαφόρων; siehe auch: Epict.Diss. 3. 24.31-36; Sen.Dial. 7. 15. 7: in regno nati sumus; deo parere libertas est. 413 Stob.Ecl. 2. 86.12-16 = SVF 3.499: Παραμετρεῖσθαι δὲ τὸ μέσον καθῆκον ἀδιαφόροις τισί, ἐκλεγομένοις δὲ παρὰ φύσιν καὶ κατὰ φύσιν, τοιαύτην δʼ εὐθηνίαν προσφερομένοις, ὥστʼ εἰ μὴ λαμβάνοιμεν αὐτὰ ἢ διωθοίμεθα ἀπεριστάτως, μὴ ἂν εὐδαιμονεῖν. 414 Plu.Stoic.rep. 1042D = SVF 3.759: ἀλλ᾿ οὐδὲ ὅλως, φασίν, οἴεται δεῖν Χρύσιππος οὔτε μονὴν ἐν τῷ βίῳ τοῖς ἀγαθοῖς οὔτ᾿ ἐξαγωγὴν τοῖς κακοῖς παραμετρεῖν ἀλλὰ τοῖς μέσοις κατὰ φύσιν· διὸ καὶ τοῖς εὐδαιμονοῦσι γίγνεταί ποτε καθῆκον ἐξάγειν ἑαυτοὺς καὶ μένειν αὖθις ἐν τῷ ζῆν τοῖς κακοδαιμονοῦσιν. über die für seine Situation relevanten Aspekte hat, ist es möglich, dass es für ihn rational ist, die ‚vorzuziehenden Dinge‘ zu opfern und stattdessen die ‚zu‐ rückzuweisenden Dinge‘ zu wählen. Der Wert der indifferenten Dinge dient also dazu, den rationalen Plan der Natur zu entdecken und sich ihm anzunähern. Das Urteil, dass ein Objekt ein ‚vorzuziehendes Ding‘ ist, ist folglich eine Einschät‐ zung der vorhandenen Evidenzen, die für das Verständnis der Ordnung des Kosmos relevant sind, wodurch man die ‚zukommende Handlung‘ in der gege‐ benen konkreten Situation ausmachen kann. 410 Dieses Verständnis der indifferenten Dinge findet Unterstützung durch Pas‐ sagen, welche die indifferenten Dinge als Referenzpunkte identifizieren, anhand welcher die ‚zukommenden Handlungen‘ gemessen und bestimmt werden können. 411 So handelt der Weise ‚auf Befehl der indifferenten Dinge‘ hin. 412 Die indifferenten Dinge stellen ein ‚Messinstrument‘ dar, mit dessen Hilfe wir un‐ tersuchen können, was das Leben in Übereinstimmung mit der Natur von uns verlangt: Die mittlere zukommende Handlung (τὸ μέσον καθῆκον) wird an bestimmten indif‐ ferenten Dingen gemessen (παραμετρεῖσθαι), die gemäß oder entgegen der Natur gewählt werden und so einen guten Fluss mit sich bringen, dass wir, wenn wir sie nicht erlangen oder zurückweisen würden - außer unter besonderen Umständen - nicht glückselig wären. 413 Aber sie sagen, Chrysipp denke, dass man gänzlich weder den Verbleib im Leben anhand der Güter noch den Ausgang aus dem Leben anhand der Übel messen (παραμετρεῖν) dürfe, sondern anhand der mittleren naturgemäßen Dinge: Deshalb werde es manchmal für die Glückseligen angemessen (καθῆκον), sich selbst aus dem Leben zu führen, und für die Unglückseligen, im Leben zurückzubleiben. 414 Chrysipp sagt: „Angemessen aber darf das Leben nämlich nicht anhand von Gütern und Übeln gemessen werden (παραμετρεῖσθαι), sondern anhand der naturgemäßen und naturwidrigen Dinge.“ 415 178 III. Die stoische Motivationstheorie 415 Plu.Comm.not. 1063D = SVF 3.759: „εἰκότως δέ,“ φησὶ Χρύσιππος, „οὐ γὰρ ἀγαθοῖς καὶ κακοῖς δεῖ παραμετρεῖσθαι τὸν βίον ἀλλὰ τοῖς κατὰ φύσιν καὶ παρὰ φύσιν.“ 416 Cic.Fin. 3.60 f = LS 66G = SVF 3.763: in quo enim plura sunt quae secundum naturam sunt, huius officium est in vita manere; in quo autem aut sunt plura contraria aut fore videntur, huius officium est de vita excedere. […] itaque et manendi in vita et migrandi ratio omnis iis rebus quas supra dixi metienda. 417 Vgl. Klein (2015), 269; nichts deutet jedoch auf eine Art grounding relation hin; zu grounding siehe: Rosen (2010); Fine (2012). 418 Vgl. Klein (2015), 269. 419 Vgl. Klein (2015), 269 f. 420 Vgl. Klein (2015), 270. 421 D. L. 7. 88 = LS 6 3C = SVF 3. 4. 422 Vgl. Klein (2015), 270. 423 Epict.D iss. 2. 6. 9 = LS 58J = SVF 3.191. 424 Ebd. Bei wem nämlich das überwiegt, was naturgemäß ist, dessen zukommende Handlung (officium) ist es, am Leben zu bleiben; bei wem jedoch das Gegenteil überwiegt oder absehbar überwiegen wird, dessen zukommende Handlung ist es, aus dem Leben zu scheiden. […] Jede Überlegung (ratio omnis), am Leben zu bleiben oder aus dem Leben zu scheiden, muss daher an den oben von mir erwähnten Dingen gemessen werden (metienda). 416 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Anhand dieser Passagen wird deutlich, dass die Stoiker offenkundig eine mate‐ riale Verbindung zwischen den indifferenten Dingen, die einem Akteur zur Ver‐ fügung stehen, und der ihm ‚zukommenden Handlung‘ angenommen haben. 417 Die indifferenten Dinge bilden jeodch keinen Bestandteil der Rechtfertigungs‐ basis der Handlung, sondern sind lediglich Evidenzen für die Forderungen, welche die rationale Natur an uns stellt. 418 Die ‚zukommende Handlung‘ - z. B. der Suizid - wird aufgrund der äußeren Umstände - dem Verhältnis der indif‐ ferenten Dinge - angeordnet; ihre Rechtfertigung beruht allerdings auf einer anderen Basis - es ist Zeusʼ Wille. 419 Die indifferenten Dinge bilden somit ein Messinstrument, mit dessen Hilfe wir die ‚zukommenden Handlungen‘ identi‐ fizieren können. 420 Der Status, ein ‚vorzuziehendes Ding‘ zu sein, ist eine Evidenz dafür, was für gewöhnlich (εἴωθεν) 421 in Übereinstimmung mit der Natur ist. Er gibt dem Akteur einen epistemischen Grund, eine Handlung für die ‚zukom‐ mende Handlung‘ zu halten, der freilich noch vor dem Hintergrund weiterer Evidenzen bewertet werden muss. 422 Solange (μέχρις ἂν) 423 die künftigen Ereig‐ nisse ungewiss (ἄδηλα) 424 bleiben, dient er dem Akteur als hilfreicher Orientie‐ rungspunkt, um sich der rationalen Ordnung der Natur anzunähern. Wenn also ein bestimmtes Ergebnis unserer Handlungen zur Klasse der ‚vorzuziehenden Dinge‘ gehört, hat ein Akteur einen pro tanto Grund zu glauben, dass das Leben 179 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 425 Vgl. Klein (2015), 270. 426 Vgl. ebd. 427 Vgl. ebd. 428 Vgl. Klein (2015), 271. 429 Vgl. ebd. 430 Siehe dazu: ebd. 431 Vgl. Hurley (1989), 133: „We do admit the possibility in principle of real conflicts bet‐ ween reasons for action, and between reasons for action and reasons for belief, but not between reasons for belief. […] Prima facie [epistemic] reasons are like rules of thumb, in Übereinstimmung mit der Natur es von ihm verlange, dieses Ergebnis zu wählen. 425 Der Wert, welcher den indifferenten Dingen von den Stoikern zugeschrieben wird, ist also weder instrumentell noch intrinsisch in dem Sinne, dass er dem Akteur normative Handlungsgründe gäbe, die für eine bestimmte Handlung sprächen, sondern er wird am besten auf eine heuristische oder epistemische bzw. semiotische Weise als ein Messinstrument verstanden, mit dessen Hilfe wir herausfinden können, was für gewöhnlich in Übereinstimmung mit der Natur ist, und auf welches sich unsere rationalen Urteile über die ‚zukommenden Handlungen‘ neben anderen Evidenzen stützen müssen. 426 Deliberation wird somit von den Stoikern nach dem Modell probabilistischen Überlegens als ein Versuch verstanden, die eine Handlung zu identifizieren, hinsichtlich welcher man am meisten Grund hat zu glauben, dass sie in Übereinstimmung mit der Natur ist. 427 Der Akteur muss auf die indifferenten Dinge in seinen Handlungen achten, da ihr Wert eine unverzichtbare Evidenz dafür darstellt, was die rationale Natur des Kosmos für gewöhnlich von ihm verlangt. Die normative Basis der Rechtfertigung seiner Handlungen bildet jedoch nicht der Wert der indiffe‐ renten Dinge, sondern die Gutheit, welche im Leben in Übereinstimmung mit der rationalen Natur des Kosmos besteht. 428 Dies erklärt, warum die indifferenten Dinge einerseits eine wichtige Rolle in der Deliberation des Akteurs spielen, unsere natürliche Sorge um die indiffe‐ renten Dinge jedoch niemals mit der Tugend in Konflikt geraten kann. Die Auf‐ gabe der indifferenten Dinge besteht allein darin, uns dabei zu helfen, die ein‐ zelne uns von der Natur ‚zukommende Handlung‘ zu identifizieren. Sie können keinen eigenständigen axiologischen Bereich begründen, der mit der Tugend in Konkurrenz treten könnte und von dem aus unsere Handlungen gerechtfertigt werden könnten. 429 Dies ist letztlich eine Konsequenz des Unterschieds zwischen praktischen und epistemischen Gründen. 430 Anders als bei praktischen Gründen besteht ein Konflikt zwischen epistemischen Gründen immer nur prima facie aufgrund der Unvollständigkeit unserer Evidenzen. 431 Sobald die epistemischen Beschränkungen aufgehoben oder vermindert sind und neues Wissen und damit 180 III. Die stoische Motivationstheorie that give us reasons provisionally but may turn out not to apply when we learn more about the situation at hand, in which case they have no residual reason-giving force.“ 432 Dieser Schluss folgt freilich nur, wenn man Komplikationen ausklammert, welche sich aus der Wahrheit eines epistemic-value pluralism ergeben, dem zufolge Wahrheit nicht der einzige fundamentale epistemische Wert ist: vgl. Sosa (2007), 70-91. 433 Vgl. Klein (2015), 271 f. 434 Vgl. Plu.Comm.not. 1061C = SVF 3.213; Anec.graec. 1.171 = SVF 3.214. 435 Vgl. Klein (2015), 272. 436 Vgl. Barney (2003), 314, welche die beiden Thesen als ‚principle of the exhaustiveness of selection‘ bzw. als ‚principle of deliberative sufficiency‘ bezeichnet. neue Evidenzen für den Akteur zugänglich werden, löst sich der vermeintliche Konflikt auf. 432 Obschon der Weise aufgrund seiner epistemischen Limitiertheit in der Verfolgung seines τέλος - dem Leben in Übereinstimmung mit der Natur - beeinträchtigt sein mag, so dass er seine Urteile in epistemischer Hinsicht qua‐ lifiziert und stets mit Vorbehalt hinsichtlich der Ergebnisse handelt, erzeugen diese epistemischen Beschränkungen dennoch niemals einen Konflikt zwischen den Strebenszielen oder normativen Prinzipien des Akteurs. 433 Die Überle‐ gungen, welche das Handeln des Weisen bestimmen, sind auf das wahrschein‐ liche bzw. annäherungsweise Erfassen des ὀρθὸς λόγος gerichtet, von welchem die Tugend abhängt. 434 Da die ‚zukommende Handlung‘ diejenige sein wird, hinsichtlich welcher der Akteur am meisten Grund hat zu glauben, dass sie mit dem ὀρθὸς λόγος übereinstimmt, werden die normativen Handlungsgründe, welche für sie sprechen, alle in eine Richtung weisen. Denn diese Gründe leiten sich alle vom alleinigen τέλος - dem Leben in Übereinstimmung mit der Natur - ab, um welches zu erreichen die Tugend allein hinreichend ist. Daher sind alle unsere Handlungen letztlich allein durch die Tugend gerechtfertigt. 435 III.1. 2. 4 Die Identifikation der καθήκοντα Die vorangehenden Überlegungen sollten freilich nicht dazu verleiten zu glauben, dass der Status oder die Verfügbarkeit der indifferenten Dinge das Ein‐ zige ist, was in der Deliberation des Akteurs eine Rolle spielt und sein Urteil über die ‚zukommende Handlung‘ beeinflusst. Es besteht ein Unterschied zwi‐ schen der Annahme, dass jede Deliberation über die ‚zukommende Handlung‘ eine Auswahl indifferenter Dinge involviert, und der Annahme, dass Überle‐ gungen über indifferente Dinge allein eine vollständige Spezifikation der ‚zu‐ kommenden Handlung‘ leisten könnten. 436 Die Stoiker waren, wie aus den be‐ trachteten Texten deutlich wird, sicher der Ansicht, dass jede Deliberation über die ‚zukommende Handlung‘ eine Auswahl indifferenter Dinge involviert. Die indifferenten Dinge sind das Material (ὕλη), mit dem wir in unseren Handlungen arbeiten. Jedoch deutet keiner der Texte darauf hin, dass die ‚zukommenden 181 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 437 Vgl. Klein (2015), 273; Tad Brennan bezeichnet eine solche Theorie der Deliberation als ‚indifferents only‘-Modell und diskutiert es in Brennan (1998; 2003, 281-283; 2005, 194-205); siehe dazu auch: Barney (2003). 438 Zu dieser Theorie der Deliberation siehe: Brennan (2005), 203-230. 439 Cicero führt das folgende Zitat mit scite Chrysippus, ut multa ein, was ein wörtliches Zitat verspricht. Des Weiteren spricht für Chrysipps Urheberschaft des Zitats, dass er häufig athletische Analogien - insbesondere vom Wettlauf - verwendet hat: Gal.PHP 4. 2.10-18 = LS 65J = SVF 3.462; SVF 3.472.476.478.699 - möglicherweise, weil er selbst in seiner Jugend ein Wettläufer war: D. L. 7.179 = SVF 2. 1. 440 Cic.Off. 3. 42 = SVF 3.689: qui stadium […] currit, eniti et contendere debet quam maxime possit, ut vincat, supplantare eum, quicum certet, aut manu depellere nullo modo debet; sic in vita sibi quemque petere, quod pertineat ad usum, non iniquum est, alteri deripere ius non est. Handlungen‘ allein auf die Maximierung der ‚vorzuziehenden Dinge‘ bzw. eine Minimierung der ‚zurückzuweisenden Dinge‘ ausgerichtet wären oder aus‐ schließlich Überlegungen in Bezug auf den Status der indifferenten Dinge in unserer Deliberation eine Rolle spielten. 437 Der Quellenbefund vermittelt dagegen eher ein Bild der Deliberation, in wel‐ chem verschiedene grundlegende Überlegungen zusammenspielen. 438 Zum einen berücksichtigen wir den Stoikern zufolge Tatsachen in Bezug auf das, was unserer Konstitution als menschliche Organismen aufgrund der natürlichen Ordnung für gewöhnlich zukommt, und hier spielt die Unterscheidung von ‚vorzuziehenden‘ und ‚zurückzuweisenden Dingen‘ eine entscheidende Rolle. So zählen Gesundheit oder Ansehen zu den ‚vorzuziehenden Dingen‘, weil die Natur sie für gewöhnlich für Lebewesen mit unserer Konstitution vorgesehen hat. Doch sind diese Tatsachen nicht allein relevant in unserer Deliberation über die ‚zukommende Handlung‘, sondern Gerechtigkeitserwägungen spielen eben‐ falls eine Rolle. Einen Beleg für dieses Deliberationsmodell findet sich in Ciceros De officiis, wo er dieses Modell Chrysipp zuschreibt: 439 Der Wettläufer muss sich so sehr wie möglich anstrengen und bemühen zu siegen, darf aber dem, mit dem er sich einen Wettstreit liefert, keinesfalls ein Bein stellen oder ihn schubsen; ebenso ist es im Leben nicht ungerecht, dass jeder für sich nach dem strebt, was nützlich ist; es einem anderen zu rauben, ist nicht Recht. 440 Die Passage weist sowohl in der Wettkampf-Metapher als auch in seiner An‐ wendung auf das reale Leben eine zweigeteilte Struktur auf: Ebenso wie die Läufer sich so sehr wie möglich anstrengen sollen, sollen auch die Menschen im Leben nach den nützlichen Dingen streben. Zugleich müssen jedoch, wie die Läufer die Regeln beachten müssen und ihre Konkurrenten nicht stolpern lassen oder schubsen dürfen, auch die Menschen im alltäglichen Leben die Regeln des 182 III. Die stoische Motivationstheorie 441 Vgl. Cic.Off. 1. 25: Nec vero rei familiaris amplificatio nemini nocens vituperanda est, sed fugienda semper iniuria est; siehe auch: Cic.Off. 3. 63; Fin. 3. 70 = SVF 3.348, wo vom Weisen gesagt wird, dass er auch in seiner Sorge um die Interessen und ‚vorzu zie hen den Di nge ‘ seiner Verwandten und Freunde stets die Regeln der Gerech‐ tigkeit achtet. 442 Vgl. Cic.Off. 3. 21: Detrahere igitur alteri aliquid et hominem hominis incommodo suum commodum augere magis est contra naturam quam mors, quam p aupertas, q uam dolor, quam cetera quae possunt aut corpori accidere aut rebus externis; siehe auch: Cic.Off. 3. 26. 28. 30. 32. 35. 46. 443 Vgl. Brennan (2005), 206 f. 444 Cic.Off. 3. 30: Nam si quid ab homine ad nullam partem utili utilitatis tuae causa detra‐ xeris, inhumane feceris contraque naturae legem, sin autem is tu sis qui multam utilitatem reipublicae atque hominum societati, si in vita remaneas, adferre possis, si quid ob eam causam alteri detraxeris, non sit reprehendendum. Sin autem id non sit eiusmodi, suum cuique incommodum ferendum est potius quam de alterius commodis detrahendum. Non Eigentumsrechts beachten und dürfen ihr Vermögen nicht dadurch vergrößern, dass sie den rechtmäßigen Besitz der anderen rauben. Der stoische Weise wird demnach die Dinge verfolgen, die nützlich für ihn sind (z. B. die ‚vorzuziehenden Dinge‘), aber er wird dabei von den Regeln der Gerechtigkeit eingeschränkt, da es ungerecht wäre, andere ihres legitimen Besitzes zu berauben, 441 was als eine Handlung wider die Natur verstanden wird. 442 In all seinen Handlungen, welche auf das Erlangen der ‚vorzuziehenden Dinge‘ gerichtet sind, wird der Weise stets darauf achten, gerecht zu sein. 443 Dieses Prinzip, welches das Verfolgen der ‚vorzuziehenden Dinge‘ unter Wahrung der Regeln der Gerechtigkeit vorschreibt, ist allerdings noch nicht die ganze Wahrheit, was das stoische Deliberationsmodell in Bezug auf die ‚zu‐ kommenden Handlungen‘ angeht. Einige Passagen unseres Textcorpusʼ scheinen nämlich den Stoikern die Meinung zuzuschreiben, dass es in manchen Fällen legitim sei, den anderen seiner ‚vorzuziehenden Dinge‘ zu berauben, nämlich dann wenn dies um des Gemeinwohles willen geschehe: Denn wenn du um deines eigenen Nutzens willen einem vollkommen nutzlosen Men‐ schen etwas wegnehmen solltest, dürftest du wohl unmenschlich und gegen das Na‐ turgesetz handeln; wenn du jedoch derjenige sein solltest, der dem Gemeinwesen und der Menschheitsgemeinschaft großen Nutzen bringen kann, wenn du am Leben bleibst, dürfte es wohl nicht zu tadeln sein, wenn du deswegen einem anderen etwas wegnehmen solltest. Wenn es jedoch nicht so sein sollte, muss jeder eher seinen ei‐ genen Nachteil ertragen, als etwas von den nützlichen Dingen eines anderen weg‐ nehmen. Daher sind Krankheit, Armut oder etwas Derartiges nicht naturwidriger als einem anderen etwas wegzunehmen oder danach zu streben; aber die Vernachlässi‐ gung des Gemeinwohls ist ebenfalls naturwidrig; es ist nämlich ungerecht. 444 183 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik igitur magis est contra naturam morbus aut egestas aut quid eiusmodi quam detractio atque appetitio alieni, sed communis utilitatis derelictio contra naturam est; est enim iniusta; siehe auch: Cic.Off. 2. 26; 3. 32; 3. 40; 3. 90; Epict.Diss. 2. 10. 5; vgl. auch D. L. 7.130 = LS 66H = SVF 3.757, wo vom Weisen gesagt wird, dass er auch für das Vaterland oder seine Freunde in den Tod geht. 445 Vgl. Brennan (2005), 210 f. 446 Vgl. Brennan (2005), 207 f und 211; siehe dazu auch: Cic.Off. 1. 85, wo die Stoiker die Autorität Platons (Rep. 342e; 420b) für die beiden Prinzipien beanspruchen: Omnino qui reipublicae praefuturi sunt duo Platonis praecepta teneant: unum ut utilitatem civium sic tueantur ut quaecumque agunt ad eam referant obliti commodorum suorum, alterum ut totum corpus reipublicae curent, ne, dum partem aliquam tuentur, reliquas deserant; siehe auch: Epict.Diss. 2. 10. 5: διὰ τοῦτο καλῶς λέγουσιν οἱ φιλόσοφοι ὅτι εἰ προῄδει ὁ καλὸς καὶ ἀγαθὸς τὰ ἐσόμενα, συνήργει ἂν καὶ τῷ νοσεῖν καὶ τῷ ἀποθνῄσκειν καὶ τῷ πηροῦσθαι, αἰσθανόμενός γε, ὅτι ἀπὸ τῆς τῶν ὅλων διατάξεως τοῦτο ἀπονέμεται, κυριώτερον δὲ τὸ ὅλον τοῦ μέρους καὶ ἡ πόλις τοῦ πολίτου. 447 Cic.Off. 1. 31: Sed incidunt saepe tempora cum ea quae maxime viden tur digna esse iusto homine eoque quem virum bonum dicimus commutantur fiuntque contraria, ut reddere depositum facere promissum, quaeque pertinent ad veritatem et ad fidem, ea migrare interdum et non servare fit iustum. Referri enim decet ad ea quae posui principio funda‐ menta iustitiae, primum ut ne cui noceatur, deinde ut communi utilitati serviatur. Ea cum tempore commutantur, commutatur officium et non semper est idem; vgl. dazu: Inwood (1999); Brennan (2005), 191-194; gegen diese Ansicht und für universelle Moralgesetze argumentieren: Mitsis (1986; 1993; 1994; 1999); Striker (1987 [1996]); Jedan (2009). Aus dieser Passage wird deutlich, dass zwar die allgemeine Regel gilt, dass man sich fremden Besitz nicht um seines eigenen Vorteils willen aneignen darf; wenn dadurch jedoch das Gemeinwohl befördert wird, ist die Verletzung des Eigen‐ tumsrechts des anderen durchaus gerechtfertigt, und man würde sogar unge‐ recht und wider die Natur handeln, wenn man die Handlung unterlassen würde. Demnach spielen also in der Deliberation des stoischen Weisen nicht nur indif‐ ferente Dinge eine Rolle, sondern auch Gerechtigkeitserwägungen auf inter‐ personeller Ebene sowie in Bezug auf das Gemeinwohl, wobei beide, wie wir gesehen haben, in Begriffen der Naturgemäßheit verstanden werden. 445 Die Be‐ stimmung der indifferenten Dinge, welche am meisten mit der Natur überein‐ stimmen, muss also nicht die Form einer rein algorithmischen Kalkulation an‐ nehmen, welche sich allein auf die Werte der indifferenten Dinge stützt und auf eine Maximierung des positiven Werts der ‚vorzuziehenden Dinge‘ aus ist. Die beiden anderen Faktoren - Gerechtigkeit gegenüber anderen sowie gegenüber dem Gemeinwohl - müssen ebenfalls in Betracht gezogen werden. 446 Aufgrund dessen wollten die Stoiker die ‚zukommenden Handlungen‘ auch als situativ veränderliche Phänomene verstanden wissen, welche sich einer strikten, in‐ haltlich substantiellen Reglementierung entziehen. 447 Es ist auffällig, dass in allen Texten, welche uns eine Vorstellung des stoischen Modells der Deliberation des Akteurs vermitteln, niemals von der Tugend des 184 III. Die stoische Motivationstheorie 448 Die einzige Ausnahme stellt Cic.Off. 3. 13 dar. Doch handelt es sich hier um ein Miss‐ verständnis Ciceros. Er scheint die in Anm. 450 vorgenommene Unterscheidung zwi‐ schen der ‚Gerechtigkeit‘ (ἡ δικαιοσύνη) als Tugend i.S. eines Zustands der Seele des stoischen Weisen und dem ‚Gerechten‘ (τὸ δίκαιον) i.S. einer bestimmten Verteilung der indifferenten Dinge übersehen zu haben. 449 Plu.Stoic.rep. 1039E = LS 61Q = SVF 3.761: πρῶτον γὰρ ἡ ἀρετὴ ψιλῶς οὐδέν ἐστι πρὸς τὸ ζῆν ἡμᾶς, οὕτως δʼ οὐδὲ ἡ κακία οὐδέν ἐστι πρὸς τὸ δεῖν ἡμᾶς ἀπιέναι. 450 Vgl. Brennan (2005), 210, der auch auf die stoische Unterscheidung von ‚Wahrheit‘ (ἡ ἀλήθεια) und dem ‚Wahren‘ (τὸ ἀληθές) aufmerksam macht (S. E. M 7. 38 = SVF 2.132; S. E. PH 2. 81 = LS 33P). Das ‚Wahre‘ wird demnach auf individuelle unkörperliche Pro‐ positionen angewandt, weshalb es ebenso viele Fälle von dem ‚Wahren‘ gibt, wie es wahre Propositionen gibt. ‚Wahrheit‘ findet jedoch nur auf eine einzige körperliche Entität Anwendung, nämlich die Seele des Weisen, insofern sie unfehlbar ist. Analog dazu könnte das ‚Gerechte‘ (τὸ δίκαιον) eine unkörperliche, propositionale Entität sein (z. B. es ist gerecht, dass …), während ‚Gerechtigkeit‘ (ἡ δικαιοσύνη) wiederum ein Körper ist, nämlich die Seele des Weisen in einer bestimmten Disposition. Folglich be‐ steht derselbe Unterschied zwischen den Aussagen, dass der Weise stets ‚Gerechtig‐ keit‘ - i.S. der Tugend als eines Zustandes seiner Seele - verfolge und dass der Weise stets das ‚Gerechte‘ verfolge, wie zwischen den Aussagen, dass die Überzeugungen des Weisen stets mit der ‚Wahrheit‘ korrespondieren und dass die Überzeugungen des Weisen stets mit dem ‚Wahren‘ korrespondieren: Der erste Teil ist jeweils tautologisch, während der zweite Teil substantiellen Gehalt hat. Wenn man uns sagt, dass wir stets in Übereinstimmung mit der ‚Gerechtigkeit‘ handeln sollen, ist dies ebenso wenig hilf‐ reich, wie wenn man uns sagt, dass wir immer die ‚Wahrheit‘ glauben sollen, da wir nicht wissen, was genau wir tun sollen - wie wir auch nicht wissen, was wahr ist. Wenn wir aber schauen, was das ‚Gerechte‘ bzw. das ‚Wahre‘ ist - also bestimmte wahre Pro‐ positionen bzw. gerechte Verhältnisse -, haben wir einen inhaltlichen Bezugspunkt und können von dort aus Fortschritte machen; vgl. dazu auch Vogt (2012b), 176 f. Akteurs die Rede ist. 448 In der Deliberation spielt die Tugend bzw. das Laster keine Rolle: Denn erstens hat die Tugend rein für sich keine Relevanz dafür, dass wir leben, und so ist auch das Laster ohne Bedeutung dafür, dass wir verschwinden müssten. 449 (Übers. Hülser) Die Deliberation findet allein mit Blick auf die Eigentumsrechte, die indiffe‐ renten Dinge, Schaden, Gemeinwohl und Gerechtigkeit statt. Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass Gerechtigkeit doch eine der Tugenden sei, doch wird aus den Texten deutlich, dass Gerechtigkeit hier das Gerechte (τὸ δίκαιον) i.S. einer bestimmten Verteilung der indifferenten Dinge bezeichnet, so dass ‚gerecht‘ hier nicht den Zustand der Seele des Weisen und damit die Tugend der Gerechtigkeit (ἡ δικαιοσύνη) bezeichnen kann. 450 Die Tugend kann in der Deliberation auch des Weisen keine Rolle spielen, da sie nicht dazu in der Lage ist, eine konkret-handlungsleitende Funktion zu übernehmen. Wenn nämlich die tugendhafte Handlung diejenige ist, die der Weise ausführt, da er unfehlbar 185 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 451 Vgl. dazu und zu weiteren Argumenten gegen eine deliberative Funktion der Tugend: Brennan (2005), 182-194, bes. 187-191; siehe auch: Kamtekar (2005), 2 21 und Cic.Fin. 3. 59: Atqu e perspicuum etiam illud est, in istis rebus mediis aliquid agere sapientem; iudicat igitur, cum agit, officium illud esse. 452 Vgl. Epict.Ench. 2: τῶν τε ἐφ᾿ ἡμῖν, ὅσων ὀρέγεσθαι καλὸν ἄν, οὐδὲν οὐδέπω σοι πάρεστι. 453 Vgl. Brennan (2005), 211. 454 Vgl. Cic.Off. 3. 30: Non igitur magis est contra naturam morbus aut egestas aut quid eiusmodi quam detractio atque appetitio alieni, sed communis utilitatis derelictio contra naturam est; est enim iniusta; siehe auch: Cic.Off. 2. 26; 3. 32; 3. 40; 3. 90; Cic.Fin. 3. 60 = LS 66G = SVF 3.763. 455 Ich verdanke diesen Hinweis John Cooper. tugendhaft handelt, wissen wir noch nicht, wie wir in einer konkreten Situation zu einer Spezifizierung der tugendhaften Handlung gelangen. Jede allein auf dieser Basis vorgenommene Deliberation würde zirkulär und nicht informativ. 451 Die Tugend kann auch aus einem weiteren Grund keine Rolle in der Deliberation über die καθήκοντα spielen. Da auch der Nicht-Weise die ‚zukommenden Hand‐ lungen‘ ausführen soll und kann und er per definitionem die Tugend nicht besitzt, kann sie folglich auch in seinen Überlegungen keine Rolle spielen 452 - es sei denn als Hoffnung: Wir können die Tugend nur durch das bestädige Ausführen ‚zu‐ kommender Handlungen‘ unter wechselnden Umständen und veränderten Si‐ tuationen erlangen; die jeweiligen Handlungen werden allerdings auf einer von dieser Hoffnung vollkommen unabhängigen Basis spezifiziert und ausgewählt. Die Deliberation vollzieht sich allein mit Blick auf Fragen von Vorteil und Schaden durch indifferente Dinge, Fragen der gerechten Verteilung der indiffe‐ renten Dinge sowie Fragen des Gemeinwohls. Das stoische Modell der Delibe‐ ration besteht also aus drei Stufen, wobei der Weise (1) beim Verfolgen der ‚vor‐ zuziehenden Dinge‘ (2) durch Gerechtigkeitserwägungen anderen gegenüber - insbesondere durch das Vermeiden von Schaden sowie das Verletzen ihrer Ei‐ gentumsrechte - eingeschränkt wird, wobei jedoch beide vorangehenden Über‐ legungen (3) durch Erwägungen über das Gemeinwohl überwogen werden können. 453 Es wurde bereits angesprochen, dass die Stoiker die Erwägungen hinsichtlich der interpersonellen Gerechtigkeit und des Gemeinwohls in Begriffen der Na‐ turgemäßheit und Naturwidrigkeit verstehen. 454 Daher können die einschränk‐ enden Bedinungen für das Verfolgen der ‚vorzuziehenden Dinge‘ bzw. das Ver‐ meiden der ‚zurückzuweisenden Dinge‘ zum eigenen Vorteil auch als weitere Anwendung der Lehre von den indifferenten Dingen aufgefasst werden. 455 So könnten eine gerechte Güterverteilung und das Gemeinwohl als weitere ‚vor‐ zuziehende Dinge‘ verstanden werden, die freilich aufgrund ihrer besonderen 186 III. Die stoische Motivationstheorie 456 Vgl. zu diesen Überlegungen auch Brennan (2005), 218-220, der unter Verweis auf Cic. Fin. 3.60 und D. L. 7.130 dieses Deliberationsmodell auch für die alte Stoa zu plau‐ sibilisieren sucht: Der Weise begehe um des Vaterlandes bzw. um seiner Freunde willen Selbstmord (D. L. 7.130), trifft diese Entscheidung jedoch allein nach der Überlegung, was naturgemäßer und mehr in Übereinstimmung mit der Natur ist (Cic.Fin. 3.60). Durch Kombination dieser beiden Textstellen plausibilisiert Brennan das oben v. a. auf Basis von Ciceros De officiis entwickelte Deliberationsmodell auch für die alte Stoa. 457 Vgl. S. 112 und 148 f. 458 Vgl. Menn (1995). 459 Vgl. Plat.Char. 156b-157a; Phdr. 270b-d. Rolle in der Deliberation des Akteurs auf einer höheren Ebene innerhalb der Hierarchie der indifferenten Dinge stehen. Ihr Wert (ἀξία/ aestimatio) ist deut‐ lich höher als der der anderen ‚vorzuziehenden Dinge‘. So können sie als ein‐ schränkende Bedingungen für die Verfolgung der übrigen ‚vorzuziehenden Dinge‘ bzw. das Vermeiden der ‚zurückzuweisenden Dinge‘ zum eigenen Vorteil fungieren. Auf diese Weise muss die stoische Theorie der Deliberation letztlich auf nichts Anderes rekurrieren als auf die indifferenten Dinge in ihrer Natur‐ gemäßheit bzw. Naturwidrigkeit als dem Gesamtmaterial der praktischen Ent‐ scheidungsfindung. So handelt man, wenn man seinen eigenen Vorteil zu‐ gunsten der interpersonellen Gerechtigkeit und des Gemeinwohls hintanstellt, letztlich auch naturgemäß und in Übereinstimmung mit der Natur. 456 Insofern die für die Deliberation relevanten indifferenten Dinge und Fragen der interpersonellen Gerechtigkeit sowie Erwägungen bezüglich des Gemein‐ wohls in Begriffen der Naturgemäßheit und Naturwidrigkeit verstanden werden, erschließt sich auch, warum die Stoiker die Physik als eine Tugend betrachtet haben. 457 Stephen Menn hat überzeugend dargelegt, dass für die Sto‐ iker die Physik eine Tugend sei, da sie als τέχνη das Wissen enthalte, welches es uns erlaube, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben. 458 Menn hat aufge‐ wiesen, dass es eine Hierarchie der τέχναι gebe und die jeweils höhere τέχνη, die sich einem umfassenderen Objekt widme, stabiler und weniger fehlbar sei als die niedrigeren, welche sich nur mit einzelnen Teilen des übergeordneten Objekts beschäftigten. So sei die τέχνη, die sich dem menschlichen Auge widme, derjenigen, die sich mit dem menschlichen Körper beschäftige, untergeordnet. Erstere könne dabei zu einer medizinischen Behandlung raten, welche nicht die richtige sei, da sie dem Körper als Ganzem schade, so dass sie fehleranfälliger sei als die τέχνη, deren Objekt der ganze menschliche Körper sei. 459 Die stabilste und unfehlbare τέχνη werde demzufolge diejenige sein, die sich mit dem um‐ fassendsten Objekt - dem Kosmos - beschäftige, und dies ist die Physik. Die τέχνη der Physik ist stabil (ἀσφαλές) und unveränderbar durch Argumente (ἀμετάπτωτον ὑπὸ λόγου), 460 weil es keine weiteren, ihr externen Erwägungen 187 III.1 Eudämonismus und Naturphilosophie in der stoischen Ethik 460 Stabili tät und Unveränderbarkeit d urch Argu mente sind Bestandteile der stoischen Definition von Wissen: D. L. 7. 47 = LS 31B; Stob.Ecl. 2. 73.19-74. 1; S. E. M 7.151 = LS 41C; [Gal.]Def.Med. 7 = SVF 2. 93; Phil.Congr. 101. 5 = SVF 2. 95. 461 Vgl. S. E. M 11.170; Stob.Ecl. 2. 66.14-67. 4 = LS 61G = SVF 3.560. 462 Epict.Diss. 2.6.9 = LS 58J = SVF 3.191: δι ὰ τοῦτο καλῶς ὁ Χρύσιππος λέγει ὅτι μέχρις ἂν ἄδηλά μοι ᾖ τὰ ἑξῆς, ἀεὶ τῶν εὐφθεστέρων ἔχ ομαι πρὸς τὸ τυγχάνει ν τῶν κατὰ φύσιν· αὐτὸς γάρ μʼ ὁ θεὸς ἐποίησεν τούτων ἐκλεκτικόν. εἰ δέ γε ᾔδειν ὅτι νοσεῖν μοι καθείμαρτει νῦν, καὶ ὥρμων ἂν ἐπʼ αὐτό. καὶ γὰρ ὁ πούς, εἰ φρένας εἶχεν, ὥρμα ἂν ἐπὶ τὸ πηλοῦσθαι. 463 Vgl. Menn (1995), 22 f. gibt, welche ihre Ratschläge überwiegen können, wie ihre Ratschläge die der anderen τέχναι überwiegen. Da wir Teile des Kosmos sind und in unserem Leben seinen Zwecken - sei es gut oder schlecht - dienen, ist die Sorge um die Ordnung des Kosmos eine Kunst mit Blick auf das ganze Leben (τέχνη περὶ ὅλον τὸν βίον 461 ), und das Leben nach ihren Ratschlägen ist das Leben in Übereinstim‐ mung mit der Natur. Was dies für den Deliberationsprozess bedeutet, kann an‐ hand der Passage aus Epiktet illustriert werden, der wir in diesem Kapitel bereits begegnet sind: Deshalb hatte Chrysipp recht als er sagte: „Solange das Zukünftige mir verborgen ist, werde ich mich immer an das halten, was besser geeignet ist, um das zu bekommen, was der Natur entspricht (κατὰ φύσιν); denn Gott selbst hat mich so gemacht, dass ich disponiert bin, diese Dinge zu wählen. Aber wenn ich wirklich wüsste, dass es mir vom Schicksal bestimmt war, jetzt krank zu sein, dann hätte ich auch einen Antrieb, krank zu sein. Auch mein Fuß hätte ja, wenn er Einsicht besäße, einen Antrieb, schmutzig zu werden. 462 (Übers. Hülser) Solange ich mir keiner übergeordneten Erwägung - einer Forderung der (2) interpersonellen Gerechtigkeit oder (3) des Gemeinwohls - bewusst bin, werde ich meinen eigenen Vorteil i.S. der naturgemäßen Dinge verfolgen, d. h. ich werde den Anweisungen der τέχνη folgen, die sich meinem eigenen körperli‐ chen und privaten Wohlergehen widmet. Die Ratschläge dieser τέχνη können jedoch durch Wissen über das für andere, das Gemeinwohl und den Kosmos Nützliche überwogen werden. 463 Insofern uns die Physik dieses Wissen eröffnet, ist sie eine τέχνη und, da diese τέχνη uns unfehlbar richtig - d. h. in Überein‐ stimmung mit der Natur - handeln lässt, weil sie die Korrektheit unserer Deli‐ beration sicherstellt, eine Tugend. Diese Überlegungen unterstreichen nochmals die zentrale Bedeutung der Naturphilosophie und einer Kenntnis der grundle‐ genden physikalischen Prinzipien für die stoische Ethik. Die Physik ist sowohl eine theoretische als auch eine praktische τέχνη: 464 Sie ist zum einen die ‚Erfah‐ rung dessen, was durch die Natur geschieht‘ (ἐμπειρία τῶν φύσει συμ- 188 III. Die stoische Motivationstheorie 464 Vgl. dazu auch Poseidoniosʼ Bestimmung des stoischen τέλος, welche den theoretischen und praktischen Aspekt des Wissens des stoischen Weisen zusammenbringt: τὸ ζῆν θεωροῦντα τὴν τῶν ὅλων ἀλήθειαν καὶ τάξιν καὶ συγκατασκευάζοντα αὐτὴν κατὰ τὸ δυνατόν („die Wahrheit und Ordnung des Kosmos betrachtend und sie entsprechend des Möglichen mithervorbringend leben“ [fr. 186 EK, 13-15]). 465 Vgl. D. L. 7. 87 = LS 63C; Stob.Ecl. 2. 76. 8 = SVF 3. 12. 466 Vgl. Orig.Princ. 3. 1.2 f = LS 53A = SVF 2.988. βαινόντων) 465 , zum anderen ist jedoch dieses Wissen, da alles, was durch die Natur geschieht, dem Plan der kosmischen Natur gemäß geschieht, auch eva‐ luativer Art, insofern das Geschehen als naturgemäß (κατὰ φύσιν) bzw. natur‐ widrig (παρὰ φύσιν) beurteilt wird. Besitzt man die τέχνη der Physik und weiß, dass ein bestimmtes Ergebnis naturgemäß ist, so wird man versuchen, es in seinem Handeln zu erreichen. Nachdem nun die zentralen für die Motivations‐ problematik relevanten Lehren und Kategorien der stoischen Ethik - nämlich die οἰκείωσις und die Axiologie - dargestellt sind, soll im folgenden Kapitel untersucht werden, wie diese Kategorien in der stoischen Handlungs- und Mo‐ tivationstheorie zur Anwendung kommen und wie eine als καθῆκον identifi‐ zierte Handlung genau zustande kommt. III.2 Der psychologische Monismus der Stoa - oder die Frage nach den motivierenden mentalen Zuständen III.2. 1 Die Psychologie der Stoa Will man verstehen, wie sich die Stoiker die Handlungsgenese vorgestellt und Handlungen erklärt haben, ist es erforderlich ihre differenzierte Handlungs‐ psychologie zu untersuchen, da der Seele die zentrale Rolle innerhalb der stoi‐ schen Handlungstheorie zukommt. Hinsichtlich der Bewegung unterscheiden die Stoiker nämlich zwischen Entitäten, welche die Ursache der Bewegung in sich selbst haben, - wie Menschen, Tiere oder Pflanzen - und solchen, welche nur von außen bewegt werden, - wie Hölzer oder Steine. Von den Dingen jedoch, welche die Ursache der Bewegung in sich selbst haben, werden die einen ‚aus sich selbst‘ (ἐξ ἑαυτῶν), die anderen ‚von sich selbst‘ (ἀφʼ ἑαυτῶν) bewegt. ‚Aus sich selbst‘ wird das Unbeseelte wie die Pflanzen bewegt; ‚von sich selbst‘ wird dagegen das Beseelte, d. h. Menschen und Tiere bewegt. 466 Wie diese Bewegung des Beseelten zustande kommt, erfordert daher eine Analyse ihrer differentia specifica gegenüber den anderen bewegten Dingen - also ihrer Seele. Dabei soll zunächst die stoische Theorie hinsichtlich der Struktur der menschlichen Seele 189 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 467 Vgl. Aët. 4. 4. 4 = SVF 2.827; 4. 21.1-4 = LS 53H = SVF 2.836; D. L. 7.110 = SVF 2.828; Gal.PHP 5. 3. 7; siehe dazu auch die neuplatonischen Quellen in: Stob.Ecl. 1.350 = SVF 2.830; 1.369 = SVF 2.831; Panaitios hat später die Seelenteile auf sechs reduziert, indem er die Stimme als Teil des für die Bewegung verantwortlichen Impulses ansah und das Zeugungsvermögen nicht der Seele, sondern der menschlichen Natur zuordnete (Nemes.Nat.hom. 212.6-9 = LS 53I). 468 Siehe S. 116 f. 469 Vgl. S. E. M 7.234; zum συνεκτικὸν αἰτίον siehe auch: Gal.CC 1.1-5 = LS 55F; Plen. 3 = SVF 2.439 f; Alex.Mixt. 223 f = LS 47I = SVF 2.442; 47L = SVF 2.441; Plu.Stoic.rep. 1053F = LS 47M = SVF 2.449; siehe dazu auch: Forschner ( 2 1995), 91-96. 470 Vgl. Cooper (2012), 159. Es wurde aufgrund der Ausführungen Galens in PHP 4 und 5 vielfach behauptet, Poseidonios habe den psychologischen Monismus der Stoa aufge‐ geben und eine platonische Seelenlehre vertreten, welche von einer Dreiteilung der Seele in λογιστικόν, ἐπιθυμητικόν und θυμοειδές ausgeht (vgl. Schmekel [1892], 248-263 und 324-337; Pohlenz [1959], 224-226). Galens Darste llung der poseidonischen Seelen‐ lehre ist jedoch interessengeleitet. Galen möchte einen Bruch in der stoischen Tradition zwischen Chrysipp und Poseidonios aufweisen und die platonische Seelenlehre als die einzig wahre darstellen; siehe dazu v.a. die Arbeiten von Fillion-Lahille (1984), 153, Tieleman (1996; 2003; 2007; 2013), Gill (1998; 2005) und Cooper (1998 [1999]); eine Zu‐ sammenfassung der Diskussion findet sich in: Sorabji (2000), 99-108 und Bonazzi (2007), 114-121. Cooper (1998 [1999]), Tieleman (2003), Gill (2005) und Lorenz (2011) haben zudem aufgezeigt, wie die Ausführungen Galens zur Moralpsychologie des Poseidonios mit dem psychologischen Monismus der alten Stoa in Einklang gebracht werden können. Die Rolle des Poseidonios in der Geschichte der stoischen Schule war demnach weniger bedeutsam als lange Zeit angenommen. Er trug im Wesentlichen zu wenigen doktrinären Verfeinerungen bei und führte einige termini technici ein. Etwas konser‐ vativere Ansichten finden sich in: Inwood (1993 [2005]), 23-64; Price (1995), 175-178; Sorabji (1998; 2000, 93-132). analysiert werden, bevor dann in einem weiteren Schritt herausgearbeitet werden soll, welche Rolle die Seele in der Handlungsverursachung spielt. Den Stoikern zufolge besteht die menschliche Seele aus acht Teilen (μέρη): den fünf Sinnen (αἰσθητήρια: ὅρασις, ὄσφρησις, ἀκοή, γεῦσις, ἁφή), der Stimme (φωνή), dem Zeugungsvermögen (σπερματικόν) und dem leitenden Seelenver‐ mögen (ἡγεμονικόν), welches die anderen Teile kontrolliert und reguliert. 467 Darüber hinaus übt die menschliche Seele, wie oben im Kapitel über die Grund‐ lagen der stoischen Naturphilosophie 468 angesprochen, auch die Funktionen aus, welche auf den niedrigeren Stufen der scala naturae angesiedelt sind - ἕξις und φύσις. Die menschliche Seele hält als ἕξις das Lebewesen zusammen und sorgt als φύσις für seine Ernährung und sein Wachstum. 469 Der vielfach bezeugte psychologische Monismus der Stoa kommt dadurch zustande, dass die übrigen sieben Seelenteile dem rationalen ἡγεμονικόν unterliegen und von diesem kon‐ trolliert und reguliert werden. Es gibt folglich keine irrationalen Seelenteile wie in der platonischen oder aristotelischen Moralpsychologie, die sich dem ratio‐ nalen ἡγεμονικόν widersetzen und ihm entgegenstehen können. 470 Folglich 190 III. Die stoische Motivationstheorie 471 Vgl. S. 116-119. 472 Darüber hinaus wird Zeus auch mit dem ὀρθὸς λόγος identifiziert (Vgl. D .L. 7. 88 = LS 63C = SVF 3. 4: οὐδὲν ἐνεργοῦντας ὧν ἀπαγορεύειν εἴωθεν ὁ νόμος ὁ κοινός, ὅσπερ ἐστὶν ὁ ὀρθὸς λόγος, διὰ πάντων ἐρχόμενος, ὁ αὐτὸς ὢν τῷ Διί, καθηγεμόνι τούτῳ τῆς τῶν ὄντων διοικήσεως ὄντι.). 473 Zur Analogie von göttlichen und menschlichen Impulsen siehe: Cic.ND 2. 58 = LS 53Y = SVF 1.172: at que ut ceterae naturae suis seminibus quaeque gignuntur augescunt con‐ tinentur, sic natura mundi omnis motus habet voluntarios, conatusque et adpetitiones, quas ὁρμὰς Graeci vocant, et is consentaneas actiones sic adhibet ut nosmet ipsi qui animis movemur et sensibus; siehe dazu auch: Inwood (1985), 108. 474 Vgl. Cooper (2012), 196. liegen auch alle Quellen unserer Handlungsmotivation im rationalen ἡγεμονικόν, d. h. in unserem Denken darüber, was wir tun oder unterlassen sollen. Es existieren keine davon unabhängigen Triebe oder Wünsche, welche uns wie in der platonisch-aristotelischen Moralpsychologie zum Handeln mo‐ tivieren können. Unsere Handlungsimpulse und Wünsche sind für die Stoiker selbst Aspekte bzw. Ergebnisse unserer Vernunft in Gestalt des ἡγεμονικόν, welches die menschliche Seele konstitutiert und die Quelle all unserer freiwil‐ ligen Handlungen ist. Diese monistische Psychologie, die alle Handlungen aus unserer Vernunft hervorgehen lässt, fügt sich harmonisch in die stoische Lehre von der göttlichen Vernunft und ihrem Verhältnis zum Menschen ein, die oben im Kapitel zur stoi‐ schen Naturphilosophie näher betrachtet wurden. 471 Zeus bzw. die Weltver‐ nunft - die kosmische Natur - gestaltet die Welt und ist für alle Ereignisse, die in ihr stattfinden, verantwortlich. Unsere menschliche Vernunft ist Teil dieser göttlichen Vernunft, und Zeus verursacht die Ereignisse in der Welt allein da‐ durch, dass er sich für ihr Zustandekommen entscheidet, d. h. allein durch die Kraft seines Denkens. Zeus ist das aktive Prinzip der Welt, welches den Stoikern zufolge λόγος ist. 472 Der λόγος verursacht also die Ereignisse in der Welt. Nun muss dasselbe Vermögen zu handeln, welches der göttlichen Vernunft zukommt, auch dem Menschen zukommen, da er kraft seines λόγος ein Teil von ihr ist. 473 Auch er muss aufgrund von Überzeugungen bzw. Entscheidungen darüber han‐ deln, was er für καθῆκον bzw. gut hält, wie begrenzt seine Wahrnehmung dessen auch sein mag. Genausowenig wie bei Zeus kann es in ihm andere Kräfte geben, die dazu in der Lage sind, Handlungen hervorzubringen bzw. Ereignisse in der Welt zu verursachen und seine rationalen Handlungsimpulse zu unterlaufen bzw. sich ihnen zu widersetzen. Die Vernunft ist daher im Leben des Menschen gleichermaßen letzte Kausalursache all seiner Handlungen, wie sie die letzte Kausalursache aller Ereignisse in der Welt ist. 474 Die Annahme einer der Welt inhärierenden göttlichen Vernunft, welche alle Ereignisse in der Welt verursacht 191 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 475 Zur sokratischen Moralpsychologie siehe: Brickhouse/ Smith (2010). 476 Stob.Ecl. 1.369. 5 = SVF 2.831: οἱ ἀπὸ Ζήνωνος ὀκταμερῆ τὴν ψυχὴν δοξάζουσι, περὶ <ἣν> τὰς δυνάμεις εἶναι πλείονας, ὥσπερ ἐν τῷ ἡγεμονικῷ ἐνυπαρχουσῶν φαντασίας, συγκαταθέσεως, ὁρμῆς, λόγου. 477 Vgl. Stob.Ecl. 1.368.12-20 = LS 53K = SVF 2.826: ἔνιαι δὲ ἰδιότητι ποιότητος περὶ τὸ αὐτὸ ὑποκείμενον· ὥσπερ γὰρ τὸ μῆλον ἐν τῷ αὐτῷ σώματι τὴν γλυκύτητα ἔχει καὶ τὴν εὐωδίαν, οὕτω καὶ τὸ ἡγεμονικὸν ἐν ταὐτῷ φαντασίαν, συγκατάθεσιν, ὁρμήν, λόγον συνείληφε. und an welcher die Vernunft des Menschen partizipiert, veranlasste die Stoiker also dazu, die platonisch-aristotelische Moralpsychologie mit ihrer Annahme mehrerer unabhängiger Seelenteile zurückzuweisen und stattdessen einen sok‐ ratisch inspirierten psychologischen Monismus 475 zu vertreten. Diese Überle‐ gungen in Bezug auf die menschliche Seele geben uns allerdings noch keine allzu detaillierten Hinweise, wie sich die Stoiker die Handlungsgenese genau vorge‐ stellt haben. Hier hilft uns eine Passage aus Jamblichs Über die Seele (Περὶ ψυχής) weiter, die bei Johannes Stobaios überliefert ist: Die Anhänger Zenons lehren, dass die Seele acht Teile habe und es in der Seele mehrere Vermögen gebe. Zum Beispiel existierten im leitenden Seelenvermögen Vorstellung, Zustimmung, Impuls und Vernunft. 476 Jamblich unterscheidet hier vier spezifische Vermögen des leitenden Seelenver‐ mögens: das Vorstellungsvermögen (φαντασία), das Zustimmungsvermögen (συγκατάθεσις), das Impulsvermögen (ὁρμή) und das Vernunftvermögen (λόγος). Diese Seelenvermögen verhalten sich dabei analog zu Qualitäten, so dass das leitende Seelenvermögen des Menschen in sich - d. h. in seinem Teil - das Vorstellungs-, Zustimmungs-, Impuls- und Vernunftvermögen enthält: Andere Vermögen werden durch eine Besonderheit der Qualität hinsichtlich desselben Substrats bestimmt; denn wie der Apfel in demselben Körper die Süße und den Wohl‐ geruch besitzt, so fasst auch das leitende Seelenvermögen in demselben Körper Vor‐ stellung, Zustimmung, Impuls und Vernunft zusammen. 477 (Übers. Hülser mit Modi‐ fikationen) Die Seelenvermögen befinden sich folglich nicht in räumlich getrennten Teilen der Seele, sondern sind im ἡγεμονικόν vereint und stellen unterschiedliche Qualitäten des Pneumas des ἡγεμονικόν dar. Die Unterscheidung von Teilen und Vermögen ist an dieser Stelle von essentieller Bedeutung. Teile stellen räumlich getrennte Bereiche des Seelenpneumas dar, von welchen das leitende Seelen‐ vermögen einer ist. Es ist den Stoikern zufolge in der Nähe des Herzens ange‐ siedelt und besitzt vier Vermögen, durch welche es in der Lage ist, vier verschie‐ 192 III. Die stoische Motivationstheorie 478 Vgl. Aët. 4. 21.1-4 = LS 53H = SVF 2.836. 479 Für die folgende Interpretation siehe: Inwood (1985), 32-41; für einige Einwände und Bedenken siehe: Tieleman (2003), 38 f. 480 Vgl. Simp.Cat. frg. 58A = SVF 3.203: δύναμις ἐστιν ἡ πλείονων ἐποιστικὴ συμπτωμάτων […] καὶ κατακρατοῦσα τῶν ὑποτασσομένων ἐνεργειῶν […]; mit Beden ken hinsichtlich des stoischen Ursprungs dieser Definition von δύναμις und der darauf basierenden In‐ terpretation: Tieleman (2003), 38f. 481 Vgl. Phil.Leg. 1. 30 = LS 53P = SVF 2.844; Stob.Ecl. 2. 74 = LS 41H = SVF 3.112. dene Funktionen auszuüben. Dagegen sind die Teile des Seelenpneumas, die sich zu den Sinnesorganen bzw. zu den Genitalien im Falle des σπερματικόν und zur Kehle und zur Zunge im Falle der φωνή erstrecken, mit nur einem Vermögen ausgestattet. 478 Die Augen können nur sehen, die Ohren nur hören, die Nase nur riechen, da sie nur ein Vermögen in ihrem Teil des Seelenpneumas besitzen. Das ἡγεμονικόν verfügt dagegen über vier Vermögen in seinem Teil des Seelen‐ pneumas und ist daher dazu in der Lage, mit Vorstellungen umzugehen, ihnen seine Zustimmung zu geben bzw. vorzuenthalten, einen Handlungsimpuls zu verursachen und die Vernunft zu gebrauchen. Wie ist es jedoch möglich, dass mehrere Vermögen in einem einzigen Seelenteil existieren? Sind immer zugleich alle vier vorhanden oder werden sie sukzessiv erzeugt, so dass letztlich immer nur ein Vermögen realiter präsent ist? Eine Antwort auf diese Frage erhält man, wenn man sich klar macht, was man unter einem Vermögen (δύναμις) versteht. 479 In seinem Kommentar zu Aristotelesʼ Kategorienschrift weist Simplikios den Stoikern die folgende Defi‐ nition von δύναμις zu: Eine δύναμις sei „das, was viele Ereignisse verursache […] und die ihr untergeordneten Tätigkeiten kontrolliere […].“ 480 Ein Vermögen ist demnach also etwas, was eine Reihe von Tätigkeiten und Ereignissen her‐ vorbringen und kontrollieren kann. Bei Philon von Alexandrien und Areios Di‐ dymos erfährt man darüber hinaus, dass die δύναμις als Vermögen, bestimmte mentale Ereignisse hervorzubringen und zu kontrollieren, eine Disposition (ἕξις) darstellt und in einer bestimmten Spannung (τόνος) des Seelenpneumas besteht. 481 Die Spannung des Seelenpneumas ist demnach von entscheidender Bedeutung für die mentalen Zustände und Aktivitäten des Menschen und damit, wie noch zu zeigen sein wird, für sein Verhalten und seine Interaktion mit seiner Umwelt. Die Bestimmung der Vermögen des ἡγεμονικόν als Dispositionen und bestimmte Spannungen des Seelenpneumas des ἡγεμονικόν erlaubt es uns auch, eine weitere Schlussfolgerung bezüglich der Natur dieser Vermögen zu ziehen. Als Dispositionen und variable Spannungen des Seelenpneumas des ἡγεμονικόν existieren die vier Vermögen auch, wenn sie nicht aktual ausgeübt werden. Sie existieren folglich sowohl actualiter - als κινήσεις bzw. ἐνέργειαι - als auch potentialiter - als δύναμεις. 482 193 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 482 So finden wir bei Areios Didymos die stoische Unterscheidung zwischen ὁρμή (κινήσις bzw. Impuls actualiter) und ἕξις ὁρμητική (δύναμις bzw. Impuls potentialiter). Die ὁρμή als aktualer Impu ls wird durch die ἕξις ὁρμητική als Disposition hervorge‐ bracht (vgl. Stob.Ecl. 2.87.7 = SVF 3.169); für die explizite Erwähnung einer ἕξις λογική siehe: Simp.Cat. frg. 102B = SVF 3.238; Phil.Leg. 3.210 = SVF 3.512. 483 Vgl. S. E. M 7.228-230.373 = SVF 2. 56; siehe dazu auch: Sedley (1993), 329-331; Brennan (2005), 53 f; Graver (2007), 24 f; Pohlenz (1959), 61. 484 Vgl. Simp.Cat. frg. 61B = SVF 2.393. 485 Vgl. S. 115-117. 486 Die Stoiker gestanden zielg ericht ete Be weg ungen (ἐνεργεῖν) auch nicht-rationalen Lebewesen - d. h. Tieren - zu. Doch behielten sie Handlungen (πράττειν) allein ratio‐ Unsere mentalen Aktivitäten und Operationen sind demnach Aktualisie‐ rungen bestimmter stets vorhandener Vermögen, die auch in den Zeiträumen zwischen zwei Aktualisierungen potentialiter fortbestehen. Die bei Jamblich erwähnten vier Vermögen (δύναμεις) des ἡγεμονικόν sind daher ἕξεις, welche die ihnen jeweils korrespondierenden Aktualitäten (φαντασία, συγκατάθεσις, ὁρμή und λόγος actualiter) hervorbringen und kontrollieren. Sie bilden dabei keine räumlich getrennten Teile des Seelenpneumas, sondern stellen bestimmte Qualitäten des Seelenpneumas des ἡγεμονικόν dar, welche sich in verschied‐ enden Spannungen dieses Pneumas manifestieren. Dabei vermag es das Pneuma des ἡγεμονικόν, verschiedene Spannungen zur selben Zeit zu bewahren. Denn wir erfahren, dass Chrysipp der Ansicht war, dass verschiedene Veränderungen (ἑτεροιώσεις) des Seelenpneumas - und nichts anderes sind letztlich auch die unterschiedlichen Vermögen des ἡγεμονικόν im Übergang von Potentialität zu Aktualität - zeitgleich im ἡγεμονικόν koexistieren und über die Zeit hin fort‐ dauern können, auch wenn sie nicht aktualisiert werden. 483 Auch die Vermögen des ἡγεμονικόν können so potentialiter als Spannungen im Seelenpneuma des ἡγεμονικόν fortbestehen, bis sie wieder aktualisiert werden. 484 Auf diese Weise vermag auch die materialistische Psychologie der Stoa - es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Pneuma von den Stoikern materiell verstanden wurde 485 -, verschiedene fortbestehende Vermögen in ein und demselben Körper zu denken. Insofern die Vermögen als ἕξεις verstanden werden, bedrohen sie auch nicht den psychologischen Monismus der Stoa. Wie wirken diese Ver‐ mögen und ihre Aktualisierungen jedoch bei der Verursachung von Handlungen zusammen? III.2. 2 Die Handlungspsychologie Die stoische Handlungstheorie analysiert menschliches Handeln (πράττειν) 486 mit Hilfe der genannten vier Vermögen des ἡγεμονικόν: dem Vorstellungsver‐ 194 III. Die stoische Motivationstheorie nalen Wesen vor (vgl. Alex.Fat. 205. 28 = LS 62I = SVF 2. 1002; 206. 5). Ich beschränke mich hier auf die Diskussion von menschlichen Handlungen (πράττειν); zum Verhalten von Tieren siehe: Inwood (1985), 66-91. 487 Vgl. Sto b.Ec l. 1. 369. 5 = S VF 2.8 31: οἱ ἀπ ὸ Ζήνωνος ὀκταμερῆ τὴν ψυχὴν δοξάζουσι, περὶ <ἣν> τὰς δυνάμεις εἶναι πλείονας, ὥσπερ ἐν τῷ ἡγεμονικῷ ἐνυπαρχουσῶν φαντασίας, συγκαταθέσεως, ὁρμῆς, λόγου. 488 Vgl. Stob.Ecl. 2.86.17-8 7.6 = LS 5 3Q = SVF 3.169: τὴν δὲ λογικὴν ὁρμὴν δεόντως ἄν τις ἀφορίζοιτο λέγων εἶναι φορὰν διανοίας ἐπί τι τῶν ἐν τῷ πράττειν. 489 D. L. 7. 86 = LS 57 A = SVF 3 .178: τοῦ δὲ λό γου τοῖς λογικοῖς κατὰ τελειοτέραν προστασίαν δεδομένου, τὸ κατὰ λόγον ζῆν ὀρθῶς γίνεσθαι <τού>τοις κατὰ φύσιν· τεχνίτης γὰρ οὗτος ἐπιγίνεται τῆς ὁρμῆς. 490 Vgl. D .L. 7.49-51 = LS 39 A = SVF 2. 52.55.61. 491 Vgl. D.L . 7. 51 = LS 3 9A = SVF 2. 61: αἱ μὲ ν οὖν λογικαὶ [sc. φαντασίαι] νοήσεις εἰσίν […]; Der Begriff Proposition wird hier und im Folgenden in einem nicht technischen Sinne verwendet, da es einige b edeutsame Unterschie de zwische n stoischen ἀξιώματα und ‚Propositionen‘ im gegenwärtigen philosophischen Sprachgebrauch gibt (vgl. Shogry [2019], 33 Anm. 4 mit Verweis auf Bobzien [1999], 93 Anm. 48). 492 Vgl. Sto b.Ec l. 2. 88.2 -6 = LS 33I = SVF 3. 171: πάσας δὲ τὰς ὁρμὰς συγκαταθέσεις εἶναι, τὰς δὲ πρακτικὰς καὶ τὸ κινητικὸν περιέχειν. ἤδη δὲ ἄλλῳ μὲν εἶναι συγκαταθέσις, ἐπʼ ἄλλο δὲ ὁρμάς· καὶ συγκαταθέσε ις μὲν ἀξιώμασί τισι ν, ὁρμὰς δ ὲ ἐπὶ κατηγορήματα, τὰ περιεχόμενά πως ἐν τοῖς ἀξιώμασιν † αἱ συγκαταθέσεις. mögen (φαντασία), dem Zustimmungsvermögen (συγκατάθεσις) - in der spä‐ teren Schulentwicklung zusätzlich das mit dem Zustimmungsvermögen ver‐ bundene und diesem vorgelagerte Entscheidungsvermögen (προαίρεσις) -, dem Impulsvermögen (ὁρμή) und dem Vernunftvermögen (λόγος). 487 Die Vernunft (λόγος) ist nun allerdings nicht einfach ein Vermögen auf derselben Ebene wie die anderen. Sie ist vielmehr der alles bestimmende Faktor innerhalb der menschlichen Seele. Die Vernunft modifiziert die übrigen Seelenvermögen, so dass sie aufhören, nicht-rational zu sein, und nur noch in rationaler Form exis‐ tieren. Der Impuls wird zu einem ‚rationalen Impuls‘ (ὁρμὴ λογική) 488 , einem von der Vernunft gestalteten Impuls. 489 Ebenso bewirkt die Vernunft, dass jede menschliche φαντασία eine rationale φαντασία (φαντασία λογική) 490 ist - ein Gedanke -, indem sie von einer sprachlichen Proposition begleitet wird. 491 Hin‐ sichtlich des Zustimmungsvermögens wird sein genauer Bezug zur Rationalität des Menschen in der weiteren Untersuchung noch deutlicher werden, doch kann bereits jetzt gesagt werden, dass seine Funktion darin besteht, die eine φαντασία begleitende Proposition zu akzeptieren bzw. nicht zu akzeptieren, wozu die Ver‐ nunft notwendig ist, da die Proposition, wie gleich deutlich werden wird, sprachliche Form besitzt. 492 Somit könnte man in Bezug auf die stoische Seelen‐ lehre auch sagen, dass das ἡγεμονικόν über drei Vermögen verfügt: das rationale Vorstellungsvermögen (φαντασία λογική), die rationale Zustimmung (συγκατάθεσις λογική) sowie den rationalen Impuls (ὁρμὴ λογική). Die Ver‐ 195 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 493 Vgl. Plu.Comm.not. 1084F-1085A = LS 39F = SVF 2.847: φαντασία γάρ τις ἡ ἔννοιά ἐστι, φαντασία δὲ τύπωσις ἐν ψυχῇ· τὰς ἐννοίας <ἐν>αποκειμένας τινὰς ὁριζόμενοι νοήσεις, μνήμας δὲ μονίμους καὶ σχετικὰς τυπώσεις. 494 Vgl. Inwood (1985), 54; Sandbach (1971), 11 f. nunft steht über diesen und macht sie zu dem, was sie sind, indem sie das ἡγεμονικόν als Ganzes modifiziert und sein Wesen bestimmt. In einem weiteren Schritt sollen nun die einzelnen Vermögen an sich etwas näher betrachtet und ihr Verhältnis zueinander in der Verursachung unserer Handlungen genauer analysiert werden. Die Analyse folgt dabei der Abfolge der einzelnen Momente in der Struktur der stoischen Handlungspsychologie (φαντασία - [προαίρεσις -] συγκατάθεσις - ὁρμή): Abb. 1: Stoische Handlungspsychologie III.2. 2. 1 φαντασία Das Vorstellungsvermögen (φαντασία) umfasst innerhalb der stoischen Psy‐ chologie eine große Bandbreite von Phänomenen. Ganz allgemein hat man, wenn man eine φαντασία hat, etwas - sei es aufgrund einer Sinneswahrneh‐ mung, sei es unabhängig davon - im Geiste gegenwärtig. φαντασίαι umfassen dabei nicht nur das, was uns bewusst gegenwärtig ist, sondern auch Erinne‐ rungen und Begriffe, welche uns momentan nicht bewusst gegenwärtig sind, aber unserem Bewusstsein zugrunde liegen. 493 Die Stoiker fassen folglich sowohl Sinneswahrnehmungen als auch Gedanken unter dem Begriff der φαντασία zusammen. Hieraus folgt, dass der Akteur nicht bloß durch φαντασίαι von außen affiziert wird, sondern sie auch in gewissem Maße selbst hervorzurufen vermag. 494 In physiologischer Hinsicht stellt eine φαντασία eine Veränderung (ἑτεροίωσις bzw. ἀλλοίωσις) des Pneumas des ἡγεμονικόν dar: Die Vorstellung dagegen ist ein Eindruck in der Seele, d. h. eine Veränderung, wie Chrysipp im zweiten Buch Über die Seele anmerkt; den Eindruck sollte man nämlich nicht wie den Abdruck eines Siegelrings auffassen, weil es unmöglich ist, dass an demselben Gegenstand zur selben Zeit viele solche Abdrücke entstehen. 495 (Übers. Hülser) 196 III. Die stoische Motivationstheorie 495 Vgl. D. L. 7. 50 = LS 39A = SVF 2. 55: φαντασία δέ ἐστι τύπωσις ἐν ψυχῇ, τουτέστιν ἀλλοίωσις, ὡς ὁ Χρύσιππος ἐν τῷ β’ Περὶ ψυχῆς ὑφίσταται. οὐ γὰρ δεκτέον τὴν τύπωσιν οἱονεὶ τύπον σφραγιστῆρος, ἐπεὶ ἀνένδεκτόν ἐστι πολλοὺς τύπους κατὰ τὸ αὐτὸ περὶ τὸ αὐτὸ γίνεσθαι. 496 Zenon, der Gründer der Sto a, bez eichnete diesen Abdruck als τύπωσις: S. E. M 7.236 = SVF 1. 58; siehe dazu auch: Cic.Luc. 58. Wie genau diese Veränderung zu verstehen sei, war in der alten Stoa zwischen Kleanthes und Chrysipp umstritten: S. E. M 7.228-230.373 = SVF 2. 56; siehe dazu auch: Pohlenz (1959), 61; Sedley (1993), 329-331; Brennan (2005), 53 f; Graver (2007), 24 f; Schriefl (2019), 47 f. 497 Vgl. S. E. M 7.373 = SVF 1. 64; 2. 56: ἀλλʼ εἰ τοῦτο, ἀναιρεῖται μὲν μνήμη θησαυρισμὸς οὖσα φα ντασιῶν […]. 498 Vgl. S. E. M 8.275 = SVF 2.135.223; siehe dazu auch: Kenny (1989), 154-158. 499 Vgl. D. L. 7.49 = LS 33D = SVF 2.52: προηγεῖται γὰρ ἡ φαν τασία, εἶθʼ ἡ διάνοια ἐκλαλητικὴ ὑπάρχουσα, ὃ πάσχει ὑπὸ τῆς φαντασίας, τοῦτο ἐκφέρει λόγῳ; Cic.Luc. 21 = LS 39C: atqui qualia sunt haec quae sensibus percipi dicimus talia secuntur ea quae non sensibus ipsis percipi dicuntur sed quodam modo sensibus, ut haec: ‚illud est album, hoc dulce, canorum illud, hoc bene olens, hoc asperum‘: animo iam haec tenemus compre‐ hensa non sensibus; S. E. M 8.70 = LS 33C = SVF 2.187: λεκτὸν δὲ ὑπάρχειν φασὶ τὸ κατὰ λογικὴν φαντασίαν ὑφιστάμενον, λογικὴν δὲ εἶναι φαντασίαν καθʼ ἣν τὸ φαντασθὲν ἔστι λόγῳ παραστῆσαι; siehe dazu auch: Long (1971), 82-84.104-106; Schubert (1994), 15-148; Frede (1994b); Shields (1994); Forschner ( 2 1995, 67-84; 2018, 41-44); Drozdek (2002); Bobzien (2003); Schriefl (2019), 66-70; der Vernunftgebrauch, welcher hinter den intelligenten Wortfolgen steht und Inferenz sowie Denken ermöglicht, heißt ἐνδιάθετος λόγος und unterscheidet den Menschen vom Tier (S. E. M 8.275 = LS 53T = SVF 2.223: φασὶν ὅτι ἄνθρωπος οὐχὶ τῷ προφορικῷ λόγῳ διαφέρει τῶν ἀλόγων ζῴων (καὶ γὰρ κόρακες καὶ ψιττακοὶ καὶ κίτται ἐνάρθρους προφέρονται φωνάς), ἀλλὰ τῷ ἐνδιαθέτῳ). Eine Vorstellung ist also ein Eindruck in der Seele 496 , welcher sich in einer Ver‐ änderung des Seelenpneumas manifestiert, wobei zugleich mehrere Vorstel‐ lungen in der Seele vorhanden sein können. Dies ist nur konsequent, da die Stoiker auch Begriffe und Erinnerungen als Vorstellungen verstanden haben. 497 Nur auf diese Weise können unsere Begriffe und Erinnerungen bewahrt werden. Wäre dies nicht möglich, müssten wir alle sofort wieder vergessen, sobald wir die nächste Vorstellung haben. Im Falle rationaler Wesen werden die Vorstellungen von sog. ‚Sagbaren‘ (λεκτά) begleitet. Insofern der Sprachgebrauch eines der herausragenden Cha‐ rakteristika einer vernünftigen Natur ist, ist dies nicht allzu verwunderlich. 498 λεκτά sind immaterielle Entitäten, welche in Form intelligenter Wortfolgen als die Bedeutung der phonetischen Gebilde die Vorstellungen des Akteurs be‐ gleiten und mithilfe des Vernunftvermögens entschlüsselt und verständlich ge‐ macht werden. 499 Sie bilden die Basis der inneren Rede, welche die Stoiker mit dem Prozess des Denkens identifiziert haben. Es gibt demnach den Stoikern zufolge eine strukturelle Entsprechung zwischen Denken und gesprochener Rede. Aufgrund dessen lässt sich auch ein wichtiger Unterschied zwischen 197 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 500 Vgl. S. E. M 8.11 f = LS 33B = SVF 2.166. 501 Vgl. D. L. 7. 66; S. E. M 8.70 f = SVF 2.187. 502 D. L. 7. 63 = LS 33F = SVF 2.181: τῶν δὲ λεκτῶν τὰ μὲν λέγουσιν εἶναι αὐθτοτελῆ οἱ Στωικοί, τὰ δʼ ἐλλιπῆ. ἐλλιπῆ μὲν οὖν ἐστι τὰ ἀναπάρτιστον ἔχοντα τὴν ἐκφοράν, οἷον „γράφει“· ἐπιζητοῦμεν γάρ, „τίς; “ αὐτοτελῆ δʼ ἐστὶ τὰ ἀπηρτισμένην ἔχοντα τὴν ἐκφοράν, οἷον „γράφει Σωκράτης“. ἐν μὲν οὖν τοῖς ἐλλιπέσι λεκτοῖς τέτακται τὰ κατηγορήματα, ἐν δὲ τοῖς αὐτοτελέσι τὰ ἀξιώματα καὶ οἱ συλλογισμοί καὶ τὰ ἐρωτήματα καὶ τὰ πύσματα; siehe auch: S. E. M 8.70 f = SVF 2.187. menschlichem und tierischem ‚Handeln‘ - zwischen πράττειν und ἐνεργεῖν - festmachen: Die λεκτά ermöglichen es den Menschen, ihre Handlungen zu ver‐ sprachlichen und so selbstbewusst und reflexiv zu handeln. Um ein besseres Verständnis des für die stoische Handlungstheorie äußerst wichtigen Begriffs des λεκτόν zu erlangen, dürfte es hilfreich sein, die zentralen semantischen Unterscheidungen der Stoa etwas genauer zu betrachten. Eine grundlegende Unterscheidung betrifft die zwischen Bezeichnendem (σημαῖνον), dem zum Ausdruck Gebrachten (σημαινόμενον) und dem Ding bzw. Ereignis selbst (τυγχάνον). Das σημαῖνον ist die stimmliche Äußerung bzw. das Lautgebilde (φωνή), welches der Sprecher von sich gibt. Das τυγχάνον ist das in der Welt existierende Ding bzw. Ereignis, auf welches sich die Äußerung bezieht. Das σημαινόμενον ist der zum Ausdruck gebrachte Sachverhalt bzw. das Gesagte (λεκτόν), welches von diesen allein wahrheitsfähig ist. Nur das λεκτόν kann wahr oder falsch sein. Es ist selbst unkörperlich, während die beiden anderen - das σημαῖνον sowie das τυγχάνον - Körper sind. 500 Die λεκτά selbst werden in verschiedene Klassen eingeteilt: Fragen, Bitten, Urteile, Befehle, Aussagen etc. 501 Darüber hinaus wird auch zwischen vollständigen (αὐτοτελῆ) und unvollständigen (ἐλλιπῆ) λεκτά unterschieden: Die Stoiker sagen, dass die Sagbaren teils vollständig, teils unvollständig sind. Un‐ vollständig sind diejenigen, deren sprachlicher Ausdruck unabgeschlossen ist, wie „schreibt“; wir fragen nämlich: „Wer? “ Vollständig sind aber diejenigen, deren sprach‐ licher Ausdruck abgeschlossen ist, wie „Sokrates schreibt“. Zu den unvollständigen Sagbaren gehören also die Prädikate (κατηγορήματα), zu den vollständigen dagegen die Aussagen (ἀξιώματα), die Syllogismen, die Entscheidungs- und Bestimmungs‐ fragen. 502 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Zu den unvollständigen λεκτά zählen folglich z. B. Verben, welchen ein Subjekt fehlt. Vollständige λεκτά sind u. a. vollständige Ausdrücke, wie wir sie in Aus‐ sagesätzen finden. Allein vollständige λεκτά können wahr oder falsch sein. Im Falle von Aussagen (ἀξιώματα) stellt sich die Frage nach ihrem Wahrheitswert, welcher dann realisiert ist, wenn die Aussage mit der Welt übereinstimmt. 503 Die Unterscheidung zwischen Prädikaten (κατηγορήματα) als unvollständigen 198 III. Die stoische Motivationstheorie 503 Vgl. D. L. 7. 65 = LS 34A = SVF 2.193: ἀξίωμα δέ ἐστιν ἀληθὲς ἢ ψεῦδος· ἢ πρᾶγμα αὐτοτελὲς ἀποφαντὸν ὅσον ἐφʼ ἑαυτῷ, ὡς ὁ Χρύσιππός φησιν ἐν τοῖς Διαλεκτικοῖς ὅροις […]; D. L. 7. 65 = LS 34E = SVF 2.193: ὁ γὰρ λέγων „ἡμέρα ἐστίν“, ἀξιοῦν δοκεῖ τὸ ἡμέραν εἶναι. οὔσης μὲν οὖν ἡμέρας, ἀληθὲς γίνεται τὸ προκείμενον ἀξίωμα· μὴ οὔσης δέ, ψεῦδος; D. L. 7. 66 = SVF 2.186: ἀξίωμα μὲν γάρ ἐστιν ὃ λέγοντες ἀποφαινόμεθα, ὅπερ ἢ ἀληθές ἐστιν ἢ ψεῦδος. 504 Näheres hierzu siehe: S. 207-209 und 220 f. 505 Es kann vorkommen, dass καθῆκον durch in etwa äquivalente Begr iff e wie οἰκεῖον, εὔλογον o der συμφέρον ersetzt wird (vgl. Epict.Diss. 1. 2.3 f; 1. 11.28-32; 1. 18. 1; 1. 19.8-15; 1. 28.5-6; 3. 22. 43; Plu.Adv.Col. 1122A-F = LS 69A); siehe dazu auch: Lloyd (1978), 236; White (2010), 118; eine Kritik an dieser Interpretation, der zufolge das λεκτόν einer φαντασία ὁρμετική eine bestimmte Form haben und durch den καθῆκον-Operator qualifiziert sein muss, findet sich bei Blackson (2017). 506 Vgl. Stob.Ecl. 2. 86.17 f = LS 53Q = SVF 3.169; Epict.Diss. 1. 18. 1; Ench. 42; Cic.Fin 3. 59 = LS 59F = SVF 3.498; siehe dazu auch: Brenn an (200 3), 283-290; Fü r den Vorschlag, dass es n ich t der Inhalt einer φαντασία ist, der sie zu einer ‚impulsiven Vorstellung‘ macht, sondern vielmehr die Art und Weise, wie sie diesen Inhalt repräsentiert, siehe: Frede (1986); eine Untersuchung und Widerlegung dieses Vorschlags findet sich in: Brennan (1998). λεκτά und Aussagen (ἀξιώματα) als vollständigen λεκτά wird für die stoische Handlungstheorie noch von zentraler Bedeutung sein, insofern sie je unter‐ schiedliche Objekte des Zustimmungsbzw. Impulsvermögens darstellen. 504 Innerhalb der stoischen Handlungstheorie weist nun die Vorstellung, welche bei der Verursachung von Handlungen eine Rolle spielt, spezifische Charakte‐ ristika auf, welche sie von anderen Vorstellungen unterscheidet. Sie trägt einen speziellen Namen: Es ist eine ‚impulsive Vorstellung‘ (φαντασία ὁρμετική), d. h. eine handlungswirksame Vorstellung. Die ‚impulsive Vorstellung‘ zeichnet sich dadurch aus, dass sie von einem λεκτόν begleitet wird, welches ein evaluatives Element enthält, das die Handlung als eine ‚zukommende Handlung‘ (καθῆκον) 505 ausweist und dem Akteur anzeigt, dass das Objekt der Handlung in seinem Interesse liegt. 506 Diese Bedingung, dass das Objekt der Handlung dem Akteur als in seinem Interesse liegend erscheinen muss, bildet die subjektive Einschränkung der Motivation in der stoischen Handlungspsychologie: Subjektive Einschränkung der Motivation: Wenn ein Akteur φ-t, muss ihm φ-en selbst oder ein mit φ-en verbundenes Ziel als καθῆκον erscheinen und ihn (aus diesem Grund) zu φ-en motivieren. Die ‚impulsive Vorstellung‘ präsentiert somit die Handlung als für den Akteur in seiner Situation zukommend und von daher als auszuführen bzw. gesollt. Auch für die Stoa ist demnach all unser Handeln zielgerichtet und zweckhaft, insofern es unternommen wird, um etwas zu sichern, was im Interesse des Ak‐ teurs liegt. Im Gegensatz zu Aristoteles vertreten die Stoiker keine ‚Guise of the 199 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 507 Vgl. Stob.Ecl. 2. 86.17 f = LS 53Q = SVF 3.169; Epict.Diss. 1. 18. 1; Ench. 42; Cic.Fin. 3. 59; siehe dazu auch: Brennan (2003), 268 f; Annas (1992), 96 f; Vogt (2008), 171 f; White (2010), 118; Gourinat (2014), 26 f. Lloyd (1978), 236 war der Ansicht, dass sog. ‚praktische Prädikate‘ wie ‚lustvoll‘, ‚schmerzhaft‘, ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ dazu dienen, ‚impulsive Vorstellungen‘ von ‚nicht-impulsiven‘ zu unterscheiden. Zur Diskussion, ob die Vor‐ stellung einer Handlung als καθῆκον unsere Handlungen motiviert oder ob in der Stoa auch eine Motivation sub specie bzw. sub ratione boni, wie Frede (1999a), Kamtekar (2005), 222 und Müller (2009), 199 nahezulegen scheinen, denkbar ist, siehe: Brennan (2003), 283-290. Ich schließe mich hier den überzeugenden Ausführungen Brennans an und vertrete die These, dass uns allein die Vorstellung einer Handlung als καθῆκον zum Handeln motivieren kann. Zu demselben Ergebnis kommen auch Brittain (2001), 247-253 und Vogt (2008), 171 f und 179 f. Für diese Interpretation spricht auch, dass die προηγμένα bzw. ἀποπροηγμένα, die uns epistemische Gründe dafür geben zu glauben, dass eine Handlung καθῆκον ist, dadurch definiert werden, dass sie dazu in der Lage sind, eine ὁρμή bzw. ἀφορμή zu erregen (vgl. D. L. 7.104 f = LS 58B = SVF 3.119; Stob.Ecl. 2. 82. 5 = SVF 3.121). Good-Theorie‘ der Handlungsmotivation - d. h. keine Motivation sub specie bzw. sub ratione boni -, sondern eine Motivation durch die Überzeugung, dass eine bestimmte Handlung καθῆκον ist - mithin eine Motivation sub specie bzw. sub ratione τοῦ καθήκοντου. 507 Die καθήκοντα ergeben sich für die Stoiker, wie oben aufgezeigt wurde, aus der οἰκείωσις, in deren Verlauf das Lebewesen lernt, welche Dinge und Handlungen zur Erhaltung seiner Konstitution in einem na‐ turgemäßen Zustand beitragen. Da die Konstitution das ist, was ein Lebewesen zu der Art von Wesen macht, welches es ist, trägt nicht alles gleichermaßen für alle zum Erhalt der Konstitution in einem naturgemäßen Zustand bei, so dass die καθήκοντα von Art zu Art variieren werden. Nicht alles kann daher einem bestimmten Wesen als καθῆκον erscheinen. Dies ist die objektive Einschränkung der Motivation bei den Stoikern, welche insofern objektiv ist, als sich die καθήκοντα eines Wesens aus seiner Konstitution ergeben: Objektive Einschränkung der Motivation: Abhängig von seiner Konstitution ist φ-en selbst oder ein mit φ-en verbundenes Ziel für ein Lebewesen καθῆκον. Eine Kombination der subjektiven und der objektiven Einschränkung der Mo‐ tivation ergibt folgende generelle Einschränkung in Bezug auf die Handlungs‐ motivation eines Akteurs: Subjektive und objektive Einschränkung der Motivation: Wenn ein Akteur φ-t, muss ihm φ-en selbst oder ein mit φ-en verbundenes Ziel als καθῆκον erscheinen und ihn (aus diesem Grund) zu φ-en motivieren, wobei es von seiner Konstitution abhängig ist, ob φ-en selbst oder ein mit φ-en verbundenes Ziel für ihn καθῆκον ist. 200 III. Die stoische Motivationstheorie 508 Ich gehe hier mit Brennan (1998, 64 f Anm. 60; 2003, 261 Anm. 8; 2005, 57 f und 90) davon aus, dass jede φαντασία mit nur einem einzigen λεκτόν einhergeht, welches die φαντασία zu der φαντασία macht, die sie ist; für die gegensätzliche Position, dass ein und dieselbe φαντασία von mehreren λεκτά begleitet werden kann, siehe: Inwood (1985), 61. 509 Der einzige Text, der die Annahme nahelegen könnte, dass ein und dieselbe φαντασία von mehreren λεκτά bzw. ἀξιώματα begleitet werden kann, ist S. E. M 7.246 = LS 30F = SVF 2. 65. Allerdings handelt es sich hier um Vorstellungstypen (z. B. die φαντασία, dass es Tag ist), von denen viele Menschen zu verschiedenen Zeiten Vorstellungsindividuen mit unterschiedlichen Wahrheitswerten haben. Auch in diesem Text werden die ver‐ schiedenen Vorstellungsindividuen des Vorstellungstyps nicht von mehreren verschie‐ denen λεκτά bzw. ἀξιώματα begleitet, sondern von einem einzigen λεκτόν bzw. ἀξιώμα, dessen Wahrheitswert variiert; vgl. dazu auch Brennan (2003), 261 Anm. 8. 510 Vgl. Inwood (1985), 106 f. 511 Vgl. Inwood (1985), 199. 512 Vgl. S. 117-119. Ein entscheidender Punkt bezüglich der stoischen Lehre von der φαντασία be‐ steht nun darin, dass eine φαντασία von nur einem einzigen λεκτόν begleitet werden kann, welches die φαντασία zu der φαντασία macht, die sie ist. Die Individuation einer spezifischen φαντασία vollzieht sich folglich anhand ihres sinnlichen und ihres propositionalen Gehalts. Eine Modifikation eines dieser Bestandteile führt zu einer anderen φαντασία. 508 Es finden sich keine Hinweise in dem uns erhaltenen Textcorpus, welche Brad Inwoods These stützen könnten, dass ein und dieselbe φαντασία von mehreren λεκτά begleitet werden könne. 509 Im Falle einer ‚impulsiven Vorstellung‘ ist, wie erwähnt, das die Vorstellung begleitende λεκτόν eines, welches eine bestimmte Handlung als καθῆκον qua‐ lifiziert. Der καθῆκον-Operator innerhalb der ‚impulsiven Vorstellung‘ stellt nun nicht nur ein evaluatives Element dar, welches im Falle der Zustimmung die Motivation des Akteurs verbürgt, sondern zugleich auch ein deskriptives, insofern er eine Handlung als in Übereinstimmung mit der Natur des Kosmos beschreibt. Der Akteur steht im Falle der ‚impulsiven Vorstellung‘ „Es ist die mir ‚zukommende Handlung‘ (καθῆκον), das fremde Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben.“ nicht nur Tatsachen, sondern auch Werturteilen gegenüber. Das entsprechende ἀξιώμα ist eine Aussage sowohl über einen evaluativen Sachverhalt - „Es ist die mir ‚zukommende Handlung‘ (καθῆκον)“ - als auch über ein Faktum in der Welt - das Zurückgeben des Portemonnaies an seinen Besitzer ist in Übereinstimmung mit der Natur des Kosmos. 510 Die Stoiker haben demnach keine strikte Trennung von Werten und Tatsachen gekannt. 511 Insofern nämlich die Natur des Kosmos, wie im Kapitel zu den Grundlagen zur stoischen Naturphilosophie dargelegt wurde, 512 eine objektive Teleologie aufweist, unter‐ 201 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 513 Vgl. Inwood (1985), 199; Annas (1992), 92: „The Stoics are not operating with a picture of the world in which all facts about the world are inert, and so need the addition of some mysterious extra ingredient before action can be produced in response to them. They accept the commonsense picture, namely, that some facts do, on occasion, lead some people to act. There is no special mystery about these cases; this is just the kind of fact that they are“; zur fact/ value-Dichotomie siehe auch: Putnam (2002). 514 Vgl. S. 199 Anm. 505 und S. 200 Anm. 507. 515 Vgl. Epict.D iss. 2. 11.6 f; 2. 22. 1; 1. 22. 9; siehe auch: Aët. 4. 11.1-4 = LS 39E = SVF 2. 83. 516 Vgl. Jackson-McCabe (2004). 517 Vgl. D. L. 7. 53 = LS 60C = SVF 2. 87: φυ σικ ῶς δὲ νοεῖται δίκαιόν τ ι καὶ ἀγαθόν. 518 Vgl. Plu.Comm.not. 1070C: καὶ ταῦτʼ ἐν τοῖς περὶ ἀγαθῶν καὶ κακῶν αἱρετῶν τε καὶ φευκτῶν οἰκείων τε καὶ ἀλλοτρίων, ἃ μᾶλλον ἔδει θερμῶν τε καὶ ψυχρῶν λευκῶν τε καὶ μελάνων σαφεστέραν ἔχειν τὴν ἐνάργειαν· ἐκείνων μὲν γὰρ ἔξωθέν εἰσιν αἱ φαντασίαι ταῖς αἰσθήσεσιν ἐπεισόδιοι, ταῦτα δʼ ἐκ τῶν ἀρχῶν τῶν ἐν ἡμῖν σύμφυτον ἔχει τὴν γένεσιν; siehe auch: Hierocl.El.Eth. 6.1-24 sowie Luschnat (1958), 190-192. 519 Vgl. dazu Pohlenz (1940), 89-93. 520 Vgl. Pohlenz (1940), 92: „Bei der Geburt sind die Begriffe freilich noch nicht vorhanden. Die Seele gleicht der tabula rasa, und es gibt in ihr keine Begriffe, weder fertige noch unfertige. Angeboren ist aber im Lebewesen nach seiner seelischen Struktur durch die Oikeiosis die Tendenz und die Fähigkeit, zu den Dingen wie zu sich selbst wertend Stellung zu nehmen.“ 521 Vgl. S. 121 Anm. 159. laufen die Stoiker eine strenge Trennung von Werten und Tatsachen, so dass uns Urteile über Tatsachen in der Welt auch Gründe für bzw. gegen das Aus‐ führen bestimmter Handlungen geben können. 513 Die motivationale Kraft, welche dem καθῆκον-Operator zukommt, der auch als Oberbegriff für alle weiteren ethischen bzw. praktischen Begriffe angesehen werden kann, 514 hat ihren Ursprung in der speziellen Genese ethischer Begriffe, welche von den Stoikern zu den ἔμφυτοι ἔννοιαι bzw. προλήψεις 515 gezählt werden. 516 Diese als ἔμφυτοι ἔννοιαι bzw. προλήψεις bezeichneten Begriffe haben einen natürlichen Ursprung. So werden das Gerechte und Gute von Natur aus erkannt. 517 Im Falle der ethischen Begriffe besteht dieser natürliche Ursprung im Prozess der οἰκείωσις. 518 Wir haben oben gesehen, dass die ethischen Begriffe, insbesondere der Begriff des ‚καθῆκον‘, eng mit dem Prozess der οἰκείωσις ver‐ bunden sind. 519 Die Stoiker führten die Fähigkeit, ethische Unterscheidungen vorzunehmen, auf die Selbstwahrnehmung und die Sorge um die eigene Kon‐ sitution des rationalen Lebewesens zurück. Das Ausbilden der ethischen Begriffe als ἔμφυτοι ἔννοιαι bzw. προλήψεις wird folglich für die Stoiker durch den Pro‐ zess der οἰκείωσις garantiert. 520 Da dies kein motivational neutraler Prozess 521 ist, überträgt sich diese motivationale Dimension auch auf die mit ihr entste‐ henden Begriffe. Die ethischen Begriffe bilden daher eine spezielle Art von Be‐ griffen, da sie nicht auf empirischer Erfahrung basieren, sondern aus einer ein‐ 202 III. Die stoische Motivationstheorie 522 Vgl. Sen.Ep. 121. 18 : Haec [sc . c ura su i] a nimalibus inest cunctis , nec inseritur sed inna scitur; 121. 20: Apparet illis inesse nocituri scientiam non experimento collectam; nam antequam possint experisci, cavent. 523 Vgl. Jackson-McCabe (20 04), 332 f und 339 sowie Kamtekar (2005), 224; siehe auch Poh‐ lenz (1940), 92: „Die Empirie ist dabei unentbehrlich, aber die primäre Ursache liegt in der Natur des λογικὸν ζῷον, in der die Anlage zur Bildung der sittlichen Begriffe ent‐ halten ist.“ 524 Ich folge hier der Interpretation von: Frede (1983 [1987], 155; 1986, 104-107); Brennan (1998, 45; 2003, 261 Anm. 8); Reinhardt (2011), 300; Cooper (2012), 161; Brittain (2014), 334 f und de Harven (2018a), 227 f; für eine Kritik an dieser Position siehe: Shogry (2019), der bestreitet, dass die stoische φαντασία über den propositionalen Gehalt hinaus auch einen repräsentationalen Gehalt besitzt; ähnlich auch: Inwood ( 1985), 56 f. Aufgrund des Fehlens einer textlichen Basis zur Klärung der Frage, ob die stoische φαντασία über den propositionalen Gehalt auch einen repräsentationalen Gehalt besitzt, ist man auf philosophische Erwägungen verwiesen, welches die konsistentere Position ist. Ich denke, im Folgenden solche Erwägungen zugunsten des repräsentationalen Gehalts vorbringen zu können. 525 Zur Rolle der φαντασία καταληπτική in der stoischen Epistemologie siehe: Watson (1966); Frede (1999b); Hankinson (2003); Brennan (2005), 62-81; Vogt (2012b), 158-182. 526 Vgl. Frede (1986), 104. geborenen evaluativen Disposition hervorgehen, 522 welche auf die empirische Erfahrung angewendet wird und zudem noch motivational aufgeladen ist. 523 Die ethischen Begriffe und insbesondere der Begriff des ‚καθῆκον‘ besitzen auf‐ grund ihrer Genese im Prozess der οἰκείωσις eine motivationale Dimension und sind dazu in der Lage, eine ὁρμή im Akteur zu verursachen und somit eine φαντασία zu einer φαντασία ὁρμετική zu machen. Das durch den καθῆκον-Operator qualifizerte λεκτόν ist nun allerdings nicht das einzige Merkmal, das eine φαντασία ὁρμετική kennzeichnet. Es ist nämlich möglich ein und dasselbe λεκτόν auf viele verschiedene Weisen zu denken, so dass auch die ihm korrespondierende φαντασία variieren dürfte. Daher muss nicht nur der propositionale Gehalt des λεκτόν, sondern auch die Art und Weise, wie es gedacht wird, - d. h. ihr repräsentationaler Gehalt - Eingang in eine vollständige Charakterisierung der φαντασία finden. 524 Diese Tatsache scheint auch der stoischen Unterscheidung zwischen einer klaren Vorstellung (φαντασία καταληπτική) und einer unklaren bzw. diffusen Vorstellung zu‐ grunde zu liegen. 525 Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Vor‐ stellungen scheint kein Unterschied in ihrem propositionalen Gehalt zu sein, sondern eher in der Art und Weise, wie die Proposition gedacht wird - in ihrem repräsentationalen Gehalt. 526 So kann das Denken zweier Personen denselben propositionalen Gehalt haben - z. B. dass jemand eine Schnittverletzung hat. Doch wird der Gedanke des Nichtfachkundigen unklar und diffus sein, während der Arzt genau wissen wird, welche Blutgefäße, Muskeln und Sehnen durch den 203 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 527 Vgl. Cooper (2012), 161. 528 Vgl. Inwood (1985), 98; zur Manipulation und Selektion von Vorstellungen siehe auch: D. L. 7. 51 = LS 39A = SVF 2. 61; Epict.Diss. 1. 6. 10; Aët. 4. 11.1-4 = LS 39E = SVF 2. 83; Sen.Ep. 12 0. 4 = LS 60E; S. E. M 8.276 = LS 53T = SVF 2.223; Cic.Fin. 3. 33 = LS 60D = SVF 3. 72. Zur Rolle des Charakters siehe die vagen Anspielungen bei: Gell. 7. 2.6-13 = LS 62D = SVF 2. 1000; vgl. dazu auch: Long (1991 [1996]), 274 f und 284 f; Frede (2011), 38; für eine Parallele zum Einfluss des Charakters auf die Wahrnehmung in der epikurei‐ schen Philosophie siehe: Lucr. 4.779-817 und 4.962-986; siehe dazu auch: Nussbaum (1994), 165. 529 Siehe dazu die Ausführungen zu den νοσήματα, ἀρρωστήματα, εὐεμπτωσίαι und ἐπιτηδεύματα auf S. 251-254 und 258 f unten. Schnitt betroffen sind, so dass seine Vorstellung klar sein wird. Ebenso verhält es sich auch mit der φαντασία ὁρμετική. Je nachdem wie die durch den καθῆκον-Operator qualifizierte Proposition gedacht wird, wird sie handlungs‐ wirksam werden oder nicht. Allein der καθῆκον-Operator im λεκτόν reicht nicht aus, um eine φαντασία zu einer φαντασία ὁρμετική zu machen. Das durch den καθῆκον-Operator qualifizierte λεκτόν muss auch auf die richtige Art und Weise gedacht werden - z. B. ärgerlich, enttäuscht, freudig, verächtlich oder hoff‐ nungvoll. 527 Dieser repräsentationale Gehalt - die Art und Weise unseres Den‐ kens - hängt nun auch von unserem Charakter ab. 528 Unser Charakter ist den Stoikern zufolge ein materialer Zustand unserer Seele. 529 Daher kann er unseren Umgang mit einer φαντασία beeinflussen, welche ja einen Abdruck in unserer Seele hinterlässt. Abhängig von der Beschaffenheit des Charakters der jewei‐ ligen Person wird das λεκτόν auf die eine oder andere Weise gedacht, wodurch verschiedene Personen auch verschiedene Vorstellungen haben können, ob‐ schon sich diese in ihrem propositionalen Gehalt nicht voneinander unter‐ scheiden. Diese Überlegung bietet damit zugleich eine mögliche Erklärung für das Phä‐ nomen des Amoralisten, der in der gegenwärtigen Debatte immer wieder gegen den motivationstheoretischen Internalismus ins Feld geführt wird. Der Amora‐ list scheint zwar ein moralisches Urteil zu fällen, ist jedoch in keiner Weise motiviert, diesem Urteil entsprechend zu handeln. Für den Stoiker hat der Amo‐ ralist letztlich aufgrund eines Fehlers in seinem Charakter - worin dieser be‐ steht, darauf wird im folgenden Kapitel noch zurückzukommen sein - überhaupt keine φαντασία ὁρμετική. Er hat zwar hinsichtlich des propositionalen Gehalts denselben Gedanken wie derjenige, der durch sein moralisches Urteil auch de facto zum Handeln motivert wird, doch ist die Art und Weise, wie dieser pro‐ positionale Gehalt gedacht wird, verschieden, weshalb sich auch die Vorstel‐ lungen der beiden Personen unterscheiden: Der eine hat eine φαντασία ὁρμετική, der Amoralist nicht. Der Unterschied könnte z. B. darin liegen, dass 204 III. Die stoische Motivationstheorie 530 Vgl. Manne (2015); ähnlich auch: Audi (1997), 227 f; zur U nterscheidung von partizipa‐ torischer und objektiver Haltung siehe: Strawson (1962 [2008]), 9 f und 16. 531 Vgl. Strawson (1962 [2008]), 16. 532 Vgl. Manne (2015), 270; ähnlich bereits: Audi (19 97), 227 f. 533 Vgl. dazu Bobzien (1998a), 281f, welche die συγκατάθεσις als eine ‚two-sided capacity or power‘ bezeichnet; Brennan (2003), 262 Anm. 9 und Vogt (2012a), 651 bestreiten zu‐ recht, einen dritten Gebrauch des Zustimmungsvermögens, der neben der Zustimmung und ihrer Verweigerung im aktiven Zurückweisen einer Vorstellung (ἀνανεύειν) be‐ steht; siehe dazu auch: S. E. M 7.157 = LS 41C: τὸ δὲ ἀσυγκαταθετεῖν οὐδὲν ἕτερόν ἐστιν ἢ τὸ ἐπέχειν. 534 Vgl. S. 170-181 und 181-189. derjenige, der zum Handeln motiviert wird, eine partizipatorische Haltung sich selbst gegenüber einnimmt, während der Amoralist in einer objektiven Haltung bzw. Zuschauerhaltung verharrt. 530 Die partizipatorische Haltung zeichnet sich dadurch aus, dass man sich als in Verbindung mit anderen Menschen begreift, was wiederum einen Sinn für Verantwortung und Verpflichtung einschließt. 531 Die partizipatorische Haltung impliziert ein Verständnis von sich selbst als Teil der moralischen Gemeinschaft und beinhaltet eine Motivation, den eigenen moralischen Überzeugungen entsprechend zu handeln. Dem Amoralisten in seiner objektiven Haltung, in der er sich als isoliert bzw. losgelöst von seiner Umwelt versteht, fehlt ein Sinn für Verantwortung und Verpflichtung, weshalb ihn sein Urteil nicht zum Handeln motivieren kann. 532 Der Amoralist fällt letzt‐ lich also ein rein theoretisches Urteil, was jeweils καθῆκον ist und was man für gewöhnlich in einer solchen Situation tun sollte, nicht jedoch was er selbst aus einer erstpersönlichen Perspektive tun sollte. Er schaut als neutraler Beobachter aus seiner Zuschauerperspektive auf sich und bleibt gänzlich unbeteiligt. Ob es jedoch überhaupt zu einem (moralischen) Urteil kommt, hängt nun davon ab, ob der Akteur der entsprechenden Vorstellung seine Zustimmung gibt oder ver‐ weigert. III.2. 2. 2 συγκατάθεσις Das Zustimmungsvermögen (συγκατάθεσις) erlaubt es dem Akteur, sich zu einer φαντασία zu verhalten, die einen Eindruck in seinem Seelenpneuma hin‐ terlassen hat. Er kann der φαντασία entweder seine Zustimmung geben, inso‐ fern er sie für wahr hält, oder ihr die Zustimmung verweigern, wenn er sie für falsch hält. 533 Im Falle einer ‚impulsiven Vorstellung‘ wird er sein Urteil davon abhängig machen, ob er hinreichende Evidenzen hat, die entsprechende Hand‐ lung für eine ‚zukommende Handlung‘ (καθῆκον) zu halten. Wie ein solcher Identifikationsprozess der καθήκοντα aussieht, wurde oben in der Diskussion der stoischen Axiologie und Deliberation bereits dargelegt. 534 Die Zustimmung 205 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 535 Alex.Fat. 181.13-182. 20 = LS 62G = SVF 2.979; Cic.Fat. 43 = LS 62C = SVF 2.974; Epict.Diss. 1. 1.7-12 = LS 62K; siehe dazu auch: Schriefl (2019), 49. 536 Im Gegensatz zu Aristoteles kennen die Stoiker eine Art Dezisionsvermögen in ihrer Handlungserklärung: Frede (2011), 19-30. 537 Vgl. Inwood (1985), 83 f. 538 Vgl. Gal.PHP 5. 5. 26 = LS 65M = EK frg. 169. 539 Vgl. Cooper (1998 [1999]), 467; zur Unterscheidung von παθ ή und πα θητικὴ κ ίν ησις siehe auch: Gal.PHP 5.5.21; 4.7.28; 4.7.33; siehe dazu des Weiteren die Ausführungen zu den προπαθείαι auf S. 240-243 und bei Cooper (1998 [1999]), 482-484. 540 Vgl. Gal.PHP 5. 5. 21 = LS 65M = EK frg. 169: γεννᾶσθαι γὰρ τῷ ζῴῳ τὴν ὁρμὴν ἐνίοτε μὲν ἐπὶ τῇ τοῦ λογιστι κο ῦ κρίσ ει , πολλ άκ ις δʼ ἐπὶ τῇ κινήσει τοῦ παθητικοῦ; siehe auch: Cooper (1998 [1999]), 470. 541 Vgl. Cooper (2012), 159 f; siehe dazu auch: Cooper (1998 [1999]) mit der Interpretation der entsprechenden Passagen bei Galen. zu einer Vorstellung steht vollkommen in unserer Macht (ἐφʼ ἡμῖν). 535 Wir können uns dazu entscheiden, einer Vorstellung unsere Zustimmung zu geben oder ihr diese zu verweigern. 536 All unseren Handlungen geht eine Zustimmung voraus, auch wenn sie uns nicht immer bewusst ist. Hier ist darauf hinzuweisen, dass die stoische Handlungspsychologie eine Erklärung des Verhaltens eines Akteurs darstellt und nicht durch die Behauptungen des Akteurs über das, was er wahrnimmt bzw. nicht wahrnimmt, falsifiziert werden kann. Dieser Theorie zufolge geht jeder Handlung stets eine Zustimmung voraus. 537 Gefühle wie Hunger, Durst oder sexuelle Erregung bzw. unsere Neigungen zu essen, zu trinken oder unserer sexuellen Lust nachzugehen, können daher den Stoikern zufolge für sich alleine noch keine vollen Handlungsmotivationen konstituieren. Sie bilden keine Impulse, die uns in unserer Seele zum Handeln motivieren. Sie sind höchstens dazu in der Lage, entsprechende Vorstellungen in uns hervorzurufen, die uns sagen, dass es die ‚zukommende Handlung‘ (καθῆκον) sei, zu essen, zu trinken oder unserer sexuellen Lust nachzugehen. Aber diese Vorstellung wird nur als eine gewisse affektive Erregung (παθητικὴ κίνησις) 538 empfunden, die uns geneigt macht, entsprechend zu handeln; es ist noch keine Motivation zu einem entsprechenden Handeln. 539 Die Erregungen rufen in unserer Seele ihnen entsprechende Vorstellungen hervor und machen uns geneigt, diesen zuzustimmen, so dass wir dadurch tatsächlich motiviert sind, den Vorstellungen gemäß zu handeln. 540 Doch steht es uns immer noch frei, unsere Zustimmung zu geben bzw. zurückzuhalten. Nur wenn wir der Vorstel‐ lung unsere Zustimmung geben und akzeptieren, dass wir einen guten Grund haben, entsprechend zu handeln, bilden wir den Impuls und die entsprechende Handlungsmotivation aus. 541 Die Zustimmung zu einer Vorstellung muss jedoch nicht immer explizit er‐ folgen. Sie kann auch implizit bzw. dadurch gegeben werden, dass man sich der 206 III. Die stoische Motivationstheorie 542 Dies entspricht den zwei Arten von Zustimmung, die Frede (1984 [1987]) für den Skep‐ tiker in Sextus Empiricus nachgewiesen hat. Möglicherweise griff Sextus dabei auf eine bereits vorhandene stoische Unterscheidung von zwei Arten der Zustimmung - einer aktiven und einer passiven - zurück, was nicht vollkommen unplausibel erscheint, da er sich auch sonst oftmals stoischen Materials bedient. 543 Vgl. Gal.PHP 5. 5. 21 = LS 65M = EK frg. 169; Plu.Stoic.rep. 1057A-B = LS 41F = SVF 3.177; siehe dazu auch: Lorenz (2011), 191 f und 199-202, der auch auf eine terminologische Unterscheidung zwischen den beiden Arten der Zustimmung in der Stoa aufmerksam macht. So finden sich in Bezug auf die passive Zustimmung v. a. die Verben εἴκειν, ὑπολαμβάνειν und νομίζειν sowie die Begriffe δόξα und ὑπόληψις, während im Zu‐ sammenhang der aktiven Zustimmung meist von κρίσις bzw. κρίνειν die Rede ist (vgl. Gal.PHP 4. 5.3-6 = SVF 3.476; 4. 6. 2 = LS 65D = SVF 3.463; Plu.Stoic.rep. 1057A = LS 41F = SVF 3.177; Orig.Princ. 3. 1. 3.1-3 = LS 53A = SVF 2.988); siehe dazu auch: Cooper (1998 [1999]), 470. 544 Vgl. Inwood (1985), 84 f. 545 Dieser Punkt wird in der Stoa-Forschung kontrovers diskutiert. Ich folge hier den Aus‐ führungen von I nwood (1985), 56f und Brennan (2005), 54-58. Für die abweichende Position, welche der Ansicht ist, dass die Zustimmung den Vorstellungen selbst, nicht den sie begleitenden λεκτά gegeben wird, siehe: Frede (1986), 93-110, bes. 103-107. Vorstellung nicht widersetzt. So lassen sich zwei Arten der Zustimmung in der Stoa unterscheiden: eine aktive, reflexive Zustimmung und eine passive, nicht reflexive Zustimmung. 542 In beiden Fällen ist die Zustimmung Sache der Ver‐ nunft. Doch ist die Zustimmung einmal mehr, einmal weniger aktiv involviert. Im Falle der aktiven Zustimmung bildet sich die Vernunft ein eigenes Urteil über den Gegenstand und fällt dieses explizit. Bei der passiven Zustimmung ist der Akteur dagegen derart von der Attraktivität der Vorstellung eingenommen und angezogen, dass er es unterlässt, ihr Widerstand zu leisten, und ihr dadurch seine Zustimmung gibt. Die Vernunft scheint hier überhaupt kein Urteil zu fällen. Stattdessen unterlässt sie es einfach, sich der Attraktivität der Vorstellung zu widersetzen. Dieser unterlassene Widerstand ist jedoch auch eine Art der Zu‐ stimmung und kann einen Handlungsimpuls verursachen. 543 Zumindest retro‐ spektiv lässt sich aber auch die implizite bzw. passive Zustimmung zu einer bestimmten Vorstellung rekonstruieren, so dass der Akteur stets für seine Hand‐ lungen verantwortlich gemacht werden kann. Es wäre ihm möglich gewesen, sich der Vorstellung zu widersetzen und ihr damit seine Zustimmung zu ver‐ weigern. Er hätte dann die Handlung nicht ausgeführt. 544 Genau genommen wird die Zustimmung nun allerdings nicht den Vorstel‐ lungen selbst, sondern den λεκτά bzw. genauer den die λεκτά bildenden Aus‐ sagen (ἀξιώματα) gegeben, welche eine Handlung in sprachlicher Form reprä‐ sentieren: 545 207 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 546 Vgl. Stob.Ecl. 2. 88.2-6 = LS 33I = SVF 3.171: πάσας δὲ τὰς ὁρμὰς συγκαταθέσεις εἶναι, τὰς δὲ πρακτικὰς καὶ τὸ κινητικὸν περιέχειν. ἤδη δὲ ἄλλῳ μὲν εἶναι συγκαταθέσις, ἐπʼ ἄλλο δὲ ὁρμάς· καὶ συγκαταθέσεις μὲν ἀξιώμασί τισιν, ὁρμὰς δὲ ἐπὶ κατηγορήματα, τὰ περιεχόμενά πως ἐν τοῖς ἀξιώμασιν † αἱ συγκαταθέσεις; siehe dazu auch: S. E. M 7.154 = LS 41C: εἴπερ τε ἡ κατάληψις καταληπτικῆς φαντασίας συγκατάθεσίς ἐστιν, ἀνύπαρκτός ἐστι, πρῶτον μὲν ὅτι ἡ συγκατάθεσις οὐ πρὸς φαντασίαν γίνεται ἀλλὰ πρὸς λόγον (τῶν γὰρ ἀξιωμάτων εἰσὶν αἱ συγκαταθέσεις) […]. 547 Vgl. S. 192-194. 548 Vgl. Aët. 4. 12.1-5 = LS 39B = SVF 2. 5 4. 549 Vgl. D. L. 7. 159 = SVF 2.837; Aët. 4.5.6 = SVF 2.838; Gal.Foet.Form. 4.698.2-9 = LS 53D = SVF 2.761. 550 Vgl. zur unkö rperlichen Natur von ἀξι ώ μα τα: S. E. M 7. 38 = SVF 2.132; 10.218 = LS 27D = SVF 2.331; 11.224 = SVF 2.170. 551 Vgl. Brennan (2005), 56. Sie [sc. die Stoiker] sagen, dass alle Impulse Zustimmungen sind und dass die prak‐ tischen Impulse auch motivierende Kraft einschließen. Allerdings richten Zustim‐ mungen und Impulse sich auf unterschiedliche Objekte: Zustimmungen beziehen sich nämlich auf Aussagen, während Impulse sich auf Prädikate richten, die in den Aus‐ sagen in gewissem Sinne enthalten sind. 546 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Wenn wir also einer Vorstellung unsere Zustimmung geben, stimmen wir in einem strengen Sinne eigentlich nicht der Vorstellung zu, sondern der mit ihr verbundenen Aussage (ἀξιώμα). Es besteht ein großer Unterschied zwischen Vorstellungen und Aussagen. Eine Vorstellung ist, wie wir oben bei der Erörte‐ rung der stoischen Psychologie gesehen haben, 547 eine bestimmte physiologi‐ sche Beschaffenheit, d. h. Spannung des Seelenpneumas. Es ist eine Veränderung des Seelenpneumas entsprechend desjenigen Dinges oder Ereignisses, welches den Eindruck in der Seele hinterlassen hat. 548 Daher ist ihre Existenz an das Seelenpneuma gebunden, und sie ist - wie die Seele auch - in der Nähe des Herzens lokalisiert. 549 Eine Aussage ist dagegen unkörperlich und in ihrer Exis‐ tenz nicht an das Material des Seelenpneumas oder an irgendeinen Ort ge‐ bunden. 550 Aber weshalb geben wir nicht Vorstellungen, sondern den mit ihnen verbundenen Aussagen unsere Zustimmung? Muss es nicht irgendeine unmit‐ telbare Begegnung zwischen uns und dem Gegenstand geben, dem wir unsere Zustimmung geben? Wie ist dies bei unkörperlichen Aussagen möglich? Für die These, dass wir nicht den Vorstellungen selbst, sondern den mit ihnen verbundenen Aussagen unsere Zustimmung geben, spricht zunächst, dass wir keiner stummen und inartikulierten Vorstellung ohne jeglichen propositionalen Gehalt - einem bloßen Bild - unsere Zustimmung geben können. 551 Dennoch ist die Erwähnung der φαντασία in der physiologischen Beschreibung der kau‐ salen Handlungssequenz, welche zur Zustimmung führt, aus zwei Gründen 208 III. Die stoische Motivationstheorie 552 Vgl. Brennan (2005), 56-58. 553 Cic.Fat. 42 = LS 62C = SVF 2.974: […] adsensio non possit fieri nisi commota viso […]. 554 Vgl. Plu.Stoic.rep. 1037F = LS 53R = SVF 3.175: καὶ μὴν ἡ ὁρμὴ κατὰ γʼ αὐτὸν τοῦ ἀνθρώπου λόγος ἐστὶ προστακτικὸς αὐτῷ ποιεῖν, ὡς ἐν τῷ Περὶ νόμου γέγραφεν. 555 Vgl. dazu Inwood (1985), 62-65; zum selbstadressierten Imperativ sieh e auch: Price (1995), 146; Vogt (2008), 171 f. notwendig: Zum einen ist uns das λεκτόν ohne die φαντασία nicht gegenwärtig; zum anderen ist es, wie oben dargelegt, möglich, ein und dasselbe λεκτόν auf viele verschiedene Weisen zu denken, so dass auch die korrespondierenden φαντασίαι verschieden sind. Um nun die Handlung vollständig zu beschreiben, reicht es somit nicht aus, nur das λεκτόν zu bennenen, sondern es muss auch die Art und Weise, wie dieses gedacht wird, und damit die φαντασία miteinbe‐ zogen werden. Wir können jedoch trotz dieses engen Zusammenhangs von φαντασία und λεκτόν den Inhalt der φαντασία - das, wovon sie eine φαντασία ist - nur dadurch erfassen, dass wir ihren propositionalen Gehalt betrachten. Die Aussage inhäreriert also der φαντασία und macht sie zusammen mit der Art und Weise, wie sie gedacht wird, erst zu der φαντασία, die sie ist. Die φαντασία und die Aussage sind unterschiedliche Entitäten, doch sind sie so eng miteinander verknüpft, dass sie nicht voneinander getrennt werden können. So kann die Zustimmung der Aussage gegeben werden, welche uns physiologisch über die φαντασία vermittelt psychisch gegenwärtig sein kann. 552 Auf diese Weise wird auch Ciceros Aussage verständlich, dass „keine Zustimmung ge‐ schehen könne, wenn sie nicht von einer Vorstellung erregt wurde“ 553 . Gibt der Akteur schließlich auf Basis der zur Verfügung stehenden Evidenzen einer Vorstellung bzw. der in ihr enthaltenen Aussage seine Zustimmung, bildet er die Überzeugung aus, dass die Aussage wahr ist. Im Falle einer ‚impulsiven Vorstellung‘ gibt ihm darüber hinaus die Überzeugung, dass die vorgestellte Handlung die für ihn zum gegenwärtigen Zeitpunkt ‚zukommende Handlung‘ (καθῆκον) ist, zugleich auch einen guten Grund, die Handlung auszuführen, wenn die Handlung in Übereinstimmung mit der Natur des Kosmos ist. Die Vernunft des Akteurs gibt ihm nun als λόγος προστακτικός die Anordnung, die Handlung auch tatsächlich auszuführen. 554 Die Zustimmung zur ‚impulsiven Vorstellung‘ bzw. zum diese begleitenden ἀξιώμα impliziert die Anordnung der Vernunft, entsprechend zu handeln, und verursacht letztlich den handlungs‐ auslösenden Impuls. Dieser Interpretation zufolge ist allein die Zustimmung zur evaluativen Proposition „Es ist die mir ‚zukommende Handlung‘ (καθῆκον), zu φ-en.“ ausreichend, um eine ὁρμή auszulösen, welche den Akteur dazu veran‐ lasst, die entsprechende Handlung auszuführen. Ein wie von Brad Inwood pos‐ tulierter selbstadressierter Imperativ 555 als die Vorstellung begleitendes λεκτόν 209 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 556 Vgl. zu dieser Position: Gosling (1987), 199-201; Striker (1989), 97 f; Annas (1992), 96 Anm. 20; Brennan (2003, 266-269; 2005, 86-90). ist dafür nicht notwendig. Die Vernunft des Akteurs selbst fordert ihn zum Handeln auf, wenn er der Proposition zustimmt, dass eine bestimmte Handlung die ihm ‚zukommende Handlung‘ (καθῆκον) - d. h. die Handlung, die für ihn zu tun ist - darstellt. Zusätzlich einen Imperativ zu postulieren, ist unnötig - zumal eine Vorstellung immer nur von einem einzigen λέκτον begleitet werden kann, so dass für einen Imperativ neben dem ἀξιώμα „Es ist die mir ‚zukommende Handlung‘ (καθῆκον), zu φ-en.“ kein Platz bleibt. Dies ist nicht weiter proble‐ matisch, da ihm keine weitere Funktion zukommt. 556 Es ist nun allerdings durchaus denkbar, dass ein Akteur zwar dem ἀξιώμα „Es ist die mir ‚zukommende Handlung‘ (καθῆκον), das fremde Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben.“ zustimmt, jedoch in keiner Weise motiviert ist, auch entsprechend zu handeln. Nur zu wissen, was man tun soll, führt noch nicht automatisch auch zu einem entsprechenden Handeln. Die Stoiker scheinen damit eine Antwort auf das in der modernen motivationstheoretischen Diskus‐ sion oft angeführte und oben diskutierte Beispiel des sog. ‚Amoralisten‘ zu be‐ sitzen. Ihre Erklärung für dieses Phänomen könnte darin bestehen, dass der Amoralist überhaupt keine ‚impulsive Vorstellung‘ hat, sondern lediglich ein rein theoretisches Urteil darüber fällt, was für eine Person in seiner Situation die ‚zukommende Handlung‘ wäre. Sein Urteil bleibt rein theoretisch. Wie oben gezeigt wurde, besteht der Grund dafür darin, dass er die durch den καθῆκον-Operator qualifizierte Proposition nicht auf die richtige Art und Weise denkt. Zwar unterscheidet sich sein Urteil von dem einer Person, welche moti‐ viert ist, diesem Urteil entsprechend zu handeln, nicht im propositionalen Gehalt des Urteils. Beide geben der Proposition „Es ist die mir ‚zukommende Handlung‘ (καθῆκον), das fremde Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben.“ ihre Zu‐ stimmung. Jedoch denken sie diese Proposition auf unterschiedliche Art und Weise - z. B. in einer partizipatorischen und einer objektiven Haltung. Dieser Unterschied wurde oben auf den Charakter des jeweiligen Akteurs zurückge‐ führt und beim sog. Amoralisten ein diesbezügliches Defizit festgestellt, welches nun genauer identifiziert werden kann. Die praktische Dimension seiner Ver‐ nunft funktioniert nicht richtig, insofern aufgrund seines mangelnden Sinns für Verantwortung und Verpflichtung eine Anordnung des λόγος προστακτικός ausbleibt, dem Urteil entsprechend zu handeln. Seine Zustimmung bleibt daher ohne motivationale Kraft und kann ihn folglich auch nicht zum Handeln be‐ wegen. Er fällt daher überhaupt kein moralisches Urteil, welches ihn zum Han‐ deln bewegen könnte. Erst der λόγος προστακτικός verleiht der Zustimmung 210 III. Die stoische Motivationstheorie 557 Zum Urteil, dass die Stoiker motivationstheoretische Internalisten waren, gelangt auch Guckes (2004), 96. 558 Vgl. dazu die obigen Ausführungen zu den stoischen τέλος-Formeln, insbes. zum ὀρθὸς λόγος. des Akteurs Handlungswirksamkeit. Allein eine solche Zustimmung zu einer ‚impulsiven Vorstellung‘ vermag es, einen Handlungsimpuls und eine entspre‐ chende Handlung hervorzubringen. Wir haben es demnach, wie aus den ange‐ stellten Überlegungen deutlich wird, im Falle der Stoa mit einem bedingten mo‐ tivationstheoretischen Internalismus zu tun, 557 wobei die Bedingung hier im Sinne vollkommener praktischer Rationalität und, da vollkommene Rationalität in der Stoa gleichbedeutend mit Tugendhaftigkeit ist, 558 moralischer Perzeptivität ver‐ standen wird. Wenn die Vernunft des Akteurs richtig arbeiten würde, d. h. wenn er vollkommen rational - also tugendhaft - wäre, dann wäre er auch motiviert, seinem Urteil entsprechend zu handeln. Mit seiner Zustimmung zum ἀξιώμα „Es ist die mir ‚zukommende Handlung‘ (καθῆκον), das fremde Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben.“ würde ihm zugleich seine Vernunft befehlen, entsprechend zu handeln, und als ὁρμή eine entsprechende Handlung moti‐ vieren und verursachen. Die besondere Stärke der stoischen Motivationstheorie besteht darin, dass sie den beiden zentralen Dimensionen unseres Moralverständnisses gerecht zu werden vermag: der Normativität sowie der praktischen Dimension der Moral. Während nämlich das moralische Urteil, welches in der Zustimmung zum eva‐ luativen ἀξιώμα zum Ausdruck kommt, den Wert einer Handlung zum Ausdruck bringt, welchen die Stoiker durch den Begriff der ‚zukommenden Handlung‘ (καθῆκον) erfassen und der eine Tatsache in der Welt ist, insofern die Handlung dadurch als in Übereinstimmung mit der Natur des Kosmos bzw. Zeusʼ Willen qualifiziert wird, holt die mit der Zustimmung gegebene Aufforderung der Ver‐ nunft als Handlungsimpuls die praktische Dimension der Moral bzw. der καθήκοντα ein. Denn der λόγος προστακτικός - d. i. die ὁρμή - ist schließlich das, was uns auch tatsächlich zum Handeln veranlasst. So werden das evaluative ἀξιώμα und die die Handlung befehlende Vernunft den beiden zentralen Di‐ mensionen unseres Moralverständnisses gerecht: zum einen der Normativität der Moral, welche als eine Tatsache in der Welt - nämlich als kosmische Natur bzw. ‚rechte Vernunft‘ - verstanden wird; zum anderen der praktischen Dimen‐ sion der Moral, so dass sie auch faktisch in unserem Leben handlungswirksam werden kann. 211 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 559 Vgl. Epict.Diss. 1. 4.18-21; 1. 17.21-28; 2. 2.1-7; 3. 5. 3; 3. 6. 4; 3. 9. 11; zum Begriff der προαίρεσις bei Epiktet siehe auch: Bonhöffer (1890), 260; Rist (1969), 228-232; Kahn (1988), 251-255; Dobbin (1991), 111-135; Long (2002), 207-230; Graver (2003), 349-360; Brennan (2005), 288-304; Gourinat (2005), 93-133; Sorabji (2006, 181-200; 2007, 87-98); Pich (2010); Frede (2011), 44-48. 560 Vgl. Gourinat (2005), bes. 114-123. 561 Vgl. Gourinat (2005), 96; siehe auch: Bonhöffer (1890), 260. 562 Stob.Ecl. 2. 87. 21: προαίρεσιν δὲ αἵρεσιν πρὸ αἱρέσεως. a) b) c) III.2. 2. 2. 1 προαίρεσις Im Verlauf der Schulentwicklung erfuhr der Begriff der προαίρεσις eine Auf‐ wertung und wurde zu einem zentralen Konzept, welches die Disposition eines Individuums bezeichnet, seine Zustimmung zu geben. Die deutlichsten und um‐ fassendsten Ausführungen hierzu finden sich in den Diatriben des römischen Stoikers Epiktet. 559 Bei ihm können im Wesentlichen drei Verwendungsweisen des Wortes identifiziert werden: 560 Die προαίρεσις als Wahl einer bestimmten Lebensweise (ἐπιτήδευμα) bzw. Rolle (πρόσωπον) Die προαίρεσις als punktuelle Entscheidung Die προαίρεσις als Dezisionsvermögen a) Die προαίρεσις als Wahl einer bestimmten Lebensweise (ἐπιτήδευμα) bzw. Rolle (πρόσωπον) Der Verwendung des Begriffs der προαίρεσις als Wahl einer bestimmten Le‐ bensweise (ἐπιτήδευμα) bzw. Rolle (πρόσωπον) liegt das Verständnis des Prä‐ fixes προin einem temporalen Sinn zugrunde. Die προαίρεσις ist hier eine anfängliche Entscheidung, auf deren Basis sich die weitere Lebensführung und alle späteren Entscheidungen vollziehen. 561 Die Verwendung des Begriffs der προαίρεσις in diesem temporalen Sinne ist ganz in Übereinstimmung mit dem Begriffsverständnis in der alten Stoa. Dort wurde die προαίρεσις als ‚eine Wahl vor einer Wahl‘ 562 verstanden. Auch hier bezieht sich die anfängliche Entschei‐ dung auf die Wahl einer bestimmten Lebensform: Ich begrüße deine Liebe zum Lernen, insoweit du der wahren Bildung anhängst, die auf Nutzen zielt, aber nicht der populären, die nach der Perversion der Sitten strebt. Wer aber nach der Philosophie strebt und sich von der viel besprochenen Lust abwendet, welche die Seelen mancher jungen Leute verweichlicht, ist offenkundig nicht nur durch die Natur zum Edelmut geneigt, sondern auch durch die Entscheidung (προαίρεσις). 563 212 III. Die stoische Motivationstheorie 563 D. L. 7. 8: ἀποδέχομαί σου τὴν φιλομάθειαν καθόσον τῆς ἀληθινῆς καὶ εἰς ὄνησιν τεινούσης, ἀλλʼ οὐχὶ τῆς δημώδους καὶ εἰς διαστροφὴν ἠθῶν ἀντέχῃ παιδείας. ὁ δὲ φιλοσοφίας ὠρεγμένος, ἐκκλίνων δὲ τὴν πολυθρύλητον ἡδονήν, ἣ τινῶν θηλύνει νέων ψυχάς, φανερός ἐστιν οὐ μόνον φύσει πρὸς εὐγένειαν κλίνων, ἀλλὰ καὶ προαιρέσει. 564 Epict.Diss. 3. 23.4-6: λοιπὸν ἡ μέν τίς ἐστι κοινὴ ἀναφορά, ἡ δʼ ἱδία. πρῶτον ἵνʼ ὡς ἄνθρωπος. ἐν τούτῳ τί περιέχεται; μὴ ὡς πρόβατον, <εἰκῆ> ἐπιεικῶς· μὴ βλαπτικῶς ὡς θηρίον. ἡ δʼ ἰδία πρὸς τὸ ἐπιτήδευμα ἑκάστου καὶ τὴν προαίρεσιν. ὁ κιθαρῳδὸς ὡς κιθαρῳδός, ὁ τέκτων ὡς τέκτων, ὁ φιλόσοφος ὡς φιλόσοφος, ὁ ῥήτορ ὡς ῥήτορ. ὅταν οὖν λέγῃς „δεῦτε καὶ ἀκούσατέ μου ἀναγιγνώσκοντος ὑμῖν,“ σκέψαι πρώτον μὴ εἰκῆ αὐτὸ ποιεῖν. εἶτʼ ἂν εὕρῃς, ὅτι ἀναφέρεις, σκέψαι, εἰ ἐφʼ ὃ δεῖ. 565 Für die mit der Lebensweise verbundene προσώπον/ persona-Lehre siehe: Cic.Off. 1.105-125; Epict.Diss. 2. 10.1-11; siehe dazu auch: De Lacy (1977); Gill (1988; 2008); Dyck (1996), ad loc.; Lefèvre (2001), 57-65; Forschner (2005). 566 Vgl. Gourinat (2005), 116. Bei Epiktet wird diese Bedeutung der προαίρεσις im Sinne einer Wahl einer bestimmten Lebensform neben seinen Ausführungen im Traktat 1. 2 besonders in folgendem Passus aus dem dritten Buch der Diatriben deutlich: Des Weiteren gibt es einen allgemeinen und einen besonderen Standard. Zuerst, dass ich mich wie ein Mensch verhalte. Was ist darin enthalten? Dass ich micht nicht wie ein Schaf verhalte, planlos, aber mild; nicht schädlich wie ein wildes Tier. Der beson‐ dere Standard betrifft die Lebensweise eines jeden und die Entscheidung (προαίρεσις). Der Kitharaspieler muss sich wie ein Kitharaspieler verhalten, der Zimmer‐ mann wie ein Zimmermann, der Philosoph wie ein Philosoph, der Rhetor wie ein Rhetor. Wenn du also sagen solltest: „Kommt und hört, wie ich euch eine Rede vorlese,“ sieh zunächst zu, dass du dies nicht planlos machst. Dann, wenn du finden solltest, dass du einen Standard hast, sieh, ob es der richtige ist. 564 Die προαίρεσις bezeichnet in dieser Passage die Wahl einer bestimmten Le‐ bensweise (ἐπιτήδευμα). Sie wird auf eine Ebene mit dem ἐπιτήδευμα gestellt, welches die Lebensweise bzw. die Beschäftigung bezeichnet, welcher wir nach‐ gehen. Dies wird im Anschluss durch die Beispiele des Kitharaspielers, des Zim‐ mermanns, des Philosophen und des Rhetors illustriert. Der besondere Standard, an dem wir uns in unserem Tun zu orientieren haben, betrifft also unsere Le‐ bensweise und die Entscheidung für diese Lebensweise, welche dieser vorher‐ geht. 565 Diese Verwendung des Begriffs der προαίρεσις ist daher auf einer Linie mit der altstoischen Definition der προαίρεσις als ‚Wahl vor einer Wahl‘, da die Wahl einer Lebensweise allen mit dieser Lebensweise verbundenen Entschei‐ dungen vorhergeht. 566 213 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 567 Epict.Diss. 1. 17.25-27: „ἄν μοι,“ φησί, „προσάγῃ θανάτου φόβον, ἀναγκάυει με.“ οὐ τὸ προσαγόμενον, ἀλλʼ ὅτι δοκεῖ σοι κρεῖττον εἶναι ποιῆσαί τι τούτων ἢ ἀποθανεῖν. πάλιν οὖν τὸ σὸν δόγμα σε ἠνάγκασεν, τοῦτʼ ἔστι προαίρεσιν προαίρεσις. εἰ γὰρ τὸ ἴδιον μέρος, ὃ ἡμῖν ἔδωκεν ἀποσπάσας ὁ θεός, ὑπʼ αὐτοῦ ἢ ὑπʼ ἄλλου τινὸς κωλυτὸν ἢ ἀναγκαστὸν κατεσκευάκει, οὐκέτι ἂν ἦν θεὸς οὐδʼ ἐπεμελεῖτο ἡμῶν ὃν δεῖ τρόπον. 568 Epict.Diss. 1. 17. 26; siehe dazu auch: 1. 29. 12; 3. 19. 2. 569 Vgl. Gourinat (2005), 122. 570 Vgl. Frede (2011), 44 f; siehe auch: Long (1983b [1996], 162; 1991 [1996], 275-277.281-283); Brennan (2005), 107. b) Die προαίρεσις als punktuelle Entscheidung Der zweiten Verwendung des Begriffs der προαίρεσις liegt ein Verständnis des Präfixes προin einem präferentiellen Sinn zugrunde. Die προαίρεσις ist hier eine Vorzugswahl und wird punktuell in einzelnen Entscheidungen ausgeübt. Sie wird von Epiktet als dasjenige bestimmt, was uns in die Lage versetzt, etwas zu erreichen - nämlich eine Handlung auszuführen: „Wenn man mir,“ sagt jemand: „Furcht vor dem Tod einflößt, zwingt man mich.“ Nicht das, was man dir eingeflößt hat, sondern dass du glaubst, dass es besser für dich sei, etwas von diesen Dingen zu tun als zu sterben. Wiederum zwingt dich also deine Meinung, d. h. eine Entscheidung eine Entscheidung (πάλιν οὖν τὸ σὸν δόγμα σε ἠνάγκασεν, τοῦτʼ ἔστι προαίρεσιν προαίρεσις). Wenn Gott aber den eigentümlichen Teil, welchen er von sich weggenommen und uns geschenkt hat, als von ihm selbst oder von irgendeinem anderen gehindert oder gezwungen eingerichtet haben sollte, dürfte er nicht mehr Gott sein und sich nicht so um uns kümmern, wie er soll. 567 Die προαίρεσις ist für unsere Handlungen verantwortlich. Sie ist dabei frei und kann durch nichts gehindert werden außer durch eine andere προαίρεσις. Dies ist mit „eine Entscheidung [zwingt] eine Entscheidung“ 568 gemeint. Eine Ent‐ scheidung veranlasst mich zum Handeln, während eine andere entgegenge‐ setzte Entscheidung dieser widerstreitet. In diesem Passus ist also von zwei ei‐ nander widersprechenden punktuellen Entscheidungen die Rede, die aus einem einheitlichen Dezisionsvermögen hervorgehen. 569 Dies leitet zur dritten Ver‐ wendungsweise des Begriffs der προαίρεσις bei Epiktet über: der προαίρεσις als Dezisionsvermögen. c) Die προαίρεσις als Dezisionsvermögen Dieser Bedeutung des Begriffs der προαίρεσις zufolge bestimmt unsere προαίρεσις, welche Art von Mensch wir sind und wie wir uns verhalten. 570 Wir haben bereits gesehen, dass unsere Zustimmung zu einer ‚impulsiven Vorstel‐ lung‘ bzw. zu dem sie begleitenden λεκτόν eine Entscheidung für bzw. gegen eine bestimmte Handlungsweise ist. Die προαίρεσις ist nun eine bestimmte 214 III. Die stoische Motivationstheorie 571 Vgl. Graver (2003), 3 49 f; Sorabji (2007), 87. 572 Siehe dazu die Verwendung der beiden Begriffe in Epict.Diss. 2. 23. 573 Epict.Diss. 4. 12. 12: ἐμὲ ἐκεῖνος συνέστησεν ἐμαυτῷ καὶ τὴν ἐμὴν προαίρεσιν ὑπέταξεν ἐμοὶ μόνῳ δοὺς κανόνας εἰς χρῆσιν αὐτῆς τὴν ὀρθήν […]. 574 Eine detaillierte Untersuchung zum Begriff der χρῆσις in der stoischen Philosophie bietet: Bénatouïl (2006). 575 Vgl. Gourinat (2005), 123. 576 Vgl. Gourinat (2005), 103-105. 577 Gal.PHP 2. 8. 44 = SVF 3 Diog. 30: τό, φησί, κινοῦν τὸν ἄνθρωπον τὰς κατὰ προαίρεσιν κινήσεις ψυχικὴ τίς ἐστιν ἀναθυμίασις, πᾶσα δὲ ἀναθυμίασις ἐκ τῆς τροφῆς ἀνάγεται, ὥστε τὸ κινοῦν πρῶτον τὰς κατὰ προαίρεσιν κινήσεις καὶ τὸ τρέφον ἡμᾶς ἀνάγκη ἓν καὶ ταὐτὸν εἶναι. Disposition unserer Vernunft, Entscheidungen hinsichtlich unseres Handelns zu treffen - ein Dezisionsvermögen mit Blick auf unser Handeln. 571 Sie ist mit anderen Worten die Disposition, bestimmte Handlungsimpulse zu haben - ein Impuls höherer Ordnung, der den Besitz bestimmter anderer Impulse zum Ziel hat. Für dieses Verständnis der προαίρεσις als ein Dezisionsvermögen spricht die synonyme Verwendung von προαίρεσις und δύναμις προαιρετική bei Epiktet. 572 Auch folgender Passus legt ein Verständnis der προαίρεσις als Dezi‐ sionsvermögen nahe: Jener [sc. Gott] hat mich mir selbst anvertraut und meine Entscheidung mir allein unterstellt, indem er mir Regeln zu ihrem rechten Gebrauch gab […]. 573 Der ‚rechte Gebrauch‘ (χρῆσις ὀρθή) 574 kann sich hier sinnvollerweise nur auf den Gebrauch eines Vermögens beziehen und kann daher keine punktuelle Ent‐ scheidung oder vorhergehende Wahl einer Lebensweise betreffen. 575 Daher muss die προαίρεσις hier als Dezisionsvermögen verstanden werden. Eine Verwendung des Begriffs der προαίρεσις in diesem weiten Sinne als Dezisionsvermögen lässt sich erstmals bei Diogenes von Babylon, dem fünften Schulhaupt der Stoa, nachweisen: 576 Das, was den Menschen dazu bewegt, der Entscheidung gemäße Bewegungen zu un‐ ternehmen (τό κινοῦν τὸν ἄνθρωπον τὰς κατὰ προαίρεσιν κινήσεις), ist ein Auf‐ dampfen der Seele; aber jedes Aufdampfen geht aus der Nahrung hervor, so dass das, was als erstes der Entscheidung gemäße Bewegungen bewegt (τὸ κινοῦν πρῶτον τὰς κατὰ προαίρεσιν κινήσεις), und das, was uns ernährt, notwendig ein und dasselbe sind. 577 Die der προαίρεσις gemäßen Bewegungen bezeichnen hier alle absichtlichen Bewegungen der Seele, nicht nur diejenigen, die auf einer anfänglichen Wahl beruhen. προαίρεσις hat hier eine sehr allgemeine Bedeutung, wie wir sie später 215 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 578 Vgl. Gourinat (2005), 104. 579 Vgl. Dobbin (1991), 111-135, bes. 115-126; Graver (2003), bes. 356-360 argumentiert für eine kontinuierliche Verwendung des Begriffs der προαίρεσις innerhalb der Stoa seit ihren Anfängen und führt dafür eine Reihe von Textstellen an, deren Überzeugungskraft allerdings zweifelhaft bleibt; eine Kritik und ausgewogene Bewertung der angeführten Passagen findet sich bei Gourinat (2005), 97-105. 580 Vgl. Gourinat (2005), 105; das Vorhandensein einer Vorstellung vom ‚Willen‘ in der Stoa kann nach Mansfeld (1991, 107-145; 2012, 356) unter Rekurs auf Gal.PHP 4. 2.14-18 = LS 65J = SVF 3.462 bereits für Chrysipp aufgewiesen werden. 581 Epict.Diss. 1. 17. 23: […] τὸ προαιρετικὸν ἔχεις ἀκώλυτον ἀνανάγκαστον ἀπαραπόδιστον. 582 Epict.Diss. 1. 17.21-24: ἄνθρωπε, προαίρεσιν ἔχεις ἀκώλυτον φύσει καὶ ἀνανάγκαστον. […] δείξω σοι αὐτὸ πρῶτον ἐπὶ τοῦ συγκαταθετικοῦ τόπου. μή τίς σε κωλῦσαι δύναται ἐπινεῦσαι ἀληθεῖ; οὐδὲ εἷς. μή τίς σε ἀναγκάσαι δύναται παραδέξασθαι τὸ ψεῦδος; οὐδὲ εἷς. ὁρᾷς ὅτι ἐν τούτῳ τῷ τόπῳ τὸ προαιρετικὸν ἔχεις ἀκώλυτον ἀνανάγκαστον ἀπαραπόδιστον; ἄγε ἐπὶ δὲ τοῦ ὀρεκτικοῦ καὶ ὁρμητικοῦ ἄλλως ἔχει; καὶ τίς ὁρμὴν νικῆσαι δύναται ἢ ἄλλη ὁρμή; τίς δʼ ὄρεξιν καὶ ἔκκλισιν ἢ ἄλλη ὄρεξις καὶ ἔκκλισις; auch bei Epiktet zur Bezeichnung des Dezisionsvermögens des Menschen als προαίρεσις finden. 578 Diese frühe Verwendung des Begriffs der προαίρεσις im Sinne eines Dezisionsvermögens bereits bei Diogenes von Babylon spricht auch gegen die von Robert Dobbin vertretene These, dass die Aufwertung des Begriffs der προαίρεσις innerhalb der Stoa auf die neu entstandenen Debatten über Freiheit und Determinismus mit dem im 1. Jh. v. Chr. wiederauflebenden Aris‐ totelismus zurückgeht. 579 Denn mindestens ein Jahrhundert vor der Renaissance des Aristotelismus im ersten vorchristlichen Jahrhundert findet sich der Begriff mit eben jener Bedeutung bereits bei Diogenes von Babylon. 580 Die προαίρεσις als Dezisionsvermögen hinsichtlich unseres Handelns er‐ möglicht es uns, uns dazu zu entscheiden, einer bestimmten ‚impulsiven Vor‐ stellung‘ zuzustimmen und dadurch den Impuls zu einem entsprechenden Han‐ deln freizusetzen. Die προαίρεσις ist dabei „ungehindert, ungezwungen und unverstrickt“ 581 . Sie erfährt weder eine Einschränkung in den Zustimmungen, noch in ihren Impulsen, noch in ihrem Streben: Mensch, du hast eine Entscheidung, die von Natur aus ungehindert und ungezwungen ist. […] Ich werde dir dies zuerst für den Bereich der Zustimmungen zeigen. Kann dich irgendjemand hindern, der Wahrheit zuzustimmen? Niemand. Wer kann dich zwingen, das Falsche anzunehmen? Niemand. Siehst du, dass du in diesem Bereich über eine Entscheidung verfügst, die ungehindert, ungezwungen und unverstrickt ist? Los, verhält es sich im Bereich des Strebens und des Impulses anders? Was kann einen Impuls besiegen außer ein anderer Impuls? Was ein Streben und ein Vermeiden außer ein anderes Streben und Vermeiden? 582 216 III. Die stoische Motivationstheorie 583 Vgl. Bonhöffer (1890), 259. 584 Vgl. Epict.Dis s. 2. 2 . 2; 2. 5.2- 4; 3 . 4 . 9; 3. 5.2 -4; 3. 6. 7; Enc h. 4; 1 3; 30; si ehe auch : Dobbin ( 199 1), 129 f; Gourinat (2005), 106. 585 Epict.frg. 4 = St ob . Ecl. 2. 160. 2. 586 V g l . Epi ct. Diss. 2.23 .6 -28; sie he auc h: Epict .Diss. 2.18 .8- 26 mit Long (2002), 214-218; zur Rolle der προαίρεσις für die Verantwortung für das Handeln des Menschen siehe: Pich (2010), 109f. 587 Vgl. Epict.Diss. 2.23 .14 f. 588 Vgl. Epict.Enc h. 1. 1 ; Epict. Diss . 1. 1 . 2 3; 1. 22. 10; 2. 1. 12; 2. 5. 4; 2. 13. 10; 2. 15. 1; 2. 23.6-28; 4. 12. 7. 589 Epict.Diss. 1. 22. 10 . 590 Vgl. ebd.: ἐφʼ ἡμῖν μὲν προαίρεσις καὶ πάντα τὰ προαιρετικὰ ἔργα. 591 Vgl. Long (2002), 213 f; Gourinat (2005), 108. 592 Vgl. Bobzien (1998a), 334f; Long (2002), 221; dagegen: Dobbin (1991), 121 und 133: „This appears to introduce a clear break in the cau sal nexus dependent on Zeus and also called fate by the Stoics, and to segregate προαίρεσις in such a way that it is independent of εἱμαρμένη.“ (121). 593 Vgl. Long (2002), 221; Pich (2010), 112-117; zu den Affekten siehe unten S. 223-243. Die drei Bereiche der Zustimmung (συγκατάθεσις), des Impulses (ὁρμή) sowie des Strebens und Vermeidens (ὄρεξις καὶ ἔκκλισις) gehören zum Herrschafts‐ bereich der προαίρεσις. 583 Dies zeigt, dass die προαίρεσις bei Epiktet die Rolle des ἡγεμονικόν übernimmt und auch synonym damit verwendet wird. 584 Die προαίρεσις entscheidet wengistens zwischen zwei verschiedenen Zustim‐ mungen, Impulsen oder Strebungen. Daher ist sie jenes Vermögen, welches über den ‚Gebrauch der Vorstellungen‘ (χρῆσις τῶν φαντασιῶν) 585 bestimmt, wel‐ chen die Zustimmungen gegeben werden und auf deren Basis die Handlungs‐ impulse zustande kommen. 586 Die προαίρεσις und der ‚Gebrauch der Vorstel‐ lungen‘, die Zustimmung, der Impuls, das Streben und Vermeiden ebenso wie der Gebrauch der Sprache 587 stehen allein in unserer Macht (ἐφʼ ἡμῖν) 588 und werden zurecht als ‚Akte der προαίρεσις‘ (προαιρετικὰ ἔργα) 589 bestimmt. 590 All unsere mentalen Akte sind das Ergebnis einer Entscheidung, welche wiederum ein Dezisionsvermögen voraussetzt. 591 Dieses steht allein in unserer Macht und kann nicht von außen beeinflusst werden. Diese Freiheit der προαίρεσις reicht nun allerdings nicht soweit, dass sie frei vom Schicksal des Weltgeschehens ist - i.S. einer vollkommen offenen Zukunft, in der man frei zwischen verschiedenen alternativen Möglichkeiten wählen könnte -, sondern meint vielmehr, die Bereitschaft der Menschen, in ihr vor‐ herbestimmtes Schicksal einzustimmen. 592 Die Freiheit der προαίρεσις ist eine Freiheit von den äußeren Dingen, die nicht in unserer Macht stehen, und von den Affekten, welche aus einer falschen Einschätzung dieser äußeren Dinge resultieren. 593 Dies macht deutlich, dass die Freiheit der προαίρεσις vor allem ein normativer Zustand ist, der nur von denen erreicht wird, die ihre Strebungen 217 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 594 Vgl. Long (2002), 221. 595 Vgl. Bobzien (1998a), 335. 596 Epict.Diss. 1. 29. 1: οὐσία τοῦ ἀγαθοῦ προαίρεσις ποιά; siehe auch: Epict.Diss. 1. 8. 16; 1. 25.1-4; 1. 29.1-3; 2. 1.5 f; 2. 16. 1; 3. 3. 8; 4. 5. 32; 4. 10. 8; 4. 12. 7; ähnliche Aussagen finden sich bei Aristoteles in EE 2. 11, 1228a2 und EN 3. 4, 112a1-3. 597 Vgl. Epict.Diss. 2. 9. 1 5; 2. 1 9 . 13; siehe auc h: Dob b i n (1991 ), 131; Gourinat (2005), 111. 598 Vgl. Gourinat (2005), 111. 599 Vgl. Epict.Diss. 1.18.6-8, wo die προαίρεσις als γνώμη διακριτικὴ τῶν ἀγαθῶν καὶ κακῶν beschrieben wird; siehe d azu auch Gourinat (2005), 105 f. 600 Vgl. Epict.Diss. 2.23. 19; 3 . 1 . 40-4 3; 3. 18.1 -3 ; 4. 5 . 12. 601 Vgl . Epict.Diss. 1.4.18; 3.5.7. 602 Vgl. Epict.Diss. 1.4.1 8; 2. 2 . 2 ; 2. 5.2-4 ; 3. 4. 9; 3 . 5 .2-4; 3. 6. 7; Ench. 4; 13; 30; siehe auch: Dobbin (1991), 132 f. allein auf das beschränken, was in ihrer Macht steht. 594 Ihr Streben wird niemals frustriert werden, da sie stets nur das erstreben, was in ihrer Macht steht und unabhängig von äußeren Einflüssen ist. 595 Da die προαίρεσις das einzige ist, das wahrhaft in der Macht des Individuums steht, wird auch verständlich, dass die moralische Qualität des Einzelnen - sein Charakter - an ihr gemessen wird: Das Wesen des Guten ist die Entscheidung von einer bestimmten Qualität. 596 Die moralische Qualität des einzelnen Menschen ist an seine προαίρεσις ge‐ bunden. Dies stellt eine Variation der stoischen Lehre von der Tugend als dem einzigen Gut dar, welche sich auch bei Epiktet findet. 597 Die προαίρεσις ist wie die Tugend entscheidend dafür, welchen Vorstellungen die Zustimmung ge‐ geben wird und welche Impulse entstehen. 598 Die προαίρεσις vermag es, zwi‐ schen dem Guten und dem Übel zu unterscheiden und das Gute oder das Übel zu wählen. 599 So bestimmt sie die moralische Qualität des einzelnen Akteurs. Ist sie in einer guten Verfassung, ist auch der jeweilige Mensch gut; ist sie schlecht, ist es auch der Mensch. 600 Der Mensch hat den Auftrag, seine προαίρεσις in Übereinstimmung mit der Natur zu bringen - d. h. frei zu machen 601 - und sie in diesem Zustand zu erhalten. 602 Die προαίρεσις als Disposition, bestimmte Handlungsimpulse zu haben, ist ein erster Schritt hin zu einem Vermögen, welches wir heute unter dem Begriff des ‚Willens‘ zu fassen suchen. Der ‚Wille‘ wird jedoch προαίρεσις - nicht βούλησις - genannt, um deutlich zu machen, dass er ein Dezisionsvermögen ist, welches durch seine Entscheidungen unser Wollen (βούλησις) erst hervor‐ bringt. Unsere Entscheidungen erklären somit unser Wollen. Mit der προαίρεσις als Dezisionsvermögen und Quelle unseres Wollens begegnen wir erstmals in der Geistesgeschichte so etwas wie einem ‚Willen‘. 603 Diese Vorstellung eines 218 III. Die stoische Motivationstheorie 603 Vgl. Frede (2011), 44-48; es ist daher nicht so, dass mit Augustinus eine radikal neue Theorie des Willens in die Welt kommt (vgl. zu dieser These: Dihle [1985]; etwas rela‐ tivierend: Horn [1996], 113-132). Augustinus knüpft vielmehr an die stoische Theorie der προαίρεσις an, welche innerhalb des Christentums bereits von Justin dem Märtyrer und Origenes aufgegriffen worden war, und entwickelt diese weiter (vgl. Frede [2011], 153-174; ähnlich bereits: Gauthier [ 2 1970], 259; Voelke [1973]; Kahn [1988], 234-259, bes. 251-255; Mansfeld [1991], 107-145); Eine Übersicht über die verschiedenen Vorschläge zum antiken Ursprung des Willensbegriffs findet sich in: Sorabji (2000), 319-340 und Müller/ Pich (2010). 604 Vgl. Stob.Ecl. 2. 86 .17-87. 6 = LS 53Q = SVF 3.169: φορὰ διανοίας ἐπὶ τι τῶν ἐν τῷ πράττειν. 605 Vgl. oben S. 57 f; siehe auch: Altham (1986), 284. 606 Vgl. Alex.Mant. 1 18 .6-8 = LS 29A = SVF 2.823; Stob.Ecl. 1.368.12-20 = LS 53K = SVF 2.826; 2. 88.1 f = LS 33I = SVF 3.171; Gal.PHP 4 . 3. 7 = SVF 3.462. ‚Willens‘ wurde dazu entwickelt, um die Quelle unserer Verantwortung zu lo‐ kalisieren und den Grund der Zurechenbarkeit unserer Handlungen zu identi‐ fizieren. Ein ganz bestimmtes Vermögen in uns - die Disposition, bestimmte Handlungsentscheidungen zu treffen - macht uns für unsere Handlungen ver‐ antwortlich. III.2. 2. 3 ὁρμὴ Der Impuls (ὁρμή) ist in der stoischen Handlungspsychologie nicht als eine Art Instinkt oder gar animalischer Trieb zu verstehen. Er ist keine der Vernunft selbstständig nebengeorndnete oder gegenüberstehende irrationale Kraft der Seele, sondern stellt ein Vermögen der vernunftbegabten Seele dar. Er ist die Vernunft selbst, insofern sie zum Handeln drängt. 604 Auch das Streben des Men‐ schen wird somit ganz in seine Vernunfttätigkeit hineingenommen, so dass man in Bezug auf die ὁρμή auch von einem ‚besire‘ 605 , einer Kombination aus Über‐ zeugung und konativer Einstellung, sprechen kann. Das stoische Theoriemodell kommt daher dem oben diskutierten hybriden Kognitivismus sehr nahe und kann als Anti-Humeanismus avant la lettre angesehen werden. Die Überzeugung, welche mit der Zustimmung zu einer φαντασία ausgebildet wird, bringt hier jedoch nicht wie im oben vorgestellten hybriden Kognitivismus à la Thomas Nagel motivierte Wünsche hervor, sondern ein und derselbe mentale Zustand vereint ein kognitives und ein konatives Element (besire). Die ὁρμή ist die Ver‐ nunft in ihrer appetitiven Gestalt, so dass uns die Vernunft selbst zum Handeln motivieren kann. 606 Daher nimmt der Impuls in der stoischen Handlungstheorie eine Schlüsselstellung ein. Er ist das letzte mentale Ereignis, das einer freiwil‐ ligen, intentionalen Handlung vorhergeht. Er stellt die psychologische Seite einer intentionalen Handlung dar. Wenn man einen Impuls hat, ist man den Stoikern zufolge notwendig zum Handeln motiviert, und es folgt eine Handlung, 219 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 607 Long (1976), 80 ist hier anderer Ansicht. Doch beruht sein Widerspruch auf einem fal‐ schen Verständnis von Impuls (vgl. Inwood [1985], 101 Anm. 271). 608 Vgl. Alex.Fat. 18 3. 5 = SVF 2.980: ἐπεὶ γὰρ οὐκ ἄλλως <ἂν> γένοιτο τὰ διὰ τοῦ ζῴου γινόμενα ἢ ὁρμήσαντος τοῦ ζῴου […]; Sen.Ep.113. 2 : agi autem nihil sine impetus potest. 609 Vgl. Cic.Luc. 108 = SVF 2. 73: dicunt enim Stoici sensus ipsos adsensus esse, quos quoniam adp etitio consequatur actionem sequi; Plu. Li b.aeg. 501C: αἱ γὰρ ὁρμαὶ τῶν πράξεων ἀρχή. 610 Vgl. Stob.Ecl. 2. 88.2-6 = LS 33I = SVF 3.171: πάσας δὲ τὰς ὁρμὰς συγκαταθέσεις εἶναι, τὰς δὲ πρακτικὰς καὶ τὸ κινητικὸν περιέχειν. ἤδη δὲ ἄλλῳ μὲν εἶναι συγκαταθέσις, ἐπʼ ἄλλο δὲ ὁρμάς· καὶ συγκαταθέσεις μὲν ἀξιώμασί τισιν, ὁρμὰς δὲ ἐπὶ κατηγορήματα, τὰ περιεχόμενά πως ἐν τοῖς ἀξιώμασιν † αἱ συγκαταθέσεις; siehe auch: Stob.Ecl. 2. 97.15-98. 6 = LS 33J = SVF 3. 91. 611 Plu.Stoic.rep. 1037F = LS 53R = SVF 3.175: καὶ μὴν ἡ ὁρμὴ κατὰ γʼ αὐτὸν τοῦ ἀνθρώπου λόγος ἐστὶ προστακτικὸς αὐτῷ ποιεῖν, ὡς ἐν τῷ Περὶ νόμου γέγραφεν. es sei denn man wird durch äußere Umstände an ihrer Ausführung gehin‐ dert 607 - doch hätte man in einem solchen Fall der entsprechenden ‚impulsiven Vorstellung‘ seine Zustimmung erst gar nicht geben dürfen, da die Handlung sich offensichtlich nicht in Übereinstimmung mit dem alles umfassenden Plan der Weltvernunft befand. Der Impuls ist daher dasjenige psychologische Er‐ eignis, das eine Handlung verursacht. Als Ursache der Handlung stellt er die notwendige 608 und hinreichende 609 Bedingung der Handlung dar. Insofern der Impuls also die unmittelbar vorhergehende Ursache unserer Handlungen ist, ist es leicht verständlich, dass er auf die jeweilige Handlung bzw. genauer gesagt auf das Prädikat (κατηγόρημα), welches die Handlung jeweils in sprachlicher Form repräsentiert, gerichtet ist: Sie [sc. die Stoiker] sagen, dass alle Impulse Zustimmungen sind und dass die prak‐ tischen Impulse auch motivierende Kraft einschließen. Allerdings richten Zustim‐ mungen und Impulse sich auf unterschiedliche Objekte: Zustimmungen beziehen sich nämlich auf Aussagen, während Impulse sich auf Prädikate richten, die in den Aus‐ sagen in gewissem Sinne enthalten sind. 610 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Im Gegensatz zu den Zustimmungen, welche sich auf Aussagen (ἀξιώματα) be‐ ziehen, richten sich unsere Impulse auf die Prädikate (κατηγορήματα), welche in den Aussagen enthalten sind. Wie ist dies genau zu verstehen? Ein Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses von Impuls, Prädikat und Aussage besteht in der Bestimmung des Impulses als „die Vernunft des Menschen, die ihm zu han‐ deln befiehlt“ 611 . Der Impuls geht, wie wir gesehen haben, mit der Zustimmung zu einem evaluativen ἀξιώμα einher und wird als λόγος προστακτικός be‐ stimmt, der uns die Ausführung einer Handlung anordnet. Diese Anordnung ist das Resultat der Zustimmung zu einem evaluativen ἀξιώμα und realisiert sich 220 III. Die stoische Motivationstheorie 612 Vgl. Stob.Ecl. 2. 88.1 f = LS 33I = SVF 3.171: πάσας δὲ τὰς ὁρμὰς συγκαταθέσεις εἶναι, τὰς δὲ πρακτικὰς καὶ τὸ κινητικὸν περιέχειν; Gal.PHP 4. 3. 7 = SVF 3.462: […] τὰς ὁρμὰς τε καὶ τὰς συγκαταθέσεις ὀνομάζεσθαι κρίσεις. als Reaktion auf die Zustimmung zu einem evaluativen ἀξιώμα in physiologi‐ scher Hinischt im Impuls zur Handlung. Dieser Impuls ist nun auf der Ebene des λόγος bzw. der λεκτά auf die sprachliche Repräsentation der Handlung im Prädikat des evaluativen ἀξιώμα gerichtet. Dies ist eine sinnvolle Überlegung seitens der Stoiker, da der Impuls, welcher die Handlung verursacht, auch auf dasjenige λεκτόν gerichtet sein sollte, welches die Handlung repräsentiert, nämlich das Prädikat - und nicht das ganze ἀξιώμα. Da der Impuls auf die kon‐ krete Handlung - repräsentiert im Prädikat - gerichtet ist, können wir für die Stoiker folglich auch von einer de re Motivation sprechen, das Richtige bzw. die ‚zukommende Handlung‘ zu tun. Die Motivation ist immer auf die spezifische Handlung gerichtet, welche durch das Prädikat beschrieben wird, nicht darauf die ‚zukommende Handlung‘ auszuführen, wo dies de dicto verstanden wird. Man ist mit anderen Worten motiviert, dem Besitzer das Portemonnaie zurück‐ zugeben (die ‚zukommende Handlung‘ de re), nicht die ‚zukommende Handlung‘ (verstanden de dicto) auszuführen. So vermeiden die Stoiker den Vorwurf des moralischen Fetischismus, welchem wir oben begegnet sind. Insofern nun auch Impulse repräsentationalen Gehalt haben und in enger Verbindung mit den ἀξιώματα der ‚impulsiven Vorstellungen‘ stehen, können wir erkennen, wie die normativen Gründe, die für eine Handlung sprechen, den Stoikern zufolge zu den motivierenden Gründen werden können, aus denen der Akteur auch de facto handelt. Der normative Grund, der eine Tatsache in der Welt darstellt, wird im λεκτόν bzw. ἀξιώμα erfasst, welches die ‚impulsive Vor‐ stellung‘ begleitet, die im Falle einer wahren Vorstellung die Welt korrekt re‐ präsentiert. So wird der normative Grund, dass es die mir ‚zukommende Hand‐ lung‘ ist, das Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben, durch das ἀξιώμα „Es ist die mir ‚zukommende Handlung‘, das Portemonnaie seinem Besitzer zu‐ rückzugeben.“ erfasst, welches die entsprechende φαντασία begleitet. Gibt der Akteur nun diesem ἀξιώμα seine Zustimmung und erkennt damit seine Wahr‐ heit an, insofern es eine korrekte Beschreibung der Tatsache in der Welt ist, welche unser normativer Grund darstellt, verursacht er einen Impuls, der auf die im Prädikat des ἀξιώμα repräsentierte Handlung gerichtet ist und uns zu dieser Handlung motiviert. Es ist also der mentale Zustand des Impulses, der im Zusammenspiel mit der Zustimmung unseren motivierenden Grund konstitu‐ tiert. Insofern die ὁρμή lediglich die Kehrseite der συγκατάθεσις ist, 612 kann man auch sagen, dass uns unsere Vernunft in Form der ὁρμή zum Handeln motiviert. Wir begegen in der stoischen Lehre folglich einer psychologistischen Motivati‐ 221 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa onstheorie. Insofern die ὁρμή als Kehrseite der συγκατάθεσις unseren motivier‐ enden Grund konstituiert und uns damit die Vernunft in Form eines ‚besire‘ zum Handeln motiviert, finden wir in der stoischen Motivationspsychologie eine Form des hybriden Kognitivismus wieder, der die Stoiker als Anti-Humeaner avant la lettre erscheinen lässt. Da nun das Prädikat, d. h. das Objekt unseres Impulses, der unseren motivierenden Grund konstituiert, im ἀξιώμα enthalten ist, welches unseren normativen Grund erfasst, sehen wir, wie unsere norma‐ tiven Gründe auch zu unseren motivierenden Gründen werden können, aus denen wir tatsächlich handeln. Der normative Grund findet über das die ‚im‐ pulsive Vorstellung‘ begleitende ἀξιώμα Eingang in unsere Seele und wird durch die Repräsentation der von ihm geforderten Handlung im Prädikat des ἀξιώμα, auf welches unser Impuls gerichtet ist, zum motivierenden Grund, aus dem wir auch de facto handeln, wenn wir dem ἀξιώμα unsere Zustimmung geben. Aufgrund des repräsentationalen Gehalts der Impulse und ihrer Verbindung mit den ἀξιώματα der ‚impulsiven Vorstellungen‘ können auch unsere Impulse wahr oder falsch sein. Zum einen kann der Impuls, das Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben, falsch sein, wenn es sich z. B. bei dem Portemonnaie in Wahrheit um mein eigenes handelt. Diese Form des falschen Impulses scheint die Stoiker allerdings nicht sonderlich interessiert zu haben. Sie scheinen eher an der Frage interssiert gewesen zu sein, ob das evaluative Urteil, welches dem Impuls zugrunde liegt, richtig oder falsch war. Bei dieser zweiten Form des fal‐ schen Impulses ist der Impuls dann falsch, wenn eine Sache als gut oder schlecht oder eine Handlung als καθῆκον beurteilt wird, obwohl sie es nicht ist. Es wurde in der Untersuchung der stoischen Axiologie aufgezeigt, dass es den Stoikern zufolge nur ein Gut - nämlich die Tugend - und ein Übel - nämlich das Laster - gibt und alles andere indifferent ist. Wird nun ein indifferentes Ding für ein Gut gehalten, ist der Impuls, der aus der Zustimmung zu der Vorstellung, welche dieses als ein Gut präsentiert, hervorgeht, falsch. Solche axiologischen Fehler verursachen falsche Impulse, welche die Stoiker auch als Affekte (πάθη/ pertur‐ bationes) bezeichnen. Der stoischen Lehre, die sich mit diesen Affekten befasst, wollen wir uns nun zuwenden. 222 III. Die stoische Motivationstheorie 613 Für eine vollständige Analyse der verschiedenen Formen der ὁρμή siehe: Inwood (1985), Appendix 2, 224-242. 614 Ich beschränke mich im Folgenden auf die für die Motivationstheorie unmittelbar re‐ levanten Aspekte der stoischen Affektenlehre. Für umfassendere Untersuchungen siehe insbesondere: Bormann (1981); Abel (1983); Gill (1983; 1998; 2005); Frede (1986); Nuss‐ baum (1987; 1994, 316-483); Brunschwig/ Nussbaum (1993); Forschner ( 2 1995, 258-280; 2018, 224-245), Brennan (1998); Cooper (1998 [1999]); Irwin (1998); Sorabji (1998; 2000); Graver (2002; 2007); Tieleman (2003); Halbig (2004); Papadi (2004); Vogt (2004); Knuut‐ tila (2004), 47-80; Price (2005); Newmark (2008); Buddensiek (2012); Krewet (2013). 615 Zur Philosophie der Emotionen siehe: Solomon (1993); Wollheim (1999); Nussbaum (2001); Döring (2009). 616 Vgl. dazu: Stockdale (1993); Robertson (2010; 2013; 2019). 617 Ein eher psychologisches Interesse am phänomenalen Gehalt der Affekte innerhalb der stoischen Theorie verfolgen Nussbaum (1994) und Sorabji (2000). 618 Vgl. Inwood (1985), 144; Brennan (2005), 91 f; zu diesem nüchterneren Ansatz siehe auch: Lloyd (1978), Frede (1986); Striker (1991 [1996]); Brennan (1998; 2003); Long (1999); eine Kritik und Präzisierung der These von Affekten als Ursachen von Handlungen findet sich in Meyer (2018). III.2. 2. 3. 1 Die Hauptformen der ὁρμή 613 III.2. 2. 3. 1. 1 πάθη Die stoische Lehre von den Affekten (πάθη/ perturbationes) hat in der Forschung großes Interesse gefunden. 614 Dies ist nicht verwunderlich, wenn man sich klar macht, dass die Motivationen der meisten Menschen den Stoikern zufolge πάθη darstellen. Mit dem neu aufkommenden Interesse an der Philosophie der Emo‐ tionen seit den 1990er Jahren 615 ist auch die stoische Affektenlehre verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt und man versucht u. a., sie für die kognitive Psychotherapie nutzbar zu machen 616 . Wie sieht diese stoische Lehre von den Affekten und damit von der Motivation der meisten Menschen aus? Grundlegend für das stoische Verständnis der Affekte ist es zu verstehen, dass die Affekte für die Stoiker weniger Emotionen als Motivationen sind. Daraus folgt, dass sich die Stoiker weniger dafür interessieren, wie sich Affekte an‐ fühlen, 617 als dafür, dass sie uns dazu veranlassen, Handlungen auszuführen und bestimmte Dinge zu verfolgen bzw. zu vermeiden. 618 So wird verständlich, dass die πάθη eine Unterart der ὁρμαί darstellen - nämlich fehlerhafte bzw. fehlge‐ leitete ὁρμαί, die dadurch entstehen, dass der Akteur etwas für gut bzw. schlecht hält, was nicht gut bzw. schlecht ist. Die Affekte sind daher mentale Zustände, die unmittelbar zu intentionalem Handeln führen, wenn kein äußeres Hindernis auftritt. Was nicht zum Handeln führt, ist kein Impuls und eo ipso kein Affekt. Daher sind auch Stimmungslagen wie Niedergeschlagenheit oder Heiterkeit keine Affekte. 619 Diese Fokussierung auf die motivationale Rolle der Affekte und 223 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 619 Vgl. dazu Brennan (2005), 91; Tieleman (2003), 281, der auf die physiologische Erklärung dieser Phänomene in der Stoa hinweist. 620 Vgl. Brennan (2005), 92. ihre kausale Rolle in der Handlungsverursachung und das damit einhergehende geringe Interesse der Stoiker am phänomenalen Gehalt von Emotionen haben ihren Grund in der stoischen Identifikation von Realität mit kausaler Wirksam‐ keit, welche bereits im Kapitel zur stoischen Naturphilosophie hervorgetreten ist. Den Stoikern zufolge existiert nur das, was etwas wirkt bzw. woran etwas gewirkt wird. Nur kausale Akteure existieren wirklich, und allein Körpern kommt Existenz zu: „only the causally-F agent is really F, that is, that what is really F is whatever plays the role that F plays when F is invoked in causal contexts.“ 620 Zorn ist dieser Theorie zufolge also kein besonderes Gefühl, son‐ dern bezeichnet eine bestimmte Überzeugung, die für die Erklärung der Aussage „Sein Zorn hat ihn dazu veranlasst, seinen Freund zu schlagen.“ von Bedeutung ist. Die Frage, wie sich Emotionen anfühlen, spielt für die Handlungserklärung keine Rolle. Es ist die Überzeugung und der mit ihr einhergehende Impuls, der motiviert und die Handlung verursacht. Das Gefühl trägt dazu nichts bei. Ge‐ fühle sind den Stoikern zufolge motivational wirkungslos. Losgelöst von den Überzeugungen bringen sie keine Handlungen hervor. Auch in diesem Punkt wird ein weiteres Mal der stoische Anti-Humeanismus deutlich. Während für Hume allein den Gefühlen motivationale Kraft zukam und die Vernunft lediglich die Mittel für die Umsetzung der Handlung suchen musste, wird in der Stoa die spätere humeanische Assymmetrie-These auf den Kopf gestellt. Handlungs‐ wirksam sind allein unsere Überzeugungen; unsere Gefühle sind in motivatio‐ naler Hinsicht wirkungslos, da ihnen keine kausale Rolle in der Handlungser‐ klärung zukommt. Es wurde oben bereits darauf hingewiesen, dass den Impulsen den Stoikern zufolge eine Schlüsselstellung in der Handlungserklärung zukommt und dass sie wahr oder falsch sein können, insofern die Vorstellungen und die sich aus den Zustimmungen zu diesen bildenden Überzeugungen wahr oder falsch sein können. Die Fallibilität der Impulse geht mit dem Überzeugungscharakter des Impulses einher, welcher sich aus der Zustimmung zu einer φαντασία ὁρμετική ergibt. Jedem Impuls liegt also eine φαντασία zugrunde, welche die Welt korrekt oder inkorrekt repräsentiert, so dass der Impuls demnach als wahr oder falsch gelten kann. Dem Überzeugungscharakter des Impulses waren wir bereits bei unseren Überlegungen zur Überwindung der fact/ value-Dichotomie in der Stoa sowie in der Frage des die φαντασία ὁρμετική begleitenden λεκτόν begegnet. So ist das evaluative Element unseres Urteils für den Überzeugungs‐ charakter des Impulses verantwortlich, während das die Handlung spezifizie‐ 224 III. Die stoische Motivationstheorie 621 Vgl. Cic.Tusc. 4.11-22; D. L. 7.110-114; [Andronic.]Pass. 1 = LS 65B = SVF 3.391. 622 [Andronic.]Pass. 1 = LS 65B = SVF 3.391: λύπη μὲν οὖν ἐστιν ἄλογος συστολή· ἢ δόξα πρόσφατος κακοῦ παρουσίας, ἐφʼ ᾧ οἴονται δεῖν συστέλλεσθαι. φόβος δὲ ἄλογος ἔκκλισις· ἢ φυγὴ ἀπὸ προσδοκωμένου δεινοῦ. ἐπιθυμία δὲ ἄλογος ὄρεξις· ἢ δίωξις προσδοκωμένου ἀγαθοῦ. ἡδονὴ δὲ ἄλογος ἔπαρσις· ἢ δόξα πρόσφατος ἀγαθοῦ παρουσίας, ἐφʼ ᾧ οἴονται δεῖν ἐπαίρεσθαι. 623 Vgl. Stob.Ecl. 2. 88.8-90. 6 = LS 65A = SVF 3.378.389. 624 Zur Frage, ob es sich dabei um ein großes Gut bzw. Übel handeln m uss, sie he: Brennan (1998), 39- 44, Tieleman (2003), 252 f und Cooper (2005), 194 f, die dafür argumentieren, dass die Größe des Guts bzw. Übels für die Emotionen keine Rolle spielt, für die Krank‐ heiten der Seele (νοσήματα/ morbi, siehe unten) jedoch sehr wohl. 625 Vgl. Donini (1995); Forschner ( 2 1995), 119; Sorabji (2000), 29 f und 32 f; Tieleman (2003), 169 f; Halbig (2004), 37 f. 626 Auch hier ist es möglich, dass der καθῆκον-Operator durch sinnverwandte Begriffe wie οἰκεῖον, εὔλογον, συμφέρον oder Gerundiva wie φεύκτον, ὀρεκτόν, ἀνυπομονήτον, ἀκαρτερήτον bzw. im Lateinischen durch oportere, rectum esse, aequum esse, ad officium pertinere, debitum, ius ersetzt wird. So finden sich im obigen Zitat aus Pseudo-Andro‐ nikos Umschreibungen mit δεῖν; siehe dazu auch: Sorabji (2000), 30. rende Element - das κατηγόρημα, auf das der Impuls gerichtet ist - für den spezifischen Impulscharakter desselben mentalen Zustands verantwortlich ist. Diese beiden Elemente finden sich auch in den Definitionen der vier generischen Affekte - Begierde (ἐπιθυμία/ libido, appetitio, cupiditas), Furcht (φόβος/ metus), Lust (ἡδονή/ laetitia) und Traurigkeit (λύπη/ aegritudo) 621 - wieder: Die Traurigkeit also ist eine vernunftlose Kontraktion; oder eine frische Meinung, dass etwas Schlechtes gegenwärtig sei, auf das hin man glaubt, sich zusammenziehen zu müssen. Furcht ist eine vernunftlose Abwendung; oder das Vermeiden einer erwar‐ teten Gefahr. Begierde ist ein vernunftloses Verlangen; oder das Erstreben eines er‐ warteten Guts. Lust ist ein vernunftloses Anschwellen; oder eine frische Meinung, dass etwas Gutes gegenwärtig sei, auf das hin man glaubt, anschwellen zu müssen. 622 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Jeweils zwei der vier Affekte sind auf die Zukunft bzw. die Gegenwart gerichtet und haben ein vermeintliches Gut bzw. Übel als Objekt. Die auf die Zukunft gerichteten Affekte Furcht und Begierde sind dabei primär, da Lust und Trau‐ rigkeit erst dann auftreten, wenn man erlangt oder vermieden bzw. nicht erlangt oder vermieden hat, wonach man begehrt bzw. wovor man sich gefürchtet hatte. 623 Es wird darüber hinaus deutlich, dass jeder Affekt zwei unterschiedliche Werturteile involviert: zum einen, dass ein Gut bzw. Übel 624 gegenwärtig ist oder bevorsteht; zum anderen, dass eine bestimmte Reaktion angemessen bzw. zu‐ kommend (καθῆκον) ist. 625 Wie jeder Impuls basiert also auch der Affekt auf einem Urteil, dass eine bestimmte Handlung für den Akteur zukommend (καθῆκον) ist. 626 Traurigkeit wird daher als ein Urteil bestimmt, dass ein Übel 225 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 627 Vgl. Vogt (2004), 85-88. gegenwärtig und dass es zukommend (καθῆκον) sei, sich zusammenzuziehen; Lust als ein Urteil, dass ein Gut gegenwärtig und dass es zukommend (καθῆκον) sei, anzuschwellen. Furcht ist das Urteil, dass ein Übel bevorstehe und es zukommend (καθῆκον) sei, es zu vermeiden; Begierde das Urteil, dass ein Gut bevorstehe und es zukommend (καθῆκον) sei, es zu erstreben. Aus diesen Be‐ stimmungen wird deutlich, dass das Urteil über die zukommende Reaktion zwei sehr unterschiedliche Arten der Reaktion betrifft. Im Falle von Lust und Trau‐ rigkeit ist die Reaktion eine innere: eine Kontraktion (συστολή, μείωσις, ταπείνωσις/ demitti, contrahi) bzw. Expansion (ἔπαρσις, διαχύσις/ profusa). Was hier die Kontraktion bzw. Expansion erfährt, ist die Seele, die von den Stoikern als Pneuma und damit als material verstanden wurde. Die Traurigkeit wird daher im Zuge der Kontraktion als ein Absinken der Seele erfahren, während die Lust im Zuge der Expansion der Seele als eine Erhebung derselben erlebt wird. Im Gegensatz dazu sind die zukommenden Reaktionen im Falle von Furcht und Begierde auf ein äußeres Objekt in der Zukunft gerichtet, welches erstrebt bzw. vermieden werden soll. Bei der Furcht soll ein vermeintliches Übel ver‐ mieden (φεύκτον) und nicht erduldet (ἀνυπομονήτον, ἀκαρτερήτον/ intolera‐ bile) werden. Die Begierde ist auf ein vermeintliches Gut gerichtet, das erstrebt werden soll (ὀρεκτόν) und von dem man sich einen Nutzen verspricht. Über diese Bestimmungen der generischen Affekte hinaus bietet Pseudo-Andronikos im oben zitierten Passus zudem jeweils zunächst eine Hand‐ lungsdefinition des Affekts, gefolgt von einer Überzeugungsdefinition. Die Handlungsdefinition nennt explizit das Merkmal der Irrationalität (ἄλογος), welches den Affekt kennzeichnet. Dieses ist in der Überzeugungsdefinition nur implizit vorhanden, insofern hier von Meinung (δόξα) gesprochen wird. Meinungen stellen für die Stoiker immer eine Form von Irrationalität dar, da sie kein Wissen (ἐπιστήμη) sind und sie entweder auf der Zustimmung zu einer falschen Vorstellung beruhen oder das Ergebnis einer Zustimmung aufgrund einer schwachen, instabilen Disposition sind. 627 Unsere Impulse können demnach also auf zweierlei Weise irrational und damit falsch sein: zum einen, wenn wir etwas, das in Wahrheit lediglich indifferent ist, als gut oder schlecht - d. h. als gut oder schlecht für uns - beurteilen und ihm damit eine Bedeutung für unsere εὐδαιμονία zuschreiben, die ihm nicht zukommt, da allein die Tugend einen Einfluss darauf hat und es als einzige verdient, ‚gut‘ genannt zu werden; zum anderen, wenn sie zwar auf einem wahren Urteil über den Wert einer Sache bzw. einer Handlung basieren, die Zustimmung zur φαντασία ὁρμετική jedoch von einer schwachen und instabilen Disposition aus gegeben wurde. 628 Der Akteur, 226 III. Die stoische Motivationstheorie 628 Gal.PHP 4. 6. 2 = LS 65T = SVF 3.473: ὅσα γὰρ οὐκ ὀρθῶς πράττουσιν ἄνθρωποι, τὰ μὲν εἰς μοχθηρὰν κρίσιν ἀναφέρει, τὰ δʼ εἰς ἀτονίαν καὶ ἀσθένειαν τῆς ψυχῆς […]. der in einen Affekt verfällt, handelt aus ihm subjektiv als vernünftig und richtig erscheinenden Gründen, die jedoch objektiv falsch sind, da die kosmische Natur etwas anderes vom Akteur verlangt. Seine motivierenden Gründe sind nicht die normativen Gründe, die in der Natur des Kosmos fundiert sind. Daher sind seine motivierenden Gründe und seine Handlungsimpulse irrational. Inwiefern die Affekte irrationale Impulse sein können, wo sie doch im ver‐ nünftigen ἡγεμονικόν entstehen, wird in einem längeren Passus bei Stobaios erklärt, der hier aufgrund seiner Informationsfülle ganz zitiert werden soll: Der Affekt, sagen sie [sc. die Stoiker], ist ein Impuls, der exzessiv ist und der gebie‐ tenden Vernunft nicht gehorcht, oder eine Bewegung der Seele, die vernunftlos und wider die Natur ist; weiter sagen sie, dass alle Affekte zum leitenden Seelenvermögen gehören. Daher ist auch jedes Flattern ein Affekt und umgekehrt jeder Affekt ein Flattern. Da der Affekt von dieser Art ist, hat man anzunehmen, dass einige Affekte erste und dominante Affekte sind und die anderen sich auf sie beziehen. Die generisch ersten Affekte sind folgende vier: Begierde, Furcht, Traurigkeit und Lust. Begierde und Furcht kommen zuerst, erstere in Bezug auf das, was als gut erscheint, letztere in Beziehung auf das, was als schlecht erscheint. Lust und Traurigkeit resultieren daraus, Lust dann, wenn wir das erlangen, wonach wir begehren, oder das vermeiden, was wir fürchten, und Traurigkeit dann, wenn es nicht gelingt, die Gegenstände unserer Begierde zu erlangen, oder wenn uns das widerfährt, was wir fürchten. Die Ausdrücke ‚vernunftlos‘ und ‚wider die Natur‘ werden [hier] nicht in ihrem üblichen Sinn ge‐ braucht. Vielmehr ist ‚vernunftlos‘ äquivalent mit ‚ungehorsam gegen die Vernunft‘. Denn jeder Affekt ist etwas Überwältigendes, wie es ja die Leute, die in den Affekten sind, oft sehen, dass es nützlich ist, etwas Bestimmtes nicht zu tun, von der Intensität wie von irgendeinem ungehorsamen Pferd davongetragen und gezwungen werden, es zu tun […]. Der Ausdruck ‚wider die Natur‘ wird in der Umschreibung des Affekts verwendet, da sich der Affekt im Gegensatz zur richtigen, naturgemäßen Vernunft abspielt. Denn jeder, der im Zustand des Affekts ist, wendet sich von der Vernunft ab, allerdings nicht so, wie sich die abwenden, die in irgendetwas getäuscht worden sind, sondern auf eine besondere Weise. Denn wer getäuscht worden ist, zum Beispiel darin, dass die Atome erste Prinzipien seien, gibt dieses Urteil auf, sobald er gelernt hat, dass sie es nicht sind. Wer dagegen im Zustand des Affekts ist, der gibt selbst dann, wenn er sich bewusst wird oder lernt, dass er nicht traurig sein braucht oder sich nicht fürchten muss oder dass seine Seele sich überhaupt nicht in einem Zustand des Affekts befinden sollte, den Affekt trotzdem nicht auf; sondern die Leute werden von den 227 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 629 Stob.Ecl. 2. 88.8-90. 6 = LS 65A = SVF 3.378.389: πάθος δʼ εἶναί φασιν ὁρμὴν πλεονάζουσαν καὶ ἀπειθῆ τῷ αἱροῦντι λόγῳ ἢ κίνησιν ψυχῆς <ἄλογον> παρὰ φύσιν (εἶναι δὲ πάθη πάντα τοῦ ἡγεμονικοῦ τῆς ψυχῆς), διὸ καὶ πᾶσαν πτοίαν πάθος εἶναι, <καὶ> πάλιν <πᾶν> πάθος πτοίαν. τοῦ δὲ πάθους τοιούτου ὄντος ὑποληπτέον, τὰ μὲν πρῶτα εἶναι καὶ ἀρχηγά, τὰ δʼεἰς ταῦτα τὴν ἀναφορὰν ἔχειν. πρῶτα δʼ εἶναι τῷ γένει ταῦτα τὰ τέσσαρα, ἐπιθυμίαν, φόβον, λύπην, ἡδονήν. ἐπιθυμίαν μὲν οὖν καὶ φόβον προηγεῖσθαι, τὴν μὲν πρὸς τὸ φαινόμενον ἀγαθόν, τὸν δὲ πρὸς τὸ φαίνομενον κακόν. ἐπιγίγνεσθαι δὲ τούτοις ἡδονὴν καὶ λύπην, ἡδονὴν μὲν ὅταν τυγχάνωμεν ὧν ἐπεθυμοῦμεν ἢ ἐκφύγωμεν ἃ ἐφοβούμεθα· λύπην δέ, ὅταν ἀποτυγχάνωμεν ὧν ἐπεθυμοῦμεν ἤ περιπέσωμεν οἷς ἐφοβούμεθα. τὸ δὲ ‚ἄλογον‘ καὶ τὸ ‚παρὰ φύσιν‘ οὐ κοινῶς, ἀλλὰ τὸ μὲν ἄλογον ἴσον τῷ ἀπειθὲς τῷ λόγῳ. πᾶν γὰρ πάθος βιαστικόν ἐστι, ὡς πολλάκις ὁρῶντας τοὺς ἐν τοῖς πάθεσιν ὄντας ὅτι συμφέρει τόδε οὐ ποιεῖν, ὑπὸ τῆς σφοδρότητος ἐκφερομένους, καθάπερ ὑπό τινος ἀπειθοῦς ἵππου, ἀνάγεσθαι πρὸς τὸ ποιεῖν αὐτό […]. καὶ τὸ ‚παρὰ φύσιν‘ δʼ εἴληπται ἐν τῇ τοῦ πάθους ὑπογραφῇ, ὡς συμβαίνοντος παρὰ τὸν ὀρθὸν καὶ κατὰ φύσιν λόγον. πάντες δʼ οἱ ἐν τοῖς πάθεσιν ὄντες ἀποστρέφονται τὸν λόγον, οὐ παραπλησίως δὲ τοῖς ἐξηπατημένοις ἐν ὁτῳοῦν, ἀλλʼ ἰδιαζόντως. οἱ μὲν γὰρ ἠπατημένοι, λόγου χάριν περὶ <τοῦ> τὰς ἀτόμους ἀρχὰς εἶναι, διδαχθέντες ὅτι οὔκ εἰσιν, ἀφίστανται τῆς κρίσεως· οἱ δʼ ἐν τοῖς πάθεσιν ὄντες, κἂν μάθωσι, κἂν μεταδιδαχθῶσιν ὅτι οὐ δεῖ λυπεῖσθαι ἢ φοβεῖσθαι, ἢ ὅλως ἐν τοῖς πάθεσιν εἶναι τῆς ψυχῆς, ὅμως οὐκ ἀφίστανται τούτων, ἀλλʼ ἄγονται ὑπὸ τῶν παθῶν εἰς τὸ ὑπὸ τῆς τούτων κρατεῖσθαι τυραννίδος. 630 Vgl. Inwood (1 985), 156 f; siehe dazu auch: Forschner ( 2 1995), 122. 631 Vgl. Clem.Stro m. 2. 13.5 9 = SVF 3. 377; Stob.Ecl. 2.88 f; [Andronic.]Pass. 1 = LS 65B = SVF 3.391; Cic.Tusc. 4. 11 = SVF 1.205; 4. 47 = SVF 1.205. Affekten in eine Situation gebracht, wo sie von deren Tyrranei beherrscht werden. 629 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Die Irrationalität der Affekte bedeutet, wie Stobaios berichtet, nicht, dass die Affekte in einem irrationalen Seelenteil angesiedelt sind, wie dies etwa von Platon und später wieder von Galen behauptet wurde, sondern dass sie der Ver‐ nunft nicht gehorchen, weil sie etwas Exzessives und Überwältigendes haben. In diesem Zusammenhang werden die Affekte auch als ‚wider die Natur‘ (παρὰ φύσιν) beschrieben, weil sie sich im Gegensatz zur richtigen naturgemäßen Vernunft, dem ὀρθὸς λόγος und damit der kosmischen Natur und Zeusʼ Willen abspielen. 630 Der Mensch ist durch die Natur so geschaffen worden, dass er der rechten Vernunft gehorcht; wenn er ihr zuwider handelt, ist dies ‚wider die Natur‘. 631 ‚Wider die Natur‘ sind die Affekte auch, insofern sie unserem natür‐ lichen, in der οἰκείωσις begründeten Impuls höherer Ordnung - der large-scale motivation - zur Erhaltung des ἡγεμονικόν in einem naturgemäßen Zustand zuwider laufen. Die Affekte als Impulse erster Ordnung - d. h. als small-scale motivations - konfligieren mit dem Impuls höhrer Ordnung. Sie verlassen den von ihm gesetzten Rahmen, innerhalb dessen sich die Motivationen erster Ord‐ nung - die small-scale motivations - ereignen können, ohne den naturgemäßen 228 III. Die stoische Motivationstheorie 632 Vgl. D. L. 7.87 f = LS 63 C = SVF 3.4: πάλιν δʼ ἴσον ἐστ ὶ τὸ κατʼ ἀρετὴν ζῆν τῷ κατʼ ἐμπειρίαν τῶν φύσει συμβαινόντων ζῆν, ὥς φησι Χρύσιππος ἐν τῷ πρώτῳ Περὶ τελῶν· μέρη γάρ εἰσιν αἱ ἡμέτεραι φύσεις τῆς τοῦ ὅλου. διόπερ τέλος γίνεται τὸ ἀκολούθως τῇ φύσει ζῆν, ὅπερ ἐστὶ κατά τε τὴν αὑτοῦ καὶ κατὰ τὴν τῶν ὅλων, οὐδὲν ἐνεργοῦντας ὧν ἀπαγορεύειν εἴωθεν ὁ νόμος ὁ κοινός, ὅσπερ ἐστὶν ὁ ὀρθὸς λόγος, διὰ πάντων ἐρχόμενος, ὁ αὐτὸς ὢν τῷ Διί, καθηγεμόνι τούτῳ τῆς τῶν ὄντων διοικήσεως ὄντι· εἶναι δʼ αὐτο τοῦτο τὴν τοῦ εὐδαίμ ονος ἀρετὴν καὶ εὔροιαν βίου, ὅταν πάντα πράττηται κατὰ τὴν συμφωνίαν τοῦ παρʼ ἑκάστῳ δαίμονος πρὸς τὴν τοῦ τῶν ὅλων διοικητοῦ βούλησιν […]; Sen.Ep. 124.14 = LS 60H: Hoc enim demum perfectum est quod secundum universam naturam perfectum, universa autem natura rationalis est. 633 Cic.Tusc. 4.10 f: Quoniam, quae Graeci πάθη vocant, nobis perturbationes appellari magis placet quam morbos, in his explicandis veterem illam equidem Pythagorae primum, dein Platonis descriptionem sequar, qui animum in duas partes dividunt: alteram rationis par‐ ticipem faciunt, alteram expertem; in participe rationis ponunt tranquillitatem, id est pla‐ cidam quietamque constantiam, in illa altera motus turbidos cum irae tum cupiditatis, contrarios inimicosque rationi. […] Est igitur Zenonis haec definitio, ut perturbatio sit, quod πάθος ille dicit, aversa a recta ratione contra naturam animi commotio. quidam brevius perturbationem esse adpetitum vehementiorem, sed vehementiorem eum volunt esse, qui longius discesserit a naturae constantia. Zustand des ἡγεμονικόν zu gefährden. Daher können die Affekte auch in diesem Sinne ‚wider die Natur‘ genannt werden. Der Ungehorsam gegenüber der rechten Vernunft ist, wie aus dem Vorigen deutlich wird, auch ein Ungehorsam gegenüber unserer eigenen Vernunft in ihrer natürlichen, d. h. vollendeten Form und damit eine Abkehr von unserem τέλος - der εὐδαιμονία. Auch darin zeigt sich die Irrationalität unserer Affekte, da sie uns von unserem Letztziel - der εὐδαιμονία - abbringen. 632 Auf die Irrationalität der Affekte weißt auch Cicero hin: Da es uns besser erscheint das, was die Griechen als πάθη bezeichnen, Verwirrungen als Krankheiten zu nennen, will ich in ihrer Erklärung jener alten Unterteilung des Pythagoras zunächst freilich, dann auch des Platon folgen, die die Seele in zwei Teile teilten: den einen machten sie der Vernunft teilhaftig, den anderen unteilhaftig; in den der Vernunft teilhaftigen setzten sie die Ruhe, d. h. die sanfte und ruhige Beständigkeit, in jenen anderen die unruhigen Bewegungen sowohl des Zorns als auch der Begierde, der Vernunft entgegengesetzt und feindlich. […] Dies also ist Zenons Definition, dass die Verwirrung, welche jener πάθος nennt, eine von der rechten Vernunft abgewandte Bewegung der Seele wider die Natur ist. Manche sagen kürzer, dass die Verwirrung ein exzessiver Impuls ist, aber sie wollen, dass er exzessiv ist, weil er weiter über die Beständigkeit der Natur hinausgeschritten ist. 633 Diese Passage aus Ciceros Tusculanen hat in der Forschung für einige Irritati‐ onen gesorgt, da sie eine Abkehr vom psychologischen Monismus der Stoa na‐ hezulegen und unter Rückgriff auf das pythagoreisch-platonische Modell eines 229 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 634 Vgl. Inwood (1985), 141 f; Lévy (1992), 472-480; Sor abji (2000), 103. 635 Vgl. Graver (2002), 135 f; siehe dazu auch: Long (19 99), 581-583; Halbig (2004), 45-49; Koch (2006), 101; zur Interpretation der oben zitierten Passage siehe auch: Tieleman (2003), 294-296. 636 Eine alternative Erklärung hat Gill (2005), bes. 464 f vorgeschlagen, dem zufolge Cicero nicht strikt zwischen einer stoisch-monisitischen Psychologie und einer platonisch-du‐ alistischen unterscheidet, da diese Unterscheidung erst in der weiteren Entwicklung des Mittelplatonismus aufkam und zum Gegenstand einer philosophischen Debatte wurde, vorher jedoch keine Rolle gespielt hat. psychologischen Dualismus die Existenz eines irrationalen Seelenteils anzu‐ nehmen scheint. 634 Die Spannung zwischen dieser ersten Bestimmung der Af‐ fekte und der folgenden genuin stoischen Definition ist jedoch nur oberflächli‐ cher Art. Margaret Graver hat darauf hingewiesen, dass man zwischen einem deskriptiven und einem normativen Sinn von ‚rational‘ bzw. ‚vernünftig‘ unter‐ scheiden müsse. ‚Rational‘ im deskriptiven Sinn bezeichnet lediglich die Fähig‐ keit, mit Propositionen umgehen zu können - unabhängig davon, ob dies richtig oder falsch geschieht. Im normativen Sinn bedeutet ‚rational‘, dass das Operieren mit Propositionen richtig geschieht - also in Übereinstimmung mit dem ὀρθὸς λόγος, der göttlichen Vernunft. Hier wird Konsistenz innerhalb des Geflechts der Propositionen und der allgemeinen Vernunft erzielt. Es gibt daher im nor‐ mativen Sinn irrationale Seelenoperationen, weil nicht immer richtig mit Pro‐ positionen umgegangen wird. Deskriptiv betrachtet, bleiben aber auch diese Seelenoperationen rational. 635 Der psychologische Monismus der Stoa wird also entgegen dem ersten Anschein keineswegs aufgegeben, sondern lediglich dif‐ ferenziert, und die vermeintliche Spannung zwischen dem ersten Teil des Zitats und den folgenden stoischen Definitionen der Affekte verschwindet. 636 Auch hier wird neben der Irrationalität und der Widernatürlichkeit wiederum auf die Exzessivität des Impulses hingewiesen. Was bedeutet es jedoch, dass ein Impuls exzessiv (πλεονάζουσα bzw. vehementior) ist? Eine Antwort auf diese Frage findet sich bei Galen, der einen Auszug aus Chrysipps Werk Über die Affekte (Περὶ παθῶν) überliefert: In diesem Sinne spricht man auch vom Exzess des Impulses, weil die Leute nämlich über die zu ihm selbst passende, natürliche Proportion der Impulse hinausgehen. Was ich sage kann vielleicht durch Folgendes deutlicher werden: Wenn beispielsweise je‐ mand in Übereinstimmung mit seinem Impuls zu Fuß geht, erfolgt die Bewegung der Beine nicht im Exzess, sondern hat das dem Impuls entsprechende Maß, so dass der betreffende, wenn er das will, auch stehenbleiben oder den Schritt verändern kann. Wenn die Leute jedoch in Übereinstimmung mit ihrem Impuls rennen, dann findet so etwas nicht mehr statt, sondern die Bewegung der Beine geht (exzessiv) über ihren 230 III. Die stoische Motivationstheorie 637 Gal.PHP 4. 2.-18 = LS 65J = SVF 3.462: κατὰ τοῦτο δὲ καὶ ὁ πλεονασμὸς τῆς ὁρμῆς εἴρηται, διὰ τὸ τὴν καθʼ αὑτοὺς καὶ φυσικὴν τῶν ὁρμῶν συμμετρίαν ὑπερβαίνειν. γένοιτο δʼ ἂν τὸ λεγόμενον διὰ τούτων γνωριμώτερον, οἷον ἐπὶ τοῦ πορεύεσθαι καθʼ ὁρμὴν οὐ πλεονάζει ἡ τῶν σκελῶν κίνησις ἀλλὰ συναπαρτίζει τι τῇ ὁρμῇ ὥστε καὶ στῆναι, ὅταν ἐθέλῃ, καὶ μεταβάλλειν. ἐπὶ δὲ τῶν τρεχόντων καθʼ ὁρμὴν οὐκέτι τοιοῦτον γίνεται, ἀλλὰ πλεονάζει παρὰ τὴν ὁρμὴν ἡ τῶν σκελῶν κίνησις ὥστε ἐκφέρεσθαι καὶ μὴ μεταβάλλειν εὐπειθῶς οὕτως εὐθὺς ἐναρξαμένων. αἷς οἶμαι τι παραπλήσιον καὶ ἐπὶ τῶν ὁρμῶν γίνεσθαι διὰ τὸ τὴν κατὰ λόγον ὑπερβαίνειν συμμετρίαν, ὥσθʼ ὅταν ὁρμᾷ μὴ εὐπειθῶς ἔχειν πρὸς αὐτόν, ἐπὶ μὲν τοῦ δρόμου τοῦ πλεονασμοῦ λεγομένου παρὰ τὴν ὁρμήν, ἐπὶ δὲ τῆς ὁρμῆς παρὰ τὸν λόγον. συμμετρία γάρ ἐστι φυσικῆς ὁρμῆς ἡ κατὰ τὸν λόγον καὶ ἕως τοσούτου <οὗ> [καὶ ἕως] αὐτὸς ἀξιοῖ. Impuls hinaus, so dass die Leute davongetragen werden und nicht sogleich, wenn sie damit begonnen haben, folgsam den Schritt verändern können. Etwas Ähnliches, denke ich, findet auch bei den Impulsen aufgrund des Umstands statt, dass sie über die mit der Vernunft übereinstimmende Proportion hinausgehen, so dass jemand, wenn er den Impuls hat, sich zur Vernunft nicht folgsam verhalten kann. Beim Laufen wird der Exzess ‚im Gegensatz zum Impuls‘ genannt und beim Impuls ‚im Gegensatz zur Vernunft‘. Eine Proportion des natürlichen Impulses ist nämlich eine, die mit der Vernunft übereinstimmt und (nur) soweit geht, wie es die Vernunft selbst für richtig hält. 637 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Vom Exzess des Impluses im Falle des Affekts spricht man diesem Passus zufolge also dann, wenn der Impuls in seiner Intensität das gehörige Maß überschreitet. Wenn man beispielsweise eine indifferente Sache wie die Gesundheit oder Reichtum wie ein wahres Gut begehrt und der Überzeugung ist, dass dies für die Glückseligkeit von entscheidender Bedeutung ist. In diesem Falle ist der Impuls nicht seinem Objekt gemäß, sondern er überschreitet die ‚natürliche Proportion‘. Chrysipp veranschaulicht dies am Beispiel eines Läufers: Wenn je‐ mand zu Fuß geht, kann er jederzeit stehenbleiben oder seine Richtung ändern. Der Impuls ist hier im rechten Maß und nicht im Exzess. Wenn jemand jedoch rennt kann er nicht, stehenbleiben oder die Richtung ändern, wenn er will. Er wird davongetragen und sein Impuls ist exzessiv. Der Impuls kann, wenn er exzessiv ist, nicht mehr von der Vernunft kontrolliert werden und er ist ihr gegenüber ungehorsam, obwohl er seinen Ursprung in ihr hat. Ein exzessiver Impuls steht daher im Gegensatz zur Vernunft, weil er das von ihr gesetzte Maß überschreitet. Er bewertet etwas als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘, was nicht wirklich gut oder schlecht ist, sondern lediglich eine vorzuziehende oder zurückzuweisende oder eine einfachhin indifferente Sache oder ein entsprechender Zustand ist. Diese fehlerhafte Repräsentation ist Bestandteil des propositionalen Gehalts des Impulses (z. B. „Reichtum ist ein Gut, welches anzustreben für mich zukommend [καθῆκον] ist.“). Der Impuls wird folglich dadurch exzessiv und damit zum Af‐ 231 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 638 Vgl. Forschner ( 2 1995), 117 f.123; Brennan (2000), 171 f; Halbig (2004), 36 f; Graver (2007), 47; Cooper (2012), 205. Inwood (1985), 165-173 hat vorgeschlagen, den exzessiven Im‐ puls als einen Impuls ohne Vorbehalt (ὑπεξαίρεσις bzw. exceptio) zu verstehen. Doch hat Brennan (2000) überzeugend dargelegt, dass die stoische Lehre von der ὑπεξαίρεσις nichts mit unseren Handlungsimpulsen zu tun hat und eine andere Funktion erfüllt, auf welche im Zusammenhang mit dem Problem der Willensschwäche nochmals zurück‐ zukommen sein wird. Dort werden wir sehen, dass der Weise dazu in der Lage ist, mit Hilfe einer Zustimmung unter Vorbehalt seine Handlungsimpulse an die veränderten Begebenheiten anzupassen. Doch findet diese Anpassung auf der kognitiven, nicht der konativen Ebene statt. Der Vorbehalt, dass sich die Dinge anders ergeben können, ist auf der Ebene der Voraussagen über die Zukunft angesiedelt, nicht auf der der Hand‐ lungsimpulse. Der Vorbehalt in Form eines Konditionalsatzes ist also nicht im Hand‐ lungsimpuls zu finden, sondern wird in einer konditionalen Überzeugung über die Zu‐ kunft ausgedrückt, die sich in einem einfachen - d. h. nicht konditionalen - Handlungsimpuls niederschlagen kann (vgl. Brennan [2000], 164-167). 639 Vgl. Graver (2007), 67. fekt, dass der Akteur eine in Wirklichkeit indifferente Sache für ein Gut bzw. ein Übel hält und damit die falsche Reaktion ihr gegenüber als zukommend (καθῆκον) ansieht. 638 Der Impuls wird auch exzessiv genannt (ὁρμὴ πλεονάζουσα/ appetitus vehe‐ mentior), weil er andere Impulse des Akteurs übertrumpft, so dass dieser die Kontrolle über sein Handeln verliert. Der Läufer kann nicht nach Belieben stehen bleiben oder seine Richtung ändern, wenn er dies möchte. Wie der Impuls zu rennen im Läufer, seinen Impuls, stehen zu bleiben bzw. die Richtung zu ändern, übertrumpft, so übertrumpft der Affekt der Furcht oder der Begierde, den Impuls des Akteurs, etwas Anderes zu tun, das er für die ‚zukommende Handlung‘ hält. Die naturgemäßen und vernünftigen Impulse werden also vom Affekt übertrumpft und können nicht handlungswirksam werden, weshalb der Affekt exzessiv genannt wird. Er schreitet über die anderen Impulse des Akteurs hinaus, übertrumpft sie und wird allein handlungswirksam. 639 Wie lässt sich die Exzessivität und damit größere Intensität der Affekte er‐ klären? Zwei Erklärungsweisen bieten sich an: Zum einen könnte das allen Af‐ fekten zugrundeliegende Urteil, dass etwas ein Gut bzw. ein Übel ist, hierfür ausreichend sein. Das Urteil, dass etwas ein Gut bzw. ein Übel ist, wird einen stärkeren Handlungsimpuls verursachen, als das Urteil, dass etwas ein vorzu‐ ziehendes bzw. zurückzuweisendes indifferentes Ding ist. Der höhere axiologi‐ sche Wert, der einer Sache oder einem Zustand zugesprochen wird, wäre mithin für die größere Vehemenz der Affekte verantwortlich und begründete ihre Ex‐ zessivität. Gegen diese Interpretation scheint allerdings eine Passage aus Plu‐ tarchs Schrift Über die ethische Tugend (De virtute morali) zu sprechen: 232 III. Die stoische Motivationstheorie 640 Plu.Virt.mor. 449F-450A = SVF 3.468: ταῦτα τοίνυν καὶ τὰ τοιαῦτα διακρουόμενοι τὰς ἐπιτάσεις τῶν παθῶν καὶ τὰς σφοδρότητας οὔ φασι γίγνεσθαι κατὰ τὴν κρίσιν ἐν ᾗ τὸ ἁμαρτητικόν, ἀλλὰ τὰς δήξεις καὶ τὰς συστολὰς καὶ τὰς διαχύσεις εἶναι τὰς τὸ μᾶλλον καὶ τὸ ἧττον τῷ ἀλόγῳ δεχομένας; siehe auch: Gal.PHP 4. 3.4 f = LS 65K = EK frg.34. 641 Zu den παθητικαὶ κινήσεις siehe: Gal.PHP 5. 5. 21 = LS 65M = EK frg.169; 4. 7. 28 = LS 65P = EK frg. 165; 4. 7. 33 = LS 65P = EK frg. 158; siehe dazu auch Cooper (1998 [1999]), 465-470. 642 Zu dieser Erklärungsstrategie siehe: Cooper (1998 [1999]), 465-470; Guckes (2004), 104 f; Müller (2009), 176-178. 643 Gal.PHP 5. 5. 21 = LS 65M = EK frg. 169: γεννᾶσθαι γὰρ τῷ ζῴῳ τὴν ὁρμὴν ἐνίοτε μὲν ἐπὶ τῇ τοῦ λογιστικοῦ κρίσει, πολλάκις δʼ ἐπὶ τῇ κινήσει τοῦ παθητικοῦ. 644 Vgl. Cooper (1998 [1999]), 466; Müller (2009), 178. Um sich diesen und ähnlichen Schwierigkeiten zu entziehen, sagen sie, dass die Span‐ nungen und Heftigkeiten der Affekte nicht gemäß dem irrtumsbehafteten Urteil ent‐ stehen, sondern dass die Stiche, Kontraktionen und Ausdehnungen durch ein irrati‐ onales Moment stärker und schwächer sind. 640 Diesem Passus zufolge beruht die Vehemenz der Affekte also nicht auf unseren Urteilen, sondern auf einem irrationalen Moment. Dies eröffnet eine zweite Er‐ klärungsstrategie. Berücksichtigt man Plutarchs platonisch-polemisierendes In‐ teresse gegenüber der Stoa, so dürften mit dem ‚irrationalen Moment‘ die bereits erwähnten παθητικαὶ κινήσεις 641 gemeint sein, welche dazu in der Lage sind, Vorstellungen hervorzurufen, welche zu Affekten führen können. 642 Die παθητικαὶ κινήσεις wie unsere Gefühle von Hunger, Durst oder sexueller Er‐ regung bzw. unsere Neigungen zu essen, zu trinken oder unserer sexuellen Lust nachzugehen, rufen in unserer Seele bestimmte Vorstellungen mit spezifischem repräsentationalem Gehalt hervor und machen uns geneigt diesen zuzu‐ stimmen, wodurch wir in die entsprechenden Affekte verfallen. Dass die παθητικαὶ κινήσεις in der Lage sind, Vorstellungen hervorzurufen, die zu Im‐ pulsen und zu Affekten führen können, zeigt eine Passage aus Galen: Denn der Impuls werde im Lebewesen zwar zuweilen infolge des Urteils des vernünf‐ tigen Seelenteils erzeugt, häufig aber infolge der Bewegung des affektiven Teils. 643 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Da die affektiven Regungen jedoch nicht der Kontrolle der Vernunft unterliegen, kann der Akteur die Intensität und Dauer des aus ihnen resultierenden Affekts nicht kontrollieren. 644 So kann der Affekt das Maß der Vernunft überschreiten und exzessiv werden. Der Exzess des Impulses äußert sich bei den Affekten - zumindest im Falle der Traurigkeit und der Lust - auch in physiologischer Hinsicht als Kontraktion 233 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 645 Gal.PHP 4. 2.5 f = LS 65D = SVF 3.463: τήν τε γὰρ λύπην ὁριζόμενος, „μείωσιν εἶναί“, φησιν, „ἐπὶ φευκτῷ δοκοῦντι ὑπάρχειν τήν θʼ ἡδονὴν ἔπαρσιν ἐφʼ αἱρετῷ δοκοῦντι ὑπάρχειν.“ καὶ γὰρ αἱ μειώσεις καὶ αἱ ἐπάρσεις καὶ αἱ συστολαὶ καὶ αἱ διαχύσεις - καὶ γὰρ τούτων ἐνίοτε μέμνηται - τῆς ἀλόγου δυνάμεώς ἐστι παθήματα ταῖς δόξαις ἐπιγιγνόμενα. 646 Vgl. Gal.PHP 4 .2 .5 f = LS 65D = SVF 3.463; 4 .3.1 f = LS 65K = SVF 1.209; 5. 1. 4 = SVF 1.2 09. 647 Vgl. Stob.Ecl. 2. 90.7-18 = SVF 3.394. 648 D. L. 7.114 = SVF 3.400: ἡδονὴ δέ ἐστιν ἄλογος ἔπαρσις ἐφʼ αἱρετῷ δοκοῦντι ὑπάρχειν […]. 649 Vgl. D. L. 7.111 = SVF 3.456: δοκεῖ δʼ αὐτοῖς τὰ πάθη κρίσεις εἶναι, καθά φησι Χρύσιππος ἐν τῷ Περὶ παθῶν. 650 Vgl. Sorabji (2000), 36. (συστολή) und Expansion (διαχύσις) bzw. Schrumpfung (μείωσις) und An‐ schwellung (ἔπαρσις) der Seele: Bei der Definition der Traurigkeit sagt er [sc. Zenon] nämlich, sie sei „eine Schrump‐ fung gegenüber dem, wovon man meint, es solle vermieden werden“; und von der Lust sagt er, sie sei „ein Anschwellen gegenüber dem, wovon man meint, es solle angestrebt werden“. Die Schrumpfungen und Anschwellungen sowie die Kontrakti‐ onen und Expansionen - denn auch die erwähnt er gelegentlich - sind ja doch Affekte des vernunftlosen Vermögens, die aus den Meiningen resultieren. 645 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Diese physiologischen Bestimmungen der Affekte als Kontraktionen und Ex‐ pansionen bzw. Schrumpfungen und Anschwellungen der Seele, die bereits bei der Definition der vier generischen Affekte bei Pseudo-Andronikos begegnet sind, gaben auch Anlass zu gewisser Verwirrung in der Stoa-Forschung. Sind die Affekte nun bestimmte Urteile über gegenwärtige bzw. künftige Güter und Übel und die mit ihnen verbundenen angemessenen Reaktionen, oder handelt es sich bei ihnen vielmehr um physiologische Ereignisse, die auf diese Urteile folgen? Die Unklarheit bezüglich dieser Frage lässt sich dadurch erklären, dass in der Stoa selbst keine Einigkeit darüber herrschte. Während Chrysipp der An‐ sicht war, dass die Urteile (κρίσεις) selbst die Affekte konstituieren, meinte Zenon, dass die Affekte auf die Urteile folgen. 646 Zenon zufolge ist das Urteil die Ursache (αἴτιον) des Affekts, 647 der in den verschiedenen Bewegungen des See‐ lenpneumas besteht. So ist die Lust Zenon zufolge „eine unvernünftige An‐ schwellung [der Seele] wegen etwas vermeintlich Nehmenswerten“ 648 . Das Ur‐ teil ist bei Zenon die Ursache des Affekts. Chrysipp dagegen identifizierte das Urteil mit dem Affekt. 649 Die Kontraktionen und Expansionen der Seele sind für ihn keine konstitutiven Bestandteile des Affekts, sondern lediglich Begleiter‐ scheinungen - wenn auch notwendige Begleiterscheinungen. 650 Insofern die Af‐ 234 III. Die stoische Motivationstheorie 651 Vgl. Bonhöffer (18 90), 95; Rist (1969), 30 f; L loyd (1978), 240 f; Inwood (1985), 130 f; Brennan (1998); Gill (1998; 2005); Price (2005). 652 Vgl. Graver (2007), 33. 653 Vgl. Inwood (1985), 131. 654 Vgl. Graver (2007), 33. 655 Vgl. Price (1995), 149: „As Aristotle might have put it, the three aspects [sc. Urteil, Impuls und physiologische Veränderung] are three in definition, but one in reality: one and the same psycho-physical entity may be indicated in any of these ways.“ fekte eine Form des Impulses sind, wird verständlich, warum Chrysipp sie mit den Urteilen identifizierte. Wie die Handlungsimpulse (ὁρμαί) sind auch die Af‐ fekte die Kehrseite der Zustimmung zu einer φαντασία ὁρμετική, was ihren Überzeugungs- und Impulscharakter erklärt. Auch sie sind wie unsere Impulse handlungswirksame Zustimmungen zu einer φαντασία ὁρμετική. Diese Über‐ legungen zeigen, dass diejenigen Interpreten Recht haben dürften, die Chrysipps Position eher als verbale Modifikation der Position Zenons betrachtet haben. 651 Das Urteil (κρίσις), welches im Fall der Affekte eine Rolle spielt, ist dasselbe wie die Zustimmung (συγκατάθεσις) in der allgemeinen Theorie unserer sonstigen Handlungsimpulse (ὁρμαί), wo es nicht darauf ankommt, ob man den Impuls mit der Zustimmung identifiziert oder den Impuls als Folge der Zustimmung betrachtet, da beides mentale Handlungen sind und sie stets zusammen vor‐ kommen. Zudem decken sich zumindest teilweise auch ihre jeweiligen Objekte, insofern das κατηγόρημα, auf welches der Impuls gerichtet ist, im ἀξιώμα ent‐ halten ist, welchem die Zustimmung gegeben wird. Wenn man den Fokus auf die Unterscheidung der beiden mentalen Handlungen legt, dürfte die Bestim‐ mung Zenons naheliegender sein, der zufolge das Urteil die Ursache des Affekts ist. Der Affekt als physiologische Veränderung superveniert bei Zenon auf das Urteil und wäre kein Affekt, wenn er nicht auf ein Urteil dieser Art superve‐ nieren würde. 652 Konzentriert man sich dagegen auf die notwendige Verbindung von Zustimmung und Handlungsimpuls - also auf den stoischen motivations‐ theoretischen Internalismus - bzw. von Urteil und Affekt, wobei das Urteil bzw. die Zustimmung den Affekt bzw. den Impuls bestimmt, dürfte Chrysipps Iden‐ tifikation der beiden das angemessenere Verständnis sein. 653 Der Affekt als phy‐ siologische Veränderung der Seele geht diesem Verständnis zufolge verlässlich mit dem Urteil einher, das nicht als Affekt gelten würde, wenn es keine solche Veränderung mit sich brächte. 654 Je nach Fokus dürfte bald die Zenonische, bald die Chrysippsche Definition des Affekts die geeignetere sein. Sie beziehen sich jedoch auf dieselbe psycho-physische Entität. 655 Schließlich hat auch Zenon bis‐ weilen die Affekte als Urteile, und nicht als das Ergebnis solcher Urteile be‐ stimmt. 656 235 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 656 Cic.Tusc. 3.74 f = SVF 1.212: Satis dictum e sse arbitror aegritud inem esse opinionem ma li praesentis, in qua opinione illud insit, ut aegritudinem suscipere oporteat. Additur ad hanc definitionem a Zenone recte, ut illa opinio praesentis mali sit recens; zur ‚Frische‘ des Urteils siehe unten. 657 Vgl. Forschner ( 2 199 5), 119; Sorabji (2000), 32 f. 658 Vgl. Gal.PHP 4. 7. 14 = LS 65O = SVF 3.466 : δ οκεῖ δέ μοι ἡ μὲν τοιαύτη δόξα δ ιαμένειν, ὅτι κακὸν αὐτὸ ὃ δὴ πάρεστιν […]. 659 Vgl. [Andronic.]Pass. 1 = LS 65B = SVF 3.391. 660 Stob.Ecl. 2. 88. 22 -89. 3 = LS 65C = SVF 3. 378 : ἐπὶ πάντων δὲ τῶν τὴς ψυχῆς πα θῶν, ἐπεὶ δόξας αὐτὰ λέγουσιν εἶναι, παραλαμβάνεσθαι τὴν δόξαν ἀντὶ τῆς ἀσθενοῦς ὑπολήψεως, τὸ δὲ πρόσφατον ἀντὶ τοῦ κινητικοῦ συστολῆς ἀλόγου <ἢ> ἐπάρσεως. 661 Die einzige A usn ah me b ildet Stob.Ecl. 2. 90. 13 = SVF 3.394. 662 Vgl. Vogt (2004), 90 f. 663 Zu diesem Verständnis de r πρόσφατος δόξα siehe Inwood (1985 ), 146-155, hier bes. 147f; siehe dazu auch : Forschner ( 2 1995), 118f; Sorabji (2000), 37; Halbig (2004 ), 42; Graver (2007), 78f. Für Chrysipps Verständnis der Affekte ergibt sich freilich das Problem, wie er erklären kann, dass unsere Affekte nachlassen, obwohl unser Urteil bestehen bleibt. Hier ist es entscheidend, daran zu erinnern, dass Chrysipp zufolge unser Urteil im Falle des Affekts aus zwei Elementen besteht: zum einen, aus dem evaluativen Urteil, dass ein Gut oder Übel bevorsteht bzw. gegenwärtig ist; zum anderen aus dem Urteil über die zukommende (καθῆκον) Reaktion angesichts des gegenwärtigen bzw. bevorstehenden Guts oder Übels. 657 Das erste Element des Urteils - dass ein Gut oder Übel gegenwärtig ist bzw. bevorsteht - bleibt Chrysipp zufolge bestehen. 658 Der zweite Teil des Urteils - die zukommende Reaktion - verblasst mit der Zeit, so dass der Affekt nachlässt. Daher wurde die Meinung (δόξα), welche den Affekt konstitutiert, in der oben zitierten Passage des Pseudo-Andronikos 659 auch als ‚frisch‘ (πρόσφατος) qualifiziert. ‚Frisch‘ be‐ deutet hier, wie Stobaios berichtet, „Reiz einer vernunftlosen Kontraktion oder Anschwellung“ 660 . Diese Bestimmung der ‚Frische‘ der Meinung zeigt bereits, dass sie nur die ‚sekundären Affekte‘ - Lust und Traurigkeit - betrifft, da nur sie Kontraktionen und Expansionen in der Seele erzeugen. 661 Die ‚primären Af‐ fekte‘ Begierde und Furcht sind auf etwas Künftiges gerichtet, dessen Eintreten erst noch bevorsteht, so dass es keinen Effekt der Gewöhnung und des Verblas‐ sens der Meinung geben kann, weshalb eine Qualifikation der Meinung als ‚frisch‘ nicht infrage kommt. 662 Die ‚Frische‘ der Meinung (πρόσφατος δόξα/ opinio recens) besteht zunächt nicht in temporärer Hinsicht - in dem Sinne, dass das Urteil bzw. die Meinung noch nicht allzu lange her ist -, sondern liegt viel‐ mehr darin, dass die Meinung immer noch eine gewisse Macht über den Akteur besitzt. 663 Für dieses Verständnis der Frische der Meinung spricht zum einen Stobaiosʼ Verständnis von ‚Frische‘ als ‚Reiz einer vernunftlosen Kontraktion 236 III. Die stoische Motivationstheorie 664 Vgl. Plu.Lib.aeg. 7 = SVF 1.205: ἐφʼ ᾧ συστέλλεσθαι καθήκει; Stob.Ecl. 2.90.14-18 = SVF 3.394: λύπην δʼ εἶναι συστολὴν ψυχῆς ἀπειθῆ λόγῳ, αἴτιον δʼ αὐτῆς τὸ δοξάζειν πρόσφατον κακὸν παρεῖναι, ἐφʼ ᾧ καθήκει <συστέλλεσθ αι. ἡδονὴν δʼ εἶναι ἔπαρσιν ψυχῆς ἀπειθῆ λόγῳ, αἴτιον δʼ αὐτῆς τὸ δοξάζειν πρόσφατον ἀγαθὸν παρεῖναι, ἐφʼ ᾧ καθήκει> ἐπαίρεσθαι; Orig.Comm. in Eph. frg. 446: εἴπερ ἡ λύπη πάθος ἐστί, καὶ καλῶς ἀποδίδοται περὶ αὐτῆς ὅτι ἐστὶ δόξα πρόσφατος κακοῦ παρουσίας ἐφʼ ᾧ καθήκει συστέλλεσθαι; Cic.Tusc. 4.14 = SVF 3.393: est ergo aegritudo opinio recens mali praesentis, in quo [= ἐφʼ ᾧ] demitti contrahique animo rectum esse videatur, laetitia opinio recens boni praesentis, in quo [= ἐφʼ ᾧ] ecferri rectum esse videatur […]; Excerpta Menonis 2.44f. 665 Cic.Tusc. 3.74 f = SVF 1.212: Satis dictum esse arbitror aegritudinem esse opinionem mali praesentis, in qua opinione illud insit, ut aegritudinem suscipere oporteat. Additur ad hanc definitionem a Zenone recte, ut illa opinio praesentis mali sit recens. Hoc autem verbum sic interpretantur, ut non tantum illud recens esse velint, quod paulo ante acciderit, sed quam diu in illo opinato malo vis quaedam insit, ut vigeat et habeat quandam viriditatem, tam diu appelletur recens. Ut Artemisia illa, Mausoli Cariae regis uxor, quae nobile illud Halicarnasi fecit sepulcrum, quam diu vixit, vixit in luctu eodemque etiam confecta con‐ tabuit. Huic erat illa opionio cotidie recens; quae tum denique non appellatur recens, cum vetustate exaruit. oder Anschwellung‘, insofern hier deutlich wird, dass eine ‚frische Meinung‘ eine Meinung darüber ist, dass ‚es hinsichtlich eines bestimmten Objekts oder Zustandes zukommend ist (καθήκει), eine Kontraktion oder Anschwellung der Seele zu erfahren‘ 664 . Die ‚frische Meinung‘ beruht also auf einem Urteil darüber, dass die zukommende Reaktion gegenüber einem bestimmten Objekt oder Zu‐ stand in den affektiven Reaktionen besteht, die mit Lust und Traurigkeit in Ver‐ bindung gebracht werden. Warum die Meinung nun ausgerechnet als ‚frisch‘ (πρόσφατος/ recens) bezeichnet wird, erfährt man bei Cicero: Ich denke, dass genug darüber gesagt wurde, dass die Traurigkeit eine Meinung über ein gegenwärtiges Übel sei, in der enthalten ist, dass es zukommend sei (opporteat = καθήκει), die Traurigkeit anzunehmen. Diese Definition ergänzt Zenon zu Recht da‐ durch, dass jene Meinung über ein gegenwärtiges Übel ‚frisch‘ (recens) sei. Dieses Wort jedoch interpretieren sie folgendermaßen: Sie wollen nicht nur, dass jenes ‚frisch‘ sei, was kurz vorher geschehen ist, sondern dass es so lange ‚frisch‘ genannt wird, wie jenem vermeintlichen Übel eine gewisse Kraft innewohnt, so dass es stark ist und eine gewisse Lebendigkeit (viriditas) besitzt. Zum Beispiel lebte jene Artemisia, die Frau des karischen Königs Mausolos, die jenes edle Grabmahl in Halikarnass bauen ließ, solange sie lebte, in Trauer und verging, durch diese auch aufgezehrt. Für sie war jene Meinung täglich frisch; sie wird erst dann nicht frisch genannt, wenn sie durch die lange Zeit ausgetrocknet ist. 665 Zenon zufolge bleibt also unsere Meinung solange ‚frisch‘, wie wir glauben, dass es die zukommende Reaktion sei, einem gegenwärtigen Übel gegenüber Trau‐ rigkeit zu empfinden. Solange wir dieser Ansicht implizit oder explizit zu‐ 237 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 666 Vgl. Graver (2007), 78 f; siehe dazu auch: Forschner ( 2 1995), 118 f; Sorabji (2000), 37. 667 Gal.PHP 4. 7.12-17 = LS 65O = SVF 3.466: ζητήσαι δʼ ἄν τις καὶ περὶ τῆς ἀνέσεως τῆς λύπης, πῶς γίνεται, πότερον δόξης τινὸς μετακινουμένης ἢ πασῶν διαμενουσῶν, καὶ διὰ τί τοῦτʼ ἔσται. […] δοκεῖ δέ μοι ἡ μὲν τοιαύτη δόξα διαμένειν, ὅτι κακὸν αὐτὸ ὃ δὴ πάρεστιν, ἐγχρονιζομένης δʼ ἀνίεσθαι ἡ σθστολὴ καὶ ὡς οἶμαι ἡ ἐπὶ τὴν συστολὴν ὁρμή. τυχὸν δὲ καὶ ταύτης διαμενούσης οὐχ ὑπακούσεται τὰ ἑξῆς, διὰ ποιὰν ἄλλην ἐπιγινομένην διάθεσιν ἀσυλλόγιστον τούτων γινομένων. οὕτω γὰρ καὶ κλαίοντες παύονται καὶ μὴ βουλόμενοι κλαίειν κλαίουσιν, ὅταν μὴ ὁμοίας τὰς φαντασίας τὰ ὑποκείμενα ποιῇ καὶ ἐνιστῆταί τι ἢ μηθέν. ὃν τρόπον γὰρ ἡ θρήνων παῦσις γίνεται καὶ κλαυθμοί, τοιαῦτα εὔλογον καὶ ἐπʼ ἐκείνων συντυγχάνειν ἐν ταῖς ἀρχαῖς μᾶλλον τῶν πραγμάτων κινούντων, καθάπερ ἐπὶ τῶν τὸν γέλωτα κινούντων γίνεσθαι ἔφην, καὶ τὰ ὅμοια τούτοις. stimmen, bleibt die Meinung frisch, und wir verharren im Affekt. Zwar wird am Ende des Zitats auch auf den Faktor ‚Zeit‘ verwiesen, der zum Nachlassen der ‚Frische‘ der Meinung beitragen kann, doch wird die ‚Frische‘ nicht primär durch die Zeit bestimmt. Die Einstellung des Akteurs spielt eine weit größere Rolle. 666 Wie der Zusammenhang zwischen der Einstellung - d. h. der Meinung des Ak‐ teurs über die zukommende Reaktion - und dem Nachlassen des Affekts nä‐ herhin aussieht, wird aus einem Bericht Galens über Chrysipps Ansichten zu dieser Frage in seinem zweiten Buch Über die Affekte (Περὶ παθῶν) deutlich: Es könnte aber auch mit Blick auf das Nachlassen der Traurigkeit die Frage auf‐ kommen, wie es dazu kommt, ob deshalb, weil irgendeine Meinung geändert wird, oder bei Fortbestehen aller Meinungen, und warum es so sein wird. […] Fortzube‐ stehen scheint mir eine Meinung von der Art, dass etwas Schlechtes gegenwärtig ist; doch da sie älter wird, lässt die Kontraktion nach und, wie ich glaube, der Impuls zur Kontraktion. Vielleicht besteht aber auch dieser Impuls fort, doch was daran an‐ schließt, entspricht ihm nicht [mehr], weil zusätzlich eine andere eigenschaftsmäßige Bestimmung entsteht, die aus diesen Begebenheiten nicht schlüssig folgt. So nämlich hören die Leute auf zu weinen und weinen Leute, die nicht weinen wollen, wenn die zugrundeliegenden Verhältnisse keine ähnlichen Vorstellungen erzeugen und etwas oder nichts im Wege steht. Denn auf welche Weise das Weinen und Wehklagen auf‐ hört, ungefähr das geschieht, so ist wohl anzunehmen, auch bei jenen Dingen: Zu Beginn werden von den Dingen größere Bewegungen verursacht, wie ich gesagt habe, dass es sich bei dem abspielt, was Lachen auslöst, und dergleichen. 667 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Aus dieser Passage geht hervor, dass die Kontraktion der Seele und der zuge‐ hörige Impuls zur selben Zeit nachlassen, während die Meinung bestehen bleibt, dass ein Übel gegenwärtig ist. Es wurde jedoch darauf hingewiesen, dass für den Affekt der Traurigkeit auch die frische Meinung notwendig ist, dass es gegen‐ 238 III. Die stoische Motivationstheorie 668 Vgl. S. 237 Anm. 664. 669 Vgl. Inwood (1985), 150 f. 670 Vgl. Inwood (1985), 152; siehe dazu auch Cic.Tusc. 3. 74: Sed nimirum hoc maxume est exprimendum, cum constet aegritudinem vetustate tolli, hanc vim non esse in die positam, sed in cogitatione diuturna; 4. 59: […] si quis aegre ferat se pauperem esse, idne disputes, paupertatem malum non esse, an hominem aegre ferre nihil oportere. Nimirum hoc melius, ne, si forte de paupertate non persuaseris, sit aegritudinem concedendum. über dem gegenwärtigen Übel die zukommende Reaktion ist, eine Kontraktion der Seele zu erfahren. 668 Die Meinung also, die dem Affekt der Traurigkeit bzw. der Lust zugrunde liegt, ist keine einfache Meinung über ein gegenwärtiges Übel bzw. Gut, sondern sie umfasst auch eine Ansicht hinsichtlich der zukommenden Reaktion angesichts des gegenwärtigen Übels bzw. Gutes - d. h. die Kontraktion bzw. Anschwellung. Es ist dieser zusätzliche Bestandteil der Meinung, der sie zu einer ‚frischen Meinung‘ macht. Daher kann ‚frisch‘ auch anstelle von ‚Reiz einer vernunftlosen Kontraktion oder Anschwellung‘ verwendet werden, wie Stobaios berichtet. Lässt nun der Affekt nach, bleibt zwar der erste Bestandteil des Urteils - die Meinung über das gegenwärtige Gut bzw. Übel - bestehen, das zweite Element, welches für die ‚Frische‘ des Urteils sorgt, ist jedoch nicht mehr vorhanden. Die Meinung über das gegenwärtige Gut oder Übel ist nicht hinrei‐ chend, um einen Affekt zu konstitutieren. Es bedarf auch einer Kontraktion bzw. einem Anschwellen in der Seele, wofür ein Impuls nötig ist, der jedoch nur durch die Ansicht über die zukommende Reaktion gegenüber dem gegenwärtigen Gut bzw. Übel zustande kommt, da für einen Impuls das Vorhandensein des καθῆκον-Operators im die φαντασία ὁρμετική begleitenden λέκτον sowie die Zustimmung zu diesem notwendig ist. Wenn also der Affekt verschwindet, ob‐ wohl die Meinung über das gegenwärtige Gut bzw. Übel bestehen bleibt, dann geschieht dies deswegen, weil das Element der komplexen Meinung nicht mehr vorhanden ist, das den Impuls zur affektiven Reaktion - d. h. zur Kontraktion bzw. zum Anschwellen in der Seele - hervorbrachte und die Meinung zu einer ‚frischen Meinung‘ machte. 669 Möglich wird diese Veränderung dadurch, dass wir zu einer neuen Einschätzung unserer Situation kommen. Oftmals ist unsere anfängliche Einschätzung überhastet und ungenau, so dass wir nicht nur der Überzeugung sind, dass eine bestimmte Situation gut bzw. schlimm ist, sondern auch meinen, dass eine bestimmte Reaktion - d. h. eine Kontraktion bzw. ein Anschwellen in der Seele - die zukommende Reaktion ist. Mit der Zeit kann sich jedoch unsere Einschätzung der Situation ändern (z. B. indem wir sie sorgfältiger betrachten); wir mögen sie dann zwar immer noch für gut bzw. schlimm halten, aber nicht mehr für so gut bzw. so schlimm, dass ein Anschwellen bzw. eine Kontraktion in der Seele die zukommende Reaktion ist. 670 239 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 671 Zur stoischen Axiologie siehe: S. 145-181. 672 Vgl. Cic.Luc. 37 f = SVF 2.115. Zwar besteht der unmittelbare Weg aus der Verfallenheit an die Affekte in der Aufgabe des Urteils über die zukommende Reaktion angesichts eines Guts oder Übels, doch wird man solange der Gefahr ausgesetzt sein, den Affekten zu verfallen, als man falsche Überzeugungen darüber hat, was gut und schlecht bzw. was Güter und Übel sind. Der Grundirrtum, der den Affekten zugrunde liegt, besteht also darin, den wahren Wert der Dinge nicht zu kennen und sie folglich falsch zu beurteilen. Axiologische Fehler sind also für die Affekte ver‐ antwortlich. Um sich von den Affekten zu befreien und das Ideal der Affekto‐ sigkeit (ἀπαθεία/ indolentia) zu erreichen, ist es nötig, den wahren Wert der Dinge zu erkennen und zu wissen, dass allein die Tugend gut, allein das Laster schlecht und alle anderen Dinge indifferent sind. 671 Insofern die Affekte von unserer Zustimmung abhängen, erklärt es sich auch, dass sie ‚in unserer Macht‘ (ἐφʼ ἡμῖν/ in nostra potestate) stehen und damit frei‐ willig sind. 672 Als Urteile, die auf unserer Zustimmung basieren, unterliegen sie unserer Kontrolle. Wir können der entsprechenden Vorstellung zustimmen oder ihr unsere Zustimmung verweigern. Daher können wir Affekte vermeiden bzw. sie selbst verursachen. Weder ereignen sie sich einfach, noch entstehen sie ohne unser Zutun. Im Gegenteil, sie werden von uns hervorgebracht, indem wir einer falschen Vorstellung unbedacht unsere Zustimmung geben bzw. indem die Zu‐ stimmung aufgrund einer schwachen Disposition erfolgt. Ist diese Vorstellung, dass die Affekte unserer Kontrolle unterliegen, nicht realitätsfern? Machen wir nicht oftmals die Erfahrung, dass sie uns einfach überkommen - auch gegen unseren Willen? Auch für dieses Phänomen hielten die Stoiker eine Erklärungs‐ strategie bereit: Erscheinungen der Seele, welche die Philosophen ‚Vorstellungen‘ nennen und durch die das leitende Seelenvermögen des Menschen sogleich zuerst vom Anblick eines der Seele begegnenden Objekts angestoßen wird, sind nicht Sache des Willens und nicht freiwillig, sondern sie bringen sich durch eine gewisse ihnen eigene Kraft den Men‐ schen zur Kenntnis; die Billigungen jedoch, welche sie ‚Zustimmungen‘ nennen und durch welche dieselben Vorstellungen erkannt werden, sind freiwillig und geschehen durch den Willen der Menschen. Wenn daher ein furchtbarer Knall entweder vom Himmel oder durch den Einsturz eines Gebäudes oder als plötzlicher Bote irgendeiner Gefahr oder irgendetwas anderes von dieser Art geschieht, dann wird unvermeidlich auch die Seele des Weisen eine Weile in Bewegung versetzt und sich zusammenziehen und erbleichen, dies aber nicht, weil ihm irgendeine Meinung über irgendein Übel vorgeschrieben wäre, sondern aufgrund bestimmter plötzlicher und unerwarteter Be‐ 240 III. Die stoische Motivationstheorie 673 Gell. 19. 1.15-20 = Epict.frg. 9 = LS 65Y: visa animi (quas φαντασίας philosophi appellant), quibus mens hominis prima statim specie accidentis ad animum rei pellitur, non voluntatis sunt neque arbitraria, sed vi quadam sua inferunt sese hominibus noscitanda; probationes autem (quas συγκαταθέσεις vocant), quibus eadem visa noscuntur, voluntariae sunt fi‐ untque hominum arbitratu. propterea cum sonus aliquis formidabilis aut caelo aut ex ruina aut repentinus nescio cuius periculi nuntius vel quid aliud est eiusmodi factum, sapientis quoque animum paulisper moveri et contrahi et pallescere necessum est, non opinione alicuius mali praecepta, sed quibusdam motibus rapidis et inconsultis officium mentis atque rationis praevertentibus. mox tamen ille sapiens ibidem τὰς τοιαύτας φαντασίας (id est visa istaec animi sui terrifica) non adprobat (hoc est οὐ συγκατατίθεται οὐδὲ προσεπιδοξάζει), sed abicit respuitque nec ei metuendum esse in his quicquam videtur. atque hoc inter insipientis sapientisque animum differe dicunt quod insipiens, qualia sibi esse primo animi sui pulsu visa sunt saeva et aspera, talia esse vero putat et eadem incepta, tamquam si iure metuenda sint, sua quoque adsensione adprobat καὶ προσεπιδοξάζει (hoc enim verbo Stoici, cum super ista re disserunt, utuntur), sapiens autem, cum breviter et strictim colore atque vultu motus est, οὐ συγκατατίθεται, sed statum vigoremque senten‐ tiae suae retinet, quam de huiuscemodi visis semper habuit, ut de minime metuendis, sed fronte falsa et formidine inani territantibus. wegungen, die der zukommenden Tätigkeit des leitenden Seelenvermögens und der Vernunft zuvorkommen. Doch alsbald verweigert jener Weise ‚derartigen Vorstel‐ lungen‘ (d. h. diesen schrecklichen Vorstellungen seiner Seele) seine Zustimmung (d. h. ‚er stimmt weder zu noch fügt er ihnen eine Meinung hinzu‘); vielmehr verwirft er sie und weist sie zurück, und er ist der Ansicht, dass in diesen Vorstellungen nichts ist, was er zu fürchten hätte. Und sie sagen, dass darin der Unterscheid zwischen der Seele des Törichten und der des Weisen besteht, dass der Törichte glaubt, dass das Grausame und Harsche, wie es ihm beim ersten Anstoß seiner Seele erschien, in Wahrheit so ist, und dieselben Anfänge, als ob sie zu Recht zu fürchten seien, auch durch seine Zustimmung billigt und ‚ihnen eine Meinung hinzufügt‘ (denn diesen Begriff verwenden die Stoiker, wenn sie über diese Sache sprechen), der Weise jedoch, wenn seine Farbe und Mine kurz und flüchtig verändert wurden, nicht zustimmt, sondern den Zustand und die Stärke seiner Ansicht behält, welche er über derartige Vorstellungen stets hatte - nämlich als keineswegs zu fürchtende, sondern als mit falschem Antlitz und leerer Furcht erschreckende. 673 Es beginnt zunächst mit einer mentalen Vorstellung in der Seele des Menschen, welche ein bestimmtes Ereignis - z. B. einen lauten Knall - als ein bevorste‐ hendes Übel repräsentiert, dem gegenüber es die zukommende Reaktion sei, sich zu fürchten. Die Entstehung dieser Vorstellung ist unfreiwillig und entzieht sich unserer Kontrolle. Wenn eine solche Vorstellung entsteht, hat man notwendi‐ gerweise bestimmte innere Empfindungen (animum moveri et contrahi) und äu‐ ßerlich sichtbare physiologische Reaktionen (pallescere, colore atque vultu motus est) - auch dem stoischen Weisen geht es so. Diese Reaktionen ereigenen sich 241 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 674 Vgl. Inwood (1985), 17 5 f. 675 Vgl. Graver (2007), 86 f . 676 Ich folge hier Hauptiusʼ Konjektur συνθροήσεις in Plu.Virt.mor.449A = SVF 3.439 für das korrupte συνεόρσεις in den Manuskripten. 677 Zur stoischen Lehre von den προπαθείαι siehe: Abel (1983); Inwood (1985), 175-181; Sorabji (2000), 66-75; Graver (2007), 85-108; Es lässt sich in der Forschungsliteratur eine Kontroverse über die Frage ausmachen, ob die alte Stoa bereits die Lehre von den προπαθείαι ausgebildet hat oder ob sie erst eine spätere Schulentwicklung darstellt (vgl. für Zenon bzw. die alte Stoa: Abel [1983], 89; Vogt [2004], 80, Anm. 37; Graver [2007], 88-93; für Poseidonios: Rist [1969], 40 f; für Seneca: Sorabji [2000], 66-75 und Halbig [2004], 57 Anm. 91 f). Graver (2007), 88-93 hat jedoch gute Gründe für den Ursprung der Lehre bereits in der alten Stoa vorgebracht; zentrale Texte zur Rekonstruktion der Lehre sind: Cic.Tusc. 3.82 f; Gell. 19. 1.14-21 = Epict.frg. 9 = LS 65Y; Plu.Virt.mor. 449A-B = SVF 3.439; Sen.Dial. 4; Ep. 11.1-7; 57.3-6; 71. 29; Gal.PHP 4. 7.16 f = LS 65O = SVF 3.466; Phil.QG 1. 79; 4. 73 = SVF 3.571. 678 Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Inwood (1985), 178. Aus theorieinternen Gründen schließen die Stoiker die προπαθείαι aus ihrer Handlungspsychologie aus und bieten keine ganz befriedigende Erklärung dieser Phänomene (vgl. Inwood [1985], 180). vor der Zustimmung des Akteurs zur entsprechenden Vorstellung und sind daher vom eigentlichen Affekt zu unterscheiden. Die moralisch bedeutsame Frage besteht nun allerdings nicht darin, was diese Empfindungen eigentlich sind, sondern darin, ob man der Vorstellung, dass ein Übel bevorstehe und es die zukommende Reaktion sei, sich zu fürchten, seine Zustimmung gibt. Der stoische Begriff des Affekts wird daher von etwas anderem als der Veränderung unserer Gesichtsfarbe, unserer Mine oder anderen physiologischen Zeichen der Erregung bestimmt, so dass nicht alle Phänomene, die im weitesten Sinne af‐ fektiv genannt werden können, unter die πάθη fallen. 674 Insofern sie keine Zu‐ stimmung involvieren, sind sie schuldlos und daher moralisch nicht von Be‐ deutung. 675 Diese unfreiwilligen Empfindungen und physiologischen Reaktionen, welche von bestimmten Vorstellungen verursacht werden, jedoch nicht als echte Af‐ fekte gelten, da ihnen die Zustimmung verweigert wurde, nennen die Stoiker ‚Bisse‘ (δηγμοί/ morsus) und ‚Stöße‘ (ictus), ‚Erregung‘ (συνθροήσις 676 / agitatio), ‚erste Bewegung‘ (primus motus) oder auch ‚Prä-Affekte‘ (προπαθείαι). 677 Da es sich bei ihnen um bloße Gefühle bzw. physiologische Reaktionen handelt, welche ohne Zustimmung zustande kommen und daher keinen Handlungsim‐ puls involvieren, welcher an die Zustimmung gebunden ist, müssen sie hier nicht weiter behandelt werden, da sie für die Motivationstheorie folgenlos bleiben. 678 Obschon ihr phänomenaler Gehalt dem echter Affekte sehr ähnlich ist, unterscheiden sie sich doch von ihnen, weil sie nicht auf einer Zustimmung beruhen und keine Handlung motivieren: 242 III. Die stoische Motivationstheorie 679 Sen.Dial. 4. 3.1-4 = LS 65X: nihil ex his quae animum fortuito inpellunt adfectus vocari debet: ista, ut ita dicam, patitur magis animus quam facit. ergo adfectus est non ad oblatas rerum species moveri, sed permittere se illis et hunc fortuitum motum prosequi. nam si quis pallorem et lacrimas procidentis et inritationem umoris obsceni altumve suspirium et oculos subito acriores aut quid his simile indicium adfectus animique signum putat, fallitur nec intellegit corporis hos esse pulsus. […] ira non moveri tantum debet sed excurrere; est enim impetus; numquam autem impetus sine adsensu mentis est, neque enim fieri potest ut de ultione et poena agatur animo nesciente. 680 Vgl. Striker (1980 [1996]), 112; siehe auch: Inwood (1985), 138; Halbig (2004), 36. Von dem, was die Seele zufällig erschüttert, darf nichts Affekt genannt werden; der‐ gleichen erleidet die Seele sozusagen mehr, als dass sie es tut. Ein Affekt besteht des‐ halb nicht darin, sich infolge der Vorstellungen von Dingen zu bewegen, sondern darin, sich ihnen auszuliefern und dieser zufälligen Bewegung zu folgen. Denn wenn jemand meint, Erblassen, fallende Tränen, sexuelle Erregung, schweres Atmen, plötz‐ liches Stechen der Augen und ähnliches mehr seien ein Anzeichen des Affekts oder ein Merkmal der Seele, dann täuscht er sich und erkennt nicht, dass dies nur körper‐ liche Anstöße sind. […] Zorn darf nicht nur erregt werden, sondern er muss hervor‐ brechen. Denn er ist ein Impuls; und ein Impuls findet niemals ohne Zustimmung des leitenden Seelenvermögens statt. Es kann nämlich auch nicht vorkommen, dass eine Handlung im Bereich von Rache und Strafe stattfindet, ohne dass die Seele das weiß. 679 (Übers. Hülser mit Modifikationen) III.2. 2. 3. 1. 2 Akrasie Eng verbunden mit dem Gefühl des Überkommenwerdens durch einen Affekt ist ein weiteres Phänomen, welches in der Antike große Aufmerksamkeit er‐ fahren hat: die Akrasie bzw. Willensschwäche. Dieses Phänomen wirft die Frage auf, wie es zu erklären ist, dass ein Akteur gegen sein eigenes bestes Urteil handelt. Eine Handlungstheorie, die wie die stoische eine notwendige Verbin‐ dung zwischen unserem praktischen Urteil (συγκατάθεσις bzw. κρίσις) und einer entsprechenden Handlungsmotivation (ὁρμή) - d. h. einen motivations‐ theoretischen Internalismus - vertritt, steht hier vor einem großen Problem. Wenn unser Urteil über die beste Handlungsoption notwendig eine diesem Ur‐ teil gemäße Handlungsmotivation impliziert und - insofern keine äußeren Hin‐ dernisse auftreten - eine entsprechende Handlung hervorbringt, wie kann man dann erklären, dass ein Akteur wider sein eigenes bestes Urteil handelt? Es ist also nicht verwunderlich, dass vielfach die Ansicht vertreten wurde, die Stoiker hätten das Phänomen der Willensschwäche in einem strikten Sinne aus theo‐ rieinternen Gründen zurückgewiesen. 680 Diesen Interpreten zufolge ist akrati‐ sches Handeln im stoischen Theorierahmen schlicht unmöglich. Um die unbe‐ dingte Verantwortlichkeit des Akteurs 681 und den dieser zugrundeliegenden 243 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 681 Vgl. Müller (2009), 190: „Die Wahrung von Verantwortlichkeit für das eigene Handeln ist das zentrale Anliegen der stoischen Handlungstheorie […].“ 682 Siehe dazu: Inwood (1985), 138 f; Forschner ( 2 1995), 137 f; Long (1999), 581 f; Halbig (2004), 36; eine gute Zusammenfassung bietet: Müller (2009), 167-171. 683 Plu.Virt.mor. 446F-447A = LS 65G = SVF 3.459: ἔνιοι δέ φασιν οὐχ ἕτερον εἶναι τοῦ λόγου τὸ πάθος οὐδὲ δυεῖν διαφορὰν καὶ στάσιν, ἀλλʼ ἑνὸς λόγου τροπὴν ἐπʼ ἀμφότερα, λανθάνουσαν ἡμᾶς ὀξύτητι καὶ τάχει μεταβολῆς, οὐ συνορῶντας ὅτι ταὐτόν ἐστι τῆς ψυχῆς ᾧ πέφυκεν ἐπιθυμεῖν καὶ μετανοεῖν, ὀργίζεσθαι καὶ δεδιέναι, φέρεσθαι πρὸς τὸ αἰσχρὸν ὑφʼ ἡδονῆς καὶ φερομένης πάλιν αὑτῆς ἐπιλαμβάνεσθαι· καὶ γὰρ ἐπιθυμίαν καὶ ὀργὴν καὶ φόβον καὶ τὰ τοιαῦτα πάντα δόξας εἶναι καὶ κρίσεις πονηράς, οὐ περὶ ἕν τι γινομένας τῆς ψυχῆς μέρος, ἀλλʼ ὅλου τοῦ ἡγεμονικοῦ ῥοπὰς καὶ εἴξεις καὶ συγκαταθέσεις καὶ ὁρμὰς καὶ ὅλως ἐνεργείας τινὰς οὔσας ἐν ὀλίγῳ μεταπτωτάς, ὥσπερ αἱ τῶν παίδων ἐπιδρομαὶ τὸ ῥαγδαῖον καὶ τὸ σφοδρὸν ἐπισφαλὲς ὑπʼ ἀσθενείας καὶ ἀβέβαιον ἔχουσι. motivationstheoretischen Internalismus aufrecht zu erhalten, könnten die Sto‐ iker das Phänomen der Willensschwäche im oben dargelegten Sinne nicht ak‐ zeptieren und versuchten, das beobachtbare Phänomen auf andere Weise zu erklären. Ein synchroner Konflikt innerhalb der Seele des Akteurs sei aufgrund des psychologischen Monismus der Stoiker unmöglich. Im Gegensatz zu Platon und Aristotles können sie das Phänomen der Willensschwäche nicht mittels eines Konflikts verschiedener Seelenteile erklären. Um dennoch eine Erklärung für das beobachtete Phänomen der Willensschwäche zu bieten, hätten die Stoi‐ kern den Vertretern dieser Interpretationslinie zufolge auf ein sog. Oszillations‐ modell  682 zurückgegriffen. Im Falle der Willensschwäche liege im ἡγεμονικόν selbst ein schnelles Oszillieren zwischen zwei verschiedenen Urteilen und ent‐ sprechenden Handlungsimpulsen vor, welches sich so schnell ereigne, dass wir es nicht bemerkten: Einige Leute [sc. die Stoiker] sagen, der Affekt sei nichts Verschiedenes von der Ver‐ nunft und zwischen den beiden gebe es auch keinen Dissens und keinen Konflikt; sondern es gibt eine Wendung, die die eine Vernunft in beide Richtungen macht, die wir wegen ihrer Heftigkeit und Schnelligkeit aber nicht bemerken. Wir nehmen nicht wahr, dass das, womit wir von Natur aus begehren und bereuen und womit wir zornig sind und Angst haben, derselbe Teil der Seele ist, der unter der Einwirkung der Lust sich zum Schimpflichen hin bewegt und in der Bewegung wieder zu sich selbst zu‐ rückfindet. Denn Begierde, Zorn, Furcht und alles dergleichen sind schlechte Meinungen und Urteile, die sich nicht bloß in einem einzigen Teil der Seele bilden; viel‐ mehr sind sie Ausschläge und Einwilligungen, Zustimmungen und Impulse und über‐ haupt bestimmte Tätigkeiten des ganzen leitenden Seelenvermögens, welche rasch wechseln, so wie die Kämpfe der Kinder, deren Hitzigkeit und Heftigkeit wegen ihrer Schwäche schwankend und unsicher sind. 683 (Übers. Hülser mit Modifikationen) 244 III. Die stoische Motivationstheorie 684 Vgl. zu diesem Einwand: Müller (2009), 169 f. 685 Müller (2009), 170. 686 Vgl. ebd. 687 Für eine Kritik an diese r Option siehe: Guc kes (2004), 114 f. 688 Vgl dazu Price (1995), 3-5, der zwischen ‚vacillation‘ als Schwanken im Vorfeld der Ent‐ scheidung und ‚oscillation‘ als Schwanken nach der Entscheidung unterscheidet. Wenn jemand also wider sein eigenes bestes Urteil handelt, ist dies diesem Er‐ klärungsmodell zufolge nur ein vermeintlicher Irrtum. In Wahrheit hat er näm‐ lich seine Meinung und damit seine Handlungsmotivation so schnell geändert, dass es seiner Aufmerksamkeit entging. Durch die große Schnelligkeit der Os‐ zillation entsteht für den Akteur zwar der Eindruck der Synchronität des Kon‐ fliktes, in Wahrheit handelt es sich jedoch um einen diachronen Konflikt. Dem Akteur kommt es so vor, als würde er wider sein eigenes bestes Urteil handeln, doch handelt er immer entsprechend seines jeweiligen aktuellen Urteils, wel‐ ches nur sehr schnell wechselt. Das Problem der Willensschwäche wird im Os‐ zillationsmodell folglich dahingehend aufgelöst, dass ein vermeintlicher Kon‐ flikt gleichzeitiger unterschiedlicher Strebungen in unserer Seele als eine wegen ihrer Schnelligkeit nicht wahrnehmbare zeitliche Sukzession entgegengesetzter Urteile und Impulse erklärt wird. Auch die Affekte werden diesem Modell zufolge als ziemlich schwach ver‐ standen, insofern sie wie die anderen Urteile auch im ständigen Wechsel abge‐ löst werden und keine fortdauernden Handlungsimpule hinterlassen. Dieser Aspekt stellt eine gewisse Schwäche des Oszillationsmodells dar, da es die Hef‐ tigkeit und Persistenz der Affekte zu unterschätzen scheint. 684 „Ein Konflikt, in den Affekte involviert sind, hat man sich anders vorzustellen, als eine erratische Abwägung von konfligierenden theoretischen Meinungen“ 685 . Das Oszillations‐ modell beschreibt eher eine Situation, in der man sich angesichts der vielen sich anbietenden Handlungsoptionen nicht für eine entscheiden kann und statt‐ dessen ganz nüchtern bald die eine, bald die andere wählt, ohne affektiv be‐ troffen zu sein. 686 Ein weiteres Problem für das Oszillationsmodell besteht im motivationstheoretischen Internalismus der Stoa. Aufgrund des notwendigen Zusammenhangs von Zustimmung, Impuls und Handlung - sofern keine äu‐ ßeren Hindernisse dazwischentreten - erscheint der Gedanke eines häufigen Wechsels dieser Komponenten sehr fragwürdig. Wird hier der enge Zusam‐ menhang von Impuls und Handlung aufgelöst oder wird die Handlung mit jedem Wechsel im Vollzug abgebrochen 687 ? Oder handelt es sich gar nicht um eine echte Zustimmung, sondern vielmehr um ein unentschlossenes Schwanken im Vorfeld der eigentlichen Entscheidung (vacillation  688 )? Ist Letzteres der Fall, kann man wiederum nicht von einem diachronen Konflikt sprechen, da dieser einen vor‐ 245 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 689 Vgl. Müller (2009), 170 f; siehe auch: Guck es (2004), 113. 690 Vgl. dazu Price (1995), 1 59 f. 691 Vgl. Price (1995), 160. 692 Vgl. Gal.PHP 5. 2. 27 = SVF 3.471a; 5. 3. 1 = LS 53V = SVF 2.841; Cic.Tusc. 4. 31 = SVF 3.279. 693 S. E. M 7.373 = S VF 1. 64: μνήμη θησα υρ ισμὸς οὖσα φαντασιῶν. 694 Vgl. Tieleman (2003), 268. herigen Entschluss voraussetzt, der verworfen wird. Wir hätten es mithin we‐ niger mit dem Phänomen der Willensschwäche als mit fehlender Entschluss‐ kraft oder Wankelmütgkeit zu tun. 689 Des Weiteren dürfte auch die fehlende Erklärung des Phänomens der synchronen Willensschwäche, welches der Ak‐ teur ja wahrnimmt, als Problem empfunden werden, da es nicht befriedigen kann, dieses Phänomen einfach wegzuerklären - zumal wenn man bedenkt, welch großen Wert die Stoiker, wie bei der Diskussion ihrer οἰκείωσις-Lehre deutlich geworden ist, der Selbstwahrnehmung zuschrieben. Aufgrund dieser Probleme des Oszillationsmodells wurden in jüngerer Zeit einige Versuche un‐ ternommen, ein alternatives Erklärungsmodell vorzulegen bzw. das Oszillati‐ onsmodell weiterzuentwickeln. Anthony Price hat mit seinem Erinnerungsmodell  690 einen interessanten Er‐ klärungsversuch unternommen. Er unterscheidet zwischen gegenwärtigen Überzeugungen und Erinnerungen. So lasse das Schwanken im Vorfeld einer Entscheidung (vacillation) eine Erinnerung an ein mit der gegenwärtigen Über‐ zeugung konfligierendes Urteil sowie eine Anerkennung der Vernünftigkeit dieses Urteils zu. Das gegenwärtige Selbst erinnere sich an ein Urteil eines ver‐ gangenen Selbsts und respektiere dieses, ohne es jedoch akzeptieren zu können. So wollten die Stoiker Price zufolge das Bewusstsein eines bestehenden Kon‐ fliktes mit dem Nichtbestehen eines synchronen Konfliktes versöhnen. 691 Dieser Theorie zufolge reaktiviert man also beim Erwägen einer bestimmten Hand‐ lungsoption ein spezifisches Urteil, welches man früher unter ähnlichen Um‐ ständen gefällt hat. Diese Vorstellung fügt sich gut in das stoische Verständnis der Vernunft als eine ‚Sammlung von Begriffen (ἔννοιαι) und Vorbegriffen (προλήψεις)‘ 692 und ihre Theorie der Erinnerung als einem ‚Speicher von Vor‐ stellungen‘ 693 ein. Der Konflikt folgt demnach aus einer fehlenden Übereinstim‐ mung früherer und gegenwärtiger Begriffe. Problematisch an diesem Erklä‐ rungsmodell ist jedoch, dass es keine Erklärung für das Phänomen synchroner Willensschwäche liefern kann. Es wird wiederum in einen diachronen Konflikt wegerklärt. 694 Zudem fehlt es Prices Interpretation an einer klaren textlichen Basis. Die Erinnerung findet in den Texten zum Phänomen der Willensschwäche 246 III. Die stoische Motivationstheorie 695 Vgl. Tieleman (2003), 268 f. 696 Vgl. dazu Joyce (1995). 697 Vgl. Joyce (1995), 334 f. 698 Vgl. Tieleman (2003), 269. 699 Vgl. Brennan (2003), 274: „But each belief, and so each impulse, maximally occupies the mind; one can only fit a single belief into one’s ʻbelief boxʼ.“ 700 Vgl. Tieleman (2003), 269. 701 Vgl. dazu Gosling (1987), 190; Sorabji (2000), 303; Tieleman (2003), 170-178; Guckes (2004), 114-122; Gill (1983; 1998, 118-120; 2006, 254 f); eine gute Zusammenfassung bietet: Müller (2009), 171-179; zu Kritik an der im Persistenzmodell vorgenommenen Verknüpfung des Phänomens der Akrasie mit der stoischen Affektenlehre siehe: Gou‐ rinat (2007), 241-246. keine Erwähnung. 695 Aufgrund dieser Schwächen kann auch dieses Erklärungs‐ modell nicht wirklich überzeugen. Vor ähnlichen Problemen steht auch Richard Joyces Modell der simultanen Zustimmungen. 696 Joyce versucht für das Phänomen der synchronen Willens‐ schwäche innerhalb des stoischen Theorierahmens dadurch eine Erklärung zu finden, dass er es zulässt, dass zwei oder mehrere sich widersprechende Vor‐ stellungen zugleich eine Zustimmung erfahren und Handlungsimpulse hervor‐ bringen. 697 Auch dieser Vorschlag setzt den Gedanken der Sammlung von Be‐ griffen und damit das stoische Verständnis von Erinnerung voraus. Für eine Anwendung dieses Gedankens zur Erklärung des Phänomens der Willens‐ schwäche gibt es jedoch keine textliche Basis. 698 Zudem ist es fraglich, ob in unserer ‚belief box‘ zur selben Zeit mehr als eine Vorstellung samt λεκτόν Platz hat. 699 Wir können nicht mehreren Vorstellungen zugleich unsere Aufmerk‐ samkeit schenken. 700 Daher dürfte dieses Modell wiederum auf das Oszillati‐ onsmodell hinauslaufen, dem zufolge wir sukzessive verschiedenen Vorstel‐ lungen unsere Zutimmung geben, und denselben Probelmen gegenüberstehen. Das sog. Persistenzmodell  701 teilt zwar mit dem Oszillationsmodell die Ansicht, dass bei der Willensschwäche ein schneller Umschlag von einem Urteil und der damit verbundenen Handlungsmotivation zu einem anderen stattfinde, doch kommt den Affekten hier eine andere, wichtige Rolle zu. Das Persistenzmodell betont die besondere Vehemenz der Affekte, die auch nach einer Urteilsände‐ rung fortbestehen können, wie oben an Chrysipps Läuferbeispiel deutlich wurde. Wenn der Akteur ein falsches Urteil fällt und dadurch in einen Affekt verfällt, gleich darauf jedoch sein Urteil korrigiert, bleibt diese Korrektur machtlos gegen die Kraft des Affekts. So wie der Rennende nicht sofort stehen bleiben oder seine Richtung ändern kann, wird auch der Akteur durch die Wucht des Affekts fortgetragen und handelt gegen sein zweites Urteil, welches er für sein eigentliches, besseres Urteil hält. Dass dieses Modell der stoischen Erklä‐ 247 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 702 Stob.Ecl. 2. 89.6-9 = LS 65A = SVF 3.389: πᾶν γὰρ πάθος βιαστικόν ἐστι, ὡς πολλάκις ὁρῶντας τοὺς ἐν τοῖς πάθεσιν ὄντας ὅτι συμφέρει τόδε οὐ ποιεῖν, ὑπὸ τῆς σφοδρότητος ἐκφερομένους, καθάπερ ὑπό τινος ἀπειθοῦς ἵππου, ἀνάγεσθαι πρὸς τὸ ποιεῖν αὐτό […]. 703 Gal.PHP 4. 4.24 f = SVF 3.476: οἷαι καὶ ἀκρατεῖς αἱ τοιαῦται κατα στάσεις εἰσίν, ὡς ἂν οὐ κρατούντων ἑαυτῶν, ἀλλʼ ἐκφερομένων καθάπερ οἱ τῷ τόνῳ τρέχοντες προσεκφέρονται οὐ κρατοῦντες τῆς τοιαύτης κινήσεως; siehe auch PHP 4. 5. 13 = SVF 3.479, wo die Affekte als ‚forttragende Bewegungen‘ (κινήσεις ἐκφοραί) bezeichnet werden. 704 Stob.Ecl. 2. 90.2-6 = LS 65A = SVF 3.389: οἱ δʼ ἐν τοῖς πάθεσιν ὄντες, κἂν μάθωσι, κἂν μεταδιδαχθῶσιν ὅτι οὐ δεῖ λυπεῖσθαι ἢ φοβεῖσθαι, ἢ ὅλως ἐν τοῖς πάθεσιν εἶναι τῆς ψυχῆς, ὅμως οὐκ ἀφίστανται τούτων, ἀλλʼ ἄγονται ὑπὸ τῶν παθῶν εἰς τὸ ὑπὸ τῆς τούτων κρατεῖσθαι τυραννίδος. rung für das Phänomen der Willensschwäche näherkommt, zeigen uns die fol‐ gende Passage aus Stoibaiosʼ Ecologae und ein Zitat aus Chrysipps Schrift Über die Affekte (Περὶ παθῶν) bei Galen: Denn jeder Affekt ist etwas Überwältigendes, wie es ja die Leute, die in den Affekten sind, oft sehen, dass es nützlich ist, etwas Bestimmtes nicht zu tun, von der Intensität wie von irgendeinem ungehorsamen Pferd davongetragen und gezwungen werden, es zu tun […]. 702 Solche Zustände [sc. die Affekte] sind von der Art, dass sie unbeherrscht (ἀκρατεῖς) sind, so als ob die Menschen keine Kontrolle mehr über sich hätten, sondern davon‐ getragen würden, ebenso wie die angestrengt Laufenden davongetragen werden und keine Kontrolle über eine solche Bewegung haben. 703 Die besondere Vehemenz der Affekte ist also auch für ihre besondere Persistenz verantwortlich. Auch wenn man erkannt hat, dass eine bestimmte Handlungs‐ option die bessere ist, kann man sie dennoch nicht verfolgen, da der Affekt einen „davonträgt“ und auch nach der Urteilsänderung fortbesteht. Die Affekte leisten der Urteilsänderung Widerstand und zeigen darin ihre besondere Dauerhaftig‐ keit: Wer dagegen im Zustand des Affekts ist, der gibt selbst dann, wenn er sich bewusst wird oder lernt, dass er nicht traurig sein braucht oder sich nicht fürchten muss oder dass seine Seele sich überhaupt nicht in einem Zustand des Affekts befinden sollte, den Affekt trotzdem nicht auf; sondern die Leute werden von den Affekten in eine Situation gebracht, wo sie von deren Tyrranei beherrscht werden. 704 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Es ist dabei keineswegs notwendig, dass einem das Urteil, welches einen in den Affekt hat verfallen lassen, auch bewusst ist. Das Urteil kann, da sich der Um‐ 248 III. Die stoische Motivationstheorie 705 Vgl. Tieleman (2003), 172; Guckes (2004), 118 f und Müller (2009), 173-176, die dies im Anschluss an Gill (1983; 1997, 213-228; 1998, 118-120; 2006, 254-260) am von den Stoi‐ kern vielfach diskutierten Beispiel der Medea aufzeigen. 706 Vgl. Müller (2009), 183; siehe auch Gosling (1987), 195. 707 Vgl. Gosling (1987), 193: „[I]n talking of being overcome by passion, either you take the language of overcoming seriously, in which case you are not explaining an action or choice; or else you are explaining an action, in which case that language cannot be taken seriously, and what is done must be the result of the agentʼs decision, not of the operation of some other ʻpartʼ of him or her. Our ordinary way of speaking, canonised in Platonic theory, simply introduces confusion in our understanding of ourselves and our res‐ ponsibility.“ schlag sehr schnell ereignet hat und die Korrektur unmittelbar darauf erfolgte, unbewusst bleiben, so dass man meint, gegen sein eigenes bestes Urteil zu han‐ deln. In Wahrheit handelt man jedoch gemäß seinem ersten Urteil und dem damit verbundenen Affekt, der sich der Kontrolle entzieht und daher nicht durch das zweite Urteil korrigiert werden kann. Der exzessive Impuls des Affekts übertrumpft den späteren Handlungsimpuls, so dass dieser nicht handlungs‐ wirksam werden kann. Anstatt eines diachronen Wechsels von Urteilen und Handlungsimpulsen haben wir es nach dem Persistenzmodell im Falle der Wil‐ lensschwäche also durchaus mit einem synchronen Konflikt innerhalb des ἡγεμονικόν zu tun, bei dem sich der Akteur des Widerspruchs zwischen dem Affekt und seinem eigenen besseren Urteil bewusst sein kann. Der mit dem besseren Urteil verbundene Handlungsimpuls kann jedoch aufgrund der Vehe‐ menz und größeren Intensität des Affekts nicht handlungswirksam werden und wird von diesem übertrumpft. Eine Erklärung des Phänomens synchroner Wil‐ lensschwäche ist daher entgegen der lange vertretenen These im stoischen The‐ orierahmen durchaus möglich. 705 Eine weitere Stärke dieses Modells besteht zudem darin, dass der Akratiker hier intentional handelt. Er handelt aus Gründen, die ihm subjektiv als ver‐ nünftig und richtig erscheinen, jedoch objektiv falsch und unvernünftig sind, da sie nicht mit der Natur des Kosmos übereinstimmen. 706 Seine motivierenden Gründe sind nicht die normativen Gründe, die für ihn aufgrund der Forderungen der kosmischen Natur an ihn bestehen. Er wird nicht von irgendetwas ‚über‐ kommen‘, was eine Entscheidung und damit intentionales Handeln unmöglich macht. Er entscheidet sich vielmehr für eine Handlung, wodurch er einen Pro‐ zess in Gang setzt, den er später nicht mehr stoppen kann, obwohl er nun anders handeln möchte. 707 Für das Persistenzmodell zur Erklärung akratischen Verhaltens dürfte auch eine Passage bei Clemens von Alexandrien sprechen, der bei der Definition der 249 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 708 Zur ἐγκράτεια als Tugend siehe: Plu.Stoic.rep. 1034D-E = LS 61C = SVF 1.563 (als ge‐ nerische Tugend); Stob.Ecl. 2. 7. 5 = LS 61H = SVF 3.264; D. L. 7.92 f = SVF 3.265 (als untergeordnete Tugend). 709 Clem.Strom. 2. 18 = SVF 3.275: αὐτίκα ἡ ἐγκράτεια διάθεσίς ἐστιν ἀνυπέρβατος τῶν κατὰ τὸν ὀρθὸν λόγον φανέντων· ἐγκρατεύεται δὲ ὁ κατέχων τὰς παρὰ τὸν ὀρθὸν λόγον ὁρμάς ἢ ὁ κατέχων ἁυτὸν ὥστε μὴ ὁρμᾶν παρὰ τὸν ὀρθὸν λόγον. 710 Einwände gegen diese Interpretation der Passage aus Clemensʼ Στρωματεῖς finden sich in: Gourinat (2007), bes. 227-231 und 246 f. Tugend der Selbstbeherrschung (ἐγκράτεια) 708 , welche uns vor ἀκρασία be‐ wahrt, stoisches Gedankengut rezipiert: Da die Selbstbeherrschung eine Disposition ist, nicht über das hinauszugehen, was offenkundig der rechten Vernunft gemäß ist, beherrscht sich selbst, wer die Impulse wider die rechte Vernunft zurückhält oder wer sich so zurückhält, dass er keine Im‐ pulse wider die rechte Vernunft hat. 709 Die Selbstbeherrschung besteht diesem Passus zufolge darin, dass man all seine Handlungsimpulse der rechten Vernunft gemäß bewahrt. Der Selbstbeherrschte vermeidet alle irrationalen Impulse, d. h. Affekte. Er ist folglich frei von Affekten. Diese Verbindung von ἀκρασία mit den Affekten durch den Gegenbegriff der ἐγκράτεια dürfte für die Erklärung des Phänomens der Willensschwäche mit Hilfe des Persistenzmodells sprechen, welches den Affekten eine wichtige Rolle zuweist. 710 Die Selbstbeherrschung bewahrt uns vor den Affekten und damit auch - dem Persistenzmodell zufolge - vor der Akrasie. Die Erklärung der Willenschwäche mit Hilfe des Persistenzmodells bietet schließlich auch eine weitere Möglichkeit, das Phänomen des vermeintlichen Amoralisten zu erklären, der zwar ein aufrichtiges moralisches Urteil zu fällen scheint, jedoch in keiner Weise motiviert ist, diesem Urteil entsprechend zu handeln. Wenn der Amoralist sein moralisches Urteil fällt, dass er eine be‐ stimmte Handlung ausführen soll, jedoch überhaupt nicht motiviert ist, ent‐ sprechend zu handeln, hat er möglicherweise zuvor - vielleicht auch nur im‐ plizit - ein anderes Urteil gefällt und ist dadurch in einen Affekt verfallen, dessen Exzessivität den mit seinem späteren Urteil einhergehenden Handlungsimpuls übertrumpft und verhindert, dass dieser handlungswirksam werden kann. So scheint der Amoralist zwar das moralische Urteil zu fällen, dass es die für ihn ‚zukommende Handlung‘ sei, das gefundene Portemonnaie seinem Besitzer zu‐ rückzugeben, doch hat er zuvor bereits implizit der Vorstellung seine Zustim‐ mung gegeben, dass Geld ein Gut und es die für ihn ‚zukommende Handlung‘ sei, Lust über den Besitz des fremden Geldes zu empfinden, d. h. eine Expansion bzw. Anschwellung der Seele zu haben, so dass er in einen Affekt verfallen ist, der den Impuls, das Portemonnaie seinem Besitzer zurückzugeben, übertrumpft 250 III. Die stoische Motivationstheorie 711 Vgl. Inwood (1985), 164 f; siehe dazu auch: Müller (2009), 179-181. 712 Gal.PHP 4. 6.2 f = LS 65T = SVF 3.473: ὅσα γὰρ οὐκ ὀρθῶς πράττουσιν ἄνθρωποι, τὰ μὲν εἰς μοχθηρὰν κρίσιν ἀναφέρει, τὰ δʼ εἰς ἀτονίαν καὶ ἀσθένειαν τῆς ψυχῆς, ὥσπερ γε καὶ ὧν κατορθοῦσιν ἡ ὀρθὴ κρίσις ἐξηγεῖται μετὰ τῆς κατὰ τὴν ψυχὴν εὐτονίας […] ἀφίστασθαί τέ φησιν ἔστιν ὅτε τῶν ὀρθῶς ἐγνωσμένων ἡμῖν ἐνδόντος τοῦ τόνου τῆς ψυχῆς καὶ μὴ παραμείναντος ἕως παντὸς μηδʼ ἐξυπηρετήσαντος τοῖς τοῦ λόγου προστάγμασιν; siehe auch: Gal.PHP 4. 6.41-48 = SVF 3.478. 713 Stob.Ecl. 2. 93.6-11 = LS 65S = SVF 3.421: νόσημα δʼ εἶναι δόξαν ἐπιθυμίας ἐρρυηκυῖαν εἰς ἕξιν καὶ ἐνεσκιρωμένην, καθʼ ἣν ὑπολαμβάνουσι τὰ μὴ αἱρετὰ σφόδρα αἱρετὰ εἶναι, und verhindert, dass dieser Impuls handlungswirksam werden kann. So bietet die stoische Erklärung des Phänomens der Willensschwäche eine weitere mög‐ liche Erklärung neben den bereits erwähnten für das vermeintliche Phänomen des Amoralisten. III.2. 2. 3. 1. 3 Die Dispositionen des schlechten Menschen Das Schwanken zwischen verschiedenen Urteilen und Handlungsimpulsen beim Phänomen der Willensschwäche hat seinen Grund in einer schwachen Disposition des Akteurs, welche eine Folge einer lockeren Spannung seines Seelenpneumas ist 711 : Denn von den unrichtigen Handlungen der Menschen bezieht er [sc. Chrysipp] die einen auf ein falsches Urteil, die anderen aber auf eine Spannungslosigkeit und Kraft‐ losigkeit der Seele, gerade so, wie auch die richtigen Handlungen unter der Führung des richtigen Urteils in Verbindung mit der guten Spannung der Seele stehen. […] Er sagt, dass es Zeiten gibt, zu denen wir die richtigen Entscheidungen aufgeben, weil die Spannung der Seele das gestattet und nicht bis zum Abschluss oder bis zur voll‐ ständigen Ausführung der Anordnungen der Vernunft fortdauert. 712 (Übers. Hülser) Die fehlende Spannung des Seelenpneumas führt dazu, dass wir eine schwache Disposition haben und nicht bei unseren Urteilen bleiben, sondern schwankend in unserem Urteil sind. Diese Verfassung unserer Seele macht uns anfällig für Affekte. Wenn die Disposition (ἕξις) unserer Seele so beschaffen ist, dass sie Affekte hervorbringt, wird sie von den Stoikern auch als ‚Krankheit‘ (νόσημα/ morbus) bezeichnet: Krankheit ist eine Meinung des Begehrens, die in einen Habitus hineingeflossen ist und sich verfestigt hat; danach nimmt man an, Dinge, die man nicht erstreben soll, seien höchst erstrebenswert; solcherart sind etwa die Liebe zu den Frauen, zum Wein und zum Geld. Aufgrund von Antipathie gibt es aber auch Krankheiten, die diesen Krankheiten entgegengesetzt sind, etwa das Verabscheuen von Frauen, von Wein und von Menschen. 713 (Übers. Hülser) 251 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa οἷον φιλογυνίαν, φιλοινίαν, φιλαργυρίαν· εἶναι δέ τινα καὶ ἐναντία <τούτοις> τοῖς νοσήμασι κατὰ προσκοπὴν γινόμενα, οἷον μισογυνίαν, μισοινίαν, μισανθρωπίαν; siehe auch: D. L. 7.115 = SVF 3.422. 714 Vgl. Graver (2007), 69, die auch die Beispiele von Menelaos und Medea diskutiert, die von den Stoikern eingeführt wurden, um den mentalen Zwiespalt des Akteurs zu il‐ lustrieren, der gegen sein eigenes bestes Urteil handelt (70-72). 715 Vgl. Inwood (1985 ), 165; siehe dazu auch: Gal.PHP 5. 4.10-14; Stob.Ecl. 2. 88.22-89. 3 = LS 65C = SVF 3.378. 716 Sie schreiben dabei den Objekten jeweils einen großen Wert zu, was, wie wir gesehen haben, bei den πάθη nicht der Fall ist; siehe dazu: Brennan (1998), 39-44; Tieleman (2003), 252 f. 717 Vgl. Stob.Ecl. 2.93.9-11 = LS 65S = SVF 3.421: εἶναι δ έ τινα καὶ ἐναντία <τούτοις> τοῖς νοσήμασι κατὰ προσκοπὴν γινόμενα, οἷον μισογυνίαν, μισοινίαν, μισανθρωπίαν; siehe auch: Cic.Tusc. 4.26 = SVF 3.427: quod autem nascitur ex offensione ita definiunt: opi‐ nionem vehementem de re non fugienda inhaerentem et penitus insitam tamquam fugi‐ enda; Cic.Tusc. 4.25 = SVF 3.424. 718 Vgl. Cic.Tusc. 4.26 f = SVF 3.427; siehe dazu auch: Graver (2007), 139. 719 Stob.Ecl. 2. 93.11-13 = LS 65S = SVF 3.421: τὰ δὲ νοσήματα μετʼ ἀσθενείας συμβαίνοντα ἀρρωστήματα καλεῖσθαι; siehe auch: Cic.Tusc. 4. 28: morbum appellant to tius corporis Die Krankheit der Seele besteht dieser Passage zufolge also in einer falschen Meinung über die von uns zu erstrebenden Güter bzw. zu vermeidenden Übel, die sich zu einer Disposition verfestigt hat, welche dazu führt, dass wir unsere Urteile ändern und widersprüchlichen Meinungen und Prinzipien bzw. Propo‐ sitionen zustimmen und in Affekte verfallen. 714 Eine Zustimmung, die auf Basis von inkonsistenten Prinzipien gegeben wird, ist schwach und instabil, so dass es zur Oszillation zwischen verschiedenen Urteilen und Impulsen und letztlich zu Affekten kommt. 715 Die Krankheit der Seele disponiert uns dazu, bestimmte Emotionen in Bezug auf spezifische äußere Objekte zu erfahren (z. B. Wein, Geld oder Frauen). Sie ist eine Überzeugung darüber, dass bestimmte Objekte es ver‐ dienen erstrebt zu werden, obwohl dies nicht der Fall ist. 716 Das Gegenteil davon, nämlich der Anstoß (προσκοπή/ offensio), ist eine Überzeugung, dass etwas un‐ bedingt vermieden werden muss, obschon dies nicht der Fall ist. 717 Gegenstand der Überzeugung sind in beiden Fällen äußere Objekte wie Geld, Ansehen, Nah‐ rung, das andere Geschlecht oder Menschen allgemein. Das νόσημα bzw. die προσκοπή sind folglich Charakterzüge in Form gefestigter Überzeugungen, die das Verhalten einer Person gegenüber verschiedenen äußeren Objekten - d. h. indifferenten Dingen - steuern und welchen falsche Werturteile zugrunde liegen, insofern die Person annimmt, dass diese Objekte Güter bzw. Übel sind, die erstrebt bzw. vermieden werden müssen. 718 Eng verwandt mit den ‚Krankheiten der Seele‘ (νοσήματα/ morbi) sind die sog. ‚Schwächen‘ (ἀρρωστήματα/ aegrotationes), die eine Spezies der νοσήματα bilden und „mit Schwäche einhergehen“ 719 . Unter einer ‚Schwäche‘ ist, wie das 252 III. Die stoische Motivationstheorie corruptionem, aegrotationem morbum cum imbecillitate […]; D. L. 7.115 = SVF 3.422: τὸ γὰρ ἀρρώστημά ἐστι νόσημα μετʼ ἀσθενείας, τὸ δὲ νόσημα οἴησις σφόδρα δοκοῦντος αἱρετοῦ. 720 Vgl. dazu Sto b.Ecl. 2.5 8.13 f = LS 60K = SVF 3. 95, wo die ῥώμη als eine der Tugenden bestimmt wird, die keine Form von Wissen sind; s iehe auch Cic.Tusc. 4. 31 = SVF 3.426. 721 Stob.Ecl. 2. 111.20-112. 5 = LS 41G = SVF 3.548; P lu.Stoic.rep. 1057B = LS 41F = SVF 3.177; siehe dazu auch: Görler (1977). 722 Vgl. Graver (2007), 139 f. 723 Vgl. Graver (2007), 140. 724 Siehe dazu: Kidd (1983); Ranocchia (2012). 725 Stob.Ecl. 2. 93.1-6 = LS 65S = SVF 3.421: εὐεμπτωσίαν δʼεἶναι εὐκαταφορίαν εἰς πάθος, εἴς τι τῶν παρὰ φύσιν ἔργων, οἷον ἐπιλυπίαν, ὀργιλότητα, φθονερίαν, ἀκροχολίαν καὶ τὰ ὅμοια. γίγνεσθαι δὲ εὐεμπτωσίας καὶ εἰς ἄλλα ἔργα τῶν παρὰ φύσιν, οἷον εἰς κλοπὰς καὶ μοιχείας καὶ ὕβρεις, καθʼ ἃς κλέπται τε καὶ ὑβρισταὶ καὶ μοιχοὶ λέγονται. privative Präfix deutlich macht, buchstäblich ein Mangel an ‚Stärke‘ (ῥώμη) zu verstehen, welche eine bestimmte Qualität des Pneumas ist. 720 Von Schwäche ist folglich v. a. im Zusammenhang der Zustimmung die Rede, die ‚schwach‘ ge‐ nannt wird bzw. ‚aus einer schwachen Disposition heraus‘ erfolgt. 721 Die Schwäche besteht hier in der lockeren Spannung des Seelenpneumas, und eine ‚schwache Zustimmung‘ (συγκατάθεσις ἀσθενής) bezeichnet eine Zustimmung zu einer Proposition, welche eine Person mit einer guten Spannung des Seelen‐ pneumas - d. h. mit einem vollkommen kohärenten Überzeugungssystem - nicht akzeptieren würde. Ein ἀρρώστημα dürfte daher das νόσημα einer Person sein, die einen Hang zu Selbstwidersprüchen hat. 722 Wie die νοσήματα dispo‐ nieren also auch die ἀρρωστήματα den Akteur zu bestimmten affektiven Re‐ aktionen gegenüber gewissen Objekten. Sie bestehen in spezifischen Überzeu‐ gungen über den Wert von Objekten und gehen regelmäßig in die praktische Deliberation des Akteurs ein. Auf diese Weise üben sie Einfluss auf sein Handeln aus und disponieren ihn zu bestimmten Affekten. 723 Neben den νοσήματα und ἀρρωστήματα, welche den Akteur zu verschie‐ denen Affekten gegenüber einem spezifischen Objekt disponieren, existieren den Stoikern zufolge auch sog. ‚Anfälligkeiten‘ (εὐεμπτωσίαι/ proclivitates), 724 die den Akteur zu einem spezifischen Affekt gegenüber ganz verschiedenen Objekten disponieren, so dass er häufiger in diesen Affekt verfällt als andere: Anfälligkeit ist eine Neigung zum Affekt, zu einer der Tätigkeiten gegen die Natur wie Trübseligkeit, Jähzorn, Missgunst, Heißblütigkeit und Ähnliches. Anfälligkeit kommt auch in Beziehung zu anderen Tätigkeiten gegen die Natur vor wie im Hinblick auf Diebstahl, Ehebruch und Gewalttätigkeit; daher werden die Diebe, Gewalttäter und Ehebrecher so genannt. 725 (Übers. Hülser mit Modifikationen) 253 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 726 Vgl. Graver (2007), 142. 727 Vgl. Graver (2007), 142 f. 728 Vgl. Graver (2007), 144; die Quellenbasis für die εὐεμπτωσίαι ist allerdings sehr dünn, so dass die hier vorgeschlagene Interpretation keineswegs als sicher betrachtet werden kann; jedoch würde sie sich gut in das Bild der stoischen Handlungstheorie einfügen und zu den zwei Elementen des affektiven Urteils passen. Jähzorn beschreibt also die Eigenschaft derjenigen, die leicht und schnell zornig werden. Sie sind nicht immer zornig, doch werden sie schneller und häufiger zornig als andere Menschen. Jemand mit einer bestimmten Anfälligkeit verfällt also häufiger als andere Menschen in einen bestimmten Affekt und erfährt diesen in Bezug auf eine Vielzahl von Objekten. 726 Im Gegensatz dazu haben die νοσήματα ganz spezifische Objekte und sind für ganz verschiedene Affekte in Bezug auf dieses spezifische Objekt verantwortlich. Dies macht bereits die Ety‐ mologie der verschiedenen νοσήματα deutlich, deren Namen von ihren jewei‐ ligen spezifischen Objekten abgeleitet sind: φιλογυνία, φιλοινία, φιλαργυρία, μισογυνία, μισοινία, μισανθρωπία bzw. gloriae cupiditas, vinulentia, muliero‐ sitas, inhospitalitas. Die Namen der εὐεμπτωσίαι zeigen dagegen nur das Wesen der affektiven Reaktion an: ἐπιλυπία, ὀργιλότης, φθονερία, ἀκροχολία bzw. anxietas, iracundia, invidia, ebriositas. 727 Auf intentionaler Ebene liegen den εὐεμπτωσίαι folglich auch nicht wie den νοσήματα gefestigte Überzeugungen über den Wert eines äußeren Objekts zugrunde, sondern gefestigte Überzeu‐ gungen über die zukommende (καθῆκον) Reaktion gegenüber verschiedenen Objekten. Der Jähzornige hat demnach die feste Überzeugung, dass Zorn die zukommende Reaktion in ganz verschiedenen Situationen ist. 728 Um ein glückliches und naturgemäßes Leben führen zu können, müssen die Menschen versuchen, sich von ihren Affekten und den ihnen zugrundelie‐ genden νοσήματα bzw. ἀρρωστήματα und εὐεμπτωσίαι zu befreien und das Ideal der Affektlosigkeit (ἀπάθεια) zu erreichen. Es wäre allerdings ein Miss‐ verständnis anzunehmen, dass der stoische Weise, der dieses Ideal erreicht hat, frei von jeglichen Emotionen wäre. Ganz im Gegensatz dazu hat der Weise zum einen ganz spezifische Emotionen, die auf seiner besonderen Verfasstheit der Seele beruhen - die sog. ‚guten Emotionen‘ (εὐπαθείαι/ constantiae), zum an‐ deren eine weitere Form des Handlungsimpulses, welche er mit den Nichtweisen teilt und die den korrekten Umgang mit den indifferenten Dingen betreffen - die sog. Wahl (ἐκλογή/ selectio) bzw. Abwahl (ἀπεκλογή/ disselectio). Diese beiden Formen des Impulses sollen in den folgenden beiden Kapiteln kurz be‐ trachtet werden. 254 III. Die stoische Motivationstheorie 729 Die wichtigsten Quellen zur Rekonstruktion der Lehre von den εὐπαθείαι sind: D. L. 7.115 f = LS 65F = SVF 3.431; [Andronic.]Pass. 6 = SVF 3.432; Plu.Virt.mor. 449A-B = SVF 3.439; Cic.Tusc. 4.12-14 = SVF 3.438; siehe auch: SVF 3.431-442; zu den εὐπαθείαι in der stoischen Philosophie siehe auch: Cooper (2005); Kamtekar (2005). 730 D. L. 7.116 = LS 65F = SVF 3.341: εἶναι δὲ καὶ εὐπαθείας φασι τρεῖς, χαράν, εὐλάβειαν, βούλησιν. καὶ τὴν μὲν χαρὰν ἐναντίαν φασὶν εἶναι τῇ ἡδονῇ, οὖσαν εὔλογον ἔπαρσιν· τὴν δʼ εὐλάβειαν τῷ φόβῳ, οὖσαν εὔλογον ἔκκλισιν. φοβηθήσεσθαι μὲν γὰρ τὸν σοφὸν οὐδαμῶς, εὐλαβηθήσεσθαι δέ. τῇ δʼ ἐπιθυμίᾳ ἐναντίαν φασὶν εἶναι τὴν βούλησιν, οὖσαν εὔλογον ὄρεξιν. 731 Cic.Tusc. 4. 14 = SVF 3.438: praesentis autem mali sapientis adfectio nulla est, stultorum aegritudo est […]. sic quattuor perturbationes sunt, tres constantiae, quoniam aegritudini nulla constantia opponitur. III.2. 2. 3. 1. 4 εὐπάθειαι Die εὐπαθείαι 729 sind stoischer Auffassung zufolge Handlungsimpulse auf Basis von Wissen (ἐπιστήμη) darüber, was in Wahrheit gut und schlecht ist. So urteilt der stoische Weise, der allein Wissen besitzt, dass die Tugend ein Gut ist und dass es für ihn zukommend (καθῆκον) ist, sie zu verfolgen. Dieses Urteil ist vollkommen fehlerfrei und basiert auf einer starken Zustimmung - d. h. einer Zustimmung, die ihren Grund in einer stabilen Disposition der Seele des Weisen hat. Sein Seelenpneuma hat eine gute Spannung und er hat keine inkonsistenten, inkohärenten oder widersprüchlichen Überzeugungen. Die Handlungen des Weisen, die mit der Tugend bzw. dem Laster zu tun haben, werden durch die drei εὐπαθείαι motiviert. So ist der stoische Weise motiviert, die Tugend zu ver‐ folgen, und empfindet ‚Freude‘ (χάρα/ gaudium), wenn er sich seiner eigenen Tugend bewusst ist. Er hat die εὐπάθεια des ‚Wollens‘ (βούλησις/ voluntas), wenn er versucht, die Tugend in Zukunft zu bewahren, und die der ‚Vorsicht‘ (εὐλάβεια/ cautio), wenn er versucht, das Laster zu vermeiden. Nur ein Analogon zur Traurigkeit fehlt in der Theorie der εὐπαθείαι. Hier gibt es keine Entspre‐ chung, da der Weise frei von jedem gegenwärtigen Laster ist: Sie [sc. die Stoiker] sagen, es gebe drei gute Emotionen: Freude, Vorsicht und Wollen. Und zwar ist die Freude, so sagen sie, der Lust entgegengesetzt, da sie eine wohl begründete Erhebung ist. Die Vorsicht ist der Furcht entgegengesetzt, da sie ein wohl begründetes Vermeiden ist; denn der Weise wird sich niemals fürchten, wohl aber vorsichtig sein. Zur Begierde im Gegensatz, sagen sie, steht das Wollen, welches ein wohl begründetes Verlangen ist. 730 (Übers. Hülser mit Modifikationen) Der Weise ist jedoch von keinem gegenwärtigen Übel betroffen; die Traurigkeit ist Sache der Törichten […]. So gibt es vier Affekte und drei gute Emotionen, da ja der Traurigkeit keine gute Emotion entgegengesetzt wird. 731 255 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 732 Vgl. Cic.Tus c. 4 . 13 = S VF 3.438. 733 Vgl. dazu die Ausführungen zum menschlichen τέλος auf S. 101-107; siehe auch: Plu.Virt.mor. 441C = LS 61B = SVF 1.202; 3.459. 734 Vgl. D. L. 7. 88 = LS 6 3C = SVF 3. 4. 735 Vgl. Epict.Diss. 1.4.27-29: εἰ γὰρ ἐξαπατηθέ ντα τινὰ ἔδει μαθεῖν, ὅτι τῶν ἐκτὸς καὶ ἀπροαιρέτων οὐδέν ἐστι πρὸς ἡμᾶς, ἐγὼ μὲν ἤθελον τὴν ἀπάθην ταύτην, ἐξ ἧς ἤμελλον εὐρόως καὶ ἀταράχως βιώσεσθαι, ὑμεῖς δʼ ὄψεσθʼ αὐτοὶ τί θέλετε. τί οὖν ἡμῖν παρέχει Χρύσιππος; „ἵνα γνῷς,“ φησίν, „ὅτι οὐ ψευδῆ ταῦτά ἐστιν, ἐξ ὧν ἡ εὔροιά ἐστι καὶ ἀπάθεια ἀπαντᾷ, λάβε μου τὰ βιβλία καὶ γνώσῃ ὡς ἀκολουθά τε καὶ σύμφωνά ἐστι τῇ φύσει τὰ ἀπαθῆ με ποιοῦντα.“ 736 Vgl. Stob.Ecl.2.72 .2 f = LS 60M = SVF 3. 106. Wie die Definitionen der drei εὐπαθείαι deutlich machen, haben die Urteile, auf welchen die εὐπαθείαι basieren, dieselbe Struktur wie die Urteile der πάθη. Sie betreffen ein gegenwärtiges Gut bzw. künftige Güter und Übel. Außerdem scheint ein Urteil über die zukommende (καθῆκον) Reaktion vorzuliegen - im Falle der Freude eine Erhebung (ἔπαρσις), im Falle der Vorsicht ein Vermeiden (ἔκκλισις) und beim Wollen ein Verlangen (ὄρεξις). Der Unterschied zu den πάθη besteht allerdings darin, dass diese Reaktionen jeweils als ‚wohl be‐ gründet‘ bzw. ‚vernünftig‘ (εὔλογος/ cum ratione) qualifiziert werden, wohin‐ gegen die πάθη als unvernünftig (ἄλογος/ aversa a recta ratione) charakterisiert werden. So ist Freude eine ‚wohl begründete Erhebung‘ (εὔλογος ἔπαρσις), Vorsicht ein ‚wohl begründetes Vermeiden‘ (εὔλογος ἔκκλισις) und Wollen ein ‚wohl begründetes Verlangen‘ (εὔλογος ὄρεξις). Im Gegensatz zu den Urteilen, welche die πάθη konstituieren, sind im Falle der εὐπαθείαι alle Urteile wahr. Sie sind insofern wohl begründet bzw. vernünftig, als sie in Übereinstimmung mit der Natur des Kosmos sind und der rechten Vernunft - dem ὀρθὸς λόγος - gehorchen. Ein weiteres Merkmal der εὐπαθείαι des Weisen besteht darin, dass sein Urteil fest und stabil ist, da seine Zustimmung von einer starken Disposition ausgeht. Dies macht auch Ciceros Übersetzung von εὐπαθείαι als constantiae deutlich. Er beschreibt sie als ruhige und beständige (placide atque constanter) Zustände. 732 Dies ist möglich durch die vollkommene Konsistenz und Kohärenz der Über‐ zeugungen des Weisen (ὁμολογουμένως ζῆν) 733 , die für eine starke Spannung des Seelenpneumas sorgen und ihn immun gegen Selbstwidersprüche und ein Oszillieren zwischen gegensätzlichen Überzeugungen machen, so dass er frei von Affekten (ἀπαθής) ist und glücklich (εὐδαίμων) den guten Fluss des Lebens (εὔροια βίου) 734 genießen kann. 735 Aufgrund dieses Zusammenhangs von ἀπάθεια bzw. εὐπάθεια und unserer εὐδαιμονία besteht auch eine enge Verbin‐ dung der ersten beiden Begriffe mit der Tugend (ἀρετή). So gelten sowohl die εὐπαθείαι als auch die tugendhaften Tätigkeiten (z. B. φρονίμη περιπάτησις) 736 256 III. Die stoische Motivationstheorie 737 Vgl. ebd.; Stob.Ecl. 2.73.2-6 = L S 60J = SVF 3.111; siehe dazu auch: Sen.Ep. 66.5 = SVF 3.115. 738 Vgl. Stob.Ec l. 2 . 58 .5 -9 = LS 60K = SVF 3. 95. 739 Vgl. D. L. 7.94 = SVF 3.76; siehe d azu auch: Forschner ( 2 1995), 141. 740 Für die These, die εὐπαθείαι bezögen sich auf indifferente Dinge, argumentieren Nuss‐ baum (2001), 399 und - etwas vorsichtiger - Vogt (2004), 77-79; dagegen: Inwood (1985), 173-175; Brennan (1998, 21-70; 2003, 270 Anm. 28; 2005, 98). Ich schließe mich hier den Ausführungen Tad Brennans an, da sowohl Nussbaum als auch Vogt die Funktion der ἐκλογή bzw. ἀπεκλογή (siehe unten S. 259) zu übersehen scheinen. 741 Vgl. Sen.Ep. 95. 5 7 = SV F 3.517: actio rec ta non erit nisi recta fuerit voluntas; ab hac enim est actio. rursus voluntas non erit recta nisi habitus animi rectus fuerit; ab hoc enim est voluntas. habitus porro animi non erit in optimo nisi totius vitae leges perceperit et quid de quoque iudicandum sit exegerit, nisi res ad verum redegerit; siehe auch: Müller (2009), 182. 742 Vgl. Epict.D iss. 4. 3. 8: ἀλλὰ τὰ μὲν ἀπὸ δ ογμάτων ὀρθῶν καλῶς, τὰ δʼ ἀπὸ μοχθηρῶν μοχθηρῶς. σὺ δὲ μέχρις ἂν καταμάθῃς τὸ δόγμα, ἀφʼ οὗ τις ποιεῖ ἕκαστα, μήτʼ ἐπαίνει τὸ ἔργον μήτε ψέγε; siehe dazu und zum Vorherigen: Inwood (1985), 175. als τελικὰ ἀγαθά, 737 obschon sie selbst keine Tugenden sind, da sie keine be‐ ständigen Zustände der Seele des Weisen sind. 738 Die εὐπαθείαι sind vielmehr eine Wirkung bzw. ein Begleitphänomen (ἐπιγεννήμα) der Tugend. 739 Dieser Bezug der εὐπαθείαι zur Tugend erklärt auch, warum sie allein der Weise besitzt. Er allein vermag es, das wahre Gut - die Tugend - zu erkennen und zu besitzen. Er wird daher, wenn er es besitzt, Freude (χάρα) - d. h. eine ‚wohl begründete Erhebung‘ (εὔλογος ἔπαρσις) - in seiner Seele erfahren und sie auch in Zukunft mit einem ‚wohl begründeten Verlangen‘ (εὔλογος ὄρεξις) bewahren wollen (βούλησις). Dabei wird er Vorsicht (εὐλάβεια) walten lassen, um drohende Laster ‚wohl begründet zu vermeiden‘ (εὔλογος ἔκκλισις). 740 Um also ‚sittlich richtige Handlungen‘ (κατωρθώματα/ recte facta) ausführen und εὐπαθείαι er‐ fahren zu können, muss man ein vollkommen konsistentes und kohärentes Überzeugungssystem - d. h. Wissen (ἐπιστήμη) - besitzen, welches sich in einer harmonischen und festen Disposition der Seele - d. h. der Tugend (ἀρετή) - niederschlägt. 741 Solange man noch kein Weiser ist, wird auch eine einzelne ‚zu‐ kommende Handlung‘ (καθῆκον) noch in Konflikt mit unseren anderen Hand‐ lungen oder Überzeugungen und Dispositionen stehen, so dass die εὐπαθείαι allein dem stoischen Weisen vorbehalten bleiben. Da das Leben in Übereinstim‐ mung (ὁμολογουμένως ζῆν) - d. h. das konsistente und kohärente Leben - das menschliche τέλος ist, bleibt solange etwas grundlegend Verkehrtes in jeder unserer Handlungen und Überzeugungen, bis alle unsere Überzeugungen, Dis‐ positionen und Handlungen in Harmonie miteinander und mit der Natur des Kosmos gebracht worden sind. 742 257 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa 743 Stob.Ecl. 2. 67.5-12 = LS 26H = SVF 3.294: φιλομουσίαν δὲ καὶ φιλογραμματίαν καὶ φιλιππίαν καὶ φιλοκυνηγίαν καὶ καθόλου καὶ κατʼ ἐγκυκλίους λεγομένας τέχνας ἐπιτηδεύματα μὲν καλοῦσιν, ἐπιστήμας δʼ οὔ· ἐν ταῖς σπουδαίαις ἕξεσι ταῦτα καταλείπουσι, καὶ ἀκολούθως μόνον τὸν σοφὸν φιλόμουσον εἶναι λέγουσι καὶ φιλογράμματον, καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων κατὰ τὸ ἀνάλογον. τό τε ἐπιτήδευμα τοῦτον ὑπογράφουσι τὸν τρόπον· ὁδὸν διὰ τέχνης ἢ μέρους ἄγουσαν ἐπὶ <τὰ> κατʼ ἀρετὴν; ähnlich auch: Stob.Ecl. 2. 73.10-15 = LS 60J = SVF 3.111. 744 S. E. M 11.182 = SVF 2. 97: τέχνη γάρ ἐστι σύστημα ἐκ καταλήψεων […]. 745 Vgl. ebd.: […] κατάληψίς ἐστι καταληπτικῆς φαντασίας συγκατάθεσις; zur κατάληψις siehe auch: Watson (1966); Frede (1999b); Hankinson (2003); Brennan (2005), 62-81; Vogt (2012b), 158-182. 746 Vgl. Graver (2007), 146. 747 Vgl. ebd.; siehe dazu auch: Kerferd (1978). Den Weisen leiten auf seinem Weg der Tugend sog. ‚Strebungen‘ (ἐπιτηδεύματα): Die Liebe zur Musik, zur Literatur (Grammatik), zum Reiten und zur Jagd nennen sie [sc. die Stoiker] sowohl ganz allgemein als auch mit Bezug auf die sogenannten en‐ zyklischen Disziplinen [des üblichen Curriculums] Strebungen, nicht Wissenschaften. Sie schließen sie in die rechtschaffenen Habitus ein und sagen folgerichtig, nur der Weise sei ein Liebhaber der Musik und der Literatur (Grammatik) etc. Im Umriss cha‐ rakterisieren sie die Strebungen so: eine Methode, die mittels einer Kunst oder eines Teils einer Kunst zum Bereich der Tugend führt. 743 (Übers. Hülser) Wie diese Passage deutlich macht, gehören die ‚Strebungen‘ zum Weisen. Sie werden bestimmt als ‚eine Methode, die mittels einer Kunst oder eines Teils einer Kunst zum Bereich der Tugend führt‘. Eine Methode (ὁδός) stellt dabei ein Mittel dar, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Eine Kunst (τέχνη) dagegen ist „ein System von Kognitionen“ 744 , wobei die Kognitionen (καταλήψεις) verlässliche, wahre Urteile sind 745 . Mit der Charakterisierung der Kunst als einem System verlässlicher, wahrer Urteile befinden wir uns wieder im Bereich des Wissens (ἐπιστήμη), und eine ‚Strebung‘ ist damit dasjenige, was zusammen mit einem System von miteinander verknüpften Überzeugungen hin zur Tugend führt. 746 Eine ‚Strebung‘ bietet dabei ein Prinzip der Entscheidung zwischen verschie‐ denen möglichen tugendhaften Handlungen. Sie bietet eine Rechtfertigung dafür, dass man seine Zeit der Literatur oder der Jagd widmet, anstatt reiten zu gehen oder sich mit Musik zu beschäftigen. Die Strebungen charakterisieren dabei nicht alle Weisen in gleicher Weise. Auch Weise haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht und wissen unterschiedliche Dinge, so dass sie sich dies‐ bezüglich unterscheiden. 747 Es bleibt durchaus Raum für Individualität unter den Weisen, und sie können verschiedene Fähigkeiten besitzen und kultivieren. Entsprechend werden sie auch unterschiedliche ‚Strebungen‘ haben. Die ‚Stre‐ 258 III. Die stoische Motivationstheorie 748 Vgl. Graver (2007), 147. 749 Gegen eine Deutung der ἐκλογή bzw. ἀπεκλογή als Handlungsimpulse und Formen der ὁρμή argumentiert White (2010), der nicht Handlungen bzw. κατηγορήματα, sondern Gegenstände bzw. körperliche Zustände als Objekte der ἐκλογή bzw. ἀπεκλογή iden‐ tifiziert. ἐκλογή bzw. ἀπεκλογή stellen für ihn evaluative Überzeugungen dar, welche für das dispositionale Streben bzw. Vermeiden des Menschen grundlegend sind. 750 Vgl. Brennan (2005), 99 f. 751 Vgl. Brennan (2005), 100. bungen‘ charakterisieren daher den Weisen als Individuum, welches sich von den anderen Weisen unterscheidet. Abhängig von den verschiedenen Fähig‐ keiten geben sie den Tätigkeiten des Individuums einen spezifischen Fokus, der um nichts tugendhafter ist als die möglichen Alternativen, aber dennoch legi‐ timer Weise von ihm bevorzugt wird. So sind die Charakterzüge des Weisen das Ergebnis seiner unterschiedlichen Erfahrungen und Fähigkeiten. 748 III.2. 2. 3. 1. 5 ἐκλογή und ἀπεκλογή Im Gegensatz zu den εὐπαθείαι sind die Handlungsimpulse der Wahl (ἐκλογή/ selectio) bzw. Abwahl (ἀπεκλογή/ disselectio) 749 nicht den Weisen vorbehalten, sondern vielmehr Weisen und Nichtweisen gemein. Die ἐκλογή bzw. ἀπεκλογή beinhalten dabei kein Urteil über die Gutheit oder Schlechtheit einer Sache bzw. eines Zustandes, sondern betreffen indifferente Dinge und stellen korrekte Ur‐ teile darüber dar, dass es aufgrund des Wesens des Objekts (einem προηγμένον bzw. ἀποπροηγμένον) und unserer gegenwärtigen Situation zukommend (καθῆκον) ist, das Objekt zu verfolgen bzw. zu vermeiden. Da der Nichtweise πάθη vermeiden soll und keine εὐπαθείαι haben kann, solange er noch nicht Weise ist, stellen die ἐκλογή bzw. ἀπεκλογή eine Möglichkeit der Handlungs‐ motivation - d. h. des Impulses - dar, welche es dem Nichtweisen erlaubt, Hand‐ lungsunfähigkeit zu vermeiden und sich in der Welt zu bewegen. 750 Sowohl der Weise als auch der Nichtweise verfügen demnach über zwei Arten der Handlungsmotivation in Form von Impulsen. Der Weise hat die wahren Güter bzw. Übel - d. h. die Tugend und das Laster - betreffend die εὐπαθείαι, welche ihn zum Handeln motivieren. Für den Bereich der indifferenten Dinge übernehmen dies die ἐκλογή bzw. ἀπεκλογή, wobei sie bei ihm auf Wissen ba‐ sieren und damit vollkommen fehlerfrei und stabil sind. Der Nichtweise wird in seinem Handeln zum einen von πάθη geleitet, wenn er falsche Urteile über ver‐ meintliche Güter und Übel und den ihnen gegenüber ‚zukommenden‘ Reakti‐ onen fällt. Zum anderen wird auch er im Bereich der indifferenten Dinge von ἐκλογαί bzw. ἀπεκλογαί zum Handeln motiviert, auch wenn diese bei ihm die Stabilität und Irrtumsfreiheit vermissen lassen, wie sie beim Weisen vorherr‐ schen. 751 259 III.2 Der psychologische Monismus der Stoa III.3 Zwischenfazit: Die stoische Motivationstheorie Nachdem in den vorangehenden Kapiteln die stoische Motivationstheorie re‐ konstruiert wurde, soll nun der systematische Ertrag dieser Überlegungen für die Lösung des Motivationsproblems anhand der fünf in Teil II entwickelten Leitfragen herausgearbeitet werden, bevor die Wirkungsgeschichte der stoi‐ schen Motivationstheorie in der frühchristlichen Sittenlehre exemplarisch im Werk Augustins untersucht werden soll. Zu Beginn der Analyse der stoischen Motivationstheorie ging es zunächst darum, ein genaueres Verständnis der stoi‐ schen Konzeption normativer Handlungsgründe zu gewinnen, um davon aus‐ gehend zu untersuchen, wie die normativen Gründe, welche für eine Handlung sprechen, auch motivational wirksam werden können. Mittels einer eingeh‐ enden Diskussion einer neueren Forschungskontroverse über die Rolle der kos‐ mischen Natur für die stoische Ethik und einer genaueren Verhältnisbestim‐ mung von Naturphilosophie und Ethik konnte aufgezeigt werden, dass die Stoiker eine Theorie externer Grüde vertraten, der zufolge ein normativer Hand‐ lungsgrund auch dann bestehen kann, wenn er in keiner Verbindung zum sub‐ jektiven Motivationsprofil des Akteurs steht und dieser auch nach Durchlaufen eines rein formal prozedural bestimmten Deliberationsprozesses nicht zu einem dem Handlungsgrund entsprechenden Handeln motiviert werden kann. Die kosmische Natur stellt an den Akteur objektive Forderungen, welchen er ent‐ sprechen muss, wenn er in Übereinstimmung mit der Natur leben und εὐδαιμονία erlangen möchte. Ist er nicht motiviert, diesen Forderungen ent‐ sprechend zu handeln, wird er dem objektiv für ihn bestehenden Anspruch des Grundes nicht gerecht. Wie für alle Vertreter einer Theorie externer Gründe bestand die Herausforderung für die Stoiker nun allerdings darin zu erklären, wie der vom subjektiven Motivationsprofil des Akteurs unabhängige normative Grund auch Zugriff auf die motivationalen Strukturen des Akteurs bekommen und handlungswirksam werden kann. Um diese Frage zu klären, war es zunächst notwendig, die psychologische Entwicklung und die damit verbundene Veränderung der motivationalen Stuk‐ turen des Akteurs zu untersuchen. Dies führte schließlich auch zur Erörterung einiger grundlegender Fragen der stoischen Axiologie, da die evaluativen Prä‐ dikate für die Handlungsmotivation von großer Bedeutung sind. Eine zentrale Rolle für das Verständnis der stoischen Motivationstheorie bildet die sogenannte οἰκείωσις-Lehre. Dieser Lehre zufolge verfügen alle Lebewesen von Geburt an über eine natürliche Neigung, ihre eigene Konstitution zu erhalten. Unter einer Konstitution verstehen die Stoiker „das leitende Seelenvermögen, insofern es 260 III. Die stoische Motivationstheorie 752 Sen.Ep. 121. 10 = LS 29F = SVF 3.184: Constitutio […] est principale animi quodam modo se habens erga corpus. sich auf gewisse Weise zum Körper verhält“ 752 . Die Konstitution des Lebewesens ist also sein ἡγεμονικόν, insofern es in einer bestimmten Disposition auf den Körper bezogen ist. Ermöglicht wird die Neigung zur Erhaltung der eigenen Konstitution durch das Vermögen der Selbstwahrnehmung, welches die Lebe‐ wesen von Beginn ihrer Existenz an besitzen und das es ihnen erlaubt, sich zu orientieren und ihre Bewegungen und verschiedenen Tätigkeiten so zu koordi‐ nieren, dass sie ihr eigenes Überleben sicherstellen können. Die zunächst rein egoistische Neigung zum eigenen Selbsterhalt wandelt sich im Laufe der natür‐ lichen Entwicklung des Menschen beim Übergang zum rationalen Erwachse‐ nenalter zu einer Neigung zur Erhaltung der eigenen rationalen Konstitution, wozu auch Handlungen entsprechend der umfassenden moralischen Pflichten anderen gegenüber beitragen, wie sie von den Stoikern formuliert werden. Beim Übergang zum rationalen Erwachsenenalter liegt jedoch kein Bruch in der Motivationsstruktur vor, insofern der ‚erste Impuls‘ (πρώτη ὁρμή) als ein Impuls höherer Ordnung - als eine large-scale motivation - auf die Erhaltung der eigenen Konstitution gerichtet ist, welche sich im Laufe der menschlichen Entwicklung wandelt. Auf diese Weise ist die Korrespondenz zwischen dem ‚ersten uns Eigenen‘ (πρῶτον οἰκεῖον) und dem Letztziel unseres Strebens (ἔσχατον ὀρεκτόν) gewahrt, so dass die οἰκείωσις-Lehre zur Explikation des menschlichen τέλος, d. h. des Guten für den Menschen - seiner εὐδαιμονία - herangezogen werden kann. Die πρώτη ὁρμή zielt als Impuls höherer Ordnung bzw. als large-scale motivation auf das Aufrechterhalten eines naturgemäßen Zustandes des ἡγεμονικόν und ist damit auf die Erhaltung derjenigen Instanz gerichtet, in welcher alle Vorstellungen und Handlungsimpulse erster Ord‐ nung - die small-scale motivations - sowie die mid-scale motivations zur Ver‐ folgung bestimmter Projekte ihren Ursprung haben. Die Konstitution als ἡγεμονικόν, insofern es in einer bestimmten Disposition auf den Körper bezogen ist, bildet den Hintergrund für die Handlungsimpulse erster Ordnung - i.S. von small-scale motivations zur Ausführung konkreter Einzelhandlungen - und die mid-scale motivations zur Vorfolgung bestimmter Projekte und spezifiziert, welche Verhaltensweisen für ein Lebewesen mit dieser Konstitution angemessen sind. Die Konstitution des Lebewesens steckt den Ho‐ rizont ab, innerhalb dessen sich die Impulse erster Ordnung - die small-scale motivations - und die auf bestimmte Projekte gerichteten mid-scale motivations ereignen können, so dass diese nicht vollkommen beliebig sind, sondern ihnen bereits durch die Konstitution gewisse Grenzen gesetzt sind. Die Konstitution 261 III.3 Zwischenfazit: Die stoische Motivationstheorie wird von der Natur für einen bestimmten Zweck geschaffen, weshalb sie den Verhaltensweisen des Lebewesens einen natürlichen Rahmen vorgibt, damit dieses sein τέλος erreichen und seinen Zweck innerhalb der kosmischen Tele‐ ologie erfüllen kann. Für den rationalen erwachsenen Menschen sind nicht nur die Handlungen zum Selbsterhalt, sondern auch die Handlungen enstprechend umfassender moralischer Pflichten angemessen, da sie notwendig sind, um das ἡγεμονικόν in einem naturgemäßen Zustand zu erhalten. Die Tugend - das ἔσχατον ὀρεκτόν der Menschen, insofern sie nach εὐδαιμονία streben, die in der Tugend allein realisiert ist - als Beschaffenheit des ἡγεμονικόν vollkommen rationaler Menschen ist das πρῶτον οἰκεῖον der Menschen, und die Sorge um die Tugend wird - als Motivation höherer Ordnung bzw. als large-scale motiva‐ tion - die verschiedenen Motivationen erster Ordnung - die small-scale moti‐ vations - und die mid-scale motivations zur Verfolgung bestimmter Projekte sowie die ihnen entsprecheden Handlungen bestimmen, so dass die πρώτη ὁρμή des Menschen, seine Konstitution in einem naturgemäßen Zustand zu er‐ halten, unmittelbar der Sorge eines vollkommen rationalen Menschen ent‐ spricht, die Tugend zu wahren. So dient die οἰκείωσις-Lehre auch zur Entfaltung und Rechtfertigung der stoischen These, dass die Tugend allein hinreichend für die εὐδαιμονία ist. Für die Transformation der Motivationsstruktur des Akteurs beim Übergang vom Kindeszum rationalen Erwachsenenalter ist der Erwerb des Begriffs des Guten verantwortlich. Mit dem Erwerb des Begriffs des Guten verlieren nun diejenigen Dinge an Wichtigkeit, welche bisher das zentrale Interesse des Men‐ schen bildeten - z. B. Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Kraft etc. Sie behalten zwar weiterhin einen gewissen Wert, doch ist dieser von ganz an‐ derer Art als der Wert des Guten. Das Gute besteht für die Stoiker allein in der Tugend, welche sie als τέχνη und wesentlich als Wissen (ἐπιστήμη) verstehen. Die Tugend als Wissen bildet einen einheitlichen Zustand der Seele, weshalb die Stoiker auch die These von der Antakoluthie der Tugenden sowie die stärkere These vertreten haben, dass eine Handlung, die in Übereinstimmung mit einer Tugend ausgeführt werde, in Übereinstimmung mit allen Tugenden ausgeführt werde. Zwar verfüge jede Tugend als Unterfeld eines größeren Wissenssystems über einen ihr spezifischen Gegenstand, doch sei sie zugleich mit dem größeren Wissenssystem verbunden, da sie dessen Theoreme teile. Daher werde eine Handlung, die in Übereinstimmung mit einer der Tugenden ausgeführt werde, in Übereinstimmung mit allen Tugenden ausgeführt. Die durch das Wissen her‐ vorgebrachte Einheitlichkeit der Seele schlägt sich auch in physiologischer Hin‐ sicht in einer guten Spannung des Seelenpneumas nieder. Der vollkommen Tu‐ gendhafte ist frei von kognitiven Inkonsistenzen und handelt aus einer starken 262 III. Die stoische Motivationstheorie Disposition seiner Seele heraus, d. h. er hält unerschütterlich an seinen wahren Überzeugungen fest und handelt auch diesen entsprechend. Seine Handlungen fügen sich in die vollkommen rationale Ordnung des Kosmos ein, so dass sich diese letztlich auch im Akteur selbst wiederfindet. Der Mensch vermag es mittels seiner Vernunft, die Schönheit und Ordnung des Kosmos zu erfassen und diese im eigenen Denken und Handeln widerszuspiegeln, so dass er zum Mitarbeiter an der Vollkommenheit des Kosmos werden kann. Die innere Konsistenz der Überzeugungen, worin sich die Tugend niederschlägt, ermöglicht es dem Ak‐ teur, in Übereinstimmung mit der Natur des Kosmos zu leben und sein τέλος - seine εὐδαιμονία - zu erreichen. Eine Handlung, die sich in diese Ordnung einfügt, an ihr mitwirkt und zudem die vollkommene Rationalität dieser Ordnung - d. h. Tugend - ausdrückt, wird ‚gut‘ genannt. Der Wert der anderen Objekte unserer Strebungen - Leben, Ge‐ sundheit, körperliche Unversehrtheit, Kraft etc. - verblasst demgegenüber. Sie werden zu sog. ‚indifferenten Dingen‘ (ἀδιάφορα/ indifferentia), die mit Blick auf die εὐδαιμονία des Menschen ohne Bedeutung sind. Die indifferenten Dinge sind den Stoikern zufolge jedoch nicht alle von gleichem Wert. So besitzen die naturgemäßen Dinge (τὰ κατὰ φύσιν/ secundum naturam) einen außermorali‐ schen Wert (ἀξία ἐκλεκτική/ aestimatio) und sind daher unter normalen Bedin‐ gungen - insofern es möglich ist - ihren Gegenteilen vorzuziehen und zu wählen (ληπτόν/ seligendum), weshalb sie auch als ‚vorzuziehende Dinge‘ (προηγμένα/ praeposita) bezeichnet werden. Entsprechend werden die Dinge, die diesen Wert nicht besitzen, als ‚zurückzuweisende Dinge‘ (ἀποπροηγμένα/ reiecta) bezeichnet, und man versucht, sie, wenn möglich, zu vermeiden. Da‐ rüber hinaus gibt es als dritte Unterart der in einem qualifizierten Sinn indiffe‐ renten Dinge die in einem unqualifizierten Sinn indifferenten Dinge wie z. B. eine gerade oder ungerade Anzahl Haare auf dem Kopf. Der Wert, der den vorzuziehenden Dingen zukommt, ist dabei als ein episte‐ mischer bzw. semiotischer Wert zu verstehen, aufgrund dessen uns die vorzu‐ ziehenden Dinge gute Gründe geben zu glauben, dass eine bestimmte Handlung, welche die Realisierung eines vorzuziehenden Dinges zum Ergebnis hat, in Übereinstimmung mit der Natur sei. Die indifferenten Dinge sind daher eine Quelle epistemischer Gründe. Sie geben uns Gründe zu glauben, dass eine Handlung zum Erreichen eines bestimmten Strebensziels führt, dessen Wert die Grundlage für die rationale Rechtfertigung der Handlung bildet. Der Wert der indifferenten Dinge stellt selbst keine eigenständige Quelle der rationalen Rechtfertigung unserer Handlungen mit Hilfe normativer Handlungsgründe dar, sondern bildet vielmehr die Quelle bestimmter Überlegungen, welche uns als rationale Akteure in unserem Handeln hinsichtlich eines von ihm verschie‐ 263 III.3 Zwischenfazit: Die stoische Motivationstheorie denen rationalen Strebensziels leiten, welches dann die Grundlage für die rati‐ onale Rechtfertigung unserer Handlungen bildet. Der Wert der indifferenten Dinge weist als semiotischer Wert lediglich darauf hin, welche Handlung für gewöhnlich in Übereinstimmung mit der Natur ist. Der Status, ein προηγμένον zu sein, ist eine Evidenz dafür, was für gewöhnlich in Übereinstimmung mit der Natur ist. Für gewöhnlich sollen wir die προηγμένα verfolgen, doch ist es mög‐ lich, dass die Natur des Kosmos um der Schönheit und Ordnung des Ganzen willen etwas anderes für uns intendiert hat und wir unsere unmittelbaren Hand‐ lungsziele nicht erreichen. Die An- oder Abwesenheit dieser Handlungsziele hat jedoch keinen Einfluss auf unsere εὐδαιμονία, welche wir alleine im tugend‐ haften Leben finden. Aufgrund der der epistemischen Position des Akteurs in‐ härenten Beschränkungen geben ihm die προηγμένα gute Gründe zu glauben, dass die Handlung, die auf das Erlangen dieser Dinge abzielt, in Übereinstim‐ mung mit der Natur und von ihm auszuführen ist. Wird die Situation der epis‐ temischen Beschränktheit jedoch durch zusätzliches Wissen aufgehoben bzw. abgemildert, ist es möglich, dass er aufhört, die προηγμένα zu verfolgen, und stattdessen die ἀποπροηγμένα wählt, weil es die Natur des Kosmos so für ihn bestimmt hat. Die indifferenten Dinge spielen damit eine zentrale Rolle in der Deliberation des Akteurs und beeinflussen sein Streben, insofern sie seine Mo‐ tivation leiten und strukturieren, ohne sie jedoch zu rechtfertigen. Die Recht‐ fertigung vollzieht sich ausschließlich von der εὐδαιμονία her, wie es der rati‐ onale Eudämonismus der Stoiker verlangt. Der Akteur muss auf die indifferenten Dinge achten, da ihr Wert eine unverzichtbare Evidenz dafür dar‐ stellt, was die Natur des Kosmos für gewöhnlich von ihm verlangt. Die norma‐ tive Basis zur Rechtfertigung seiner Handlungen bildet jedoch nicht der Wert der indifferenten Dinge, sondern die Gutheit, welche im Leben in Übereinstim‐ mung mit der Natur des Kosmos besteht, in dem der Akteur die εὐδαιμονία findet. Die indifferenten Dinge dienen uns auch dazu, die ‚zukommenden Hand‐ lungen‘ (καθήκοντα/ officia) zu bestimmen, welche in einer konkreten Situation in einem nichtmoralischen Sinne naturgemäß und von uns zu unternehmen sind. Die καθήκοντα zählen weder zu den sittlich guten noch zu den sittlich schlechten Handlungen, sondern gelten als ‚mittlere Handlungen‘ (μέσαι πράξεις bzw. τὰ μεταξύ/ media), die auf das Erreichen der naturgemäßen bzw. das Vermeiden der naturwidrigen Dinge ausgerichtet sind. Inhalt der καθήκοντα ist daher alles, was der Erhaltung und Entfaltung der spezifisch menschlichen Natur dient. Sie sind einer vernünftigen Verteidigung (εὔλογος ἀπολογία) zu‐ gänglich, insofern gute Gründe für das Ausführen dieser Handlungen sprechen. Diese Verteidigung bezieht sich dabei auch auf den Wert der indifferenten Dinge, 264 III. Die stoische Motivationstheorie die das Material (ὕλη) der Tugend und die Grundlage (ἀρχή) der καθήκοντα bilden. Mit Hilfe der indifferenten Dinge ermittelt der Akteur, was in einer kon‐ kreten Situation καθῆκον ist. Somit spielen die indifferenten Dinge in der De‐ liberation des Akteurs eine zentrale Rolle. Die sittlich richtigen Handlungen (κατωρθώματα/ recte facta) zeichnen sich gegenüber den καθήκοντα dadurch aus, dass sie nicht nur καθήκοντα sind, sondern darüber hinaus auch mit der richtigen Haltung - der der Tugend - ausgeführt werden. Da die κατωρθώματα die Haltung der Tugend voraussetzen, können sie nur vom stoischen Weisen ausgeführt werden, der über das volle Verständnis aller guten Gründe verfügt, die für ihre Ausführung sprechen. Das Ausführen der καθήκοντα steht dagegen allen offen. Der Unterschied zwischen καθήκοντα und κατωρθώματα besteht ausschließlich in der Disposition, mit welcher der Akteur die Handlung ausführt. Sie entscheidet über die sittliche Qualität der Handlung. Während der naturgemäße bzw. naturwidrige Inhalt der Handlung darüber entscheidet, ob eine Handlung in einem nichtmoralischen Sinne naturgemäß bzw. καθῆκον oder naturwidrig bzw. παρὰ τὸ καθῆκον ist, bestimmt die Disposition des Akteurs die sittliche Qualität der Handlung als sittlich richige bzw. κατώρθωμα oder sittlich falsche bzw. ἁμάρτημα. Nicht nur das Was - der naturgemäße bzw. naturwidrige Inhalt einer Handlung -, sondern primär das Wie verleihen einer Handlung sittliche Qualität. Für die Bestimmung der καθήκοντα sind nun die indifferenten Dinge von entscheidender Bedeutung. Es wurde gezeigt, dass diese dem Akteur epistemi‐ sche Gründe geben zu glauben, dass eine bestimmte Handlung in Übereinstim‐ mung mit der Natur und damit καθῆκον ist. Diejenige Handlung ist καθῆκον, hinsichtlich welcher ein vollkommen rationaler Akteur am meisten Grund hat zu glauben, dass sie in Übereinstimmung mit der Natur ist. Die Bestimmung der καθήκοντα vollzieht sich also anhand einer Gewichtung der vorhandenen Evi‐ denzen. Der Status, ein προηγμένον zu sein, gibt dem Akteur einen Grund zu glauben, dass eine Handlung, die auf das Erreichen des προηγμένον ausgerichtet ist, καθῆκον ist, was freilich noch vor dem Hintergrund weiterer Evidenzen bewertet werden muss. Deliberation wird von den Stoikern daher nach dem Modell probabilistischen Überlegens als ein Versuch verstanden, die eine Hand‐ lung zu identifizieren, hinsichtlich welcher man am meisten Grund hat zu glauben, dass sie καθῆκον ist. In die Deliberation des Akteurs gehen neben den indifferenten Dingen auch Gerechtigkeitserwägungen und Erwägungen über das Gemeinwohl ein, welche freilich wieder in der Terminologie indifferenter bzw. naturgemäßer und naturwidriger Dinge ausgedrückt werden können. Die Deliberation vollzieht sich allein mit Blick auf Fragen von Vorteil und Schaden durch indifferente Dinge, Fragen der gerechten Verteilung der indifferenten 265 III.3 Zwischenfazit: Die stoische Motivationstheorie Dinge sowie Fragen des Gemeinwohls. Das Deliberationsmodell besteht dabei aus drei Stufen, wobei der Akteur (1) beim Verfolgen der προηγμένα bzw. dem Vermeiden der ἀποπροηγμένα (2) durch Gerechtigkeitserwägungen anderen gegenüber - insbesondere durch das Vermeiden von Schaden sowie das Ver‐ letzen ihrer Eigentumsrechte - eingeschränkt wird, wobei jedoch beide voran‐ gehenden Überlegungen (3) durch Erwägungen über das Gemeinwohl über‐ wogen werden können. Die Erwägungen sowohl hinsichtlich der interpersonellen Gerechtigkeit als auch hinsichtlich des Gemeinwohls können in Begriffen der Naturgemäßheit bzw. der Naturwidrigkeit verstanden werden, so dass die einschränkenden Be‐ dingungen für das Verfolgen der προηγμένα bzw. das Vermeiden der ἀποπροηγμένα zum eigenen Vorteil auch als weitere Anwendung der Lehre von den indifferenten Dingen aufgefasst werden können. So stellen eine gerechte Gü‐ terverteilung und das Gemeinwohl weitere προηγμένα dar, die freilich aufgrund ihrer besonderen Rolle in der Deliberation des Akteurs auf einer höheren Ebene innerhalb der Hierarchie der indifferenten Dinge stehen. Ihr Wert ist deutlich höher als der der anderen προηγμένα. So können sie als einschränkende Be‐ dingungen für die Verfolgung der übrigen προηγμένα bzw. das Vermeiden der ἀποπροηγμένα zum eigenen Vorteil fungieren. Auf diese Weise muss das stoi‐ sche Deliberationsmodell auf nichts Anderes rekurrieren als auf die indiffe‐ renten Dinge in ihrer Naturgemäßheit bzw. Naturwidrigkeit als das Gesamt‐ material der praktischen Entscheidungsfindung. Nach der Klärung dieser grundlegenden Kategorien und der Darstellung der psychologischen Entwicklung des Menschen konnte schließlich der Frage nach‐ gegangen werden, wie ein vom subjektiven Motivationsprofil des Akteurs un‐ abhängiger normativer Grund auch Zugriff auf die motivationalen Strukturen des Akteurs bekommen und handlungswirksam werden kann. Dazu wurde zu‐ nächst die psychologische Struktur des Akteurs betrachtet. Den Stoikern zufolge besteht die menschliche Seele aus acht Teilen (μέρη): den fünf Sinnen (αἰσθητήρια: ὅρασις, ὄσφρησις, ἀκοή, γεῦσις, ἁφή), der Stimme (φωνή), dem Zeugungsvermögen (σπερματικόν) und dem leitenden Seelenvermögen (ἡγεμονικόν), welches die anderen Teile kontrolliert und reguliert. Da die üb‐ rigen Seelenteile dem vernünftigen ἡγεμονικόν untergeordnet sind, spricht man auch vom psychologischen Monismus der Stoa. Es existieren keine irrationalen Seelenteile, welche sich dem ἡγεμονικόν widersetzen könnten. Alles untersteht seiner Kontrolle. Auch unsere Handlungsmotivation nimmt folglich vom ἡγεμονικόν ihren Ausgang. Unsere Handlungsimpulse und Wünsche sind für die Stoiker selbst Aspekte unserer Vernunft in Gestalt des ἡγεμονικόν. Dieses ist der Urspung all unserer freiwilligen Handlungen. 266 III. Die stoische Motivationstheorie 753 Zur ‚Guise of the Good-Theorie‘ siehe: Velleman (1992); Tenenbaum (2007); Raz (2010); Vogt (2017a). Entscheidend für die Handlungsgenese sind für die Stoiker die vier - bzw. mit dem Hinzutreten der προαίρεσις in der späteren Schulentwicklung fünf - Ver‐ mögen des ἡγεμονικόν, mit deren Hilfe auch erklärt werden kann, wie ein vom subjektiven Motivationsprofil des Akteurs unabhängiger normativer Grund Zu‐ griff auf die motivationalen Strukturen des Akteurs bekommen und handlungs‐ wirksam werden kann. Das ἡγεμονικόν verfügt den Stoikern zufolge über vier bzw. fünf Vermögen: φαντασία, (προαίρεσις,) συγκατάθεσις, ὁρμή und λόγος. Der λόγος ist allerdings nicht einfach ein Vermögen auf derselben Ebene wie die anderen. Er bildet vielmehr den alles bestimmenden Faktor innerhalb der menschlichen Seele, insofern er die übrigen Vermögen so modifiziert, dass sie nur noch in rationaler Form existieren. Die Handlungsgenese wird nun von den Stoikern mit Hilfe dieser vier bzw. fünf Vermögen analysiert und kann schematisch auf folgende Weise dargestellt werden: Abb. 1: Stoische Handlungspsychologie Die Handlungsgenese nimmt für gewöhnlich ihren Ausgang bei der Wahrneh‐ mung einer bestimmten Situation. Dies ruft in der Seele des Akteurs eine φαντασία hervor, welche als Veränderung (ἑτεροίωσις bzw. ἀλλοίωσις) des Seelenpneumas seines ἡγεμονικόν verstanden wird. Bei rationalen Wesen werden die φαντασίαι von sog. λεκτά begleitet, welche mithilfe des λόγος ent‐ schlüsselt und verständlich gemacht werden können. Die λεκτά ermöglichen es den Menschen, ihre Handlungen zu versprachlichen und so selbstbewusst und reflexiv zu handeln. Diejenige φαντασία, welche bei der Verursachung von Handlungen eine Rolle spielt und φαντασία ὁρμετική genannt wird, weist spe‐ zifische Charakteristika auf, welche sie von anderen φαντασίαι unterscheiden. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie von einem λεκτόν begleitet wird, welches ein evaluatives Element enthält, das die Handlung als καθῆκον qualifiziert. Im Gegensatz zu einem verbreiteten Ansatz in der gegenwärtigen Handlungsthe‐ orie vertreten die Stoiker keine ‚Guise of the Good-Theorie‘ 753 der Handlungs‐ 267 III.3 Zwischenfazit: Die stoische Motivationstheorie motivation - d. h. keine Motivation sub specie bzw. sub ratione boni -, sondern eine Motivation durch die Überzeugung, dass eine bestimmte Handlung καθῆκον ist - d. h. eine Motivation sub specie bzw. sub ratione τοῦ καθήκοντου. Die motivationale Kraft des Begriffs ‚καθῆκον‘ stammt, wie aufgezeigt werden konnte, aus seiner spezifischen Genese im Prozess der οἰκείωσις, deren moti‐ vationale Dimension sich auch auf den in ihr entstehenden Begriff des ‚καθῆκον‘ überträgt. Dabei ergibt sich für den Akteur eine doppelte Einschränkung seiner Handlungsmotivation: Subjektive und objektive Einschränkung der Motivation: Wenn ein Akteur φ-t, muss ihm φ-en selbst oder ein mit φ-en verbundenes Ziel als καθῆκον erscheinen und ihn (aus diesem Grund) zu φ-en motivieren, wobei es von seiner Konstitution abhängig ist, ob φ-en selbst oder ein mit φ-en verbundenes Ziel für ihn καθῆκον ist. Der καθῆκον-Operator alleine reicht nun allerdings noch nicht aus, um eine φαντασία zu einer φαντασία ὁρμετική zu machen. Das den καθῆκον-Operator enthaltende λεκτόν muss auch auf die richtige Art und Weise gedacht werden. Auch der repräsentationale Gehalt der φαντασία muss neben ihrem propositi‐ onalen Gehalt - dem λεκτόν - zu ihrer vollständigen Charakterisierung heran‐ gezogen werden. Um eine φαντασία ὁρμετική zu haben, sollte der Akteur eine partizipatorische Haltung sich selbst gegenüber einnehmen, welche sich da‐ durch auszeichnet, dass man sich als in Verbindung mit anderen Menschen be‐ greift und so eine Verantwortung und Verpflichtung diesen gegenüber emp‐ findet - dass man sich also als Teil der moralischen Gemeinschaft versteht. Nimmt man hingegen eine objektive Zuschauerhaltung sich selbst gegenüber ein, in der man sich als isoliert und losgelöst von der eigenen Umwelt vesteht, wird man keinen Sinn für Verantwortung und Verpflichtung haben, und die φαντασία wird keine φαντασία ὁρμετική, sondern eine rein theoretische φαντασία sein, welche möglicherweise bloß eine deskriptive Beschreibung der in einer Gesellschaft herrschenden Ansichten über die angemessene bzw. ‚zu‐ kommende‘ Reaktion bzw. Handlungsweise darstellt. Um handlungswirksam werden zu können, bedarf die φαντασία ὁρμετική jedoch noch der Zustimmung (συγκατάθεσις) seitens des Akteurs. Denn der Akteur ist einer Vielzahl von φαντασίαι ausgesetzt und er muss prüfen, ob sie die Welt korrekt repräsentieren. Nur dann ist seine Zustimmung auch gerecht‐ fertigt. Im Falle der φαντασία ὁρμετική wird er seine Zustimmung davon ab‐ hängig machen, ob er hinreichende Evidenzen hat, die von der φαντασία re‐ präsentierte Handlung tatsächlich für καθῆκον zu halten. Scheint ihm dies der Fall zu sein, gibt er dem das λεκτόν der φαντασία bildenden ἀξιώμα seine Zu‐ stimmung - sei es explizit im Sinne der aktiven Zustimmung, sei es implizit im 268 III. Die stoische Motivationstheorie Sinne der passiven. Diese συγκατάθεσις führt auf seiten des Akteurs zur Aus‐ bildung der Überzeugung, dass die vorgestellte Handlung καθῆκον ist, so dass er einen Grund hat, die Handlung auszuführen. Die Vernunft des Akteurs gibt ihm als λόγος προστακτικός die Anordnung, die Handlung auch tatsächlich auszuführen. Die Zustimmung impliziert eine Anordnung der Vernunft, ent‐ sprechend zu handeln, und verursacht letztlich eine ὁρμή, welche die Handlung motiviert. Insofern auch die ὁρμή repräsentationalen Gehalt besitzt, der in enger Ver‐ bindung mit dem entsprechenden ἀξιώμα einer φαντασία ὁρμετική steht, können wir erkennen, wie den Stoikern zufolge ein vom subjektiven Motivati‐ onsprofil des Akteurs unabhängiger, in der Welt bestehender normativer Grund Zugriff auf das subjektive Motivationsprofil eines Akteurs erhalten kann, so dass dieser tatsächlich auch aus diesem Grund heraus handelt. Der normative Grund, der eine Tatsache in der Welt darstellt, wird im λεκτόν bzw. ἀξιώμα erfasst, welches die φαντασία ὁρμετική begleitet. So gelangt der normative Grund in die psychologische Struktur des Akteurs und wird handlungswirksam, wenn dieser dem entsprechenden ἀξιώμα seine Zustimmung gibt. Die συγκατάθεσις verursacht eine ὁρμή, welche auf die im κατηγόρημα des ἀξιώμα repräsentierte Handlung gerichtet ist und uns zur Ausführung dieser Handlung motiviert. Es ist folglich der mentale Zustand der ὁρμή, welcher im Zusammenspiel mit der συγκατάθεσις unseren motivierenden Grund konstituiert. Insofern die ὁρμή le‐ diglich die Kehrseite der συγκατάθεσις ist, kann man auch sagen, dass uns un‐ sere Vernunft in Form der ὁρμή zum Handeln motiviert. Wir begegnen in der stoischen Lehre folglich einer psychologistischen Motivationstheorie. Da das κατηγόρημα, auf welches die ὁρμή gerichtet ist, welche unseren motivierenden Grund konstitutiert, im ἀξιώμα enthalten ist, das unseren normativen Grund erfasst, sehen wir, wie unsere normativen Gründe auch zu unseren motivier‐ enden Gründen werden können, so dass wir auch tatsächlich aus ihnen heraus handeln. Der normative Grund findet über das die φαντασία ὁρμετική begleit‐ ende ἀξιώμα Eingang in unsere psychologische Struktur und wird durch die Repräsentation der von ihm geforderten Handlung im κατηγόρημα des ἀξιώμα, auf welches unsere ὁρμή gerichtet ist, zum motivierenden Grund, aus dem heraus wir de facto handeln. Da eine notwendige Verbindung zwischen der συγκατάθεσις des Akteurs und der ὁρμή existiert, welche ihn zum Handeln motiviert, vertraten die Stoiker auch einen motivationstheoretischen Internalismus. Genauer gesagt begegnen wir bei den Stoikern der bedingten Spielart des motivationstheoretischen Interna‐ lismus, wobei die Bedingung hier im Sinne vollkommener Rationalität und, da vollkommene Rationalität im stoischen Verständnis gleichbedeutend mit Tu‐ 269 III.3 Zwischenfazit: Die stoische Motivationstheorie gendhaftigkeit ist, moralischer Perzeptivität verstanden wird. Wenn der Akteur vollkommen rational - d. h. tugendhaft - ist, wird er auch motiviert sein, seinem Urteil entsprechend zu handeln. Mit der συγκατάθεσις des Akteurs motiviert ihn und befiehlt ihm seine Vernunft als λόγος προστακτικός bzw. als ὁρμή, die entsprechende Handlung auszuführen. Für den Fall, dass eine Motivation trotz gegebener συγκατάθεσις nicht hand‐ lungswirksam werden sollte, bietet die stoische Affektenlehre eine Erklärung. Die Affekte (πάθη) sind für die Stoiker weniger Emotionen als Motivationen, welche Handlungen verursachen. Sie stellen damit eine Form der ὁρμή dar - nämlich fehlerhafte bzw. fehlgeleitete ὁρμαί, die dadurch entstehen, dass der Akteur etwas für gut bzw. schlecht hält, was nicht wirklich gut oder schlecht ist. Der Affekt wird von den Stoikern auch als ‚exzessiver Impuls‘ (ὁρμὴ πλεονάζουσα/ appetitus vehementior) bezeichnet, da er andere ὁρμαί über‐ trumpft und der Akteur die Kontrolle über sein Handeln verliert. Verfällt der Akteur in einen Affekt, können seine ὁρμαί, etwas Anderes zu tun, was er für καθῆκον hält, nicht mehr handlungswirksam werden, da sie vom Affekt über‐ trumpft werden. Die Vehemenz der Affekte ist so groß, dass sie auch nach einer Urteilsänderung fortbestehen können. Wenn der Akteur ein falsches Urteil fällt und dadurch in einen Affekt verfällt, gleich darauf jedoch sein Urteil korrigiert, bleibt diese Korrektur machtlos gegen die Kraft des Affekts. Der Akteur wird durch den Affekt fortgetragen und handelt gegen sein zweites Urteil, welches er für sein eigentliches bestes Urteil hält - so die stoische Erklärung für das Phänomen der Willensschwäche. Das erste Urteil muss dabei keineswegs dem Akteur auch immer bewusst sein. Das Urteil kann, da der Umschlag sehr schnell erfolgte und das erste Urteil unmittelbar darauf korrigiert wurde, unbewusst bleiben. Der Akteur handelt jedoch auch hier entsprechend seines ersten Urteils und des damit verbundenen Affekts, der sich seiner Kontrolle entzieht und nicht durch das zweite Urteil korrigiert werden kann. Die exzessive ὁρμή des Affekts übertrumpft die spätere ὁρμή, so dass diese nicht handlungswirksam werden kann. Schließlich wurde noch darauf hingewiesen, dass der Begriff der προαίρεσις im Verlauf der Schulentwicklung eine Aufwertung erfuhr und zu einem zent‐ ralen Konzept wurde, welches die Disposition eines Individuums bezeichnet, seine συγκατάθεσις auszuüben. So ist die προαίρεσις zum einen eine anfäng‐ liche Entscheidung für eine bestimmte Lebensweise, auf deren Basis sich die weitere Lebensführung und alle späteren Entscheidungen vollziehen. Zum an‐ deren stellt die προαίρεσις ein Dezisionsvermögen dar, welches darüber be‐ stimmt, welche Art von Mensch man ist und wie man sich verhält. Die προαίρεσις ist hier eine Disposition der Vernunft, Entscheidungen hinsichtlich 270 III. Die stoische Motivationstheorie des Handelns zu treffen. Sie ermöglicht es dem Akteur, sich dazu zu entscheiden, einer bestimmten φαντασία ὁρμετική zuzustimmen und dadurch die ὁρμή zu einem entsprechenden Handeln freizusetzen. Die προαίρεσις ist dabei frei und kann durch nichts behindert werden. Diese Freiheit der προαίρεσις reicht nun allerdings nicht soweit, dass sie frei vom Schicksal des Weltgeschehens wäre - i.S. einer vollkommen offenen Zukunft, in der man frei zwischen verschiedenen alternativen Möglichkeiten wählen kann -, sondern meint vielmehr die Bereit‐ schaft der Menschen, in ihr vorherbestimmtes Schicksal einzustimmen. Die Freiheit der προαίρεσις bezeichnet eine Freiheit von äußeren, nicht in unserer Macht stehenden Dingen und ist ein normativer Zustand, der nur von denen erreicht wird, die ihre Strebungen allein auf das beschränken, was in ihrer Macht steht. Gelingt dies und bringt der Mensch seine προαίρεσις damit in Überein‐ stimmung mit der Natur, macht ihn seine προαίρεσις zu einem guten Menschen. Sie bestimmt über die sittliche Qualität des Menschen. Ist die προαίρεσις in einer guten Verfassung, ist auch der Mensch gut; ist sie schlecht, ist es auch der Mensch. Mit der προαίρεσις als Dezisionsvermögen hinsichtlich unseres Han‐ delns begegnen wir erstmals in der Geistesgeschichte so etwas wie einem ‚Willen‘ - einem Begriff, der schließlich bei Augustinus seine weitere systema‐ tische Ausarbeitung erfuhr. Die Handlungs- und Motivationstheorie Augustins sowie die darin zu findenden stoischen Einflüsse sollen nun untersucht werden. Dabei soll freilich keine umfassende Darstellung des Verhältnisses Augustins zur stoischen Philosophie vorgelegt werden. Ziel ist es vielmehr, stoische Ein‐ flüsse auf die Motivationstheorie Augustins und strukturelle Entsprechungen zwischen den beiden Theorien aufzuzeigen. Dabei scheint es hinreichend dafür zu sein, einen Einfluss als stoisch zu bezeichnen, wenn er seinen Ursprung in der stoischen Philosophie hat, auch wenn dieser möglicherweise über neupla‐ tonische Vermittlung auf Augustinus gekommen sein mag. Daher soll im Fol‐ genden nur auf die stoischen Einflüsse auf Augustins Motivationstheorie ein‐ gegangen werden, ohne beispielsweise ihre neuplatonische Adaption und Vermittlung durch Plotin oder Porphyrios ausführlich zu thematisieren. 271 III.3 Zwischenfazit: Die stoische Motivationstheorie 1 Siehe dazu: Hagendahl (1968). 2 Zum Einfluss Ciceros auf Augustin siehe u. a.: Solignac (1958); Testard (1958); Hagen‐ dahl (1968), 479-588; O’Donnell (1980); Görler (1992); Fuhrer (1993); Brittain (2012). 3 Vgl. dazu Byers (2013), 29. 4 Vgl. Aug.Conf. 5. 11: et quia legera t [sc. Faustus] aliquas Tullianas orationes et paucis‐ simos Senecae libros et nonnulla poetarum et suae sectae si qua volum ina latine atque conposite conscripta erant, et quia aderat cotidiana sermocinandi exercitatio, inde suppe‐ tebat eloquium, quod fiebat acceptius magisque seductorium moder amine ingenii et quodam lepore naturali. 5 In diesem Punkt weiche ich von der anonsten ausgezeichneten Darstellung Hagendahls (1967), 680 ab. Aus der bloßen Tatsache, dass sich in Augustins Werk nur wenige ex‐ plizite Bezugnahmen auf Seneca finden, folgt noch nicht, dass er Augustinus nicht we‐ sentlich beeinflusst hat. Seneca muss nicht explizit Erwähnung finden, um einen sol‐ chen Einfluss auf Augustinus ausgeübt zu haben. Die wenigen expliziten Bezugnahmen IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus IV.1 Augustins Kenntnis der stoischen Lehre IV.1. 1 Die Quellen In diesem kurzen Kapitel zu den Quellen Augustins, auf welchen seine Kenntnis der stoischen Philosophie beruht, soll keine umfassende Quellenforschung be‐ trieben werden, 1 sondern lediglich plausibilisiert werden, dass Augustinus die für die stoische Motivationstheorie relevanten Texte bekannt waren. Hier soll zudem nur ein allgemeiner Überblick über diese Quellen geboten werden. Bei der Diskussion der einzelnen rezipierten stoischen Lehrstücke wird im Fol‐ genden immer auch auf Augustins Kenntnis des jeweiligen Lehrstücks einge‐ gangen werden. Diese stützt sich vor allem auf die doxographische Darstellung, welche die stoische Philosophie im Werk Ciceros erfahren hat. 2 Von besonderer Bedeutung für die Motivationstheorie dürften dabei die Academici libri, die Schriften De finibus und De officiis sowie die Tusculanae disputationes gewesen sein. Auch der heute verlorene erste Teil der Schrift De fato, wo vermutlich die stoische Handlungspsychologie behandelt wurde, dürfte einen starken Einfluss auf Augustinus ausgeübt haben. 3 Neben Cicero wird auch Seneca Augustins Stoarezeption beeinflusst haben, wie eine Bemerkung Augustins in den Confes‐ siones  4 verrät, welche Rückschlüsse auf seine Vertrautheit mit mehr als einigen wenigen Werken Senecas zulässt. 5 Neben diesen mit relativ großer Bestimmtheit auf Seneca sowie inhaltliche Parallelen mögen zwar isoliert betrachtet nicht hinrei‐ chend sein, um eine bedeutsame Beziehung zwischen den beiden Autoren aufzuweisen, doch sprechen sie in ihrer Zusammenschau für einen nicht unwesentlichen Einfluss Senecas auf Augustinus (vgl. dazu Byers [2003], 434 Anm. 5). Unter Studien, die den Einfluss Senecas auf Augustinus betonen, sind hervorzuheben: Nourisson (1866), 139-141; Combès (1927), 25; Labriolle (1928); Marrou (1981), 16; Brittain (2002), bes. 294 Anm. 101. 6 Zu Augustins Verwendung doxographischer Schriften siehe: Courcelle (1948), 153-182; Solignac (1958); Betegh (2010), bes. 37; Courcelle (1948), 179-181 zufolge hatte Augus‐ tinus Zugang zu einem sechsbändigen Kompendium von Exzerpten aus griechischen Philosophen in lateinischer Übersetzung, dessen Autorenschaft umstritten ist. 7 Für einen überzeugenden Nachweis für diese These sie he die umfassenden Ausfüh‐ rungen in Byers (2013), 7-21; siehe dazu auch: Rist (1994), 23-40; in Cresc. 1. 24 zeigt Augustinus auch seine Kenntnis der stoischen Dialektik: Sed de Iudaeis fortasse invenis quid dicas, quamvis callide atque versute dolos interrogationum praetend erint, non eos fuisse dialecticos. De Stoicis certe dici potest nihil, qui non solum dialectici fuerunt, sed etiam ceteras philosophorum sectas in hac vel arte vel facultate vicerunt. Stoicus quippe, ut mecum recolis, fuit ille Chrysippus, de quo Academicus Carneades hanc habebat sen‐ tentiam, ut quando cum illo sibi esset disputandum, elleboro purgandum cor esse censeret; ceteros autem vel pransus facile superaret. Si ergo nos libri Stoicorum dialectice disputare docuerunt, doctrinam Pauli contra nos proferant episcopi vestri: secum tamen nos conferre patiantur, sicut ipsos tunc Stoicos ille non repulit. 8 Vgl. Long (2005), bes. 37. 9 Vgl. Aug.Civ. 19. 1; zu Varro als Q uelle Augustins siehe auch: Hadot (1984), 156-190. 10 Vgl. Hagendahl (1968), 673 f. 11 So greift Augustinus in Aug.Civ. 9 .4 auf Gell. 19.1 zurück, wo Aulus Gellius auf Basis einer Passage aus dem Werk Epiktets die stoische προπάθεια-Lehre darstellt, um die Unterschiede zwischen Stoikern und Platonikern bzw. Peripatetikern in Bezug auf die Lehre von den passiones animi/ πάθη aufzuzeigen; siehe auch: Aug.Qu. 1.30. 12 Vgl. Bobzien (1998b), 161 Anm. 48. auszumachenden Quellen dürfte Augustin seine Kenntnis der stoischen Philo‐ sophie auch aus verschiedenen Handbüchern und anderen doxographischen Darstellungen bezogen haben. 6 So ist mit großer Sicherheit anzunehmen, dass er im Laufe seines Rhetorikstudiums der stoischen Lehre von den λεκτά be‐ gegnet sein dürfte. 7 Insbesondere die sprachwissenschaftlichen Darstellungen Varros - allen voran De grammatica und De lingua latina - sind in diesem Kon‐ text zu erwähnen. 8 Dass Augustinus auch im Bereich der Ethik auf Varros heute verlorene doxographische Darstellung der hellenistischen Philosophie (z. B. in De philosophia) zurückgriff, verrät er in De civitate dei. 9 Ebenso ist Aulus Gellius zu den wichtigeren doxographischen Quellen zu zählen, aus denen Augustinus seine Kenntnis der stoischen Lehre bezog. 10 Dort begegnete er den Lehren Epik‐ tets, 11 dessen Philosophie ihm bekannt gewesen sein dürfte. 12 Auch Ambrosius dürfte mit seiner Rezeption von Ciceros Schrift De officiis und seinen moralthe‐ ologischen Traktaten über die Patriarchen 13 in der Vermittlung stoischen Ge‐ 274 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 13 Eine gute Diskussion dieser Werke bietet: Colish (2005). 14 Zu Ambrosiusʼ philosophischen Einflüssen siehe: Madec (1974). 15 Hier ist insbesondere auf die ‚verborgenen stoischen Lehren‘ (Στωϊκὰ λανθάνοντα δόγματα, Porph.Plot. 14) hinzuweisen, welche sich Porphyrios zufolge in den Schriften Plotins finden; siehe auch: Verbeke (1958), 68; Theiler (1960); Graeser (1972); Brittain (2002), 256 Anm. 6; van Riel (2007), 263-279. 16 Zu diesem Kreis und seinem Einfluss auf Augustinus siehe: Courcelle (1948), 119-182; Hadot (1967); Hagendahl (1968), 680; Brown (2000), 79-92; Fuhrer (2004), 73-76; Horn ( 3 2014), 29 f. Es ist in der Forschung umstritten, ob Augustinus den Neuplatonismus eher aus den Schriften Plotins (Henry [1934], 63-145; Drecoll [1999], 288-294) oder seines Schülers Porphyrios (Theiler [1933]) oder aber aus den Werken beider (Courcelle [1948], 159-165) kannte. Seit jüngerer Zeit wird Porphyrios ein stärkeres Gewicht beigemessen (Hadot [1960; 1968]; TeSelle [1970], 237-258; Dörrie [1971]; Madec [1989]; Horn [ 3 2014], 29 f). dankenguts eine Rolle gespielt haben. 14 Schließlich ist als Vermittler stoischer Lehren an Augustinus noch der Neuplatonismus zu erwähnen. 15 Hier waren besonders die Schriften Plotins und seines Schülers Porphyrios bzw. deren la‐ teinische Übersetzungen durch den in Mailand ansässigen Neuplatonikerkreis um Marius Victorinus von Bedeutung. 16 Wie sich Augustinus des stoischen Ma‐ terials in diesen Schriften bediente, um seine Motivationstheorie zu entfalten, soll im Folgenden untersucht werden. Dabei ist es hinreichend dafür, einen Ge‐ danken als stoisch zu bezeichnen, wenn er seinen Ursprung in der stoischen Philosophie hat, auch wenn er durch neuplatonische Vermittlung auf Augus‐ tinus gekommen sein mag. In der Folge liegt daher der Fokus auf strukturellen Parallelen zwischen der stoischen und der augustinischen Motivationstheorie, ohne explizit die neuplatonischen Einflüsse durch Plotin oder Porphyrios zu thematisieren. Bei der Untersuchung der stoischen Einflüsse auf Augustins Motivationsthe‐ orie ist zunächst nach Augustins Verständnis normativer Gründe zu fragen, um im Anschluss daran zu klären, wie die normativen Gründe, die für eine be‐ stimmte Handlung sprechen, auch handlungswirksam - d. h. zu den motivier‐ enden Gründen, aus denen der Akteur auch de facto handelt - werden können. Vertrat Augustinus eine Theorie interner oder externer Gründe? Um diese Frage beantworten zu können, muss das Verhältnis von Eudämonismus und ordo bo‐ norum in Augustins Moraltheorie geklärt werden. Im Anschluss daran kann im Weiteren untersucht werden, wie die normativen Gründe - vermittelt durch die Psychologie des Akteurs - auch motivationale Kraft entfalten können. 275 IV.1 Augustins Kenntnis der stoischen Lehre 17 Aug.Civ. 19. 1: Quando quidem nulla est homini causa philosophandi, nisi ut be at us sit; quod autem beat um facit, ipse est finis boni; nulla est igitur causa philosophandi, nisi finis boni; S. 150. 4: Communiter omnes philosophi studendo, quaerendo , disputando, vivendo appetiverunt apprehendere v itam be atam. Haec una f uit causa philosophandi; sed puto quod etiam hoc philosophi nobiscum commune habent. Si enim a vobis quaeram quare in Christum credideritis, quare christiani facti fueritis; veraciter mihi omnis homo respondet: Propter vitam beatam. Appetitio igitur beatae vitae philosophis christianisque communis est. Sed res tam consona ubi inveniri possit, inde quaestio est, deinde discretio. Nam vitam beatam appeter e, vitam be atam velle, vitam beatam concu piscere, desiderare, sectari, o mnium hominum esse arbitror; Die grundlegende S tudie zu Augustins Eudämonismus ist Holte (1962), bes. 221-231; unter neueren Untersuchungen sind hervorzuheben: Brechtken (1975), 11-84; Beierwaltes (1981); Wetzel (1992), 45-55; Rist (1994), 48-53 und 148-202; Harwardt (1999); Horn (1999); Buddensiek ( 2009); Mülle r (2010); Tornau (2015); einen guten Überblick mit Informationen über den biblischen Hintergrund de r Glücksvorste llung Augustins (insbesondere hinsichtlich der Seligpreisungen der Berg‐ predigt) bietet de Noronha Galvao (1986-1994); eine hilfreiche Sammlung zentraler Texte findet sich in: Doignon (1987). 18 Vgl. Aug.Civ . 8. 8 : Videbant quippe ipsum hominem con stare ex animo et corpore e t ideo ab alterutro ist orum duorum aut ab utroque bene sibi esse posse credebant, finali quodam bono, quo beati esse nt, quo cuncta quae agebant referrent atque id quo r eferendum esset non ultra quaererent; Trin. 11. 10: Non itaque omnino i psa voluntas hominis cuius finis non est nisi be atitudo, sed ad hoc unum interim voluntas vid en di finem non habet nisi visionem sive id referat ad aliud sive non referat . 19 Vgl. Aug.Trin. 13.7: beati certe omnes esse volumus; siehe auch: Aug.Acad. 1.2.5; Beat a v. 10; Mor. 1.4; Dieses Axiom bildet eine Konstante im ganzen Werk Augustins; es findet seine Zustimmung sowohl in seinem ersten (Beata v. 10; en tstanden 38 6 n. Chr.) als auch in seine m letzten Werk (c.Iul.imp. 6.11 entstanden zwischen 428 und 430 n. Chr.); fü r einen stoischen Vorläufer dieses Axioms siehe: Sen.Dial. 7.1.1. 20 Vgl. Aug.Civ . 8. 8 : Reliqua est pars moralis, quam Gr aeco vocabulo dicunt ethi ca m, ubi quaeritur de sum mo bono […]. IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik - oder die Frage nach internen und externen Gründen IV.2. 1 Augustins Eudämonismus Wie die Stoiker steht auch Augustinus in der Tradition der eudämonisitischen Ethik. 17 Seine Vorstellung eines guten bzw. seligen Lebens (beata vita) und die normativen Gründe, die für bestimmte Handlungen bzw. Haltungen sprechen, sind rückgebunden an die Glückseligkeit (beatitudo) des handelnden Men‐ schen. 18 Auch er hielt es für offenkundig, dass alle Menschen - i.S. der large-scale motivation - nach Glückseligkeit streben. 19 Diese erlangen sie durch den Besitz des höchsten Guts (summum bonum). Daher besteht die Aufgabe der Moralphi‐ losophie bzw. Ethik für Augustinus in einer Untersuchung darüber, was das höchste Gut ist und wie wir es erlangen können. 20 Das summum bonum ist dabei 276 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 21 Vgl. ebd.: Reliqua est pars moralis, quam Graeco vocabulo dicunt ethi ca m, ubi quaeritur de summo bono, quo referentes omnia qua e agimus, et quod non propter aliud, sed propter se ipsu m a dpetentes id q ue adipiscentes nihil, quo beati simus, ulterius requiramus. Ideo quippe et finis est dictus, q uia propter hunc cetera volumus, ipsum autem non nisi propter ipsum; 10.18 : Eius enim propheta veracissimus ait: mihi autem adhaerere deo bonum est. De fine boni na mque inter philosophos quaeritur, ad quod adipiscendum omnia officia referenda sunt; Mor. 1.24: Non arbitror cum de moribus te vita fit quaestio, a mplius esse requirendum, quod sit hominis summum bonum quo referenda sun t omnia. 22 Vgl. Aug.Beata v. 23-29: Hoc autem ita se habere, si ratio demonstraverit, perfectissime inventum est qui sit beatus: erit enim ille qui non eget. Omnis enim non miser, beatus est. Beatus est ergo qui egestate caret, si quam dicimus egestatem, eandem miseriam esse con‐ stiterit (23). 23 Vgl. Aug.Mo r. 1.5: [summu m bonum] tale esse debet quod non amittat invitus; siehe auch: Aug.Beata v. 11: Manifestum esse dixer un t. Id ergo, inquam, semper manens, nec ex for‐ tuna pendulum, nec ullis subiectum casibus esse debet. Nam quidquid mortale et caducum est, non potest a nobis quando volumus, et quamdiu volumus haberi. […] Ergo nullo modo dubitamus, si quis beatus esse statuit, id eum sibi comparare debere quod semper manet, nec ulla saeviente fortuna eripi potest; Civ. 11.13: Quocirca cuivis iam non difficulter oc‐ currit utroque coniuncto effici beatitudinem, quam recto proposito intellectualis natura desiderat, hoc est, ut et bono incommutabili, quod deus est, sine ulla molestia perfruatur et in eo se in aeternum esse mansurum nec ulla dubitatione cunctetur nec ullo errore fallatur. 24 Vgl. van Geest (2007), 527. 25 Vgl. Aug.Bea ta v . 11: deum igitur […] qui habet, b eatus est; siehe auch: Au g. Mor. 1. 10: Deus igitur restat quem si sequimur, bene, si assequimur, non tantum bene sed etiam beate vivimus; 1. 24: Quanto enim melius atque diffusius diffamatur [sc. d eus], tanto diligitur et amatur ardentius. Quod cum fi t, nihil aliud a b humano genere quam certo et constanti gradu in optimam vitam et beatissimam pergitur. […] N am quid erit aliud optimum ho‐ minis, nisi cui est haerere beatissimum? Id a utem solus deus est, cui haerere certe non valemus nisi dilecti one, amore, caritate; zur I unktur deum habere siehe auch: Beierwaltes (1981), 43-55; synonym zu der Wendung deum habere finden sich auch die Formulie‐ rungen frui deo (Civ. 8. 8; Trin 13. 10), contemplari deum (Mor. 1. 35), frui veritate (Lib.arb. 2. 35) oder (ad)haerere deo (Mor. 1. 24; En.Ps. 72. 34); zur fruitio dei siehe auch: Lorenz (1950/ 1951; 1952/ 1953). durch bestimmte formale Kriterien charakterisiert: Es ist das Letztziel unseres Strebens, um dessentwillen alles andere erstrebt wird, während es selbst nur um seiner selbst willen und nicht um einer anderen Sache willen erstrebt wird. 21 Es ist des Weiteren vollständig und selbstgenügsam, insofern durch seinen Besitz nichts Weiteres mehr erstrebt wird. 22 Schließlich kann es drittens nicht gegen unseren Willen verloren werden, d. h. es ist unabhängig von körperlichen Zu‐ ständen und äußeren Umständen. 23 Diese formalen Kriterien lassen für Augus‐ tinus nur Gott als höchstes unveränderliches Wesen für das summum bonum infrage kommen, so dass für ihn das gute Leben ein auf Gott ausgerichtetes Leben ist. 24 Glückseligkeit kann nur durch den Besitz Gottes erlangt werden: ‚Glücklich ist, wer Gott hat.‘ 25 Mit dieser Bestimmung des summum bonum steht 277 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik 26 Vgl. Aug.Civ . 8. 8 ; Alcin.Did. 180.41 f; Arist.EN X .7, 1177a12-1178a8. 27 Vgl. A ug.Mor . 1.5: aut quomo do summum [sc. bonum] est, si est aliquid melius quo per‐ venire possimus? 28 Vgl. Müller (2010), 20. 29 Vgl . Müller (2010), 23; siehe auch: Aug.D iv .qu. 35.2: […] quid est aliud beate viver e, nisi aete rn um aliqui d c ognoscendo habere. 30 Vgl. Aug.Civ. 19.4: Sicu t ergo spe sa lvi, ita spe beati facti sumu s, et sicut salutem, ita beatitudinem non iam tenemus praesentem, sed exspec tamus futuram, et hoc per patien‐ tiam; […] Talis salus, quae in futuro erit saeculo , ipsa erit etiam finalis beatitudo; siehe auch: Aug.Civ. 22.22-30; Trin. 13.10 f; S. 306.7; einige Passagen aus dem Frühwerk, welche die klass ische eudäm onisitische Position zu teilen scheinen, der zufolge der Weis e aufgrund seiner Autarkie und in neren Ruhe glü ckselig ist, erfahren in den Re‐ tractationes eine gründliche Neubewertung: vgl. Retr. 1.2 zu De beata vita (In quo libro constitit inter nos, qui simul quaerebamus, non esse beatam vitam nisi perfectam cogni‐ tionem dei. Displicet autem illic […] quod tempo re vitae huius in solo animo sapientis dixi habitare beatam vitam, quomodolibet se habeat corpus eius, cum perfecta m cognitionem dei, hoc est qua homini maior esse non possit, in futura vita speret apostolus, quae sola beata vita dicenda est, ubi et corpus incorruptibile atque immortale spiritui suo sine ulla molestia vel reluctatione subdetur.); Retr. 1.4.3 zu Sol. 1.14 (nec illud mihi placet, quod in ista vita deo intellecto iam beatam esse animam dixi) und Retr. 1.7.4 zu Mor. 1.53 (Quod autem dixi: Eum ipsum quem cognoscere volumus, hoc est deum, prius plena caritate di‐ ligamus, melius diceretur sincera quam plena, ne forte putaretur caritatem dei non futuram esse maiorem, quando videbimus facie ad faciem. Sic itaque hoc accipiatur, tamquam plena dicta sit qua maior esse non possit, quamdiu ambulamus per fidem; erit enim plenior immo er zwar noch durchaus in der Tradition des klassichen antiken Eudämonismus, insofern er die Platoniker und Aristoteles auf seiner Seite weiß 26 , doch nimmt er mit der Ontologisierung des summum bonum  27 auch eine Modifizierung der klassischen hierarchischen Architektur der Strebensziele vor. Ergab sich die ab‐ solute Finalität eines Gutes für die Stoiker aus seiner entsprechenden Positio‐ nierung innerhalb der praktischen Teleologie der Strebensziele, greift Augus‐ tinus nun zur Bestimmung des summum bonum darüber hinaus auf eine normativ verstandene Seinsordnung zurück und fragt nach dem seinsbzw. wesensmäßig Höchsten. 28 Der ontologische Status des summum bonum ge‐ währleistet dabei nicht nur die absolute Finalität und Selbstgenügsamkeit, son‐ dern auch die Unverlierbarkeit des Gutes. Während bei den Stoikern noch die innere Konstitution des Subjekts in Gestalt der Tugend die Unverlierbarkeit der Glückseligkeit sicherstellte, garantiert diese für Augustinus allein Gott als das einzig ewige und unvergängliche Objekt des menschlichen Strebens. 29 Zudem erfährt der antike Eudämonismus bei Augustinus auch eine interpretatio Chris‐ tiana. So weicht Augustinus vom klassischen Eudämonismus zum einen darin ab, dass er die Möglichkeit der Erlangung der Glückseligkeit in diesem Leben bestreitet und auf das Leben im Eschaton nach der Auferstehung beschränkt, wodurch die Glückseligkeit einen dezidiert eschatologischen Charakter erhält. 30 278 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus plenissimus, sed per speciem. Item quod dixi de his qui subveniunt indigentibus, quia mi‐ sericordes vocantur, etiam si sapientes usque adeo sint, ut iam nullo animi dolore turbentur, non sic accipiendum est, tamquam definierim in hac vita esse tales sapientes; non enim dixi: cum sint, sed dixi: etiam si sint.); zu Augustins Entwicklung hinsichtlich dieser Frage siehe: Müller (2010), 50-59. 31 Vgl. Aug.Civ . 19 . 4 : Porro ipsa virtus, quae non est inter prima naturae, quon ia m eis p ostea doctrina i ntroducente supervenit, cum sibi bonorum culmen vindicet humanorum, quid hic agit nisi pe rpet ua bella cum vitiis, nec exterioribus, sed interio ri bus, nec alienis sed plane nostris et propriis, maxime illa, quae Grae ce σωφροσύνη, Latine temperantia nominatur, qua carnales frenantur libidines, ne in quaeque fla gitia mentem consentientem trahant? Neque enim nullum est vitium, cum, sic ut dicit apostolus, caro concupiscit ad‐ versus spiritum; cui vitio contraria virtus est, cu m, sicut idem dicit, spiritus concupiscit adversus carnem. Haec enim, inquit, invicem adversantur, ut non ea quae vultis faciatis. Quid autem facer e volumus, cum perfici volumus fine summi boni, nisi ut caro adversus sp iritum non concupiscat, nec sit i n nobis hoc vitium, contra quod spiritus concupiscat? Quod in hac vita, quamvis velimus, quoniam facere non valemus, id saltem in adiutorio dei facimus, ne carni concupiscenti adversus spiritum spiritu succumbente cedamus et ad perpetrandum peccatum nostra consensione pertr ah amur. Absit ergo ut, quamdiu in hoc bello intestino sumus, iam nos beatitudinem, ad quam vincendo volumus pervenire , adeptos es se credamus. Et quis est usque adeo sapiens, ut contra libidines nullum habeat omnino conflictum? 32 Vgl. ebd.: Quis enim sufficit quantovis eloquentiae flumine vitae huius miserias explicare? Quam lamentatus est Cicero in consolatione de morte filiae, sicut potuit; sed quantum est quod potuit? Ea quippe, quae dicuntur prima naturae, quando, ubi, quomodo tam bene se habere in hac vita possunt, ut non sub incertis casibus fluctuent? Quis enim dolor contrarius voluptati, quae inquietudo contraria quieti in corpus cadere sapientis non potest? Mem‐ brorum certe amputatio vel debilitas hominis expugnat incolumitatem, deformitas pul‐ chritudinem, imbecillitas sanitatem, vires lassitudo, mobilitatem torpor aut tarditas; et quid horum est, quod nequeat in carnem sapientis inruere? Status quoque corporis atque motus, cum decentes et congruentes sunt, inter naturae prima numerantur; sed quid si aliqua mala valetudo membra tremore concutiat? Quid si usque ad ponendas in terra manus dorsi spina curvetur et hominem quodam modo quadrupedem faciat? Nonne omnem statuendi corporis et movendi speciem decusque pervertet? Quid ipsius animi pri‐ migenia quae appellantur bona, ubi duo prima ponunt propter comprehensionem percep‐ tionemque veritatis sensum et intellectum? Sed qualis quantusque remanet sensus, si, ut alia taceam, fiat homo surdus et caecus? Ratio vero et intellegentia quo recedet, ubi sopietur, si aliquo morbo efficiatur insanus? Phrenetici multa absurda cum dicunt vel faciunt, ple‐ rumque a bono suo proposito et moribus aliena, immo suo bono proposito moribusque contraria, sive illa cogitemus sive videamus, si digne consideremus, lacrimas tenere vix possumus aut forte nec possumus. Quid dicam de his, qui daemonum patiuntur incursus? Ubi habent absconditam vel obrutam intellegentiam suam, quando secundum suam vo‐ luntatem et anima eorum et corpore malignus utitur spiritus? Et quis confidit hoc malum in hac vita evenire non posse sapienti? Deinde perceptio veritatis in hac carne qualis aut Einerseits ist im diesseitigen Leben unser seelisches Wohlergehen einer perma‐ nenten Gefährdung ausgesetzt, 31 andererseits lassen unsere körperlichen Mängel und die stetige Bedrohung unserer äußeren und körperlichen Güter die Erreichbarkeit der Glückseligkeit unmöglich erscheinen. 32 Zum anderen be‐ 279 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik quanta est, quando, sicut legimus in veraci libro sapientiae, corpus corruptibile adgravat animam et deprimit terrena inhabitatio sensum multa cogitantem? Impetus porro vel ap‐ petitus actionis, si hoc modo recte Latine appellatur ea, quam Graeci vocant ὁρμήν, quia et ipsam primis naturae deputant bonis, nonne ipse est, quo geruntur etiam insanorum illi miserabiles motus et facta, quae horremus, quando pervertitur sensus ratioque sopitur? 33 Vgl. ebd.: Si ergo quaeratur a nobis, quid civitas dei de his singulis interrogata respondeat ac primum de finibus bonorum malorumque quid sentiat: respondebit aeternam vitam esse summum bonum, aeternam vero mortem summum malum; propter illam proinde adipis‐ cendam istamque vitandam recte nobis esse vivendum. Propter quod scriptum est: Iustus ex fide vivit; quoniam neque bonum nostrum iam videmus, unde oportet ut credendo quaeramus, neque ipsum recte vivere nobis ex nobis est, nisi credentes adiuvet et orantes qui et ipsam fidem dedit, qua nos ab illo adiuvandos esse credamus; die Rede vom glück‐ lichen Leben als Geschenk Gottes findet sich allerdings bereits in Aug.Beata v. 5: nam de beata vita quaesivimus inter nos, nihilque aliud video, quod magis dei donum vocandum sit. 34 Vgl. Aug.Civ . 14 . 1 : Mortis autem regnum in homines u sque adeo dominatum est, ut omnes in secundam quoq ue mortem, cuius nullus est finis, poena debita praecipites ageret, nisi inde quosdam ind ebit a dei gratia liberaret; siehe auch: Aug.En.Ps. 31. 1. 1: ‚Ipsi David intellegentiae‘, qua intellegitu r non m eritis operum, s ed gratia dei hominem liberari, con‐ fitentem pecc ata sua. 35 Vgl. Aug.Mor. 1.1 0: Deus igitur r estat quem si sequimur, bene, si assequimur, non tantum bene sed etiam bea te vivimus; 1.18: Secutio igitur dei beatitatis appetitus est, assecutio autem ipsa beatit as. Sed eum sequimur diligendo, consequimur vero, non cum hoc omnino efficimur quod est ipse, sed ei proximi eumque mirifico et intelligibili modo contingente s eiusque veritate et sanctita te penitus illustrati atque com prehensi; 1.22: Si ergo quaerimus quid sit bene vivere, id est ad beatitudinem vivendo tendere, id erit profecto amare virtutem, amare sapientiam amare veritatem et amare ex toto corde et ex tota anima et ex tota mente virtutem quae inviolabilis et invicta est, sapientiam cui stultitia non succedit, verita te m quae conve rti atque aliter quam semper est sese habere non novit; Trin. 13.10: Ac per hoc in ista mortali vita er roribus aeru mnisque plenissima, praecipue fides est necessaria, qua in deum creditur. Non enim quaecumque bona, maximeque illa quibus quisque fit bonus, et illa quibus fiet beatus, unde nisi a deo in hominem veniant, et homini accedant, inveniri potest. Cum autem ex hac vita ab eo qui in his miseriis fidelis et bonus est, ventum fuerit ad beatam, tunc erit vere quod nunc esse nullo modo potest, ut sic homo vivat quomodo vult; siehe dazu auch: Aug.Beata v. 19 f. trachtet Augustinus die Glückseligkeit insbesondere in seinen späten Werken ausschließlich als Geschenk der göttlichen Gnade. 33 Der Mensch kann dem späten Augustinus zufolge weder aus eigener Kraft die Glückseligkeit erlangen, noch wird er aufgrund seiner eigenen Werke und Verdienste gerettet. Allein die unverdiente Gnade ist dazu in der Lage. 34 Diese Verschiebungen in der Glücksvorstellung hatten auch eine Trennung von Tugend bzw. Sittlichkeit und Glück zur Folge und führten zu einer Unter‐ scheidung von bene vivere und beate vivere. 35 Das deum habere fällt für Augus‐ tinus nicht mit dem bene vivere, also mit dem tugendhaften Leben zusammen, da nicht automatisch jeder, der ein sittlich gutes Leben führt, deshalb bereits 280 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 36 Vgl. Aug.Beata v. 19: Tamen qui adhuc quaerit, nondum ad deum pervenit, et iam bene vivit. Non igitur quisquis bene vivit, deum habet; zu Augustins Ausführungen in De beata vita siehe auch: Drecoll (1999), 34-49. 37 Vgl. Aug.S. 297. 8 : Vitam ergo amamus, et amare nos vitam nullo modo dubitamus: neque omnino negare poterimus, amare nos vitam. Ergo eligamus vitam, si amamus vitam. Quid eligimus? Vitam. Primo hic bonam; post hanc, aeternam. Primo hic bonam, sed nondum beatam. Bona modo agatur, cui postea beata servatur. Bona vita, opus est: beata, merces est. Age bonam, et accipies beatam; siehe dazu auch: Müller (2010), 31. 38 Vgl. Ret r. 1.2 : Hoc quidem verum est; nam quantum attinet ad hominis naturam, nihil est in eo melius quam mens et ratio. Sed non secundum ipsam d ebet vivere, qui beate vult vivere, alioquin secundum hominem vivit. Cum secundum deum vivendum sit, ut possit ad beati tudinem pervenire; propter quam consequendam non se ipsa debet esse contenta, sed deo mens nos tra subdenda est. 39 Vgl. Aug.B eata v. 21: Aliud est […] deum habere, aliud non esse sine deo. […] Ista igitur […] distributio erit, ut omnis qui iam deum invenit et propitium deum habeat, et beatus sit; omnis autem qui deum quaerit propitium deum habeat, sed nondum sit beatus; iamvero quisquis vitiis atque peccatis a deo se alienat, non modo beatus non sit, sed ne deo quidem viv at propitio; zur Gradation der tugendhaften Weisheit siehe auch: Aug.Lib.arb. 2.29: Manifestum est igitur omnes has quas regulas diximus et lumina virtutum ad sapientiam pertinere, quandoquidem quanto magis quisque ad agendam vitam eis utitur et secundum haec agit vitam, tanto magis vivit facitque sapienter; 3.73: Ex quo apparet esse quiddam medium quo ad stultitiam a sapie ntia transitur […]; Ep. 167.12: Proinde mihi videntur Stoici falli, quia proficientem hominem in sapientia nolunt omnino habere sapientiam; sed tunc habere cum in ea omnino perfectus fuerit: non quia illum provectum negant; sed nisi ex profundo quodam emergendo, repente emicet in auras sapientiae liberas, nulla ex parte esse sapientem. Sicut enim nihil interest ad hominem praefocandum, utrum aquam stadiis multis super se habeat altam, aut uno palmo, aut digito: sic illos qui tendunt ad sapientiam, proficere quidem dicunt, tamquam ab imo gurgitis surgentes in aerem; sed nisi totam stultitiam velut opprimentem aquam, proficiendo velut emergendo evaserint, non habere ‚Gott hat‘ und damit glücklich ist. Viele, die sich noch auf der Suche nach Gott befinden, leben bereits ein in sittlicher Hinsicht vorbildhaftes Leben, ohne je‐ doch Gott schon gefunden zu haben und damit glücklich zu sein. 36 Das tugend‐ hafte Leben i.S. des bene vivere ist zwar der richtige Weg zu Gott und lässt den Menschen das Glück verdienen, jedoch ist es noch nicht mit dem Erreichen des Ziels und damit der Glückseligkeit identisch. 37 Das tugendgemäße Leben in Übereinstimmung mit der menschlichen Vernunft - mit dem Besten im Men‐ schen - reicht zur Erlangung der Glückseligkeit nicht mehr aus, da man Gott als dem höchsten Gut nachleben soll. 38 Diese Überlegungen führten Augustinus auch zur Zurückweisung der bipolaren Logik der Stoiker, die strictissime jegliche Möglichkeit eines Zwischenstadiums zwischen Glückseligkeit und Unglück‐ lichsein zurückgewiesen haben. Die strenge Opposition von ‚Gott-Haben‘ - d. h. Glückseligkeit - und ‚Gott-nicht-Haben‘ - d. h. Unglücklichsein - wird von Au‐ gustinus durch eine dritte Alternative in Form eines Zwischenstadiums des ‚Nicht-ohne-Gott-Seins‘ (non esse sine deo) unterlaufen. 39 Die Tugenden, welche 281 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik virtutem, nec esse sapientes: ubi autem evaserint, mox habere totam, nec quidquam stul‐ titiae remanere, unde omnino ullum peccatum possit existere. 40 Vgl. Aug.Mor . 1. 9 f: Aut igitur virtus est praeter animam, aut si non placet vocare vir‐ tutem, nisi habitum ipsum et quasi sapientis animae qualitatem, quae nisi in anima esse non potest, oportet aliquid aliud sequatur anima, ut ei virtus possit innasci, quia neque nihil sequendo neque stultitiam sequendo potest, quantum ratio mea fert, ad sapientiam pervenire. Hoc igitur aliud, quod sequendo anima virtutis atque sapientiae co mpos fit, aut homo sapiens est, aut deus. […] Deus igitur restat quem si sequimur, bene, si assequimur, non tantum bene sed eti am beate vivimus; Aug.S. 297. 8: Vitam ergo amamus, et amare nos vitam nullo modo dubitamus: neque omnino negare poterimus , amare nos vitam. Ergo eligamus vitam, si amamus vitam. Quid eligimus? Vitam. Primo hic bonam ; post hanc, aeternam. Primo h ic bonam, sed nondum beatam. Bona modo agatur, cui postea beata servatur. Bona vita, opus est: beata, merces est. Age bonam, et accipies beatam; Ep. 155. 12: Et verae illae virtutes erunt, et illius opitulatione, cuius largitate donatae sunt, ita crescent et perficientur, ut te ad vitam vere beatam, quae non nisi aeterna est, sine ulla dubitatione perducant; Trin. 12. 21: Sine scientia quippe nec virtutes ipsae, quibus recte vivitur, possunt haberi, per quas haec vita misera sic gubernetur, ut ad illam quae vere beata est, perveniatur aeternam. 41 Vgl. Aug.Ep. 155.2: De qua re etiam philosophi multa dixerunt; sed apud eos vera pietas, id est verax veri dei cultus, unde omnia recte vivendi duci oportet officia, non invenitur: non ob aliud , quantum intellego, nisi quia beatam vitam ipsi sibi quodammodo fabricare voluerunt, potiusque patrandam quam impetrandam putaverunt; cum eius dator non sit nisi deus. Neque enim facit beatum hom inem, nisi qui fecit hominem; 155.12: Verae illae virtutes […] ita crescent et perficientur, ut te ad vitam vere beatam […] sine ulla dubitatione perducant; Retr. 1.9.4: Voluntas ergo ipsa nisi dei gratia liberetur a servitute […] recte pieque vivi a mortalibus non potest; aus der bloßen Tatsache, dass das tugendhafte Leben (bene vivere) eine Voraussetzung für die Glückseligkeit (beate vivere) ist, folgt noch nicht, dass wir durch unsere Leistungen die Glückseligkeit erwerben, da auch die Tugenden wiederum durch Gott in uns bewirkt sein können; siehe auch: Aug.Civ. 19.4.: Si ergo quaeratur a nobis, quid civitas dei de his singulis interrogata respondeat ac primum de finibus bonorum malorumque quid sentiat: respondebit aeternam vitam esse summum bonum, aeternam vero mortem summum malum; propter illam proinde adipiscendam is‐ tamque vitandam recte nobis esse vivendum. Propter quod scriptum est: Iustus ex fide vivit; quoniam neque bonum nostrum iam videmus, unde oportet ut credendo quaeramus, neque ipsum recte vivere nobis ex nobis est, nisi credentes adiuvet et orantes qui et ipsam fidem dedit, qua nos ab illo adiuvandos esse credamus; 22.24: Praeter enim artes bene vivendi et ad immortalem perveniendi felicitatem, quae virtutes vocantur et sola dei gratia, quae in Christo est, filiis promissionis regnique donantur […]; c.Iul. 4.19: Sed hoc summum bonum praestari hominibus non potest, nisi per Christum et hunc crucifixum, cuius morte mors vincitur, cuius vulneribus natura nostra sanatur. Ideo iustus ex fide Christi vivit. Ex hac uns das Glück verdienen lassen, sind jedoch der Weg zum Ziel, das jenseits ihrer selbst und außerhalb der menschlichen Seele liegt, 40 was freilich nicht heißen will, dass wir uns durch tugendhaftes Handeln die Glückseligkeit verdienen. Diese bleibt ausschließlich ein Geschenk göttlicher Gnade - unabhängig von unseren Leistungen und Verdiensten. 41 Entsprechend heißt es in der Schrift Ad Simplicianum: 282 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus enim fide prudenter, fortiter, temperanter, et iuste, ac per hoc his omnibus veris virtutibus recte sapienterque vivit, quia fideliter vivit; Lib.arb. 3.65: Praecessit enim pars quaedam eius sublimior ad sentiendum recte facti bonum, sed quaedam tardior atque carnalis non consequenter in sententiam ducitur, ut ex ipsa difficultate admoneatur eundem implorare adiutorem perfectionis suae quem inchoationis sentit auctorem, ut ex hoc ei fiat carior dum non suis viribus, sed, cuius bonitate habet ut sit, eius misericordia sublevatur ut beata sit. Quanto autem carior illi est a quo est, tanto in eo firmius adquiescit et tanto uberius eius aeternitate perfruitur; So findet sich neben der im Frühwerk bereits anzutreffenden gratia subsequens et cooperans, in welcher das menschliche Bemühen, Gott zu finden und das Glück zu erlangen, von Gott unterstützt und zum Ziel geführt wird, im Spätwerk zudem die gratia praeveniens et operans, in der auch der zur Glückseligkeit führende Glaube und die mit diesem verbundenen Tugenden dem Menschen von Gott geschenkt werden; zu dieser Problematik siehe außerdem: Burns (1980); Wetzel (1992), 161-218; Lössl (1997); Drecoll (1999); Horn (1999), 187; Müller (2010), 54f. 42 Aug.Simpl. 1. 2. 21: liberum voluntatis arbitrium plurimum valet, immo vero est quidem, sed in venundatis sub peccato quid valet? Caro, inquit, concupiscit adversus spiritum et spiritus adversus carnem, ut non ea quae vultis faciatis. Praecipitur ut recte vivamus, hac utique mercede posita, ut in aeternum beate vivere mereamur. Sed quis potest recte vivere et bene opinari nisi iustificatus ex fide? Praecipitur ut credamus, ut dono accepto spiritus sancti per dilectionem bene operari possimus. Sed quis potest credere, nisi aliqua vocatione, Der freie Wille hat sehr großen Wert, gewiss, es gibt ihn, aber welchen Wert hat er bei denen, die unter die Sünde verkauft sind? „Das Fleisch,“ sagt der Apostel „begehrt wider den Geist und der Geist wider das Fleisch, damit ihr nicht das tut, was ihr eigentlich wollt.“ Uns ist aufgegeben richtig zu leben; dafür wird uns als Lohn in Aus‐ sicht gestellt, dass wir in Ewigkeit glücklich zu leben verdienen. Aber wer kann sittlich gut leben und gute Werke tun, wenn er nicht aus dem Glauben gerechtfertigt ist? Uns ist aufgegeben zu glauben, damit wir, wenn wir den Heiligen Geist empfangen haben, durch die Liebe gute Werke tun können. Aber wer kann glauben, wenn er nicht durch eine Berufung, d. h. einen Zeugenbeweis der Tatsachen, beeindruckt wird? In wessen Macht steht es, dass sein Denken von etwas, das er gesehen hat, derart beeindruckt wird, dass sein Wille sich dem Glauben zuwendet? Wer wendet sich mit ganzer Seele einer Sache zu, die ihn nicht erfreut? Oder in wessen Macht liegt es, dass ihm etwas begegnet, was ihn erfreuen kann, bzw. dass ihn erfreut, was ihm begegnet? Wenn uns also erfreut, was uns zu Gott bringt, wird auch das durch Gottes Gnade eingegeben und geschenkt. Es wird nicht durch unseren Willen und unsere Anstrengung oder durch verdienstvolle Werke erworben. Denn dass es die Zustimmung des Willens gibt, dass Beharrlichkeit des Strebens vorhanden ist, dass es Taten in glühender Liebe gibt - er teilt es zu, er schenkt es. Uns geboten ist zu bitten, damit wir empfangen, zu suchen, damit wir finden, anzuklopfen, damit uns aufgetan wird. […] „So kommt es also nicht auf den Wollenden oder Laufenden an, sondern auf den sich erbarmenden Gott“, denn wir werden nicht einmal wollen oder laufen können, wenn er uns nicht antreibt und bewegt. 42 (Übers. Schäfer) 283 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik hoc est aliqua rerum testificatione, tangatur? Quis habet in potestate tali viso attingi mentem suam, quo eius voluntas moveatur ad fidem? Quis autem animo amplectitur ali‐ quid quod eum non delectat? Aut quis habet in potestate, ut vel occurrat quod eum delectare possit, vel delectet cum occurrerit? Cum ergo nos ea delectant quibus proficiamus ad deum, inspiratur hoc et praebetur gratia dei, non nutu nostro et industria aut operum meritis comparatur, quia ut sit nutus voluntatis, ut sit industria studii, ut sint opera caritate fer‐ ventia, ille tribuit, ille largitur. Petere iubemur ut accipiamus, et quaerere ut inveniamus, et pulsare ut aperiatur nobis. […] igitur non volentis neque currentis sed miserentis est dei, quando quidem nec velle nec currere nisi eo movente atque excitante poterimus. 43 Vgl. Aug.Acad. 2 . 22: De vita nostra de moribus de animo res agitur, qui se superaturum inimicitias omnium fallaciarum et veritate comprehensa quasi in regionem suae originis rediens triumphaturum de libidinibus atque ita temperantia velut coniuge accepta regna‐ turum esse praesumit securior rediturus in caelum; Beata v. 33: Ergo beatum esse nihil est aliud quam non egere, hoc est esse sapient em; Sol. 1. 13: haec est vere perfe cta virtus, ratio perveniens ad finem suum, quam vita beata sequitur. 44 Vgl. Aug.Ep. 167.13: Haec similitudo, ubi stultiti a velut aqua, et sapientia velut aer ponitur, ut animus a praefocatione stultitiae tamquam emergens, in sapientiam repente respiret, non mihi videtur satis accommodata nostrarum scripturarum auctoritati: sed illa potius, ut vitium vel stultitia tenebris, luci autem virtus vel sapientia comparetur, quantum ista similia de corporalibus ad intellegibilia duci possunt; Civ. 19.4: Si enim verae virtutes sunt, quae nisi in eis, quibus vera ine st pietas, esse non possunt: non se profitentur hoc posse, ut nullas miserias patiantur homines, in quibus sunt (neque enim mendaces sunt verae vir‐ tutes, ut hoc profiteantur), sed ut vita huma na, quae tot et tantis huius saeculi malis esse cogitur misera, spe futuri saeculi sit beata, sicut et salva; 22.24: Praeter enim artes bene vivendi et ad immortalem perveniendi felicitatem, quae virtutes vocantur et sola dei gratia, quae in Christo est, filiis promissionis regnique donantur […]; Trin. 12.21: Sine scientia quippe nec virtutes ipsae, quibus recte vivitur, possunt haberi, per quas haec vita misera sic gubernetur, ut ad illam, quae vere beata est, perveniatur aeternam; Lib.arb. 1.30: Nam illi qui beati sunt, quos etiam bonos esse oportet, non propterea sunt beati quia beate vivere voluerunt - nam hoc volunt etiam mali -, sed quia recte, quod mali nolunt. […] non enim omnes volunt recte vivere, cui uni voluntati vita beata debetur; siehe auch: Aug.An.quant. 73 und 79; Mus. 49-55, bes. 51 f; Vera rel. 6; siehe dazu auch: Horn (1999). 45 Vgl. Aug.Sol. 1. 1 3: Est enim virtus vel recta vel perfecta ratio; zum Intellektualismus bei Augustinus siehe auch: Lössl (2010). 46 Vgl. Aug.Mor. 1. 2 5: […] nihil omnino esse virtutem affirmaverim nisi summum amorem dei. Die Tugenden und das sittlich richtige Leben bilden für Augustinus, wie aus dieser Passage deutlich wird, auf jeden Fall eine notwendige - wenn auch (ab‐ gesehen vielleicht vom Frühwerk) nicht hinreichende 43 - Bedingung für das Erlangen der Glückseligkeit. 44 Zugleich werden sie intellektualistisch ver‐ standen. Wie in der Stoa findet sich auch bei Augustinus ein klarer Tugendin‐ tellektualismus. So ist die Tugend die ‚rechte oder vollendete Vernunft‘. 45 Dem widerspricht Augustins Bestimmung der Tugend als Gottesliebe 46 in seiner Schrift De moribus nicht, da er „nicht an den emotionalen Zustand der Liebe [denkt], wenn er die caritas (resp. amor oder dilectio) als Klammer um die Par‐ 284 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 47 Vgl. Horn (1999), 184. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. Scott Davis (1987); Rist (1994), 161 und 168 f. 50 Vgl. Stob.Ecl. 2.59.4-11 = LS 61H = SVF 3.263: φρόνησιν δʼ εἶναι ἐπιστή μην ὧν ποιη τέον καὶ οὐ ποιητέον κα ὶ οὐδετέρων, ἢ ἐπιστήμην ἀγαθῶν καὶ κακῶν καὶ οὐδετέρων φύσει πολιτικοῦ ζῴου […]· σωφροσύνην δʼ εἶναι ἐπιστ ήμην αἱρετῶν καὶ φευκτῶ ν καὶ οὐδετέρων· δικαιοσύνην δὲ ἐπιστήμην ἀπονεμητικὴν τῆς ἀξίας ἑκάστῳ· ἀνδρείαν δὲ ἐπιστήμην δεινῶν καὶ οὐ δεινῶν καὶ οὐδετέρων; siehe auch: Cic.Tusc. 4.53 = LS 32H: Fortitudo est igitur […] ‘scientia rerum formidolosarum con trariumque aut omnino neg‐ legendarum conservans earum rerum stabile iudicium’ […]; […] ‘fortitudo est’ inquit [sc. Chrysippus] ‘scientia rerum perferendarum vel adfectio animi in patiendo ac perfer endo summae legi parens sine timore.’; Plu.Stoic.rep. 1034C = LS 61C = SVF 1.200: πάλιν δὲ ὁριζόμενος αὐτῶν ἑκάστην τὴν μὲν ἀνδρείαν φησὶν εἶναι φρόνησιν <ἐν ὑπομενετέοις τὴν δὲ σωφροσύνην φρ όνησιν ἐν αἱρετέοις τὴν δʼ ἰδίως λεγομένην φρόνησιν φρόνησιν> ἐν ἐνεργητέοις τὴν δὲ δικαιοσύνην φρόνησιν ἐν ἀπομενητέοις […]. tialtugenden auffasst, sondern an eine Relation, nämlich an diejenige einer Person zu einem intendierten Gut; ‚Liebe‘ bedeutet dann nicht mehr als die Ausrichtung einer Person“ 47 . Die Liebe ist Christoph Horn zufolge bei Augus‐ tinus ein ‚strebenstheoretischer terminus technicus‘ mit der Bedeutung von ‚Tendenz‘, ‚Ausrichtung‘ oder ‚Neigung‘. 48 Strukturell ergibt sich in dieser Tu‐ genddefinition des Augustinus eine Parallele zur stoischen Tugendlehre. 49 War für die Stoiker die ἐπιστήμη bzw. φρόνησις der Klammerbegriff, durch den die anderen Tugenden definiert wurden, 50 ist es für Augustinus die ‚Liebe‘ (amor): Wenn uns die Tugend zum glückseligen Leben führt, dann muss ich behaupten, dass nichts gänzlich Tugend ist außer der höchsten Liebe zu Gott. Denn das, was die vier‐ gestaltige Tugend heißt, wird, soweit ich es verstehe, aufgrund einer gewissen Man‐ nigfaltigkeit der Leidenschaft in der Liebe zu ihm so gennant. Deshalb zögere ich nicht, diese vier Tugenden, deren Kraft so hoffentlich in den Köpfen ist, wie ihre Namen im Munde aller sind, folgendermaßen zu bestimmen: Die Mäßigung ist die Liebe, die sich unversehrt dem, was geliebt wird, hingibt; Tapferkeit ist die Liebe, die wegen desje‐ nigen, was gliebt wird, leicht alles erträgt; Gerechtigkeit ist die Liebe, die allein dem Geliebten dient und deswegen rechtens herrscht; Klugheit ist die Liebe, die scharf das, was hilfreich ist, von dem, was hindert, trennt. Wir sagten aber, dass es die Liebe nicht zu irgend jemand, sondern zu Gott ist, das heißt zum höchsten Gut, zur höchsten Weisheit und zur höchsten Eintracht. Deshalb ist es auch erlaubt, so zu definieren, dass wir sagen können: Die Mäßigung ist die Liebe, die sich für Gott unversehrt und unverdorben bewahrt; die Tapferkeit ist die Liebe, die Gottes wegen alles leicht erträgt; die Gerechtigkeit ist die Liebe, die nur Gott dient und deswegen alles Übrige wohl beherrscht, was dem Menschen unterworfen ist; die Klugheit ist die Liebe, die wohl 285 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik 51 Aug .Mor. 1.25: Quod si virtus ad beatam vitam nos ducit, nihil omnino esse virtutem affirmaverim nisi summum amorem dei. Namque illud quod quadripartita dicitur virtus, ex ipsius amoris vario quodam affectu, quantum intelligo, dicitur. Itaque illas quatuor virtutes, quarum utinam ita in mentibus vis ut nomina in ore sunt omnium, sic etiam definire non dubitem, ut temperantia sit amor integrum se praebens ei quod amatur, for‐ titudo amor facile tolerans omnia propter quod amatur, iustitia amor soli amato serviens et propterea recte dominans, prudentia amor ea, quibus adiuvatur ab eis quibus impeditur sagaciter seligens. Sed hunc amorem non cuiuslibet sed die esse diximus, id est summi boni, summae sapientiae summaeque concordiae. Quare definire etiam sic licet, ut temperantiam dicamus esse amorem deo sese integrum incorruptumque servantem, fortitudinem amorem omnia propter deum facile perferentem, iustitiam amorem deo tantum servientem et ob hoc bene imperantem ceteris quae homini subiecta sunt, prudentiam amorem bene discer‐ nentem ea quibus adiuvetur in deum ab his quibus impediri potest. 52 Vgl. Aug.Lib.arb . 2. 50: Nam neque prudentia neque fortitudine neque temperantia male quis utitur; etiam in his enim omnibus sicut in ips a quam tu commemorasti iustitia, recta ratio viget, sine qua virtutes esse non possunt. Recta autem ratione male uti nemo po test; Util.cred. 27: […] recta ratio est ipsa virtus; Sol. 1. 13: Est enim virtus vel recta vel perfecta ratio. […] Et haec est vere perfecta virtus, ratio perveniens ad finem suum, quam beata vita consequitur; Div.qu. 35. 2: Omnium enim rerum praestantissimum est quod aeternum est; et propterea id habere non possumus nisi ea re qua praestantiores sumus, id est, mente. Quidquid autem mente habetur, noscendo habetur; nullumque bonum perfecte noscitur, quod non perfecte amatur. Neque ut sola mens potest cognoscere, ita et amare sola potest. 53 Vgl. Aug.Civ. 5. 1 5 : […] non redderetur merces bonis artibus eorum, id est virtutibus, quibus ad tantam gloriam pervenire nitebatur; 9. 4: […] quod nullum bonum volunt esse hominis praeter virtutem, tamqu am artem bene vivendi, quae non nisi in animo est; 19. 1: […] arte vivendi, quae virtus dicitur et procul dubio disc itur […]; 19. 3: Ac per hoc prima illa naturae propter se ipsa existimat expetenda ipsamque virtutem, quam doctrina inserit velut artem vivendi, quae in animae bonis est excellentissimum bonum; 22. 24: […] artes bene vivendi et ad inmortalem perveniendi felicitatem, quae virtutes vocantur […]; siehe auch: Horn (1999), 185. 54 Vgl. Aug.Trin. 1 2 . 21 : Sine scientia quippe nec virtutes ipsae, quibus recte vivitur, possunt haberi, per quas haec vita misera sic guber netur, ut ad illam, quae vere beata est, perve‐ das, was hilfreich zu Gott hin ist, unterscheidet von dem, was hinderlich ist. 51 (Übers. Rutzenhöfer) Die Tugenden werden diesem Passus zufolge nur dann erworben, wenn eine Person sich ganz auf Gott hin ausrichtet. Nur die Liebe zum höchsten Gut hat die Klammerwirkung hinsichtlich der verschiedenen Einzeltugenden. Augus‐ tinus versteht dabei die für die Tugend konstitutive Liebe dezidiert intellektua‐ listisch als ‚rechte Vernunft‘ (recta ratio). 52 Dazu passt auch, dass er, wie die Stoiker, die Tugend als eine τέχνη περὶ τοῦ βίου bzw. als eine ars bene vivendi, d. h. als ein Fachwissen betrachtet, das kognitiv vermittelbar ist. 53 Ohne dieses Wissen ist die Tugend nicht zu haben. Das Tugendwissen ermöglicht es dem Menschen, ein gutes Leben zu führen und das Glück zu verdienen. 54 Die Tugend richtet die Seele richtig aus, so dass alles in dem Maße geliebt wird, wie es geliebt 286 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus niatur aeternam; Sol. 1. 13: Et haec est vere perfecta virtus, ratio perveniens ad finem suum, quam beata vita consequitur. 55 Vgl. Aug.Ep. 167 .15: Virtus est caritas qua id quod diligendum est diligitur. 56 Vgl. Aug.Beata v. 18: et omnis, qui bene vivit, ea facit, quae vult deus, et omnis, qui ea facit, quae vult deus, bene vivit, nec quicquam est aliud bene vivere quam ea facere, quae deo placeant […]. 57 Vgl. D. L. 7. 88 = LS 6 3C = SVF 3. 4: οὐδὲν ἐνεργοῦντας ὧν ἀπαγορεύειν εἴωθεν ὁ νόμος ὁ κοινός, ὅσπερ ἐστὶν ὁ ὀρθὸς λόγος, διὰ πάντων ἐρχόμε νος, ὁ αὐτὸς ὢν τῷ Διί, καθηγεμόνι τούτῳ τῆς τῶν ὄντων διοικήσεως ὄντι. 58 Vgl. Aug.Lib.arb. 1.15: Illa lex quae summa ratio nominatur, cui semper obtemperandum est et per quam mali miseram, boni beatam vitam merentur, per quam denique illa, quam temporalem vocandam dixim us, recte fertur recteque mutatur, potestne cuipiam intelle‐ genti non incommutabilis aeternaque videri? […] Ut igitur breviter aeternae legis notionem, quae inpressa nobis est, quantum valeo verbis explicem, ea est, qua iustum est, ut omnia sint ordinatissima; siehe dazu auch: Aug.c.Faust. 22.27: Lex vero aeterna est, ratio divina vel voluntas dei, ordine m natu ralem conservari iubens, perturbari vet ans; auc h verschie‐ dene Epitheta Gottes in den Con fessiones korrespondieren mit der Charakterisierung des Zeus in der Stoa: administra tor rerum omnium naturaliu m (Con f. 1. 16; 4.4), regnator universae cr eaturae suae (Conf. 3.15) und modera tor universitatis (C onf. 7.10) mit καθηγεμόνι τούτῳ τῆς τῶν ὄντων διοικήσεως ὄντι (D. L. 7.88 = LS 63C = SVF 3.4); administrans (Conf. 6.7.; 7.2; 7.8) mit administrare (Cic.ND 2.75 = LS 54J) und διοικήσεως (D. L. 7.88 = LS 63C = SVF 3.4). 59 Vgl. Aug.c.F aust. 15 . 7: […] au t ipsa naturali lege, quam iniuste alteri facias quod tibi ab altero fieri non vis, advertis; Div.qu. 53. 2: Ex hac igitur ineffabili atque sublimi rerum administratione, quae fit per divinam providentiam, quasi transcripta est naturalis lex in animam rationalem, ut in ipsa vitae huius conversatione moribusque terrenis homines talium distributionum imagines servent; Ep. 157. 15: Legem quippe sive naturalem intel‐ legamus, quae in eorum apparet aetatibus, qui i am ratione uti possunt; sive conscriptam, zu werden verdient - d. h. der ordo amoris stimmt mit dem ordo bonorum übe‐ rein. 55 Die subjektive Strebensordnung - der ordo amoris - ist im Einklang mit der objektiven Güterordnung - dem ordo bonorum. Wie dies zu denken ist, soll nun durch eine eingehendere Untersuchung von Augustins Verständnis des ordo bonorum geklärt werden. IV.2. 2 ordo bonorum Wer Gott hat, ist glücklich und handelt dem göttlichen Willen entsprechend. 56 Dies erinnert an die stoische Bestimmung des glücklichen Lebens bei Diogenes Laertios, wonach der Weise keine Handlungen ausführt, die durch das allge‐ meine, mit der rechten Vernunft und Zeus identische Gesetz verboten sind 57 - ein Gedanke, den Augustinus in De libero arbitrio aufgreift, wenn er ebenfalls das ewige Gesetz mit der göttlichen Vernunft identifiziert 58 . Moralisches Han‐ deln ist für Augustinus wesentlich ein Handeln in Übereinstimmung mit natür‐ lichen Gesetzen. 59 Diese Überlegung Augustins spricht zusammen mit seiner 287 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik quae data est per Moysen, quia nec ipsa vivificare potuit, et liberare a lege peccati et mortis, quae tracta est ex Adam, sed magis addidit praevaricationis augmenta; Ubi enim lex non est, ait idem apostolus, nec praevaricatio. Proinde quonia m lex est etiam in ratione hominis qui iam utit ur arbitrio libertatis, naturaliter in co rde conscripta, qua suggeritur ne aliquid faciat quisque alteri quod pati ipse non v ult. 60 Vgl. Aug.Beata v. 1 0: Qui d? Om nis qui quod vult habet, beatus est? Tum mater: Si bona, inquit, ve lit et habeat, beatu s est; si autem mala velit, quamvis habeat, miser est. Cui ego arridens atque gestiens: Ipsam, inquam, prorsus, mater, arcem philosophiae tenuisti. Nam tibi procul dubio verba defuerunt, ut non sicut Tullius te modo panderes, cuius de hac sententia verba ista sunt. Nam in Hortensio, quem de laude ac defensione philosophiae librum fecit: Ecce autem, ait, non philosophi quidem, sed prompti tamen ad disputandum, omnes aiunt esse beatos qui vivant ut ipsi velint. Falsum id quidem: Velle enim quod non deceat, id est ipsum miserrimum. Nec tam miserum est non adipisci quod velis, quam adipisci velle quod non oporteat. Plus enim mali pravitas voluntatis affert, quam fortuna cuiquam boni; Trin. 13.8: Omnes autem beati habent quod volunt, quamvis non omnes qui habent quod volunt continuo beati sunt; continuo autem miseri qui vel non habent quod volunt vel id habent quod non recte volunt; siehe auch: Wetzel (1992), 45 f. 61 Zum ordo-Gedanken in den frühen Schriften Augustins siehe: Rief (1962); Bouton-Tou‐ boulic (2004). 62 Vgl. Aug.Ord. 1.27 f: Ordo est, quem si tenuerimus in vita, perducet ad deum, et quem nisi tenuerimus in vita, non perveniemus ad deum. […] Ordo est […] per quem aguntur omnia, quae deus constituit. ontologischen Betrachtung des summum bonum gegen ein rein subjektivisti‐ sches Verständnis des Glücksstrebens des Menschen. Der Mensch könnte auch etwas wollen, was aufgrund des in ontologischer Hinsicht seinem Wollen bereits vorausgehend bestimmten summum bonum unangemessen oder schlecht ist. 60 So lassen sich die an die Glückseligkeit des handelnden Individuums rückge‐ bundenen normativen Handlungsgründe nicht allein aus den Wünschen des Menschen ableiten, und Augustin kann nicht als ein Vertreter einer Theorie interner normativer Handlungsgründe angesehen werden, für den die Existenz dieser Gründe vom subjektiven Motivationsprofil des jeweiligen Akteurs ab‐ hängig ist. Er vertritt eine Theorie externer Gründe. Normative Handlungsgründe be‐ stehen für ihn unabhängig von den subjektiven Wünschen eines (idealisierten) Individuums. Es existiert für Augustinus ein objektiver normativer Standard außerhalb des Akteurs, der diesem objektiv gültige Gründe gibt, in bestimmter Weise zu handeln. Diesen objektiven Standard fasst Augustinus in der Vorstel‐ lung eines ordo - einer Ordnung -, genauerhin eines ordo bonorum, zu‐ sammen. 61 Das gute Leben weist auch für Augustinus einen Weltbezug auf, in‐ sofern sich der Mensch in den ordo, welcher die Welt strukturiert, einzufügen hat, um das Glück zu verdienen. Der ordo, durch den die gesamte göttliche Schöpfung bestimmt und gelenkt wird, bringt den Menschen zu Gott. 62 Ein Ak‐ 288 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 63 Vgl. Aug.Lib.arb. 1. 32: Iubet igitur aeterna lex avertere amorem a temporalibus et eum mundatum ad aeterna convertere. […] Quid deinde censes temporalem iubere, nisi ut haec, quae ad tempus nostra dici possunt, quando eis homines cupiditate inherent, eo iure pos‐ sideant quo pax et societas humana servetur, quanta in his rebus servari potest? Ea sunt autem primo hoc corpus et eius quae vocantur bona, ut integra valitudo, acumen sensuum, vires, pulchritudo et si qua sunt cetera, partim necessaria bonis artibus et ideo pluris pen‐ sanda, partim viliora; deinde libertas; quae quidem nulla vera est nisi beatorum et legi aeternae adherentium, sed eam nunc libertatem commemoro qua se liberos putant qui dominos homines non habent et quam desiderant hi qui a dominis hominibus manumitti volunt; deinde parentes, fratres, coniunx, liberi, propinqui, adfines, familiares et quicumque nobis aliqua necessitudine adiuncti sunt; ipsa denique civitas, quae parentis loco haberi solet, honores etiam et laus et ea quae dicitur gloria popularis; ad extremum pecunia, quo uno nomine continentur omnia quorum iure domini sumus et quorum vendendorum aut donandorum habere potestatem videmur. 64 Vgl. Cic.Fin. 3. 2 1 = LS 59D = SVF 3.188: Simul autem cepit [sc. homo] intellegentiam vel notionem potius (quam appellant ἔννοιαν illi) viditque rerum agendarum ordinem et, ut ita dicam, concordiam, multo eam pluris aestimavit quam omnia illa quae prima dilexerat, atque ita cognitione et ratione collegit ut statueret in eo conlocatum summum illud hominis per se laudandum et expetendum bonum. Quod positum sit in eo quod ὁμολογίαν Stoici, nos appellemus convenientiam […]. 65 Vgl. Stob.Ecl. 2 . 75.11 f = LS 63B = SVF 1.179: τὸ δὲ τέλος ὁ μὲν ζήνων οὕτως ἀπέδωκε· „τὸ ὁμολογουμένως ζῆν“. 66 Vgl. Aug.Ord. 1.2: Sed hoc pacto, si quis tam minut um cerneret, ut in vermiculato pavi‐ mento nihil ultra unius tessellae modulum acies eius valeret ambire, vituperaret artificem velut ordinationis et compositionis ignarum eo, quod varietatem lapillorum perturbatam teur hat genau dann einen Grund, eine Handlung auszuführen, wenn sich diese in den ordo, welchen Gott der Schöpfung zugrunde gelegt hat, einfügt und einen Beitrag zu ihm leistet. Diesem ordo zufolge existiert eine feste Hierarchie der Güter, wonach geistige über materiellen Gütern und ewige, unveränderliche Wirklichkeiten über zeitlichen und veränderlichen stehen. 63 Die Einbettung der augustinischen Ethik in die Schöpfungsordnung erinnert an die stoische Fundierung des Ethischen in der kosmologischen Naturphiloso‐ phie. Diese Situierung des Ethischen in einem kosmologischen Kontext bleibt auch bei Augustinus wie in der Stoa nicht auf das äußere Handeln des Menschen beschränkt, sondern umfasst auch dessen Inneres, insofern sich der ordo nicht nur in der Welt allgemein, sondern auch im Inneren des Menschen wiederfindet. Diese Überlegung evoziert die stoische Lehre von der Harmonie (ὁμολογία/ convenientia) der Überzeugungen, auf welche sowohl Cicero in De finibus  64 mit seinem Verweis auf einen ordo rerum agendarum als auch Zenon in seiner Be‐ stimmung des menschlichen τέλος als ὁμολογουμένως ζῆν 65 aufmerksam macht. Der Mensch hat die Aufgabe, sein Leben auf diese Ordnung hin auszurichten und so in Harmonie mit sich selbst, der Welt bzw. der Natur und seinen Mit‐ menschen zu leben. 66 289 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik putaret, a quo illa emblemata in unius pulchritudinis faciem congruentia simul cerni col‐ lustrarique non possent. Nihil enim aliud minus eruditis hominibus accidit, qui universam rerum coaptationem atque concentum imbecilla mente complecti et considerare non va‐ lentes, si quid eos offenderit, quia suae cogitationi magnum est, magnam rebus putant inhaerere foeditatem; Lib.arb. 1.15: Illa lex quae summa ratio nominatur, cui semper ob‐ temperandum est et per quam mali miseram, boni beatam vitam merentur, per quam denique illa, quam temporalem vocandam diximus, recte fertur recteque mutatur, potestne cuipiam intellegenti non incommutabilis aeternaque videri? […] Ut igitur breviter aeternae legis notionem, quae inpressa nobis est, quantum valeo verbis explicem, ea est, qua iustum est, ut omnia sint ordinatissima; c.Faust. 22.27: Ergo peccatum est, factum vel dictum vel concupitum aliquid contra aeternam legem. Lex vero aeterna est, ratio divina vel voluntas dei, ordinem naturalem conservari iubens, perturbari vetans. Quisnam igitur sit in homine naturalis ordo, quaerendum est. […] nos vero, quorum corpus mortuum est propter pec‐ catum, antequam vivificet deus et mortalia corpora nostra per inhabitantem spiritum eius in nobis, pro modulo infirmitatis nostrae secundum aeternam legem qua naturalis ordo servatur, iuste vivimus, si vivamus ex fide non ficta, quae per dilectionem operatur; S.dom. m. 1.34: Et omnes naturae in ordine suo gradibus suis pulchrae sunt, sed de supe‐ rioribus, in quibus rationalis animus ordinatus est, ad inferiora non est declinandum. Nec quisquam hoc facere cogitur; et ideo si fecerit, iusta Dei lege punitur; non enim hoc com‐ mittit invitus; Spir. et litt. 46: Et propterea in domo veri Israel, in quo dolus non est, par‐ ticipes sunt testamenti novi, quia dat deus leges in mentem ipsorum et in cordibus eorum scribit eas digito suo, spiritu sancto, quo ibi diffunditur caritas, quae legis est plenitudo; siehe auch: van Geest (2007), 527; Brachtendorf (2012b), 121. 67 Aug.Nat.b. 37: Proinde si custodiant omnes naturae modum et speciem et ordinem prop‐ rium, nullum erit malum. Si autem his bonis quisque male uti voluerit, nec sic vincit voluntatem dei, qui etiam iniustos iuste ordinare novit, ut si ipsi per iniquitatem voluntatis suae male usi fuerint bonis illius, ille per iustitiam potestatis suae bene utatur malis ip‐ sorum recte ordinans in poenis, qui se perverse ordinaverint in peccatis; siehe auch: Aug.Lib.arb. 1. 6: EV: Hoc scio malum esse, quod hoc ipse in uxore mea pati nollem. Quisquis autem alteri facit, quod sibi fieri non vult, male utique facit. AUG: Quid? Si cuiuspiam libido ea sit, ut uxorem suam praebeat alteri libenterque ab eo corrumpi patiatur, in cuius uxorem vicissim cupit parem habere licentiam, nihilne male facere tibi videtur? EV: Immo Für den Menschen existieren bei Augustinus wie in der Stoa objektive Hand‐ lungsgründe unabhängig davon, ob er auch durch diese zu einem entsprech‐ enden Handeln motiviert werden kann. Fehlt eine entsprechende Motivation, so liegt der Fehler beim Akteur, der dem an ihn gestellten normativen Anspruch nicht gerecht wird, wie folgende Passage aus De natura boni verdeutlicht: Wenn ferner alle Naturen ihr je eigenes Maß, ihre Gestalt und Ordnung bewahren, wird es kein Übel geben. Wenn aber einer diese Güter missbrauchen will, überwindet er auch damit nicht den Willen Gottes, der auch die Ungerechtigkeit gerecht zu ordnen weiß. Wenn diese also durch die Ungerechtigkeit ihres Willens seine Güter miss‐ braucht haben, gebraucht Gott durch die Gerechtigkeit seiner Macht ihre bösen Taten gut, indem er diejenigen durch Strafen richtig ordnet, die sich selbst in Sünden ver‐ kehrt geordnet haben. 67 (Übers. Berges/ Goebel/ Hermanni) 290 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus plurimum; 1.31 f: EV: Puto in promptu esse quod quaeris, nam beatos illos ob amorem ipsorum aeternorum sub aeterna lege agere existimo, miseris vero temporalis inponitur. AUG: Recte iudicas, dummodo illud inconcussum teneas quod apertissime iam ratio de‐ monstravit, eos, qui temporali legi serviunt, non esse posse ab aeterna liberos, unde omnia quae iusta sunt iusteque variantur exprimi diximus; eos vero, qui legi aeternae per bonam voluntatem herent, temporalis legis non indigere, satis, ut apparet, intellegis. 68 Aug.Lib.arb. 3. 72: Ratione fit quisque praecepti capax, cui fidem debet, ut quod praecipitur faciat. Sicut autem natura rationis praeceptum capit, sic praecepti observatio sapientiam. Quod est autem natura ad capiendum praeceptum, hoc est voluntas ad observandum. Et sicut rationalis natura tamquam meritum est praecepti accipiendi, sic praecepti observatio meritum est accipiendae sapientiae. Ex quo autem incipit homo praecepti esse capax, ex illo incipit posse peccare. Duobus autem modis peccat antequam fiat sapiens: si aut non se accommodet ad accipiendum praeceptum aut cum acceperit non observet. Wer sich also in den ordo einfügt und aus den Gründen handelt, welche in diesem ordo einen normativen Anspruch an ihn stellen, trägt zum Guten des Ganzen bei. Wer diesem Anspruch jedoch nicht gerecht wird und den ordo stört, wird von Gott bestraft werden. Diese Störung des ordo beeinträchtigt jedoch nicht die Gutheit des Ganzen, da Gott als strafende Instanz die Gerechtigkeit und damit die Ordnung wiederherstellt. Die Fähigkeit, von Gründen affiziert zu werden, folgt für Augustinus aus der Vernunftnatur des Menschen: Durch die Vernunft wird jeder befähigt, das Gebot aufzunehmen, dem er Glauben schuldet, damit er das Befohlene tue. Aber wie die Natur der Vernunft das Gebot empfängt, so empfängt die Befolgung des Gebotes die Weisheit. Was aber die Natur für den Empfang des Gebotes leistet, das leistet der Wille für die Befolgung. Und wie die vernunftbegabte Natur es gleichsam verdient, das Gebot zu empfangen, so verdient es die Befolgung des Gebotes, die Weisheit zu empfangen. Wodurch der Mensch aber beginnt, aufnahmefähig für das Gebot zu sein, dadurch beginnt er auch sündigen zu können. Er sündigt aber auf zwei Arten, bevor er weise wird: entweder wenn er sich nicht bereit macht, das Gebot anzunehmen, oder wenn er es nach der Annahme nicht befolgt. 68 (Übers. Brachtendorf) Auch dieser Gedanke war bereits in der Untersuchung der stoischen Motivati‐ onstheorie begegnet, wo die Motivationsstruktur des Menschen mit Erreichen des vernünftigen Erwachsenenalters transformiert wird, so dass der Mensch von diesem Moment an aus Gründen handelt. In der zitierten Passage erfahren wir von Augustinus, dass der Mensch aufgrund seines Vernunftvermögens, welches ihm von Natur aus zukommt, offen ist für die Gebote Gottes, d. h. für die Gründe, welche ihm der ordo für ein bestimmtes Handeln gibt. Damit diese normativen Gründe auch handlungswirksam - d. h. zu motivierenden Gründen - werden, ist ein weiteres Vermögen nötig, nämlich der Wille. Dieser sorgt dafür, dass die 291 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik 69 Vgl. z. B. Aug.Lib.a rb. 1. 6: EV: Hoc scio malum esse, quod hoc ipse in uxore mea pati nollem. Quisquis autem alteri facit, quod sibi fieri non vult, male utique facit. AUG: Quid? Si cuiuspiam libido ea sit, ut uxorem suam praebeat alteri libenterque ab eo corrumpi patiatur, in cuius uxorem vicissim cupit parem habere licentiam, nihilne male facere tibi videtur? EV: Immo plurimum; 1. 9: AUG: Quid si ergo quispiam non cupiditate adipiscendae alicuius rei, sed metuens, ne quid ei male accidat, hominem occiderit? Num homicida iste non erit? EV: Erit quidem […]. 70 Siehe dazu Augustins Schriften De mendacio sowie Contra medacium; siehe auch: Rist (1994), 191-199. 71 Vgl. Aug.Lib.arb. 3. 72: Du obus autem modis peccat antequam fiat sapiens: si aut non se accommodet ad accipiendum praeceptum aut cum acceperit non observet. göttlichen Gebote auch befolgt werden. Es besteht jedoch keineswegs eine Na‐ turnotwendigkeit, dass die normativen Handlungsgründe auch zu motivier‐ enden Handlungsgründen werden, wie das Ende der Passage deutlich macht. Das Vernunftvermögen des Menschen ist dafür verantwortlich, dass dieser die Forderungen Gottes an ihn - d. h. die normativen Handlungsgründe - erkennen kann, doch eröffnet dies gleichzeitig die Möglichkeit der Sünde: sei es, dass der Mensch nicht die nötigen Anstrengungen unternimmt, die für ihn bestehenden Gründe tatsächlich zu erkennen, sei es, dass er, obschon er einen Grund erkannt hat, sich nicht von diesem zum Handeln motivieren lässt. Diese Überlegungen Augustins unterstreichen nochmals seine Position als Vertreter einer Theorie externer Gründe, insofern er die Möglichkeit einräumt, dass für einen Akteur ein normativer Grund existieren kann, auch wenn er auf keine Weise motiviert werden kann, aus diesem Grund zu handeln. In einem solchen Fall begeht der Akteur Augustinus zufolge eine Sünde, d. h. er missachtet einen normativen Grund in Form einer göttlichen Forderung an ihn und handelt damit diesem Grund zuwider. Diese Gedanken illustriert Augustinus anhand seiner Überlegungen zum Bestehen absolut gültiger moralischer Regeln. Diese qualifizieren z. B. nicht nur Mord oder Ehebruch als moralisch falsch, 69 sondern stellen auch ein kategorisches Verbot zu lügen auf. 70 Wäre die Existenz dieser Regeln und der auf ihnen basierenden normativen Gründe von der jeweiligen Beschaffenheit des subjektiven Motivationsprofils des Akteurs abhängig, wie es die Vertreter einer Theorie interner Gründe behaupten, dann könnten diese Re‐ geln keine kategorische Geltung beanspruchen. Sie geben uns jedoch Augus‐ tinus zufolge stets einen Grund, die entsprechende Handlung zu unterlassen, und wir begehen eine Sünde, wenn wir dem Anspruch dieses Grundes an uns nicht gerecht werden und der entsprechenden Regel zuwiderhandeln. 71 Die Fähigkeit des Menschen, von Gründen affiziert zu werden und über die moralische Qualität von Handlungen zu urteilen, gründet in seinem Vernunft‐ vermögen, welches es ihm ermöglicht, in den Bereich des Intelligiblen vorzu- 292 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 72 Vgl. Aug.Civ. 8. 6 : Proinde intellegibilem speciem sensibili praetulerunt. Sensibilia di‐ cimus, quae visu tactuque corporis sentiri queunt; intellegibilia, quae conspectu mentis intellegi. 73 Vgl. Wetzel (1992), 17. 74 Vgl. Aug.Civ . 8.6: Unde ingeniosi et docti et in his exercitati homines facile collegerunt non esse in eis rebus primam speciem, ubi mutabilis esse convincitur; Hier liegt für Au‐ gustinus der Fehler, den die Epikureer oder die Stoiker begehen. Im Zuge ihres Mate rialimusʼ setzten sie auch den Standard unserer evaluativen Urteile in die materielle Welt, über welche hinaus weiter nichts existiert. Damit setzen sie jedoch auch die Wahrheit der Veränderung aus (vgl. Aug.Civ. 8.5). 75 Vgl. Aug.Civ. 8. 6 : Cum igitur in eorum conspectu et corpus et animus magis minusque speciosa essent, si autem omni specie carere possent, omnino nulla essent: viderunt esse aliquid ubi prima esset incommutabilis et ideo nec comparabilis; atque ibi esse rerum principium rectissime crediderunt, quod factum non esset et ex quo facta cuncta essent. Ita quod notum est dei, manivestavit eis ipse, cum ab eis invisibilia eius per ea, quae facta sunt, intellecta conspecta sunt; se mpiterna quoque virtus eius et divinitas; a quo etiam visibilia et temporalia cuncta creata sunt. 76 Vgl. Aug.Trin. 8 . 4: Sic amandus est deus, non hoc et illud bonum, sed ipsum bonum. 77 Vgl. Wetzel (1992), 21. 78 Vgl. Aug.Civ. 11.21: Quid est enim aliud intellegendum in eo, quod per omnia dicitur: „Vidit deus quia bonum est“, nisi operis adprobatio secundum artem facti, quae sapientia dei est? Deus autem usque adeo non, cum factum est, tunc didicit bonum, ut nihil eorum fieret, si ei fuisset incognitum. Dum ergo videt quia bonum est, quod, nisi vidisset antequam fieret, n on utique fieret: docet bonum esse non discit. 79 Vgl. Wetzel (1992), 23. dringen. 72 Evaluative Urteile setzen einen solchen intelligiblen Bereich voraus, insofern sie den Bereich des sinnlich Erfassbaren überschreiten und diesen be‐ werten. 73 Dafür ist ein evaluativer Standard nötig, der wiederum Augustinus zufolge nicht im Bereich der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit existieren kann, da er dann wie diese der Veränderung und Wandelbarkeit unterworfen wäre. 74 Gott, der per definitionem keiner Veränderung unterliegt, setzt den Standard für alle evaluativen Urteile des Menschen. 75 Gott selbst ist die Gutheit. 76 Unsere Ur‐ teile über die Gutheit einer Handlung, eines Zustandes oder einer Haltung haben ihren Bezugspunkt daher nicht in der materiellen Welt, sondern in einem Be‐ reich jenseits aller Kategorien von Raum und Zeit. 77 Gott stattete im Schöp‐ fungsakt die Welt mit Werten aus, und wir versuchen mit unseren evaluativen Urteilen diese Werte aufzufinden. 78 Die Menschen gebrauchen in ihrem Streben, ein gutes Leben zu führen, ihre praktische Vernunft, um diese Werte aufzufinden und von ihnen ihr Leben bestimmen zu lassen. Ihnen ist mithin eine objektive Wertordnung vorgegeben, welche ihnen normative Gründe gibt, ihr Leben auf bestimmte Weise zu führen, Projekte zu verfolgen und einzelne Handlungen auszuführen oder zu unterlassen. 79 Diese Vorgegebenheit einer objektiven Wert‐ ordnung, in welcher die normativen Gründe für eine bestimmte Lebensform 293 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik 80 Einen guten Überblick zu Augustins Axiologie bietet: Clair (2016), 9-38. 81 Vgl. Irwin (2007), 417. 82 Vgl. ebd. 83 Vgl. ebd. oder Handlung fundiert sind, spricht einmal mehr gegen die Ansicht, in Au‐ gustinus aufgrund des von ihm vertretenen Eudämonismus einen Exponenten einer Theorie interner Gründe zu sehen. Auch für Augustinus existieren externe Handlungsgründe. Bevor nun analysiert werden kann, wie diese externen Handlungsgründe Augustinus zufolge auch handlungswirksam werden können, muss zunächst noch ein Blick auf Augustins Axiologie und Rezeption der stoischen οἰκείωσις-Lehre geworfen werden, da diese für seine Motivationstheorie von zentraler Bedeutung sind. IV.2. 3 Augustins Axiologie 80 Augustinus sucht mit seiner Eschatologisierung der Glückseligkeit zwei intui‐ tive Einsichten der antiken paganen Philosophie zu verbinden, die von dieser nie zusammen vertreten werden konnten: zum einen die Einsicht, dass das Glück etwas Dauerhaftes sein muss; zum anderen die Einsicht, dass zum Glück mehr als sittliche Vollkommenheit gehört - dass also auch außermoralische Güter zur Glückseligkeit des Menschen notwendig sind. 81 Die Verbindung dieser beiden intuitiv plausiblen Einsichten ist nun insofern problematisch, als die außermo‐ ralischen Güter nicht vollkommen in unserer Macht stehen und den Wechsel‐ fällen des Schicksals unterliegen. Dies gefährdet die Dauerhaftigkeit der menschlichen Glückseligkeit. Folglich wurde von den antiken Philosophen bzw. Philosophenschulen stets eine der beiden Thesen zurückgewiesen. Während Aristoteles und der Peripatos an der zweiten These festhielten und dafür die Dauerhaftigkeit des menschlichen Glücks aufgaben und seine Zerbrechlichkeit anerkannten, hielten die Stoiker an der Dauerhaftigkeit der menschlichen Glückseligkeit fest, indem sie die außermoralischen Güter von der Glückselig‐ keit ausschlossen und sie zu indifferenten Dingen erklärten. 82 Augustinus möchte an beiden intuitiv plausiblen Einsichten festhalten und löst das Problem durch die Eschatologisierung der Glückseligkeit. 83 Er weist die stoische Erklärung der Dauerhaftigkeit der menschlichen Glückseligkeit zurück, da er ihre Lehre von den indifferenten Dingen ablehnt und auch die außermo‐ ralischen Güter als echte Güter betrachtet und als konstitutive Bestandteile der Glückseligkeit ansieht. Da es die Stoiker seiner Ansicht nach bevorzugten, lieber unter günstigen als unter widrigen Umständen zu leben - selbst wenn sie die 294 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 84 Vgl. Aug.Trin. 1 3 . 10: Quis vult pati molestias quas fortiter toleret, quamvis eas velit pos‐ sitque tolerare si patitur? Quis velit in tormentis vivere, etiam qui potest in eis per pati‐ entiam tenendo iustitiam laudabiliter vivere? […] Porro si ista non patitur, quae nollet pati in suo corpore, nec tunc quidem beatus habendus est, quoniam non vivit ut vult. Ut enim alia omittam, quae corpore illaeso ad animi pertinent offensiones, sine quibus vivere vel‐ lemus, et sunt innumerabilia; vellet utique si posset ita salvum atque incolume habere corpus, et nullas ex eo pati molestias, ut id haberet in potestate, aut in ipsius incorruptione corporis: quod quia non habet, ac pendet in incerto, profecto non vivit ut vult. Quamvis enim per fortitudinem sit paratus excipere, et aequo ferre animo quidquid adversitatis acciderit; mavult tamen ut non accidat, et si possit facit; atque ita paratus est in utrumque, ut quantum in ipso est alterum optet, alterum vitet, et si quod vitat, incurrerit, ideo volens ferat, quia fieri non potuit quod volebat. Ne opprimatur ergo sustinet: sed premi nollet. 85 Vgl. Aug.Civ. 9. 4 : Hos autem, id est Stoicos, Cicero in libris de finibus bonorum et malorum verbis magis quam rebus adversus Platonicos seu Peripateticos certare convincit; quando quidem Stoici nolunt bona appellare, sed commoda corporis et externa, eo quod nullum bonum volunt ess hominis praeter virtutem, tamquam artem bene vivendi, quae non nisi in animo est. […] Nam et ipsos nihil hinc aliud quam Platonicos et Peripateticos sentire existimo, quantum ad vim rerum adtinet, non ad vocabulorum sonum. […] Quod autem aiunt ea nec bona appellanda esse, sed commoda: verborum certamini, non rerum examini deputandum est. Quid enim interest, utrum aptius bona vocentur an commoda, dum tamen ne his privetur non minus Stoicus quam Peripateticus pavescat et palleat, ea non aequaliter appellando, sed aequaliter aestimando? Ambo sane, si bonorum istorum seu commodorum periculis ad flagitium vel facinus urgeantur, ut aliter ea retinere non possint, malle se dicunt haec amittere, quibus natura corporis salva et incolumis habetur, quam illa committere, quibus iustitia violatur. 86 Vgl. Aug.Civ. 19 . 3 : Proinde summum bonum hominis, quo fit beatus, ex utriusque rei bonis constare dicit, et animae scilicet et corporis. Ac per hoc prima illa naturae propter se ipsa existimat expetenda ipsamque virtutem, quam doctrina inserit velut artem vivendi, quae in animae bonis est excellentissimum bonum. Quapropter eadem virtus, id est ars agendae vitae, cum acceperit prima naturae, quae sine illa erant, sed tamen erant etiam quando eis doctrina adhuc deerat, omnia propter se ipsa appetit simulque etiam se ipsam, omnibusque simul et se ipsa utitur, eo fine, ut omnibus delectetur atque perfruatur, magis munisque, ut quaeque inter se maiora atque minora sunt, tamen omnibus gaudens et quaedam minora, si necessitas postulat, propter maiora vel adipiscenda vel tenenda con‐ temnens. 87 Vgl. Aug.Civ. 19 . 4 : Quae mala Stoici philosophi miror qua fronte mala non esse conten‐ dant, quibus fatentur, si tanta fuerint, ut ea sapiens vel non possit vel non debeat sustinere, cogi eum mortem sibimet inferre atque ex hac vita emigrare. […] Quo modo ista non sunt mala, quae vincunt fortitudinis bonum eandemque fortitudinem non solum sibi cedere, widrigen Umstände ertragen würden -, müssten sie eingestehen, dass die Glückseligkeit auch günstige Umstände mitumfasse. 84 Ihr Ausschluss der au‐ ßermoralischen Güter aus der Klasse der Güter sei daher rein verbaler Natur. 85 Die naturgemäßen Dinge sollten in das τέλος des Menschen eingeschlossen werden. 86 Dies erkennen die Stoiker Augustinus zufolge implizit auch an, wenn sie sagen, dass der Weise sich das Leben nehmen dürfe, wenn er den Rest seines Lebens unter widrigen Umständen verbringen müsse. 87 Dennoch hätten die Sto‐ 295 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik verum etiam delirare compellunt, ut eandem vitam et dicat beatam et persuadeat esse fugiendam? […] Quapropter etiam ipsi, qui mala ista esse confessi sunt, sicut Peripatetici, sicut veteres Academici, quorum secta Varro defendit, tolerabilius quidem loquuntur […]. 88 Vgl. Aug.Civ. 19 . 3 : Omnium autem bonorum vel animi vel corporis nihil sibi virtus om‐ nino praeponit. Haec enim bene utitur et se ipsa et ceteris, quae hominem faciunt beatum, bonis. Ubi vero ipsa non est, quamlibet multa sint bona, non bono eius sunt, cuius sunt, ac per hoc nec eius bona dicenda sunt, cui male utenti utilia esse non possunt. 89 Vgl. Aug.Civ. 19 . 4 : Porro ipsa virtus, quae non est inter prima naturae, quoniam eis postea doctrina introducente supervenit, cum sibi bonorum culmen vindicet humanorum, quid hic agit nisi perpetua bella cum vitiis, nec exterioribus, sed interioribus, nec alienis, sed plane nostris et propriis, maxime illa quae Graece σωφροσύνη, Latine temperantia no‐ minatur, qua carnales frenantur libidines, ne in quaeque flagitia mentem consentientem trahant? […] Quid autem facere volumus, cum perfici volumus fine summi boni, nisi ut caro adversus spiritum non concupiscat, nec sit in nobis hoc vitium, contra quod spiritus concupiscat? Quod in hac vita, quamvis velimus, quoniam facere non valemus, id saltem in adiutorio dei facimus, ne carni concupiscenti adversus spiritum spiritu succumbente cedamus et ad perpetrandum peccatum nostra consensione pertrahamur. Absit ergo ut, quamdiu in hoc bello intestino sumus, iam nos beatitudinem, ad quam vincendo volumus pervenire, adeptos esse credamus. 90 Vgl. Aug.Civ. 19 . 4 : Vita igitur, quae istorum tam magnorum tamque gravium malorum aut premitur oneribus aut subiacet casibus, nullo modo beata diceretur, si homines, qui hoc dicunt, sicut victi malis ingravescentibus, cum sibi ingerunt mortem, cedunt infelicitati, ita victi certis rationibus, cum quaerunt beatam vitam, dignarentur cedere veritati et non sibi putarent in ista mortalitate fine summi boni esse gaudendum, ubi virtutes ipsae, quibus hic certe nihil melius atque utilius in homine reperitur, quanto maiora sunt adiutoria contra vim periculorum laborum dolorum, tanto fideliora testimonia miseriarum. iker Recht, wenn sie auf dem Vorrang der Tugend vor den außermoralischen Gütern beharrten, da diese für den richtigen Gebrauch der anderen Güter not‐ wendig sei. 88 Allerdings dürfe die Macht der Tugend auch nicht überschätzt werden. Die Tugend wäre nur dann, wie die Stoiker behaupten, hinreichend für das Erreichen der Glückseligkeit, wenn sie das Laster eliminieren könnte. Das vermögen jedoch die Tugenden, zu deren Erwerb wir in diesem Leben fähig sind, nicht. 89 Angesichts dieser Charakteristika der Glückseligkeit und der begrenzten menschlichen Vermögen ist folglich das Erreichen der Glückseligkeit in diesem Leben ausgeschlossen. Die Tugend allein reicht Augustinus zufolge für das Er‐ langen der Glückseligkeit nicht aus, und da die Glückseligkeit auch außermo‐ ralische Güter einschließt, welche den Wechselfällen des Schicksals ausgesetzt sind, fehlt unserem Leben die Stabilität und dauerhafte Gutheit, welche bereits für die Stoiker für ein gutes, glückliches Leben notwendig war. 90 Die verschiedenen Güter, nach welchen die Menschen streben, sind nach Au‐ gustinus nicht alle gleichwertig, sondern unterscheiden sich entsprechend ihres Seinsgrades in ihrer Gutheit: 296 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 91 Aug.Nat.b. 3: Omnia enim quanto magis moderata, speciosa, ordinata sunt, tanto magis utique bona sunt; quanto autem minus moderata, minus speciosa, minus ordinata sunt, minus bona sunt. 92 Vgl. Plat.Sym. 210a-212 c; Plot.Enn. 1. 6; siehe dazu auch: Arist.EN 1094a3; Cic.Tusc. 4. 31; Aug.Civ. 22. 19. 93 Vgl. Aug.Civ. 11. 4; 12. 1-9. 94 Vgl. Aug. Trin. 8.5: Quapropter nulla essent mutabilia bona n isi esset i ncommu tabile bonum. Cum itaque audis bonum hoc et b onum illud quae possunt alias dici etiam non bona, si potueris sine illis quae participatione boni bona sunt pers picere ipsum bonum cuius participatione bona sunt - simul enim et ipsum intellegis, cum audis hoc aut illud bonum -, si ergo potueris illis detractis per se ipsum perspicere bonum, perspexeris deum. 95 Vgl. Aug.Gn.adv. Man. 2.29: Nos dicimus nullum malum esse naturale, sed omnes naturas bonas esse, et ipsum deum summam esse naturam, ceteras ex ipso esse naturas. 96 Vgl. Aug.Lib.arb. 2.7: Quia cum tria sint haec, esse vivere intellegere, et lapis est et pecus vivit, nec tamen lapidem puto vivere aut pecus intellegere; qui autem intellegit, eum et esse et vivere certissimum est. Quare non dubito id excellentius iudicare cui omnia tria insunt quam id cui vel unum desit. Nam quod vivit, utique et est, sed non sequitur ut etiam intellegat, qualem vitam esse pecoris arbitror. Quod autem est, non utique consequens est ut et vivat et intellegat, nam esse cadavera possum fateri, vivere autem nullus dixerit. Iam vero quod non vivit, multo minus intellegit; 2.50: Quare abundantia et magnitudo bonitatis dei non solum magna sed etiam media et minima bona esse praestitit. Magis laudanda bonitas eius in magnis quam in mediis et magis in mediis quam in minimis bonis, sed magis in omnibus quam si non omnia tribuisset. 97 Vgl. Aug.Lib.arb. 1. 17: Intellegere aut em quid est nisi ipsa luce mentis inlustrius perfec tiusque vivere? Q uare tu mihi, nisi fallor, non vitae aliud aliquid, sed cuidam vitae meliorem vitam praeposuisti; Trin. 10. 13: Ergo consequenter et esse et vivere id quod Alle Dinge nämlich sind, je gemessener, je gestalteter, je geordneter sie sind, desto mehr eben gut; je weniger aber gemessen, gestaltet und geordnet sie sind, desto we‐ niger gut sind sie. 91 Augustinus ist hier Platons und Plotins Verständnis des Guten als Schönheit, Symmetrie, Maß, Zahl und Wahrheit verpflichtet. 92 Die Schönheit, Ordnung und Gutheit der geschaffenen Dinge entspricht ihrer Stufe innerhalb der Hierarchie des Seienden. 93 Auch die Beziehung der verschiedenen partikularen Einzelgüter zum einen Guten - Gott - wird von Augustinus im Sinne einer platonischen Partizipation verstanden: Die partikularen Einzelgüter sind gut aufgrund ihrer Teilhabe an dem Gut, durch dessen teilweise Präsenz sie gut sind. 94 Alles, was existiert, ist gut - und zwar in dem Maße wie es am summum bonum teilhat. 95 Diese Teilhabe vollzieht sich auf dreierlei Weise: Existenz (esse), Leben (vivere) und Verstehen (intellegere). 96 Der Gedanke einer scala naturae ist bereits aus der Stoa vertraut. Wie dort ist es auch bei Augustinus so, dass die einzelnen Exis‐ tenzweisen nicht isoliert nebeneinanderstehen, sondern die jeweils höhere die niedrigeren überformt. So ist das Leben genauso eine Art der Existenz wie das Verstehen eine Art von Leben ist. 97 Für Augustinus besitzen Steine, Pflanzen, 297 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik int ellegit, non sicuti est cadaver quod non vivit, nec sicut vivit anima quae non intellegit, sed proprio quodam eodemque praestantiore modo; siehe auch: Trego (2009), 270 f. 98 Vgl. Aug.Lib.arb. 3.15: Sicut enim melior est vel aberrans equus quam lapis propterea non oberrans quia proprio motu et sensu caret; ita est excellentior c reatura quae libera voluntate peccat quam quae propterea non peccat quia non habet liberam voluntatem; Civ. 5.11: […] qui [sc. deus] bonis et malis essentiam etiam cum lapidibus, vitam seminalem etiam cum pecoribus, vitam intellectualem cum solis angelis dedit; 11.16: In his enim, quae quoquo modo sunt et non s unt quod deus est a quo facta sunt, praeponuntur viventia non viventibus, sicut ea, quae habent vim gignendi vel etiam appetendi, his, quae isto motu carent; et in his, quae vivunt, praeponuntur sentientia non sentientibus, sicut arboribus animalia; et in his, quae sentiunt, praeponuntur intellegentia non intellegentibus, sicut homines pecoribus; et in his, quae intellegunt, praeponuntur immortalia mortalibus, sicut angeli hominibus; S. 43.4: Habemus ergo, ut cuncta breviter retexamus, ipsum esse cum lignis et lapidibus, vivere cum arboribus, sentire cum bestiis, intellegere cum angelis. 99 Vgl. Aug.Trin. 8. 4: Neq ue enim in his o mnibus bonis vel quae commemoravi vel quae alia cer nuntur sive cogit antur diceremus aliud alio melius cum vere iudicamus nisi esset nobis impressa notio ipsius boni secundum q uod et probaremus aliquid et aliud alii prae‐ ponerem us. 100 Aug.Lib.arb. 2.50: Virtutes igitur quibus recte vivitur magna bona sunt; species autem quorumlibet corporum, sine quibus recte vivi potest, minima bona sunt; potentiae vero animi, sine quibus recte vivi non potest, media bona sunt. Virtutibus nemo male utitur; ceteris autem bonis, id est mediis et minimis, non solum bene s ed etiam male quisque uti potest. Et ideo virtute nemo male utitur quia opus virtutis est bonus usus istorum quibus etiam non bene uti possumus. Tiere, Menschen und Engel jeweils ihre eigene spezifische Form der Partizipa‐ tion am summum bonum. 98 Das Gute selbst dient auch als eine Art Standard im menschlichen Geist, mit dessen Hilfe wir ein bestimmtes Gut prüfen und das eine einem anderen vorziehen. 99 Folglich resultiert das Vermögen des Menschen, richtige moralische Urteile fällen zu können, aus seiner Teilhabe am Guten selbst. Gebraucht man dieses Vermögen richtig, erkennt man Augustinus zu‐ folge, dass es drei Stufen von Gütern gibt. Diese bestimmt er in der Schrift De libero arbitrio wie folgt: Die Tugenden, durch die man rechtschaffen lebt, sind also große Güter, aber die Ge‐ stalten irgendwelcher Körper, ohne die man durchaus rechtschaffen leben kann, sind die kleinsten Güter. Die Vermögen des Geistes jedoch, ohne die man nicht recht‐ schaffen leben kann, sind mittlere Güter. Die Tugenden gebraucht niemand schlecht. Aber die übrigen Güter, also die mittleren und die kleinsten, kann man nicht nur gut, sondern auch schlecht gebrauchen. Und deshalb gebraucht niemand die Tugend schlecht, weil das Werk der Tugend im guten Gebrauch jener Dinge besteht, die wir auch schlecht gebrauchen können. 100 (Übers. Brachtendorf) Sowohl die Tugenden (maxima bona) als auch die Vermögen des Geistes (media bona) und die körperlichen Güter (minima bona) sind Augustinus zufolge echte 298 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 101 Vgl. Aug.Lib.arb. 2.51 f. 102 Vgl. Aug.Lib.arb. 2.50: Virtutibus nemo male utitur; ceteris autem bonis, id est mediis et minimis, non solum bene sed etiam male quisque uti potest. Et ideo virtute nemo male utitur quia opus virtutis est bonus usus istorum quibus etiam non bene uti possumus. 103 Vgl. Aug.Lib.arb. 2. 51: Quo modo omnia, quae ad scientiam cognoscimus, ratione cognos‐ cimus, et tamen etiam ipsa ratio inter illa numeratur quae ratione cognoscimus. 104 Vgl. ebd.: Noli ergo mirari, si ceteris per liberam voluntatem utimur, etiam ipsa libera voluntate per eam ipsam uti nos posse, ut quodam modo se ipsa utatur voluntas quae utitur ceteris […]. 105 Vgl. ebd.: Nam et memoria non solum cetera omnia quae meminimus comprehendit, sed etiam quod non obliviscimur nos habere memoriam, ipsa se memoria quodam modo tenet in nobis, quae non solum aliorum sed etiam sui meminit; vel potius nos et cetera et ipsam per ipsam meminimus. 106 Vgl. Aug.Lib.arb. 2. 53: Voluntas ergo adhaerens communi atque incommutabili bono im‐ petrat prima et magna hominis bona, cum ipsa sit medium quoddam bonum. 107 Vgl. ebd.: Voluntas autem aversa ab incommutabili et communi bono et conversa ad prop‐ rium bonum aut ad exterius aut ad inferius, peccat. Ad proprium convertitur, cum suae potestatis vult esse, ad exterius, cum aliorum propria vel quaecumque ad se non pertinent cognoscere studet, ad inferius cum voluptatem corporis diligit. Atque ita homo superbus et Güter. Sie stehen jedoch in der Hierarchie des ordo auf unterschiedlichen Stufen. Die Güter des Körpers und des Geistes können sowohl richtig als auch falsch gebraucht werden. Bei der Tugend ist es anders; sie kann nur richtig gebraucht werden, da sie für den richtigen Gebrauch der anderen beiden Güterklassen zuständig ist. Für das rechtschaffene - d. h. tugendhafte - Leben sind die Güter des Körpers nicht notwendig; die der Seele dagegen schon. Unter den Gütern der Seele versteht Augustinus die Vernunft, das Gedächtnis und den Willen. 101 Sie sind insofern für das rechtschaffene Leben notwendig, als sie unauflöslich mit der Tätigkeit der Tugend verbunden sind. Der Grund hierfür liegt im refle‐ xiven Charakter der Tugend wie der Güter der Seele. So ist die Tugend eine Eigenschaft der Seele, welche deren Vermögen steuert. 102 Genauso zählt die Ver‐ nunft zu den Dingen, welche wir durch die Vernunft kennen, 103 und gebraucht sich der Wille, der auch andere Dinge gebraucht, selbst, 104 und auch das Ge‐ dächtnis, durch welches wir uns an Vergangenes erinnern, umfasst sich selbst. 105 Diese reflexive Struktur der menschlichen Seele und ihrer Vermögen, welche für den rechten Gebrauch dieser Vermögen sorgt, macht die media bona not‐ wendig für den Erwerb der Tugenden - der maxima bona. Durch die media bona ist es dem Menschen möglich, dem unveränderlichen summum bonum anzu‐ hängen und die großen Güter - d. h. die Tugenden - zu erlangen. 106 Zugleich läuft man jedoch Gefahr, durch den falschen Gebrauch der media bona zu sün‐ digen und ein schlechter und unglücklicher Mensch zu werden, indem man sich den niederen, veränderlichen und äußeren Gütern zuwendet. 107 Die niederen, 299 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik curiosus et lascivus effectus excipitur ab alia vita, quae in comparatione superioris vitae mors est. 108 Aug.Lib.arb. 1. 32: Ea [sc. temporalia bona] sunt autem primo hoc corpus et eius quae vocantur bona, ut integra valitudo, acumen sensuum, vires, pulchritudo et si qua sunt cetera, partim necessaria bonis artibus et ideo pluris pensanda, partim viliora; deinde li‐ bertas […] qua se liberos putant qui dominos homines non habent et quam desiderant hi qui a dominis hominibus manumitti volunt; deinde parentes, fratres, coniunx, liberi, pro‐ pinqui, adfines, familiares et quicumque nobis aliqua necessitudine adiuncti sunt; ipsa denique civitas, quae parentis loco haberi solet, honores etiam et laus et ea quae dicitur gloria popularis; ad extremum pecunia, quo uno nomine continentur omnia quorum iure domini sumus et quorum vendendorum aut donandorum habere potestatem videmur. 109 Vgl. Clair (2016), 14 f. äußeren und veränderlichen Güter werden an anderer Stelle auch als zeitliche Güter (temporalia bona) bezeichnet: Das [sc. die zeitlichen Güter] sind aber zunächst dieser Leib und seine sogenannten Güter, wie etwa unversehrte Gesundheit, Schärfe der Sinne, Kräfte, Schönheit, und manches andere, das teils für nützliche Künste notwendig und daher höher zu schätzen, teils geringer ist. Dann die Freiheit […], durch die sich solche für frei halten, die keine Menschen als Herren haben und nach der sich diejenigen sehnen, die von menschlichen Herren freigelassen werden wollen. Sodann Eltern, Brüder, Ehegatte, Kinder, Verwandte, Verschwägerte, Hausgenossen und alle, die uns durch eine Not‐ wendigkeit verbunden sind. Und schließlich der Staat selbst, der an die Stelle der Eltern zu treten pflegt, auch Ehren und Lob und was man öffentlichen Ruhm nennt. Zuletzt das Vermögen, worunter all das enthalten ist, dessen wir rechtmäßig Herr sind und das zu verkaufen oder zu verschenken wir die Macht haben. 108 (Übers. Brachtendorf) Zu den zeitlichen Gütern gehören nach dieser Passage sowohl die Güter des Körpers wie körperliche Unversehrtheit, Schönheit oder Körperkraft als auch äußere Güter wie unsere äußere Handlungsfreiheit, Familie und Angehörige, Ehrenämter, Ansehen und Ruhm sowie Besitz. Diese Dinge wurden von den Stoikern allesamt zu den sog. ‚indifferenten Dingen‘ - genauer gesagt zu den ‚vorzuziehenden Dingen‘ - gezählt, während Augustinus sie für echte Güter hält, wobei jedoch ihre genaue Rolle für die Glückseligkeit des Menschen in De libero arbitrio im Unklaren bleibt. 109 In Epistula 140 verrät Augustinus etwas mehr über die Rolle der minima bona für die Glückseligkeit des Menschen: Dem Menschen wohnt eine vernünftige Seele inne; es ist jedoch wichtig, wohin er durch den Willen den Gebrauch derselben Vernunft richtet: ob auf Güter einer äußeren und niederen Natur oder auf Güter einer inneren und höheren Natur, d. h. ob da‐ raufhin, dass er den Körper und die Zeit genießt oder dass er das Göttliche und die Ewigkeit genießt. Die Seele befindet sich in einer gewissen Mittelstellung, indem sie 300 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 110 Aug.Ep. 140.3 f: Inest quippe homini anima rationalis, sed interest eiusdem rationis usum quonam potius voluntate convertat; utrum ad bona exterioris et inferioris, an ad bona interioris superiorisque naturae; id est, utrum ut fruatur corpore et tempore, an ut fruatur divinitate atque aeternitate. In quadam quippe medietate posita est, infra se habens cor‐ poralem creaturam, supra se autem sui et corporis creatorem. Potest igitur anima rationalis etiam temporali et corporali felicitate bene uti, si non se dederit creaturae, creatore neglecto, sed eam potius felicitatem fecerit servire creatori, qui et ipsam suae bonitatis abundantis‐ sima largitate donavit. Sicut enim bona sunt omnia quae creavit deus, ab ipsa rationali creatura usque ad infimum corpus: ita bene agit in his anima rationalis, si ordinem servet, et distinguendo, eligendo, pendendo subdat minora maioribus, corporalia spiritalibus, in‐ feriora superioribus, temporalia sempiternis. 111 Vgl. Clair (2016), 16 f. 112 Vgl. Aug.S. 61. 3: Est ergo bonum, quod faciat bonum: et est bonum, unde facias bonum. […] Hoc est bonum, hoc est bonum unde bonus es, iustitia. Si habes bonum unde sis bonus; fac bonum de bono unde non es bonus. Habes pecuniam, eroga. Erogando pecuniam, auges iustitiam; S. 105A.2: Itane non erubescis si bona vis habere et malus esse? Habes multa bona: aurum, argentum, gemmas, praedia, familias, armenta, greges. Erubesce bonis tuis. das körperliche Geschöpf unter sich hat, über sich aber ihren und ihres Körpers Schöpfer. Die vernünftige Seele kann also auch das zeitliche und körperliche Glück gut gebrauchen, wenn sie sich nicht unter Vernächlässigung des Schöpfers dem Ge‐ schöpf hingibt, sondern vielmehr den Dienst am Schöpfer zu diesem Glück macht, der auch dieses selbst in der überfließendsten Freigiebigkeit seiner Gutheit geschenkt hat. So wie nämlich alles, was Gott geschaffen hat, gut ist - vom vernünftigen Geschöpf selbst bis zum niedrigsten Körper -, so handelt darin die vernünftige Seele gut, wenn sie die Ordnung bewahrt und durch Unterscheidung, Auswahl und Gewichtung das Kleinere dem Größeren unterordnet, das Köperliche dem Geistigen, das Niedrigere dem Höheren und das Zeitliche dem Ewigen. 110 Die Seele und ihre Vermögen (media bona) stehen auch hier in der Mitte zwi‐ schen den niedrigeren und äußeren und den höheren und inneren Gütern, und der Mensch handelt richtig, wenn er die verschiedenen Güter unterscheidet und gewichtet und schließlich die besseren wählt. Den minima bona bzw. den bona exterioris et inferioris naturae kommt in dieser Passage zudem eine konstitutive Rolle für das glückliche Leben - zumindest für die felicitas temporalis - zu, selbst wenn sie nicht in einem strengen Sinne notwendig für ein rechtschaffenes Leben sind. Augstinus sagt nämlich, dass der Erwerb der niedrigeren körperlichen und äußeren Güter zu einer eigenen Form des zeitlichen Glücks (felicitas tempo‐ ralis) führe, welche selbst jedoch wiederum gut gebraucht werden müsse, indem man dem Schöpfer diene, der sie dem Menschen in seiner überfließenden Frei‐ giebigkeit geschenkt habe. 111 Dies ist die Funktion der Tugenden. Sie machen - als innere und höhere Güter - die niederen und äußeren Güter gut, indem sie deren richtigen Gebrauch durch den Akteur garantieren. 112 Folglich ist auch die 301 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik Esto et tu bonus. Quid enim te infelicius si bona sit villa tua, tunica tua, ovis tua, postremo gallica tua, et mala erit anima tua? Discite ergo petere bonum, ut ita dicam, bonificum, id est: bonum quod faciat bonos. Si habetis bona quibus utuntur boni, petite bonum unde sitis boni. Bona voluntas vos facit bonos. 113 Vgl. Aug.Ep. 130. 14: Quamquam fortasse corpus, animus vero nullo modo sanus existi‐ mandus est, qui non temporalibus aeterna praeponit; neque enim in tempore utiliter vivitur, nisi ad comparandum meritum quo in aeternitate vivatur. Ad illam ergo unam vitam, qua cum deo et de deo vivitur, cetera quae utiliter et decenter optantur, sine dubio referenda sunt. 114 Vgl. Aug.Doctr.c h r . 1. 20: In his igitur omnibus rebus illae tantum sunt quibus fruendum est, quas aeternas atque incommut abiles commemoravimus; ceteris autem utendum est ut a d illarum perfruitionem pervenire possimus. Nos itaque qui fruimur et utimur aliis rebus, res aliquae sumus. Magna enim quaedam res est homo, fac tus ad imaginem et similitu‐ dinem dei, non in quantum mortali corpore includitur, sed in quantum bestias rationalis animae honore praecedit. Itaque magna quaestio est, utrum frui se homines debeant an uti an utrumque. Praeceptum est enim nobis ut diligamus invicem, sed quaeritur, utrum propter se homo ab homine diligendus sit an propter aliud. Si enim propter se, fruimur eo; si propter aliud, utimur eo. Videtur autem mihi propter aliud diligendus. Quod enim propter se diligendum est, in eo constituitur beata vita, cuius etiamsi nondum res, tamen spes eius nos hoc tempore consolatur. Maledictus autem qui spem suam ponit in homine; 1.39 f: Omnium igitur quae dicta sunt, ex quo de rebus tractamus, haec summa est, ut intellegatur legis et omnium divinarum scripturarum plenitudo et finis esse dilectio rei qua fruendum est, et rei quae nobiscum ea re frui potest, quia ut se quisque diligat praecepto non opus est. Hoc ergo ut nossemus atque possemus, facta est tota pro nostra salute per divinam providentiam dispensatio temporalis qua debemus uti, non quasi mansoria quadam di‐ (1) (2) Abwendung der Seele weg von den minima bona und ihre Hinwendung zu den maxima bona nicht als ein Zurückweisen der minima bona zu verstehen. Viel‐ mehr besitzen die minima bona als echte Güter weiterhin ihren Eigenwert und bilden einen konstitutiven Bestandteil des glücklichen Lebens. Erst durch die Hinwendung zu und das Anhangen an der Quelle der Gutheit dieser Güter er‐ lernt der Mensch ihren richtigen Gebrauch, indem er die Tugenden ausbildet. Das Anhangen am summum bonum stärkt die Fähigkeit des Menschen, die ver‐ schiedenen Güter zu unterscheiden und sie den richtigen Güterklassen zuzu‐ ordnen. Damit ergeben sich aus der Axiologie Augustins zwei grundlegende Prinzipien für seine Ethik: Die höheren, ewigen Güter sind den niedrigen, zeitlichen vorzuziehen (praeponere). Die niedrigen, zeitlichen Güter sind auf das summum bonum - Gott - zu beziehen (referre). 113 Entsprechend dieser beiden Prinzipien führte Augustinus auch die Unterschei‐ dung von ‚Gebrauchen‘ (uti) und ‚Genießen‘ (frui) für den Umgang mit zeitlichen und ewigen Gütern ein, 114 welche sich stoischer Inspiration verdankt. 115 Uti 302 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus lectione et delectatione, sed transitoria potius tamquam viae, tamquam vehiculorum vel aliorum quorumlibet instrumentorum, aut si quid congruentius dici potest; ut ea quibus ferimur propter illud ad quod ferimur diligamus; zu Augustins Unterscheidung von uti und frui siehe auch: Pfligersdorffer (1971); O’Donovan (1982); Brachtendorf (2001; 2012a, 123 f). 115 Vgl. Cic.Off. 1. 2 5 : Expetuntur autem divitiae cum ad usus vitae necessarios, tum ad perfruendas voluptates; Sen.Dial. 7. 10. 3: Tu voluptate frueris, ego utor: tu illam summum bonum putas, ego nec bonum; tu omnia voluptatis causa facis, ego nihil; zum stoischen Ursprung der Unterscheidung siehe auch: Holte (1962), 201 f, der unter Verweis auf Aug.Div.qu. 30: Ut inter honestum et utile interest, ita et inter fruendum et utendum dafür argumentiert, dass die Unterscheidung von uti und frui auf der stoischen Unterschei‐ dung von utile und honestum beruhe (vgl. Aug.Div.qu. 30: […] honestum dicitur quod propter se ipsum expetendum est, utile autem quod ad aliud aliquid referendum est […]. […] Frui ergo dicimur ea re de qua capimus voluptatem; utimur ea quam referimus ad id unde capienda voluptas est.); siehe dazu auch: Rist (1994), 162 Anm. 24; kritisch: O’Do‐ novan (1982); für Varro als Ursprung der Unterscheidung von uti und frui plädiert: Loren z (1952/ 1953). 116 Vgl. Aug.Doctr.c h r . 1. 4: Frui est enim amore inhaerere alicui rei propter se ipsam. Uti autem, quod in usum venerit, ad i d, quod amas obtinendum referre. 117 Vgl. Aug.Trin. 10. 13: Fruimur enim cognitis in quibus voluntas ipsis propter se ipsa de‐ lectata conquiescit, utimur vero eis quae ad aliud referimus quo fruendum est; Civ. 11.25: Temporalibus magis utendum est quam fruendum ut frui mereamur aeternis. 118 Vgl. Aug.Trin. 1 0 . 17: Uti est enim assumere aliquid in facultatem voluntatis; frui est autem uti cum gaudio non adhuc spe i, sed iam rei. Proinde omnis qui fruitur utitur. Ass umit enim aliquid in facultatem voluntatis cum fine delectationis. Non autem omnis qui utitur fruitur, si id quod in facultatem voluntatis assumit non propter illud ipsum sed propter aliud appetivit. bezeichnet dabei den Gebrauch der niedrigen und mittleren Güter um des summum bonum willen, während frui den Genuss des summum bonum - d. h. den Genuss Gottes - um seiner selbst willen bezeichnet. 116 Das zu Genießende macht uns selbst glücklich, während das zu Gebrauchende uns als Hilfsmittel dient, um zur Glückseligkeit zu gelangen, worauf alle zu gebrauchenden Dinge zu beziehen sind. 117 Auch an diesen Überlegungen zur Unterscheidung von uti und frui wird deutlich, dass die fruitio dei keineswegs eine Entrückung über die Bedingungen kreatürlicher Endlichkeit meint und zu innerweltlicher Askese führt, sondern dass der Genuss des ewigen Guts - das aufgrund seines intrin‐ sischen Werts nur um seiner selbst willen, und nicht um einer anderen Sache willen erstrebt wird - vielmehr als regulativer Maßstab für den Gebrauch der zeitlichen Dinge dieser Welt dient. 118 Augustinus spricht also den außermorali‐ schen Gütern einen intrinsischen Wert zu, den sie jedoch nur besitzen, insofern sie durch die Tugend richtig gebraucht werden. Er folgt damit der Interpretation vom intrinischen Wert der stoischen ἀδιάφορα, welche, wie oben dargelegt, der stoischen Theorie nicht gerecht wird und die außermoralischen Güter i.S. der 303 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik 119 Siehe dazu: Irwin (2012). 120 Vgl. Aug.Civ. 19 . 3 : Proinde summum bonum hominis, quo fit beatus, ex utriusque rei bonis constare dicit, et animae scilic et et corporis. Ac per hoc prima illa naturae propter se ipsa existimat expetenda ipsamque virtutem, quam doctrina inserit velut artem vivendi, quae in animae bonis est excellentissimum bonum. Quapropter eadem virtus, id est ars agendae vitae, cum acceperit prima naturae, quae sine illa erant, sed tamen erant etiam quando eis doctrina adhuc deerat, omnia propter se ipsa appetit simulque etiam se ipsam, omnibusque simul et se ipsa utitur, eo fine, ut omnibus delectetur atque perfruatur, magis minusque, ut quaeque inter se maiora atque minora sunt, tamen omnibus gaudens et quaedam minora, si necessitas postulat, propter maiora vel adipiscenda vel tenenda con‐ temnens. Omnium autem bonorum vel animi vel corporis nihil sibi virtus omnino prae‐ ponit. […] Bene autem currere, pulchrum esse corpore, viribus ingentibus praevalere et cetera huius modi talia sunt, ut et virtus sine his esse possit et ipsa sine virtute; bona sunt tamen, et secundum istos etiam ipsa propter se ipsa diligit virtus, utiturque illis et fruitur, sicut virtutem decet; siehe dazu auch: Blank (2012), 253-262. 121 Aug.Civ. 15. 22: […] definitio brevis et vera virtutis ordo est amoris; siehe auch: Aug.Ep. 155. 13: Quamquam et in hac vita virtus non est, nisi diligere quod diligendum est. 122 Vgl. Aug.Div.qu. 30: […] omnis ordinatio [sc. est], quae virtus etiam nominatur, fruendis frui et utendis uti. antiocheisch-peripatetischen Güterlehre 119 als echte Güter betrachtet. 120 Indem die außermoralischen Güter durch die Tugend richtig gebraucht und auf dass summum bonum - Gott - ausgerichtet werden müssen, stellt Augustinus sicher, dass der Wert der verschiedenen zu gebrauchenden Dinge nicht mit dem Genuss Gottes konfligieren kann, insofern ihre Gutheit von ihrem richtigen Gebrauch um des summum bonum willen abhängt. Nichtsdestotrotz sind für ihn auch die zu gebrauchenden Dinge echte Güter - wenn auch nur minima bona - von intrinsischem Wert und bilden einen Bestandteil des glücklichen Lebens - zu‐ mindest einer Form des zeitlichen Glücks (felicitas temporalis), welches man freilich wiederum gut gebrauchen muss, um zum ewigen Glück zu gelangen. Die zu gebrauchenden Dinge bilden also für Augustinus, insofern richtig mit ihnen umgegangen wird, einen konstitutiven Bestandteil der Glückseligkeit. Im Idealfall richten nun die Menschen ihre Liebe und ihr Streben an diesem objektiv bestehenden ordo bonorum aus, so dass ihre subjektive Strebensord‐ nung - der ordo amoris - mit der objektiven Seins- und Güterordnung - dem ordo bonorum - übereinstimmt. Gott wird dann über alles geliebt - er wird allein um seiner selbst willen genossen (fruitio dei). Hierin besteht der Weg zur Glück‐ seligkeit. Hat sich der Mensch diese richtige Wertschätzung der Güter habituell angeeignet, spricht Augustinus in Bezug auf den korrekten ordo amoris auch von der Tugend: „Die kurze und wahre Definition der Tugend ist der ordo amoris.“ 121 Die Tugend leitet damit den richtigen Gebrauch der anderen Güter an. 122 Allerdings ist es in aller Regel so, dass die Menschen die objektiv niedrig‐ eren, zeitlichen Güter zu sehr lieben und diese um ihrer selbst - und nicht um 304 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 123 Augustinus dürfte die stoische οἰκείωσις-Lehre über folgende Werke gekannt haben: Cic.Fin. 3.16-22 (bzw. in der Version des Antiochos von Askalon: Fin. 4.16-19 und 25-39 sowie 5.16-21, 24-36 und 65-69; Ac. 1.22 f; Gell. 12. 5. 7 = SVF 3.181); Sen.Ep. 121 sowie aus Varros Schrift De philosophia und dem heute verlorenen Teil aus Cic.Fat.; zur Re‐ zeption der stoischen οἰκείωσις-Lehre bei Augustinus siehe: Hultgren (1939), 237-261; Zepf (1959); Holte (1962), 239; Hadot (1968), 292 Anm. 1; O’Donovan (1980), 48-56; Byers (2016); Clair (2016), 39-47. Die stoische Lehre kann freilich auch über Vermittlung durch die peripatetisch-akademische Adaption der Lehre durch Antiochos von Askalon, wie sie sich in Ciceros De finibus V findet und vermutlich auch in Varros De philosophia zu finden war, auf Augustinus gelangt sein; zu Varro und Antiochos siehe: Blank (2012). Die Tatsache, dass ein Gedanke seinen Ursprung in der stoischen Philosophie hat, dürfte hinreichend dafür sein, ihn als stoisch zu bezeichnen - unabhängig davon, ob der Autor, bei dem sich der Gedanke findet, sich dessen auch bewusst war. 124 Aug.Civ. 19. 4: Cum dicant [sc. Stoici et Peripatetici], et verum dicant, hanc esse naturae primam quodam modo et maximam vocem, ut homo concilietur sibi et propterea mortem naturaliter fugiat, ita sibi amicus, ut esse se animal et in hac coniunctione corporis atque animae vivere velit vehementer atque appetat. 125 Es ist umstritten, ob die οἰκείωσις-Lehre stoischen oder peripatetischen Ursprungs ist. Wie oben (S. 120 Anm. 154) dargelegt wurde, findet sich der erste bezeugte Beleg des Gottes willen - erstreben. In ihrem ungeordneten - da dem ordo bonorum wi‐ dersprechenden - Streben (cupiditas) genießen sie die zeitlichen Güter, statt sie nur zu gebrauchen. Aufgrund der Abhängigkeit dieser niederen Güter von den Wechselfällen des Schicksals droht stets der Verlust dieser Güter, was ein glück‐ liches Leben unmöglich macht. Woher rührt jedoch diese schlechte Motivation und die Neigung der Menschen, die niederen Güter allzu sehr zu schätzen und zu lieben? Eine Antwort auf diese Frage findet sich in Augustins Rezeption der stoischen οἰκείωσις-Lehre. IV.2. 4 Augustins Rezeption der stoischen οἰκείωσις-Lehre Im Hintergrund der Problematik der Vorliebe der Menschen für die niedrigen Güter und der daraus resultierenden irrigen Motivation steht die augustinische Rezeption der stoischen οἰκείωσις-Lehre. 123 Diese diskutiert Augustinus zustim‐ mend in Buch XIX seiner Schrift De civitate dei: Da sie [sc. die Stoiker und Peripatetiker] ja sagen - und sie sagen die Wahrheit -, dass dies in gewisser Weise die erste und lauteste Stimme der Natur sei, dass der Mensch auf sich bezogen sei (homo concilietur sibi) und deswegen den Tod natürlicherweise fliehe, und er sich so ein Freund sei, dass er es heftig wolle und begehre, ein Lebewesen zu sein und in dieser Verbindung von Körper und Seele zu leben. 124 Augustinus billigt in diesem Passus explizit die stoische bzw. peripatetische οἰκείωσις-Lehre 125 und verwendet auch das für diese Lehre charakteristische 305 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik Verbalsubstantivs οἰκείωσις in einem Fragment des Peripatetikers Theophrast. Den‐ noch herrscht in der Forschung weitgehender Konsens, dass der Ursprung der οἰκείωσις-Lehre in der stoischen Philosophie zu suchen ist. Zur Mehrheitsposition siehe die auf S. 120 Anm. 152 angeführten Arbeiten zur stoischen οἰκείωσις-Lehre; für die Minderheitsposition, die den peripatetischen Ursprung der οἰκείωσις-Lehre vertritt, siehe: von Arnim (1926), 137 und 157-161; eine kritische Auseinandersetzung mit von Arnims Thesen bietet: Pohlenz (1940), 1-81, der der Ansicht ist, dass die Präsentation der οἰκείωσις-Lehre bei Areios Didymos eine Integration der ursprünglich stoischen Lehre mit der peripatetischen Version des Eklektikers Antiochos von Askalon darstellt. Zu Unterschieden zwischen der stoischen und peripatetischen Version der οἰκείωσις-Lehre siehe: Inwood (1983). 126 Zur Verwendung von conciliari im Kontext der οἰκείωσις-Lehre bei Augustinus siehe auch: Aug.c.Faust. 21. 5: Verumtamen attendite, et date mihi unum quamlibet abiectis‐ simum animal, cuius anima oderit carnem suam, ac non potius nutriat et foveat eam, motuque vitali vegetet et regat, et quodam modo administret pro sui generis exiguitate quoddam universum suum, ad incolumitatem tuendam sibi conciliatum; 21. 7: videte quemadmodum in omne animal sibi ad salutem conciliatum pertendat naturae ista com‐ munio, ut diligat carnem suam; Trin. 14. 18: Cum morbus ille corporis fuerit, cur dixit errorem nisi quia omne animal cum sibi natura conciliatum sit ut se custodiat quantum potest, talis ille erat morbus ut ea quorum salutem appetebant sua membra laniarent? 127 Zu der Wendung amicus sibi in der Antike siehe: Gantar (1976). Vokabular (homo sibi concilietur). 126 Der Mensch besitze zum einen den Selbst‐ erhaltungstrieb (mortem naturaliter fugiat); zum anderen strebe er jedoch auch danach, ein Lebewesen zu sein und in der Verbindung von Körper und Seele zu leben (esse se animal et in hac coniunctione corporis atque animae vivere velit vehementer atque appetat), weil er sich selbst ein Freund sei 127 . Das erste Streben nach Selbsterhaltung war uns im Kontext der Stoa vor allem bei Tieren und noch nicht rationalen Menschen, aber auch noch bei späteren vernünftigen Erwach‐ senen begegnet. Spuren dieser stoischen Lehre finden sich auch in Epistula 140: Es gibt ein gewisses Leben des Menschen verwickelt in die fleischlichen Sinne, den fleischlichen Freuden hingegeben, die fleischliche Unlust fliehend und die fleischliche Lust verfolgend. Das Glück dieses Lebens ist zeitlich: Von diesem Leben aus zu be‐ ginnen, ist Sache der Notwendigkeit, in ihm zu verharren, ist Sache des Willens. In diesem freilich wird das Kind aus dem Mutterleib hervorgebracht, und flieht - so viel es vermag - dessen Verdruß und erstrebt dessen Lust; nichts mehr vermag es. Aber nachdem es in das Alter gekommen ist, zu dem in diesem der Gebrauch der Vernunft erwacht, wird es durch göttliche Unterstützung des Willens ein anderes Leben wählen können, dessen Freude im Verstand, dessen Glück innerlich und ewig ist. Dem Men‐ schen wohnt eine vernünftige Seele inne; es ist jedoch wichtig, wohin er durch den Willen den Gebrauch derselben Vernunft richtet: ob auf Güter einer äußeren und nie‐ deren Natur oder auf Güter einer inneren und höheren Natur, d. h. ob daraufhin, dass er den Körper und die Zeit genießt oder dass er das Göttliche und die Ewigkeit genießt. 306 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 128 Aug.Ep. 140. 3: Est quaedam vita hominis carnalibus sensibus implicata, gaudiis carna‐ libus dedita, carnalem fugitans offensionem, voluptatemque consectans. Huius vitae feli‐ citas temporalis est: ab hac vita incipere necessitatis est, in ea persistere voluntatis. In hac quippe ex utero matris infans funditur, huius offensiones quantum potest refugit, huius appetit voluptates; nihil amplius valet. Sed posteaquam venerit in aetatem qua in eo ra‐ tionis usus evigilet, poterit adiuta divinitus voluntate eligere alteram vitam, cuius in mente gaudium est, cuius interna atque aeterna felicitas. Inest quippe homini anima rationalis, sed interest eiusdem rationis usum quonam potius voluntate convertat; utrum ad bona exterioris et inferioris, an ad bona interioris superiorisque naturae; id est, utrum ut fruatur corpore et tempore, an ut fruatur divinitate atque aeternitate. In quadam quippe medietate posita est, infra se habens corporalem creaturam, supra se autem sui et corporis crea‐ torem; siehe dazu auch: Aug.c.Faust. 21. 14: […] unumquodque tamen animal suam sa‐ lutem, incolumitatem, naturamque tuebatur; En.Ps. 99. 5: […] inesse omnibus animantibus ad appetendam voluptatem fugiendamque molestiam, ad conservandam incolumitatem suam vestigium quoddam unitatis; Doctr.chr. 1. 26: Modus ergo diligendi praecipiendus est homini, id est quomodo se diligat ut prosit sibi quin autem se diligat et prodesse sibi velit, dubitare dementis est praecipiendum etiam quomodo corpus suum diligat, ut ei or‐ dinate prudenterque consulat. Nam quod diligat etiam corpus suum idque salvum habere atque integrum velit, aeque manifestum est. 129 Vgl. Aug.Lib.arb. 1. 3 5: Quae [sc. temporalia bona] quamquam in ordine suo recte locata sint et suam quandam pulchritudinem peragant, perversi tamen animi est et inordinati eis sequendis subici quibus ad nutum suum ducendis potius divino ordine ac iure praelatus est; An.quant. 71: Atque in iis omnibus ea quae secundum naturam sui corporis sunt, adsciscit atque appetit; reiicit fugitque contraria. 130 Vgl. Aug.c.Faust. 21.5: Verumtamen attendite, et date mihi unum quamlibet abiectissimum animal, cuius anima oderit carnem suam, ac non potius nutriat et foveat eam, motuque vitali vegetet et regat, et quodam modo administret pro sui generis exiguitate quoddam universum suum, ad incolumitatem tuendam sibi conciliatum. […] Postremo vos ipsi, quamvi s carnali errore carnem detestemini, non potestis nisi diligere carnem vestram, eiusque saluti et incolumitati consulere, omnes ictus, et casus, et intemperiem qua laeditur devitare, munimenta vero et salubritatem qua conservatur appetere: ita ostenditis prae‐ Die Seele befindet sich in einer gewissen Mittelstellung, indem sie das körperliche Geschöpf unter sich hat, über sich aber ihren und ihres Körpers Schöpfer. 128 Entsprechend der stoischen οἰκείωσις-Lehre geht auch Augustinus davon aus, dass der Mensch zunächst notwendigerweise (ab hac vita incipere necessitatis est) von Geburt an (ex utero matris) danach strebt, Unlust zu vermeiden (car‐ nalem fugitans offensionem bzw. offensiones […] refugit) und Lust zu erlangen (carnalem […] voluptatem […] consectans bzw. appetit voluptates). Dies vollzieht sich im Erstreben der fleischlichen Güter und Freuden (gaudiis carnalibus) - d. h. den Dingen, wonach Sinnenwesen mit ihren körperlichen Sinnen (carnalibus sensibus) streben - und des zeitlichen Glücks (felicitas temporalis). Diese Güter besitzen eine eigene Attraktivität, so dass sie vom Menschen erstrebt werden. 129 Der Mensch versucht seine leibliche Unversehrtheit (incolumitas) zu bewahren, indem er Schläge und Stürze vermeidet. 130 In diesem Entwicklungsstadium ist 307 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik valere naturae legem contra erroris v estri opinionem; Conf. 1.31: […] custodiebam interiore sensu integritatem sensuum meorum […]; Lib.arb. 3.69: Unde luce clarius apparet quam sit illa anima in sui corporis universitate avida unitatis et tenax quae nec libenter nec indifferenter sed potius renitenter et relu ctanter i ntenditur in eam passionem corporis sui qua eius unitatem atque integritatem labefactari moleste accipit; Doctr.chr. 1.25: Tamen nec isti qui falsa opinione depravati corpora sua detestantur, parati essent unum oculum vel sine sensu doloris amittere, etiamsi in altero tantus cernendi sensus remaneret, quantus erat in duobus, nisi aliqua res quae praeponenda esset urgeret; siehe dazu auch: Cic.Fin. 3.51 und 3.56 sowie D. L. 7.109, wo die Unversehrtheit und Funktionsfähigkeit der Sin‐ nesorgane zu den προηγμένα gezäht werden. 131 Vgl. Aug.Conf. 1. 31: Falli nolebam, memoria vigebam, locutione instruebar, amicitia mul‐ cebar, fugiebam dolorem, abiectionem, ignorantiam. 132 Vgl. Cic.Fin. 3.17 f: […] eas [sc. rerum cognitiones] igitur ipsas propter se adsciscendas arbitramur, quod habeant quiddam in se quasi complexum et continens veritatem. Id autem in parvis intellegi potest, quos delectari videamus, etiamsi eorum nihil intersit, si quid ratione per se ipsi invenerint. […] A falsa autem adsensione magis nos alienatos esse quam a ceteris rebus quae sint contra naturam arbitrantur; siehe dazu auch die Überlegungen zum stoischen Tugendverständnis auf S. 145-151 und 187-189. 133 Siehe dazu auch: A ug. Doctr.chr. 1. 22: Fugax enim animus ab incommutabili lumine omnium regnatore i d agit, ut ipse sibi regnet et corpori suo, et ideo non potest nisi et se et corpus suum diligere. es notwendig, dass der Mensch nach diesen Dingen strebt; er kann nicht anders (nihil amplius valet). Mit fortschreitendem Alter ändert sich dies jedoch. Das Erwachen der Ver‐ nunft (venerit in aetatem qua in eo rationis usus evigilet) stellt eine Zäsur dar, und es wird dem Menschen - mit göttlicher Hilfe (adiuta divinitus voluntate) - mög‐ lich, ein anderes Leben zu wählen (poterit […] eligere alteram vitam). Der Le‐ bensstil wird jetzt zu einer Willensentscheidung. Die fleischlichen Güter bzw. Übel (gaudiis carnalibus bzw. carnalem […] offensionem voluptatemque) verlieren ihre zentrale Bedeutung für den Menschen und werden zu äußeren und niederen Gütern (bona exterioris et inferioris […] naturae). Andere höhere und innere Güter (bona interioris superiorisque naturae) zeigen sich dem Menschen und versprechen ein inneres und ewiges Glück (interna atque aeterna felicitas). Die Freude, zu der der Mensch fähig ist, ist nicht mehr nur eine körperliche, sondern auch eine geistige (in mente gaudium). Er strebt nach Wahrheit und versucht, Unwissenheit und Irrtum zu vermeiden. 131 Diesem Streben nach Wahrheit waren wir auch in Ciceros Darstellung der stoischen οἰκείωις-Lehre begegnet, wo das Wissen als eines der natürlichen Strebensobjekte des Menschen erscheint. 132 Das zweite Streben des Menschen, ein Lebewesen zu sein und in der Verbin‐ dung von Körper und Seele zu leben, 133 erinnert an die stoische πρωτὴ ὁρμή zum Erhalt der Konstitution in einem naturgemäßen Zustand, wobei die Konstitution als das leitende Seelenvermögen in bestimmter Disposition zum Körper be‐ 308 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 134 Vgl. Aug.c.Faust. 21.7: Videte quemadmodum in omne animal sibi ad salutem conciliatum pertendat naturae ista communio, ut diligat carnem suam. Neque enim hoc in hominibus tantum est, qui cum r ecte vivunt, non solum consulunt saluti carnis suae, verum etiam carnales motus ad usum rationis edomant et refrenant: sed etiam bestiae fugiunt dolorem, formidant interitum; et quidquid illam membrorum compagem copulamque carnis et spi‐ ritus a concordi iunctura disicere ac dirimere potest, quanta valent agilitate devitant, nutrientes etiam ipsae ac foventes carnem suam; siehe auch: Aug.c.Faust. 21.14: […] unum‐ quodque tamen animal suam […] naturam[…] tuebatur. 135 Vgl. Aug.En.Ps. 1 02. 2 7: omnes crea turae habent quoddam bonum suum integritatis suae; Vera rel. 18. 36: bonum est enim esse formatum; siehe dazu auch: Zepf (1959), 114. 136 Vgl. Aug.Civ. 19.4: Cum dicant [sc. Stoici et Peripatetici], et verum dicant, hanc esse naturae primam quodam modo et maximam vocem, ut homo concilietur s ibi et propterea mortem naturaliter fugiat, ita sibi amicus, ut ess e se animal et in hac coniunctione corporis atque animae vivere velit vehementer atque appetat; S. 306.4: Omnes enim natura habent in‐ situm, vivere velle, mori nolle; 297.8: Vitam ergo amamus, et amare nos vitam nullo modo dubitamus: neque omnino negare poterimus, amare nos vitam. Ergo eligamus vitam, si amamus vitam. Quid eligimus? Vitam; 344.4: Scio, vivere amas, mori non vis; et de hac vita in aliam vitam sic transire velles, ut non mortuus resurgeres, sed vivus in melius mutareris. Hoc velles, hoc habet humanus affectus; hoc ipsa anima nescio quo modo habet in voluntate et cupiditate. Quoniam diligendo vitam, odit mortem; et quoniam carnem suam non odit, nec ipsi vult accidere quod odit. 137 Aug.Civ. 19. 3: Hanc vitam beatam etiam socialem perhibent [sc. philosophi] esse, quae amicorum bona propter se ipsa diligat sicut sua eisque propter ipsos hoc velit quod sibi; stimmt wurde. Menschen und Tiere fliehen nicht nur Schmerz und Tod, sondern alles, was ihre Konstitution aus einem harmonischen, naturgemäßen Zustand bringt. 134 Entsprechend besitzen auch die unterschiedlichen Seinsstufen (esse, vivere, intellegere) unterschiedliche Güter und Formen der Wesensvollendung. 135 Zur menschlichen Wesensvollendung gehört es, moralisch zu handeln. So wird von Augustinus neben der Pflicht, sich am Leben zu erhalten, 136 auch der Lehre der Philosophen über weitere umfassende moralische Pflichten anderen gegen‐ über, welche sich aus der οἰκείωσις-Lehre ergeben, zugestimmt: Sie [sc. die Philosophen] sagen, dass dieses glückliche Leben ein soziales sei, welches die Güter der Freunde um ihrer selbst willen wie die eigenen liebt und für diese um ihrer selbst willen dasselbe will wie für sich; sei es, dass diese Freunde im Haus sind, wie die Ehegattin, die Kinder und welche Hausleute auch immer; sei es an dem Ort, wo er sein Haus hat, wie es die Stadt ist, wie es diese sind, die Bürger genannt werden; sei es auf der ganzen Welt, wie es die Völker sind, welche diesem die menschliche Gemeinschaft verbindet; sei es im Kosmos selbst, der mit dem Namen des Himmels und der Erde bezeichnet wird, so wie sie sagen, dass es die Götter sind, von denen sie wollen, dass sie die Freunde des Weisen sind, und die wir geläufiger Engel nennen. […] Dass sie aber wollen, dass das Leben des Weisen ein soziales sei, billigen wir um vieles mehr. 137 309 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik sive in domo sint, sicut coniux et liberi et quicumque domestici, sive in loco, ubi domus est eius, sicuti est urbs, ut sunt hi qui cives vocantur, sive in orbe toto, ut sunt gentes quas ei societas humana coniungit, sive in ipso mundo, qui censetur nomine caeli et terrae, sicut esse dicunt deos, quos volunt amicos esse homini sapienti, quos nos familiarius angelos dicimus. […] Quod autem socialem vitam volunt esse sapientis, nos multo amplius adpro‐ bamus. 138 Vgl. Aug.S. 349. 2 : Liceat vobis humana caritate diligere coniuges, diligere filios, diligere amicos vestros, diligere cives vestros. Omnia enim ista nomina habent necessitudinis vin‐ culum, et gluten quodam modo caritatis. Sed videtis istam caritatem esse posse et impiorum, id est, Paganorum, Iudaeo rum, haereticorum. Quis enim eorum non amat uxorem, filios, fratres, vicinos, affines, amicos, et cetera? Haec ergo humana est. Si ergo tali quisque cru‐ delitate effertur, ut perdat etiam humanum dilectionis affectum, et non amet filios suos, et non amet coniugem suam; nec inter homines numerandus est. Non enim laudandus est qui amat filios suos; sed damnandus est qui non amat filios. Adhuc enim videat cum quibus debet ei esse dilectio ista communis. Amant filios et ferae: amant filios aspides, amant filios tigrides, amant filios leones. Nulla enim bestia est, quae non filiis suis blande immurmuret. Nam cum terreat homines, parvulos fovet. […] Ergo qui non amat filios suos etiam leone peior est. Humana sunt ista, et licita sunt. 139 Vgl. Aug.Ep. 130 . 14: In eo quippe nosmetipsos diligimus, si deum diligimus: et ex alio praecepto proximos nostros sicut nosmetipsos ita vere diligimus, si eos ad dei similem di‐ lectionem, quantum in nobis est, perducamus. Deum igitur diligimus propter seipsum, et nos ac proximos propter ipsum; 153. 3: Facile enim est atque proclive malos odisse, quia mali sunt: rarum autem et pium eosdem ipsos diligere, quia homines sunt; ut in uno simul et culpam improbes, et naturam approbes, ac propterea culpam iustius oderis, quod ea foedatur natura quam diligis. Non est igitur iniquitatis, sed potius humanitatis societate devinctus, qui propterea est criminis persecutor, ut sit hominis liberator. Morum porro corrigendorum nullus alius quam in hac vita locus est; nam post hanc, quisque id habebit quod in hac sibimet conquisierit. Ideo compellimur humani generis caritate intervenire pro reis, ne istam vitam sic finiant per supplicium, ut ea finita non possint finire supplicium; 155. 14: Proximus sane hoc loco, non sanguinis propinquitate, sed rationis societate pen‐ sandus est, in qua socii sunt omnes homines. Nam si pecuniae ratio socios facit, quanto magis ratio naturae, non negotiandi, sed nascendi lege communis. Der Mensch kann also Augustinus zufolge nicht in der Isolation glücklich werden, weil er ein soziales Wesen ist. Er soll sich um das Gut seiner Mitmen‐ schen genauso kümmern wie um sein eigenes, wobei letztlich auch die soziale oder räumliche Distanz nicht im Weg stehen darf. Der Mensch soll sich um das Gut seiner Familienmitglieder, seiner Bürgerschaft und seiner Mitbürger 138 ge‐ nauso kümmern wie um das Gut aller Menschen, ja selbst das der Engel. Der Grund für diese Pflicht zur umfassenden Sorge um das Gut aller Menschen liegt in der gemeinsamen Gattungsnatur aller Menschen 139 - bzw. der gemeinsamen Vernunftnatur im Fall der Engel. Die Tatsache, dass wir alle Menschen sind und ein gemeinsames Wesen besitzen, impliziert Pflichten unseren Mitmenschen gegenüber, so dass wir uns um ihr Gut genauso sorgen müssen wie um unser eigenes und das unserer Familienmitglieder. Unsere Freundschaft und Liebe 310 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 140 Aug.Ep. 130. 13: Itemque amicitia non angustis finibus terminanda est: omnes enim quibus amor et dilectio debetur, amplectitur, quamvis in alios propensius, in alios suspensius inclinetur; pervenit autem usque ad inimicos, pro quibus etiam orare praecipimur. Ita nemo est in genere humano cui non dilectio, etsi non pro mutua caritate, pro ipsa tamen com‐ munis naturae societate debeatur. 141 Aug.S. 299D.1-3: Necessaria [sc. bona] sunt in hoc mundo duo ista, salus et amicus; ista sunt, quae magni pendere, quae non debemus contemnere. Salus et amicus, naturalia bona sunt. Fecit deus hominem, ut esset et viveret: salus est; sed, ne solus esset, amicitia quaesita est. Incipit ergo amicitia a coniuge et filiis, et progreditur usque ad alienos. Sed si consi‐ deremus unum nos habuisse patrem et unam matrem, quis erit alienus? Omni homini proximus est omnis homo. Interroga naturam. Ignotus est? homo est. Inimicus est? homo est. Hostis est? homo est. Amicus est? maneat amicus. Inimicus est? fiat amicus. […] Ergo sollte sich daher auch nicht auf den engen Raum der Familie beschränken, son‐ dern auf die gesamte Menschheit ausgreifen: Und ebenso sollte die Freundschaft nicht durch enge Grenzen beschränkt werden: Denn sie umfasst alle, denen Liebe und Zuneigung geschuldet wird, obschon sie sich zu den einen bereitwilliger, zu den anderen zweifelhafter neigt; sie gelangt jedoch bis zu den Feinden, für die zu beten uns auch vorgeschrieben wird. So gibt es niemanden im Menschengeschlecht, dem nicht Zuneigung - wenn auch nicht kraft wechselsei‐ tiger Liebe, so doch kraft der Gemeinschaft der gemeinsamen Natur selbst - ge‐ schuldet wird. 140 Entsprechend dieser auf der stoischen οἰκείωσις-Lehre basierenden Überle‐ gungen ergeben sich für Augustinus zwei herausragende diesseitige Güter - Gesundheit und Freundschaft: Es gibt in dieser Welt diese zwei notwendigen [Güter]: die Gesundheit und den Freund. Dies ist, was wir hochschätzen, was wir nicht verachten sollen. Die Gesundheit und der Freund sind natürliche Güter (naturalia bona). Gott schuf den Menschen, damit er existiert und lebt; das ist die Gesundheit. Aber, damit er nicht alleine sei, wurde die Freundschaft gesucht. Es beginnt also die Freundschaft mit der Gattin und den Kin‐ dern, und sie schreitet fort bis zu Fremden. Aber wenn wir bedenken, dass wir einen einzigen Vater und eine einzige Mutter haben, wer wird da ein Fremder sein? Jeder Mensch ist jedem Menschen der Nächste. Befrag die Natur! Ist er unbekannt? Er ist ein Mensch. Ist er ein Widersacher? Er ist ein Mensch. Ist er ein Feind? Er ist ein Mensch. Ist er ein Freund? Er soll ein Freund bleiben. Ist er ein Widersacher? Er soll ein Freund werden. […] Die Gesundheit für Dich also soll auch die Gesundheit für Deinen Freund sein. Was die Kleidung des Freundes angeht: Wer zwei Gewänder hat, soll sie mit dem teilen, der keines hat. Was die Nahrung des Freundes angeht: auch wer Essen hat, soll gleichermaßen handeln. Du wirst ernährt, du ernährst. Du wirst eingekleidet, du kleidest ein. 141 311 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik salus tibi, salus sit et amico tuo. Propter tegumentum amici: Qui habet duas tunicas, com‐ municet cum non habente. Propter victum amici: et qui habet escas, similiter faciat. Pas‐ ceris, pascis; vestiris, vestis. 142 Vgl. Clair (2016), 46. 143 Vgl. Sen.Dial. 8. 1. 4: Certe Stoici vestri dicunt: „usque ad ultimum vitae finem in actu erimus, non desinemus communi bono operam dare, adiuvare singulos, opem ferre etiam inimicis senili manu“; Ben. 4. 26: „Si deos“ inquit „imitaris, da et ingratis beneficia; […].“ Illi ingrato, qui sic hac culpa non caret, quomodo nulla caret, dabit beneficium vir bonus; […] (vgl. Ben. 7.2-5). 144 Vgl. Burnell (2005), 118. 145 Vgl. Aug.Ep. 130.14 : Ad illam ergo unam vitam, qua cum deo et de deo vivitur, cetera quae utiliter et decenter optantur, sine dubio referenda sunt. In eo quippe nosmetipsos diligimus, si deum diligimus: et ex alio praecepto proximos nostros sicut nosmetipsos ita vere dili‐ gimus, si eos ad dei similem dilectionem, quantum in nobis est, perducamus. Deum igitur diligimus propter seipsum, et nos ac proximos propter ipsum; Doctr.chr. 1.27: Cum enim praecurrat dilectio dei eiusque dilectionis modus praescriptus appareat, ita ut cetera in illum confluant, de dilectione tua nihil dictum videri. Sed cum dictum est: Diliges pro‐ ximum tuum tamquam te ipsum, simul et tui abs te dilectio non praetermissa est; Civ. 19.14: Omnis igitur usus rerum temporalium refertur ad fructum pacis terrenae in terrena civitate; in caelesti autem civitate refertur ad fructum pacis aeternae. […] Sicut enim pacem corporis amare se ostendunt animantia, cum fugiunt dolorem, et pacem animae, cum propter explendas indigentias appetitionum voluptatem sequuntur: ita mortem fugiendo satis indicant, quantum diligant pacem, qua sibi conciliantur anima et corpus. Sed quia homini rationalis anima inest, totum hoc, quod habet commune cum bestiis, subdit paci animae rationalis, ut mente aliquid contempletur et secundum hoc aliquid agat, ut sit ei ordinate cognitionis atque actionis consensio, quam pacem rationalis animae dixeramus. Wie dieser Passus nochmals eindrücklich deutlich macht, bildet die οἰκείωσις-Lehre für Augustinus das Scharnier zwischen der stoisch-peripateti‐ schen Ethik und dem biblischen Gebot der Nächstenliebe. 142 Nicht nur die Ge‐ sundheit, sondern auch die Freundschaft ist ein natürliches Gut (bonum natu‐ rale), weil sie aus der οἰκείωσις entspringt. Die Freundschaft bleibt dabei nicht auf den engen Kreis der Familie beschränkt, sondern schreitet darüber hinaus bis zum Fremden - ja zum Feind - fort. In der οἰκείωσις-Lehre fand Augustinus somit ein philosophisches Instrument, um die sozialen Implikationen des bibli‐ schen Gebots der Nächstenliebe zu durchdenken. Selbst das Gebot zur Feindes‐ liebe, für welches auch stoische Parallelen existieren, 143 fand im Kontext der augustinischen οἰκείωσις-Lehre eine philosophische Begründung, die wie‐ derum stoische Vorläufer besitzt. Die Tatsache der gemeinsamen Gattungsnatur aller Menschen impliziert die moralische Verpflichtung, sich gegenseitig zu lieben und einander Freund zu sein. 144 Der Gehorsam gegenüber dem Doppel‐ gebot der Gottes- und Nächstenliebe ist für Augustinus der Zielpunkt der οἰκείωσις. 145 Die Grenze zwischen Selbst- und Nächstenliebe muss neu gezogen werden. 312 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus […] ac per hoc omnem pacem vel corporis vel animae vel simul corporis et animae refert ad illam pacem, quae homini mortali est cum immortali deo, ut ei sit ordinata in fide sub aeterna lege oboedientia. Iam vero quia duo praecipua praecepta, hoc est dilectionem dei et dilectionem proximi, docet magister deus, in quibus tria invenit homo quae diligat, deum, se ipsum et proximum, atque ille in se diligendo non errat, qui deum diligit. 146 Aug.Conf. 1. 31: Eram enim etiam tunc, vivebam atque sentiebam meamque incolumi‐ tatem, vestigium secretissimae unitatis, ex qua eram, curae habebam, custodiebam inte‐ riore sensu integritatem sensuum meorum inque ipsis parvis parvarumque rerum cogita‐ tionibus veritate delectabar. Falli nolebam, memoria vigebam, locutione instruebar, amicitia mulcebar, fugiebam dolorem, abiectionem, ignorantiam. 147 Vgl. Rist (1994), 69. Wie bei den Stoikern beruht die οἰκείωσις auch bei Augustinus auf dem Ver‐ mögen der Lebewesen zur Selbstwahrnehmung. Augustinus hat für dieses Ver‐ mögen der Selbstwahrnehmung sogar eine eigene Instanz im Menschen iden‐ tifiziert: den sog. ‚inneren Sinn‘ (sensus interior). Die Verbindung von οἰκείωσις und sensus interior wird von Augustinus im ersten Buch der Confessiones einmal explizit festgestellt: Denn auch damals schon existierte ich, lebte ich, nahm ich wahr und umsorgte meine Wohlbehaltenheit, dieses Zeichen der verborgenen Einheit, der ich entstamme. Schon bewahrte ich mit meinem inneren Sinn die Unversehrtheit meiner Sinne, und ich freute mich selbst bei meinen kleinen Gedanken über kleine Dinge an der Wahrheit. Ich wollte nicht getäuscht werden, mein Gedächtnis erstarkte; durch Sprechen be‐ lehrte man mich; Freundschaft bezauberte mich; Schmerz, Erniedrigung, Unwissen‐ heit floh ich. 146 (Übers. Flasch/ Mojsisch mit Modifikationen) Der sensus interior ist ein Vermögen zur Selbstwahrnehmung, welches dem Selbsterhalt dient. Der damit verbundene kognitive Prozess geht über die ein‐ fache Wahrnehmung hinaus, ohne jedoch eine intellektuelle Dimension zu er‐ reichen. Er findet sich daher sowohl im Menschen wie in nicht rationalen Le‐ bewesen und ermöglicht es diesen über die Wahrnehmung der eigenen Konstitution, Dinge zu verfolgen bzw. zu vermeiden, die für sie nützlich oder schädlich sind. 147 Dass Lebewesen den Tod zu vermeiden suchen und danach streben, sich am Leben zu erhalten, hat zur Voraussetzung, dass das Lebewesen sich als lebendes Wesen wahrnimmt. Es besteht folglich eine Verbindung zwi‐ schen Selbstwahrnehmung und Selbsterhalt: Ich meine, es ist auch offensichtlich, dass dieser innere Sinn nicht nur das wahrnimmt, was er von den fünf Sinnen des Körpers empfangen hat, sondern dass auch diese selbst von ihm wahrgenommen werden. Denn das Tier würde sich nicht etwas begehrend oder meidend bewegen, wenn es nicht wahrnähme, dass es wahrnimmt, was nicht auf das Wissen zielt - denn das ist Sache der Vernunft -, sondern bloß auf die Bewegung, 313 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik 148 Aug.Lib.arb. 2. 10: Arbitror etiam illud esse manifestum, sensum illum interiorem non ea tantum sentire quae accepit a quinque sensibus corporis, sed etiam ipsos ab eo sentiri. Non enim aliter bestia moveret se vel adpetendo aliquid vel fugiendo, nisi se sentire sentiret, non ad sciendum nam hoc rationis est, sed tantum ad movendum, quod non utique aliquo illorum quinque sentit. […] Sed utrum se ipsam haec vita sentiat, quae se corporalia sentire sentit, non ita clarum est, nisi quod se quisque intus interrogans invenit omnem rem vi‐ ventem fugere mortem; quae cum sit vitae contraria, necesse est ut vita etiam se ipsam sentiat, quae contrarium suum fugit. 149 Aug.An.quant. 71: Intendit se anima in tactum, et eo calida, frigida, aspera, lenia, dura, mollia, levia, gravia, sentit atque discernit. Deinde innumerabiles differentias saporum, odorum, sonorum, formarum, gustando, olfaciendo, audiendo videndoque diiudicat. Atque in iis omnibus ea quae secundum naturam sui corporis sunt, adsciscit atque appetit; reicit fugitque contraria. […] Sed haec rursus omnia posse animam etiam in bestiis nemo negat; siehe auch: An.quant. 54: Quid autem hoc putas esse, nisi vim quamdam sentiendi, non sciendi? Sensu enim nos bestiae multae superant, cuius rei causam non hic locus es tut quaeramus, mente autem, ratione, scientia, nos illis deus praeposuit. Sed ille sensus ea quibus tales animae delectantur, accedente consuetudine cuius magna vis est, potest dis‐ cernere; atque eo facilius, quod anima belluarum magis corpori affixa est, cuius illi sunt sensus quibus utitur ad victum voluptatemque, quam ex eodem illo corpore capit. 150 Es ist in der Forschung umstritten, ob Augustinus diese Einsicht direkt von Seneca (Ep. 121. 9 und 18-21) übernimmt oder ob sie ihm durch neuplatonische Denker vermittelt wurde; siehe dazu: Brittain (2002), 256 Anm. 6 und 294 Anm. 101, der sich für Seneca als unmittelbare Quelle Augustins ausspricht; als weitere stoische Quelle kommt Cic.Fin. die es gewiss nicht durch einen dieser fünf Sinne wahrnimmt. […] Aber ob dieses Leben, das wahrnimmt, dass es Körperliches wahrnimmt, sich auch selbst wahrnimmt, ist nicht so klar. Doch jeder, der sich innerlich befragt, stellt fest, dass alles Lebendige vor dem Tod flieht. Da dieser dem Leben entgegengesetzt ist, muss das Leben, das vor seinem Gegenteil flieht, notwendigerweise auch sich selbst wahrnehmen. 148 (Übers. Brachtendorf) Die Seele wendet sich zum Tastsinn, empfindet und unterscheidet mit ihm Warmes und Kaltes, Rauhes und Zartes, Hartes und Weiches, Leichtes und Schweres. Dann unterscheidet sie beim Schmecken, Riechen, Hören und Sehen unzählige Arten von Geschmack, von Düften, Tönen und Formen. Und bei alledem nimmt sie an und er‐ strebt, was der Natur ihres Leibes entspricht, und verwirft und meidet das Gegenteil. […] Doch dass dies alles wiederum auch die Tierseele vermag, wird niemand be‐ streiten. 149 (Übers. Lütcke) Die Lebewesen sind dazu in der Lage, die Objekte ihrer verschiedenen Sinne voneinander zu unterscheiden und diejenigen auszumachen, die in Überein‐ stimmung mit ihrer jeweiligen Natur und damit zuträglich für sie sind. Diese erstreben sie, während sie diejenigen Objekte meiden, die sie als naturwidrig und damit schädlich identifiziert haben. Voraussetzung dafür ist, dass sie ihren eigenen Körper sowie sich selbst als Lebewesen wahrnehmen. 150 Schließlich be‐ 314 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 3. 16 infrage: Fieri autem non posset ut appeterent aliquid nisi sensum haberent sui eoque se diligerent. O’Daly (1987), 102-105 deutet in Bezug auf den sensus interior zwar die Möglichkeit stoischen Einflusses auf Augustinus an, führt dies jedoch nicht weiter aus. Stattdessen spricht er sich für einen neuplatonischen - insbesondere plotinischen - Ursprung des sensus interior bei Augustinus aus (vgl. dazu auch Mondolfo [1964], 59-84). Seine Argumente sind jedoch keineswegs zwingend, worauf Byers (2016), 59 Anm. 16 hinweist. Zudem macht Brittain (2002), 294 Anm. 100 auf Unterschiede zwischen Au‐ gustinus und Plotin aufmerksam. 151 Zur Wahrnehmung in Form nicht begrifflicher Kognitionen bei Augustinus und in der Stoa siehe: Brittain (2002); für eine zeitgenössische Behandlung dieser Problematik siehe: Evans (1982), 226 f; Peacocke (2001). 152 Aug.Lib.arb. 2. 8: Magis arbitror nos ratione comprehendere esse interiorem quendam sensum ad quem ab istis quinque notissimis cuncta referantur. Namque aliud est quo videt bestia et aliud quo ea quae videndo sentit vel vitat vel appetit. Ille enim sensus in oculis est, ille autem in ipsa intus anima, quo non solum ea quae videntur, sed etiam ea quae audiuntur quaeque ceteris capiuntur corporis sensibus, vel appetunt animalia delectata et adsumunt vel offensa devitant et respuunt. Hic autem nec visus nec auditus nec olfactus nec gustatus nec tactus dici potest, sed nescio quid aliud quod omnibus communiter prae‐ sidet. Quod cum ratione comprehendamus, ut dixi, hoc ipsum tamen rationem vocare non possum, quoniam et bestiis inesse manifestum est. einflusst ihre Artzugehörigeit, welche Dinge für sie zuträglich bzw. schädlich und damit zu erstreben bzw. zu meiden sind. Diese kognitive Information ist notwendig für sie, um handeln zu können. Sie haben ein unmittelbares sinnli‐ ches Bewusstsein von sich selbst als lebende Wesen, ohne jedoch über ein be‐ griffliches Wissen über die ihrem Leben zugrunde liegenden Prinzipien zu ver‐ fügen. Das begriffliche Wissen um die Prinzipien des Lebens - insbesondere über das Wesen der Seele - kommt beim Menschen zusätzlich zu diesem ur‐ sprünglichen Bewusstsein in Form nicht begrifflicher Kognitionen 151 hinzu: Ich glaube eher, dass wir durch die Vernunft begreifen, dass es einen gewissen inneren Sinn gibt, dem von den fünf hinreichend bekannten Sinnen alles gemeldet wird. Denn das, wodurch das Tier sieht, ist etwas anderes als das, wodurch es das im Sehen Wahrgenommene meidet oder erstrebt. Denn jener Sinn ist in den Augen, dieser aber innen in der Seele selbst, und durch ihn erstreben die Lebewesen nicht nur das, was sie sehen, sondern auch, was sie hören und durch andere Sinne des Körpers erfassen, und nehmen es auf, wenn es ihnen zusagt, oder sie meiden es und weisen es zurück, wenn es ihnen missfällt. Dieser kann aber weder Gesicht, noch Gehör, noch Geruch, noch Geschmack, noch Gefühl genannt werden, sondern es ist etwas mir unbekanntes anderes, das alle gemeinsam leitet. Wenn wir es auch mit der Vernunft begreifen, wie ich gesagt habe, so kann ich dieses selbst doch nicht Vernunft nennen, weil es offen‐ sichtlich auch in den Tieren ist. 152 (Übers. Brachtendorf) 315 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik 153 Vgl. Toivanen (2013), 368. 154 Vgl. Aug.Lib.arb. 2. 10: Arbitror etiam illud esse manifestum, sensum illum interiorem non ea tantum sentire quae accepit a quinque sensibus corporis, sed etiam ipsos ab eo sentiri; zu dieser Funktion des ἡγεμονικόν siehe: Calcid.in Tim. 220 = LS 53G = SVF 2.879; Gal.PHP 3. 1. 11 = SVF 2.885; in diesem Zusammenhang wurde auch auf Parallelen zwischen dem sensus interior und der aristotelischen κοινὴ αἴσθησις (Arist.An. 3.1 f, bes. 418a7-25.424b22-427a16) hingewiesen: O’Daly (1987), 102; Heller-Roazen ( 2 2012), 168; allerdings kannte Augustinus Aristotelesʼ Schrift De anima nicht, so dass man bei der Annahme eines Einflusses der aristotelischen κοινὴ αἴσθησις auf Augustins Kon‐ zeption des sensus interior eine neuplatonische Vermittlung annehmen muss (vgl. S. 314 f Anm. 150); auf eine stoische Transformation der aristotelischen κοινὴ αἴσθησις deutet Aët. 4. 8. 7 = SVF 2.852 hin: Οἱ Στωϊκοὶ τήνδε τὴν κοινὴν αἴσθησιν ἐντοὸς ἁφὴν προσαγορεύουσι, καθʼ ἣν καὶ ἡμῶν αὐτῶν ἀντιλαμβανόμεθα. 155 Vgl. Aug.Lib.arb. 2. 10: Quod si adhuc obscurum est, elucescet, si animadvertas quod exempli gratia sat est in uno aliquo sensu, velut in visu. Namque aperire oculum et movere aspiciendo ad id quod videre appetit nullo modo posset, nisi oculo clauso vel non ita moto se id non v idere sentiret. Si autem sentit se non videre dum non videt, necesse est etiam sentiat se videre dum videt, quia, cum eo appetitu non movet oculum videns, quo movet non videns, et indicat se utrumque sentire. 156 Vgl. Aug.Lib.arb. 2.12: Quia moderatorem et iudicem quendam huius illum [sc. sensum interiorem] esse cognosco. Nam et si quid huic in officio suo abfuerit, ille tamquam debitum a ministro flagitat […]. Non enim se videre aut non videre sensus oculi videt, et quia non videt, non potest quid sibi desit aut quid satis sit iudicare, sed ille interior, quo admonetur et anim a bestiae aperire oculum clausum et quod deesse sentit implere. Der innere Sinn ist diesem Passus zufolge also nicht rationalen Charakters und ist in der hierarchischen Ordnung der Seelenvermögen zwischen den äußeren Sinnen und der Vernunft angesiedelt. Sowohl Menschen als auch Tiere besitzen ihn. Die Charakterisierung des sensus interior lässt zudem gewisse funktionale Parallelen zum stoischen ἡγεμονικόν erkennen. 153 Beide sind sowohl für die In‐ tegration der verschiedenen Sinnesdaten der äußeren Sinne zuständig als auch für die Wahrnehmung der einzelnen Wahrnehmungsakte selbst - d. h. der sensus interior stellt ein Wahrnehmungsvermögen zweiter Ordnung dar, welches die Wahrnehmungen erster Ordnung wahrnimmt und überwacht. 154 Der sensus in‐ terior nimmt permanent die verschiedenen Sinne und ihre jeweiligen Zustände wahr und macht das Lebewesen, wenn einer seiner Sinne nicht richtig funkti‐ oniert, darauf aufmerksam, dass der Sinn seiner Aufgabe nicht nachkommt. Er überwacht permanent den Gesichtssinn und bemerkt den Akt des Sehens, wenn das Lebewesen seine Augen öffnet. 155 Ohne diese Form der Wahrnehmung würde dem Lebewesen die Motivation fehlen, seine Augen zu öffnen. 156 Gleichermaßen erklärt die Wahrnehmung des Selbst und seiner Sinne die Motivation der Lebewesen, aufgrund der kognitiven Informationen, welche es durch die einzelnen Sinne erhält, bestimmte Objekte zu erstreben bzw. zu meiden. 157 So führt die Integration der verschiedenen Sinnesdaten - z. B. die 316 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 157 Vgl. Aug.Lib.arb. 2. 10: Non enim aliter bestia move ret se vel adpetendo aliquid vel fugi‐ endo, nisi se sentire sentiret […]. 158 Vgl. Brittain (2002), 289. 159 Vgl. Aug.Conf. 1. 7: Nam tunc sugere noram […]; 1. 8: Itaque iactabam membra et voces, signa similia voluntatibus meis […]. 160 Vgl. S. 316 Anm. 156. Verbindung von Gerüchen und Bildern zu einer einzigen komplexen Vorstel‐ lung - dazu, dass etwas als eine bestimmte Form von Nahrung erkannt wird. Die Wahrnehmung des eigenen Selbst erlaubt es, dass diese Nahrung als für einen geeignet bzw. nützlich erkannt und schließlich erstrebt wird. 158 Zudem weiß wie bei den Stoikern auch bei Augustinus das Kleinkind aufgrund seiner Wahrnehmung der eigenen Konstitution von Geburt an, wozu die einzelnen Körperteile da sind und wie es sie zu gebrauchen hat. 159 Das Vermögen, den eigenen Körper und die Funktionen seiner einzelnen Köperteile und Organe wahrzunehmen, ist somit von entscheidender Bedeutung für das Verhalten des Lebewesens bzw. das Handeln des Menschen. Der sensus interior ist daher der Lenker (moderator) der Seele des Lebewesens. 160 Wie in der Stoa bleibt auch bei Augustinus die Wahrnehmung des sensus interior nicht auf das eigene Selbst beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die Umwelt und die anderen Wesen, denen das Lebewesen begegnet. Wenn es die Bewegungen des Köpers anderer Wesen wahrnimmt, nimmt es auch wahr, dass diese Wesen leben und eine Seele haben: Was die Seele betrifft, so sprechen wir uns ihre Kenntnis nicht unpassend deshalb zu, weil auch wir eine Seele haben. Nie nämlich haben wir sie mit Augen gesehen und aus der Ähnlichkeit mit dem vielerlei Gesehenen einen Gattungs- oder Artbegriff ge‐ bildet, aber wir kennen sie, wie gesagt, weil auch wir eine Seele haben. Was wird denn so innerlich gewusst, und was weiß so um sein eigenes Wesen, als das, wodurch alles andere wahrgenommen wird, nämlich die Seele selbst? […] Wenn nämlich ein le‐ bendiger Körper bewegt wird, dann tut sich für unsere Augen nicht irgendein Weg auf zur Schau der Seele, einer Sache, die mit Augen nicht gesehen werden kann. Wir merken vielmehr, dass jener körperlichen Masse etwas Ähnliches innewohnt wie uns, damit wir unseren Körper in Bewegung setzen können. Das ist das Leben und die Seele. Und das ist nicht die Eigentümlichkeit etwa der menschlichen Klugheit und des menschlichen Verstandes. Auch die Tiere merken nicht nur von sich selbst, dass sie leben; sie merken es vielmehr auch voneinander, ja auch von uns. Auch sie sehen unsere Seelen nicht, sondern erfahren sie aus den Bewegungen des Körpers, und zwar schnell und leicht durch einen gewissen natürlichen Zusammenhang. 161 (Übers. Kreuzer) 317 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik 161 Vgl. Aug.Trin. 8. 9: Et animus quidem quid sit non incongrue nos dicimus ideo nosse quia et nos habemus animum; neque enim umquam oculis vidimus et ex similitudine visorum plurium notionem generalem specialemve percepimus, sed potius, ut dixi, quia et nos ha‐ bemus. Quid enim tam intime scitur seque ipsum esse sentit quam id quo etiam cetera sentiuntur, id est ipse animus? […] Neque enim cum corpus vivum movetur aperitur ulla via oculis nostris ad videndum animum, rem quae oculis videri non potest; sed illi moli aliquid inesse sentimus quale nobis inest ad movendam similiter molem nostram, quod est vita et anima. Neque quasi humanae prudentiae rationisque proprium est. Et bestiae quippe sentiunt vivere non tantum se ipsas sed etiam invicem atque alterutrum et nos ipsos, nec animas nostras vident sed ex motibus corporis idque statim et facillime quadam conspi‐ ratione naturali. 162 Vgl. Sen.Ep. 121.11-13: Facilius natura intellegitur quam enarratur. Itaque infans ille quid sit constitutio non novit. Constitutionem suam novit; et quid sit animal nescit; animal esse se sentit. Praeterea ipsam constitutionem suam crasse intellegit et summatim et obscure. Nos quoque animum habere nos scimus: quid sit animus, ubi sit, qualis sit aut unde nes‐ cimus. […] Nemo non ex nobis intellegit esse aliquid quod impetus suos moveat: quid sit illud ignorat. Et conatum sibi esse scit: quis sit aut unde sit nescit. Sic infantibus quoque animalibusque principalis partis suae sensus est non satis dilucidus nec expressus. 163 Vgl. Wetzel (1992), 41 f; Rist (1994), 87 f. 164 Vgl. Aug.Conf. 1. 1 1 : Quis me commemorat peccatum infantiae meae, quoniam nemo mundus a peccato coram te, nec infans, cuius est unius diei vita super t erram? […] Quid ego tunc peccabam? An quia uberibus inhiabam plorans? Nam si nunc faciam, non quidem uberibus, sed escae congruenti annis meis ita inhians, deridebor atque reprehendar iustis‐ sime. […] An pro tempore etiam illa bona erant, flendo petere etiam quod noxie daretur, indignari acriter non subiectis hominibus liberis et m aioribus hisque, a quibus genitus est, multisque praeterea p rudentioribus non ad nutum voluntatis obtemperantibus feriendo nocere niti quantum potest, quia non oboeditur imperiis, quibus perniciose oboediretur? […] Vidi ego et expertus sum zelantem parvulum: nondum loquebatur et intuebatur pal‐ Wir kommen Augustinus zufolge nicht mittels irgendwelcher Vernunftoperati‐ onen zu der Einsicht, dass andere Lebewesen eine Seele haben und leben, son‐ dern wir nehmen dies wahr. Daher können auch Tiere andere Lebewesen als lebendig und beseelt wahrnehmen. Ausgehend von ihrer Selbstwahrnehmung nehmen sie auch ihre Umwelt und die in ihr lebenden Wesen wahr. Die Unter‐ scheidung zwischen intellektueller Erkenntnis und sinnlicher Wahrnehmung, die Augustin in dieser und anderen Passagen vornimmt, sowie die Zuordnung des sensus interior zur sinnlichen Wahrnehmung erinnern an die Unterschei‐ dungen, die Seneca in Epistula 121 vornimmt, 162 und weisen auf einen stoischen Ursprung hin. Im Gegensatz zu den Stoikern bemerkte Augustinus jedoch, dass die Selbst‐ wahrnehmung und die natürliche Sorge des Menschen um seine Konstitution beschädigt sind. 163 So sind bereits die ersten vorrationalen Handlungsimpulse zwar auf die für den Menschen richtigen Objekte ausgerichtet, doch fehlt ihnen das richtige Maß, so dass sie exzessiv sind und den Menschen maßlos und un‐ gerecht werden lassen. 164 Diese Verhaltensweisen der Kleinkinder sind Augus‐ 318 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus lidus amaro aspectu conlactaneum suum. […] nisi vero ista innocentia est, in fonte lactis ubertim manante atque abundante opis egentissimum et illo adhuc uno alimento vitam ducentem consortem non pati; 1. 31: Hoc enim peccabam, quod non in ipso, sed in creaturis eius me atque ceteris voluptates, sublimitates, verit ates q uaere bam, atque ita inruebam in dolores, confusiones, errores. 165 Vgl. Aug.Conf. 1. 3 0 : Furta etiam faciebam de cellario parentum et de mensa vel gula imperitante vel ut haberem quod darem pueris, ludum suum mihi, quo pariter utique delectabantur, tamen vendentibus. In quo etiam ludo fraudulentas victorias ipse vana ex‐ cellentiae cupiditate victus saepe aucupabar. […] Haec ipsa sunt, quae a paedagogis et magistris, a nucibus et pilulis et passeribus, ad praefectos et reges, aurum, praedia, man‐ cipia, haec ipsa omnino succedentibus maioribus aetati bus transeunt, sicuti ferulis maiora supplicia succedunt; 3. 16: Item in facinoribus, ubi libido est nocendi sive per contumeliam sive per iniuriam et utrumque vel ulciscendi causa, sicut inimico inimicus, vel adipiscendi alicuius extra commodi, sicut latro viatori, vel evitandi mali, sicut ei qui timetur, vel in‐ videndo, sicut feliciori miserior aut in aliquo prosperatus ei, quem sibi aequari timet aut aequalem dolet, vel sola voluptate alieni mali, sicut spectatores gladiatorum aut inrisores aut i nlusores quorumlibet; siehe dazu auch die Bemerkungen Augustins zur illicita cu‐ piditas bzw. libido in: Conf. 1. 29; 2. 4; 2. 8. 166 Vgl. Aug.Trin. 10 . 7 : Multa enim per cupiditatem pravam tamquam sui sit oblita sic agit; siehe dazu auch: Wetzel (1992), 42; Rist (1994), 146. 167 Vgl. Aug.En.Ps. 41.13: Abyssus enim est profunditas quaedam impenetrabilis, incompre‐ hensibilis: et maxime solet dici in aquarum multitudine. Ibi enim altitudo, ibi profunditas: quae penetrari usque ad fundum non potest. Denique quodam loco dictum est: Iudicia tua abyssus multa: hoc volente scriptura commendare, quia iudicia dei non compre henduntur. Quae ergo abyssus, quam invocat abyssum? Si profu nditas est abyssus, putamus non cor hominis abyssus est? Quid enim est profundius hac abysso? Loqui homines possunt, videri possunt per operationem membrorum, audiri in sermone: sed cuius cogitatio penetratur, cuius cor inspicitur? Quid intus gerat, quid intus possit, quid intus agat, quid intus disponat, quid intus velit, quid intus nolit, quis comprehendet? Puto non absurde intellegi abyssum hominem de quo alibi dictum est: Accedet homo et cor altum, et exaltabitur deus. 168 Zur Terminologie siehe: Bonner (1962); zum Begriff der concupiscentia siehe auch: Rist (1994), 135-140. 169 Zur Selbstvergessenheit des menschlichen Geistes durch die Sünde und das damit ver‐ bundene ungeordnete Streben des Menschen siehe auch: Aug.Trin. 10. 7: Utquid ergo ei [sc. mens] praeceptum est ut se ipsa cognoscat? Credo ut se cogitet et secundum naturam tinus zufolge nichts Vorübergehendes oder Unwichtiges, sondern weisen auf einen grundlegenden Charakterzug im Wesen des Menschen hin, insofern sie sich auch im Erwachenenalter in anderen Kontexten fortsetzen. 165 Im exzessiven Streben nach den zu gebrauchenden Dingen zeigt sich für Augustinus die feh‐ lerhafte Selbstwahrnehmung des Menschen, 166 welche sich letztlich schädlich auf den Menschen und sein Streben nach Glück auswirkt. Diese Beschädigung der menschlichen Natur, welche die Stoiker übersehen haben, ist für Augustinus eine Folge der Erbsünde. 167 Die Erbsünde bringt eine Unkenntnis (ignorantia) des wahren Werts der Dinge mit sich und hat dadurch ein maßloses, ungeord‐ netes Streben (cupiditas, concupiscentia bzw. libido) 168 zur Folge. 169 Adam war im 319 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik suam vivat, id est ut secundum suam naturam ordinari appetat, sub eo scilicet cui subdenda est, supra ea quibus praeponenda est; sub illo a quo regi debet, supra ea quae regere debet. Multa enim per cupiditatem pravam tamquam sui sit oblita sic agit. Videt enim quaedam intrinsecus pulchra in praestantiore natura quae deus est. Et cum stare debeat ut eis fruatur, volens ea sibi tribuere et non ex illo similis illius sed ex se ipsa esse quod ille est avertitur ab eo, moveturque et labitur in minus et minus quod putatur amplius et amplius quia nec ipsa sibi nec ei quidquam sufficit recedenti ab illo qui solus sufficit; zur Identifikation von fehlerhafter Selbstwahrnehmung bzw. Selbsterkenntis und ungeordnetem Streben siehe: W etzel (1992), 42; Rist (1994), 139 f und 146. 170 Vgl. Aug.Corrept. 31: Istam gratiam non habuit homo primus, q ua num quam vellet esse malus; sed sane habuit, in qua si permanere vellet, numquam malus esset, et sine qua etiam cum libero arbitrio bonus esse non posset, sed eam tamen per liberum arbitrium deserere posset. […] Nec illa [sc. gratia] quidem parva erat, qua demonstrata est etiam potentia liberi arbitrii, quoniam sic adiuvabatur, ut sine hoc adiutorio in bono non maneret, sed hoc adiutorium si vellet desereret; Civ. 14.27: […] bene vivere sine adiutorio dei, etiam in pa‐ radiso, non erat in potestate. 171 Vgl. Aug.Corrept. 42: Arbitrium […] liberum, sed non liberatum, liberum iustitiae, peccati autem servum, quo volvuntur per diversas noxias cupiditates, alii magis, alii minus, sed omnes mali, et pro ipsa diversitate diversis suppliciis iudicandi. 172 Vgl. Rist (1994), 137 f. 173 Vgl. Byers (2016), 62. Paradies frei von dieser Unkenntnis. Er konnte zwischen gut und böse unter‐ scheiden und kannte den wahren Wert der verschiedenen Güter. Dennoch war auch er dazu in der Lage, sich in vollem Wissen für das Böse zu entscheiden (posse peccare). Daher bedurfte auch er der helfenden Gnade Gottes, um konti‐ nuierlich gut zu handeln. 170 Die Situation des Menschen nach dem Sündenfall ist eine andere, ungleich dramatischere. Er ist aufgrund seiner ignorantia nicht dazu in der Lage, aus sich heraus das Gute und Richtige zu tun, so dass er stets sündigt (non posse non peccare). Zwar ist der Mensch frei zu tun, was er möchte, doch ist er nicht frei von der Sünde. 171 Um aus diesem Zustand permanenter Sündhaftigkeit herauszukommen, bedarf er der helfenden Gnade Gottes. In seiner Sündhaftigkeit ist der Mensch in seinem ungeordneten Streben - seiner Begierde (concupiscentia) - gefangen und verfehlt dadurch seine Existenz und sein Glück. Die concupiscentia stellt dabei kein sporadisches oder auf einen spezifischen Bereich beschränktes ungeordnetes Streben dar, sondern ist vielmehr ein per‐ manenter Zustand, in welchem sich der Mensch wiederfindet bzw. welchen er in Adam auf sich gezogen hat. 172 Das maßlose Streben nach den zu gebrauch‐ enden Dingen und die damit verbundene Ungerechtigkeit der Menschen ist dem natürlichen Streben des Menschen nach einer sozialen Lebensform, wie es in der οἰκείωσις-Lehre zum Ausdruck kommt, diametral entgegengesetzt und be‐ einträchtigt daher die natürliche Entwicklung des Menschen. 173 Seinen Ur‐ 320 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 174 Zur superbia bei Augustinus siehe: Burnaby (1938), 189; Rist (1994), 102-104; Kent (2001), 217-220. 175 Vgl. Aug.Gn.litt. 11. 19: M erito initium omnis peccati superbiam scriptura definivit dicens: Initium omnis peccati superbia. Cui testimonio non inconvenienter aptatur etiam illud quod apostolus ait: Radix omnium malorum est avaritia, si avaritiam generalem intelle‐ gamus, qua quisque appetit aliquid amplius quam oportet, propter excellentiam suam, et quemdam propriae rei amorem; Mus. 6. 40: Generalis vero amor actionis, quae avertit a vero, a superbia proficiscitur, quo vitio deum imitari, quam deo servire anima maluit. Recte itaque scriptum est in sanctis libris: Initium superbiae hominis apostatare a deo; et: Initium omnis peccati superbia. 176 Vgl. Aug.Nupt. et conc. 1.27: Quapropter natos non ex bono, quo bonae sunt nuptiae, sed ex malo concupiscentiae, quo bene quidem utuntur nuptiae, de quo tamen erubescunt et nuptiae, reos diabolus parvulos tenet, quia, cum sint ipsae honorabiles in omnibus ad eas proprie pertinentibus bonis, etiamsi torum habeant immaculatum non solum a fornicati‐ onibus et adulteriis, quae sunt flagiti a damnabilia, verum etiam ab illis excessibus con‐ cumbendi, qui non fiunt causa prolis voluntate dominante, sed causa voluptatis vincente libidine, quae sunt in coniugibus peccata venialia; tamen, cum ventum fuerit ad opus generandi, ipse ille licitus honestusque concubitus non potest esse sine ardore libidinis, ut peragi possit quod rationis est, non libidinis. […] Ex hac carnis concupiscentia, quae licet in regeneratis iam non deputetur in peccatum, tamen naturae non accidit nisi de peccato, ex hac, inquam, concupiscentia carnis tamquam filia peccati et, quando illi ad turpia con‐ sentitur, etiam peccatorum matre multorum quaecumque nascitur proles, originali est ob‐ ligata peccato, nisi in illo renascatur, quem sine ista concupiscentia virgo concepit, prop‐ terea, quando nasci est in carne dignatus, sine peccato solus est natus; siehe dazu auch: Rist (1994), 317-320. 177 Vgl. Byers (2016), 63. 178 Vgl. Aug.Conf. 3. 15: Itaqu e flagitia, quae sunt contra naturam, ubique ac semper detes‐ tanda atque punienda sunt, qualia Sodomitarum fuerunt. Quae si omnes gentes facerent, eodem criminis reatu divina lege tenerentur, quae non sic fecit homines, ut se illo uterentur sprung hat diese Perversion des natürlichen Strebens in einer Fehlfunktion des sensus interior, der eine fehlerhafte Selbstwahrnehmung zulässt, aufgrund derer sich der Mensch für wichtiger hält, als er tatsächlich ist. Dies ist der Grund für den menschlichen Hochmut (superbia) 174 , der für Augustinus zur Quelle allen Übels - auch der concupiscentia - wird. 175 Ein Schaden in der Seele des Menschen führt zu einer beeinträchtigten Selbstwahrnehmung und folglich zu einem ex‐ zessiven Streben des Menschen nach den zu gebrauchenden Dingen. Diese Be‐ einträchtigung wurde Augustinus zufolge auf dem Wege der biologischen Fort‐ pflanzung von Generation zu Generation weitergegeben und ist damit dem Menschen angeboren. 176 Das natürliche - d. h. angeborene - Streben des Men‐ schen ist nicht in einem normativen Sinne natürlich. 177 Dieses normativen De‐ fizits und der daraus resultierenden Konsequenzen ist sich Augustinus durchaus bewusst. Unsere natürliche Verbindung mit Gott ist gestört, wenn wir nicht mit der von Gott geschaffenen normativen Ordnung übereinstimmen. 178 Um zu ver‐ stehen, wie sich dieser Schaden genauerhin im Handeln des Menschen äußert 321 IV.2 Eudämonismus und ordo bonorum in Augustins Ethik modo. Violatur quippe ipsa societas, quae cum deo nobis esse debet, cum eadem natura, cuius ille auctor est, libidinis p erversitate polluitur. 179 Vgl. Aug.An.quant. 22: […] deus fecerit animum […]; Io.ev.tr. 39. 8: Omnis anima […] et quamvis magna creatura, tamen creatura; quamvis corpore melior, tamen facta. 180 Vgl. Aug.An.quant. 22 : At si corporea corporeis oculis mira quadam rerum cognatione cernuntur; oportet animum quo videmus illa incorporalia, corporeum corpusve non esse; siehe auch: Gn.litt. 7.25: Unde ergo sit ipsa, id est, de qua velut materie deus hunc flatum fecerit, quae anima dicitur, dum quaeritur, nihil corporeum debet occurrere. Sicut enim deus omnem creaturam, sic anima omnem corpoream creaturam naturae dignitate prae‐ cellit; 7.26: Omne quippe corpus in omne corpus mutari posse, credibile est; quodlibet autem corpus mutari posse in animam, credere absurdum est; zur Kritik des materialistischen Seelenverständnisses der Stoa siehe auch: Plot.Enn. 5.7.2-8; Verbeke (1945), 500 f und 508. 181 Zur Unsterblichkeit der Seele siehe die Argumentation Augustins in seiner Schrift De immortalitate animae. 182 Vgl. Aug.Io.ev.tr. 39.8: Omnis anima quoniam res est mutabilis, et qu amvis magna crea‐ tura, tamen creatura; quamvis corpore melior, tamen facta: omnis ergo anima quoniam mutabilis est, hoc est, modo credit, mod o non credit; modo vult, modo non vult; modo adultera est, modo casta; modo bona, modo mala; mutabilis est. 183 Vgl. Aug.Civ. 5.11: qui [sc. deus] bonis et malis essentiam etiam cum lapidibus, vitam seminalem etiam cum arboribus, vita m sensualem etiam cum pecoribus, vitam intellec‐ tualem etiam cum solis angelis dedit; 7.29: Nos deum colimus, non caelum et terram, quibus duabus partibus mundus hic constat; nec animam vel animas per viventia quaecumque diff usas, sed deum, qui fecit caelum et terram et omnia, quae in eis sunt; qui fecit omnem animam, sive quocumque modo viventem et sensus ac rationis expertem, sive etiam sen‐ tientem, sive etiam intellegentem; An.quant. 70: In primis tamen tibi amputem latissimam und wie er behoben werden kann, muss die Psychologie Augustins näher un‐ tersucht werden, was im nun folgenden Kapitel geschehen soll. IV.3 Die Psychologie des Augustinus - oder die Frage nach den motivierenden mentalen Zuständen IV.3. 1 Die Psychologie des Augustinus Im weitesten und grundlegenden Sinne ist die Seele bei Augustinus das Phä‐ nomen des Lebens, wobei anima den Lebensatem bzw. das Lebensprinzip be‐ zeichnet. Die Seele (anima) ist für Augustinus eine geschaffene 179 , immateri‐ elle 180 , unsterbliche 181 , aber nicht unveränderliche 182 Substanz. Sie ist kein Teil der göttlichen Substanz, sondern von dieser geschaffen. Terminologisch unter‐ scheidet Augustinus zwischen drei verschiedenen Seelen, wobei anima den Oberbegriff für alle drei Arten darstellt: Zum einen erkennt er die Existenz einer pflanzlichen Seele an, welche von ihm zumeist eher als Leben (vita) denn als Seele bezeichnet wird; 183 zum anderen unterscheidet er zwischen der nicht ver‐ 322 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus quandam et infinitam exspectationem, ne me de omni anima dicturum putes sed tantum de humana […]. […] Sed haec etiam homini cum arbustis communia videri queunt: haec enim etiam dicimus vivere, in suo vero quidque illorum genere custodiri, ali, crescere, gignere videmus atque fatemur; Doctr.chr. 1.8: Deinde ipsam vitam pergunt inspicere, et si eam sine sensu vegetantem invenerint, qualis est arborum, praeponunt ei sentientem, qualis est pecorum; Gn.litt.inp. 24: Non ergo qui his causis non sentit, caret ista luce; sed cum talis potentia non est in anima, quae iam nec anima dici solet, sed tantum vita, qualis perhibetur esse vitis et arboris, et quarumque stirpium. 184 Vgl. Aug.Trin 14.26: H anc contemplativam sapientiam, quam proprie put o in litteris sanctis ab scientia distinctam sapientiam nuncupari dumtaxat hominis, quae quidem illi non est nisi ab illo cu ius participatio ne vere sapiens fieri mens rationalis et intellectualis potest […]. 185 Vgl. Aug.Acad. 1.5: Quis, inquam, dubitaverit, nihil aliud esse hominis optimum, quam eam partem animi, cui dominanti obtemperare convenit cetera quaeque in homine sunt? Haec autem, ne aliam postules definitionem, mens aut ratio dici potest. 186 Vgl. Aug.Civ. 7.23: Et certe idem Varro in eodem de diis selectis libro tres esse adfirmat animae gradus in omni universaque natura: unum, quod omnes partes corporis, quae vi‐ vunt, transit et non habet sensum, sed tantum ad vivendum valetudinem; hanc vim in nostro corpore permanare dicit in ossa, ungues, capillos; sicut in mundo arbores sine sensu aluntur et crescunt et modo qu odam suo vivunt; secundum gradum animae, in quo sensus est, hanc vim pervenire in oculos, aures, nares, os, tactum; tertium gradum esse animae summum, quod vocatur animus, in quo intellegentia praeminet; hoc praeter hominem omnes carere mortales. 187 Vgl. O’Daly (1987), 14 f, der auf Porph.ad Gaur. 6.2 f als neuplato nische Parallele hin‐ weist. 188 Zur folgenden Analyse u nd Zusammenfassung siehe: O’Da ly (1987), 13 f und Drecoll (1999), 138 f. 189 Vgl. Aug.An.quant. 70. nünftigen Seele (anima irrationalis) der Tiere und der vernünftigen Seele (animus bzw. anima rationalis), welche den Menschen und Engeln vorbehalten ist. Die nicht vernünftige Seele verfügt Augustinus zufolge über ein Strebens- (appetitus), Wahrnehmungs- (sensus) und Erinnerungsvermögen (memoria). Über diese Vermögen der irrationalen Seele hinaus besitzt die vernünftige Seele Verstand (mens bzw. ratio) und Willen (voluntas). Der Verstand ist das heraus‐ ragende 184 bzw. beste 185 der Seelenvermögen. Augustinus unterscheidet im An‐ schluss an Varro zunächst drei verschiedene Seelenstufen: die vegetative Seele in Pflanzen, Knochen und Haaren; die sinnliche Seele in den Tieren; und die vernünftige Seele im Menschen. 186 Eine feingliedrigere Unterscheidung der Seele, welche vermutlich neuplato‐ nisch inspiriert ist, 187 findet sich in seinem Werk De quantitate animae. 188 Dort wird die erste und niedrigste Stufe (I) der Seele allen vegetativen und höheren Lebensformen zugeschrieben (animatio). Sie ist für das Leben, das Wachstum, den organischen Zusammenhalt des Lebewesens sowie seine Ernährung und seinen Selbsterhalt verantwortlich. 189 Die zweite Seelenstufe (II) ist Tieren und 323 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 190 Vgl. Aug.An.quant. 71. 191 Vgl. O’Daly (1987), 13. 192 Vgl. Aug.An.quant. 72. 193 Vgl. Aug.An.quant. 73. 194 Vgl. Aug.An.quant. 74. 195 Vgl. Aug.An.quant. 75. 196 Vgl. Aug.An.quant. 76. 197 Vgl. Aug.An.quant. 75: Qui [sc. spiritus] profecto in ea non instauratur, nisi prius cor mundum fuerit, hoc est, nisi prius ipsa cogitatio ab omni cupiditate ac faece rerum mor‐ talium sese cohibuerit et eliquaverit. Menschen vorbehalten und umfasst das Wahrnehmungs- und Strebevermögen, das Vermögen zur Ortsbewegung, das Fortpflanzungsvermögen und die Sorge um die Nachkommenschaft, das Vermögen zu träumen und zu urteilen, den Be‐ sitz gewohnheitsmäßiger Dispositionen sowie das Erinnerungsvermögen (sensus). 190 Diese beiden Seelenstufen korrespondieren der varronischen vege‐ tativen und sinnlichen Seele. 191 Innerhalb der varronischen vernünftigen Seele unterschied Augustinus fünf verschiedene Stufen: Die erste Stufe innerhalb des vernünftigen Seelengrades bzw. die dritte innerhalb der Klassifikation in De quantitate animae (III) kann als die Stufe der diskursiven Vernunft bezeichnet werden. Sie findet ihren Ausdruck in der Ausübung der verschiedenen Künste und Wissenschaften, in der Rhetorik, in ästhetischen Urteilen sowie in unserem Sozialverhalten, der Sprache und spekulativem Denken (ars). 192 Die folgende vierte Stufe (IV) ist vorwiegend - wenn auch nicht ausschließlich - ethischer Natur. Sie ist für die Bewertung der verschiedenen Güter zuständig, bemüht sich um moralischen Fortschritt und beschäftigt sich mit dem Glauben und der Frage der Autorität. Auf dieser Stufe befindet sich das moralische Subjekt in einem Zustand der Anspannung und Sorge über seine noch nicht erreichte Wesens‐ vollendung (virtus). 193 Auf der fünften Stufe (V) wurde diese Vollendung erreicht. In der Folge sind Sorge und Anspannung überwunden und die gereinigte Seele ist voll Vertrauen in ihre eigenen Kräfte (tranquillitas). 194 Die letzten beiden Stufen sind dem reinen Intellekt vorbehalten. So besitzt die Seele auf der sechsten Stufe (VI) ein Verlangen, die höchsten Wahrheiten zu erkennen (in‐ gressio). 195 Auf der siebten Stufe (VII) besitzt sie dieses Wissen und kann sich der Kontemplation dieser Wahrheiten hingeben (contemplatio). 196 Die ethischen Stufen (IV) und (V) bilden dabei die Voraussetzung für die intellektuelle Er‐ kenntnis auf den Stufen (VI) und (VII), 197 wobei beide jeweils durch den Gegen‐ satz von Streben und Erfüllung unterschieden sind. Die intellektuelle Erkenntnis der sechsten und siebten Stufe hat wiederum Rückwirkungen auf den ethischen Bereich. So erfasst man den wahren Wert der verschiedenen Güter und erlangt durch die Erkenntnis der spezifisch christlichen Wahrheiten - wie der Mensch‐ 324 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 198 Vgl. Aug.An.quant. 76. 199 Zum Leib-Seele-Problem bei Augustinus siehe: O’Daly (1987), 40-54; Hunter (2012); Niederbacher (2014). 200 Vgl. Aug.An.quant. 59: Age, si corpus potest ibi pati aliquid ubi non est, propter quandam cum ani ma contemperationem, q uod oculis in cernendo accidere inventum est; siehe dazu auch: Rist (1994), 99 f. 201 Siehe oben: S. 136; zu Augustins Kenntnis der stoischen πνεῦμα-Lehre siehe: O’Daly (1987), 64 f; Drecoll (1999), 72 f und 76 f. 202 V gl. Aug.Ep. 16 6. 4: Per tot um quippe corpus quod animat, non locali diffusione, sed quadam vitali intentione porrig itur; Imm.an. 25: Sed illud tota sentit anima, quod in par‐ ticula fit pedis, et ibi tantum sentit, ubi fit. Tota igitur singulis partibus simul adest, quae tota simul sentit in singulis; siehe dazu auch: Drecoll (1999), 63f. 203 Vgl. Aug.Gn.litt. 8.42: […] cum anima non sit natura corporea ne c locali spatio corpus impleat, sicut aqua utrem sive spongiam, sed miris modis ipso incorporeo nutu commixta sit vivificando corpori, quo et imperat corpori quadam intentione, non mole; quantum magis, inquam, nutus ipse voluntatis eius non per locum movetur […]. werdung Jesu Christi oder der Auferstehung des Leibes - ein neues Wissen, welches die menschliche Furcht vor dem Tod verschwinden lässt. 198 Diese Ein‐ teilung der Seele in verschiedene Stufen kann durch folgende Grafik veran‐ schaulicht werden: Abb. 2: Die Struktur der Seele nach Augustinus Das Verhältnis von Körper und Seele 199 bestimmt Augustinus als das einer Mi‐ schung (contemperatio). 200 Diese Bestimmung des Verhältnisses von Körper und Seele war uns bereits bei den Stoikern begegnet, welche die Verbindung von Körper und pneumatischem Substrat als κράσις qualifizierten. 201 Augustinus zufolge ist die Seele in jedem Körperteil vollständig gegenwärtig, wobei diese Präsenz nicht als eine räumliche, sondern in Form einer vitalen Spannung (intentio vitalis) zu verstehen ist. 202 Die Seele ist durch diese Spannung in jedem Teil des Körpers präsent, den sie belebt und steuert. 203 Auch bei dieser Vorstel‐ lung scheint Augustinus auf stoisches Gedankengut zurückzugreifen. Dort 325 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 204 Siehe oben: S. 192-194; siehe dazu auch: O’Daly (1987), 43-45, der freilich bemerkt, dass dem stoischen τόνος die intentionale bzw. volitionale Konnotation fehlt, welche in der augustinischen intentio zu finden ist. 205 Vgl. Aug.Gn.litt. 3.25: Nam et ipse corporis dolor in quolibet animante magna et mirabilis a nim ae vis est, quae illam conpagem ineffabili permixtione vitaliter continet et in quandam sui moduli redigit unitatem, cum eam non indifferenter, sed, ut ita dicam, in‐ dignanter patitur corrumpi atque dissolvi; Imm.an. 24: Hoc autem ordine intellegitur a summa essentia speciem corpori per animam tribui, qua est in quantumcumque est. Per animam ergo corpus subsistit, et eo ipso est quo animatur […]; An.quant. 70: Haec igitur primo [sc. gradu], quod cuivis animadvertere facile est, corpus hoc terrenum atque mortale praesentia sua [sc. anima] vivificat; colligit in unum, atque in uno tenet, diffluere atque contabescere non sinit; Mus. 6.44: Laboriosior est huius mundi amor. Quod enim in illo anima quaerit, constantiam scilicet aeternitatemque, non invenit: quoniam rerum transitu completur infima pulchritudo, et quod in illa imitatur constantiam, a summo deo per animam traicitur; Retr. 1.11.4: Hoc quippe in ea pulchritudine imitatur constantiam, quod in compage sua manent eadem corpora, in quantum manent, id autem a summo deo in ea per animam traicitur. Anima quippe ipsam compagem tenet, ne dissolvatur et diffluat; quod videmus in corporibus animalium anima discedente contingere. 206 Vgl. Aug.S. 137. 11 : Nam sicut in unitate personae anima utitur corpore, ut homo sit; […] In illa ergo persona mixtu ra est animae et corporis; […] si tamen recedat auditor a consuetudine corporum, qua solent duo liquores ita commisceri, ut neuter servet integritatem suam; quamquam et in ipsis corporibus aeri lux incorrupta misceatur; zum neuplatoni‐ schen Hintergrund der Luft-Licht-Analogie siehe: Plot.Enn. 4. 5. 7. wurden die verschiedenen Funktionen der Seele durch unterschiedliche Span‐ nungen (τόνοι) des Seelenpneumas zustande gebracht - u. a. auch der Zusam‐ menhalt (ἕξις) des Körpers. 204 Auch bei Augustinus sorgt die Seele für den Zu‐ sammenhalt des Körpers, wobei dieser Zusammenhalt in der ‚unbeschreiblichen Mischung‘ (ineffabili permixtione) von Körper und Seele seinen Grund hat. 205 Die Mischung aus Körper und Seele ist Augustinus zufolge eine Einheit, in der jede der beiden Naturen ihre Identität bewahrt. Er sucht dies anhand einer Analogie zu verdeutlichen: Die Mischung von Körper und Seele sei so zu verstehen wie die Mischung von Luft und Licht, die beide ihre jeweilige Identität bewahren, nicht wie die Mischung zweier Flüssigkeiten, wo jede der beiden in der neuen Mischung ihre jeweiligen Charakteristika verliere. 206 Dies ist genau die Art von Mischung, welche die Stoiker als κράσις bezeichnet haben. So haben sie sich die Mischung von Körper und Pneuma vorgestellt. Als Vermittler dieser stoischen Vorstellung kommt Porphyrios bzw. eine lateinische Übersetzung seiner Schrift Vermischte Untersuchungen (Σύμμικτα Ζητήματα) infrage, in welcher er zwi‐ schen zwei Arten von Mischung unterscheidet: zum einen die unumkehrbare Einheit (ἕνοσις im engen Sinn), wobei die spezifischen Charakteristika der je‐ weiligen Substanzen durch die Mischung verloren gehen; zum anderen eine Mischung (κράσις), welche umkehrbar ist und in der die individuellen Eigen‐ schaften der gemischten Substanzen erhalten bleiben - wie in der Mischung von 326 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 207 Vgl. Dörrie (1959), 42 f.45.47.54; Rist (1994), 99 Anm. 26 weist auf Varro, Cornelius Celsus und Cicero (Fin. 5.34) a ls weite re mögliche Quellen hin; O’Daly (1987), 43 Anm. 106 weist zwar auf den stoischen Hintergrund der verschiedenen Arten von Mischung hin, führt dies allerdings nicht weiter aus. 208 Vgl. Aug.Imm.an. 7: Namque aut secundum corporis passiones, aut secundum suas, anima dicitur immutari. Secundum corporis, ut per aetates, per morbos, per dolores, labores, of‐ fensiones, per voluptates. Secundum suas autem, ut cupiendo, laetando, metuendo, aegre‐ scendo, studendo, discendo. 209 Vgl. Aug.Vera rel. 18: Mutari autem animam posse, non quidem localiter, sed tamen tem‐ poraliter, suis affectionibus quisque cognoscit; 28: Quod autem affectibus contingit animae, hoc locis corpori: nam illa movetur voluntate, corpus autem spatio; S. 241. 2: Transierunt ad animam, quam utique comprehenderant meliorem, et etiam invisibilem mirabantur: invenerunt et ipsam mutabilem; modo velle, modo nolle; modo scire, modo nescire; modo meminisse, modo oblivisci; modo timere, modo audere; modo ire in sapientiam, modo in stultitiam deficere. 210 Vgl. Aug.Imm.an. 8: Potest igitur aliqua mutatio fieri eorum quae in subiecto sunt, cum ipsum tamen iuxta id quod hoc est ac dicitur, non mutetur. Wasser und Wein, die durch einen mit Öl getränkten Schwamm wieder getrennt werden können. 207 Entsprechend dieser Lehre von der Seelenspannung nimmt Augustinus auch an, dass die Seele veränderlich sei. Er klassifiziert diese Veränderungen in zwei Arten: zum einen die Veränderungen entsprechend der Affekte des Körpers; zum anderen die Veränderungen entsprechend der Affekte der Seele selbst. Zur ersten Gruppe rechnet er Alter, Krankheiten und Erschöpfung; zur zweiten die Affekte von Begehren, Freude, Furcht und Trauer, aber auch Eifer und Lernen. 208 Die Seele wird demnach sowohl durch die Interaktion physischer und psychi‐ scher Zustände und den Einfluss ersterer auf letztere als auch durch spezifische psychologische Zustände verändert. 209 Augustinus hält diese Veränderungen für qualitative Veränderungen. Die Affekte, der Wille, die moralischen und intel‐ lektuellen Eigenschaften der Seele mögen sich ändern, jedoch beeinträchtigen diese Veränderungen nicht die substantielle Identität der Seele; sie setzen diese Identität des Subjekts vielmehr voraus, ohne die sie nicht existieren können. 210 Wie der Wille, die Vernunft, die Affekte und die unterschiedlichen Seelenver‐ mögen bei der Handlungsmotivation zusammenwirken und worin sich dabei stoischer Einfluss zeigt, soll im Weiteren untersucht werden. Es wird deutlich werden, dass sich Augustinus strukturell eng am stoischen Modell der Hand‐ lungsgenese orientiert. 327 IV.3 Die Psychologie des Augustinus IV.3. 2 Augustins Rezeption der stoischen Handlungspsychologie Augustinus greift bei der Erklärung der Handlungsgenese und Handlungsmo‐ tivation auf stoisches Gedankengut zurück. So findet sich in seinem Werk die‐ selbe Struktur der Handlungserklärung, wie sie bei den Stoikern begegnet war. Im dritten Buch seiner Schrift De libero arbitrio beschreibt er die Handlungs‐ entstehung und -motivation folgendermaßen: Der Wille wird aber nur durch etwas Vorgestelltes (aliquod visum) zu jeglicher Hand‐ lung angeregt. Was jedoch ein jeder wählt und was er von sich weist, steht in seiner Macht (est in potestate), nicht aber durch die Vorstellung berührt zu werden (quo viso tangatur). Deshalb ist zuzugeben, dass die Seele durch höhere und niedrigere Vorstel‐ lungen (et ex superioribus et ex inferioribus visis) berührt wird, so dass das vernunft‐ begabte Wesen aus beiden wählt, was es will, und je nach Verdienst der Wahl folgt daraus Unglück oder Glückseligkeit. So wurde im Paradies aus der Region des Höheren das Gebot Gottes vorgestellt (visum ex superioribus praeceptum dei), aus der des Nied‐ rigeren der Rat der Schlange (visum ex inferioribus suggestio serpentis). Nämlich weder was ihm von Gott geboten (praeciperetur) noch was ihm von der Schlange geraten wurde (suggereretur), stand in der Macht des Menschen (in hominis potestate). Dass er aber frei war und - ohne alle Fesseln des Unvermögens in der Gesundheit der Weisheit selbst gebildet - der niedrigeren Vorstellung und ihrer Verlockung nicht nachzugeben brauchte (non cedere visis inferioris illecebrae), das kann man daraus erkennen, dass sogar die Törichten diese Verlockung überwinden und zur Weisheit übergehen, trotz der Beschwerlichkeit, die das Entbehren der schändlichen Süße verderblicher Ge‐ wohnheiten mit sich bringt. An dieser Stelle kann sich aber eine Frage erheben. Wenn dem Menschen Vorgestelltes (visa) aus beiden Regionen gegenwärtig war, das eine im Gebot Gottes (ex praecepto dei), das andere im Rat der Schlange (ex suggestione ser‐ pentis), woher wurde dem Teufel selbst der Rat gegeben (suggestum sit), die Gottlo‐ sigkeit zu erstreben, durch den er aus seiner erhabenen Höhe herabstürzte? Denn wenn er von keiner Vorstellung berührt worden wäre (nullo viso tangeretur), hätte er nicht gewählt zu tun, was er tat; wäre ihm nämlich nichts in den Geist eingedrungen, hätte er seine Absicht auf keinen Fall dem Frevel zugewendet (nullo modo intentionem convertisset in nefas). Von woher also gelangte in den Geist, was auch immer es sein mag, das dort hineingelangte, so dass er das ins Werk setzte, wodurch er aus einem guten Engel zum Teufel wurde? Denn wer will, will in der Tat etwas, aber wenn er nicht von außen durch die körperlichen Sinne (extrinsecus per sensum corporis) ange‐ 328 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 211 Aug.Lib.arb. 3.74f: Sed quia vo luntatem non allicit ad faciendum quodlibet nisi aliquod visum, quid autem quisque vel sumat vel respuat est in potestate, sed quo viso tangatur nulla potestas est, fatendum est et ex superioribus et ex inferioribus visis animum tangi ut rationalis substantia ex utroque sumat quod voluerit et ex merito sumendi vel miseria vel beatitas subsequatur. Velut in paradiso visum e<s>t ex superioribus praeceptum dei, visum ex inferioribus suggestio serpentis. Nam neque quid sibi praeciperetur a domino neque quid a serpente suggereretur fuit in hominis potestate. Quam sit autem liberum et ab omnibus difficultatis vinculis expeditum in ipsa sapientiae sanitate constituto non cedere visis in‐ ferioris illecebrae, vel hinc intellegi potest, quod etiam stulti ea superant ad sapientiam transituri, etiam cum molestia carendi perniciosarum consuetudinum pestilentiosa dulce‐ dine. Quaeri autem hoc loco potest, si homini praesto fuerunt ex utraque parte visa, unum ex praecepto dei, alterum ex suggestione serpentis, unde ipsi diabolo suggestum sit adpe‐ tendae impietatis consilium quo de sublimibus sedibus laberetur. Si enim nullo viso tan‐ geretur, non eligeret facere quod fecit; nam si non ei aliquid venisset in mentem, nullo modo intentionem convertisset in nefas. Unde igitur venit in mentem quidquid illud est quod venit in mentem, ut ea moliretur quibus ex bono angelo diabolus fieret? Qui enim vult, profecto aliquid vult, quod, nisi aut extrinsecus per sensum corporis admoneatur aut oc‐ cultis modis in mentem veniat, velle non potest. 212 Vgl. Aug.Gn.lit t. 12 . 33: Ip sarum etiam futurarum motionum imagines praeveniunt fines actuum nostrorum. Quid enim agimus per corpus, quod non cogitando praeoccupa verit spiritus omniumque visibilium operum sim ilitud ines in se ipso primitus viderit et quo‐ dammodo disposuerit? 213 Vgl. Cic.Ac. 1.40 = LS 40B = SVF 1.55: Plurima autem in illa tertia philosophiae parte mutavit [sc. Zeno], in qua p rimum de sensibus ipsis quaedam dixit nova, quos iunctos esse censuit e quadam quasi impulsione oblata extrinsecus, quam ille φαντασίαν, nos visum appellemus licet […]; Luc. 18 = SVF 1.59: Cum enim ita negaret quicquam esse quod compr ehendi posset (id enim volumus esse ἀκατάλημπτον), si il lud ess et, sicut Zeno de‐ finiret, tale visum (iam enim hoc pro φαντασία verbum satis hesterno sermone trivimus) - visum igitur inpressum effictumque ex eo unde esset quale esse non posset ex eo unde non esset […]; Gell. 19.1.15-20 = Epict.frg. 9: visa animi (quas φαντασίας philosophi appel‐ lant), quibus mens hominis prima statim specie accidentis ad animum rei pellitur, non voluntatis sunt neque arbitraria, sed vi quadam sua inferunt sese hominibus noscitanda; probationes aute m (quas συγκαταθέσεις vocant), quibus eadem visa noscuntur, volunta‐ riae sunt fiuntque hominum arbitratu. propterea cum sonus aliquis fomidabilis aut caelo aut ex ruina aut repentinus nescio cuius periculi nuntius vel quid aliud est eiusmodi factum, sapientis quoque animum paulisper moveri et contrahi et pallescere necessum est, non opinione alicuius mali praecepta, sed quibusdam motibus rapidis et inconsultis officium trieben wird oder auf verborgene Weise (occultis modis) etwas in den Geist eindringt, kann er es nicht wollen. 211 (Übers. Brachtendorf) Für die Enstehung einer Handlung sind Augustinus zufolge Vorstellungen (visa) unbedingt notwendig. Wenn keine Vorstellung in der Seele des Menschen vor‐ käme, könnte er nicht handeln. 212 visum ist offenkundig Augustins Übersetzung der stoischen φαντασία. Für diese Übersetzung des stoischen terminus technicus konnte er sich auf Cicero und Gellius berufen, die den griechischen Begriff ebenfalls mit visum wiedergaben. 213 Die visa werden entweder durch sinnliche 329 IV.3 Die Psychologie des Augustinus m entis atque rationis praevertentibus. mox tamen ille sapiens ibidem τὰς τοιαύτας φα ντασίας (id est visa istae c animi sui terrifica) non adprobat (hoc est οὐ συγκατατίθεται οὐδὲ προσεπιδοξάζει), sed abicit respuitque nec ei metuendum esse in his quicquam vi‐ detur. atque hoc inter insipientis sapientisque animum differe dicunt quod insipiens, qualia sibi esse primo animi sui pulsu visa sunt saeva et aspera, talia esse vero putat et eadem incepta, tamquam si iure metuenda sint, sua quoque adsensione adprobat καὶ προσεπιδοξάζει (hoc enim verbo Stoici, cum super ista re disserunt, utuntur), sapiens autem, cum breviter et strictim colore atque vultu motus est, οὐ συγκατατίθεται, sed statum vigoremque sententiae suae retinet, quam de huiuscemodi visis semper habuit, ut de minime metuendis, sed fronte falsa et formidine inani territantibus. 214 Occultis modis ist hier im Gegensatz zu extrinsecus zu verstehen und verweist auf einen inneren Vorgang in der Seele des Menschen; für Vorstellungen die aus der E rinnerung hervorgehen siehe auch: Aug.Trin. 9 . 1 0: U nde etiam phantasias rerum corporalium per corporis sensum haustas et quodam modo infusas memoriae, ex quibus etiam ea quae non visa sunt ficto phantasmate cogitantur […]; 10. 11: Cum ergo sit m ens interior, quodam modo exit a semetipsa cum in haec quasi vestigia multarum intentionum exerit amoris affectum. Quae vestigia tamquam imprimuntur memoriae quando haec quae foris sunt corporalia sentiuntur ut etiam cum a bsunt ista, praesto sint tamen imagines eorum cogi‐ tantib us; 11. 6: Quia etiam detracta specie corporis quae corpora liter sentiebatur remanet in memoria similitudo eius quo rursus voluntas converta t aciem ut inde formetur intrin‐ secus sicut ex corpore obiecto sensibili sensus extrinsecus formabatur. […] Sed pro illa specie corporis quae sentiebatur extrinsecus succedit memoria retinens illam speciem quam per corporis sensum combibit anima, proque illa visione quae foris erat cum sensus ex corpore sensibili formaretur succedit intus similis visio cum ex eo quod memoria tenet formatur acies animi et absentia corpora cogitantur, voluntasque ipsa quomodo foris corpori obiecto formandum sensum admovebat formatumque iungebat, sic aciem recordantis animi con‐ vertit ad memoriam ut ex eo quod illa retinuit ista formetur, et fit in cogitatione similis visio. […] illa phantasia, cum animus cogitat speciem visi corporis, cum constet ex corporis similitudine quam memoria tenet et ex ea quae inde formatur in acie recordantis animi […]; 11. 14: visio recordantis; 11. 17: Nec avem quadrupedem memini qui non vidi, sed phantasiam talem facillime intueor dum alicui formae volatili qualem vidi adiungo alios duos pedes quales itidem vidi; S.dom. m. 1. 34: Suggestio, sive per memoriam fit sive per corporis sensus, cum aliquid videmus vel audimus vel olfacimus vel gustamus vel tan‐ gimus. 215 Vgl. Rist (1994 ), 86 ; siehe dazu au ch die Rede von den admonitiones secretae, die per visa mentis aut spiritus, und den admonitiones manifestiores, die über sinn liche Wahr‐ nehmung geschehen, in Aug.Simpl. 1. 2 . 2. 216 Siehe dazu auch: Aug.Gn.litt. 9.25: Nec in potestate ullius animae est, quae illi visa v eniant sive in sensus corporis sive in ipsum spiritum interius, quibus visis adpetitus m oveatur cuiuslibet animantis; Civ. 9.4: In eo libro [sc. Epicteti] se legisse dicit A. Gellius hoc Stoicis placuisse, quod animi visa, quas appellant phantasias nec i n potestate est utrum et quando incidant animo […]; Spir. et litt. 6 0: […] verum etiam quod visorum suasionibus agit d eus, ut velimus et ut credamus, sive extrinsecus per evang elicas exhortationes, ubi et mandata Wahrnehmung (extrinsecus per sensum corporis) - dies entspricht der αἴσθησις - oder durch innere Imagination oder Erinnerung (occultis modis) 214 hervorge‐ rufen. 215 Der Mensch hat bei Augustinus - wie bei den Stoikern auch - keinen Einfluss darauf, von welchen Vorstellungen er berührt wird. 216 Wie bei den Stoi‐ 330 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus legis aliquid agunt, si ad hoc admonent homi nem infirmitatis suae, ut ad gratiam iusti‐ ficantem credendo confugiat, sive intrinsecus, ubi nemo habet in potestate quid ei veniat in mentem, sed consentire vel dissentire propriae voluntatis est. 217 Vgl. Aug.Gn.litt. 9.25: Sed anima rationalis voluntatis arb itrio vel consentit visis vel non consentit; inrationalis autem non habet hoc iudic ium […]; Trin. 9.10: Unde etiam phan‐ tasias rerum corporalium per corporis sensum haustas et quodam modo infusas memoriae, ex quibus etiam ea quae non visa sunt ficto phantasmate cogitantur sive aliter quam sunt sive fortuito sicuti sunt, aliis omnino regulis supra mentem nostram incommutabiliter manentibus vel approbare apud nosmetipsos vel improbare convincimur cum recte aliquid approbamus aut improbamus; 9.15: V erumtamen cum et illa quae odimus recte displicent recteque improbantur, approbatur eorum improbatio et place t […]; Civ. 8.1: nec eas [sc. opiniones] omnium [sc. philosophorum], sed eorum tantum, qui cum et esse divinitatem et humana curare consentiant […]; 8.10: In quo autem n obis consentiunt de uno deo huius universitatis auctore, qui non solum super omnia corpora est incorporeus, verum etiam super omnes animas incorruptibilis, principium nostrum, lumen nostrum, bonum nostrum, in hoc eos ceteris anteponimus; 11.5: Deinde videndum est, isti, qui deum conditorem mundi esse consentiunt […]; 20.1: Nam nullum existimo esse mortalium, qui cum ea, sicut dicta sunt, intellexerit et a summo ac vero deo per animas sanctas dicta esse crediderit, non eis cedat atque consentiat, sive id etiam ore fateatur sive aliquo vitio fateri erubescat aut metuat, vel etiam pervicacia simillima insaniae id, quod falsum esse novit aut credit, contra id, quod verum esse novit aut credit, etiam contentiosissime defendere moliatur; 22.27: et ad ea corpora redire consentient, in quibus nulla patiantur mala. 218 Siehe dazu auch: Aug. Qu. 1. 30: C ete ris autem studiosis, qui in navi fuerant, exspectan‐ tibus protulit librum quemdam Epicteti Stoici, ubi legebatur non ita placui sse Stoicis, nullam talem perturbationem cader e in a nimum sapientis, quasi nihil tale in eorum ap‐ pareret affectibus, sed perturbationem ab ei s definiri, cum ratio talibus motibus cederet; cum autem non cederet, non dicendam pertu rbationem; Civ. 9. 3: Ut ne hominibus quidem sapientibus comparandi sint, qui huius modi perturbationibus animorum, a quibus hu‐ mana non est immunis infirmitas, etiam c um eas huius vitae condicione patiuntur, mente imperturbata resistunt, non eis cedentes ad aliquid approbandum vel perpetrandum, q uod exo rbitet ab itinere sapientiae et lege iustitiae; 20. 1: Nam nullum existimo esse mortalium, kern werden auch bei Augustinus die Vorstellungen durch sprachliche Propo‐ sitionen - die stoischen λεκτά - begleitet, welche er in diesem Passus als sug‐ gestiones bzw. praecepta bezeichnet. Der Mensch kann sich dazu entscheiden, der durch die Vorstellung präsentierten Handlungsoption zu folgen oder nicht zu folgen - dies steht in seiner Macht (est in potestate). Auch dieser Gedanke ist aus der Stoa bekannt. Es steht in unserer Macht (ἐφʼ ἡμῖν), einer φαντασία die Zustimmung (συγκατάθεσις) zu geben oder zu verweigern. Augustinus rezipiert diese stoische Zustimmungslehre und übersetzt an anderer Stelle den generellen stoischen Terminus für die Zustimmung bzw. den stoischen Begriff für die ex‐ plizite Zustimmung - die συγκατάθεσις - mit consensio bzw. consentire, adpro‐ bare oder iudicium. 217 Der stoische Begriff für die implizite Zustimmung - die εἴξις - wird in der obigen Passage aus De libero arbitrio durch das Verbum cedere wiedergegeben. 218 331 IV.3 Die Psychologie des Augustinus qui cum ea, sicut dicta sunt, intellexerit et a summo ac vero deo per animas sanctas dicta esse crediderit, non eis cedat atque consentiat, sive id etiam ore fateatur sive aliquo vitio fateri erubescat aut metuat, vel etiam pervicacia simillima insaniae id, quod falsum esse novit aut credit, contra i d, quod verum esse novit aut credit, etiam contentiosissime de‐ fendere moliatur; für die Übersetzung von εἴκειν durch cedere siehe auch: Cic.Luc. 38 = LS 40O: Ut enim necesse est lancem in libram ponderibus inpositis deprimi sic animum perspicuis cedere; 66 = LS 69G: Itaque visis cedo nec possum resistere. 219 Vgl. Aug.Civ. 19.4: Impetus porro vel appetitus actionis, si hoc modo recte Latine appellatur ea, quam Graeci vocant ὁρμή, quia et ipsam primis naturae deputant bonis, nonne ipse est, quo geruntur etiam insanorum illi miserabiles motus et facta, quae horremus, quando pervertitur sensus ratioque sopitur? ; 12.6: Huius porro malae voluntatis causa efficiens si quaeratur, nihil invenitur. Quid est enim quod facit voluntatem malam, cum ipsa faciat opus malum? Ac per hoc mala voluntas ef ficiens est operis mali, malae autem voluntatis efficiens nihil est. 220 Vgl. Aug.Civ. 9. 4 : I n eo libro [sc. Epicteti] se legisse dicit A. Gellius hoc Stoicis placuisse, quod animi visa, quas appellant phantasias nec in potestate est utrum et quando incidant animo […]. 221 Vgl. Aug.Acad. 3.18: Sed videamus quid ait Zeno: tale scilicet visum comprehendi et percipi posse, quale cum falso non haberet signa communia; 3. 21: Id visum ait posse comprehendi, quod sic appareret, ut falsum apparere non posset. Freilich findet im Zuge der augustinischen Gnadenlehre eine gewisse Modi‐ fikation dieses stoischen Gedankenguts statt, auf welche noch einzugehen sein wird. Doch wird auch nach Augustinus eine Handlung durch einen Handlungs‐ impuls (appetitus actionis, impetus bzw. voluntas) verursacht, 219 womit auch die stoische Lehre von der ὁρμή eine Entsprechung in der augustinischen Hand‐ lungstheorie hat. Im Folgenden soll nun Augustins Rezeption der einzelnen Ele‐ mente der stoischen Handlungspsychologie näher betrachtet werden. IV.3. 2. 1 visum Augustins Rezeption der stoischen Lehre von der Vorstellung (visum) dürfte sich vor allem über Gelliusʼ Diskussion der stoischen Lehre von den προπάθειαι 220 und Ciceros Behandlung der stoischen Erkenntnistheorie in seinen Academici libri sowie in der Schrift De fato vollzogen haben. So zeigt er in seiner Schrift Contra Academicos Vertrautheit mit der stoischen Lehre von der φαντασία καταλεπτική. 221 Er diskutiert hier den Wahrheitswert verschiedener Vorstel‐ lungen, auch wenn man nichts Näheres darüber erfährt, wie genau die Vorstel‐ lungen auf die menschliche Seele einwirken. Da für Augustinus die Seele eine immaterielle Entität ist, kann es sich für ihn bei der Vorstellung nicht um eine qualitative Veränderung des materiellen Seelenpneumas handeln, wie die Sto‐ iker dachten. Allerdings spricht er in Bezug auf die Seele auch von einer Quasi-Materie (quasi materies), welche diese besitze. 222 Daher dürfte es nicht ganz verkehrt sein, etwas Analoges zu der qualitativen Veränderung des See‐ 332 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 222 Vgl. Aug.Gn.litt. 7.9: Si enim quiddam incommutabile esset anima, nullo modo eius quas i materiam quaerere deberemus; nunc autem mutabilitas eius satis indicat eam in‐ terim vitiis atque fallaciis deformem reddi, formari autem virtutibus veritatisque doctrina, sed in sua iam natura qua est anima […]. […] sic fortasse potuit et anima, antequam ea ipsa natura fieret, quae anima dicitur, cuius vel pulchritudo virtus, vel deformitas vitium est, habere aliquam materiam pro suo genere spiritalem, quae nondum esset anima; 7.31: Illud tamen minime dubitandum est, et si aliquid antea fuit, a deo factum esse quod fuit, et eam nunc a deo factam, ut anima viva sit; aut enim nihil fuit, aut hoc quod est non fuit. Sed illam partem, qua quaerebamus quasi eius materiem unde facta sit iam satis tracta‐ vimus. 223 Vgl. Aug.Div.qu. 40: Ex diversis visis diversus appetitus animarum, ex diverso appetitu diversus adipiscendi successus, ex diverso successu diversa consuetudo, ex diversa consue‐ tudine diversa est voluntas. 224 Aug.En.Ps. 118. 17. 3: Cum itaque alia sint quae ideo discimus ut tantummodo sciamus, alia vero ut etiam faciamus; quando deus ea docet, sic docet ut scienda sciamus aperiendo veritatem, sic docet ut facienda faciamus, inspirando suavitatem. lenpneumas in der Stoa auch bei Augustinus anzunehmen. Die Details bleiben jedoch leider im Dunkeln. Vorstellungen spielen nicht nur für die Erkenntnistheorie eine Rolle, sondern sind auch für die Motivations- und Handlungstheorie von Bedeutung, wie aus der oben zitierten Passage aus De libero arbitrio ersichtlich wurde. In der stoi‐ schen Motivationstheorie ist es eine Vorstellung von besonderer Art, welche dazu in der Lage ist, zu einer Handlung zu motivieren - eine sog. φαντασία ὁρμετική oder ‚impulsive Vorstellung‘. Auch bei Augustinus findet sich eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten der Vorstellung - rein theore‐ tische und praktische Vorstellungen. 223 Aus diesen verschiedenen Vorstellungen resultieren auch verschiedene Formen des Wissens, ein rein theoretisches und ein praktisches Wissen: Daher besteht ein Unterschied zwischen dem, was wir lernen, damit wir es nur wissen, und dem, damit wir es auch tun; weil Gott dies lehrt, lehrt er es so, damit wir das zu Wissende wissen, indem er die Wahrheit eröffnet, so, dass wir das zu Tuende tun, indem er Lieblichkeit (suavitatem) einhaucht. 224 Wenn nämlich solche Dinge gelehrt werden, wo es genügt zu glauben und zu ver‐ stehen, dann bedeutet ihnen zuzustimmen nichts anderes als zu bekennen, dass sie wahr sind. Wenn aber das gelehrt wird, was getan werden muss, und es deshalb gelehrt wird, damit es getan wird, dann wird vergeblich davon überzeugt, dass das Gesagte wahr ist, und dann erfreut umsonst der Redestil an sich, wenn der Zuhörer es nicht so aufnimmt, dass er es tut. Ein Kirchenlehrer muss also, wenn er etwas rät, was getan werden muss, nicht nur lehren, damit er unterweist, und erfreuen, damit er die Auf‐ merksamkeit der Zuhörer fesselt, sondern auch erschüttern, damit er siegt. Jener Zu‐ 333 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 225 Aug.Doctr.chr. 4. 29: Si enim talia docentur quae credere vel nosse sufficiat, nihil est aliud eis consentire nisi confiteri vera esse. Cum vero id docetur quod agendum est, et ideo docetur ut agatur, frustra persuadetur verum esse quod dicitur, frustra placet modus ipse quo di‐ citur, si non ita discitur ut agatur. Oportet igitur eloquentem ecclesiasticum, quando suadet aliquid quod agendum est, non solum docere ut instruat et delectare ut teneat, verum etiam flectere ut vincat. Ille quippe iam remanet ad consensionem flectendus eloquentiae gran‐ ditate, in quo id non egit usque ad eius confessionem demonstrata veritas, adiuncta etiam suavitate dictionis. 226 Vgl. Byers (2013), 7 -21; zur Lehre von den λεκτά in klassischen Werken der rhe torischen Ausbildung siehe: Cic.Orat. 39 und 137 f; de Orat. 3. 203-207; Quint.Inst. 9. 1.26 f; Gell. 16. 8.8-10. 227 Vgl. Jackson (1969). 228 Zur Authen tizität von De dialectica siehe: Jackson/ Pinborg (1975), 3-5 und 27f; Pépin (1976), 59f. 229 Diese Übersetzung stellt eine genauere Wiedergabe des griechischen Begriffs dar als alle anderen auf uns gekommenen Versionen (z. B. Sen.Ep. 117. 13: enuntiativum, ef‐ fatu m, enuntiatum, edi ctum), welche besser geeignet sind ein vollständiges λεκτόν oder ein ἀξιώμα, welches ausgesprochen wurde, wiederzugeben; siehe dazu: Long (2005), 52. 230 Wahrscheinlich Varros De dialectica, das zweite Buch seiner Disciplinarum libr i, wel‐ ches sich selb st wiederum auf eine Bearbeit ung eines stoischen Dialektiklehrbuchs ges tützt haben dürfte (vgl. Barwick [1957], 8-28, bes. 21 f); siehe dazu: Fischer (1912); Duchrow (1965), 42 Anm. 47; Jackson/ Pinborg (1975), 122; Pépin (1976), 112 und 121-130; Hülser (1987), XLV; Long (2005), 37; Byers (2013), 7. hörer freilich bleibt übrig, der durch den erhabenen Redestil zur Zustimmung beein‐ flusst werden muss, bei dem das Bekenntnis nicht durch das Lehren der Wahrheit allein und auch nicht unter Hinzufügen der Lieblichkeit (adiuncta suavitate) der Re‐ deweise errreicht wird. 225 (Übers. Pollmann mit Modifikationen) Mit den praktischen Vorstellungen, auf welchen das praktische Wissen basiert, scheint eine Lieblichkeit (suavitas) verbunden zu sein, welche in beiden Texten hervorgehoben wird. Diese Lieblichkeit verleiht der Handlung Attraktivität, so dass man geneigt ist, sie auszuführen. Doch wie wird diese Lieblichkeit dem Akteur vermittelt? Zur Klärung dieser Frage griff Augustinus auf die stoische Lehre von den die Vorstellungen begleitenden λεκτά zurück. Dieser Lehre dürfte er, wie Sarah Byers überzeugend herausgearbeitet hat, in seiner rhetorischen Ausbildung begegnet sein. 226 So finden sich in Augustins rhetorischen Schriften deutliche Hinweise für seine Vertrautheit mit der stoischen Sprachphiloso‐ phie. 227 In seiner Schift De dialectica  228 fasst er Teile der stoischen Sprachtheorie zusammen und geht in diesem Kontext auch auf die Lehre von den λεκτά ein, welche er als dicibilia übersetzt. 229 Seine Quelle für diese Lehre dürfte vermutlich eine heute verlorene Schrift Varros 230 gewesen sein, welche gewisse Ähnlich‐ keiten mit der Doxographie besaß, wie sie bei Diogenes Laertios im siebten Buch seiner Vitae philosophorum vorliegt. 231 Ein dicibile ist Augustinus zufolge das, 334 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 231 Vgl. Byers (2013), 7 Anm. 15. 232 Vgl. Aug.Dial. 5: Quidquid autem ex verbo non aures sed animus sentit et ipso animo tenetur inclusum, dicibile vocatur. […] Quod dixi dicibile verbum est, nec tamen verbum, sed quod in verbo intellegitur et animo continetur, significat. 233 Vgl. Long (2005), 52 f. 234 Vgl. S. E. M 8. 12 = LS 33B = SVF 2.166: […] σημαινόμενον δὲ αὐτὸ τὸ πρᾶγμα τὸ ὑπʼ αὐτῆς δηλούμενον καὶ οὗ ἡμεῖς μὲν ἀντιλαμβανόμεθα τῇ ἡμετέρᾳ παρυφισταμένου διανοίᾳ […]. […] ἓν δὲ ἀσώματον, ὥσπερ τὸ σημαινόμενον πρᾶγμα, καὶ λεκτόν, ὅπερ ἀληθές τε γίνεται ἢ ψεῦδος. 235 Vgl. Long (2005), 53. 236 Vgl. S. E. M 8.275f = LS 53 T = SVF 2.223: φασὶν ὅτι ἄνθρωπος οὐχὶ τῷ προφορι κῷ λόγῳ διαφέρει τῶν ἀλόγων ζῴων (καὶ γὰρ κόρακες καὶ ψιττακοὶ καὶ κίτται ἐνάρθρους προφέρονται φ ωνάς), ἀλλὰ τῷ ἐνδιαθέτῳ. 237 Vgl. Aug.En.Ps. 3. 4: Voce mea ad dominum clamavi, id est non corporis voce quae cum strepitu verberati aeris promitur, sed voce cordis, quae hominibus silet, deo autem sicut clamor sonat. Qua voce Susanna exaudita est, et de qua voce ipse dominus parecipit, ut in cubiculis clausis, id est in secretis cordis sine strepitu oretur. Nec facile quisqam dixerit hac voce minus orari, si nullus verborum sonu s reddatur ex corpore, quoniam et silentes cum in cordibus oramus, si alienae ab affectu orantis cogitationes intercurrant, nondum dici potest: Voce mea ad dominum clamavi; 86. 2: […] volvens secum, tamquam plura intus apud se meditans […]. […] secum in silentio de illa civitate parturiens […]; 129. 12: […] in corde suo meditatus est. […] Scrutabatur iste spiritum suum, et cum ipso spiritu suo loquebatur, et in ipsa locutione garriebat. […] coepit intus garrire […] in silentio cogitat; siehe dazu: Byers (2013), 10 Anm. 35. was von einem Wort mit dem Geist bzw. der vernünftigen Seele - im Gegensatz zu den Ohren - wahrgenommen und eingeschlossen festgehalten wird. Das dicible ist ein Wort, aber es bezeichnet kein Wort, sondern das, was in dem Wort verstanden und durch den Geist behalten wird. 232 Diese Definition des dicibile hat eine enge Entsprechung mit der Definition des stoischen λεκτόν bei Sextus Empiricus: 233 […] das Bezeichnete ist die Sache selbst, die durch die stimmliche Äußerung klar ge‐ macht wird und die wir begreifen, da sie in Übereinstimmung mit unserem Denken subsistiert […]. […] eines hingegen ist unkörperlich, nämlich die bezeichnete Sache, und ein λεκτόν, welches eben wahr oder falsch ist. 234 (Übers. Hülser) Das dicibile ist wie das λεκτόν als etwas vom verbalen Ausdruck Verschiedenes eine hinsichtlich seines Gehaltes und seiner Wahrnehmung rein geistige Größe. Es wird im Geist eingeschlossen bewahrt und ist daher - im Gegensatz zum öffentlich hörbaren Wort - durch Privatheit gekennzeichnet. 235 Auf diese Form der inneren Rede, welche für die Stoiker als ἐνδιάθετος λόγος chrakteristisch für das Menschsein war, 236 greift Augustinus beispielsweise in seiner Psalmenexegese zurück, wo er die Sprechakte des Psalmisten als innere Rede in der Seele des Sprechers deutet. 237 Dies eröffnet ihm die Möglichkeit, durch die Analyse 335 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 238 Vgl. Aug.En.Ps. 93.2: Contra istam simplicem veracemque doctrinam qua insinuatur ho‐ minibus bonis, ut ipsam iustitiam diligant et ex ea deo placere velint, ab illo intellegant luce quadam intellegibili perfundi animam suam, ut faciant iusta opera, et illam lucem spientiae omnibus quae in saeculo diliguntur praeponant; contra istam doctrinam talia murmura sunt hominum, et si non procedunt in voce, roduntur in corde. […] Nam quid velit cor, lingua testatur, et quidem etiamsi lingua obmutesceret et ipsa timore compressa, deus videret intus quid cogitaret homo, etiamsi alium hominem lateret. Tacitas ergo cogi‐ tationes hominum tales aut etiam erumpentes in verba vel facta, curat iste psalmus, si curari velint. 239 Vgl. Aug.En.Ps. 72 . 2 0 : Nam periculosa verba sunt, fratres, molesta, et pene blasphema: Quomodo scivit deus? Hoc est et pene. Non dixit: Neciv it deus. Non dixit: Non est scientia in altissimo. Sed quasi quaerens, haesitans, dubitans. Hoc est quod ait paulo ante: Pene effusi sunt gressus mei. Quomodo scivit deus, et si est scientia in altissimo? Non confirmat, sed ipsa du bitatio periculosa est; S. 140. 5. 13: Hinc ille psalmus septuagesimus et secundus inducit hominem poen itentem, quod aliquando corde non recto deo pro hac mercede ser‐ vierit, qua cum pollere et excellere impios videret, turbatus coeperat cogitare quod deus humana non curet. Et cum ab ista cogitatione eum sanctorum ad deum pertinentium revo caret auctoritas, suscepit atque intendit agnoscere tam grande secretum, quod ei la‐ boranti non patefactum est, donec intraret sanctuarium dei, et intellegeret in novissima, hoc est donec accepto spiritu sancto disceret desiderare potiora, et prospiceret quae poena futura sit impiis, etiam qui fenea quadam felicitate temporaliter floruissent. Hunc psalmum septuagesimum secundum nocte qua illucescebat sollemnitas beatissimi Cy‐ priani per ministerium nostrum expositum lege et diligenter adverte; zu diesen Überle‐ gungen siehe auch: Byers (2013), 21. 240 Vgl. Lloyd (1978), 236; White (2010), 118. 241 Der stoischen Lehre von der φαντασία ὁρμετική dürfte Augustinus in dem heute ver‐ lorenen ersten Buch von Ciceros De fato begegnet sein. So berichtet Cicero in einem praktischen Kontext, dass er die stoische Lehre von der Zustimmung (συγκατάθεσις/ adsensio) zusammen mit der Analyse von Sätzen im ersten Buch seiner Schrift behandelt habe (vgl. Cic.Fat. 40: Atque hoc si placet quale sit videamus in adsensionibus, quas prima von verschiedenen Arten von Gedanken - entsprechend der verschiedenen dicibilia - sowohl den von ihm auch in der Psalmenexegese erstrebten Prozess der moralischen Selbstevaluation und Selbstverbesserung voranzutreiben, 238 als auch ihm fragwürdig oder problematisch erscheinende Aussagen des Psalmisten als bloße Gedanken zu interpretieren, mit denen zwar gespielt wird, die letzlich aber wieder verworfenen werden. 239 Zudem konnte Augustinus durch die Lehre von den dicibilia auch die verschiedenen Arten von Vorstellungen unter‐ scheiden. So besteht der Unterschied zwischen rein theoretischen und prakti‐ schen Vorstellungen in der Form der sie begleitenden dicibilia. War es in der Stoa der καθῆκον-Operator, der das die φαντασία ὁρμετική begleitende λεκτόν qualifizierte und die φαντασία zu einer φαντασία ὁρμετική - also zu einer praktischen Vorstellung - machte, so ist es bei Augustinus - ähnlich der stoi‐ schen Theorie 240 - auch ein praktisches Prädikat im dicibile, welches eine Vor‐ stellung zu einer praktischen Vorstellung macht. 241 In den oben diskutierten 336 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus oratione tractavi. Eas enim veteres illi, quibus omnia fato fieri videbantur, vi effici et ne‐ cessitate dicebant. Qui autem ab iis dissentiebant, fato adsensiones liberabant negabantque fato adsensionibus adhibito necessitatem ab his posse removeri iique ita disserebant […]; zusammen mit Fat. 1: quia pertinet ad mores, quod ἦθος illi vocant, nos eam partem philosophiae de moribus appellare solemus, sed decet augentem linguam Latinam nomi‐ nare moralem; explicandaque vis est ratioque enuntiationum quae Graeci ἀξιώματα vo‐ cant; […].). In diesem Zusammenhang wird er auch, da er ja die ἀξιώματα anspricht, auf die verschiedenen Arten von λεκτά eingegangen sein und, insofern sich die Schrift De fato dem freien menschlichen Handeln widmet, die λεκτά und ἀξιώματα herausge‐ arbeitet haben, die mit der Handlungsmotivation verbunden sind. Zudem dürfte Au‐ gustinus die φαντασία ὁρμετική auch aus Senecas Darstellung des Handelns rationaler Wesen in Ep. 113.18 bekannt gewesen sein: Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est, deinde impetum cepit, deinde adsensio confirmavit hunc impetum. Quid sit adsensio dicam. Oportet me ambulare: tunc demum ambulo cum hoc mihi dixi et adprobavi hanc opinionem meam; oportet me sedere: tunc demum sedeo. Oportet me ist hier das lateinische Äquivalent des καθῆκον-Operators, welches das λεκτόν qualifiziert, wodurch die φαντασία bzw. species zu einer φαντασία ὁρμετική wird; siehe dazu: Byers (2013), 29. 242 Vgl. auch Aug.Trin. 1 2 . 17: Neque enim potest peccatum non solum cogitandum suaviter verum etiam efficaciter perpetrandum mente decerni nisi et illa mentis intentio penes quam summa potestas est membra in opus movendi vel ab opere cohibendi malae actioni cedat et serviat. 243 Vgl. Aug.En.Ps. 11 8 . 8 . 5: Prius est enim ut videatur quam sint utiles et honestae. 244 Vgl. Au g.Sim pl. 1.2.22: Sed voluntas ipsa, ni si aliqui d occurrerit quod delectet atque in‐ vitet animum, moveri n ullo modo potest; En.Ps. 136.7: Delectationibus temporalium rerum temptamur, et colluctamur quotidie cum s uggestionibus illicitarum voluptatum; S. 229E.3: Sermocinatio ta cita tibi loquitur, ingerit fau ci bus siccitatem, facit frigida de lectationem; S.dom. m. 1.34: Velut cum ieiunamus et visis cibis palati appetitus adsurgit, non fit nisi delectatione; Conf. 2.12: Et nunc, domine deus meus, quaero, quid me in furto delectaverit […]. 245 Vgl. Aug.Trin. 12.17: Cum ergo huic intentioni mentis quae in rebus temporalibus et cor‐ poralibus propter actionis officium ratiocinandi vivacitate versatur carnalis ille sensus vel animalis ingerit quandam inlecebram fruendi se, id est tamquam bono quodam privato et proprio non tamquam publico atque communi quod est incommutabile bonum, tunc velut serpens alloquitur feminam. 246 Vgl. Aug.En.Ps. 103.4.6: Ipsam suggestionem contemne. Sed lucrum sugge ssit: magnum ibi lucrum est […]; S. 94A.2: Illecebras suggerit, insidias, cogitationes malas immittit; ut deteriori lapsu provocet, lucra ponit, damna minatur. Beispielen für praktische Vorstellungen war es das Prädikat der Lieblichkeit (suavitas), welches die im dicibile vorgestellte Handlung als attraktiv erscheinen lässt. 242 Andere Beispiele für praktische Prädikate im Werk Augustins sind utile und honestum  243 , delectatio und voluptas  244 , illecebra  245 oder lucrum  246 . Eine praktische Vorstellung lässt einem Akteur also durch ein praktisches Prädikat eine Handlung attraktiv erscheinen. Scott MacDonald nennt dies die subjektive Einschränkung der Motivation (subjective constraint on motivation) bei Augus‐ tinus: „[I]f we are to make sense of a person’s voluntary actions, we must un‐ 337 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 247 MacDonald (2003), 398; siehe dazu auch: Wetzel (1992), 44. 248 MacDonald (2003), 400. derstand, what in or about those actions moves her to view them favorably, what it is in them that she loves or takes to be worth seeking. […] we are moved or motivated by what delights us (delectat), what pleases us or gives us pleasure (libet, placet), what we love (amare), or what we want to enjoy (frui).“ 247 Die subjektive Einschränkung der Motivation bei Augustinus besagt folglich: Subjektive Einschränkung der Motivation: Wenn ein Akteur φ-t, muss ihm φ-en selbst oder ein mit φ-en verbundenes Ziel attraktiv erscheinen und ihn (aus diesem Grund) zu φ-en motivieren. Neben dieser subjektiven Einschränkung der Motivation existiert für Augus‐ tinus auch eine objektive Einschränkung, welche bereits bei den Überlegungen zum sensus interior herausgearbeitet wurde. Durch den sensus interior nimmt ein Lebewesen wahr, welche Art von Lebewesen es ist und welche Dinge folglich gut bzw. schädlich für es sind. Demnach erscheinen einem Lebewesen je nachdem, was für eine Art von Wesen es ist, Augustinus zufolge nur ganz be‐ stimmte Dinge attraktiv. Dies ist laut MacDonald die objektive Einschränkung der Motivation (objective constraint on motivation) bei Augustinus: „Augustine supposes that human beings are designed or constituted to take delight in only a certain range of things. […] Certain bodies have a kind of beauty (species) or an appropriate sort of fit (congruentia, modificatio) with our bodily senses that causes us to respond with delight to them. Our minds rather than our senses discern and respond to certain other goods such as temporal honor and power, which have a kind of dignity or worth (decus), and human friendship, the sweet‐ ness of which owes to the unity it secures among different minds. […] delight is the result of an appropriate sort of fit or accommodation between an object and the bodily senses or the mind and that, as a consequence, the sorts of objects in which human beings can take delight are the sorts that are fitted or accom‐ modated in the right way to our bodies and minds.“ 248 Welche Handlungen und Objekte einem Menschen attraktiv erscheinen können, ist ein objektiver Sach‐ verhalt, der von seiner Natur abhängt, und nicht alles kann diese Bedingung erfüllen. Die objektive Einschränkung der Motivation bei Augustinus lässt sich also folgendermaßen formulieren: Objektive Einschränkung der Motivation: Je nachdem, was für eine Art von Wesen ein Lebewesen ist, ist φ-en selbst oder ein mit φ-en verbundenes Ziel für es attraktiv. 338 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 249 Aug.Conf. 2.10: Propter universa haec [sc . temporalia bona] atque huius modi peccatum admittitur, dum immoderata in ista inclinatione, cum extrema bona sint, meliora et summa deseruntur, tu domine deus noster, et veritas tua et lex tua. 250 Vgl. MacDonald (2003), 400 f. 251 Aug.Conf. 2. 11: Cum itaque de facinore quaeritur, qua causa factum sit, credi non solet, nisi cum appetitus adipiscendi alicuius illorum bonorum, quae infima diximus, esse potu‐ isse apparuerit aut metus amittendi. Pulchra sunt enim et decora, quamquam prae bonis superioribus et beatificis abiecta et iacentia. Homicidium fecit. Cur fecit? Adamavit eius coniugem aut praedium aut voluit depraedari, unde viveret, aut timuit ab illo tale aliquid amittere aut laesus ulcisci se exarsit. Aufgrund der objektiven Einschränkung der Motivation ist es nicht der Fall, dass ein Mensch deswegen sündigt, weil er durch das Böse motiviert ist, sondern deswegen, weil er ganz natürliche und angemessene Freuden auf ungeordnete Weise erstrebt, indem er die minima et temporalia bona den maxima bona vor‐ zieht: Aber all das [sc. die zeitlichen Güter] - und anderes mehr - gibt der Sünde Raum, wenn in ungezügelter Neigung der Bereich dieser Güter, handelt es sich doch um Grenzgüter, maßlos überschritten wird und bessere, ja höchste Güter, nämlich du, Herr, unser Gott, deine Wahrheit und dein Gesetz preisgegeben werden. 249 (Übers. Flasch/ Mojsisch) Auch der Sünder wird von echten Gütern motiviert, welche er sich vernünfti‐ gerweise zu beschaffen sucht. Allerdings spielen sie angesichts ihres wahren Wertes eine zu große und unangemessene Rolle in seinem Leben. Diese Unord‐ nung seines ordo amoris, der nicht mit dem ordo bonorum übereinstimmt, macht seine Handlungen zu sündhaften Handlungen. 250 Auch kriminelles Verhalten muss daher unter Rekurs auf die Attraktivität der Handlung und des durch sie realisierten vermeintlichen Gutes erklärt werden: Wenn nun nach dem Motiv für eine Übeltat gesucht wird, ist man von ihr gewöhnlich nur überzeugt, wenn als mögliche Beweggründe das Verlangen, eines der Güter, die wir die niedrigsten genannt haben, besitzen zu wollen, oder die Furcht, sie zu verlieren, aufgedeckt sind. Sie sind in der Tat schön und reizvoll, wenngleich gegenüber den höheren, beseligenden Gütern nur verwerflich und verächtlich. Es hat jemand einen Mord begangen. Warum? Er begehrte eines anderen Frau oder Gut, wollte durch Raub seinen eigenen Lebensunterhalt sichern, fürchtete sich vor dem anderen aus Angst, um solchen Besitz gebracht zu werden, oder brannte aus verletzem Ehrgefühl darauf, sich zu rächen. 251 (Übers. Flasch/ Mojsisch) Allerdings kommt auch hier aufgrund der objektiven Einschränkung der Moti‐ vation nicht alles als Motiv in Frage: 339 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 252 Ebd.: Num homicidium sine causa faceret ipso homicidio delectatus? Quis crediderit? Nam de quo dictum est vaecordi et nimis crudeli homine, quod gratuito potius malus atque crudelis erat - praedicta est tamen causa: ne per otium, inquit, torpesceret manus et animus. Quaere id quoque: cur ita? Ut scilicet illa exercitatione scelerum capta urbe honores, im‐ peria, divitias assequeretur et careret metu legum et difficultate rerum propter inopiam rei familiaris et conscientiam scelerum. Nec ipse igitur Catilina amavit facinora sua, sed utique aliud, cuius causa illa faciebat. 253 Vgl. MacDonald (2003), 401. Sollte er etwa grundlos, aus reiner Lust am Morden, den Mord begangen haben? Wer könnte das glauben? Denn auch in der Erzählung über einen wahnwitzigen und über‐ mäßig grausamen Mann, dass er nämlich ohne Grund und Zweck schlecht und grausam war, ist zuvor doch ein Beweggrund genannt: sein Motiv, so der Autor [sc. Sallust], durch Untätigkeit nicht Hand und Geist erschlaffen zu lassen. Such auch hier zu ergründen: Warum das? Um nämlich durch das genannte Sich-Üben im Verbrechen Rom in seine Gewalt zu bringen und sich dadurch Ehre, Macht und Reichtum zu ver‐ schaffen, auch um frei zu sein von der Furcht vor den Gesetzen und um der bedroh‐ lichen Lage, in die er durch Vermögensschwund und Gewissenskonflikt geraten war, zu entrinnen. Nicht einmal ein Catilina liebte somit seine Schandtaten, sondern durchaus etwas anderes, dessentwegen er sie beging. 252 (Übers. Flasch/ Mojsisch) Die reine Lust am Morden kann Augustinus zufolge den Mord nicht erklären. Entsprechend der objektiven Einschränkung der Motivation ist der Mord selbst nichts, was dem Menschen attraktiv erscheinen kann. Wenn daher jemand einen Mord begeht, muss er durch etwas Anderes motiviert sein, was dem Menschen aufgrund der Tatsache, dass er ein Wesen von bestimmter Art ist, attraktiv er‐ scheinen kann - z. B. Ehre, Macht, Reichtum oder die Freiheit von Furcht und Bedrohung. 253 Eine Kombination der subjektiven und der objektiven Einschrän‐ kung, wie sie in den oben zitierten Passagen vorliegt, ergibt somit folgende all‐ gemeine Einschränkung der Motivation, welche Augustins Überlegungen zum menschlichen Handeln zugrunde liegt: Subjektive und objektive Einschränkung der Motivation: Wenn ein Akteur φ-t, muss ihm φ-en selbst oder ein mit φ-en verbundenes Ziel attraktiv erscheinen und ihn (aus diesem Grund) zu φ-en motivieren, wobei φ-en selbst oder ein mit φ-en verbundenes Ziel attraktiv für ihn ist, weil er ein Wesen von bestimmter Art ist. Diese Einschränkungen der Motivationsstruktur eines Akteurs waren auch in der Analyse der stoischen Motivationstheorie herausgearbeitet worden. Dort musste eine Handlung dem Akteur als in seinem Interesse liegend erscheinen, um als καθῆκον beurteilt zu werden, was der subjektiven Einschränkung der Motivation bei Augustinus entspricht. Die καθήκοντα ergeben sich für Stoiker 340 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 254 Zur subjektiven und objektiven Einschränkung der Motivation in der Stoa siehe oben: S. 199 f. 255 Vgl. Aug.En.Ps. 97.6 (Blasphemie): Supposita Eva ad seductionem uxor eius servata ad ministerium diaboli non ad solatium mariti suggerit blasphemiam, non obtemperat ille; 103. 4. 6 (Betrug): Quod est caput serpentis? Prima peccati suggestio. Venit tibi in mentem nescio quid illicitum; noli ibi tenere mentem tuam, noli consentire. Hoc quod venit in mentem, caput serpentis est; caput calca, et evades ceteros motus. Quid est, caput calca? Ipsam suggestionem contemne. Sed lucrum suggessit: magnum ibi lucrum est, magnum ibi aurum est; si ha nc fraudem feceris, div es eris. Caput serpentis est, calca. Quid est, calca? Contemne quod suggessit. Sed magnum aurum suggessit. Et quid prodest homini, si totum mundum lucretur, animae autem suae detrimentum patiatur? ; 145. 3 (Gotteslob): Sed quis dicit, et cui dicit? Quid dicimus, fratres? Caro dicit: Lauda, anima mea, dominum? Et potest caro bonum consilium animae suggerere? ; S. 128. 8 (Ehebruch): Sed delectat adulterium. Contradicatur, resistatur, repugnetur. Non enim non habes unde pugnes. Deus tuus est in te, spiritus bonus datus est tibi. Et tamen permittitur ipsa caro concupiscere adversus spi‐ ritum suggestionibus pravis et delectationibus genuinis. 256 Vgl. dazu die oben auf S. 328 f zitierte Passage aus Lib.arb. 3.74 f und die darin zu findende Verwendung von suggerere und praecipere bzw. suggestio und praeceptum. 257 Vgl. Byers (2013), 32. 258 Vgl. Orig.Prin. 3.1.4: Si vero quis dicat ea, quae extrinsecus incidunt motus nostros provo‐ cantia, talia esse, ut possibile non sit adversari eis sive ad bonum nos sive ad mal um concitantibus: in semet ipsum paulisper qui haec aestimat convertat animum et proprios diligentius introspiciat motus, nisi invenerit, cum alicuius desiderii pulsat inlecebra, nihil prius geri quam animi accomodetur assensus et suggestioni pravae nutus mentis indul‐ aus der οἰκείωσις, in deren Verlauf ein Lebewesen lernt, welche Dinge und Handlungen zum Erhalt seiner Konstitution in einem naturgemäßen Zustand beitragen. Da die Konstitution das ist, was ein Lebewesen zu der Art von Wesen macht, welches es ist, werden diese Dinge und Handlungen und damit auch die καθήκοντα von Art zu Art variieren, und nicht alles wird gleichermaßen für alle dazu beitragen, die Konstitution in einem naturgemäßen Zustand zu erhalten. Dies entspricht der objektiven Einschränkung der Motivation bei Augustinus. Angesichts dieser Parallelen dürfte es plausibel sein, auch hier stoische Einflüsse auf Augustins Denken zu vermuten. 254 Über diese Gedanken zur Rolle der Attraktivität innerhalb der praktischen Vorstellung hinaus ist darauf hinzuweisen, dass es stets Handlungen sind, welche in den die praktischen Vorstellungen begleitenden dicibilia repräsentiert werden. 255 Augustinus verwendet für diese ‚praktischen dicibilia‘ auch termini technici und bezeichnet sie als suggestiones bzw. praecepta. 256 Der Gebrauch dieser Begriffe ist dabei auf praktische Vorstellungen beschränkt; in Bezug auf rein theoretische Vorstellungen findet sich kein Beleg für die Verwendung dieser Begriffe im Œuvre Augustins. 257 Der technische Gebrauch des Begriffs suggestio findet sich auch in Rufins Übersetzung von Origenesʼ De principiis (Περὶ ἀρχῶν), um das die φαντασία ὁρμετική begleitende λεκτόν wiederzugeben. 258 341 IV.3 Die Psychologie des Augustinus geat; mit Rückbezug auf die wiederholte Verwendung von φαντασία ὁρμὴν προκαλουμένη in Prin. 3. 1. 2; siehe auch: Prin. 3. 2. 4: Quod vero etiam per angelos vel bonos vel malos aliqua humanis cordibus suggerantur, designat vel Tobiam angelus co‐ mitatus vel prophetae sermo dicentis: […] sed Pastoris liber haec eadem declarat docens quod bini angeli singulos quosque hominum comitentur, et si quando bonae cogitationes cor nostrum ascenderit, a bono angelo suggeri dicit, si quando vero co ntrariae, mali angeli esse dicit instinctum. […] Nihil tamen aliud putandum est accidere nobis ex his, quae cordi nostro suggeruntur bonis vel malis, nisi commotionem solam et incitamentum provocans nos vel ad bona vel ad mala. Possibile autem nobis est, cum maligna virtus provocare nos coeperit ad malum, abicere a nobis pravas suggestiones et resistere persuasionibus pessimis et nihil prorsus culpabiliter gerere; sowie dazu Byers (2013), 31 Anm. 40. 259 Aug.Cont. 2. 3: Declinatio cordis quid est nisi consensio? Nondum enim dixit, quisquis in corde occurrentibus suggestionibus quorumque visorum nulla cordis declinatione con‐ sensit. 260 Vgl. de la Peza (1962), 66 f.73-76.81 f; siehe dazu auch: Aug.S. 45. 9: Homo enim non pote st perpetrare per membra quod non sibi in corde dixerit. Verbum in corde concepit, et deputatum est in opus; 265C.1: Unde ergo aliquid possidemus in terra, cor est, intellectus est, sensus est, i ngenium est, ratio est, cogitatio est, consilium. 261 Vgl. Aug.En.Ps. 33.2.8: necesse est ut aliquas tentationes suggestionesque patiaris; S. 4.9: Nam occurrunt temptationes aliud aliquid suggerentes […]. 262 Vgl. Aug.S.dom. m. 1.34: Suggestio, sive per memoriam fit sive per co rporis sensus, cum aliquid videmus vel audimus vel olfacimus vel gustamus vel tangimus. Dass Augustinus mit suggestio das die Vorstellung begleitende dicibile be‐ zeichnet, wird aus folgendem Passus deutlich: Was ist die Neigung des Herzens anderes als die Zustimmung? Noch nicht nämlich hat gesprochen, wer auch immer den im Herzen begegnenden Aufforderungen jeder Vorstellung (suggestionibus quorumque visorum) durch keine Neigung des Herzens zugestimmt hat. 259 Augustinus unterscheidet hier klar zwischen den suggestiones und den Vorstel‐ lungen und greift damit die stoische Differenzierung von φαντασία und dem sie begleitenden bzw. in ihr subsistierenden λεκτόν auf. Das Herz (cor), welches in dieser Passage angesprochen wird, ist für Augustinus ein Synonym für die mens - also das höhere Vernunftvermögen der Seele. 260 Die suggestio ist für Au‐ gustinus wie die Vorstellung etwas, was der Mensch erleidet (pati bzw. occur‐ rere) - sie wird nicht von ihm gebildet, auch wenn sein Charakter, wie noch zu zeigen sein wird, einen Einfluss auf sie hat. 261 Wie die Vorstellung hat auch die suggestio ihren Ursprung entweder in der äußeren Wahrnehmung oder in der Erinnerung, was die enge Verbindung der beiden unterstreicht. 262 Die suggestio findet in Gedanken (in cogitationibus) 263 statt bzw. ist selbst ein Gedanke (cogi‐ tatio) 264 . 342 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 263 Vgl. Aug.En.Ps. 36.3.19: Multa ago in cogitationibus meis pugnans adversus malas sug‐ gestiones meas et habens conflictationem d iuturnam et prope continuam cum temptati‐ onibus inimici subvertere me volentis. 264 Vgl. Aug.En.Ps. 99.11: De corde tuo, quisquis ista dicis, omnes malas cogitationes, si potes, exclude; non intret in cor tuum vel suggestio mala. Non consentio, inquis. Sed intravit tamen, ut suggereret. Nam omnes munita corda habere volumus, ut nihil intret quod male suggeratur; 122.12: Possumus continere ab homicidio, ab adulterio, a furtis, a periuriis, a fraudibus: numquid ab iniquis cogitationibus? numquid et a suggestionibus malarum cu‐ piditatum? ; 129.12: Sed ne suggeratur ista cogitatio; S. 94A.2: Illecebras suggerit, insidias, cogitationes malas immittit; ut deteriori lapsu provocet, lucra ponit, damna minatur; 335K.6: Non enim alius homo videt in corde tuo quas cogitationes pateris, sub quibus suggestionibus pericliteris […]. 265 Vgl. dazu auch Wetzel (1992), 18 f. 266 Aug.Simpl. 1. 2. 14: Cum ergo alius sic alius autem sic moveatur ad fidem, eademque res saepe alio modo dicta moveat alio modo dicta non moveat, aliumque moveat alium non moveat […]. Dass zwei hinsichtlich ihres propositionalen Gehalts identische Vorstel‐ lungen unterschiedliche motivationale Wirkungen bei verschiedenen Indivi‐ duen hervorrufen können, bemerkte auch Augustinus. Dies scheint darauf hin‐ zudeuten, dass die Vorstellungen bei Augustinus - wie in der Stoa - über den propositionalen Gehalt hinaus, der in den dicibilia festgehalten wird, auch einen repräsentationalen Gehalt besitzen, der die Vorstellung zusammen mit ihrem propositionalen Gehalt zu der Vorstellung macht, die sie ist. 265 Die Vorstellung ändert sich somit nicht nur, wenn sich ihr propositionaler Gehalt verändert, sondern auch, wenn ihr repräsentationaler Gehalt eine Veränderung erfährt. Die unterschiedliche Motivation verschiedener Individuen bei gleichem propositi‐ onalen Gehalt der Vorstellungen beschreibt Augustinus in Ad Simplicianum: Da also der eine so, der andere jedoch anders zum Glauben bewegt wird und oft die‐ selbe Sache, auf die eine Art gesagt, bewegt, auf die andere Art gesagt, nicht bewegt, den einen bewegt und den anderen nicht bewegt […]. 266 Wenn ein und dieselbe Sache (eadem res) - der propositionale Gehalt - ver‐ schiedenen Personen mitgeteilt wird, bedeutet dies nicht, dass die beiden im Falle einer Handlung auch gleichermaßen motiviert sein werden, sie auszu‐ führen. Denn ihre Vorstellungen können sich hinsichtlich ihres repräsentatio‐ nalen Gehalts unterscheiden (alio modo … alio modo), so dass es sich um ver‐ schiedene Vorstellungen handelt - die eine praktisch, die andere theoretisch. Die praktischen Vorstellungen bestimmen sich damit nicht nur über ihren pro‐ positionalen, sondern auch über ihren repräsentationalen Gehalt, d. h. über die Art und Weise, wie sie gedacht werden. Die Unterscheidung zwischen propo‐ sitionalem und repräsentationalem Gehalt, welche bereits in den stoischen 343 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 267 Aug.Simpl. 1. 2. 21: Quis habet in potestate tali viso attingi mentem suam, quo eius voluntas moveatur ad fidem? Quis autem animo amplectitur aliquid quod eum non delectat? Aut quis habet in potestate, ut vel occurrat quod eum delectare possit, vel delectet cum occur‐ rerit? 268 Vgl. Drecoll (1999), 240 f. 269 Vgl. Drecoll (1999), 323. 270 Vgl. Aug.Trin. 12. 17: Neque enim potest peccatum non solum cogitandum suaviter verum etiam efficaciter perpetrandum mente decerni nisi et illa mentis intentio penes quam summa potestas est membra in opus movendi vel ab opere cohibendi malae actioni cedat et serviat. Überlegungen über die φαντασία begegnet war, lässt sich auch an folgender Passage aus Ad Simplicianum aufzeigen: In wessen Macht steht es, dass sein Verstand von einer solchen Vorstellung berührt wird, dass sein Wille zum Glauben bewegt wird? Wer jedoch umfasst etwas mit seiner Seele, was ihn nicht erfreut? Oder in wessen Macht steht es, entweder dass ihm be‐ gegnet, was ihn erfreuen kann, oder dass ihn erfreut, wenn es ihm begegnet ist? 267 Zunächst einmal beschreibt Augustinus den bereits bekannten Gedanken, dass es nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen steht, darüber zu entscheiden, welchen Vorstellungen er ausgesetzt ist. 268 Die Vorstellungen sind etwas, das ihm passiv widerfährt - etwas, das er erleidet (pati). Sodann sagt er jedoch, dass man auch keinen direkten Einfluss darauf hat, welche Wirkungen die Vorstel‐ lungen auf einen haben. 269 Wir können es nicht unmittelbar beeinflussen, dass eine dem propositionalen Gehalt nach zwar praktische Vorstellung (occurrat quod […] delectare possit) - d. h. eine Vorstellung mit einem praktischen Prädikat (delectare) im dicibile - auch tatsächlich eine praktische Vorstellung für uns wird, welche uns die Attraktivität einer Handlung erkennen lässt (delectet). Dies liegt an der unterschiedlichen Art und Weise, wie die Vorstellung gedacht wird - also an ihrem repräsentationalen Gehalt. Auch eine dem propositionalen Gehalt nach praktische Vorstellung kann eine rein theoretische Vorstellung bleiben, wenn sie nicht freudig (delectatio) oder lustvoll (voluptas) entsprechend des praktischen Prädikats gedacht wird. 270 Der Akteur muss folglich auch bei Au‐ gustinus eine partizipatorische Haltung sich selbst gegenüber einnehmen, um durch seine Vorstellungen motiviert werden zu können. Eine rein objektive Zu‐ schauerhaltung ist dafür nicht ausreichend, da die Vorstellung in diesem Falle beim Akteur, der sich als losgelöst und isoliert von seiner Umwelt versteht, ihre motivationale Kraft nicht entfalten kann. Mit der Unterscheidung von propositionalem und repräsentationalem Gehalt einer Vorstellung hat Augustinus auch eine mögliche Erklärung für das Phä‐ nomen des in der modernen Diskussion häufig ins Feld geführten Amoralisten 344 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 271 Vgl. Aug.En.Ps. 143 . 5 : Non enim temptat diabolus vel angeli eius, nisi quod in te carnale dominatur. […] In amore pecuniae dominatur avaritia; dominanti tibi avaritiae diab olus forinsecus lucrum cum fraude proponit. Plerumque enim ad lucrum non pervenis, nisi fraudem feceris. Proponit ergo ille forinsecus avaritiae tuae quam intus non vicisti, quam non domuisti, quam non tibi subiecisti; proponit tamquam, athletae suo malus agonotheta fraudem et lucrum, opus et praemium; S. 32. 11: Et si diabolus aliquando aliquid suggerit, consentientem tenet, non cogit invitum. Non enim seducit ille aut trahit aliquem, nisi quem invenerit ex aliqua parte iam similem sibi. Invenit enim eum aliquid cupientem, et cupi‐ ditas aperit ianuam intranti suggestioni diaboli. Invenit illum aliquid timentem, monet ut fugiat quod illum invenit timere. Monet ut adipiscatur quod illum invenit cupere. Et per has duas ianuas cupiditatis et timoris intrat. 272 Vgl. Aug.S. 153. 10: C eterum quamdiu blanditur iniquitas et dulcis est iniquitas, amara est veritas. […] Multo melior est et suavior veritas, sed sanis suavis est panis; 48. 5: Cum zur Verfügung. Wenn dieser ein moralisches Urteil fällt und dabei einer ver‐ meintlichen praktischen Vorstellung seine Zustimmung gibt, ohne jedoch zu einem entsprechenden Handeln motiviert zu sein, dann ist der propositionale Gehalt der Vorstellung zwar der einer praktischen Vorstellung, so dass der Amoralist ein aufrichtiges moralisches Urteil zu fällen scheint, doch wird der repräsentationale Gehalt nicht der für eine praktische Vorstellung charakteris‐ tische sein, insofern der propositionale Gehalt nicht in richtiger Weise entspre‐ chend des praktischen Prädikates gedacht wird. Der Amoralist nimmt keine partizipatorische Haltung sich selbst gegenüber ein, so dass die Vorstellung bei ihm keine motivationale Wirkung entfalten kann. Er betrachtet sich aus einer objektiven Zuschauerhaltung und beschreibt möglicherweise nur, was die an‐ deren in der Gesellschaft für die moralisch richtige Handlung halten, sieht sich selbst aber nicht als Teil dieser moralischen Gemeinschaft. So handelt es sich im Fall des Amoralisten letztlich gar nicht um eine praktische Vorstellung, da ihr repräsentationaler Gehalt ein anderer ist, und der Amoralist fällt kein moral‐ isches bzw. praktisches, sondern ein theoretisches Urteil - z. B. über die in seiner Gesellschaft herrschenden moralischen Vorstellungen. Wie diese Überlegungen deutlich machen, hat Augustinus zufolge der Cha‐ rakter einer Person einen Einfluss darauf, welche Vorstellungen sie hat und wie diese Vorstellungen von ihr gedacht werden. Auch für diesen Gedanken exis‐ tieren, wie oben dargelegt, stoische Vorläufer. Bei Augustinus zeigt sich der Einfluss des Charakters auf die Vorstellungen eines Menschen zum Beispiel darin, dass auch der Teufel nur entsprechend des spezifischen Charakters einer Person wirksame praktische Vorstellungen einzugeben vermag, 271 und auch Gott wird, wie in der Diskussion der Gnadenlehre zu zeigen sein wird, sein Gnaden‐ handeln dem jeweiligen Akteur anpassen. Einem ungerechten Menschen wird eine ungerechte Handlung attraktiv und verlockend erscheinen, während ihm die Tugenden als bitter und mühsam erscheinen. 272 Ein lasterhafter Mensch ver‐ 345 IV.3 Die Psychologie des Augustinus ergo hoc putaret, non recto sed perverso corde, et quasi verisimili ratione duceretur propter istam inconvenientiam credere ad deum gubernationem rerum humanarum non pertinere […]; siehe auch Müller (2009), 363: „Es besteht eine durchaus intelligibel zu machende Verbindung zwischen dem Akteur als Pe rson bzw. seiner moralischen ‚Vorgeschichte‘ und dem letztendlichen Handeln: Dieses kommt nicht aus heiterem Himmel, sondern lässt sich mit der aktuellen Präferenzordnung des Akteurs erklären.“ 273 Vgl. Aug.En.Ps. 30. 3 . 4 und 6: Quam multa multitudo dulcedinis tuae, domine! Hic homo impius si dicat: Ubi est ista multitudo dulcedinis? Respondebo: Quomodo tibi ostendam mul titudinem huius dulcedinis, qui palatum de febre iniquitatis perdidisti? […] Palatum cordis non habes ad haec bona gustanda; quid tibi faciam? Quomodo ostendam? Non est cui dicere: Gustate, et videte quoniam suavis est dominus. 274 Vgl. Rist (1994), 150 f. 275 Entgegen der seit Nygren ( 2 1954) verbreiteten Ans icht handelt es sich bei der Trias von amor, dilectio und caritas nicht um drei verschiedene Formen der Liebe, sondern sie sind alle Formen eines Verlangens nach einem Objekt, welches man als ein Gut betrachtet. Was sie unterscheidet, ist das jeweils geliebte Objekt, keine intrinsische Eigenschaft der Liebe selbst. Folglich können die verschiedenen Begriffe synonym verwendet werden, wie es Augustinus in Civ. 14.7 explizit sagt: Nam cuius propositum est amare deum et non secundum hominem, sed secundum deum amare proximum, sicut etiam se ipsum: procul dubio propter hunc amorem dicitur voluntatis bonae, quae usitatius in scripturis sanctis caritas appellatur; sed amor quoque secundum easdem sacras litteras dicitur. […] Hoc propterea commemorandum putavi, quia nonnulli arbitrantur aliud esse dilectionem, sive caritatem, aliud amorem. Dicunt enim dilectionem accipiendam esse in bono, amorem in malo. Sic autem nec ipsos auctores saecularium litterarum locutos esse certissimum est. Sed viderint philosophi utrum vel qua ratione ista discernant; amorem tamen eos in bonis rebus et erga ipsum deum magni pendere, libri eorum satis loquuntur. Sed scripturas reli‐ gionis nostrae, quarum auctoritatem ceteris omnibus litteris anteponimus, non aliud dicere liert zunehmend das Vermögen, die Tugenden und wahren Güter als attraktiv wahrzunehmen. 273 Auf diese lasterhaften Dispositionen, welche den Charakter schlechter Menschen kennzeichnen und die es ihm unmöglich machen, tugend‐ hafte Handlungen als attraktiv zu erkennen, wird im Zusammenhang der Re‐ zeption der stoischen Affektenlehre bei Augustinus nochmals zurückzukommen sein, so dass es hier bei diesen knappen Bemerkungen bleiben kann. Stattdessen ist auf eine Ergänzung der stoischen Struktur der Handlungspsychologie durch Augustinus einzugehen, die mit seiner Lehre von der praktischen Vorstellung in Verbindung steht: die Rolle der Liebe für die Handlungsmotivation. Exkurs: Die Rolle der Liebe für die Handlungsmotivation Aufgrund der von ihm vorgenommenen Ontologisierung des menschlichen τέλος schien es Augustinus notwendig, seine strukturell von der stoischen Phi‐ losophie beeinflusste Handlungspsychologie um eine platonische ἔρως-Kon‐ zeption der Handlungsmotivation zu erweitern. 274 Die ‚Liebe‘ (amor, dilectio, ca‐ ritas) 275 stellt für Augustinus - darauf wurde bereits hingewiesen - eine Tendenz 346 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus amorem, aliud dilectionem vel caritatem, insinuandum fuit; sieh e dazu auch: Byers (2013), 46f. 276 Vgl. Aug.S. 19D (130A).5: Dilige, et facis. In quantum diligis, in tantum facis; in quantum minus feceris, minus diligis; 53. 11: Tolle fidem, perit quod credis; tolle caritatem, perit quod agis. Fidei enim pertinet ut credas; caritati ut agas. 277 Vgl. Byers (2013), 47. 278 Vgl. Aug.En.Ps. 9. 15: Pes animae recte intellegitur amor: qui cum pravus est, vocatur cupiditas aut libido; cum autem rectus, dilectio vel caritas. 279 Vgl. Aug.En.Ps. 99.5: […] inque his om nibus nescio quid invisibile, quod spiritus vel anima dicitur, inesse omnibus animantibus ad appetendam voluptatem fugiendamque molestiam, ad conservandam incolumitatem suam vestigium quoddam unitatis; inesse etiam homini commune quiddam cum angelis dei; non cum pecoribus, sicut est vivere, audire, videre, et cetera, sed quod intellegat deum, quod ad mentem proprie pertineat, quod sicut oculus albam et nigrum, ita aequitatem iniquitatemque discernat. 280 Siehe dazu oben: S. 144 und 202 f. oder Neigung zu einem Gut dar. Sie bildet für ihn einen fundamentalen Grund für unsere Handlungen und ist eine notwendige Bedingung für die Ausführung all unserer Handlungen. 276 Die Liebe und die praktische Vorstellung haben dabei unterschiedliche in‐ tentionale Objekte: Während die praktische Vorstellung die jeweilige Handlung als attraktiv präsentiert, ist die Liebe auf diejenigen Objekte oder Zustände ge‐ richtet, die durch die Handlung erlangt bzw. herbeigeführt werden sollen. 277 Die praktische Vorstellung bildet demnach einen Teil der Antwort auf die struktu‐ relle Frage, wie wir motiviert sind, eine Handlung auszuführen; die Liebe be‐ antwortet dagegen die substantielle bzw. inhaltliche Frage, warum wir motiviert sind, eine Handlung auszuführen. Diese Differenzierung der Fragestellung er‐ gibt sich für Augustinus aus seiner Ontologisierung der Strebensziele und dem daraus resultierenden ordo bonorum. So unterscheidet er die Liebe, welche sich auf falsche Strebensziele richtet und die er als Begierde oder Konkupiszenz (cupiditas bzw. concupiscentia) bezeichnet, von der Liebe, welche sich auf Gott oder die Tugend - also richtige Strebensziele - richtet und die er als caritas bezeichnet. 278 Es geht folglich bei der Frage der richtigen Motivation i.S. der Liebe um die korrekte Erkenntnis der ontologischen Gutheit des jeweils er‐ strebten Objekts. Diese Erkenntnis basiert wie bei den Stoikern auf bestimmten eingeborenen Begriffen, welche sich im Zuge der οἰκείωσις des Menschen gebildet haben. 279 Die Stoiker bezeichneten diese Begriffe als ἐμφύτοι ἔννοιαι; 280 Augustinus nennt sie regulae bzw. notiones inpressae und versteht darunter bestimmte intelligible 347 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 281 Vgl. Aug.En.Ps. 99. 5 : […] inque his omnibus nescio quid invisibile, quod spiritus vel anima dicitur, inesse omnibus animantibus ad appetendam voluptatem fugiendamque molestiam, ad conservandam incolumitatem suam vestigium quoddam unitatis; inesse etiam homini commune quiddam cum angelis dei; non cum pecoribus, sicut est vivere, audire, videre, et cetera, sed quod intellegat deum, quod ad mentem proprie pertineat, quod sicut oculus albam et nigrum, ita aequitatem iniquitatemque discernat; Lib.arb. 2. 26: Sicut ergo ante‐ quam beati simus mentibus tamen nostris inpressa est notio beatitatis - per hanc enim scimus fidenterque et sine ulla dubitatione dicimus beatos nos esse velle -, ita etiam pri‐ usquam sapientes simus, sapientiae notionem in mente habemus inpressam, per quam unus quisque nostrum, si interrogetur velitne esse sapiens, sine ulla caligine dubitationis se velle respondet (siehe auch: Conf. 10. 29); zum Vermögen des Verstandes, in Übereinstimmung mit den regulae zu urteilen, siehe: Trin 14. 21: Quibus ea tandem regulis iudicant nisi in quibus vident quemadmodum quisque vivere debeat etiamsi nec ipsi eodem modo vivant? Ubi eas vident? Neque enim in sua natura, cum procul dubio mente ista videantur, eo‐ rumque mentes constet esse mutabiles, has vero regulas immutabiles videat quisque in eis et hoc videre potuerit; nec in habitu suae mentis cum illae regulae sint iustitiae, mentes vero eorum esse constet iniustas. Ubinam sunt istae regulae scriptae, ubi quid sit iustum et iniustus agnoscit, ubi cernit habendum esse quod ipse non habet? Ubi ergo scriptae sunt, nisi in libro lucis illius quae veritas dicitur unde omnis lex iusta describitur et in cor hominis qui operatur iustitiam non migrando sed tamquam imprimendo transfertur, sicut imago ex anulo et in ceram transit et anulum non relinquit? Qui vero non operatur et tamen videt quid operandum sit, ipse est qui ab illa luce avertitur, a qua tamen tangitur; En.Ps. 8.5-7: In se quippe habebant quod non videbant, et apud se imaginabantur quod foris viderant, etiam quando non videbant, sed tantummodo cogitabant. Hoc autem in conspectu talis cogitationis iam non est corpus, sed similitudo corporis; illud autem, unde videtur in animo haec similitudo corporis, nec corpus est nec similitudo corporis; et unde videtur atque utrum pulchra an deformis sit iudicatur, profecto est melius quam ipsa quae iudicatur. Haec mens hominis et rationalis animae natura est, quae utique corpus non est, si iam illa corporis similitudo, cum in animo cogitantis aspicitur atque iudicatur, nec ipsa corpus est. […] Sensibilia dicimus, quae visu tactuque corporis sentiri queunt; intellegibilia, quae conspectu mentis intellegi. […] Quod autem attinet ad doctrinam, ubi versatur pars altera, quae ab eis logica, id est rationalis, vocatur: absit ut his comparandi videantur, qui posuerunt iu‐ dicium veritatis in sensibus corporis eorumque infidis et fallacibus regulis omnia, quae discuntur, metienda esse censuerunt, ut Epicurei et quicumque alii tales, ut etiam ipsi Stoici, qui cum vehementer amaverint sollertiam disputandi, quam dialecticam nominant, a cor‐ poris sensibus eam ducendam putarunt, hinc asseverantes animum concipere notiones, quas appellant ἐννοίας, earum rerum scilicet quas definiendo explicant; hinc propagari atque conecti totam discendi docendique rationem. Ubi ego multum mirari soleo, cum pulchros dicant non esse nisi sapientes, quibus sensibus corporis istam pulchritudinem viderint, qualibus oculis carnis formam sapientiae decusque conspexerint. Hi vero, quos merito ceteris anteponimus, discreverunt ea, quae mente conspiciuntur, ab his, quae sen‐ sibus attinguntur, nec sensibus adimentes quod possunt, nec eis dantes ultra quam possunt. Lumen autem mentium esse dixerunt ad discenda omnia eundem ipsum deum, a quo facta sunt omnia; 22. 24: Ipse itaque animae humanae mentem dedit, ubi ratio et intellegentia in infante sopita est quodam modo, quasi nulla sit, excitanda scilicet atque exercenda Standards der Gerechtigkeit, Gutheit, Wahrheit und Schönheit. 281 Tugendhafte Handlungen entsprechen dieser Lehre zufolge einem festen intelligiblen Stan‐ 348 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus aetatis accessu, qua sit scientiae capax atque doctrinae et habilis perceptioni veritatis et amoris boni; qua capacitate hauriat sapientiam virtutibusque sit praedita, quibus pru‐ denter, fortiter, tempernter et iuste adversus errores et cetera ingenerata vitia dimicet eaque nullius rei desiderio nisi boni illius summi atque inmutabilis vincat. Quod etsi non faciat, ipsa talium bonorum capacitas in natura rationali divinitus instituta quantum sit boni, quam mirabile; Lib.arb. 2. 34: Hanc ergo veritatem de qua iam diu loquimur et in qua tam multa conspicimus, excellentiorem putas esse quam mens nostra est an aequalem mentibus nostris an etiam inferiorem? Sed si esset inferior, non secundum illam, sed de illa iudica‐ remus […]. […] Et iudicamus haec secundum illas interiores regulas veritatis quas com‐ muniter cernimus, de ipsis vero nullo modo quis iudicat; ein Vorbild für diese intelligiblen Standards dürfte Plotins Ideenlehre gewesen sein: Plot.Enn. 5. 3. 2.11-13; 5. 3. 4.13-17; 6. 7. 6.2-7 sowie 1. 6. 3.1-5; siehe dazu auch: Rist (1994), 51; Blumenthal (1996), 98. 282 Vgl. Aug.Lib.arb. 2 . 34: Sed si esset inferior [sc. veritas], non secundum illam, sed de illa iudicaremus, sicut iudicamus de corporibus quia infra sunt, et dicimus ea plerumque non tantum ita esse vel non ita, sed ita vel non ita esse debere, sic et de animis nostris non solum ita esse animum novimus, sed plerumque etiam ita esse debere. Et de corporibus quidem sic iudicamus cum dicimus „minus candidum est quam debuit“ aut „minus quadrum“ et multa similiter; de animis vero „minus aptus est quam debe t“ aut „minus lenis“ aut „minus vehemens“, sicut nostrorum morum se ratio tulerit. Et iudicamus haec secundum illas in‐ teriores regulas veritatis quas communiter cernimus […]; siehe dazu auch: Rist (1994), 76 f; Brachtendorf (2004-2010), 1274. 283 Vgl. Aug.Div.qu. 30: Frui ergo dicimur ea re de qua capimus voluptatem; utimur ea quam referimus ad id unde capienda voluptas est. 284 Vgl. MacDonald (2003), 399. 285 Vgl. Aug.Trin. 10.11: Cum ergo sit mens interior, quodam modo exit a semetipsa cum in haec qua si vestigia multarum intentionum exerit amoris affectum. Quae vestigia tam‐ quam imprimuntur memoriae quando haec quae foris sunt corporalia sentiuntur ut etiam cum absunt ista, praesto sint tamen imagines eorum cogitantibus; Conf. 10.29 f: […] sed dard, welchen der Verstand (mens) aufgrund von in der Erinnerung (memoria) enthaltenen Spuren dieses ewigen Standards erfasst, so dass der Akteur die mo‐ ralische Qualität seiner Handlungen erkennen kann. 282 Diese moralischen Qua‐ litäten korrespondieren zum einen mit dem ewigen intelligiblen Standard selbst, zum anderen mit den in der memoria eingeborenen Begriffen dieses Standards. Die Ausführung einer sittlich richtigen Handlung setzt folglich für Augustinus die Erkenntnis der Handlung als in Übereinstimmung mit dem vorgegebenen intelligiblen Standard und eine entsprechende Handlungsmotivation voraus. Die Verbindung zwischen den in den dicibilia enthaltenen praktischen Prä‐ dikaten und der motivierenden Liebe besteht nun darin, dass die Liebe nach dem Besitz von Objekten strebt, deren Besitz attraktiv ist und als angenehm emp‐ funden wird. 283 Der Gedanke an ihren Besitz ruft eine antizipatorische Lust hervor, welche Augustinus als Lieblichkeit (suavitas) bezeichnet. 284 Die Erinne‐ rung dient dabei auch als Speicher früherer Lusterfahrungen, auf den in künf‐ tigen Handlungssituationen zurückgegriffen werden kann, wenn dasselbe Ob‐ jekt wieder begegnet, so dass dieses als lustvoll erscheinen kann. 285 Für 349 IV.3 Die Psychologie des Augustinus quaero, utrum in memoria sit beata vita. Neque enim amaremus eam, nisi nossemus. Au‐ divimus nomen hoc et omnes rem ipsam nos adpetere fatemur; non enim sono delectamur. Nam hoc cum latine audit Graecus, non delectatur, quia ignorat, quid dictum sit; nos autem delectamur, sicut etiam ille, si graece hoc audierit, quoniam res ipsa nec graeca nec latina est, cui adipiscendae Graeci Latinique inhiant ceterarumque linguarum homines. Nota est igitur omnibus, qui una voce si interrogari possent, utrum beati esse vellent, sine ulla dubitatione velle responderent. Quod non fieret, nisi res ipsa, cuius hoc nomen est, eorum memoria teneretur. […] vitam vero beatam habemus in notitia ideoque amamus et tamen adhuc adipisci eam volumus, ut beati simus. […] Nam gaudium meum etiam tristis memini sicut vitam beatam miser, neque umquam corporis sensu gaudium meum vel vidi vel audivi vel odoratus sum vel gustavi vel tetigi, sed expertus sum in animo meo, quando laetatus sum, et adhaesit eius notitia memoriae meae, ut id reminisci valeam aliquando cum as‐ pernatione, aliquando cum desiderio pro earum rerum diversitate, de quibus me gavisum esse memini. Nam et de turpibus gaudio quodam perfusus sum, quod nunc recordans de‐ testor atque exsecror, aliquando de bonis et honestis, quod desiderans recolo, tametsi forte non adsunt, et ideo tristis gaudium pristinum recolo; zur Bedeutung der memoria für das Wollen und Lieben des Menschen und damit für seine Handlungsmotivation siehe: Drecoll (1999), 331; zur memoria bei Augustinus allgemein siehe: O’Daly (1987), 131-151; O’Donnell (2004-2010). 286 Vgl. Aug.S. 159. 3: N o n enim amatur, nisi quod delectat. 287 Vgl. Aug.En.Ps. 48.1.6: Quod est caput illius [sc. serpentis]? Initium malae suggestionis. Quando incipit mala suggerere, tunc repelle antequam surgat delectatio, et sequatur con‐ sensio; siehe auch: MacDonald (2003), 399: „And in general, the thoughts and percep‐ tions that occur to us - what Augustine […] calls ‘suggestions’ - lead to desire and ultimately to consent and action only by virtue of their presenting us with something that delights us.“ Augustinus ist es nötig, dass der Akteur seine Handlung als ein notwendiges Mittel zur Erlangung eines bestimmten Gutes ansieht, dessen Besitz für ihn lustvoll und erfreulich ist. 286 Er setzt damit zwischen die Liebe und den lustvollen Besitz der erstrebten Objekte als notwendiges Zwischenglied die in den dicibilia der Vorstellungen enthaltenen praktischen Prädikate, da man die erstrebten Objekte nicht besitzen kann, ohne eine geeignete Handlung auszuführen, um diese zu erreichen. Die antizipierte Lust hängt damit von diesen Prädikaten ab. Nimmt der menschliche Verstand (mens) also ein Objekt als ein unter eine in‐ telligible regula fallendes Objekt wahr, so sucht der Akteur mit Hilfe seiner Vernunft nach einer für die Erlangung des Objekts geeigneten Handlung und empfindet bei diesem Gedanken - der in einem dicibile versprachlicht ist - an‐ tizipatorische Lust, welche im praktischen Prädikat des dicibile ihren Ausdruck findet und die Handlung für den Akteur in einem attraktiven Licht erscheinen lässt. Die antizipierte Lust resultiert Augustinus zufolge aus der Wahrnehmung eines lustvollen Strebensobjekts und der Vorstellung einer Handlung als ge‐ eignet, um das Objekt zu erlangen. 287 Die praktische Vorstellung ist damit eine 350 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 288 Vgl. Aug.Simpl. 1.2.22: Sed voluntas ipsa, nisi aliquid occurrerit quod delectet atque invitet animum, moveri nullo modo potest; siehe dazu auch die enge Verknüpfung von suggestio und delectatio in: En.Ps. 75.4: […] Quia non desunt suggestiones et delectationes malae; sowie S. 128.8: Sed delectat adulterium. Contradicatur, resistatur, repugnetur. Non enim non habes unde pugnes. Deus tuus est in te, spiritus bonus datus est tibi. Et tamen per‐ mittitur ipsa caro concupiscere adversus spiritum, suggestionibus pravis et delectationibus genuinis. 289 Zur Vorgängigkeit der praktischen Vorstellung gegenüber der Zustimmung siehe: Aug.En.Ps. 48. 1. 6: Quod est caput illius [sc. serpentis]? Initium malae suggestionis. Quando incipit mala suggerere, tunc repelle antequam surgat delectatio, et sequatur con‐ sensio; 84. 10: Luctantur cum concupiscentiis suis, quibus ille suggerit peccata; et non con‐ sentiendo quod suggerit, etsi non vincuntur, tamen pugnant; S. 32. 11: Et si diabolus ali‐ quando aliquid suggerit, consentientem tenet, non cogit invitum. 290 Aug.Gn.litt. 9.25: O mnis enim anima viva, non solum rationalis sicut in hominibus, verum etiam inrationalis, sicut in pecoribus et volatilibus et piscibus, visis movetur. Sed anima rationalis voluntatis arbitrio vel consentit visis vel non consentit; inrationalis autem non habet hoc iudicium, pro suo tamen genere atque natura viso aliquot acta propellitur. Nec in potestate ullius animae est, quae illi visa veniant sive in sensus corporis sive in ipsum spiritum interius, quibus visis adpetitus move at ur cuiuslib et animantis. Vorstellung, welche eine antizipatorische Lust im Akteur weckt, wodurch er aufgrund seiner Liebe zu dem erstrebten Objekt zum Handeln motiviert wird. 288 IV.3. 2. 2 consensio Der Mensch zeichnet sich gegenüber den Tieren dadurch aus, dass er sich kraft seiner Vernunft kritisch gegenüber seinen Vorstellungen verhalten kann, welche ihm ohne sein Zutun begegnen. 289 Er kann ihnen entweder seine Zustimmung geben oder verweigern - je nachdem, ob er sie für zutreffend hält oder nicht: Denn jede lebendige Seele - nicht nur die vernünftige wie im Menschen, sondern auch die nicht vernünftige wie in den Landtieren, Vögeln und Fischen - wird durch Vor‐ stellungen bewegt. Aber die vernünftige Seele stimmt durch das Urteil des Willens den Vorstellungen entweder zu oder nicht. Die nicht vernünftige besitzt dieses Urteil jedoch nicht, sondern wird entsprechend ihrer Gattung und ihrem Wesen, nachdem es von irgendeiner Vorstellung berührt worden ist, angetrieben. Und es steht nicht in der Macht irgendeiner Seele, welche Vorstellungen in ihr entweder über die Sinne des Körpers oder über den inneren Geist selbst vorkommen, durch welche der Impuls eines jeden Lebewesens bewegt wird. 290 Während Tiere also entsprechend ihrer Gattungszugehörigkeit und ihres We‐ sens durch ihren Instinkt angetrieben werden, sobald ihnen eine Vorstellung ein Verhalten als attraktiv oder zu vermeiden präsentiert, ist der Mensch kraft seiner Vernunft dazu in der Lage, eine Vorstellung, die ihm eine Handlung als attraktiv oder zu vermeiden präsentiert, kritisch zu prüfen und ihr nur dann seine Zu‐ 351 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 291 Dementsprechen d ist die Zustimmung auch der mens zugeordnet: Aug.Civ. 9.4: Hoc enim esse volunt in potestate idque interesse censent inter animum sapientis et stulti, quod stulti animus eisdem passionibus cedit atque accommodat mentis assensum; c.Iul. 4.65: Libido autem sentiendi est, de qua nunc agimus, quae nos ad sentiendum, sive consentientes mente, sive repugnantes, appetitu carnalis voluptatis impellit; 6.60: Ipse quippe motus actus est eius, quamvis mente non consentiente desit effectus; c.Iul.imp. 1.68: Hoc malum habitat in corpore mortis huius; propter cuius motum, etiam mente non consentiente importunum, dicitur: […]; 5.50: Hoc autem quod nolens agit, si tantummodo concupiscere est carne, sine ulla mentis consensione membrorumque operatione; 5.59: et malum esse, quamvis mente non consentiente, vel carne tamen talia concupiscere; […] non ego operor, non mentem consentientem, sed carnem suam concupiscentem id facere ostendit; concupiscendo quippe caro agit, etsi ad consensum mentem non attrahit; Pecc.mer. 2.4: In grandibus autem bap‐ tizatis, in quibus iam ratione utentibus quidquid eidem concupiscentiae mens ad pec‐ candum consensit, propriae voluntatis est. 292 Vgl. Aug.Trin. 9. 1 0: Unde etiam phantasias rerum corporalium per corpori s sensum haustas et quodam modo infusas memoriae, ex quibus etiam ea quae non visa sunt ficto phantasmat e cogitantur sive aliter quam sunt sive fortuito sicuti sunt, aliis omnino reg ulis supra mentem nostram incommutabiliter manentibus vel approbare apud nosmetipsos vel improbare convincimur cum recte aliquid approbamus aut improbamus; 9. 15: non enim omnia quae quoquo modo tangunt concipiuntur, ut tantum nota sint non tamen verba dicantu r ista de quibus nunc agimus. 293 Vgl. Aug.Trin. 15.18: […] unde autem Dominus dixit inquinari hominem, de cordis ore proce dit. 294 Vgl. Aug.c.Sec. 19: Deinde si habet in potestate vel consentire vel non consentire, non ergo victa consentit. Quaero igitur unde habeat istam consensionem malam nulla contraria cogente natura. Si autem cogitur consentire, ita ut non sit in eius potestate aliter facere, non ergo, ut dicebas, voluntate peccat, quando non voluntate consentit. 295 Vgl. Byers (2013), 31. 296 Vgl. Aug.Cont. 30: […] mente non consentitur […] nostra cogitatio […] suggestione et quasi susurratione tangatur; S. 13D (= 159A).12: Quid enim aliud in hominibus quos stimmung zu geben, wenn sie diese Prüfung übersteht. 291 Erst nach erfolgter Zustimmung kann eine praktische Vorstellung auch handlungswirksam werden. Augustinus unterscheidet damit wie die Stoiker zwischen dem bloßen Haben einer Vorstellung und der Zustimmung zu ihr. 292 Das bloße Haben einer Vorstellung, welches nicht in unserer Macht steht, bleibt auch für Augustinus schuldlos - es ist weder lobensnoch tadelnswert. Erst die Zustimmung zu einer verwerflichen Vorstellung bringt eine Schuld für den Akteur mit sich. 293 Folglich macht Augustinus die Verantwortlichkeit für eine Handlung an der Zustimmung des Akteurs fest. 294 Um dabei den propositionalen Gehalt einer Vorstellung, d. h. die suggestio, die noch keine Zustimmung erhalten hat, von dem einer solchen zu unterscheiden, der bereits zugestimmt wurde, greift Augustinus auf eine Me‐ tapher zurück, die verschiedene Grade der Artikulation deutlich macht. 295 Wäh‐ rend bloße suggestiones, die noch keine Zustimmung erfahren haben, nur flüs‐ tern (murmurare, susurrare) 296 , da der Akteur sich noch nicht auf ihre Richtigkeit 352 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus temptat periculum persecutionis susurrat intrinsecus, quam „Nega, vive: ages postea pae‐ nitentiam“? Anima est: perire vult. […] Tu autem, anima, murmurabas: „Nega illum“; Conf. 8.26 f: Retinebant nugae nugarum et vanitates vanitantium, antiquae amicae meae, et succutiebant vestem meam carneam et submurmurabant: […] Et quae suggerebant in eo […] quae suggerebant, deus meus? […] quas sordes suggerebant, quae dedecora! Et au‐ diebam eas iam longe minus quam dimidius, non tamquam libere contradicentes eundo in obviam, sed velut a dorso mussitantes et discedentem quasi furtim vellicantes, ut respi‐ cerem. […] Et erubescebam nimis, quia illarum nugarum murmura adhuc audiebam, et cunctabundus pendebam. 297 Vgl. Aug.Trin. 9. 1 3: Nemo enim aliquid volens facit quod non in corde suo prius dixerit; 15. 18: […] unde autem Dominus dixit inquinari hominem, de cordis ore procedit; S. 45. 9: Homo enim non potest perpetrare per membra quod non sibi in corde dixerit. Verbum in corde concepit, et deputatum est in opus. 298 Aug.Cont. 3: Declinatio cordis quid est nisi consensio? Nondum enim dixit, quisquis in corde occurrentibus suggestionibus quorumque visorum nulla cordis declinatione consensit. Si autem consensit, iam corde dixit, etiam si ore non sonuit; […] sed tamen nihil agunt corporis opere, quod non prius dixerint in corde. 299 Vgl. Trin. 9.13: Nemo enim aliquid volens facit quod non in corde suo prius dixerit; 15.20: […], it a h ominis opera nulla sunt quae non prius dicantur in corde. […] opus autem esse non potest nis i praecedat verbum […]; S. 45.9: Homo enim non potest perpetrare per membra quod non sibi in corde dixerit. Verbum in corde c oncepit, et deputatum est in opus. festgelegt hat, werden die suggestiones, denen zugestimmt wurde, im Inneren klar ausgesprochen und deutlich artikuliert (dicere) 297 : Was ist die Neigung des Herzens anderes als die Zustimmung? Noch nicht nämlich hat gesprochen (dixit), wer auch immer den im Herzen begegnenden Aufforderungen jeder Vorstellung (suggestionibus quorumque visorum) durch keine Neigung des Her‐ zens zugestimmt hat. Wenn er jedoch zugestimmt hat, hat er bereits mit dem Herzen gesprochen (dixit); […] aber dennoch machen sie nichts durch die Betätigung des Körpers, was sie nicht vorher im Herzen gesagt haben (dixerint). 298 Die Beschreibung der unterschiedlichen Artikulationsgrade der suggestio lässt also erkennen, ob der jeweilige Akteur dieser bereits seine Zustimmung gegeben hat oder noch über sie nachdenkt. Erst wenn der Akteur einer suggestio seine Zustimmung gegeben hat, kann eine Handlung erfolgen. 299 Die oben zitierte Passage macht zudem deutlich, dass die Zustimmung bei Augustinus wie in der Stoa nicht der Vorstellung, sondern dem dicibile - im Falle einer praktischen Vorstellung der suggestio - gegeben wird (suggestionibus […] visorum […] con‐ sensit). Die Entscheidung darüber, ob einer suggestio die Zustimmung gegeben wird oder nicht, trifft der Verstand (mens). Seine Aufgabe ist es, die verschiedenen von einer Handlung betroffenen Güter unter Berücksichtigung sowohl ihres 353 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 300 Vgl. Aug.Trin. 15.6: Iam ergo in ipsis rebus aeternis, incorporalibus et incommutabilibus , in quarum perfecta contemplatione nobis beata, quae nonnisi aeterna est, vita promittitur, trinitatem quae deus est inquiramus. Neque enim divinorum librorum tantummodo auc‐ toritas esse deum praedicat, sed omnis quae nos circumstat, ad quam nos etiam pertinemus, unive rsa ipsa rerum natura proclamat, habere se praestantissimum conditorem, qui nobis mentem rationemque naturalem dedit, qua viventia non viventibus, sensu praedita non sentientibus, intellegentia non intellegentibus, immortalia mortalibus, impotentibus po‐ tentia, iniustis iusta, speciosa deformibus, bona malis, incorruptibilia corruptibilibus, im‐ mutabilia mutabilibus, invisibilia visibilibus, incorporalia corporalibus, beata miseris praeferenda videamus; Civ. 1.22: Magis enim mens infirma deprehenditur, quae ferre non potest vel duram sui corporis servitutem vel stultam vulgi opinionem, maiorque animus merito dicendus est, qui vitam aerumnosam magis potest ferre quam fugere et humanum iudicium maximeque vulgare, quod plerumque caligine erroris involvitur, prae conscien‐ tiae luce ac puritate contemnere. […] Quod tamen magne potius factum esse quam bene testis ei esse potuit Plato ipse, quem legerat, qui profecto id praecipue potissimumque fe‐ cisset vel etiam praecepisset, nisi ea mente, qua immortalitatem animae vidit, nequaquam faciendum, quin etiam prohibendum esse iudicasset; 1.32: Si aliqua luce mentis animum corpori praeponitis, eligite quem colatis; siehe dazu auch: Conf. 3.15. 301 Vgl. Byers (2013), 44 f. 302 Vgl. Aug.Gr. et lib.arb. 9: Non autem intrat in tentationem, si voluntate bona vincat con‐ cupiscentiam malam. Nec tamen sufficit arbitrium voluntatis humanae nisi a domino victoria concedatur oranti; 26: Ibi videbitis quemadmodum sic alloquatur liberum arbitrium eorum, quos conscriptione sui sermonis aedificat, ut ostendat tamen ea quae im‐ plenda iubentur in lege, in oratione esse poscenda. Quod utique vanissime fieret, si ad illa agenda sine divino adiutorio voluntas humana suffi ceret; 41: Satis me disputasse arbitror adversus eos qui gratiam dei vehementer oppugnant, qua voluntas humana non tollitur, sed ex mala mutatur in bonam, et cum bona fuerit adiuvatur; et sic disputasse, ut non magis ego, quam divina ipsa scriptura vobiscum locuta sit evidentissimis testimoniis ve‐ ritatis: quae scriptura divina si diligenter inspiciatur, ostendit non solum bonas hominum voluntates quas ipse facit ex malis, et a se factas bonas in actus bonos et in aeternam dirigit ontologischen Statusʼ (ordo bonorum) als auch hinsichtlich ihres Beitrages zur Glückseligkeit des Akteurs hierarchisch zu ordnen und dementsprechend zu entscheiden, ob die in der suggestio präsentierte Handlungsoption die richtige ist und der Akteur der suggestio zustimmen sollte oder nicht. 300 Der Übergang von der bloßen Vorstellung zur faktischen Zustimmung vollzieht sich also über die evaluative Tätigkeit des Verstandes, der die verschiedenen Handlungsopti‐ onen hinsichtlich der von ihnen betroffenen Güter und ihres Beitrags zur Glück‐ seligkeit des Akteurs bewertet und entsprechend eine Entscheidung für oder gegen sie fällt. 301 IV.3. 2. 3 arbitrium voluntatis Zentral für das Verständnis der Willenskonzeption Augustins ist eine Unter‐ scheidung, welche er seit seiner Schrift Contra Fortunatum (392) zwischen vo‐ luntas und arbitrium voluntatis vornimmt. 302 Das arbitrium voluntatis stellt die 354 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus vitam, verum etiam illas quae conservant saeculi creaturam, ita esse in dei potestate, ut eas quo voluerit, quando voluerit, faciat inclinari, vel ad beneficia quibusdam praestanda, vel ad poenas quibusdam ingerendas, sicut ipse iudicat, occultissimo quidem iudicio, sed sine ulla dubitatione iustissimo; c.Iul.imp. 5. 56: Itane vero, Iuliane, ex homine hominis voluntas non oritur, cum homo bonum opus dei sit? […] Dic ergo unde, si non de natura, id est non de ipso homine, si non de libero eius arbitrio, dic, rogo, unde voluntas hominis oriatur? […] Bona opera dei sunt natura et liberum arbitrium: In his, inquis, voluntas exoritur, sed non de his. […] Si ergo et voluntas in homine vel in eius libero arbitrio de nihilo exorta est, quis eam fecit? ; c.ep.Pel. 1. 38: Quam deus iam, ut fieret, exaudierat, qui cor regis, antequam mulieris sermonem poscentis audisset, occultissima et efficacissima potestate convertit et transtulit ab indignatione ad lenitatem, hoc est a voluntate laedendi ad voluntatem favendi, secundum illud apostoli: Deus operatur in vobis et velle. Numquid homines dei qui haec scripserunt, immo ipse spiritus dei, quo auctore per eos ista conscripta sunt, oppugnavit hominis liberum arbitrium? ; Spir. et litt. 57: Sed consequens est paululum quaerere, utrum voluntas illa qua credimus etiam ipsa dei donum sit an ex illo naturaliter insito libero adhibeatur arbitrio; Pecc.mer. 2. 30: Quapropter nisi obtineamus non solum voluntatis arbitrium, quod huc atque illuc liberam flectitur atque in eis naturalibus bonis est, quibus et male uti malus potest, sed etiam voluntatem bonam, quae iam in eis bonis est, quorum esse usus non potest malus, nisi ex deo nobis esse non posse, nescio quemad‐ modum defendamus quod dictum est: Quid enim habes quod non accepisti? ; Civ. 5. 10: Sic etiam cum dicimus necesse esse, ut cum volumus, libero velimus arbitrio; Ep. 188. 7: Prop‐ rium quippe arbitrium nisi dei gratia iuvetur, nec ipsa bona voluntas esse in nomine po‐ test; auch bereits: Lib.arb. 1. 21: […] nulla res alia mentem cupiditatis comitem faciat quam propria voluntas et liberum arbitrium; siehe auch: Huftier (1966), 266; Horn (1996), 127. 303 Der Unterschied der beiden Vermögen wird deutlich von den Bok (1994) herausgear‐ beitet; siehe dazu auch: Trego (2005). 304 Vgl. den Bok (1994), 241 Anm. 14. 305 Vgl. Aug.Gr. et lib.arb. 5: Et utique cui dicitur: Noli vinci, arbitrium voluntatis eius sine dubio convenitur. Velle enim et nolle propriae voluntatis est; im zweiten Satz wird hier Fähigkeit des Akteurs dar, sich frei für oder gegen eine bestimmte Handlung zu entscheiden, während die voluntas bald eine grundlegende Handlungstendenz ist, welche den Akteur zu einem bestimmten Handeln inkliniert, nicht aber de‐ terminiert, bald als Handlungsimpuls - i.S. der stoischen ὁρμή - die konkrete Einzelhandlung verursacht. 303 Die voluntas wird im folgenden Abschnitt ein‐ gehender diskutiert. Zunächst ist die Rolle des arbitrium voluntatis in Augustins Handlungspsychologie genauer zu betrachten. Es ist freilich darauf hinzu‐ weisen, dass Augustinus bisweilen auch das arbitrium voluntatis als voluntas bezeichnet - nämlich an Stellen, wo eine Unterscheidung der strukturell ver‐ schiedenen Aspekte innerhalb der Handlungspsychologie für seine Aussage keine Bedeutung hat. 304 Dies ändert jedoch nichts daran, dass es sich um zwei voneinander zu unterscheidende Vermögen der menschlichen Seele handelt. Das arbitrium voluntatis ist für Augustinus ein Dezisionsvermögen hinsichtlich unserer Handlungen, durch welches der Mensch entscheidet, eine bestimmte Handlung zu wollen oder nicht zu wollen. 305 355 IV.3 Die Psychologie des Augustinus mit voluntas das im ersten Satz erwähnte arbitrium voluntatis bezeichnet; siehe auch: Gr. et lib.arb. 22: Itaque, fratres, debetis quidem per liberum arbitrium non facere mala, et facere bona; Gest.Pel. 65: quoniam proprium voluntatem habeat unusquisque aut facere aliquid aut non facere; Lib.arb. 1. 26: Quid enim tam in voluntate quam ipsa voluntas sita est? ; c.Faust. 22: Si enim esset illis membris peccandi vel non peccandi liberum arbitrium. 306 Vgel. Aug.Lib.arb. 2.4 9 f: […] voluntas libera tibi videbitur nullum bonum, sine qua recte nemo vivit? […] potentiae vero animi, sine quibus recte vivi non potest, media bona sunt. […] ceteris autem bonis , id est mediis et minimis, non solum bene sed etiam male quisque uti potest. 307 Vgl. Aug.Spir. et litt. 58: Prius igitur illud dicamus et videamus utrum huic satisfaciat quaestioni, quod liberum arbitrium naturaliter adtributum a creatore animae rationali illa media vis est, quae vel intendi ad fidem, vel inclinari ad infidelitatem potest et ideo nec istam voluntatem, qua credit deo, dici potest homo habere quam non acce perit, quando quidem vocante deo surgit de libero arbitrio, quod naturaliter cum crearetur accepit. Vult autem deus omnes homines salvos fieri et in agnitionem veritatis venire, non sic tamen, ut eis adimat liberum arbitrium, quo vel bene vel male utentes iustissime iudicentur; Div.qu. 24: Est igitur et peccatum et recte factum in libero voluntatis arbitrio; Retr. 1.26.2: Utrum et peccatum et recte factum in libero sit voluntatis arbitrio. Quod ita e sse omnino veris‐ simum est; sed ut ad recte faciendum liberum sit, dei gratia liberatur; 2.8: Duo ergo libri sunt, in quorum secundo disputatum est de libero arbitrio voluntatis, sive ad malum ope‐ randum sive ad bonum; Pecc.mer. 2.30: Quapropter nisi obtineamus non solum voluntatis arbitrium, quod huc atque illuc liberam flectitur atque in eis naturalibus bonis est, quibus et male uti malus potest; Lib.arb. 2.50: potentiae vero animi, sine quibus recte vivi non potest, media bona sunt. Virtutibus nemo male utitur; ceteris autem bonis, id est mediis et minimis, non solum bene sed etiam male quisque uti potest; 2.53: Voluntas ergo adhae rens communi atque incommutabili bono impetrat prima et magna hominis bona, cum ipsa sit medium quoddam bonum. Voluntas autem aversa ab incommutabili et communi bono et conversa ad proprium bonum aut ad exterius aut ad inferius, peccat. Ad proprium con‐ vertitur, cum suae potestatis vult esse, ad exterius, cum aliorum propria vel quaecumque ad se non pertinent cognoscere studet, ad inf erius cum voluptatem corporis diligit. Atque ita homo superbus et curiosus et lascivus effectus excipitur ab alia vita, quae in compa‐ ratione superioris vitae mors est; Duab.an. 17: Quamobrem illae animae quidquid f aciunt, si natura, non voluntate faciunt, id est, si libero et ad faciendum et ad non faciendum motu animi carent, si denique his abstinendi ab opere suo potestas nulla conceditur, peccatum earum tenere non possumus; Gr. et lib.arb. 31: Semper est autem in nobis voluntas libera, sed non semper est bona; siehe auch: Trego (2009), 263 und 279; die zweifache Möglichkeit der Ausrichtung des Willens im Gegensatz zu notwendigen Bewegungen findet sich bereits bei Ambrosius: Ambr.Iac. 1.1.1: Non enim servili ad oboediendum constringimur necessitate, sed voluntate arbitra, sive ad virtutem propendemus, sive ad culpam incli‐ namur; siehe dazu auch: Colish (2005), 100. Das arbitrium voluntatis ist ein Vermögen des menschlichen Geistes, welches als sog. medium bonum gut oder schlecht verwendet werden kann. 306 Es soll das Gute wollen und das Schlechte nicht wollen, wobei ihm jedoch beide Möglich‐ keiten offenstehen. 307 Dabei wird das Gute, wie im Kapitel zum ordo bonorum gezeigt, nicht erst durch seine Entscheidung gut, sondern seine Gutheit ist dieser Entscheidung vorgängig. Das arbitrium voluntatis hat das Gute zu erkennen und 356 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 308 Vgl. Trego (2009), 298 f ; siehe auch: Djuth (1990), 396. 309 Vgl. Aug.Civ. 14. 1: Arbitrium igitur voluntatis tunc vere est liberum, cum vitiis peccatisque non servit; zur Freiheit des arbitrium voluntatis siehe: Gilson (1929), 212. 310 Vgl. Aug.Spi r. et litt. 5: Nam neque liberum arbitrium quidquam nisi ad peccandum valet […]; Lib.arb. 2.54: Sed quoniam non sicut sponte homo cecidit ita etiam surgere potest […]; 3.52: Nec mirandum est quod vel ignorando non habet arbitrium liberum voluntatis ad eligendum quod recte fac ia t, vel resistente carnali consuetudine, quae violentia mortalis successionis quodam modo naturaliter inolevit, videat quid recte faciendum sit et velit nec possit implere; Retr. 1.9.6: Deinde dictum est: ex qua miseria peccantibus iustis sim e inflicta, liberet dei gratia, quia sponte homo, id est libero arbitrio, cadere potuit non etiam surgere. Ad quam miseriam iustae damnationis p ertinet ignorantia et difficultas, quam patitur omnis homo ab exordio nativitatis suae, nec ab isto malo quisquam, nisi dei gratia, liberatur; siehe auch: Rist (1994), 132; Drecoll (1999), 159 und 199; Brachtendorf (2005, 181f; 2012a, 129f); Müller (2009), 330; Lössl (2010), 313. 311 Vgl. Aug.Retr. 1.15.4: In tantum enim libera est, in quantum liberata est, et in tantum appellatur voluntas. Alioquin tota cupiditas <potius> quam voluntas proprie nuncupanda est; siehe auch: Rist (1994), 133 f; Brachtendorf (2005), 182. 312 Zur christli chen Rezeption der stoischen Lehre von der προαίρεσις siehe auch: Clem.Strom. 1.17 = SVF 3.236: Ἐπεὶ δὲ τῶν ἁμαρτημάτων προαίρεσις καὶ ὁρμὴ κατάρχει […]; zur lateinischen Terminologie siehe: Tert.Anim. 20.5: Enimuero praesunt, secundum nos quidem deus dominus et diabolus aemulus, secundum communem autem opinionem providentia et fatum et necessitas et fortuna et arbitrii libertas; 21.6: Haec erit vis divinae gratiae, potentior utique natura, habens in nobis subiacentem sibi liberam arbitrii potes‐ tatem quod αὐτεξούσιον dicitur, quae cum sit et ipsa naturalis atque mutabilis, quoquo vertitur, natura convertitur; Cypr.Hab.virg. 23: Nec hoc iubet dominus, sed hortatur; nec iugum necessitatis imponit, quando maneat voluntatis arbitrium liberum; Ep.72.3.2: Nos nec vim cuiquam facimus nec legem damus, quando habeat in ecclesiae administratione voluntatis suae arbitrium liberum unusquisque praepositus rationem actus sui domino sich dafür zu entscheiden. Die Entscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen ist dabei keineswegs in ethischer Hinsicht gleichwertig, so dass man von einer ‚Freiheit der Indifferenz‘ sprechen könnte. 308 Das arbitrium voluntatis hat die Ausrichtung auf das Gute hin zu wählen. Tut es dies nicht und entscheidet es sich für das Schlechte, macht es sich unfrei. 309 Im Zustand der Erbsünde ist das arbitrium voluntatis nicht wirklich frei, da es sich nicht aus sich heraus zum Guten entscheiden kann. 310 Es muss erst durch die göttliche Gnade befreit werden, bevor es die Freiheit zum richtigen Handeln aus der richtigen Motiva‐ tion heraus wiedererlangt. 311 Der Gedanke der Selbstversklavung des menschlichen Dezisionsvermögens war bereits bei den Stoikern im Kontext der Untersuchung der προαίρεσις be‐ gegnet, welche sich durch falsche Entscheidungen ebenfalls unfrei macht. Über‐ haupt weist Augustins arbitrium voluntatis auffällige Parallelen zur stoischen προαίρεσις auf, so dass sich der Gedanke aufdrängt, dass Augustinus auch hier stoisches Gedankengut rezipiert und in sein Denken eingefügt hat. 312 Zu dieser Rezeption dürfte Cicero einen Beitrag geleistet haben, 313 der in seinem Referat 357 IV.3 Die Psychologie des Augustinus rediturus; Mar.Victorin.adv. Arium 4.32: Deus misit filium suum et missum suae potentiae, ac suae etiam voluntatis arbitrio cuncta facientem, ut se nollet aequalem, u t se exinaniat, ut induat servi formam; Ambr.Fid. 2.6: Prout vult, inquit, hoc est, pro liberae voluntatis arbitrio, non pro necessitatis obsequio; 4.11: Filius omnia creavit, et putant non liberae fuisse voluntatis arbitrium, sed coactae atque servilis operationis obsequium? ; siehe dazu auch: Byers (2013), 227; für eine Rezeption der neutplatonischen βούλησις Plotins argumentiert: van Riel (2007). 313 Für die folgenden Beisp iele siehe: Dihle (1985), 150 f; siehe auch: Byers (2013), 230 f. 314 Vgl. Cic.ND 2. 44 = A rist. frg. 24 Rose = frg. 836 Gigon: Nec vero Aristoteles non lau‐ dandu s in eo quod omnia quae moventur aut natura moveri censuit aut vi aut voluntate; siehe auch: S. E. M 9.111: ἤτοι οὖν ὑπὸ φύσεως κινεῖται ἢ ὑπὸ προαιρέσεως ἢ ὑπὸ δίνης καὶ κατʼ ἀνάγκην. 315 Vgl. Cic.Fat. 9: Non enim si alii ad alia propensiores sunt propter causas naturalis et an‐ tecedentis, idcirco etiam nostrarum voluntatum atque adpetitionum sunt causae naturales et antecedentes. […] qui autem ex eo cogi putat ne ut sedeamus quidem aut ambulemus voluntatis esse, is non videt quae quamque rem res consequatur; 20: At qui introducunt causarum seriem sempiternam, ii mentem hominis voluntate libera spoliatam necessitate fati devinciunt. 316 Vgl. Cic.De orat. 2.93 f: Quod non tam is facile in n ostris oratoribus possumus iudica re, quia scripta, ex quibus iudicium fieri posset, non multa sane reliquerunt, quam in Graecis, ex quorum scriptis, cuiusque aetatis quae dicendi ratio voluntasque fuerit, intellegi potest. […] Atque et illi, Theopompi, Ephori, Philisti, Naucratae multique alii naturis differunt, voluntate autem similes sunt et inter sese et magistri. 317 Siehe dazu oben S. 214-219. 318 Vgl. Cic.De orat. 3.56: Hanc, inquam, cogitandi pronunti andique rationem vimque dicendi veteres Graeci sapientiam nominabant; hinc illi Lycurgi, hinc Pittaci, hinc Solones atque ab hac similitudine Coruncanii nostri, Fabricii, Catones, Scipiones fuerunt, non tam fortasse docti, sed impetu mentis simili et voluntate. 319 Vgl. Sen.Ben. 5. 2: H oc, quod illi [sc. Lacedaemonii] in suis civibus custodiunt, virtus ac b ona voluntas omnibus praestat, ne umquam vincantur, quoniam quidem etiam inter su‐ perantia animus invictus est. der peripatetischen Ursachenlehre in De natura deorum die griechische Trias φύσις - βία - προαίρεσις als natura - vis - voluntas wiedergibt. 314 Zudem über‐ setzt er in De fato in der kontrastierenden Gegenüberstellung von Schicksal (εἱμαρμένη/ fatum) und Willen des Menschen den griechischen Terminus προαίρεσις mit voluntas  315 und überträgt die griechische προαίρεσις i.S. der schriftstellerischen Absicht als Terminus der Literarkritik durch voluntas ins Lateinische. 316 Schließlich findet sich in seinem Werk auch die Wiedergabe der προαίρεις i.S. des moralischen Charakters eines Menschen 317 durch den latein‐ ischen Begriff der voluntas. So heißt es von den alten Scipionen und ihren Zeit‐ genossen, dass sie Weise, nicht durch Wissen und Gelehrsamkeit, sondern in ihrer Lebenshaltung waren. 318 Auch bei Seneca wird beispielsweise in seiner Gleichsetzung von Tugend und bona voluntas  319 und in seinen Aussagen zum 358 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 320 Vgl. Sen.Ben. 1.5 f: No n potest beneficium manu tangi ; res animo geritur. Multum inter est inter materiam beneficii et beneficium; itaque nec aurum nec argentum nec quicquam eorum, quae pro maximis accipiuntur, beneficium est, sed ipsa tribuentis voluntas. […] Omnia itaque, quae falsum beneficii nomen usurpant, ministeria sunt, per quae se voluntas amica explicat. […] Itaque non, quid fiat aut quid detur, refert, sed qua mente, quia bene‐ ficium non in eo, quod fit aut datur, consistit, sed in ipso dantis aut facientis animo. […] Non est beneficium ipsum, quod numeratur aut traditur, sicut ne in victimis quidem, licet optimae sint auroque praefulgeant, deorum est honor sed recta ac pia voluntate veneran‐ tium. 321 Vgl. Dihle (1985), 151; siehe auch: Kahn (1988), 252-255; Rist (1994), 187; van Riel (2007), 263 und 268. 322 Vgl. Aug.En.Ps. 31.2.16: Cum libero arbitrio me creavit deus: si peccavi, ego peccavi […]. Ego, ego, non fatum, non fortuna, non diabolus; quia nec ipse coegit, sed ego persuadenti consensi; Div.qu. 24: Nec peccatum autem, nec recte factum imputari cuiquam recte potest, qui nihil fecerit propria voluntate; Duab.an. 14: Non igitur nisi voluntate peccatur; 12.17: dicere autem peccare sine voluntate, magnum deliramentum est; c.Fort. 20: Quia qui non voluntate peccat, non peccat; siehe dazu auch: Rist (1969), 421: „[…] the word voluntas […] does not denote for Augustine a part of the human psyche; rather it is the human psyche in its role as a moral agent. […] the word voluntas is in Augustine almost to be translated as ʻmoral selfʼ or ʻmoral personalityʼ.“; Rist (1994), 187; van Riel (2007), 263; Trego (2009), 305. 323 Vgl. Irwin (2007), 400. 324 Vgl. Aug.Lib.arb. 2 . 3 : Si enim homo aliquod bonum est et non posset, nisi cum vellet, recte facere, debuit habere liberam voluntatem, sin e qua recte facere non posset. […] Ad hoc autem datam vel hinc intellegi potest, quia si quis ea usus fuerit ad peccandum, divinitus in eum vindicatur. Quod iniuste fieret, si non solum ut recte viveretur, sed etiam ut pecc aretur libera esset voluntas data. […] Deinde illud bonum, quo comme ndatur ipsa iustitia in damnandis peccatis recteque factis honorandis, quomodo esset si homo careret libero voluntatis arbitrio? Non enim aut peccatum esset aut recte factum quod non fieret voluntate; 3. 29: nam sicut propria cogitatione non peccat invitus, ita dum consentit male suadenti non utique nisi voluntate consentit; 3. 49: Sed quae tandem esse poterit ante vo‐ luntatem causa voluntatis? ; 3.72 f: Ex quo intellegitur etiam si sapiens primus homo factus est potuisse tamen seduci, quod peccatum cum esset in libero arbitrio, iustam divina lege poenam consecutam. […] illa autem numquam nisi per volun tatem [sc. fiunt], unde ius‐ tissimae retributiones consecuntur; Civ. 12. 6: Huius porro malae voluntatis causa efficiens si quaeratur, nihil invenitur. Quid est enim quod facit voluntatem malam, cum ipsa faciat Vorrang der voluntas vor der Handlung im moralischen Urteil 320 der griechische Terminus der προαίρεσις durch voluntas wiedergegeben. 321 Wie die προαίρεσις bildet das arbitrium voluntatis für Augustinus das per‐ sönliche Zentrum der Freiheit und Verantwortung und konstituiert den mora‐ lischen Charakter einer Person. 322 Dies sorgt für eine einheitliche Konzeption des Handelns, welches rationaler Kontrolle unterliegt. 323 Dadurch dass das ar‐ bitrium voluntatis für Augustinus eine unableitbare, eigenständige Größe ist, kann hier die Verantwortung des Menschen für sein Handeln festgemacht werden. 324 Das arbitrium voluntatis ist die entscheidende Größe für die Zure‐ 359 IV.3 Die Psychologie des Augustinus opus malum? Ac per hoc mala voluntas efficiens est operis mali, malae autem voluntatis efficiens nihil est; c.Sec. 2. 19: Si au tem cogitur consentire ita ut non sit in eius potestate aliter facere, non ergo, ut dicebas, voluntate peccat, quando non voluntate consentit; c.Fort. 20: Quod liberum arbitrium si non dedisset Deus, iudicium puniendi nullum iustum esse posset, nec meritum recte faciendi, nec praeceptum divinum ut ageretur poenitentia de peccatis; […] Quia qui non voluntate peccat, non peccat. 325 Vgl. Aug.Div.qu. 24 : Nec peccatum autem, nec recte factum imputari cuiquam recte potest, qui nihil fecerit propria voluntate; Lib.arb. 3. 3: Non enim quicquam tam firme atque intime sentio quam me habere voluntatem eaque me moveri ad aliquid fruendum; quid autem meum dicam prorsus non invenio si voluntas qua volo et nolo non est mea. Quapropte r cui tribuendum e st si quid per illam male facio nisi mihi? ; 3. 49: Aut igitur volunta s est prima causa peccandi aut nullum peccatum est prima causa peccandi. Nec est cui recte inputetur peccatum nisi peccanti. Non ergo est cui recte inputetur nisi volenti. 326 Vgl. Aug.Gn.litt. 9.25: Sed a nima rationalis voluntatis arbitrio vel consentit visis vel non consentit; Spir.litt. 60: […] consentire vel dissentire propriae voluntatis est; Lib.arb. 3.7: Non enim posses aliud sentire esse in potestate nostra, nisi quod cum volumus fa cimus. Quapropter nihil tam in nostra potestate quam ipsa voluntas est; 3.29: […] ita dum consentit male suadenti non utique nisi voluntate consentit; Civ . 1.19: An forte huic perspicuae rationi, qua dicimus corpore oppresso nequaquam proposito castitatis ulla in malum con‐ sensione mutato illius tantum esse flagitium, qui opprimens concubuerit, non illius, quae oppressa concumbenti nulla voluntate consenserit […]; Spir. et litt. 60: […] consentire autem vocationi d ei vel ab ea dissentire […] propriae voluntatis est; c.Iul. 62: id est, ne opera earum, consensu, voluntatis impleatis; Pecc.mer. 2.4: In grandibus autem baptizatis, in quibus iam ratione utentibus quidquid eidem concupiscentiae mens ad peccandum conse nsit, propriae voluntatis est; c.Sec. 2.19: Deinde, si habet in potestate vel consentire vel non consentire, non ergo victa consentit. Quaero igitur, unde habeat istam consensionem malam nulla contraria cogente natura. Si autem cogitur consentire ita ut non sit in eius potestate aliter facere, non ergo, ut dicebas, voluntate peccat, quando non voluntate con‐ sentit; Retr. 1.15.2: Perfectio quippe boni est, ut nec ipsa concupiscentia peccati sit in ho‐ mine, cui quidem quando bene vivitur non consentit voluntas. […] Quamquam et hoc peccatum quo consentitur peccati concupiscentiae non nisi voluntate committitur; Ep. 217.4: Ac per hoc sic tantum putas a domino gressus hominis dirigi ad eligendam viam dei, quia sine doctrina dei non ei potest innotescere veritas, cui propria voluntate consen‐ tiat. 327 Vgl. Aug.Spir. et litt. 53: Unde hoc quisque in potestate habere dicitur, quod, si vult, facit; si non vult, non facit. 328 Vgl. Frede (2011), 168. chenbarkeit unserer Handlungen. 325 Durch das arbitrium voluntatis steht es in unserer Macht (in nostra potestate), einer praktischen Vorstellung und ihrer suggestio unsere Zustimmung zu geben oder zu verweigern. 326 Es liegt bei uns, uns dazu zu entscheiden, auf eine bestimmte Weise zu handeln. 327 Wie die sto‐ ische προαίρεσις ἐφʼ ἡμῖν war, so ist Augustins arbitrium voluntatis in nostra potestate. 328 Das arbitrium voluntatis kann daher nicht gezwungen werden, be‐ stimmte Handlungen zu wollen und entsprechende Entscheidungen zu treffen. 329 Die Tatsache, dass wir uns durch unsere falschen Entscheidungen 360 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 329 Vgl. Aug.c.Fort. 20: Si quis enim, verbi causa, ligaretur ab aliquo ceteris membris, et de manu eius falsum scriberetur sine eius propria voluntate; Duab.an. 12: Velim experiri quid mihi responderent roganti, utrum eis peccasse videretur, de cuius dormientis manu scrip‐ sisset alius aliquid flagitiosum. Omnes quis dubitet ita fuisse negaturos illud esse peccatum […]. Tunc quaererem, si non dormientis, sed scientis manu, qui membris tamen ceteris vinctus atque constrictus esset, quisquam valentior aliquid similiter fecisset mali, utrum quia id nosset, quamvis omnino noluisset, ullo peccati nomine teneretur. Et hic mihi omnes mirantes quod talia sciscitarer, sine cunctatione responderent, nihil etiam istum omnino peccasse. […] nusquam scilicet nisi in voluntate esse peccatum. 330 Vgl. Aug.Corrept. 42: arbitrium, inquam, liberum, sed non liberatum, liberum iustitiae, peccati autem servum, quo volvuntur per diversas noxias cupiditates, alii magis, alii minus, sed omnes mali, et pro ipsa diversitate diversis suppliciis iudicandi. 331 Vgl. Aug.Lib.arb. 2 . 5 3: quae tamen aversio atque conversio quoniam non cogitur, sed est voluntaria, digna et iusta eam miseriae poena sub sequitur; Corrept. 33: Prima ergo libertas erat po sse non peccare […]. 332 Horn (1996), 119. 333 Vgl. Drecoll (1999), 159. 334 Vgl. Aug.Mus. 6.14: sic cognoscit solum deum esse dominum suum, cui uni summa libert ate servitur; Lib. arb. 2.37: Haec est libertas nostra, cum isti subdimur veritati; Div .qu. 27: In sola bona voluntate secundum legem agimus; in ceteris autem secundum legem agimur, cum lex ipsa incommutabilis maneat, et omnia mutabilia pulcherrima gubernatione mo‐ deretur; siehe auch: Holte (1962), 286; die Freiheit Gottes dient bei Augustinus als Vor‐ bild für die Freiheit des Menschen: Aug.c.Iul.imp. 6.11: Redim untur autem [sc. homines] in libertatem beatitudinis sempiternam, ubi iam peccato servire non possint. Nam si, ut dicis, boni malique voluntarii possibilitas sola libertas est, non habet libertatem deus, in quo peccandi possibilitas non est. Hominis vero liberum arbitrium congenitum et omnino inamissibile si quaerimus, illud est quo beati omnes esse volunt, etiam hi qui ea nolunt quae ad beatitudinem ducunt. versklavt haben, bedeutet nicht, dass es nicht mehr darauf ankomme, wie wir uns entscheiden. Wir bleiben verantwortlich für unsere Handlungen, auch wenn unsere Entscheidungen nicht länger frei sind. 330 Unsere ursprüngliche falsche Entscheidung im Paradies - das peccatum originale originans - war nicht er‐ zwungen, sondern frei, weshalb sie verdientermaßen bestraft wurde. 331 „Nur dann wenn es ein Vermögen gibt, das sich im unmittelbaren Besitz seines Trä‐ gers befindet und das von allen Determinanten, Neigungen und Motiven unab‐ hängig ist, kann ein Wesen als schuldfähig angesehen werden.“ 332 Frei wird der Wille durch das Eingreifen der göttlichen Gnade, welche den Willen in einen guten Zustand versetzt, so dass er von nun an auch das Gute wollen kann. 333 Auf welche Weise die Gnade dies bewirkt und die menschliche Freiheit wiederherstellt, wird gleich noch näher zu untersuchen sein. Die Frei‐ heit des Menschen besteht nach ihrer Wiederherstellung darin, dass der Mensch Gott dient, sich seiner Wahrheit unterwirft und sich das göttliche Gesetz zueigen macht, um in Übereinstimmung mit diesem zu handeln. 334 Der Mensch muss seinen subjektiven ordo amoris an den objektiven ordo bonorum anpassen, um 361 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 335 Zur Legitimität der Verwendung des Autonomiebegriffs im Kontext der stoischen Phi‐ losophie siehe: S. 110 f Anm. 101. 336 Vgl. Aug.Civ. 19.25: Nam licet a quibusdam tunc verae atque honestae putentur esse vir tut es, cum referuntur ad se ipsas nec propter aliud expetuntur: etiam tunc inflatae ac superbae sunt, ideo non virtutes, sed vitia iudicanda sunt. Sicut enim non est a carne sed super carnem, quod carnem facit vivere: sic non est ab hominem sed supe r hominem, quod hominem facit beate vivere; 5.19: […] neminem sine vera pietate, id est veri dei vero cultu, veram posse habere virtutem, nec eam veram esse, quando gloriae servit humanae. […] Tales autem homines virtutes suas, quantascumque in hac vita possunt habere, non tri‐ buunt nisi gratiae dei, quod eas volentibus credentibus petentibus dederit, simulque intel‐ legunt, quantum sibi desit ad perfectionem iustitiae, qualis est in illorum sanctorum angelorum societate, cui se nituntur aptare. 337 Vgl. Aug.Lib.arb . 2. 54: Sed quoniam non sicut sponte homo cecidit ita etiam surgere potest, porrectam nobis d esuper dexteram dei, id est dominum nostrum Iesum Christum, firma fide teneamus et exspectemus certa spe et caritate ardenti desideremus. 338 Vgl. Aug.Beata v. 2.10: Beatos nos esse volumus. […] Videturne vobis […] beatus esse, qui, quod vult, non habet? […] Quid? Omnis, qui, quod vult, habet, beatus est? ; Trin. 11.9: Itaque voluntas quae utrumque [sc. corpus et visio] coniungit quasi parentem et quasi so wahre Freiheit zu erlangen. Dieses Freiheitsverständnis Augustins dürfte sich wiederum stoischem Gedankengut verdanken. So wird der stoische Weise da‐ durch wahrhaft autonom 335 und frei, dass er sich das göttliche Gesetz zueigen macht und in Übereinstimmung mit diesem handelt. Darin besteht für die Sto‐ iker der Weg zum glücklichen Leben. Der entscheidende Unterschied zwischen der stoischen Position und derjenigen des Augustinus besteht freilich darin, dass den Stoikern zufolge der Mensch allein aus sich selbst heraus dazu in der Lage war, diese Freiheit zu erreichen. Für Augustinus ist diese Ansicht ein Zeichen von Hochmut (superbia) und somit lasterhaft. 336 Seiner Meinung nach ist das göttliche Gnadenhandeln notwendig, um den Menschen zur Freiheit zu befreien. Nur durch die wirksame Gnade Gottes wird der Mensch dazu in die Lage ver‐ setzt, sich Gottes Gesetz zu eigen zu machen und sich seinem Willen zu unter‐ werfen, um so die wahre Freiheit zu erlangen. 337 Bevor nun die Wirkweise dieser Gnade betrachtet werden kann, ist noch auf Augustins Verständnis des Handlungsimpulses und seine Rezeption und Modi‐ fikation der stoischen Affektenlehre einzugehen, da die genaue Wirkweise der göttlichen Gnade nur in diesem Zusammenhang verständlich gemacht werden kann. IV.3. 2. 4 appetitus actionis und voluntas Die voluntas ist für Augustinus, wie oben festgestellt, bald eine grundlegende Handlungstendenz, welche den Akteur zu einer bestimmten Handlung geneigt macht, bald der Handlungsimpuls, welcher eine konkrete Einzelhandlung ver‐ ursacht. 338 Damit übernimmt die voluntas die Aufgabe der ὁρμή in der stoischen 362 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus prolem magis spiritalis est quam utrumlibet eorum. […] Finem fortasse voluntatis et re‐ quiem possumus recte dicere visionem ad hoc dumtaxat unum; neque enim propterea nihil aliud volet quia videt aliquid quod volebat; 11.10: Non itaque omnino ipsa voluntas hominis cuius finis non est beatitudo, sed ad hoc unum interim voluntas videndi finem non habet nisi visionem sive id referat ad aliud sive non referat. Si enim non referat ad aliud visionem sed tantum voluit ut videret, non est disputandum quomodo ostendatur finem voluntatis esse visionem; manifestum est enim. Si autem referat ad aliud, vult utique aliud nec iam videndi voluntas erit, aut si videndi, non hoc videndi. […] omnes istae atque aliae tales voluntates suos proprios fines habent qui referuntur ad finem illius voluntatis qua volumus beate vivere et ad eam pervenire vitam quae non referatur ad aliud sed amanti per se ipsa sufficiat; 13.6: Est quaedam sane eiusdem naturae viventis et ratione utentis tanta con‐ spiratio, ut cum lateat alterum quid alter velit, nonnullae tamen sint voluntates omnium etiam singulis notae; et cum quisque homo nesciat quid homo alius unus velit, in qui‐ busdam rebus possit scire quid omnes velint. […] At si dixisset: Omnes beati esse vultis, miseri esse non vultis, dixisset aliquid quod nullus in sua non agnosceret voluntate. Quid‐ quid enim aliud quisquam latenter velit, ab hac voluntate quae omnibus et in omnibus hominibus satis nota est, non recedit; 13.7: Mirum est autem cum capessendae atque reti‐ nendae beatitudinis voluntas una sit omnium, unde tanta exsistat de ipsa beatitudine rursus varietas atque diversitas voluntatum, non quod aliquis eam nolit, sed quod non omnes eam norint. […] Non igitur omnes beate vivere volunt, imo pauci hoc volunt, si non est beate vivere, nisi secundum virtutem animi vivere, quod multi nolunt. […] Et tamen ad hanc contrudit necessitas, si et omnes beate velle vivere verum est, et non omnes sic volunt vivere, quomodo solum beate vivitur; siehe auch: Couenhoven (2017), 27: „[…] speaking about voluntas is a way of speaking about being motivated, drawn, or pulled in a direction.“ 339 Vgl. Byers (2013), 217-231. 340 Vgl. Aug.Duab.an. 14: Voluntas est animi motus, cogente nullo, ad aliquid vel non amit‐ tendum, vel adipiscendum. 341 Vgl. Aug.Civ. 19 . 4: Impetus porro vel appetitus actionis, si hoc modo recte Latine appel‐ latur ea, quam Graeci vocant ὁρμήν […]. 342 Vgl. Aug.Civ. 14.15: Voluptatem vero praecedit ap petitus quidam, qui sentitur in carne quasi c upiditas eius, sicut fames et sitis et ea, quae in genitalibus usitatius libido nominatur, cum hoc sit generale vocabulum omnis cupiditatis; Div.qu. 35.1 f: Nihil enim aliud est amare quam propter se ipsam rem aliquam appetere. […] Namque amor appetitus quid am est; et videmus etiam ceteris animi partibus inesse appetitum, qui si menti rationique con‐ sentiat, in tali pace et tranquillitate vacabit menti contemplari quod aeternum est; Mor. 1.4: Beate certe omnes vivere volumus […]. […] Nam et qui appetit quod adipisci no n potest, cruciatur et qui adeptus est quod appetendum non esset, fallitur et qui non appetit quod Handlungspsychologie. 339 Entsprechend ist - wie in der Stoa - auch bei Augus‐ tinus die voluntas eine Bewegung bzw. ein Vermögen der Seele (motus bzw. vis animi) 340 , das Handlungen verursacht. Bisweilen bezeichnet Augustinus den Impuls, der eine Handlung verursacht, auch als appetitus actionis. 341 Die Be‐ zeichnung des Handlungsimpulses als appetitus actionis ist dabei der weitere Terminus, der sowohl die vernünftigen Handlungsimpulse Gottes, der Engel und der Menschen als auch die nicht vernünftigen Impulse der Tiere bezeichnen kann. 342 Der Begriff voluntas ist hingegen dem Handlungsimpuls der Vernunft‐ 363 IV.3 Die Psychologie des Augustinus adipiscendum esset, aegrotat; Doctr.chr. 2.2: Naturalia [sc. signa] sunt quae sine voluntate atque ullo appetitu significandi praeter se aliquid aliud ex se cognosci faciunt; Trin. 9.18: Porro appetitus ille qui est in quaerendo procedit a quaerente et pendet quodam modo, neque requiescit fine quo intenditur nisi id qu od quaeritur inventum quaerenti copuletur. […] nam vo luntas iam dici potest quia omnis qui quaerit invenire vult, et si id quaeritur quod ad notitiam pertineat, omnis qui quaerit nosse vult; Ep. 104.12: Beati autem omnes esse volumus, hoc est, appetimus, nec tamen omnes qui volumus possumus, hoc est, quod appetimus adipiscimur. 343 Vgl. Trego (2009), 285; Byers (2013), 89 und 218; die terminologische Unterscheidung von nich t vernünftigem Handlungsimpuls (impetus) und vernünfitigem Handlungsim‐ puls (voluntas) findet sich bereits bei Seneca: S en.Dial. 4.1.1-4: Quaerimus enim ira utrum iudicio an impetu incipiat, id est utrum sua sponte moveatur an quemadmodum pleraque quae intra nos <non> insciis nobis oriuntur. […] Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium; sed utrum speciem ipsam statim sequatur et non accedente animo excurrat, an illo adsentiente moveatur quaerimus. Nobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante; nam speciem capere acceptae iniuriae et ultionem eius concupiscere et utrumque coniungere, nec laedi se debuisse et vindicari debere, non est eius impetus qui sine voluntate nostra concitatur. Ille simplex est, hic compositus et plura continens: intel‐ lexit aliquid, indignatus est, damnavit, ulciscitur: haec non possunt fieri, nisi animus eis quibus tangebatur adsensus est; Clem. 1.3: In hac tanta facultate rerum non ira me ad iniqua supplicia compulit, non iuvenilis impetus, non temeritas hominum et contumacia quae saepe tranquillissimis quoque pectoribus patientiam extorsit, non ipsa ostentandae per terrores potentiae dira, sed frequens magnis imperiis, gloria; 2.2: Praeter id, quod bene factis dictisque tuis quam familiarissimum esse te cupio, ut quod nunc natura et impetus est fiat iudicium […]; siehe auch: Braund (2009), 389f. 344 Vgl. Aug.Civ. 5. 9 : I am vero causae voluntariae aut dei sunt aut angelorum aut hominum aut quorumque animalium, si tamen voluntates appellandae sunt animarum rationis ex‐ pertium motus illi, quibus aliqua faciunt secundum naturam suam, cum quid vel appetunt vel evitant. 345 Vgl. Aug.Conf. 8 . 20: […] ipsum velle iam facere erat. 346 Vgl. Aug.Ci v. 5.9: Et ipsae quippe n ostrae voluntates in causarum ordine sunt, qui certus est deo eiusque praescientia continetur, quoni am et humanae voluntates humanorum operum causae sunt; 12.6: Quid est e nim quod fac it voluntatem malam, cum ip sa faciat opus malum? Ac per hoc mala voluntas efficiens est operis mali […]; Lib.arb. 3.12: Non enim quicquam tam firme atque intime sentio quam me habere voluntatem eaque me mov eri ad aliquid fruendum; […] Quapropter cui tribuendum est si quid per illam [sc. voluntatem] male facio nisi mihi? Cum enim bonus deu s me fecerit nec bene aliquid faciam nisi per voluntatem, ad hoc potius datam esse a bono deo satis appare t; für einen vorher‐ gehenden appetitus actionis als Ursache einer Handlung siehe: Aug.Conf. 13.47: […] sic wesen vorbehalten 343 und wird allenfalls analog für den nicht vernünftigen Im‐ puls der Tiere verwendet 344 . Wie in der Stoa die einmal gebildete ὁρμή notwendig zu einer Handlung führt, wenn keine äußeren Hindernisse dazwischen treten oder ein Fall von Willens‐ schwäche vorliegt, so schlägt sich auch bei Augustinus eine einmal definierte voluntas unmittelbar in einer äußeren Handlung nieder. 345 Sie ist die Ursache der menschlichen Handlungen. 346 Sie ist von niemandem erzwungen und darauf 364 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus viro factam esse etiam corporaliter feminam, quae haberet qui dem in mente rationalis intellegentiae parem naturam, sexu tamen corporis ita masculino sexui subiceretur, quem‐ admod um subicitur appetitus action is ad concipiendam de ratione mentis recte agendi sollertiam; Trin. 9.18: Partum ergo mentis antecedit appetitus quidam quo id quod nosse volumus quaerendo et inveniendo nascitur proles ipsa notitia, ac per hoc appetitus ille quo con cipitur pariturque notitia partus et proles recte dici non potest; 15.47: qua iam parta seu genita, voluntas illa perficitur, eo fine requiescens, ut qui fuerat appetitus quaerentis, sit amor fruentis […]; Simpl. 2.4: Cum autem non quaeritur sed infertur appetitus orandi, cum aliquid repente venit in mentem quo supplicandi moveatur affectus gemitibus inenarrabilibus, quocumque modo invenerit hominem, non est utique differenda oratio, ut quaeramus quo secedamus aut ubi stemus aut ubi prosternamur. 347 Vgl. Aug.Duab.an. 14: Voluntas est animi motus, cogente nullo, ad aliquid vel non amit‐ tendum, vel adipiscendum. 348 Vgl. Aug.Lib.arb . 2. 5: Video enim ex hoc quod incertum est, utrum ad recte faciendum voluntas libera data sit, cum per illam etiam peccare possimus, fieri etiam illud incertum, utrum dari debuer it; 3. 58: […] liberam voluntatem petendi et quaerendi et conandi non abstulit [sc . creator] […]; Trin. 11. 10: Non itaque omnino ipsa volunt as hominis cuius finis non est nisi beatitudo, sed ad hoc unum interim voluntas videndi finem non habet nisi visionem sive id referat ad aliud sive non referat. […] Voluntas enim probandi vulnus fuisse alia voluntas est […]. 349 Vgl. Aug.Lib.arb. 2.53: Voluntas autem aversa ab incommutabili et communi bono […]; Civ. 14.6: Et quid est metus atque tristitia nisi voluntas in dissensione ab his quae no‐ lumus? ; S. 13D (= 159A).4: Voluntate aversa a pecunia, stat martyr dei securus adversus eos qui damnis terrent. 350 Zur voluntas als Vermögen der vernünftigen Seele siehe: Aug.Trin. 10.18: Haec igitur tria, memoria, intellegentia, voluntas, quoniam non sunt tres vitae sed una vita, nec tres mentes sed una mens, consequenter utique nec tres substantiae sunt, sed una substantia; c.Iul.imp. 1.46: Voluntas itaque motus est animi, in iure suo habentis utrum sinisterior ad prava decurrat, an dexterior ad celsa contendat; 5.60: Quapropter, h oc est dicere, voluntas exstitit de animi motu, quod est dicere, animi motus exstitit de animi motu, aut, voluntas exstitit de voluntate. 351 Vgl. Aug .Conf. 8.21: Imperat [sc. animus], inquam, ut velit, qui non imperaret, nisi vellet, et non facit quod imperat. […] Nam in tantum imperat, in quantum vult, et in tantum non fit quod imperat, in quantum non vult, quoniam voluntas imperat, ut sit voluntas, nec alia, sed ipsa; für die Stoa siehe: Plu.Stoic.rep. 1037F = LS 53R = SVF 3.175: καὶ μὴν ἡ ὁρμὴ gerichtet, etwas zu erlangen bzw. nicht zu verlieren. 347 Wie die stoische ὁρμή ist auch die voluntas bei Augustinus auf eine Handlung gerichtet, die durch das Prädikat der die Vorstellung begleitenden suggestio repräsentiert wird. So finden sich in Augustins Werk Belege für eine voluntas zu erstreben, zu suchen, zu versuchen, zu sehen, zu beweisen oder richtig zu handeln und zu sündigen. 348 Der Handlungsimpuls, sich von einer bestimmten Handlung zu enthalten, - die stoische ἀφορμή - heißt bei Augustinus voluntas aversa bzw. dissentiens. 349 Analog zur stoischen ὁρμή wird auch bei Augustinus die voluntas als ein Befehl der vernünftigen Seele 350 bestimmt, der die Ausführung einer bestimmten Hand‐ lung anordnet. 351 Die Zustimmung impliziert damit wie in der Stoa auch eine 365 IV.3 Die Psychologie des Augustinus κατὰ γʼ αὐτὸν τοῦ ἀνθρώπου λόγος ἐστὶ προστακτικὸς αὐτῷ ποιεῖν, ὡς ἐν τῷ Περὶ νόμου γέγραφεν. 352 Zur Terminologie siehe: Aug.Civ. 9. 4: Duae sunt sententiae philosophorum de his animi motibus, quae Graeci πάθη, nostri autem quidam, sicut Cicero, perturbationes, quidam affectiones vel affectus, quidam vero, sicut iste [sc. Apuleius], de Graeco expressius pas‐ siones vocant. 353 Vgl. Brachtendorf (1997), 295; für die Verwendung einer verlorenen Doxographie durch Augustinus in der Ausarbeitung seiner Affektenlehre argumentiert Byers (2013), 93 f. 354 Aug.Civ. 14. 6: Interest autem qualis sit voluntas hominis; quia si perversa est, perversos habebit hos motus; si autem recta est, non solum inculpabiles, verum etiam laudabiles erunt. Voluntas est quippe in omnibus; immo omnes nihil aliud quam voluntates sunt. Nam quid est cupiditas et laetitia nisi voluntas in eorum consensione quae volumus? Et quid est metus atque tristitia nisi voluntas in dissensione ab his quae nolumus? Sed cum consen‐ Anordnung der Vernunft, entsprechend zu handeln, und verursacht letztlich eine voluntas, welche die Handlung motiviert. IV.3. 2. 4. 1 Augustins Rezeption der stoischen Affektenlehre Eine Sonderform - genauer gesagt eine Spezies - des Handlungsimpulses bzw. der Handlungsmotivation - der voluntas bzw. des appetitus actionis - bilden bei Augustinus die Affekte (perturbationes, affectiones, affectus, passiones) 352 . Auch in der Affektenlehre war Augustinus stark von stoischem Gedankengut beein‐ flusst. Insbesondere seine lebenslange Lektüre von Ciceros Tusculanae disputa‐ tiones dürfte hier neben Aulus Gellius und Senecas Schriften von wesentlicher Bedeutung gewesen sein. 353 In Buch 14 seiner Schrift De civitate dei führt Au‐ gustinus aus, dass die Qualität der menschlichen Handlungsimpulse von ent‐ scheidender Bedeutung für ihre Klassifizierung sei: Es kommt vielmehr auf die Beschaffenheit des menschlichen Willens an. Ist er ver‐ kehrt, hat er auch diese verkehrten Regungen; ist er aber recht, werden sie nicht nur unschuldig, sondern auch lobenswert sein. Denn in ihnen allen ist der Wille, vielmehr allesamt sind sie nichts anderes als Willen. Denn was ist Begierde (cupiditas) und Lust (laetitia) anderes als der Wille in der Zustimmung (in consensione) dessen, was wir wollen? Und was ist Furcht (metus) und Traurigkeit (tristitia) anderes als der Wille in der Ablehnung (in dissensione) dessen, was wir nicht wollen? Wenn wir dem Streben nach dem, was wir wollen, zustimmen (consentimus), nennen wir es Begierde; wenn dem Genuß dessen, was wir wollen, Lust. Ebenso wenn wir ablehnen (dissentimus), von dem wir nicht wollen, dass es uns geschieht, heißt solcher Wille Furcht; wenn wir jedoch ablehnen, was uns wider Willen geschieht, heißt solcher Wille Traurigkeit. Kurz, je nach der Verschiedenheit der Dinge, die man erstrebt oder flieht, bald ange‐ zogen, bald abgestoßen, wendet und wandelt sich der Wille in diese oder jene Ge‐ mütsbewegung. 354 (Übers. Thimme mit Modifikationen) 366 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus timus appetendo ea quae volumus, cupiditas; cum autem consentimus fruendo his quae volumus, laetitia vocatur. Itemque cum dissentimus ab eo quod accidere nolumus, talis voluntas metus est; cum autem dissentimus ab eo quod nolentibus accidit, talis voluntas tristitia est. Et omnino pro varietate rerum, quae appetuntur atque fugiuntur, sicut allicitur vel offenditur voluntas hominis, ita in hos vel illos affectus mutatur et vertitur. 355 Vgl. Aug.En.Ps. 68. 2. 5: Petrus certe plurimum amavit, et in fluctus calcandos se sine du‐ bitatione proiecit, et ad vocem domini liberatus est; et eum ductum ad passionem, amoris audacia consecutus, tamen turbatus, ter negavit. Unde, nisi quia malum illi videbatur mori? Id enim devitabat quod malum putabat. Hoc ergo et in domino dolebat, quod ipse devitabat; 85. 24: Nemo enim consolationem quaerit, nisi qui est in miseria. Non vultis consolari? Dicite quia felices estis. […] In regione mortuorum labor, dolor, timor, tribulatio, tentatio, gemitus, suspirium: hic falsi felices, veri infelices; quia falsa felicitas, vera miseria est. Qui vero se agnoscit in vera esse miseria, erit etiam in vera felicitate: et tamen nunc quia miser es, dominum audi dicentem: Beati lugentes. O, beati lugentes! Nihil tam coniunctum miseriae quam luctus; nihil tam remotum et contrarium miseriae quam beatitudo: tu dicis lugentes, et tu dicis beatos; 147. 4: Qui gaudium totum suum totamque felicitatem suam constituit in manducando, bibendo, uxorem ducendo, emendo, vendendo, utendo mundo isto, sine sollicitudine est et talis, sed praeter arcam: vae illi a diluvio! Quisquis autem, sive manducat, sive bibit, sive aliquid agit, omnia in gloriam dei facit: et si aliqua tristitia est de rebus saecularibus, sic flet, ut intus in spe gaudeat; et si aliqua laetitia est in rebus saecularibus, sic gaudet, ut intus spiritaliter timeat, nec donet se corrumpendum felicitati, nec se det adversitati frangendum. Handelt es sich bei der voluntas um eine verkehrte voluntas - d. h. eine vo‐ luntas, welche die minima bzw. media bona zu genießen sucht - so liegt Augus‐ tinus zufolge ein schlechter Affekt vor, der damit nichts anderes als eine vo‐ luntas - nämlich eine verkehrte voluntas - ist. Ist die voluntas hingegen richtig - d. h. richtet sie sich auf die minima bzw. media bona als zu gebrauchende und auf den Genuß des summum bonum, so ist sie lobenswert. Die Affekte richten sich wie in der Stoa auch bei Augustinus auf Objekte, die man für gut oder schlecht für sich hält und die daher vermeintlich zur eigenen Glückseligkeit beitragen. 355 Von der stoischen Affektenlehre übernimmt Augustinus auch die vier gene‐ rischen Affekte: Begierde (cupiditas), Lust (laetitia), Furcht (metus) und Trau‐ rigkeit (tristitia). Allerdings bleiben bei ihm diese Bestimmungen in moralischer Hinsicht zunächst neutral. Die Affekte können gut oder schlecht sein - je nachdem, ob sie sich auf das wahre und höchste Gut - nämlich Gott - bzw. die maxima bona - d. h. die Tugenden - oder auf die minima und media bona richten. Die Begierde bezeichnet dabei das Streben nach dem jeweiligen Gut, während die Lust den Genuß dieses Gutes bedeutet. Im Falle der Furcht soll etwas ver‐ mieden werden, von dem der Akteur nicht will, dass es ihn trifft. Ist dies jedoch gegen seinen Willen eingetreten, hat er den Affekt der Traurigkeit. Je nach Ob‐ jekt und Einstellung des Akteurs zu diesem Objekt wandelt sich dabei dieselbe 367 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 356 Aug.Civ. 14. 7: Recta itaque voluntas est bonus amor et voluntas perversa malus amor. Amor ergo inhians habere quod amatur, cupiditas est, id autem habens eoque fruens lae‐ titia; fugiens quod ei adversatur, timor est, idque si acciderit sentiens tristitia est. Proinde mala sunt ista, si malus amor est; bona, si bonus. 357 Vgl. Brachtendorf (2004, 126; 2012b, 149). 358 In Bezug auf die Vorsicht besteht eine Asymmetrie zwischen dem Paradieseszustand und der eschatologischen Vollendung: Während der Mensch im Paradies die Möglich‐ keit hatte zu sündigen, weshalb die εὐπάθεια der Vorsicht hier angebracht ist, wird er diese Möglichkeit in der eschatologischen Vollendung nicht mehr haben, so dass die Vorsicht hier nicht mehr nötig ist; siehe dazu: Aug.Corrept. 33: Prima ergo libertas vo‐ luntatis erat posse non peccare, novissima erit multo maior, non posse peccare. 359 Vgl. Aug.Civ. 14. 9: Beata [sc. vita] vero eademque aeterna amorem habebit et gaudium non solum rectum, verum etiam certum; timorem autem ac dolorem nullum; 14. 10: Sed utrum primus homo vel primi homines (duorum erat quippe coniugium) habebant istos voluntas bald in den einen, bald in den anderen Affekt. Die Abhängigkeit der moralischen Qualität der voluntas und der Affekte von den erstrebten Gütern wird auch anhand der Ausführungen Augustins über die gute bzw. schlechte Liebe i.S. der grundlegenden Strebenstendenz des Menschen deutlich: Der rechte Wille also ist die gute Liebe und der verkehrte Wille die schlechte Liebe. Liebe, die danach lechzt zu besitzen, was sie liebt, ist Begierde, die es besitzt und genießt, Freude, die flieht, was ihr zuwider ist, Furcht, die dies fühlt, wenn es einge‐ treten ist, Traurigkeit. All das ist schlecht, wenn die Liebe schlecht ist, gut, wenn sie gut ist. 356 (Übers. Thimme mit Modifikationen) Ist die Liebe gut und auf die richtigen Objekte ausgerichtet, ist auch die voluntas richtig, und die Affekte sind gut. Ist die Liebe jedoch schlecht und auf die fal‐ schen Objekte - d. h. die media und minima bona - ausgerichtet, von denen man glaubt, sie seien für die eigene Glückseligkeit notwendig, ist auch die voluntas verkehrt, und die Affekte sind schlecht. In der Anerkennung der Existenz auch guter Affekte unterscheidet sich Augustinus von der stoischen Affektenlehre, welche - wie aufgezeigt wurde - nur schlechte Affekte kannte. Für Augustinus existieren neben den schlechten Affekten der Stoiker auch gute Affekte. Diese sind nicht mit den guten Emotionen (εὐπάθειαι) der Stoiker zu verwechseln, welche allein der stoische Weise empfindet. Die guten Affekte stehen dagegen grundsätzlich allen bekehrten Menschen offen. Eine Parallele zum stoischen Weisheits- und Apathie-Ideal findet sich bei Augustinus beim Menschen im Pa‐ radies sowie in der eschatologischen Vollendung. 357 Angst und Traurigkeit sind dort nicht zu finden, da es keine Übel gibt, und die Menschen empfinden allein Freude (gaudium) und Liebe (amor) zu Gott wie zum Nächsten sowie - jedenfalls im Paradies 358 - Vorsicht (devitatio tranquilla) vor der Sünde. 359 368 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus affectus in corpore animali ante peccatum, quales in corpore spiritali non habebimus omni purgato finitoque peccato, non inmerito quaeritur. […] Quid autem timere aut dolere poterant illi homines in tantorum tanta afluentia bonorum, ubi nec mors metuebatur nec ulla corporis mala valetudo, nec aberat quicquam, quod bona voluntas adipisceretur, nec inerat quod carnem animumve hominis feliciter viventis offenderet? Amor erat inpertur‐ batus in deum atque inter se coniugum fida et sincera societate viventium, et ex hoc amore grande gaudium, non desistente quod amabatur ad fruendum. Erat devitatio tranquilla peccati, qua manente nullum omnino alicunde malum, quod contristaret, inruebat. […] et talis esset vita sanctorum post nullum laboris doloris mortis experimentum, qualis erit post haec omnia in incorruptione corporum reddita resurrectione mortuorum; siehe auch: Brachtendorf (2012a), 149. 360 Vgl. Brachtendorf (1997), 301. 361 Vgl. Aug.Civ. 14.7 f. 362 Zur Furcht zu sündigen siehe: Aug.S. 65. 1: […] prudenter timeamus, ne inaniter time‐ amus; 65. 7: linguam tuam time, ne tu te percutias, et occidas non carnem, sed animam. Animam time, ne moriatur in gehenna ignis; 142. 1: […] insidias timeamus iuxta viam. […] Tunc time, si deseris viam. Nam ideo etiam permittitur inimicus ponere iuxta viam laqueos, ne securitate exultationis via deseratur, et in insidias incidatur; 161. 5: Ex his ergo quae in hoc tempore homines timent, coniciant quae timere debeant. Timet enim carcerem, et non timet gehennam? Timet quaestionarios tortores, et non timet infernales angelos? Timet cruciatum temporalem, et non timet poenas ignis aeterni? Postremo timet ad mo‐ dicum mori, et non timet in aeternum mori? ; 161. 7: De timore vano timorem utilem ca‐ piamus. […] Et cum timorem correxeris, et utiliter timere coeperis, non temporales cruci‐ Der Grund für diese Reinterpretation der stoischen Affektenlehre durch Au‐ gustinus, derzufolge es, je nachdem wie sich die grundlegende Willensausrich‐ tung gestaltet, neben den schlechten auch gute Affekte geben kann, dürfte im Sprachgebrauch der Heiligen Schrift zu finden sein. Diese verwendet nämlich für die gute oder schlechte Ausrichtung der voluntas keine unterschiedlichen Begriffe, sondern bezeichnet diese unterschiedslos als amor, caritas oder di‐ lectio. 360 Die rechte voluntas ist guter amor, die verkehrte schlechter amor. Selbst die Affekte cupiditas, laetitia, metus und tristitia werden in positiver wie nega‐ tiver Weise verwendet, je nachdem, ob die ihnen zugrunde liegende Liebe gut oder schlecht - d. h. auf die richtigen oder falschen Objekte im ordo bonorum ausgerichtet - ist. So schlägt sich Augustinus zufolge die Liebe zu einem mi‐ nimum bonum in schlechten Affekten nieder, während die Liebe zum summum bonum gute Affekte mit sich bringt. 361 Die guten Affekte haben bei Augustinus eine pädagogische Funktion, inso‐ fern sie zur moralischen Besserung eines Menschen beitragen können. Die guten Affekte Augustins sind allesamt Reaktionen auf Sünden. So fürchtet sich der Mensch im Prozess der moralischen Besserung davor zu sündigen, hofft darauf, standhaft zu bleiben, um sich weiter der Sünde zu enthalten und Gutes zu tun, ist traurig über seine begangenen Sünden und freut sich über seine guten Taten. 362 Demnach können die guten Affekte bei Augustinus auch als Affekte 369 IV.3 Die Psychologie des Augustinus atus, sed aeterni ignis supplicia, et ideo adulter non fueris; En.Ps. 127. 7: Non de omni timore dicit quia mittitur foras a caritate; habes enim psalmum dicentem: Timor domini castus, permanens in saeculum saeculi. Alius ergo timor permanet, alius excluditur. Timor qui excluditur, castus non est; qui autem permanet, castus est. […] Alius non in hac terra pati timet, sed gehennas timet, unde terruit et dominus. […] Audiunt haec homines; et quia vere futura sunt impiis, timent, et continent se a peccato. Habent timorem, et per timorem continent se a peccato. Timent quidem, sed non amant iustitiam. Cum autem per timorem continent se a peccato, fit consuetudo iustitiae, et incipit quod durum erat amari, et dulcescit deus: et iam incipit homo propterea iuste vivere, non quia timet poenas, sed quia amat aeternitatem. Exclusus est ergo timor a caritate; sed successit timor castus; 147. 4: Quisquis autem, sive manducat, sive bibit, sive aliquid agit, omnia in gloriam dei facit: et si aliqua tristitia est de rebus saecularibus, sic flet, ut intus in spe gaudeat; et si aliqua laetitia est in rebus saecularibus, sic gaudet, ut intus spiritaliter timeat, nec donet se corrumpendum felicitati, nec se det adversitati frangendum (hoc est enim flere tamquam non flentem, et gaudere tamquam non gaudentem); zur Freude über die Tugend siehe: Aug.S. 280. 1: Debetur tamen etiam a nobis tam devotae celebritati sermo sollemnis, quem si meritis earum imparem profero, impigrum tamen affectum gaudio tantae festivitatis exhibeo. Quid enim gloriosius his feminis, quas viri mirantur facilius, quam imitantur? Sed hoc illius potissimum laus est, in quem credentes, et in cuius nomine fideli studio concurrentes, secundum interiorem hominem, nec masculus, nec femina inveniuntur; ut etiam in his quae sunt feminae corpore, virtus mentis sexum carnis abscondat, et in membris pigeat cogitare, quod in factis non potuit apparere; En.Ps. 42. 3: […] causa laetitiae tuae iustitia sit; zur Traurigkeit über die eigene Sünde siehe: Aug.Civ. 14. 8: Ipsa quoque tristitia, pro qua Stoici nihil in animo sapientis inveniri posse putaverunt, reperitur in bono et maxime apud nostros. Nam laudat apostolus Corinthios, quod contristati fuerint secundum deum. Sed fortasse quis dixerit illis apostolum fuisse congratulatum, quod contristati fuerint paenitendo, qualis tristitia, nisi eorum qui peccaverint, esse non potest. […] Ac per hoc possunt Stoici pro suis partibus respondere, ad hoc videri utilem esse tristitiam, ut peccasse paeniteat. […] Huic ergo stultitia fuit causa etiam huius utilis optandaeque tristitiae, qua homo esse se dolet, quod esse non debet; S. 254. 2: Qui secundum deum tristis est, paenitentia tristis est de peccatis suis. Tristitia de iniquitate propria iustitiam parturit; 254. 4: Inspexi alium rursus gementem, flentem, orantem. Stercus agnosco, locum quaero. Intendi aurem in orationem eius, et audio dicentem: Ego dixi: Domine miserere mei; sana animam meam, quoniam peccavi tibi. Gemit peccatum, agnosco agrum, exspecto fructum; En.Ps. 7. 19: Psallere autem ad gaudium pertinet, poenitentia vero peccatorum, ad tristitiam; 31. 1. 7: Exsultatio mea, redime me a circumdantibus me: in te mihi est gaudium, redime me ab ea tristitia, quam mihi peccata mea faciunt; 114. 4: Latebat enim me tribulatio et dolor utilis. […] Agnoscant et lugeant istam miseriam; faciet eos beatos lugentes, qui eos esse semper miseros noluit. 363 Zu dieser Terminologie siehe: Brachtendorf (1997), 301. zweiter Ordnung bezeichnet werden, welche auf die Sünden reagieren, die durch die Affekte erster Ordnung begangen wurden. 363 Die guten Affekte beschränken sich dabei nicht nur auf die eigenen Sünden, sondern beziehen sich auch auf die Sünden der Anderen. So wünscht sich der Bewohner der civitas dei die Erlösung der anderen Menschen und freut sich über sie, wenn sie eingetreten ist. Zugleich fürchtet er jedoch ihre Vergehen und ist traurig, wenn sie geschehen. 364 Auch 370 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 364 Vgl. Aug.Io.ev.t r. 60. 3: Turbetur plane animus christianus, non miseria, sed misericordia: tim eat ne pereant homines Christo, contristetur cum perit aliquis Christo; concupiscat acquiri homines Christo, laetetur cum ac quiruntur homines Christo: timeat et sibi ne pereat Christo, contristetur peregrinari se a Christo; concupiscat regnare cum Christo, laetetur cum sperat se regnaturum esse cum Christo. 365 Vgl. Aug.Civ. 9.5: Qu id est autem misericordia nisi alienae miseriae quaedam in nostro corde compassio, qua utique si possumus subvenire compellimur? 366 Vgl. Cic.Lig. 37: […] nulla de virtutibus tuis plurimis nec admirabilior nec gratior miseri‐ cordia est. 367 Vgl. Aug.Civ. 9.5: Longe melius et humanius et piorum sensibus accommodatius Ci cero in Caesaris laude locutus est, ubi ait: „Nulla de virtutibus tuis nec admirabilior nec gratior misericordia est.“ 368 Vgl. ebd.: Servit autem motus iste rationi, quando ita praebetur misericordia, ut iustitia conservetur, sive cum indigenti tribuitur, sive cum ignoscitur paenitenti. 369 Vgl. Brachtendorf (1997), 302. 370 Vgl. Aug.Lib.arb. 3.73: Ex quo apparet esse quiddam medium quo ad stultitiam a sapientia transitur, quod neque stulte neque sapienter factum dici potest, quod ab hominibus in hac vita constitutis non nisi ex contrario datur intellegi. Sicut enim nullus mortalium fit sapiens nisi ab stultitia in sapientiam transeat - ipse autem transitus si stulte fit non utique bene fit, quod dementissimum est dicere; si autem sapienter fit iam erat sapientia in homine antequem transisset ad sapientiam, quod nihilominus absurdum est; ex quo intellegitur esse medium quod neutrum dici potest -, ita et ex arce sapientiae ut ad stultitiam primus homo transiret, nec stultus nec sapiens ille transitus fuit; Ep. 1 04.17: Et ego quidem quamvis innocentes illic mihi non occurrerent, nisi qui aut absentes fuerunt, aut mala illa das Mitgefühl (misericordia) - verstanden als ein gewisses Mitleiden in unserem Herzen mit fremdem Elend, durch welches wir zur Hilfeleistung gedrängt werden 365 - erhielt bei Augustinus als Affekt eine positive Bewertung. So ging er soweit, dieses mit Cicero 366 zu den Tugenden zu zählen, 367 da es der Vernunft diene und die Gerechtigkeit wahre, indem man den Bedürftigen helfe und den‐ jenigen, die Reue empfinden, verzeihe. 368 Damit erweisen sich die guten Affekte, insofern sie mit der rechten Vernunft übereinstimmen, als durchaus nützlich und tragen zur moralischen Besserung des Akteurs bei, weshalb sie in dieser Welt keineswegs gänzlich aus der Seele des Menschen zu verbannen sind. Der Christ ist auf dem Weg der moralischen Besserung hin zur Vollendung bereits fortgeschritten und ist dazu in der Lage, gute Affekte in Bezug auf echte Güter und Übel zu empfinden. 369 Diese Überlegung führt Augustinus - wie be‐ reits sein Gedanke des Nicht-ohne-Gott-Seins (non sine deo esse) - zu einer Auf‐ gabe der strengen stoischen Dichotomie zwischen Weisen und Toren, der zu‐ folge es keine Zwischenstufe zwischen den beiden Extremen gibt. Solange man noch nicht Weise ist, ist man ein Tor. Für Augustinus existiert jedoch eine Zwi‐ schenstufe des moralischen Fortschritts zwischen Torheit und Weisheit, weshalb er auch die stoische Lehre von der Gleichheit aller Sünden aufgibt und zwischen schweren und weniger schweren Sünden unterscheidet. 370 Die guten Affekte 371 IV.3 Die Psychologie des Augustinus perpessi sunt, aut nullis ad prohibendum viribus vel auctoritate valuerunt, tamen nocen‐ tiores a minus nocentibus in rescribendo distinxi, aliamque causam posui eorum qui ti‐ muerunt offendere potentes inimicos ecclesiae, aliam eorum qui hoc committi voluerunt: aliam eorum qui commiserunt, aliam eorum qui immiserunt; nihil agi de immissoribus volens, quia hoc sine tormentis corporalibus a proposito nostro abhorrentibus fortasse non potest inveniri. Stoici autem tui omnes aequaliter nocentes esse concedunt, quibus placet omnia paria esse peccata; qui etiam duritiam suam qua misericordiam vituperant, huic sententiae sociantes, nullo modo censent omnibus pariter ignoscendum, sed omnes pariter esse puniendos. Remove ergo illos quam longissime potes a patrocinio causae istius, et opta potius ut tamquam christiani agamus, ut, sicut optamus, nos in Christo eos quibus par‐ cimus, acquiramus, ne perniciosa illis dissolutione p arcamus; 167.4: Et illud quidem de virtutibus et vitiis, si veraciter dicitur, non est consequens ut propter hoc omnia peccata sint paria. Nam illud de inseparabilitate virtutum, etsi forsitan fallor, tamen si verum memini, quod vix memini, omnibus philosophis placuit, qui easdem virtutes agendae vitae necessarias esse dixerunt. Hoc autem de parilitate peccatorum, soli Stoici ausi sunt dispu‐ tare, contra omnem sensum generis humani: […] In qua tua suavissima et praeclarissima disputatione satis evidenter apparuit, non placuisse auctoribus nostris, vel ipsi potius, quae per eos locuta est, veritati, omnia paria esse peccata; siehe dazu auch: Wetzel (1992), 81 f; Rist (1994), 169. 371 Vgl. Brachtendorf (2012a), 148. 372 Aug.Civ. 14. 9: […] quae [sc. affectiones] contra rationem accidunt mentemque perturbant […]. 373 Vgl. ebd.: Proinde, quod fatendum est, etiam cum rectas et secundum deum habemus has affectiones, huius vitae sunt, non illius, quam futuram speramus, et saepe illis etiam inviti cedimus. Itaque aliquando, quamvis non culpabili cupiditate, sed laudabili caritate mo‐ veamur, etiam dum nolumus flemus. Habemus ergo eas ex humanae condicionis infirmi‐ tate. 374 Vgl. Aug.Civ. 21.17: Lon ge autem aliter istorum misericordia humano errat affectu, qui hominum illo iudicio damnatorum miserias temporales, omnium vero qui vel citius vel tardius liberantur aeternam felicitatem putant. Quae sententia si propterea bona et vera quia misericors est, tanto erit melior et verior quanto misericordior. Extendatur ergo ac profundatur fons huius misericordiae usque ad damnatos angelos saltem post multa atque prolixa quantumlibet saecula liberandos. Cur usque universam naturam manat humanam, et cum ad angelicam ventum fuerit, mox arescit? Non audent tamen se ulterius miserando porrigere et ad liberationem ipsius quoque diaboli pervenire. Verum si aliquis audeat, vincit helfen dem Christen dabei, auf dem Weg zur Vollendung weiter voranzu‐ schreiten. Allerdings bleiben auch die guten Affekte Affekte und als solche ambiva‐ lent. 371 Sie sind solange zu begrüßen, als sie mit der rechten Vernunft überein‐ stimmen und sich als situationsadäquat erweisen. Jedoch können auch sie „der Vernunft widerstreiten und den Geist verwirren“ 372 und drohen, aufgrund der Schwäche des Menschen das rechte Maß zu überschreiten. 373 Sie drängen den Menschen dann zur Sünde, wenn er etwa zuviel Furcht davor hat zu sündigen, zu viel Traurigkeit über seine eigenen Sünden empfindet oder zuviel Mitleid mit den Anderen hat, wenn sie sündigen. 374 Die Affekte - egal ob sie gut oder 372 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus nempe istos. Et tamen tanto invenitur errare deformius et contra recta dei verba perversius, quanto sibi videtur sentire clementius. 375 Vgl. Aug.Nupt. et co nc. 1. 31: Multum autem fallitur homo, qui consentiens concupiscen‐ tiae carnis suae et quod illa desiderat decernens facere et statuens putat sibi adhuc esse dicendum: Non ego operor illud, etiamsi oderit, quia consentit. Simul enim est utrumque: et ipse odit, quia malum esse novit, et ipse facit, quia facere statuit. […] Qui ergo dicit: Iam non ego operor illud, sed quod habitat in me peccatum, si tantummodo concupiscit, verum dicit, non si cordis consensione decernit aut etiam corporis ministero perficit. 376 Vgl. Irwin (2007), 408 f. 377 Vgl. Aug.Lib.arb. 1. 21: […] nulla res alia mentem cupiditatis comitem faciat quam propria voluntas et liberum arbitrium; 3. 2: […] nulla re fieri mentem servam libidnis nisi propria voluntate. schlecht sind - stellen für Augustinus ein Übel dar, welches droht, den Menschen zur Sünde zu verleiten, und dem er im Diesseits als Folge des Sündenfalls not‐ wendigerweise unterliegt. Daher muss der Mensch im ewigen Leben von diesem Übel befreit werden, so dass er in ἀπάθεια die Glückseligkeit genießen kann. Augustinus rechnet also mit einem möglichen irreführenden Einfluss der Af‐ fekte, doch führen sie den Menschen nicht unabhängig von seiner Willensent‐ scheidung und Zustimmung in die Irre. Auch eine affekthafte Handlung ist eine Handlung, die aus der Willensentscheidung des Akteurs und seiner Zustim‐ mung hervorgeht. 375 Mit dieser Zurückweisung eines platonischen Dualismus, der mit der Existenz eines vernünftigen und eines unvernünftigen Seelenteils zwei unterschiedliche Quellen menschlichen Handelns annimmt, und der damit einhergehenden Verteidigung eines sokratisch-stoischen Monismus, dem zu‐ folge alles Handeln in der vernünftigen Seele des Menschen seinen Ursprung hat, akzeptiert Augustinus die intellektualistische Seite der stoischen Motivati‐ onstheorie und weicht folglich weniger stark von der stoischen Affektenlehre ab, als uns seine Kritik und Einwände dieser gegenüber glauben lassen wollen. 376 Der Wille - und keine andere äußerliche oder innerliche Kraft - ist die Ursache für die Unterworfenheit des Menschen unter die Affekte und die Sünde. 377 Eine weitere stoische Unterscheidung, welche Eingang in Augustins Denken gefunden hat, besteht in der Differenzierung zwischen sog. Prä-Affekten (προπαθείαι) und echten Affekten: […] [B]ei allem Übrigen werden die Glieder des Leibes nicht direkt von den Leiden‐ schaften selbst, sondern vom Willen, nachdem er diesen zugestimmt hat, in Bewegung gesetzt, der also beim Gebrauch der Glieder Herr und Gebieter bleibt. Denn wer ein zorniges Wort ausstößt oder jemanden schlägt, kann das nur, wenn Zunge oder Hand auf Willensgeheiß die erforderlichen Bewegungen verrichten, Glieder also, die, auch ohne dass Zorn dabei im Spiel ist, vom Willen bewegt werden. 378 (Übers. Thimme mit Modifikationen) 373 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 378 Aug.Civ. 14. 19: […] in ceteris membra corporis non ipsae affectiones, sed, cum eis consen‐ serit, voluntas movet, quae in usu eorum omnino dominatur? Nam quisquis verbum emittit iratus vel etiam quemquam percutit, non posset hoc facere, nisi lingua et manus iubente quodam modo voluntate moverentur; quae membra, etiam cum ira nulla est, moventur eadem voluntate. 379 Aug.Civ. 9. 4: In eo libro [sc. Epicteti] se legisse dicit A. Gellius hoc Stoicis placuisse, quod animi visa, quas appellant phantasias nec in potestate est utrum et quando incidant animo, cum veniunt ex terribilibus et formidabilibus rebus, necesse est etiam sapientis animum moveant, ita ut paulisper vel pavescat metu, vel tristitia contrahatur, tamquam his passi‐ onibus praevenientibus mentis et rationis officium; nec ideo tamen in mente fieri opinionem mali, nec adprobari ista eisque consentiri. Hoc enim esse volunt in potestate idque interesse Zwar finden sich gewisse Regungen in der Seele des Akteurs, welche ihn geneigt machen, einer Vorstellung, welche diese Regungen verursacht, zuzustimmen, doch kann man hier noch nicht von Affekten im vollen Sinn sprechen, da echte Affekte dieser Passage zufolge - wie auch in der Stoa - eine vorhergehende Zustimmung erfordern. Auch für Augustinus stellen Affekte demnach Hand‐ lungsimpulse dar, welche Handlungen verursachen - z. B. ein zorniges Wort ausstoßen oder jemanden schlagen. Wird einer entsprechenden Vorstellung die Zustimmung verweigert, werden die mit ihr einhergehenden affektiven Re‐ gungen in der Seele nicht zu Affekten, und sie verursachen auch keine Hand‐ lungen. Sie bleiben bloße Prä-Affekte. Dementsprechend werde auch der Weise nicht von echten Affekten befallen, sondern empfinde bloße Prä-Affekte. In diesem Zusammenhang greift Augustinus auf Gelliusʼ Paraphrase aus dem fünften Buch der Diatriben Epiktets zurück und gibt die Anekdote vom stoischen Philosophen im Seesturm in gekürzter Form wieder: In diesem Buch [sc. Epiktets], sagt Aulus Gellius, habe er als Ansicht der Stoiker ge‐ lesen, dass es nicht in der Macht der Seele stehe, ob und wann Vorstellungen, welche sie φαντασίαι nennen, in der Seele vorkommen, die wenn sie von schrecklichen und furchterregenden Dingen kommen, auch die Seele des Weisen bewegen müssen, so dass er sich ein wenig aus Furcht ängstigt (pavescat metu) oder von Traurigkeit zu‐ sammengezogen wird (tristitia contrahatur), als ob diese Erregungen der Betätigung des Verstandes und der Vernunft vorausgehen (tamquam his passionibus praevenien‐ tibus mentis et rationis officium); aber dennoch entstehe deswegen im Verstand keine Meinung von einem Übel, noch würden diese gebilligt und ihnen zugestimmt. Denn sie wollen, dass dies in unserer Macht stehe, und sind der Meinung, dass darin der Unterschied zwischen der Seele des Weisen und der des Toren bestehe, dass die Seele des Toren eben diesen Erregungen weiche und die Zustimmung des Verstandes an‐ passe, die des Weisen jedoch, obschon sie diese notwendigerweise erleide, dennoch hinsichtlich dessen, was er vernünftigerweise erstreben oder vermeiden müsse, mit unerschüttertem Verstand eine wahre und feste Überzeugung festhalte. 379 374 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus censent inter animum sapientis et stulti, quod stulti animus eisdem passionibus cedit atque accomodat mentis adsensum; sapientis autem, quamvis eas necessitate patiatur, retinet tamen de his, quae adpetere vel fugere rationabiliter debet, veram et stabilem inconcussa mente sententiam. 380 Die Stelle bei Aulus Gellius findet sich auf S. 240 f Anm. 673. 381 Vgl. Gell. 19. 1. 17 = Epict.frg. 9 = LS 65Y: […] sapientis quoque animum paulisper moveri et contrahi et pallescere necessum est. 382 Vgl. ebd.: […] non opinione alicuius mali praecepta, sed quibusdam motibus rapidis et inconsultis, officium mentis atque rationis praevenientibus. 383 Vgl. Irwin (2007), 404 f und 407; siehe auch bereits: Irwin (2003a), 437. Es steht nicht in der Macht des Weisen, welche Vorstellungen sich in seiner Seele einstellen. Folglich kann er auch Vorstellungen von schrecklichen und fürch‐ terlichen Dingen haben, welche seine Seele notwendigerweise bewegen, so dass er in Furcht gerät oder traurig wird. Diese Regungen gehen jedoch der Tätigkeit des Verstandes und der Vernunft voraus, so dass sie nicht das Resultat einer Zustimmung seitens des Akteurs sind und keine Meinung von einem Übel vor‐ liegt. Nur ein Tor stimme diesen Regungen zu, während ein Weiser ihnen zwar auch unterliege, jedoch seine Zustimmung verweigere. Augustins Referat der Ausführungen des Aulus Gellius weicht nun allerdings in einigen interessanten Details von seiner Vorlage ab. 380 So sagt Gellius niemals explizit, dass der Weise passiones erleide, sondern dass seine Seele durch Vorstellungen bewegt und ein wenig zusammengezogen werde. 381 Der Begriff des Affekts scheint bei ihm See‐ lenregungen vorbehalten zu sein, die auf einer Zustimmung basieren. Zudem erblasst (pallescere) der Weise bei Gellius nur, was keine Rückschlüsse auf das Vorliegen eines Affekts zulässt, sondern lediglich eine unwillkürliche körper‐ liche Reaktion darstellt. Bei Augustinus gerät er dagegen in Furcht (pavescere) und wird von Traurigkeit zusammengezogen (tristitia contrahatur). Auch gehen der Tätigkeit des Verstandes bei Augustinus nicht wie bei Gellius schnelle und unerwartete Regungen, 382 sondern Affekte voraus (tamquam his passionibus praevenientibus mentis et rationis officium). Demnach scheinen Augustinus zu‐ folge also Affekte auch unabhängig von der Zustimmung des Akteurs vor‐ kommen zu können. Wenn er sagt, dass der Weise ohne seine Zustimmung in Furcht bzw. Traurigkeit geraten kann, scheint er die stoischen Prä-Affekte bzw. die bloßen Vorstellungen, die diese hervorrufen, mit echten Affekten gleichzu‐ setzen. Durch die Identifikation von Affekten und bloßen Vorstellungen, welche notwendigerweise Veränderungen in der Seele hervorrufen, unterliegt auch der Weise den Affekten. 383 Mit diesen kleinen Änderungen an Gelliusʼ Version der Seestrum-Anekdote stellt Augustinus die stoische Affektenlehre auf den Kopf und erweckt den Ein‐ druck, als wären die Stoiker selbst der Überzeugung gewesen, dass Affekte in 375 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 384 Vgl. Brachtendorf (1997), 298. 385 Siehe oben: S. 294-296. 386 Vgl. Aug.Civ. 9. 4: Quae si ita sunt, aut nihil aut paene nihil distat inter Stoicorum alio‐ rumque philosophorum opinionem de passionibus et perturbationibus animorum. 387 Vgl. Aug.Exp.prop.Rm. 12: Quod cum fit, tametsi desideria quaedam carnis, dum in hac vita sumus, adversus spiritum nostrum pugnant, ut eum ducant in peccatum, non tamen his desideriis consentiens spiritus, quoniam est fixus in gratia et caritate dei, desinit peccare. Non enim in ipso desiderio pravo, sed in nostra consensione peccamus; siehe dazu: Drecoll (1999), 152: „Das Sündigen besteht gerade in diesem consentire, nicht schon in dem desiderium pravum. […] Aufgrund der carnis mortalitas, die die Menschen aufgrund des primum peccatum Adams sich zuziehen, von dem sie carnaliter abstammen, hören die desideria auch nicht auf zu existieren, jedenfalls solange die Menschen nicht durch die Auferstehung des Leibes die immutatio, den versprochenen Zustand der Unveränder‐ lichkeit, erreicht haben, der als perfecta pax das vierte Stadium darstellt […].“ 388 Vgl. Aug.En.Ps. 4. 6: Etiam si irascimini, nolite peccare; id est, etiam si surgit motus animi, qui iam propter poenam peccati non est in nostra potestate, saltem ei non consentiat ratio et mens […]; siehe dazu auch: Brachtendorf (1997), 299. 389 Vgl. Brachtendorf (1997), 300. diesem Leben unvermeidlich seien. 384 Dies dient in seinem Argumentationsgang dazu zu zeigen, dass es sich bei den Unterschieden zwischen Platonikern bzw. dem Peripatos und Stoikern nicht nur hinsichtlich der Güterlehre 385 , sondern auch in der Affektenlehre lediglich um verbale Unterschiede handle, die Schulen aber in der Sache übereinstimmten. 386 Zudem führt seine Veränderung der stoi‐ schen Lehre, wodurch der Mensch notwendigerweise Affekten unterliegt, in‐ sofern sie auch ohne seine Zustimmung zustande kommen, auch dazu, dass es der Mensch nicht mehr aus sich heraus vermag, frei von Affekten zu leben, d. h. die ἀπάθεια zu erreichen. Das Vorhandensein der Affekte in der Seele ist kein schuldhaftes Vergehen des Individuums, sondern die Situation aller Men‐ schen. 387 Daher ist es auch nicht schuldhaft. Von einer Sünde kann man erst sprechen, wenn man den Affekten nachgibt und ihnen erlaubt, als perturbationes die Vernunft zu verwirren und sie zu falschen Entscheidungen zu drängen. 388 Da Affekte Augustinus zufolge ein notwendiger Teil der menschlichen Natur sind und somit auch die Seele des Weisen diese erleidet und von ihnen erregt wird, ist auch dieser auf die Erlösung und das göttliche Gnadenhandeln ange‐ wiesen. 389 Eine problematische Konsequenz dieser Reinterpretation der stoischen Af‐ fektenlehre besteht darin, dass der Akteur nicht mehr für sein affekthaftes Han‐ deln verantwortlich ist, wenn ihn seine Affekte auch ohne seine Zustimmung zum Handeln motivieren können. Sie können ihn in diesem Fall unabhängig von seinem rationalen Urteil darüber, ob er auf diese Weise handeln soll, zu einer Handlung zwingen. Für die Verantwortung des Akteurs ist dann kein Platz mehr. 390 Augustinus wendet sich jedoch an anderer Stelle 391 gegen ein solches 376 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 390 Vgl. Irwin (2007), 407. 391 Vgl. Aug.Civ. 14. 3: Quod si quisquam dicit carnem causam esse in malis moribus quo‐ rumcumque vitiorum, eo quod anima carne affecta sic vivit, profecto non universam ho‐ minis naturam diligenter advertit. Nam corpus quidem corruptibile aggravat animam. Unde etiam idem apostolus agens de hoc corruptibili corpore, de quo paulo ante dixerat: Etsi exterior homo noster corrumpitur: Scimus, inquit, quia, si terrena nostra domus ha‐ bitationis resolvatur, aedificationem habemus ex deo, domum non manu factam aeternam in caelis. Etenim in hoc ingemiscimus, habitaculum nostrum quod de caelo est superindui cupientes; si tamen et induti, non nudi inveniamur. Etenim qui sumus in hac habitatione, ingemiscimus gravati, in quo nolumus exspoliari, sed supervestiri, ut absorbeatur mortale a vita. Et aggravamur ergo corruptibili corpore, et ipsius aggravationis causam non na‐ turam substantiamque corporis, sed eius corruptionem scientes nolumus corpore spoliari, sed eius immortalitate vestiri. Et tunc enim erit, sed quia corruptibile non erit, non gravabit. Aggravat ergo nunc animam corpus corruptibile, et deprimit terrena inhabitatio sensum multa cogitantem. Verumtamen qui omnia mala animae ex corpore putant accidisse, in errore sunt. […] Nam corruptio corporis, quae aggravat animam, non peccati primi est causa, sed poena; nec caro corruptibilis animam peccatricem, sed anima peccatrix fecit esse corruptibilem carnem. Ex qua corruptione carnis licet existant quaedam incitamenta vi‐ tiorum et ipsa desideria vitiosa, non tamen omnia vitae iniquae vitia tribuenda sunt carni, ne ab his omnibus purgemus diabolum, qui non habet carnem. […] At haec omnia cum habeat sine carne, quomodo sunt ista opera carnis, nisi quia opera sunt hominis, quem, sicut dixi, nomine carnis appellat? Non enim habendo carnem, quam non habet diabolus, sed vivendo secundum se ipsum, hoc est secundum hominem, factus est homo similis dia‐ bolo; siehe auch: Aug.c.Iul. 3. 62: Si ergo non consentiatur concupiscentiis carnis, quamvis agantur motibus, non tamen perficientur operibus. Proinde cum caro concupiscit adversus spiritum et spiritus adversus carnem, ut non ea quae volumus faciamus; nec carnis perfi‐ ciuntur concupiscentiae, quamvis fiant; nec nostra perficiuntur bona opera, quamvis fiant. Sicut enim tunc perficitur carnis concupiscentia, cum consentit ei spiritus ad opera mala, ut non concupiscat adversus illam, sed cum illa: sic et bona opera nostra tunc perficientur, quando ita spiritui caro consenserit, ut adversus eum etiam ipsa non concupiscat; Duab.an. 15: Ergo peccatum est voluntas retinendi vel consequendi quod iustitia vetat, et unde li‐ berum est abstinere. Quamquam si liberum non sit, non est voluntas; 17: Quamobrem illae animae quidquid faciunt, si natura, non voluntate faciunt, id est, si libero et ad faciendum et ad non faciendum motu animi carent; si denique his abstinendi ab opere suo potestas nulla conceditur, peccatum earum tenere non possumus. 392 Zweifel an der Angemessenheit einer dualistischen Interpretation Platons hegen u. a.: Rist (1992); Irwin (2007), 75-84. 393 Vgl. Gal 5,17. Verständnis menschlichen Handelns, wenn er eine quasi-platonische Interpre‐ tation 392 der Aussagen des Paulus über Fleisch und Seele bzw. Geist 393 zurück‐ weist, der zufolge der Mensch ein Kompositum aus zwei quasi-personalen Ak‐ teuren sei und von zwei streng unterschiedenen Motiven zum Handeln bewegt werde. Eine solche Interpretation der paulinischen Aussagen über Fleisch und Geist impliziere Augustinus zufolge ein manichäisches Verständnis der Sünde als Zwang durch eine fremde Kraft, die Teil der göttlichen Schöpfung ist, was mit der Gutheit dieser Schöpfung konfligieren würde. Daher sei diese dualisti‐ 377 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 394 Vgl. Irwin (2007), 387 f. 395 Aug.Civ. 14. 3: Nec c aro corruptibilis animam peccatricem, sed anima peccatrix fecit esse corruptibilem carnem. 396 Vgl. Aug.Div .qu. 66. 6: Qui enim secundum carnem sunt, quae carnis sunt sapiunt, id est carnalia bona pro summis boni concupiscunt; qui autem secundum spiritum, quae sunt spiritus sentiunt. Prudentia enim carnis mors est, prudentia autem spiritus vita et pax, quia prudentia carnis inimica est in deum. […] Sic et prudentia carnis dicitur, cum anima pro magnis bonis temporalia bona concupiscit; quamdiu enim appetitus talis inest animae, legi die subiecta esse non potest, id est non potest implere quae lex iubet. […] Eadem enim anima, cum inferiora appetit, prudentiam carnis habere dicitur, cum superiora, prudentiam spiritus, non quia prudentia carnis substantia est […] sed ipsius animae affectio est, quae omnino esse desinet, cum se tota ad superiora convertit. 397 Vgl. Müller (2007), 60 f; zu prudentia carnis und prudentia spiritus siehe auch: Drecoll (1999), 161. 398 Vgl. Anm. 396; siehe da zu auch: Müller (2007), 60 f. 399 Vgl. Irwin (2003a), 437. sche Interpretation der paulinischen Aussagen über Fleisch und Geist samt dem darin implizierten manichäischen Verständnis der Sünde zurückzuweisen. 394 Augustinus zufolge wolle Paulus mit seinen Aussagen über das Fleisch gerade nicht sagen, dass der Körper des Menschen die Ursache aller Sünden sei. „Denn nicht das verderbliche Fleisch hat die Seele sündig gemacht, sondern die sündige Seele machte das Fleisch verderblich.“ 395 Der Akteur ist vom Fleisch geleitet, insofern er sich von seiner bloß irdischen Perspektive und seiner Konzentration auf die minima bona leiten lässt und seine voluntas vom summum bonum weg in die verkehrte Richtung gelenkt wird. Der Akteur handelt dem Geist nach, insofern er dem ordo bonorum gemäß urteilt und Gott als das summum bonum anerkennt. 396 Die Begriffe ‚Fleisch‘ und ‚Seele‘ bzw. ‚Geist‘ repräsentieren zwei miteinander konkurrierende Wertmaßstäbe bzw. Handlungsprinzipien, auf die sich der menschliche Geist ausrichten kann. 397 Im Sinne der prudentia carnis strebt der Mensch vorrangig nach den minima et temporalia bona, während gemäß der prudentia spiritus Gott das summum bonum ist, auf welches hin alles menschliche Handeln ausgerichtet werden muss. 398 Da Augustinus also den Verantwortungsverlust für sein affekthaftes Handeln seitens des Akteurs und den damit implizierten Manichäismus dezidiert abgelehnt hat, dürfte es das Beste sein, seine Reinterpretation der stoischen Lehre im oben zitierten Passus als von dem Interesse geleitet zu betrachten, aufzuzeigen, dass die verschiedenen Philosophenschulen in der Affektenlehre übereinstimmen. 399 Dies ist argumen‐ tationsstrategisch sein vorrangiges Ziel, so dass er vorübergehend die damit einhergehenden Konsequenzen für die Verantwortung des Akteurs für sein Handeln ausblendet. 378 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 400 Vgl. Aug.Qu. 1. 30: De eo quod scriptum est: Circa solis autem occasum pavor irruit super Abraham, et ecce timor magnus incidit ei, tractanda est ista quaestio, propter eos qui contendunt perturbationes istas non cadere in animum sapientis, utrum tale aliquid sit quale A. Gellius commemorat in libris Noctium Atticarum, quemdam philosophum in magna maris tempestate turbatum, cum esset in navi et animadversum a quodam luxu‐ rioso adolescente, qui cum ei post transactum periculum insultaret, quod philosophus cito perturbatus esset, cum ipse neque timuerit neque palluerit, respondit, ideo illum non per‐ turbatum, quia nequissimae animae suae nihil timere deberet, quod nec digna esset pro qua aliquid timeretur. Ceteris autem studiosis, qui in navi fuerant, exspectantibus protulit librum quemdam Epicteti Stoici, ubi legebatur non ita placuisse Stoicis, nullam talem per‐ turbationem cadere in animum sapientis, quasi nihil tale in eorum appareret affectibus, sed perturbationem ab eis definiri, cum ratio talibus motibus cederet; cum autem non cederet, non dicendam perturbationem. Sed considerandum est quemadmodum hoc dicat A. Gellius, et diligenter inserendum. 401 Siehe dazu auch: Sen.Dial. 4. 3.1-4, der explizit die Identifikation von affectus und passio verbietet, da ein affectus ein impetus sine assensu mentis ist, wohingegen für eine passio die Zustimmung seitens des Akteurs nötig ist. Für dieses Verständnis der obigen Passage spricht auch die Tatsache, dass Augustinus dieselbe Anekdote vom stoischen Philosophen im Seesturm in den Quaestiones in Heptateuchum bei der Erörterung der Frage, ob in der Seele des Weisen auch perturbationes vorkommen, wieder verwendet. 400 Allerdings be‐ achtet Augustinus hier die bei Gellius zu findende Unterscheidung zwischen bloßen Regungen der Seele, welche durch Vorstellungen hervorgerufen werden und die er als affectiones bezeichnet, und echten Affekten, welche auf Zustim‐ mung beruhen und die er als perturbationes bezeichnet. 401 Die Lehre von der ἀπάθεια des Weisen, der frei von perturbationes sei, bedeutet Augustinus zufolge nicht, dass er keine affectiones habe. Da die stoische Definition der perturbatio das Weichen der Vernunft gegenüber einer affectio impliziere, mag es auch Fälle geben, in denen die Vernunft der affectio nicht weicht, so dass der Weise zwar affectiones, nicht aber perturbationes unterliegt. Diese Unterscheidung scheint Augustinus jedoch in seiner Darstellung in De civitate dei bewusst zu über‐ spielen, um sein Argumentationsziel der doktrinären Einmütigkeit der Philo‐ sophenschulen auch in der Affektenlehre zu erreichen. Neben der Affektenlehre der Stoa und ihren Überlegungen zu den προπάθειαι findet sich auch das stoische Ideal der Affektlosigkeit (ἀπάθεια) bei Augus‐ tinus. Dieses Ideal schließt für ihn wie auch für die Stoa keineswegs das Haben von positiven Regungen innerhalb der Seele aus: Überhaupt keinen Schmerz zu empfinden, solange man an dieser Stätte des Elends weilt, das würde, wie auch einer der weltlichen Schriftsteller gemeint und ausgespro‐ chen hat, nur für einen hohen Preis zu haben sein, nämlich Roheit des Gemüts und Trägheit des Körpers. Versteht man also jene von den Griechen so genannte ἀπάθεια - 379 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 402 Aug.Civ. 14. 9: Nam omnino non dolere, dum sumus in hoc loco miseriae, profecto, sicut quidam etiam apud saeculi huius litteratos sensit et dixit, „non sine magna mercede con‐ tingit immanitatis in animo, stuporis in corpore“. Quocirca illa, quae ἀπάθεια Graece dicitur (quae si Latine posset impassibilitas diceretur), si ita intellegenda est (in animo quippe, non in corpore accipitur), ut sine his affectionibus vivatur, quae contra rationem accidunt mentemque perturbant, bona plane et maxime optanda est, sed nec ipsa huius est vitae. […] Si autem ἀπάθεια illa est, ubi nec metus ullus exterret nec angit dolor, aversanda est in hac vita, si recte, hoc est secundum deum, vivere volumus; in illa vero beata, quae sempiterna promittitur, plane speranda est. 403 Vgl. Aug.Civ. 19 . 7: Haec itaque mala tam magna, tam horrenda, tam saeva quisquis cum dolore considerat, miseriam fateatur; quisquis autem vel patitur ea sine animi dolore vel cogitat, multo utique miserius ideo se putat beatum, quia et humanum perdidit sensum. 404 Vgl. Aug.Civ. 19 . 8: Quorum enim nos vita propter amicitiae solacia delectabat, unde fieri potest, ut eorum mors nullam nobis ingerat maestitudinem? Quam qui prohibet, prohibeat, si potest, amica conloquia, interdicat amicalem vel intercidat affectum, humanarum om‐ nium necessitudinum vincula mentis inmiti stupore disrumpat aut sic eis utendum censeat, ut nulla ex eis animum dulcedo perfundat. Quod si fieri nullo modo potest, etiam hoc quo pacto futurum est, ut eius nobis amara mors non sit, cuius dulcis est vita? Hinc enim est et luctus quoddam non inhumani cordis quasi vulnus aut ulcus, cui sanando adhibentur officiosae consolationes. 405 Vgl. Aug.Civ. 9. 5 : Nam et misericordiam Stoicorum est solere culpare; sed quanto hones‐ tius ille Stoicus misericordia perturbaretur hominis liberandi quam timore naufragii. Longe melius et humanius et piorum sensibus accommodatius Cicero in Caesaris laude locutus est, ubi ait: „Nulla de virtutibus tuis nec admirabilior nec gratior misericordia est.“ Quid est autem misericordia nisi alienae miseriae quaedam in nostro corde compassio, qua auf Lateinisch müsste man etwa Leidensunfähigkeit (impassibilitas) sagen -, wenn man sie auf die Seele, nicht auf den Leib bezieht, in dem Sinne, dass man von solchen Gemütserregungen frei ist, die der Vernunft widerstreiten und den Verstand ver‐ wirren, so ist sie ohne Frage etwas Gutes und höchst wünschenswert, freilich in diesem Leben unerreichbar. […] Muss man jedoch unter ἀπάθεια einen Zustand ver‐ stehen, da die Seele überhaupt keine Gefühle mehr kennt, so wäre zu urteilen, dass solche Stumpfheit alle Laster an Schlechtigkeit noch übertrifft. 402 (Übers. Thimme mit Modifikationen) Die Übel des menschlichen Lebens sind für Augustinus legitime Objekte des Schmerzes. Solange wir in dieser Welt leben, ist es gut und richtig, Schmerz über sie zu empfinden. Jemand, der sich rühme, keinen Schmerz über sie zu emp‐ finden, ist Augustinus zufolge ein elendes Wesen, da er das menschliche Gefühl verloren habe, während er meine, die Glückseligkeit erreicht zu haben. 403 Ein solcher Mensch sei gekennzeichnet von Roheit des Gemüts und Trägheit des Körpers, und seine Gefühlslosigkeit sei schlimmer als alle Laster. Der Schmerz über den Tod eines geliebten Menschen gehöre ebenso zum menschlichen Leben und sei erlaubt 404 wie das Mitgefühl mit anderen Menschen 405 , solange man sie 380 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus utique si possumus subvenire compellimur? Servit autem motus iste rationi, quando ita praebetur misericordia, ut iustitia conservetur, sive cum indigenti tribuitur, sive cum ignoscitur paenitenti. 406 Vgl. Helm (2003). 407 Vgl. Cooper (2012), 207 f. 408 Vgl. Irwin (2003a), 441. 409 Vgl. Aug.Civ . 8. 1 7: Perturbatio est enim, quae Graece πάθος dicitur; unde illa voluit vocare animo passiva, quia verbum de verbo πάθος passio diceretur motus animi contra rationem. […] Quoniam si quid in pecore simile apparet, non est perturbatio, quia non est contra rationem, qua pecora carent; wie in der Stoa widerstreiten die Affekte bei Au‐ gustinus der Vernunft in dem Sinne, dass sie nicht mit der rechten Vernunft überein‐ stimmen. Sie sind jedoch keineswegs nicht rational i.S. einer von der Vernunft unab‐ hängigen Kraft in der Seele, sondern sie widersetzen sich dem normativen Ideal der rechten Vernunft, indem sie den ordo bonorum missachten. 410 Vgl. Aug.Lib .arb . 1. 18: Ratio ista ergo vel mens vel spiritus cum inrationales animi motus regit, id scilicet dominatur in homine, cui dominatio lege debetur ea, qu am aeternam esse comperimus. 411 Vgl. Aug.Civ . 14 . 10: Quam igitur felices errant et nullis agitabantur perturbationibus animorum, nullis corporum laedebantur incommodis: tam felix universa societas esset hu‐ mana, si nec illi malum quod etiam in posteros traiceret, nec quisquam ex eorum stirpe iniquitate committeret, quod damnatione reciperet. 412 Vgl. Aug.Civ . 14 . 10: Quam igitur felices [sc. primi homines] erant et nullis agitabantur perturbationes animorum, nullis corporum laedebantur incommodis; […]; 14. 26: Nullus intrinsecus morbus, nullus ictus metuebatur extrinsecus. Summa in carne sanitas, in animo tota tranquillitas. Sicut in paradiso nullus aestus aut frigus, sic in eius habitatore nulla ex cupiditate vel timore accidebat bonae voluntatis offensio. Nihil omnino triste, nihil erat nur aus den richtigen Gründen empfinde. 406 Diese Überlegungen widerstreiten freilich nicht notwendig der stoischen Position, welche durchaus den Affekten vorhergehende προπάθειαι - auch beim Weisen - zuließ, solange diese nicht mit der Vernunft und der Tugend konfligieren und unmittelbar zur Zustimmung zu der von ihnen repräsentierten Handlungsoption führen. Auch die Stoiker eliminierten daher nicht völlig den Schmerz über die Übel dieser Welt. 407 Dementsprechend ließ auch Augustinus in der oben zitierten Seesturm-Anek‐ dote in De civitate dei und in den Quaestiones in Heptateuchum die Affekte - wie er sie nennt - zu, solange sie nicht die vernünftige Zustimmung überwältigen. 408 Die ἀπάθεια ist für Augustinus in dem Sinne wünschenswert, dass man von den Affekten frei ist, die der Vernunft widerstreiten 409 und den Verstand verwirren, so dass man ihnen unbedacht zustimmt. 410 Für die Stoiker war es freilich mög‐ lich - wenn auch sehr schwierig -, dieses Ideal der Affektlosigkeit in diesem Leben zu erreichen, was für Augustinus aufgrund unserer erbsündlichen Ver‐ strickung ausgeschlossen war. 411 Die wahre ἀπάθεια besaßen Adam und Eva im Paradies, 412 und sie wird uns von Gott im Jenseits wieder gewährt werden. 413 In diesem Leben sind die Affekte jedoch notwendig und natürlich. 381 IV.3 Die Psychologie des Augustinus inaniter laetum. Gaudium verum perpetuabatur ex deo, in quem flagrabat caritas de corde puro et conscientia bona et fide non ficta, atque inter se coniugum fida ex honesto amore societas, concors mentis corporisque vigilia et mandati sine labore custodia. 413 Aug.Civ. 14. 10: S ed utrum primus homo vel primi homines (duorum erat quippe coniu‐ gium) habebant istos affectus in corpore animali ante peccatum, quales in corpore s piritali non habebimus omni purgato finitoque peccato, non inmerito quaeritur. […] Quid autem timere aut dolere poterant illi homines in tantorum tanta afluentia bonorum, ubi nec mors metuebatur nec ulla corporis mala valetudo, nec aberat quicquam, quod bona voluntas adipisceretur, nec inerat quod carnem animumve hominis feliciter viventis offenderet? Amor erat inperturbatus in deum atque inter se coniugum fida et sincera societate viven‐ tium, et ex hoc amore grande gaudium, non desistente quod amabatur ad fruendum. Erat devitatio tranquilla peccati, qua manente nullum omnino alicunde malum, quod contris‐ taret, inruebat. […] et talis esset vita sanctorum post nullum laboris doloris mortis expe‐ rimentum, qualis erit post haec omnia in incorruptione corporum reddita resurrectione mortuorum; siehe auch: Brachtendorf (2012a), 149. 414 Zur Traurigkeit Jesu siehe: Brachtendorf (2015), bes. 165-168. 415 Vgl. Aug.Io.ev.tr. 60. 5: Sed qui non solum homo, verum etiam deus erat, ineffabili distantia uni versum genus humanum animi fortitudine superabat. 416 Vgl. Aug.Io.ev.tr. 49.18: Tur baris tu nolens; turbatus est Christus, quia voluit; Io.ev.tr. 60.5: Non ergo aliquo est cogente turbatus, sed turbavit semetipsum, qu od de illo evidenter ex‐ pressum est, quando Lazarus suscitavit; nam ibi scriptum est quod turbaverit semetipsum, ut hoc intellegatur et ubi non scriptum legitur, et tamen eum legitur fuisse turbatum; siehe dazu auch: Br achtendorf (2015), 165 f. 417 Vgl. Aug.Io.ev.tr. 60. 5: Affectum quippe humanum, quando oportuisse iudicavit, in seipso potesta te commovit, qui hominem totum potestate suscepit. 418 Vgl. Aug.Io.ev.tr . 60.2: Qui mortuus est pro nobis, turbatus est idem ipse pro nobis; zur Rolle Jesu als Tröster der Menschen siehe auch: Brachtendorf (2015), 166 f. 419 Vgl. Brachtendorf (2015), 167 f. Auch Jesus Christus war ihnen unterworfen bzw. nahm sie vielmehr auf sich. So befiel ihn Traurigkeit beim Tode des Lazarus ( Joh 11, 33) und beim letzten Abendmahl ( Joh 13, 21). 414 Seine Seele war zwar um vieles stärker als die jedes anderen Menschen, doch war auch er ganz Mensch. 415 Aufgrund seiner Seelen‐ stärke erleidet er Augustinus zufolge jedoch die Affekte nicht gegen seinen Willen, sondern ist ihnen nur deswegen unterworfen, weil er sich dazu ent‐ schieden hat. 416 So wurde er beim Tode des Lazarus von der Traurigkeit nicht gegen seinen Willen überwältigt, sondern rief diese selbst in seiner Seele hervor. 417 Christus hat aufgrund seiner göttlichen Natur vollständige Kontrolle über seine Affekte und ruft diese bewusst hervor. Er nimmt für Augustinus die Affekte um unseretwillen auf sich, da wir dadurch von unseren Affekten geheilt werden sollen. 418 Indem er die Affekte auf sich nimmt, ermöglicht er es, dass wir unsere Seelenruhe wiedererlangen. 419 Christus rief im Angesicht des Todes den Affekt der Traurigkeit in seiner Seele hervor, um dadurch die Christen von ihrer Verzweiflung angesichts der eigenen Traurigkeit zu befreien. 420 Wenn sie sehen, dass auch der Sohn Gottes traurig ist, werden sie nicht mehr ob ihrer eigenen 382 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 420 Vgl. Aug.Io.ev.tr. 60.2-5: Non ipsos in illius perturbatione videamus, ut quando turbamur, non desperatione pereamus. Quando turbaretur nisi volens, eum consolatur qui turbatur et nolens. […] Quid est ergo quod ille turbatur est, nisi quia infirmos in suo corpore, hoc est in sua ecclesia, suae infirmitatis voluntaria similitudine consolatus est: ut si qui suorum adhuc morte imminente turbantur in spiritu, ipsum intueantur, ne hoc ipso se putantes reprobos, peiore desperationis morte sorbeantur? […] Non est tamen ullo modo dubitandum, non eum [sc. Christum] enim infirmitate, sed potestate turbatum; ne nobis desperatio sa‐ lutis oriatur, quando non potestate, sed infirmitate turbamur. 421 Vgl. Aug.Io.ev.tr. 60. 5: Quid est ergo quod ille turbatus est, nisi quia infirmos in suo corpor e, hoc est in sua ecclesia, suae infirmitatis voluntaria similitudin e consolatus est, ut si qui suorum adhuc morte imminente turbantur in spiritu, ipsum intueantur, ne hoc ipso se putantes reprobos, peiore desperationis morte sorbeantur? ; siehe auch: Brachtendorf (1997, 305; 2015, 167 f). 422 Vgl. ebd.: […] non eum animi infirmitate, sed potestate turbatum, ne nobis desperatio salutis o riatur, quando non potestate, sed infirmitate turbamur; Io.ev. tr. 52. 2: Sed videor mihi audire in cogitatione mea respondentem mihi dominum, et quodammodo dicentem: Magis sequeris, quia sic me interpono ut sufferas; audisti ad te vocem fortitudinis meae, audi in me vocem infirmitatis tuae; vires suggero ut curras, nec reprimo quod acceleras, sed transfero in me quod trepidas, et substerno qua transeas; siehe auch: Brachtendorf (1997, 306; 2015, 167f). 423 Vgl. Irwin (2003a), 442; siehe dazu auch: Byers (2013), 56: „In fact, Augustine’s theory of affectivity […] can rightly be called a development from Stoic psychological prin‐ ciples. By ‚developement‘ I mean preservation of core principles, with some disagree‐ ment about applications and creative elaboration of new implications and applications.“ 424 Vgl. Irwin (2003a), 445. Traurigkeit verzweifeln. 421 Verzweiflung angesichts der Möglichkeit seiner Ret‐ tung würde den Christen von der Erlösung ausschließen. Doch da auch Christus die Affekte auf sich genommen hat, muss der Christ nicht an seinen Affekten verzweifeln, und der Weg zur Erlösung bleibt offen. 422 Trotz seiner offenen Kritik an der stoischen Affektenlehre weicht Augustinus nicht von der Substanz der stoischen Lehre ab, sondern er stimmt mit den Stoi‐ kern darin überein, dass die Zustimmung des Akteurs für affekthaftes Handeln notwendig ist. 423 Die Affekte stellen keine von Verstand und Wille unabhängige Quelle der Handlungsmotivation dar, welche ohne die Zustimmung des Ver‐ standes eine Handlung hervorbringen können. Eine solche Handlung wäre für Augustinus keine freie Handlung, für welche der Akteur verantwortlich ist. Die Affekte bewegen den Akteur zu einer freien und verantwortlichen Handlung nur insofern, als er den von ihnen repräsentierten Handlungsoptionen seine Zustimmung gibt. In diesem Punkt herrscht eine tiefe Einmütigkeit zwischen ihm und den Stoikern. 424 Wie wirken sich nun jedoch die Affekte auf die Freiheit des arbitrium volun‐ tatis aus? Und wie bewirkt die göttliche Gnade die Wiederherstellung der Frei‐ heit des arbitrium voluntatis, nachdem dieses sich durch falsche Entscheidungen 383 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 425 Vgl. Aug.Conf. 8. 10: Quippe ex voluntate perversa facta est libido, et dum servitur libidini, facta est consuetudo, et dum consuetudini non resistitur, facta est necessitas; c.Iul.imp. 4.103: Nonne conditionem suam sua conditione perdit, ut per vim consuetudinis fiat sine voluntate, cum consuetudo non facta sit nisi voluntate? Nonne rei huius natura fructibus suis negatur? Quandoquidem consuetudo fructus est voluntatis, quoniam ex voluntate gignitur; siehe dazu auch: Müller (2009), 318: „In Anknüpfung an den antiken Habitus/ ἕξις-Begriff bezeichnet consuetudo die fest verwurzelte Ausprägung des Charakters, die sich im Urteilen und Handeln zum Ausdruck bringt und die sich in ihrer Genese der Ausübung entsprechender Tätigkeiten verdankt.“ 426 Aug.S. 98. 6: Prima est enim quasi titillatio delectationis in corde; secunda, consensio; ter‐ tium, factum; quarta, consuetudo. 427 Vgl. Müller (2009), 363. selbst versklavt hat? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen Augus‐ tins Aussagen über die consuetudo betrachtet werden, die in engem Zusammen‐ hang zu seiner Affektenlehre stehen. IV.3. 2. 4. 2 consuetudo Durch das Zusammenspiel der Liebe als grundlegender Tendenz unseres Han‐ delns mit den Affekten als unmittelbaren Handlungsimpulsen und den daraus resultierenden Handlungen kommt es durch Wiederholung über eine gewisse Zeit hinweg zur Ausbildung eines dispositionalen Handlungsimpulses, welchen Augustinus als ‚Gewohnheit‘ (consuetudo) 425 bezeichnet. Die Genese der consu‐ etudo wird von Augustinus folgendermaßen beschrieben: Als erstes kommt nämlich gleichsam ein Kitzeln der Freude im Herzen; als zweites, die Zustimmung; als drittes, die Handlung; als viertes, die Gewohnheit. 426 In dieser Sequenz der verschiedenen Momente von der praktischen Vorstellung über die Zustimmung und die daraus resultierende Handlung steht am Ende die Gewohnheit, die sich durch die wiederholte Ausführung der Handlung bildet. Die moralische Qualität der Disposition zur Ausführung bestimmter Hand‐ lungen hängt wie beim Affekt auch von der moralischen Qualität der Liebe als der grundlegenden Tendenz unseres Handelns ab, wobei auch diese wiederum vom Wert des geliebten Objekts abhängig ist - ist sie auf Gott gerichtet, ist sie gut; ist sie auf die zeitlichen Dinge gerichtet, ist sie schlecht. Die Gewohnheit beeinflusst nicht nur, welche Handlungen ein Akteur aus‐ führt, sondern hat bereits Auswirkungen darauf, welche Vorstellungen er über‐ haupt hat und welchen er seine Zustimmung gibt. 427 Die consuetudo schränkt den Rahmen der praktischen Vorstellungen ein, welche ein Akteur haben kann und die ihn motivieren können. Die Gewohnheit des Lasters macht es dem Ak‐ teur fast unmöglich zu erkennen, dass das moralisch Gute auch für ihn gut und 384 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 428 Vgl. Sen.Ep. 75. 1 1 = S VF 3.428: Morbi sunt inveterata vitia et dura, ut avaritia, ut ambitio; nimio artius ha ec animum implicuerunt et perpetua eius mala esse coeperunt. Ut breviter finiam, morbus est iudicium in pravo pertinax, tamquam valde expete nda sint quae leviter expetenda sunt; vel, si mavis, ita finiamus: nimis inminer e leviter petendis vel ex toto non petendis, aut in magno pretio habere in aliquo habenda vel in nullo; Dial. 4. 25.3 f: Ubi animum sim ul et corpus voluptates corrupere, nihil tolerabile videtur, non quia dura sed quia mollis patitur. Quid est enim cur tus sis alicuius aut sternutamentum aut musca parum curiose f ugata in rabiem agat aut abversatus canis aut clavis neglegentis servi manibus elapsa? Feret iste aequo animo civile convicium et ingesta in contione curiave maledicta cuius aures tracti subsellii stridor offendit? Perpetietur hic famem et aestivae expeditionis sitim qui puero male diluenti nivem irascitur? Nulla itaque res magis iracundiam alit quam luxuria intemperans et impatiens: dure tractandus animus est ut ictum non sentiat nisi gravem. 429 Vgl. Aug.Mus. 6.19: Non enim frustra consuetudo quasi secunda, et quasi affabricata na‐ tura dicitur; Simpl. 1.1.11: Non enim est haec prima natura hominis sed delicti poena, per quam facta est ipsa mortalitas quasi secunda natura, unde nos gratia liberat conditoris subditos sibi per fidem; c.Iul.imp. 1.69: Ille [sc. apostolus] enim in membris legem per flagitiorum usum sanctis consiliis inter principia tamen emendationis rebellem, consue‐ tudinem malam voca bat, quae ab eruditis etiam saeculi dici solet secunda natura; siehe dazu auch: Rist (1994), 175 mit Verweis auf Cic.Fin. 5.74: Quin etiam ipsi voluptarii de‐ verticula quaerunt et virtutes habent in ore totos dies voluptatemque primo dumtaxat expeti dicunt, deinde consuetudine quasi alteram quandam naturam effici, qua impulsi multa faciant nullam quaerentes voluptatem. 430 Vgl. Aug.c.Iul.i m p. 1. 69: Ille enim in membris legem per flagitiorum usum sanctis consiliis inter principia t am en emendationis rebellem, consuetudinem malam vocabat, quae ab eruditis etiam saeculi dici solet secunda natura; 4.103: Hanc autem necessitatem, ne li‐ berum auferatis arbitrium, eum sibi volunt ate fecisse contenditis; e t tale aliquid in natura humana factum esse non creditis, ut ex voluntate primi hominis, de quo est origo humani generis, fieret neces sitas peccati originalis in posteris. Ecce illa quae impossibilia propo‐ nebas, in vi consuetudinis facta sunt possibilia, quae non frustra dicta est a quibusdam secunda natura; 5. 59: Verum sint istae voces, non apostoli, ut vultis, sed cuiuslibet hominis mala sua consuetudine praegravati, quam voluntate non potest vincere; nonne et haec tam robusta est, ut argumentationes vestras de possibili et necessario tamquam pueriles et lu‐ dicras tabellas robore suo frangat et conterat? Quoniam est, quod non vultis, non solum voluntarium atque possibile, unde liberum est abstinere; verum etiam necessarium pec‐ catum, unde abstinere liberum non est, quod iam non solum peccatum, sed etiam poena peccati est. Nec attendere vultis, quod in unoquoque agitur per violentiam consuetudinis (quam quidam docti dixerunt esse secundam naturam), hoc actum esse per violentiam poenalem summi illius maximique pec cati primi hominis in omnibus qui erant in lumbis attraktiv ist. Eine tief verwurzelte schlechte Gewohnheit lässt den Akteur den Wert der Dinge falsch einschätzen, was dazu führt, dass er die weltlichen Dinge zu sehr und die ewigen Dinge zu wenig liebt. 428 Die schlechte consuetudo ist für den Menschen wie eine ‚zweite Natur‘ 429 , welche es ihm unmöglich macht, aus sich heraus das Gute zu tun. Sie macht den Akteur geneigt, bestimmten Vor‐ stellungen ohne nähere Prüfung seine Zustimmung zu geben, weil sie ihm of‐ fenkundig wahr erscheinen. 430 Die consuetudo nimmt dem Akteur daher seine 385 IV.3 Die Psychologie des Augustinus eius, per eius concupiscentiam exorturi, cum propagaretur humanum genus, quam con‐ cupiscentiam peccantium pudor operuit in regione lumborum; 6. 41: Addunt ergo vires eidem concupiscentiae peccata, quae accedunt propria voluntate peccantium, et ipsa con‐ suetudo peccandi, quae non frustra dici solet secunda natura; Mus. 6. 19: Non enim frustra consuetudo quasi secunda, et quasi affabricata natura dicitur; f. et symb. 23: Anima vero cum carnalia bona adhuc appetit, caro nominatur. Pars enim eius quaedam resistit spiritui, non natura, sed consuetudine peccatorum. […] Quae consuetudo in naturam versa est se‐ cundum generationem mortalem peccato primi hominis; siehe dazu auch: Rist (1994), 176. 431 Vgl. Aug.c.Fort. 22: C um autem ista libertate fecerimus aliquid, et facti ipsius tenuerit animam perniciosa d ul cedo et voluptas, eadem ipsa sua consuetudine sic implicatur, ut postea vincere non possit, quod sibi ipsa peccando fabricata est; Ep. 89. 7: Neque enim solis humanis terroribus murus durae con suetudinis expugnatur; 93. 17: Quam multos non ve‐ ritas, in qua numquam praesumpsistis, sed obduratae consuetudinis grave vinculum col‐ ligaba t […]; c.Iul.imp. 6. 13: Sed hoc vos non vitiatae in primo homine naturae humanae, sed malae consuetudini cuiusque tribuitis, quam sibi praeva lentem volens, nec valens homo vincere, suamque libertate m ad bonum perficiendum integram non inveniens, dicere ista compellitur; quasi vero vim consuetudinis malae insuperabilem patiatur, ut ab ea se poscat dei gratia liberari, nisi infirmata natura; siehe auch: Trego (2009), 300 Anm. 3. 432 Vgl. Aug.Conf. 8 . 11: S ed tamen consuetudo adversus me pugnacior ex me facta erat, quoniam volens quo nollem per veneram. Et quis iure contradiceret, cum peccantem iusta poena sequeretur? Entscheidungsfreiheit, da er immer schon prädisponiert ist, bestimmten Vor‐ stellungen zuzustimmen. 431 Insofern jedoch die erste falsche Zustimmung sei‐ tens des Akteurs, welche die weiteren bedingt, in seiner Verantwortung liegt, liegen auch die folgenden falschen Zustimmungen, die leichter auf diese folgen, in seiner Verantwortung. 432 Im achten Buch der Confessiones schildert uns Augustinus, wie ihn seine ei‐ gene schlechte Gewohnheit daran hinderte, dem Pfad der Tugend zu folgen und ein gottgefälliges Leben zu führen: Ich bewunderte daran nicht so sehr seine Willensstärke als sein Glück, dass er eine Gelegenheit gefunden hatte, sich in Muße allein mit dir zu befassen. Das war es, wo‐ nach ich mich sehnte. Aber ich war gebunden nicht durch fremden Zwang, sondern durch den eigenen Willen. Der Feind hielt mein Wollen in seinen eigenen Händen; er hatte mir daraus eine Kette geschmiedet und mich mit ihr umschlungen. Denn aus einem verkehrten Wollen entspringt die Begierde, und wer der Begierde dient, verfällt der Gewohnheit, und wer der Gewohnheit nicht widersteht, verfällt der Notwendig‐ keit. Mit Hilfe dieser untereinander verflochtenen Ringe - daher mein Bild von der Kette - lag ich in den Banden einer harten Sklaverei. Zwar war in mir ein neuer Wille entstanden, dich selbstlos zu verehren und dich als Lebensziel zu genießen, Gott, du einzig sichere Freude, aber er war noch nicht stark genug, den früheren Willen zu überwinden, der mit der Zeit verfestigt war. Deswegen stritten zwei Willen in mir, der 386 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 433 Aug.Conf. 8.10: […] non mihi fortior quam felicior visu s est, quia invenit occasionem vacandi tibi. Cui rei e rgo suspirabam ligatus non ferro alieno, sed mea ferrea voluntate. Velle meum tenebat inimicus et inde mihi catenam fecerat et constrinxer at me. Quippe ex volun tate perversa facta est libido, et dum servitur libidini, facta est consuetudo, et dum consuetudini non resistitur, facta est necessitas. Quibus quasi ansulis sibimet innexis - u nde catenam appellavi - tenebat me obstrictum dura servitus. Voluntas autem nova, quae mihi esse coeperat, ut te gratis colerem fruique te vellem, deus, sola certa iucunditas, nondum erat idonea ad superandam priorem vetustate roboratam. Ita duae voluntates meae, una vetus, alia nova, illa carnalis, illa spiritalis, confligebant inter se atque discordando dissi‐ pabant animam meam. 434 Vgl. Horn (2004), 113. neue gegen den alten, der geisthafte gegen den fleischlichen. Ihr Zwist zerriss meine Seele. 433 (Übers. Flasch/ Mojsisch) Die eigene durch sein früheres Wollen herausgebildete dispositionale voluntas macht es ihm unmöglich, dem von ihm als richtig erkannten Weg zu folgen. Es sind seine eigenen Handlungen, sein früheres Wollen und seine alten Begierden, welche seine Gewohnheiten hervorbrachten, die ihn nun in Ketten halten und es ihm nicht erlauben, der Vorstellung der tugendhaften Handlung seine Zu‐ stimmung zu geben. Seine Gewohnheit wird für ihn zur Notwendigkeit, und er kann sich nicht von selbst aus ihr befreien. Er hat zwar bereits einen anderen aktualen Willen, ein gottgefälliges Leben zu führen und seine Liebe auf Gott auszurichten, um ihn zu genießen, doch vermag sich dieser Wille gegen seine alte Gewohnheit nicht durchzusetzen. Die Fesselung seines Willens macht es für ihn unmöglich, aufgrund seiner eigenen vernünftigen Einsicht zu einem guten, asketischen und Gott gewidmeten Leben zu gelangen. Zwar ist er sich bewusst, dass er ein auf Gott hin angelegtes Wesen ist, jedoch ist er nicht dazu in der Lage, diese Tendenz zur allein maßgeblichen Perspektive in seinem Leben zu machen. 434 So spürt er in sich eine innere Zerissenheit. Einerseits will er sein Leben ändern und allein Gott dienen, andererseits halten ihn seine alten Ge‐ wohnheiten davon ab, diesen Weg zu beschreiten. Zur Analyse dieses Willen‐ konflikts und seiner Auflösung wird in den folgenden beiden Kapiteln noch zurückzukommen sein. Zunächst ist jedoch ein genaueres Verständnis der con‐ suetudo erforderlich, bevor dies in Angriff genommen werden kann. Augustins Begriff der consuetudo greift einige Gedanken auf, welche bereits in der Analyse der stoischen Lehre von den ‚Krankheiten‘ (νοσήματα bzw. morbi) bzw. ‚Schwächen‘ (ἀρρωστήματα bzw. aegrotationes) und ‚Anfällig‐ keiten‘ (εὐεμπτωσίαι bzw. proclivitates) der Seele begegnet sind. Wie Augustins consuetudo von einer Zustimmung zu einer praktischen Vorstellung und einer daraus resultierenden Überzeugung ihren Ausgang nimmt, liegt auch der Ur‐ sprung der stoischen ‚Krankheit‘ in einer „Meinung des Begehrens, die in einen 387 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 435 Stob.Ecl. 2. 93.6 f = LS 65S = SVF 3.421: […] δόξαν ἐπιθυμίας ἐρρυηκυῖαν εἰς ἕξιν καὶ ἐνεσκιρωμένην […]. 436 Vgl. Cic.Tus c. 4. 24 = SVF 3.424: […] permanat in venas et inhaeret in visceribus illud malum, existitque morbus et aegrotatio, quae evelli inveterata non possunt […]. 437 Vgl. Aug.c.Iul. 6.55 f: Nam et vinolentiae consuetudini utique malae, quam sibi homines fecerunt, non nascendo traxerunt, resistunt post baptismum, ne eos ad mala solita pertrahat. […] Itemque post consuetudinem vinolentiae baptizatus, et numquam se deinceps prorsus inebrians, vellem diceres, utrum ab isto morbo non fiat in dies sanior quam fuerat, cum potationis gurgitem minus minusque desiderat quam solebat. 438 Vgl. Cic.Tusc. 4. 26 = SVF 3.427: Aegrotationi autem talia quaedam subiecta sunt: avaritia, ambitio, mulierositas, pervicacia, ligurritio, vinulentia, cuppedia, et si qua simila. 439 Vgl. Cic.Tusc. 4.24 = SVF 3.424: Cum autem hic fervor concitatioque animi inveteraverit et tamquam in venis et medullis insederit, tum existet et morbus et aegrotatio et offensiones eae, qu ae sunt eis morbis aegrotationibusque contrariae. Haec, quae dico, cogitatione inter se differunt, re quidem copulata sunt, eaque oriuntur ex libidine et ex laetitia; Aug.Conf. 8.11: Quippe ex voluntate perversa facta est libido, et dum servitur libidini, facta est con‐ suetudo, et dum consuetudini non resistitur, facta est necessitas. 440 Vgl. Aug.c.Iul.imp. 4.103: Nam et ille qui dicit: Non quod volo ago, certe secundum vos necessitate consuetudinis premitur; hanc autem necessitatem, ne liberum auferatis arbit‐ Habitus hineingeflossen ist und sich verfestigt hat“ 435 . Die Überzeugung, dass es bestimmte Objekte verdienen, geliebt bzw. erstrebt zu werden, ist dabei in beiden Fällen falsch. Die jeweiligen Objekte werden in ungebührlicher Weise erstebt. Das wiederholte Ausführen der entsprechenden Handlungen führt dabei zur Ausbildung eines Habitus, der den Akteur geneigt macht, in entsprechenden Situationen künftig gleichermaßen zu handeln und damit den Habitus weiter zu verfestigen. Letztlich kann er dann aus eigener Kraft nicht mehr überwunden oder beseitigt werden. 436 Einen weiteren Beleg für die These, dass Augustinus in seinen Überlegungen zur consuetudo auf die stoische Lehre von den Dispositionen des schlechten Menschen zurückgriff, findet sich in seiner Rede von der consuetudo vinolen‐ tiae. 437 Die Trunksucht (vinolentia) war eines der klassischen Beispiele für die ‚Krankheiten‘ bzw. ‚Schwächen‘ der Seele und findet sich folglich auch in ver‐ schiedenen Listen von νοσήματα bzw. ἀρρωστήματα. 438 Auch die libido findet sowohl in den stoischen als auch in Augustins Überlegungen über die Entste‐ hung der consuetudo bzw. der ‚Krankheit‘ Erwähnung. So konstitutiert in beiden Fällen der vernunftwidrige Handlungsimpuls - die perversa voluntas - den Af‐ fekt der libido, welcher, wenn er häufiger auftritt, zur Ausbildung der consuetudo bzw. der ‚Krankheit‘ führt, welche den Akteur schließlich derart einnimmt, dass er die Freiheit verliert, anders handeln zu können. 439 Auch die Erbsünde stellt für Augustinus eine schlechte consuetudo dar, welche äußerst tief in allen Menschen verwurzelt ist und folglich nicht leicht über‐ wunden oder getilgt werden kann. 440 Die Erbsünde bringt neben der Unfähigkeit, 388 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus rium, eum sibi voluntate fecisse contenditis; et tale aliquid in natura humana factum esse non creditis, ut ex voluntate primi hominis, de quo est origo humani generis, fieret neces‐ sitas peccati originalis in posteris. Ecce illa quae impossibilia proponebas, in vi consuetu‐ dinis facta sunt possibilia, quae non frustra dicta est a quibusdam secunda natura; 5. 64: Peccatum a possibili in necessarium, hoc est, a voluntario in non voluntarium, dicis non posse mutari; quod potuisse ostendimus in eo qui dicit: Quod nolo malum, hoc ago. Hoc vos consuetu dinis violentiae tribuitis, non vitiatae originis vinculis; peccatum tamen a possibili in necessarium potuisse converti videtis; nec de vestris distortis et fallacibus regulis erubescitis. Tale aliquid universo generi humano per unum hominem, in quo omnes fue‐ runt, accidere potuisse non vultis; et tamen sub omnipotentissimi et iustissimi dei cura tot ac tantas poenas infantes pendere non negatis, quo niam vobis or a claudunt, et oculos feriunt, si negetis; c.Iul. 6. 55: Et tamen malo resistitur, dum concupiscentiae per continen‐ tiam denegatur, quod per consuetudinem concupiscitur. Unde etiam contra istam genita‐ lium concupiscentiam, quae ingenita nobis est per originale peccatum, vehementius vidua quam virgo; vehementius meretrix quando casta esse voluerit, quam quae semper fuit casta, confligit: et tanto amplius in ea superanda voluntas laborabit, quanto maiores ei consue‐ tudo vires dedit; En.Ps. 30. 2. 1. 13: Quae sunt etiam necessitates vincendarum vetustissi‐ marum cupiditatum, et annosarum malarum consuetudinum? Vincere consuetudinem, dura pugna, nosti; exp.Gal. 48: Non enim iam regnat peccatum in eorum mortali corpore ad oboediendum desideriis eius, quamvis habitet in eodem mortali corpore peccatum nondum exstincto impetu consuetudinis naturalis, quia mortaliter nati sumus, et propriae vitae nostrae, cum et nos ipsi peccando auximus, quod ab origine peccati humani damna‐ tionisque trahebamus. 441 Vgl. Rist (1994), 130; Lössl (2010), 313 f. 442 Vgl. Aug.Lib.arb. 3. 52: Nec mirandum est quod vel ignorando non habet arbitrium liberum voluntatis ad eligendum quod recte faciat, vel resistente carnali consuetudine, quae vio‐ lentia mortalis successionis quodam modo naturaliter inolevit, videat quid recte faciendum sit et velit nec possit implere. Illa est enim peccati poena iustissima, ut amittat quisque quod bene uti noluit cum sine ulla posset difficultate si vellet; id est autem ut qui sciens recte non facit amittat scire quid rectum sit, et qui recte facere cum posset noluit amittat posse cum velit. Nam sunt re vera omni peccanti animae duo ista poenalia, ignorantia et difficultas; Civ. 13. 13: Senserunt ergo novum motum inoboedientis carnis suae, tamquam recip rocam poenam inoboedientiae suae. […] Tunc ergo coepit caro concupiscere adversus spiritum, cum qua contro versia nati sumus; siehe auch: Müller (2009), 318f. 443 Vgl. Yang (2016), 246. die Wahrheit und den Wert der Dinge im ordo bonorum zu erkennen (igno‐ rantia), auch ein Unvermögen mit sich, die eigene voluntas auf das summum bonum - Gott - auszurichten (difficultas), selbst wenn man es erkannt hat. 441 Difficultas meint dabei nichts anderes als eine innere ‚Schwäche‘ (aegritudo), durch welche der Mensch - zumindest teilweise - die Kontrolle über sein Streben und Begehren wie über seinen Körper (z. B. im Falle sexueller Erregung) verliert. 442 Der Mensch besitzt zwar das Wissen um die göttliche Ordnung, doch vermag er es nicht, in Übereinstimmung mit diesem Wissen und der darin er‐ fassten Ordnung zu leben. 443 Die Frage, wie man aus der erbsündlichen Verstri‐ ckung herauskommt, ist damit ein Spezialfall der Frage, wie man sich von seinen 389 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 444 Zur Verbindung der Erbsündenlehre mit der consuetudo siehe: Aug.c.Iul.imp. 4.103: […] et tale aliquid in natura humana factum esse non creditis, ut ex voluntate primi ho‐ minis, de quo est origo humani generis , fieret ne ce ss itas peccati originalis in posteris. Ecce illa qua e impossibilia proponebas, in vi consuetudinis facta sunt possibilia, quae non frustra dicta est a quibusdam secunda natura; 5.64: Hoc vos consuetudinis violentiae tri‐ buitis, non vitiatae originis vinculis; peccatum tamen a possibili in necessarium potuisse converti videtis; nec de vestris distortis et fallacibus regulis erubescitis. Tale aliquid universo generi humano per unum hominem, in quo omnes fuerunt, accidere potuisse non vultis ; c. Iul. 6.55: Ego tamquam valetudinem malam ex origine vitiata ingenitum esse homini dico vitium, quo caro concupiscit adversus spiritum; […] Nam et vinolentiae consuetudini utique malae, quam sibi homines fecerunt, non nascendo traxerunt, resistunt post bap‐ tismum, ne eos ad mala solita pertrahat: et tamen malo resistitur, dum concupiscentiae per continentiam denegatur, quod per consuetudinem concupiscitur; En.Ps. 30.2.1.13: Quae sunt etiam necessitates vincendarum vetustissimarum cupiditatum, et annosarum ma‐ larum consuetudinum? ; exp.Gal. 48: Non enim iam regnat peccatum in eorum mortali corpore ad oboediendum desideriis eius, quamvis habitet in eodem mortali corpore pec‐ catum nondum exstincto impetu consuetudinis naturalis, quia mortaliter nati sumus, et propriae vitae nostrae, cum et nos ipsi peccando auximus, quod ab origine peccati humani damnationisque trahebamus; siehe auch: Byers (2013), 176. 445 Vgl. Aug.c.Iul.imp. 1.105: Si enim necessitas nulla peccandi est (ut omittam vim mali eius quod originaliter trahitur; hoc enim nullum esse vos vultis) quid patiebatur, quaeso, qui secundum vestrum sensum, tanta mole malae consuetudinis premebatur, ut diceret: Non quod volo, facio bonum; sed quod nolo malum, hoc ago? 446 Vgl. Rist (1994), 121-129; Burnell (2005), 71-96; Lössl (2010), 320-322; Byers (2013), 177. 447 Vgl. Aug.Corrept. 9: Peccata quidem ista originalia ideo dicuntur aliena, quod ea singuli de parentibus trahunt; sed non sine causa dicuntur et nostra, quia in illo uno omnes, sicut dicit apostolus, peccaverunt. Corripiatur ergo origo damnabilis, ut ex dolore correptionis voluntas regenerationis oriatur; 28: Quia vero per liberum arbitrium deum deseruit, iustum iudicium dei expertus est, ut cum tot a sua stirpe, quae in illo adhuc posita tota cum illo peccaverat, damnaretur. Quotquot enim ex hac stirpe gratia dei liberantur, a da mnatione utique liberantur, qua iam tenentur obstricti; c.Iul.imp. 4.103: Nam et ille qui dicit: Non quod volo ago, cert e secundum vos necessitate consuetudinis premitur; hanc autem neces‐ sita tem, ne liberum auferatis arbitrium, eum sibi voluntate fecisse contenditis; et tale ali‐ quid in natura humana factum esse non creditis, ut ex voluntate primi hominis, de quo est origo humani generis, fieret necessitas peccati originalis in posteris. Ecce illa quae impos‐ schlechten Gewohnheiten befreien kann. 444 Ohne die Erbsünde könne man Au‐ gustinus zufolge nicht erklären, dass der Mensch von einer so großen Last der schlechten Gewohnheit zu Boden gedrückt wurde, dass er ausrief: „Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will.“ (Röm 7,19). 445 Die gesamte Menschheit hat an der Ursünde teil, da wir alle eins sind in Adam - d. h. in ihm wie in einem Archetypus enthalten sind. 446 Der Akteur ist für die falschen Entscheidungen, die er infolge seiner irrtümlichen Vorstellungen trifft, verantwortlich, weil er ein Teil des Menschengeschlechts ist, welches - reprä‐ sentiert durch Adam - im Paradies die erste falsche Entscheidung traf und die Ursünde beging. 447 Seither unterliegt der Mensch der consuetudo poenalis und 390 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus sibilia proponebas, in vi consuetudinis facta sunt possibilia, quae non frustra dicta est a quibusdam secunda natura (siehe auch: 5. 64). 448 Vgl. Drecoll (1999), 204: „Den Zustand der Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln im Stadium sub lege führt Augustin anhand von Röm 7,18a auf eine zweifache Ursache zurück, nämlich auf die tradux mortalitatis und auf die adsiduitas voluptatis […]. Die erste ist in der poena für die Ursprungssünde (originale peccatum) begründet und gibt den Zustand an, in den die Menschen geboren werden, ist also so etwas wie eine na‐ türliche Befindlichkeit des Menschen (tamquam natura, nicht einfach natura). Die an‐ dere kommt während des eigenen Lebens hinzu und hat als consuetudo zu gelten.“ damit auch der difficultas, die eigene voluntas auf Gott als das summum bonum hin auszurichten und ein entsprechendes Leben zu führen, was ihn von der Glückseligkeit - der fruitio dei - ausschließt. 448 Wie diese Zerrissenheit des Wil‐ lens, welche den Menschen von der Glückseligkeit ausschließt, zu verstehen ist und wie die göttliche Gnade ihre Überwindung bewirkt, soll nun näher unter‐ sucht werden. IV.3. 2. 4. 3 Der zerrissene Wille und das Phänomen der Willensschwäche Augustins Überlegungen über die consuetudo helfen, das Phänomen des zerris‐ senen Willens besser zu verstehen. Augustinus beschreibt seine Erfahrung des zerrissenen Willens in den Confessiones wie folgt: Das war es, wonach ich mich sehnte. Aber ich war gebunden, nicht durch fremden Zwang, sondern durch den eigenen Willen. Der Feind hielt mein Wollen in seinen Händen; er hatte mir daraus eine Kette geschmiedet und mich mit ihr umschlungen. Denn aus einem verkehrten Wollen entspringt die Begierde, und wer der Begierde dient, verfällt der Gewohnheit, und wer der Gewohnheit nicht widersteht, verfällt der Notwendigkeit. Mit Hilfe dieser untereinander verflochtenen Ringe - daher mein Bild von der Kette - lag ich in den Banden einer harten Sklaverei. Zwar war in mir ein neuer Wille entstanden, dich selbstlos zu verehren und dich als Lebensziel zu ge‐ nießen, Gott, du einzig sichere Freude, aber er war noch nicht stark genug, den frü‐ heren Willen zu überwinden, der mit der Zeit verfestigt war. Deswegen stritten zwei Willen in mir, der neue gegen den alten, der geisthafte gegen den fleischlichen. Ihr Zwist zerriss meine Seele. So gewann ich aufgrund eigener Erfahrung Einsicht in das, was ich gelesen hatte: Das Fleisch begehrt auf gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch. Ich selbst stand auf beiden Seiten, aber mehr bei dem, was ich in mir bejahte, als bei dem, was ich in mir verwarf. Denn bei dem, was ich missbilligte, war mein Ich weniger es selbst, weil ich es zum großen Teil eher gegen meinen Willen erduldete, als dass ich es willentlich getan hätte. Doch war durch meine Schuld die Gewohnheit im Kampf gegen mich erstarkt, weil ich freiwillig dorthin geraten war, wohin ich nicht gesollt hätte. Wer kann mit Recht etwas dagegen vorbringen, dass, 391 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 449 Aug.Conf. 8.10-12: Cui rei ego suspirabam ligatus non ferro alieno, sed mea ferrea volun‐ tate. Velle meum tenebat inimicus et inde mihi catenam fecerat et constrinxerat me. Quippe ex voluntate perversa facta est libido, et dum servitur libidini, facta est consuetudo, et dum consuetudini non resistitur, facta est necessitas. Quibus quasi ansulis sibimet innexis - unde catenam appellavi - tenebat me obstrictum dura servitus. Voluntas autem nova, quae mihi esse coeperat, ut te gratis colerem fruique te vellem, deus, sola certa iucunditas, nondum erat idonea ad superandum priorem vetustate roboratam. Ita duae voluntates meae, una vetus, alia nova, illa carnalis, illa spiritalis, confligebant inter seatque discor‐ dando dissipabant animam meam. Sic intellegebam me ipso experimento id quod legeram, quomodo caro concupisceret adversus spiritum et spiritus adversus carnem, ego quidem in utroque, sed magis ego in eo, quod in me approbabam, quam in eo, quod in me improbabam. Ibi enim magis iam non ego, quia ex magna parte id patiebar invitus quam faciebam volens. Sed tamen consuetudo adversus me pugnacior ex me facta erat, quoniam volens quo nollem perveneram. Et quis iure contradiceret, cum peccantem iusta poena sequeretur? Et non erat iam illa excusatio, qua videri mihi solebam propterea me nondum contempto saeculo ser‐ vire tibi, quia incerta mihi esset perceptio veritatis: iam enim et ipsa certa erat. Ego autem adhuc terra obligatus militare tibi recusabam et inpedimentis omnibus sic timebam expe‐ diri, quemadmodum inpediri timendum est. […] Ita certum habebam esse melius tuae caritati me dedere quam meae cupiditati cedere; sed illud placebat et vincebat, hoc libebat et vinciebat. […] Frustra condelectabar legi tuae secundum interiorem hominem, cum alia lex in membris meis repugnaret legi mentis meae et captivum me duceret in lege peccati, quae in membris meis erat. Lex enim peccati est violentia consuetudinis, qua trahitur et tenetur etiam invitus animus eo merito, quo in eam volens inlabitur. Miserum ergo me quis liberaret de corpore mortis huius nisi gratia tua per Iesum Christum, dominum nostrum? wer sündigt, eine gerechte Strafe erhält? Und schon konnte ich nicht mehr meine frühere Entschuldigung vorbringen, ich diente dir nur deshalb nicht unter Missach‐ tung der Welt, weil mir die sichere Erkenntnis der Wahrheit noch nicht gelungen sei, denn ihrer war ich inzwischen gewiss. Aber ich verweigerte mich deinem Kriegs‐ dienst, weil ich noch zu sehr an die Erde gebunden war; ich hatte so viel Furcht davor, all die Hindernisse loszuwerden, wie man fürchten soll, dass sie uns hindern. […] So wusste ich schon sehr genau, es sei besser sich deiner Liebe hinzugeben, als der Be‐ gierde nachzugeben; jenes gefiel mir und zog mich an, dieses behagte mir und band mich. […] Vergeblich war die Freude meines inneren Menschen an deinem Gesetz, denn ein anderes Gesetz in meinen Gliedern widerstrebte dem Gesetz meines Geistes und hielt mich gefangen unter dem Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern herrschte. Denn das Gesetz der Sünde ist die Übermacht der Gewohnheit; sie zieht und fixiert den Geist auch gegen seinen Willen, und zwar mit Recht, da er sich frei‐ willig auf sie einlässt. Wer sollte mich Elenden befreien von diesem Todesleib, wenn nicht deine Gnade durch Jesus Christus, unseren Herrn? 449 (Übers. Flasch/ Mojsisch) In dieser Passage schildert Augustinus, wie er zwischen zwei Handlungsim‐ pulsen hin und her gerissen ist. Der alte, mit der Gewohnheit verbundene Hand‐ lungsimpuls verhindert, dass der neue Handlungsimpuls, ein gutes und gottge‐ 392 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 450 Vgl. Aug.Div.qu. 66. 6: Qui enim secundum carnem sunt, quae carnis sunt sapiunt, id est carnalia bona pro summis boni concupiscunt; qui autem secundum spiritum, quae sunt spiritus sentiunt. Prudentia enim carnis mors est, prudentia autem spiritus vita et pax, quia prudentia carnis inimica est in deum. […] Sic et prudentia carnis dicitur, cum anima pro magnis bonis temporalia bona concupiscit; quamdiu enim appetitus talis inest animae, legi die subiecta esse non potest, id est non potest implere quae lex iubet. […] Eadem enim anima, cum inferiora appetit, prudentiam carnis habere dicitur, cum superiora, prudentiam spiritus, non quia prudentia carnis substantia est […] sed ipsius animae affectio est, quae omnino esse desinet, cum se tota ad superiora convertit; Saarinen (2000) spricht in diesem Zusammenhang auch von einem ‚dualism of goals‘ bei Augustinus; siehe auch: Irwin (2007), 387 f; Müller (2007), 60 f. 451 Vgl. auch: Aug.Spir. et litt. 53: Quamquam, si subtilius advertamus, etiam quod quisque invitus facere cogitur, si facit, voluntate facit: Sed quia mallet aliud, ideo invitus, hoc est nolens facere dicitur. Malo quippe aliquo facere compellitur, quod volens evitare vel a se removere, facit quod cogitur. Nam si tanta voluntas sit, ut malit hoc non facere quam illud non pati, cogenti procul dubio resistit, nec facit. Ac per hoc, si facit, non quidem plena et libera voluntate, sed tamen non facit nisi voluntate; quam voluntatem quia effectus con‐ sequitur, non possumus dicere potestatem defuisse facienti. fälliges Leben zu führen, handlungswirksam werden kann. Die neue voluntas ist nicht stark genug, die alte, zur Gewohnheit verfestigte voluntas zu überwinden. Deshalb empfindet er eine Zerrissenheit in seiner voluntas, wobei die neue gegen die alte kämpft. Die alte voluntas wird dabei auch als fleischliche, die neue als geisthafte voluntas bezeichnet. Hier ist wiederum nicht an einen quasi-platoni‐ schen Dualismus zu denken, bei dem der Geist und der Körper als zwei unter‐ schiedliche Akteure miteinander kämpfen, sondern es wird auf zwei unter‐ schiedliche Perspektiven aufmerksam gemacht, mit welchen der Mensch sein Leben führt. Die Perspektive des Fleisches - auch prudentia carnis genannt - ist diejenige des Menschen, der das Moralgesetz zurückweist und nach den minima et temporalia bona strebt, während die Perspektive des Geistes - die prudentia spiritus - diejenige des Menschen ist, der seine Handlungen am Moralgesetz und sein Leben auf Gott als das summum bonum ausrichtet. 450 Augustinus sieht sich selbst für beide Strebungen verantwortlich, identifiziert sich jedoch mehr mit der neuen voluntas. So sagt er, dass er das alte, aus der Gewohnheit hervorgehende Streben eher gegen seinen Willen erduldete. Jedoch ist er auch für die Gewohnheit verantwortlich, da er diese durch seine früheren Entscheidungen und Handlungen hervorgebracht hat. 451 Sowohl die Hingabe an Gott als auch die Gewohnheit erscheinen Augustinus attraktiv (illud placebat et vincebat, hoc libebat et vinciebat). Er hat also zwei konkurrierende praktische Vorstellungen, die ihm jeweils eine bestimmte Handlungsoption als in seinem Interesse präsentieren. Augustinus gibt beiden Vorstellungen seine Zustimmung und verursacht damit zwei einander entgegengesetzte Handlungsimpulse. Auf‐ grund seiner consuetudo ist er geneigt, der der alten voluntas vorhergehenden 393 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 452 Eine explizite Identifikation der prudentia carnis mit der consuetudo findet sich in: Aug.c.Fort. 22: Sic illa carnis prudentia, id est, consuetudo facta cum carne, cum fuerit mens nostra illuminata, et ad arbitrium divinae legis totum hominem sibi deus subiecerit, pro illa consuetudine animae mala facit consuetudinem bonam; siehe auch: Aug.exp.prop.Rm. 38: Video aliam legem in membris meis repugnantem legi mentis meae et captivantem me sub lege peccati, quae est in membris meis, legem peccati dicit, qua quisque carnali consuetudine implicatus astringitur. 453 Vgl. Couenhoven (2017), 31: „A deeply divided person might, therefore, consent to more than one incompatible path of action - and might do so without fully realizing what he or she is doing.“ 454 Siehe: S. 243-251. Vorstellung auch unbewusst zuzustimmen. 452 Dabei misst er den minima et tem‐ poralia bona zu viel Bedeutung bei, indem er sie als die Letztziele seines Handelns ansieht, und verfällt dadurch in einen Affekt, welcher ihn gefangen hält (ex voluntate perversa facta est libido, et dum servitur libidini, facta est consuetudo, et dum consuetudini non resistitur, facta est necessitas). Eine spätere Zustimmung zu der Vorstellung, welche ihm die Hingabe an Gott als attraktive Handlungs‐ option präsentiert, verursacht zwar eine neue voluntas, die jedoch schwächer ist als die alte und sich nicht gegen diese durchsetzen kann (lex enim peccati est violentia consuetudinis, qua trahitur et tenetur etiam invitus animus). Aufgrund dieser bewussten späteren Zustimmung und der daraus resultierenden neuen voluntas erscheint es ihm nun so, dass das mit der alten voluntas verbundene Handeln gegen seinen Willen geschieht. 453 Doch ist auch dieses letztlich wil‐ lentlich, insofern es auf einer Zustimmung - wenn auch auf einer impliziten Zustimmung infolge der consuetudo - basiert. Diese Beschreibung seines Innenlebens und seines zerrissenen Willens zeigt, dass Augustinus auch zur Erklärung dieses Phänomens auf stoisches Gedan‐ kengut zurückgreift. Es wurde im Kapitel zur stoischen Erklärung des Phäno‐ mens der Willensschwäche 454 herausgearbeitet, dass das Persistenzmodell die Willensschwäche dadurch erklärt, dass die Affekte aufgrund ihrer Vehemenz auch nach einer Urteilsänderung fortbestehen können und die Korrektur des Urteils machtlos gegen die Kraft des Affekts bleibt. Der exzessive Handlungs‐ impuls des Affekts übertrumpft den späteren Handlungsimpuls des korrigierten Urteils, so dass dieser nicht handlungswirksam werden kann. Somit handelt es sich dem Persistenzmodell zufolge bei der Willensschwäche um einen syn‐ chronen Konflikt innerhalb des leitenden Seelenvermögens des Akteurs, bei dem sich der Akteur des Widerspruchs zwischen dem Affekt und seinem ei‐ genen besseren Urteil bewusst sein kann. Der mit dem besseren Urteil verbun‐ dene Handlungsimpuls kann jedoch aufgrund der Vehemenz und Persistenz des Affekts nicht handlungswirksam werden. 394 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 455 Von der Persistenz des alten Willens spricht auch Müller (2007), 63: „Es handelt sich deshalb beim ‚unwilligen Handeln‘ also um eine Vorzugswahl, bei welcher die nicht zum Tragen kommende Willensorientierung trotz ihrer Blockierung im Handeln selbst sozusagen latent vorhanden bleibt, und genau im Blick auf dieses Wollen also eine ‚Unwilligkeit‘ vorliegt.“ Er stellt allerdings keinen Bezug zur stoischen Affektenlehre und ihren Überlegungen zur Willensschwäche her; ähnlich auch: Wetzel (1992), 137 f; für ein ähnliches Verständnis des zerrissenen Willens scheinen auch folgende Aussagen Volker Drecolls (1999) über den Menschen sub lege zu sprechen: „Der Mensch, der noch nicht per gratiam befreit ist, wird besiegt (vinci), obwohl er per legem weiß, daß er schlecht handelt und es auch nicht will […]. Hinsichtlich des nolle ergibt sich also eine Übereinstimmung zwischen dem Menschen sub lege und der lex […]. Trotz dieser Zu‐ stimmung stimmt er dem Tun der Sünde zu […]. Der Mensch, der sich im Stadium sub lege befindet und noch nicht im Stadium sub gratia steht, wird durch die herrschende concupiscentia und die täuschende dulcedo bestimmt, obwohl er aufgrund der notitia legis das falsche Handeln mißbilligt […]“ (204). Im Anschluss an diese Überlegungen zum stoischen Persistenzmodell der Willensschwäche lässt sich auch die obige Passage interpretieren. Wie die stoi‐ schen Affekte unbewusst durch ‚Krankheiten‘ und ‚Schwächen‘ der Seele ent‐ stehen können, ist auch Augustins consuetudo für seine alte voluntas verant‐ wortlich, die ihn gefangen hält. Seine alte voluntas übertrumpft die neue voluntas, die durch ein späteres Urteil zustande kommt, dass es gut für ihn sei, sich Gott hinzugeben - so wie auch der Affekt in der stoischen Theorie den mit dem korrigierten Urteil verbundenen Handlungsimpuls übertrumpft. Die alte voluntas persistiert dabei wie der stoische Affekt, so dass es zu einem syn‐ chronen Konflikt in Augustins Seele kommt. Die alte voluntas scheint Augus‐ tinus gegen seinen Willen zu einer Handlung zu drängen bzw. an seinen bishe‐ rigen Verhaltensweisen festzuhalten, da er sein Urteil geändert hat und ihm nicht mehr das von seiner consuetudo präsentierte Leben, sondern ein gottge‐ fälliges Leben als gut für ihn erscheint. Er identifiziert sich daher stärker mit diesem neuen Urteil und ist sich des Widerspruchs zwischen seiner alten vo‐ luntas und seiner neuen voluntas bewusst, jedoch kann die neue voluntas auf‐ grund der mit der consuetudo verbundenen Vehemenz und Persistenz der alten voluntas nicht handlungswirksam werden. 455 Das Ringen Augustins mit seinen widerstreitenden voluntates wird auch in den folgenden beiden Passagen deutlich, in welchen Augustinus seinen Zwei‐ spalt und seinen Umgang damit näher analysiert: Mit Sätzen wie Geiselhieben schlug ich auf meine Seele ein, dass sie mir folge, wenn ich versuchte, dir nachzugehen. Und doch leistete sie Widerstand. Was sie vorbrachte waren Widerreden, aber nicht mehr Ausreden. Alle Argumente waren verbraucht und besiegt. Was ihr zurückblieb, war stumme Angst. Befreit zu werden vom Fluss der 395 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 456 Aug.Conf. 8. 18: Quibus sententiarum verberibus non flagellavi animam meam, ut sequeretur me conantem post te ire? Et retinebatur, recusabat et non se excusabat. Consumpta erant et convicta argumenta omnia: remanserat muta trepidatio et quasi mortem reformidabat restringi a fluxu consuetudinis, quo tabescebat in mortem. 457 Aug.Conf. 8.20 f: Tam multa ergo feci, ubi non hoc erat velle quod posse: et non faciebam, quod et inconparabili affectu amplius mihi placebat et mox, ut vellem, possem, quia mox, ut vellem, utique vellem. Ibi enim facultas ea, quae voluntas, et ipsum velle iam facere erat; et tamen non fiebat, faciliusque obtemperabat corpus tenuissimae voluntati animae, ut ad nutum membra moverentur, quam ipsa sibi anima ad voluntatem suam magnam in sola voluntate perficiendam. Unde hoc monstrum? Et quare istuc? […] Imperat animus corpori, et paretur statim: imperat animus sibi, et resistitur. Imperat animus, ut moveatur manus, et tanta est facilitas, ut vix a servitio discernatur imperium: et animus animus est, manus Gewohnheit, an dem sie hinstarb, das fürchtete sie wie den Tod. 456 (Übers. Flasch/ Mojsisch mit Modifikationen) Ich vollzog also viele Bewegungen, bei denen das Wollen nicht schon das Können war. Dagegen vollzog ich vieles nicht, was mir unvergleichlich besser gefiel und was ich gekonnt hätte, hätte ich es nur gewollt, denn sobald ich es wirklich gewollt hätte, hätte ich es eben gekonnt. Denn hier waren der Wille als Vermögen und das Wollen selbst schon das Können. Und doch geschah es nicht, und leichter gehorchte der Körper dem leisesten Wink des Willens der Seele als die Seele sich selbst beim Ausführen ihres eigenen großen Beschlusses, dessen Verwirklichung im Wollen selbst beschlossen lag. Wie kommt es zu dieser Ungeheuerlichkeit? Und aus welchem Grund? […] Der Geist befiehlt dem Körper, und er gehorcht sofort. Der Geist befiehlt sich selbst, aber er findet Widerstand. Da befiehlt der Geist, die Hand solle sich bewegen, und dies ge‐ schieht mit solcher Leichtigkeit, dass man Befehl und Ausführung kaum unter‐ scheiden kann, und dabei gehört der Geist zum Bereich des Geistes, während die Hand zum Bereich des Körpers gehört. Da befiehlt der Geist, dass der Geist etwas wolle, aber obwohl er nicht zum anderen Bereich gehört, tut er es nicht. Wie kommt es zu dieser Ungeheuerlichkeit? Und aus welchem Grund? Er befiehlt, dass er wolle, sage ich noch einmal, und dieser Befehl ist selbst ein Wollen, und doch tut er nicht, was er befiehlt. Er will es nicht uneingeschränkt, also befiehlt er nicht uneingeschränkt. Denn er befiehlt so weit, wie er will, und so weit geschieht nicht, was er befiehlt, als er es nicht will. Denn der Wille befiehlt einen Willensakt, nicht irgendeinen, sondern den eigenen. Er befiehlt also nicht aus seiner ganzen Fülle; deswegen geschieht nicht, was er befiehlt. Entschiede er aus seiner Fülle, brauchte er nicht zu befehlen, dass etwas sein solle, denn dann wäre es schon verwirklicht. Teils Wollen, teils Nicht-Wollen, das ist kein Naturungeheuer, sondern eine Schwäche des Geistes, der nicht mit ganzer Kraft aufstrebt, von der Wahrheit emporgehoben. Die Gewohnheit hält ihn nieder. Insofern gibt es da zwei Willen: Keiner von beiden ist der ganze Wille. Was der eine besitzt, fehlt dem anderen. 457 (Übers. Flasch/ Mojsisch) 396 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus autem corpus est. Imperat animus, ut velit animus, nec alter est nec facit tamen. Unde hoc monstrum? Et quare istuc? Imperat, inquam, ut velit, qui non imperaret, nisi vellet, et non facit quod imperat. Sed non ex toto vult: non ergo ex toto imperat. Nam in tantum imperat, in quantum vult, et in tantum non fit quod imperat, in quantum non vult, quoniam vo‐ luntas imperat, ut sit voluntas, nec alia, sed ipsa. Non itaque plena imperat; ideo non est, quod imperat. Nam si plena esset, nec imperaret, ut esset, quia iam esset. Non igitur monstrum partim velle, partim nolle, sed aegritudo animi est, quia non totus assurgit veritate sublevatus, consuetudine praegravatus. Et ideo sunt duae voluntates, quia una earum tota non est et hoc adest alteri, quod deest alteri. 458 Vgl. Horn (2004), 112-118; Müller (2009), 362. Im ersten zitierten Passus versucht Augustinus seine Seele als ganze dazu zu bringen, ihm zu folgen und sich Gott hinzugeben. Doch widersetzt sie sich durch die in der consuetudo wurzelnde alte voluntas. Dabei kann er nicht mehr seine Unwissenheit (ignorantia) über das summum bonum als Ausrede anführen, son‐ dern seine Seele leistet Widerrede. Es werden Argumente ausgetauscht. Dies zeigt, dass Augustins Theorie des zerrissenen Willens einen weiteren Vorzug mit der stoischen Theorie der Willensschwäche teilt. Wie der stoische Akratiker handelt auch Augustinus unter seinem zerrissenen Willen intentional. Er han‐ delt aus Gründen, die ihm subjektiv - aus der Perspektive der prudentia carnis - als vernünftig und richtig erscheinen bzw. erschienen sind und die in der consuetudo verinnerlicht sind, welche sein Handeln beeinflusst; objektiv - aus der Perspektive der prudentia spiritus - sind diese Gründe jedoch falsch und unvernünftig, da sie eine Verkehrung des ordo bonorum darstellen. Sein ordo amoris stimmt nicht mit dem ordo bonorum überein - mit anderen Worten: Seine motivierenden Gründe sind nicht die normativen Gründe, die für ihn aufgrund des ordo bonorum und des göttlichen Gesetzes bestehen. Augustinus wird also nicht von irgendetwas - z. B. den Affekten eines irrationalen, der Vernunft nicht zugänglichen Seelenteils - ‚überkommen‘, was eine Entscheidung und damit intentionales Handeln, für welches man verantwortlich ist, unmöglich machen würde, sondern er entscheidet sich vielmehr für eine Handlung - möglicher‐ weise durch implizite Zustimmung aus Gewohnheit -, wodurch er einen Prozess in Gang setzt, den er später nicht mehr stoppen kann, obwohl er sein Urteil korrigiert hat und anders handeln möchte. 458 Augustinus versucht, seine Seele zu einem seinem neuen Urteil gemäßen Handeln zu bewegen, doch ist er gegen die Vehemenz seiner aus der consuetudo entspringenden alten voluntas machtlos. Im zweiten Passus drückt Augustinus seine Verwunderung darüber aus (Unde hoc monstrum? ), dass es leichter sei, den Körper durch einen Willensakt in Be‐ wegung zu setzen als die Seele selbst zum Ausführen ihrer eigenen Entschei‐ dung, d. h. zum Wollen zu bringen, obwohl die Seele und die voluntas zum selben Bereich des Geistes gehören, während der Körper zum Bereich des Materiellen 397 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 459 Vgl. Aug.c.Iul.imp. 1.105: Et peccatis de ignorantiae vel affectionum necessitate venien‐ tibus, quae iam non solum peccata, verum etiam poenae sunt peccatorum, plenum sit genus humanum. 460 Vgl. Aug.Lib.arb. 3. 52: Nec mirandum est quod vel ignorando non habet arbitrium liberum voluntatis ad eligendum quod recte faciat, vel resistente carnali consuetudine, quae vio‐ lentia mortalis successionis quodam modo naturaliter inolevit, videat quid recte faciendum sit et velit nec possit implere. […] duo ista poenalia, ignorantia et difficultas. gehört, was zusätzliche Vermittlungsprobleme zwischen Geist und Körper mit sich bringt. Die Seele stößt jedoch auf einen Widerstand in sich selbst. Obwohl sie sich befiehlt, etwas zu wollen, wird diese voluntas nicht handlungswirksam (Imperat, […] ut velit, […] et non facit quod imperat). Der Grund dafür, dass die voluntas zu keinem entsprechenden Handeln führt, besteht Augustinus zufolge darin, dass die Handlung nicht uneingeschränkt gewollt werde. Wie ist diese Einschränkung zu verstehen? Solange die alte voluntas persistiert und aufgrund ihrer Vehemenz die neue voluntas übertrumpft, der Akteur sich aber mehr mit der neuen voluntas identifiziert, so dass er die alte voluntas vielmehr ‚gegen seinen Willen‘ zu erleiden scheint, fehlt beiden voluntates etwas. Die neue vo‐ luntas kann nicht handlungswirksam werden, während der alten voluntas die Identifikation des Akteurs mit ihr fehlt, so dass sie als etwas Fremdes empfunden wird (Et ideo sunt duae voluntates, quia una earum tota non est et hoc adest alteri, quod deest alteri). Für die hier vorgestellte Interpretation des Phänomens des zerissenen Willens unter Rückgriff auf Augustins Ausführungen über die consuetudo und die Af‐ fekte spricht auch, dass die aus der Erbsünde resultierende difficultas, welche es verhindert, dass der Mensch in Übereinstimmung mit seinem Wissen um die göttliche Ordnung handelt, als ein Phänomen der Affekte bzw. der consuetudo betrachtet wird. So ersetzt Augustinus bisweilen in der Diskussion der als Sün‐ denstrafen auf den Menschen gekommenen ignorantia und difficultas den Be‐ griff der difficultas durch den der Affekte 459 bzw. der consuetudo  460 . Dies dürfte ein weiteres Argument für die hier vorgeschlagene Interpretation sein, das Un‐ vermögen des Menschen, in Übereinstimmung mit seinem eigenen besseren Urteil zu handeln, im Kontext von Augustins Affektenlehre und seinen Überle‐ gungen zur consuetudo zu sehen. Zudem erhält diese Interpretation weitere Unterstützung durch die Verwen‐ dung des Begriffs der ‚Schwäche‘ (aegritudo) der Seele in der oben zitierten Pas‐ sage. Die ‚Schwäche‘ der Seele war, wie oben dargelegt, bei Augustinus und in der Stoa für das Entstehen der Affekte verantwortlich. Bei den Stoikern äußerte sie sich in einer Inkonsistenz des Urteilens, welche ein Schwanken zwischen falschen und richtigen Urteilen zur Folge hat und den Akteur in einen Affekt 398 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 461 Zum Schwanken der voluntas siehe auch: Aug.Conf. 8 . 19: Nam non solum ire verum etiam pervenire illuc nihil erat aliud quam velle ire, sed velle fortiter et integre, non semi‐ sauciam hac atque hac versare et iactare voluntatem parte adsurgente cum alia parte cadente luctantem. 462 Zur Vehemenz der guten Affekte siehe: Aug.Civ. 14. 9 : Proinde, quod fatendum est, etiam cum rectas et secundum deum habemus has affectiones, huius vitae sunt, non illius, quam futuram speramus, et saepe illis etiam inviti cedimus. Itaque aliquando, quamvis non cul‐ pabili cupiditate, sed laudabili caritate moveamur, etiam dum nolumus flemus. Habemus ergo eas ex humanae condicionis infirmitate; vgl. dazu: Brachtendorf (2012a, 148; 2015, 147). 463 Vgl. Aug.Conf. 8.23 f: Nam si tot sunt contrariae naturae, quot voluntates sibi resistunt, non iam duae, sed plures erunt. Si deliberet quisquam, utrum ad conventiculum eorum [sc. Manichaeorum] pergat an ad theatrum, clamant isti: „Ecce duae naturae, una bona hac ducit, altera mala illac reducit. Nam unde ista cunctatio sibimet adversantium volun‐ tatum? “ Ego autem dico ambas malas, et quae ad illos ducit et quae ad theatrum reducit. […] Quid? Si ergo quisquam noster deliberet et secum altercantibus duabus voluntatibus fluctuet, utrum ad theatrum pergat an ad ecclesiam nostram, nonne et isti quid respondeant fluctuabunt? Aut enim fatebuntur, quod nolunt, bona voluntate pergi in ecclesiam nostram, sicut in eam pergunt qui sacramentis eius imbuti sunt atque detinentur, aut duas malas naturas et duas malas mentes in uno homine confligere putabunt, et non erit verum quod solent dicere, unam bonam, alteram malam, aut convertentur ad verum et non negabunt, cum quisque deliberat, animam unam diversis voluntatibus aestuare. […] sicut in utraque mala voluntate, cum quisque deliberat, utrum hominem veneno interimat an ferro, utrum fundum alienum illum an illum invadat, quando utrumque non potest, utrum emat vo‐ luptatem luxuria an pecuniam servet avaritia, utrum ad circum pergat an ad theatrum, si uno die utrumque exhibeatur; addo et tertium, an ad furtum de domo aliena, si subest occasio; addo et quartum, an ad committendum adulterium, si et inde simul facultas ape‐ ritur, si omnia concurrant in unum articulum temporis pariterque cupiantur omnia, quae verfallen lässt. Bei Augustinus ist es ebenfalls ein Schwanken, das sich im ‚Teils-Wollen‘ (partim velle) und ‚Teils-Nicht-Wollen‘ (partim nolle) äußert: Teils will er sich Gott hingeben, teils will er es nicht; teils will er in seiner Gewohnheit verharren, teils will er es nicht. 461 Die Gewohnheit hält ihn jedoch nieder (con‐ suetudine praegravatus), weil er mit der Zustimmung zu der von der consuetudo präsentierten Handlungsoption in einen Affekt verfallen ist, dessen weiteren Verlauf er durch seine Urteilsänderung und die damit verbundene neue voluntas nicht aufhalten kann, da diese von der alten voluntas - dem Affekt - übertrumpft wird. Deswegen kann Augustinus das Schwanken zwischen partim velle und partim nolle auch als aegritudo animi bezeichnen. Das Schwanken in der Ent‐ scheidung muss dabei nicht immer zwischen einer guten und einer schlechten Handlungsoption stattfinden, sondern kann auch zwischen ausschließlich schlechten Handlungsoptionen durch verschiedene consuetudines, ja sogar zwi‐ schen ausschließlich guten Handlungen vorkommen - da ja auch die guten Af‐ fekte Affekte sind und eine entsprechende Vehemenz und Persistenz besitzen 462 . Dabei können auch mehr als zwei voluntates am Konflikt beteiligt sein. 463 Ent‐ 399 IV.3 Die Psychologie des Augustinus simul agi nequeunt: discerpunt enim animum sibimet adversantibus quattuor voluntatibus vel etiam pluribus in tanta copia rerum, quae appetuntur, nec tamen tantam multitudinem diversarum substantiarum solent dicere. Ita et in bonis voluntatibus. […] Si ergo pariter delectent omnia simulque uno tempore, nonne diversae voluntates distendunt cor hominis, dum deliberatur, quid potissimum arripiamus? Et omnes bonae sunt et certant secum, donec eligatur unum, quo feratur tota voluntas una, quae in plures dividebatur. 464 Vgl. Horn (2004), 119. 465 Vgl. Frankfurt (1971 [1988]). 466 Zu dieser Interpretation siehe: Brachtendorf (2005), 164-171, der im Gegensatz zu der hier vorgeschlagenen Interpretation eine synchrone Spaltung im Bereich der se‐ cond-order volitions in zwei ‚rivalisierende Machtzentren‘ annimmt, welche die initialen Willenstendenzen (first-order volitions) teils wollen, teils nicht wollen. Hier wird hin‐ gegen für eine diachrone Differenz in den second-order volitions argumentiert, der zu‐ folge eine erste second-order volition die alte first-order volition billigte, die nun jedoch, obschon sie von der neuen second-order volition nicht mehr gebilligt wird, aufgrund ihrer Vehemenz persistiert und im Gegensatz zu einer neuen first-order volition steht, die jedoch von ihr übertrumpft wird und nicht handlungswirksam werden kann. Es besteht demnach ein doppelter Gegensatz, einerseits zwischen der alten first-order vo‐ lition und der neuen first-order volition, andererseits zwischen der alten first-order vo‐ lition und der aktuellen second-order volition. scheidend ist das wechselseitige Ausschlussverhältnis der Willensbestim‐ mungen. 464 Der Konflikt innerhalb des Willens kann, wie von Johannes Brachtendorf vorgeschlagen, nun auch im Anschluss an Harry Frakfurts 465 Unterscheidung von objekt- und handlungsorientierten first-order volitions und höherstufigen second-order volitions, welche sich auf diejenigen der niedrigeren Stufe beziehen, interpretiert werden. 466 Die second-order volitions des arbitrium voluntatis haben keine vollständige Kontrolle mehr über die objektbzw. handlungsorientierten first-order volitions - die voluntates. Das arbitrium voluntatis hat seine frühere Entscheidung korrigiert und will nun etwas anderes, d. h. seine korrigierte Ent‐ scheidung hat eine neue voluntas verursacht, die sich jedoch nicht gegen die auf der alten Entscheidung basierende voluntas durchsetzen kann. Es besteht folg‐ lich eine Diskrepanz zwischen der second-order volition des arbitrium voluntatis und der first-order volition, welche das konkrete Handeln des Subjekts bestimmt. Das selbstreflexive arbitirum voluntatis hat keine Kontrolle mehr über seine Strebungen - seine voluntates -, die auch dann auftreten bzw. persistieren, wenn sie auf der höherstufigen Ebene des Wollens - der des arbitrium voluntatis - nicht mehr gewollt werden. Die hier entwickelte Interpretation des zerrissenen Willens im Kontext von Augustins Affektenlehre und seinen Ausführungen zur consuetudo dürfte sich auch als kompatibel mit Christoph Horns Deutung der Zerrissenheit des Willens als eines Konflikts auf der Ebene der Strebenstendenzen erweisen. 467 Horn zu‐ 400 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 467 Vgl. Horn (2004); so auch Burnell (2005), 59. 468 Vgl. Müller (2007; 2009, 314-323). 469 Vgl. Müller (2007), 67. 470 In diesem Sinne sind die verschiendenen voluntates in Conf. 8.23 f (Siehe S. 399 f Anm. 463) als Konkretisierungen der beiden grundlegenden Wertmaßstäbe bzw. Hand‐ lungsprinzipien zu verstehen; siehe dazu auch: Müller (2007), 66 f. 471 Saarinen (2000) spricht in diesem Zusammenhang auch von einem ‚dualism of goals‘ bei Augustinus. folge bestehen zwei einander entgegengesetzte Strebenstendenzen - d. h. Hand‐ lungsimpulse bzw. voluntates - gleichzeitig in der Seele, wobei die eine nicht durch die andere aufgehoben werden kann. Auch Jörn Müllers Deutung der Zerrissenheit des Willens als Konflikt zwischen zwei grundsätzlichen Lebens‐ orientierungen lässt sich mit der hier vorgestellten Interpretation in Einklang bringen. 468 Müller zufolge liegt „[d]ie Zerrissenheit bzw. Spaltung des Willens […] wesentlich darin, dass in ihm [sc. Augustinus] simultan zwei inkompatible Wertmaßstäbe bzw. Handlungsprinzipien, prudentia carnis und prudentia spi‐ ritus, präsent sind, welche die objektorientierten Volitionen verschieden be‐ werten: Deshalb wird ein und dasselbe teils gewollt, teils nicht gewollt, aber eben nichts mit ganzem Willen eindeutig gewollt.“ 469 Die unterschiedlichen Wertmaßstäbe bzw. Handlungsprinzipien äußern sich in verschiedenen volun‐ tates i.S. konkreter objektbzw. handlungsorientierter Volitionen, die zugleich in der Seele des Akteurs präsent sind. 470 Während die prudentia carnis - d. h. die Perspektive des Akteurs, insofern er sich an den minima et temporalia bona orientiert - die alte voluntas als gut bewertet und will, beurteilt die prudentia spiritus - d. h. die Perspektive des Akteurs, insofern er nach Gott als dem summum bonum strebt - die alte voluntas als schlecht und will sie nicht. Statt‐ dessen hält sie die neue voluntas für gut und will sie, die jedoch von der prudentia carnis als schlecht angesehen und nicht gewollt wird. Eine Unentschiedenheit zwischen den beiden Handlungsprinzipien bzw. Perspektiven 471 seitens des Ak‐ teurs führt zu einem Schwanken zwischen den Handlungsoptionen und zu einem uneindeutigen Wollen, wobei die mit der consuetudo verbundene alte voluntas aufgrund ihrer Vehemenz und Persistenz die neue voluntas übertrumpft und den Akteur bindet. Sowohl Horn als auch Müller unterlassen es allerdings, die genaueren Ursachen des Konflikts explizit mit Augustins Affektenlehre und ihrem stoischen Hintergrund in Verbindung zu bringen. Um aus der Zerrissenheit des Willens herauszukommen, braucht Augustinus eine Vereinigung seiner voluntas, damit er sich uneingeschränkt für eine Hand‐ lungsoption entscheiden kann. Infolge der Erbsünde ist diese Auflösung seitens des Menschen nur zum Schlechten hin möglich. 472 Die neue und gute voluntas kann aufgrund der durch die consuetudo bewirkte Fesselung ihrerselbst „den 401 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 472 Vgl. Aug.Spir. et litt. 5: Nam neque liberum arbitrium quidquam nisi ad peccandum valet […]; siehe auch: Brachtendorf (2005), 181 f; Müller (2009), 330. 473 Müller (2009), 330. 474 Vgl. Aug.c.Iul.imp. 3.110: […] ergo etiam hinc convincimini, quod tam infirmae voluntatis ad agendum bonum homines Christus invenit et quod liberi arbitrii infirmitatem ad agendum bonum non nisi per Christi gratiam potest humana reparare natura; Spir. et litt. 15: Non itaque iustificati per legem, non iustificati per propriam voluntatem, sed iustificati gratis per gratiam ipsius; non quod sine voluntate nostra fiat, sed voluntas nostra ostenditur infirma per legem, ut sanet gratia voluntatem et sana voluntas impleat legem non consti‐ tuta sub lege nec indigens lege; Gr. et lib.arb. 31: Gratia vero dei semper est bona, et per hanc fit ut sit homo bonae voluntatis, qui prius fuit voluntatis malae. Per hanc etiam fit ut ipsa bona voluntas, quae iam esse coepit, augeatur, et tam magna fiat, ut possit implere divina mandata quae voluerit, cum valde perfecteque voluerit. Ad hoc enim valet quod scriptum est: Si volueris, servabis mandata: ut homo qui voluerit et non p otuerit, nondum se plene velle cogno scat, et oret ut habeat tantam voluntatem, quanta sufficit ad implenda mandata; siehe dazu auch: Drecoll (1999), 168 und 204-206; Horn (2004), 118f; Brach‐ tendorf (2005), 164 und 174f; Müller (2009), 322. sich in der Handlung selbst ausdrückenden Gesamtwillen (voluntas tota) zwar inklinieren, aber nicht bestimmen“ 473 . Die Vereinigung des Willens zum Guten hin kann der Mensch aus eigener Kraft nicht bewerkstelligen, sondern er ist hier auf die Gnade Gottes angewiesen. 474 Die Wirkweise dieser Gnade soll im fol‐ genden Kapitel genauer untersucht werden. Bevor dies jedoch geschieht, soll das hier entwickelte Modell der Handlungspsychologie Augustins und seiner Theorie des zerrissenen Willens nochmals an einer zentralen Passage aus Au‐ gustins Confessiones erprobt werden: der Mailänder Gartenszene im achten Buch: Was mich zurückhielt, das waren die nichtigen Nichtigkeiten und die eitlen Eitel‐ keiten, meine alten Freundinnen. Sie zerrten am Kleid meines Fleisches und flüsterten: „Schaffst du uns ab? “ und: „Von diesem Augenblick an werden wir dich nie wieder besuchen, in Ewigkeit nicht“, und: „Von diesem Augenblick an darfst du dies nicht und das nicht, auf ewig“. Und wenn ich sagte „dies“ oder „das“ - was haben sie mir dabei wohl suggeriert, mein Gott? Abhalten soll es deine Barmherzigkeit von der Seele deines Dieners. Was für einen Schmutz, was für Schanddinge suggerierten sie mir! Ich vernahm sie, aber nicht einmal mehr mit der Hälfte meines Wesens. Sie wagten nicht, mir frei zu widersprechen, wie offene Gegner; es war ein Getuschel hinter meinem Rücken, ein verstohlenes Sticheln gegen den Mann, der ging und der sich umwenden sollte. Immerhin verlangsamten sie meinen Schritt; ich zögerte, mich von ihnen loszureißen und den Sprung dorthin zu wagen, wohin ich gerufen wurde, denn die übermächtige Gewohnheit rief mir zu: „Glaubst du, es ohne all das aushalten zu können? “ Aber schon klang ihre Stimme matt. Denn es enthüllte sich mir drüben, wohin ich den Blick gerichtet hatte und wohin zu gehen ich fürchtete, die reine Würde 402 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 475 Aug.Conf. 8.26 f: Retinebant nugae nugarum et vanitates vanitatum, antiquae amicae meae, et succutiebant vestem meam carneam et submurmurabant: „Dimittisne nos? “ et „a momento isto non erimus tecum ultra in aeternum“ et „a momento isto non tibi licebit hoc et illud ultra in aeternum“. Et quae suggerebant in eo, quod dixi „hoc et illud,“ quae sug‐ gerebant, deus meus? Avertat ab anima servi tui misericordia tua! Quas sordes suggerebant, quae dedecora! Et audiebam eas iam longe minus quam dimidius, non tamquam libere contradicentes eundo in obviam, sed velut a dorso mussitantes et discedentem quasi furtim vellicantes, ut respicerem. Retardabant tamen cunctantem me abripere atque excutere ab eis et transilire quo vocabar, cum diceret mihi consuetudo violenta: „Putasne sine istis poteris? “ Sed iam tepidissime hoc dicebat. Aperiebatur enim ab ea parte, qua intenderam faciem et quo transire trepidabam, casta dignitas continentiae, serena et non dissolute hilaris, honeste blandiens, ut venirem neque dubitarem, et extendens ad me suscipiendum et amplectendum pias manus plenas gregibus bonorum exemplorum. Ibi tot pueri et pu‐ ellae, ibi iuventus multa et omnis aetas et graves viduae et virgines anus, et in omnibus ipsa continentia nequaquam sterilis, sed fecunda mater filiorum gaudiorum de marito te, domine. Et inridebat me inrisione hortatoria, quasi diceret: „Tu non poteris, quod isti, quod istae? An vero isti et istae in se ipsis possunt ac non in domino deo suo? Dominus deus eorum me dedit eis. Quid in te stas et non stas? Proice te in eum, noli metuere; non se subtrahet, ut cadas: proice te securus, excipiet et sanabit te.“ Et erubescebam nimis, quia illarum nugarum murmura adhuc audiebam, et cunctabundus pendebam. Et rursus illa, quasi diceret: „Obsurdesce adversus inmunda illa membra tua super terram, ut mortifi‐ centur. Narrant tibi delectationes, sed non sicut lex domini dei tui.“ Ista controversia in corde meo non nisi de me ipso adversus me ipsum. der Enthaltsamkeit: heiter, ohne aufgelöste Munterkeit, auf würdevolle Weise mich umschmeichelnd. Sie lud mich ein, ohne Zögern zu kommen, und sie streckte, um mich aufzunehmen und zu umarmen, ihre gütigen Hände aus, die überquollen von der Fülle an Beispielen eines mustergültigen Lebens. Dort gab es Jungen und Mädchen, dort gab es viele junge Leute, aber auch jedes Lebensalter, ernste Witwen und alte Frauen, die ihre Jungfräulichkeit bewahrt hatten. In allen erstrahlte die Enthaltsam‐ keit, keineswegs unfruchtbar, sondern als Mutter vieler Söhne, gezeugt unter Freuden mit dir, Herr, ihrem Gatten. Sie spottete über mich und mahnte mich zugleich, so, als sagte sie: „Kannst du nicht auch, was diese Männer und Frauen konnten? Konnten sie es vielleicht aus sich selbst oder nicht doch im Herrn, ihrem Gott? Der Herr, ihr Gott, hat mich ihnen gegeben. Warum willst du in dir selbst stehen, wo du doch nicht stehen kannst? Wirf dich auf ihn! Fürchte dich nicht! Er zieht sich nicht zurück, so dass du hinfällst. Wirf dich unbesorgt; er fängt dich auf und heilt dich.“ Und ich schämte mich über alle Maßen, dass ich noch immer auf das Geflüster der Eitelkeiten hörte und festhing in meiner Unentschiedenheit. Aber die Enthaltsamkeit begann von neuem, so, als sie sagte: „Verschließe deine Ohren für deine unreinen irdischen Glieder! Töte sie ab! Sie reden dir von Genüssen, aber von anderen als das Gesetz deines Herrn, deines Gottes.“ Dieser Streit in meinem Herzen drehte sich ausschließlich um mich; ich war mein Gegner. 475 (Übers. Flasch/ Mojsisch mit Modifikationen) 403 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 476 Vgl. Cic.Off. 1.15-18; siehe dazu auch: Powell (1995), 299. 477 Vgl. Cic.Inv. 2.166: Nunc de eo, in quo utilitas quoque adiungitur, quod tamen honestum vocamus, dicendum videtur. Sunt igitur multa, quae nos cum dignitate tum quoque fructu suo ducunt; quo in genere est gloria, dignitas, amplitudo, amicitia. Gloria est frequens de aliquo fama cum laude; dignitas est alicuius honesta et cultu et honore et verecundia digna auctoritas; […]; Aug.c.Iul. 4. 68: Nam si in praesenti vita temperanter alimenta sumentes, continentes vocantur et sobrii meritoque laudi habentur, nec desunt huiusmodi, qui quantum natura petat, aut minus refectionis assumant, malentes, si modo necessitati con‐ gruo falluntur, minus id sumpsisse quam amplius: quanto magis in illa dignitate honestum modum fuisse credendum est sumendorum alimentorum, quo et animali corpori necessaria Augustinus schildert in dieser Passage den Konflikt in seinem Willen angesichts der Entscheidung, ein tugendhaftes Leben zu führen oder seinen alten, laster‐ haften Lebenswandel fortzusetzen. Diese beiden Handlungsoptionen werden Augustinus durch Vorstellungen (visa) präsentiert, was daran deutlich wird, dass die Nichtigkeiten und Eitelkeiten ihm in Form der Gewohnheit (consuetudo) Schandtaten suggerieren (suggerere). Es handelt sich also um praktische Vor‐ stellungen, die von suggestiones begleitet werden, deren Attraktivität i.S. des praktischen Prädikates zum einen durch ihre Charakterisierung als Freundinnen (amicae), zum anderen durch die Freuden (delectationes), von welchen sie er‐ zählen, zum Ausdruck kommt. Die Attraktivität der von den Nichtigkeiten und Eitelkeiten präsentierten Handlungsoption ergibt sich dabei für Augustinus aus der Perspektive der prudentia carnis, wie seine Aussage deutlich macht, dass seine alten Freundinnen (antiquae amicae) - ein Verweis auf die alte voluntas - am Kleid seines Fleisches (vestem carneam) zerren. Die Vorstellung der Nich‐ tigkeiten und Eitelkeiten hat jedoch von Augustinus noch keine Zustimmung erfahren, was am geringen Artikulationsgrad mit dem sie zu ihm sprechen deutlich wird - sie flüstern bzw. murmeln nur zu ihm (submurmurabant, mus‐ sitantes, murmura, tepidissime dicebat, audiebam eas iam longe minus quam di‐ midius). Auch das tugendhafte Leben wird Augustinus im Form einer Vorstellung präsentiert, wobei die Tugend der Enthaltsamkeit (continentia) stellvertretend für das tugendhafte Leben insgesamt auftritt. Auch diese besitzt die klassischen Charakteristika einer praktischen Vorstellung. So weist sie die Qualitäten der dignitas und honestas auf, wobei das honestum im Ciceronischen Sprachge‐ brauch dem griechischen καλόν, der Schönheit der ethischen Tugend, korres‐ pondiert und auch als praktisches Prädikat fungieren kann, welches motivati‐ onale Kraft besitzt. 476 Dignitas besitzt nun für Cicero wie für Augustinus eine ähnliche Bedeutung, weshalb die beiden die Begriffe bisweilen auch synonym verwenden. 477 Die motivationale Kraft der Vorstellung der Enthaltsamkeit, welche ihr aufgrund ihrer Qualitäten der dignitas und honestas zukommt, findet 404 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus praeberentur, et modus naturalis nullatenus excederetur; sicut in paradiso primos homines vixisse credendum est? 478 Cor wird bisweilen, wie auch hier, von Augustinus synonym mit mens verwendet, so dass die Dissonanz hier im Verstand Augustins besteht: Aug.S. 265C.1: Unde ergo aliquid possidemus in terra, cor est, intellectus est, sensus est, ingenium est, ratio est, cogitatio est, consilium; siehe dazu: de la Peza (1962), 66 f, 73-76 und 81 f. ihren Ausdruck auch in ihrem ermahnenden Lächeln (inrisione hortatoria) und ihrem schmeichelnden (blandiens) Vorgehen, welches Augustinus verlocken soll, ihr zuzustimmen und dem Pfad der Tugend zu folgen. Ihm werden die Freuden (gaudia), welche die Früchte dieses Weges darstellen, vor Augen ge‐ stellt, insofern die Enthaltsamkeit keinen sterilen Weg präsentiert, sondern eine Mutter von Freuden als Söhnen (mater filiorum gaudiorum) ist. Zudem besitzen auch die Beispiele (exempla), die Augustinus vor Augen gestellt werden und mit dem praktischen Prädikat ‚gut‘ (bonum) gekennzeichnet werden, motivationale Kraft. Die Tugendhaftigkeit der Enthaltsamkeit findet ihren Niederschlag auch in ihrer äußeren Erscheinung. So beschreibt sie Augustinus als heiter (serena) und nicht aufgelöst munter (non dissolute hilaris). Beide Charakterisierungen verweisen auf die Freiheit von Affekten - das Ideal der ἀπάθεια. Dass die Ent‐ haltsamkeit heiter ist, meint, dass sie frei von Traurigkeit - also ungetrübt - ist und sich keine dunklen Wolken am Himmel zeigen (serenus). Zugleich ist sie jedoch auch nicht überschwänglich munter - also frei vom Affekt der Lust (laetitia). Wie die Vorstellung der Nichtigkeiten und Eitelkeiten noch keine Zu‐ stimmung erfahren hat, kann sich Augustinus auch nicht zur Zustimmung zur Vorstellung der Enthaltsamkeit durchringen, was wiederum durch den ent‐ sprechenden Artikulationsgrad der entsprechenden suggestiones ausgedrückt wird: Die Enthaltsamkeit spricht nur gleichsam (quasi diceret), jedoch nicht wirklich. Augustinus ist in dieser Passage also verschiedenen, sukzessiven und ei‐ nander widersprechenden Vorstellungen ausgesetzt, die ihm verschiedene Handlungsoptionen vor Augen stellen, durch deren Ausführung ihm Glückseligkeit versprochen wird. Er versucht dabei in seiner Schilderung, retrospektiv unter Rückgriff auf das stoische Modell zur Erklärung der Handlungsmotivation zu einem besseren Verständnis seiner selbst zu gelangen. Das Schwanken zwi‐ schen den verschiedenen Handlungsoptionen ist dabei nicht als Konflikt zwi‐ schen einem rationalen und einem irrationalen Seelenteil zu verstehen, sondern Augustinus beschreibt vielmehr eine Art kognitiver Dissonanz (in corde  478 ) hin‐ sichtlich der Entscheidung zwischen zwei grundlegenden Wertmaßstäben bzw. Handlungsprinzipien - der prudentia carnis und der prudentia spiritus. Er er‐ leidet zwei sich einander widersprechende Vorstellungen, welche ihm inkom‐ 405 IV.3 Die Psychologie des Augustinus 479 Vgl. Frede (2011), 167 f. 480 Zum Zusammenhang von Erlösung, Freiheit und richtigem Handeln aus der richtigen Motivation heraus siehe: Frede (2011), 167; Byers (2013), 179. patible Handlungsoptionen präsentieren, die unter der jeweiligen Perspektive der prudentia carnis und der prudentia spiritus als attraktiv erscheinen. Dabei kann er sich nicht dazu entscheiden, seinen alten Lebenswandel hinter sich zu lassen und ein neues Leben auf dem Pfad der Tugend zu beginnen, da ihn die Macht der consuetudo in seinen alten Leidenschaften zurückhält. Er selbst kann sich von seiner Gewohnheit und ihrem Einfluss auf sein Leben nicht befreien, sondern er bedarf der wirksamen Gnade Gottes, um sich ihres Zugriffs auf seine Motivationsstruktur zu entledigen. Wie die göttliche Gnade wirkt und Augus‐ tinus aus den Ketten der consuetudo befreit, soll nun näher untersucht werden. IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade IV.4. 1 Göttlich inspirierte visa In den vorangehenden Überlegungen zur consuetudo und zur Zerrissenheit des menschlichen Willens, wurde darauf hingewiesen, dass der Mensch aufgrund seiner schlechten Gewohnheit, welche in einem zu einem Habitus verfestigten verkehrten Wertmaßstab bzw. Handlungsprinzip - der prudentia carnis - be‐ steht, falsche Werturteile fällt und falsche Handlungsentscheidungen trifft, welche es ihm unmöglich machen, sein Lebensziel - die Glückseligkeit - zu erreichen. Durch den Sündenfall befindet sich die gesamte Menschheit in diesem Zustand der poenalis consuetudo, welche es dem Menschen unmöglich macht, die rechte Wertordnung zu erkennen (ignorantia) und ihr entsprechend zu han‐ deln (difficultas). Wie der Mensch aus diesem Zustand nach dem Sündenfall herauskommt, stellt damit einen spezifischen Fall der Problematik dar, wie der Mensch sich einer schlechten Gewohnheit entledigen kann. Die consuetudo hält, wie oben aufgezeigt, auch Augustinus in ihrer Macht und verhindert es, dass er der Vorstellung der Enthaltsamkeit seine Zustimmung geben und dem Pfad der Tugend folgen kann. Er verfügt zwar weiterhin über das arbitirum voluntatis, durch welches er darüber entscheiden kann, ob er einer Vorstellung seine Zu‐ stimmung gibt oder verweigert, doch ist dieses nicht mehr frei, da die consuetudo immer schon eine bestimmte Entscheidung erzwingt. 479 Wie kann der Mensch aus diesem Zustand der Verfallenheit an die Sünde herauskommen, um wieder in Stand gesetzt zu werden, die richtige Handlung aus den richtigen Gründen ausführen zu können und das ewige Leben zu erlangen? 480 406 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 481 Auf Parallelen in der Struktur der Gnadenlehre Augustins mit seiner Erkenntnistheorie machen auch Lorenz (1964), Strauss (1967) und Lössl (1997; 2010) aufmerksam; eine Auseinandersetzung mit und Kritik an diesen Ansätzen bietet Drecoll (1999), 96-106. 482 Aug.Lib.arb. 3. 77: Tanta est autem pulchritudo iustitiae, tanta iucunditas lucis aeternae, hoc est incommutabilis veritatis atque sapientiae, ut, etiam si non liceret amplius in ea manere quam unius diei mora, propter hoc solum innumerabiles anni huius vitae pleni deliciis et circumfluentia temporalium bonorum recte meritoque contemnerentur. 483 Vgl. Aug.Simpl. 1. 2.21 : Cum ergo nos ea delectant quibus proficiamus ad deum, inspiratur hoc et praebetur gratia dei, non nutu nostro et industria aut operum meritis comparatur, quia ut sit nutus voluntatis, ut sit industria studii, ut sint opera caritate ferventia, ille tribuit, ille largitur; siehe auch: Drecoll (2007), 496 f: „Zu der Berufung und der Über‐ zeugungsarbeit, die an den Menschen herantritt, muss ebenfalls eine innere Ausrich‐ tung des Menschen kommen, die der Mensch sich nicht selbst aussucht, sondern die ihm in den Sinn kommt, weil Gott es so will und den entsprechenden Gedanken durch seinen Geist im Innersten des Menschen bewirkt.“ sowie Drecoll (1999), 300, 307 und Byers (2013), 180. Im Kontext der Diskussion um Augustins Verständnis der consuetudo wurde darauf hingewiesen, dass die schlechte Gewohnheit - sowohl die selbst erwor‐ bene wie die durch die Erbsünde auf den Menschen gekommene - es verhindere, dass der Mensch die Attraktivität einer tugendhaften Handlung erkenne und folglich zu ihr motivert werden könne. Um daher aus dieser Situation heraus zu kommen, müsste der Mensch in die Lage versetzt werden, die Attraktivität der tugendhaften Handlung erkennen zu können, ihrer Vorstellung seine Zustim‐ mung geben zu können und sich schließlich von ihr zu einem entsprechenden Handeln motivieren lassen zu können. An dieser Stelle greift in Augustins sto‐ ischem Modell der Handlungspsychologie das Gnadenhandeln Gottes ein. 481 Es ist die göttliche Gnade, welche dem Menschen eine tugendhafte Handlung als attraktiv erscheinen lässt. Die enorme Attraktivität der Tugend wird dabei an‐ hand der folgenen Passage aus De libero arbitrio deutlich: So groß ist aber die Schönheit der Gerechtigkeit, so groß die Lieblichkeit des ewigen Lichts, nämlich der unwandelbaren Wahrheit und Weisheit, dass auch wenn es nicht erlaubt wäre, länger darin zu verweilen als für die Zeit eines einzigen Tages, allein dafür unzählige Jahre dieses Lebens voller Vergnügungen und überfließend mit zeit‐ lichen Gütern völlig zurecht verachtet würden. 482 (Übers. Brachtendorf) Die vor Augen gestellte unglaubliche Attraktivität der Tugend, welche alle ir‐ dischen Güter und Vergnügungen in den Schatten stellt, soll den Menschen zu moralisch richtigem Handeln motivieren. Dieses wird also durch die Vermitt‐ lung entsprechender praktischer Vorstellungen als Gnadengaben seitens Gottes in die menschliche Seele ermöglicht. 483 Entsprechend wird auch die Berufung (vocatio) der Menschen durch Gott in den Begriffen der Handlungspsychologie 407 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade 484 Vgl. Aug.Simpl. 1. 2.12f: Igitur non miserentis dei sed volentis est hominis, quia miseri‐ cordia dei sola non sufficit, nisi consensus nostrae voluntatis addatur. […] At enim quia non praecedit voluntas bona vocationem sed vocatio bonam voluntatem, propterea vocanti deo recte tribuitur quod bene volumus, nobis vero tribui non potest quod vocamur. […] Igitur non miserentis dei sed volentis atque currentis est hominis, quia misericordia vocantis non sufficit, nisi vocati oboedientia consequatur. An forte illi, qui hoc modo vocati non consentiunt, possent alio modo vocati accommodare fidei voluntatem, ut et illud verum sit: Multi vocati, pauci electi, ut quamvis multi uno modo vocati sint, tamen quia non omnes uno modo affecti sunt, illi soli sequantur vocationem qui ei capiendae reperiuntur idonei, et illud non minus verum sit: Igitur non volentis neque currentis sed miserentis est dei, qui hoc modo vocavit, quomodo aptum erat eis qui secuti sunt vocationem? 485 Vgl. Byers (2013), 181; siehe dazu auch: Drecoll (1999), 316: „Augustin nimmt […] ein direktes Einwirken Gottes im Inneren des Menschen an. Er greift damit den Problem‐ kreis auf, der in Simpl.I,2 in den Blick kam, daß nämlich der Mensch es nicht in seiner Verfügung hat, was ihm in den Sinn kommt.“ 486 Die Ausführungen Michae l Fredes in Frede (2011) legen ein solches schwaches Ver‐ ständnis des göttlichen Gnadenhandelns nahe, welches sich auf das Arrangement der äußeren Umstände beschränkt. In diese Richtung weist folgende Aussage: „His [sc. Au‐ gustine’s] view is that even if we manage to will the right thing in our fallen stat e, this is so only by divine grace because God set things up in such a way that we will or want the right thing. […] Thus God can set things up in such a way that some of us will be led to will to have a good will, to will to free ourselves of our enslavement and to succeed in our struggles.“ (Frede [2011], 170). Für eine Kritik dieser Position verbunden mit einem Argument für das oben vertretene stärkere Verständnis des göttlichen Gnaden‐ handelns siehe: Byers (2013), 184 und 209 f. Das Problem mit dem Verständnis des gött‐ lichen Gnadenhandelns als eines bloßen Arrangierens der äußeren Umstände besteht darin, dass sich zwei Menschen in denselben äußeren Umständen befinden können - z. B. eine Predigt hören - und der eine von der entsprechenden Vorstellung bewegt wird, während die Vorstellung für den anderen keine motivationale Kraft birgt (vgl. oben S. 343-346); siehe dazu auch: Drecoll (1999), 323 sowie ders. (2007), 494: „Zusätzlich zu allen äußeren Zeichen, Belehrungen und Heilsangeboten der Verkündigung braucht es daher eine direkte innere Motivation des Menschen, die den Menschen überzeugt und ihm die innere Ausrichtung verleiht: […]“; zur zeitlichen Vorgängigkeit der göttlichen entfaltet. So übernimmt der Ruf Gottes, der an die Menschen ergeht, die Rolle der Vorstellung, und der Mensch nimmt diesem Ruf gegenüber Stellung, indem er ihm seine Zustimmung gibt oder verweigert. 484 Die Gnade Gottes bildet für Augustinus die Voraussetzung für die moralische Entwicklung der Menschen und seine Fähigkeit, das als sittlich richtig Erkannte auch zu tun. Um diesen Prozess in Gang zu setzen, erhält der Mensch durch die göttliche Gnade ent‐ sprechende praktische Vorstellungen. 485 Für Augustinus geht das göttliche Gna‐ denhandeln also mit der Vermittlung praktischer Vorstellungen in die Seele des Menschen hinein über das bloß äußere Arrangement der Umstände für eine Bekehrung hinaus, obschon sich auch dieses der göttlichen Vorsehung ver‐ dankt. 486 408 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus vocatio vor allen Leistungen des Menschen und unabhängig von allen merita siehe: Drecoll (1999), 168-171 und 214-216. 487 Vgl. Aug.En.Ps. 67. 12 : Istam pluviam, cum deus transiret in deserto, id est, praedicaretur in gentibus, coeli distillaverunt: non tamen a seipsis, sed a facie dei, quoniam et ipsi gratia dei sunt id quod sunt. Et ideo mons S ina, quia et ipse qui plus omnibus illis laboravit, non ipse autem, sed gratia dei cum illo, ut abundantius distillaret in gentibus, id est in deserto, ubi Christus non erat annuntiatus, ne super alienum fundamentum aedificaret; […] Quare ergo coeli distillaverunt a facie dei, a facie huius dei, nisi quia sic impletum est quod praedictum est: Benedictione m dabit qui legem dedit? Legem, qua terreat de humanis viribus praesumentem, benedictionem, qua liberet in deum sperantem; 84. 15: Unde nata est ista suavitas, nisi quia dominus dabit suavitatem, et terra nostra dabit fructum suum? Ecce enim videte quod dico: ecce locuti sumus vobis verbum dei, semen sparsimus devotis cordibus, tamquam sulcata invenientes pectora vestra aratro confessionis; devotione et in‐ tentione suscepistis semen, cogitate de ver bo quod audistis, tamquam glebas frangentes, ne semen rapiant volatilia, ut possit ibi germinare quod seminatum est; et nisi deus pluerit, quid prodest quod seminatur? Hoc est: Dominus dabit suavitatem, et terra nostra dabit fructum suum. […] Veniat imber dei, et fructificet quod ibi seminatum est; et ubi non sumus nos, et securi quiescimus, aut aliud agimus, deus det incrementum seminibus quae spar‐ simus, ut attendentes postea bonos mores vestros, etiam de fructu gaudeamus. 488 Vgl. Aug.Pecc.mer. 2. 5: Iusta autem agere vel iustitiae praeceptum omni ex parte implere non possumus, nisi adiuvemur a deo. Sicut enim corporis oculus non adiuvatur a luce, ut ab eadem luce clausus aversusve discedat, ut au tem videat adiuvatur ab ea neque hoc omnino, nisi illa adiuverit, potest, ita deus, qui lux est hominis interioris, adiuvat nostrae mentis obtutum, ut non secundum nostram, sed secundum eius iustitiam boni aliquid ope‐ remur; Nat. et gr. 56: Nam et tunc esset adiutorium dei et tamquam lumen sanis oculis, quo adiuti videant, se praeberet volentibus; En.Ps. 84. 1: Ille quidem ostendit; sed multi sanari nolunt, ut videant quod ostendit. Sed quia ipse sanat oculos cordis ad videndum se; propterea cum dixisset: Ostende nobis misericordiam tuam, tamquam multis caecis dic‐ turis: Quomodo videbimus, cum coeperit ostendere? adiunxit: Et salutare tuum da nobis. Dando enim salutare suum, sanat in nobis unde possimus videre quod ostendit: non quo‐ modo medicus homo ipse curat, ut lucem istam ostendat eis quos curaverit; et aliud est ista lux quam demonstraturus est, aliud autem ipse medicus qui curat oculos quibus ostendat lucem, quae lux non est ipse. Non ergo sic dominus deus noster: ipse est enim medicus qui curat unde videre possimus, et ipse est lux quam videre possimus. Die göttliche Gnade kommt den Ausführungen Augustins zufolge wie Regen vom Himmel herab 487 und heilt die durch die schlechte consuetudo kranke Seele des Menschen, 488 so dass er wieder für die Attraktivität des sittlich Richtigen empfänglich ist. Das Gnadenhandeln Gottes bezieht sich Augustinus zufolge mittels praktischer Vorstellungen auf die Seele des Menschen und ermöglicht es dem menschlichen Verstand, die Attraktivität der tugendhaften Handlung zu erkennen, so dass der Akteur motiviert ist, diese auszuführen. Die praktische Vorstellung, welche dem Menschen von Gott eingegeben wird, präsentiert diesem die tugendhafte Handlung durch ein praktisches Prädikat (z. B. suavitas, delectatio) als attraktiv, wodurch dieser zu ihrer Ausführung motiviert werden soll. 489 Gott weckt folglich im Menschen die Liebe zum moralisch Guten, indem 409 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade 489 Vgl. Aug.En.Ps. 67. 13 : Parasti in tua suavitate egenti deus. […] Dominus dabit suavitatem, et terra nostra dabit fructum suum: ut bonum opus fiat non timore, sed amore; non formidine poenae, sed delectatione iustitiae; 84. 15: Unde nata est ista suavitas, nisi quia do‐ minus dabit suavitatem, et terra nostra dabit fructum suum? Ecce enim videte quod dico: ecce locuti sumus vobis verbum dei, semen sparsimus devotis cordibus, tamquam sulcata invenientes pectora vestra aratro confessionis; devotione et intentione suscepistis semen, cogitate de verbo quod audistis, tamquam glebas frangentes, ne semen rapiant volatilia, ut possit ibi germinare quod seminatum est; et nisi deus pluerit, quid prodest quod sem inatur? Hoc est: Dominus dabit suavitatem, et terra nostra dabit fructum suum. […] Veniat imber dei, et fructificet quod ibi seminatum est; et ubi non sumus nos, et securi quiescimus, aut aliud agimus, deus det incrementum seminibus quae sparsimus, ut atten‐ dentes postea bonos mores vestros, etiam de fructu gaudeamus; 118. 17. 3: Docet ergo deus suavitatem inspirando delectationem […]. […] sic docet ut facienda faciamus, inspirando suavitatem. 490 Aug.En.Ps. 118. 17. 1: Hi versus psalmi huius […] ab hoc incipiunt: Suavitatem fecisti cum servo tuo, domine, secundum verbum tuum; […] Sed quod ait Graecus χρηστότητα ali‐ quando suavitatem, aliquando bonitatem nostri interpretes transtulerunt. […] sic debemus intellegere suavitatem, quam χρηστότητα Graeci vocant, ut in bonis spiritalibus depu‐ tetur: propter hoc enim eam et bonitatem nostri appellare voluerunt. Nihil hic ergo aliud dictum existimo: Suavitatem fecisti cum servo tuo, nisi, fecisti ut me delectaret bonum. Quando enim delectat bonum, magnum est dei donum. Quando autem bonum opus quod lex imperat, fit timore poenae, non delectatione iustitiae, cum deus metuitur, non amatur, serviliter fit, non liberaliter. er diesem praktische Vorstellungen eingibt, welche ihn zur Ausführung tugend‐ hafter Handlungen motivieren sollen: Die Verse dieses Psalms beginnen folgendermaßen: „Du hast Lieblichkeit geschaffen mit deinem Sklaven, oh Herr, gemäß deinem Wort.“ […] Aber was auf Griechisch ‚Brauchbarkeit‘ (χρηστότητα) heißt, haben unsere Übersetzer bald als ‚Lieblichkeit‘ (suavitas), bald als ‚Gutheit‘ (bonitas) wiedergegeben. […] müssen wir ‚Lieblichkeit‘, welche die Griechen ‚Brauchbarkeit‘ nennen, so verstehen, dass sie unter die geistigen Güter gezählt wird: Deswegen wollten die Unseren sie auch ‚Gutheit‘ nennen. Ich glaube folglich, dass hier mit: „Du hast Lieblichkeit geschaffen mit deinem Sklaven,“ nichts anderes gemeint ist als ‚Du hast bewirkt, dass mich das Gute erfreut‘. Wenn nämlich das Gute erfreut, ist es ein großes Geschenk Gottes. Wenn jedoch das gute Werk, welches das Gesetz befiehlt, aus Furcht vor Strafe, nicht aus Freude (delectatio) über die Gerechtigkeit getan wird, wenn Gott gefürchtet, nicht geliebt wird, wird es sklavisch, nicht frei getan. 490 Die Rede von der ‚Lieblichkeit‘ (suavitas) bzw. der ‚Freude‘ (delectatio) zeigt an, dass Augustinus in diesem Passus von praktischen Vorstellungen handelt, deren suggestiones eines dieser praktischen Prädikate enthalten. Gott gibt dem Men‐ schen also in seinem Gnadenhandeln eine praktische Vorstellung ein, welche die Gutheit einer tugendhaften Handlung als ‚lieblich‘, d. h. attraktiv erscheinen 410 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 491 Vgl. Byers (2013), 185; siehe dazu auch: Drecoll (1999), 100: „Der Prozeß des Wieder‐ hergestelltwerdens beruht auf der gratia dei, die dem rationalen Teil der Seele, der mens, und der […] bona voluntas unterstützend zu Hilfe kommt.“ 492 Vgl. ebd. 493 Vgl. Aug.Spir. et litt. 60: Propterea etiam voluntas, qua credimus, dono dei tribuitur, quia de libero exsistit arbitrio, quod cum crearemur accepimus, adtendat et videat non ideo tantum istam voluntatem divino muneri tribuendam, quia ex libero arbitrio est, quod nobis naturaliter concreatum est, verum etiam quod visorum suasionibus agit deus, ut velimus et ut credamus, sive extrinsecus per evangelicas exhortationes, ubi et mandata legis aliquid agunt, si ad hoc admonent hominem infirmitatis suae, ut ad gratiam iustificantem cre‐ dendo confugiat, sive intrinsecus, ubi nemo habet in potesta te quid ei veniat in mentem, sed consentire vel dissentire propriae voluntatis est. His ergo modis quando deus agit cum anima rationali, ut ei credat - neque enim credere potest quodlibet libero arbitrio, si nulla sit suasio vel vocatio cui credat -, profecto et ipsum velle credere deus operatur in homine et in omnibus misericordia eius praevenit nos, consentire autem vocationi dei vel ab ea lässt, um ihn zu einem entsprechenden Handeln zu motivieren. Dass das Gute erfreut, ist also eine Gnadengabe - ein Geschenk - Gottes. Dies ist die Voraus‐ setzung dafür, dass die tugendhafte Handlung um des Guten willen geschieht. Nur eine solche Handlung, die aus dem Motiv heraus getan wird, dass sie gut und tugendhaft ist, gilt als wahrhaft gute Handlung. Doch der Mensch allein kann sein Handeln aufgrund des Sündenfalls nicht von diesem Motiv bestimmen lassen. Er bedarf der Hilfe Gottes. Eine Handlung, die zwar äußerlich wie eine sittlich richtige Handlung aussieht, jedoch aus Furcht vor Strafe geschieht, ist für Augustinus keine sittlich richtige bzw. tu‐ gendhafte Handlung. Die göttliche Gnade verhilft dem Menschen somit zur richtigen Erkenntnis des ordo bonorum, wodurch er wieder in das rechte Ver‐ hältnis zu Gott treten und nach dem Genuß Gottes als dem summum bonum streben kann. 491 Durch die von der Gnade ermöglichte Erkenntnis der Attrakti‐ vität des Guten wird das richtige Letztziel allen menschlichen Handelns - die beatitudo bzw. die fruitio dei - wieder in die menschliche Seele eingeführt und der ordo amoris mit dem ordo bonorum in Übereinstimmung gebracht, so dass tugendhaftes Handeln für den Menschen wieder möglich wird. 492 Die göttlich vermittelte Vorstellung der Attraktivität der Tugend verursacht also im Men‐ schen eine innere Veränderung seiner Wahrnehmungs- und Motivations‐ struktur, so dass dieser von nun an die Attraktivität tugendhafter Handlungen erkennen und durch Vorstellungen, welche solche Handlungen präsentieren, zu einem entsprechenden Handeln motiviert werden kann. Im Gegensatz zu Augustinus bestritten die Pelagianer die Notwendigkeit göttlich vermittelter praktischer Vorstellungen, um den Menschen zu guten Handlungen zu motivieren. Ihnen zufolge war der Mensch selbst dazu in der Lage, das sittlich Richtige zu tun. 493 Für Augustinus leistet der Mensch nur einen 411 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade dissentire, sicut dixi, propriae voluntatis est; Ep. 145. 8: Delectavit me ista saltem per litteras loqui tecum, quae cum praesente non potui: et hoc non propter te, qui non alta sapiens consentis humilibus, sed propter quosdam qui nimium arrogant humanae voluntati, quam lege data putant ad eam implendam sibi posse sufficere, nulla super doctrinam legis gratia sanctae inspirationis adiutam: per quorum disputationem infirmitati hominum miserae atque indigae suadetur, ut nec orare debeamus ne intremus in tentationem; c.ep.Pel. 1. 37: Vos autem in bono opere sic putatis adiuvari hominem gratia dei, ut in excitanda eius ad ipsum bonum opus voluntate nihil eam credatis operari; 2. 10: Sub nomine, inquiunt, gra‐ tiae ita fatum asserunt, ut dicant, quia nisi deus invito et reluctanti homini inspiraverit boni et ipsius imperfecti cupiditatem, nec a malo declinare nec bonum possit arripere; 2.21 f: Quapropter multa deus facit in homine bona, quae non facit homo, nulla vero facit homo, quae non deus facit ut faciat homo. […] Quid est enim boni cupiditas nisi caritas, de qua Ioannes apostolus sine ambiguitate loquitur dicens: Caritas ex deo est? Nec initium eius ex nobis et perfectio eius ex deo, sed, si caritas ex deo est, tota nobis ex deo est. […] Tunc enim bonum concupisci incipit, quando dulcescere coeperit; […] Ergo benedictio dul‐ cedinis est gratia dei, qua fit in nobis, ut nos delectet et cupiamus, hoc est amemus, quod praecipit nobis. In qua si nos non praevenit deus, non solum non perficitur, sed nec inchoatur ex nobis. Si enim sine illo nihil possumus facere, profecto nec incipere nec perficere […]; 4. 13: Quid eis prodest, quod in laude ipsius liberi arbitrii „Gratiam, dicunt, adiuvare uni‐ uscuiusque bonum propositum“? Hoc sine scrupulo acciperetur catholice dictum, si non in bono proposito meritum ponerent, cui merito iam merces secundum debitum, non se‐ cundum gratiam redderetur, sed intellegerent et confiterentur etiam ipsum bonum propo‐ situm, quod consequens adiuvat gratia, non esse potuisse in homine, si non praecederet gratia. […] Reluctanti enim prius auditus divinae vocationis ipsa dei gratia procuratur ac deinde in illo iam non reluctante studium virtutis accenditur. Verumtamen in omnibus quae quisque agit secundum deum, misericordia eius praevenit eum, quod isti nolunt, quia non esse catholici, sed Pelagiani volunt. Multum enim delectat impietatem superbam, ut etiam id quod cogitur confiteri a domino datum non sibi donatum videatur esse, sed red‐ ditum, ut scilicet filii perditionis, non promissionis ipsi credantur se bonos fecisse et deus iam bonis a se ipsis effectis pro isto eorum opere debitum praemium reddidisse. 494 Vgl. Aug.Gest.Pel. 5: Nam procul dubio plus est agi, quam regi: qui enim regitur, aliquid agit; et ideo regitur, ut recte agat; qui autem agitur, agere aliquid ipse vix intellegitur: et tamen tantum praestat voluntatibus nostris gratia salvatoris, ut non dubitet apostolus dicere: Quotquot spiritu dei aguntur, hi filii sunt dei. Nec aliquid in nobis libera voluntas melius agere potest, quam ut illi se agendam commendet, qui male agere non potest; et hoc cum fecerit, ab illo se ut faceret, adiutam esse non dubitet, cui dicitur in psalmo: Deus meus, misericordia eius praeveniet me; Ep. 194. 9: Possunt quidem dicere remissionem peccatorum esse gratiam, quae nullis praecedentibus meritis datur: quid enim habere boni meriti pos‐ sunt peccatores? Sed nec ipsa remissio peccatorum sine aliquo merito est, si fides hanc impetrat: neque enim nullum est meritum fidei; […] Restat igitur ut ipsam fidem unde omnis iustitia sumit initium, propter quod dicitur ad ecclesiam in cantico canticorum: Venies et pertransies ab initio fidei: restat, inquam, ut ipsam fidem non humano, quod isti extollunt, tribuamus arbitrio, nec ullis praecedentibus meritis, quoniam inde incipiunt bona quaecumque sunt merita, sed gratuitum donum dei esse fateamur, si gratiam veram, kleinen Beitrag zur Ausführung einer richtigen Handlung. Vielmehr wird er auch in seiner Zustimmung zu einer Vorstellung, welche eine sittlich richtige Handlung repräsentiert, durch die göttliche Gnade unterstützt. 494 412 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus id est sine meritis, cogitamus; […] Opera quippe bona fiunt ab homine; fides autem fit in homine, sine qua illa a nullo fiunt homine. 495 Vgl. Aug.Conf. 6.3: Caelibatus tantum eius [sc. Ambrosii] mihi laboriosus videbatur; 6.20: Putabam enim me miserum fore nimis , si feminae privarer amplexibus; 6.22: Cum enim me ille [sc. Alypius] miraretur, quem non parvi penderet, ita haerere visco illius voluptatis, ut me adfirmarem, quotienscumque inde inter nos quaereremus, caelibem vitam nullo modo posse degere […]. Dicebat enim scire se cupere, quidnam esset illud, sine quo vita mea, quae illi sic placebat, non mihi vita, sed poena videretur; 8.17: Da mihi castitatem et continentiam, sed noli modo. 496 Brachtendorf (2005), 175; siehe auch Drecoll (1999), 204: „Die gratia bewirkt also, daß die mens des Menschen stärker als die cupiditas wird und ihr nicht nachgibt […].“ IV.4. 2 Göttlich gewirkte consensio In der Mailänder Gartenszene empfängt auch Augustinus eine göttlich vermit‐ telte praktische Vorstellung. Durch ein erstes Gnadenhandeln Gottes erscheint ihm die Enthaltsamkeit in einem attraktiven Licht. Dies war in seinem früheren Leben nicht der Fall, da sie ihm beschwerlich und mühsam erschienen ist. 495 Jetzt erscheint ihm plötzlich durch die göttlich vermittelte praktische Vorstellung die Tugend der Keuschheit als attraktiv, insofern er ihre dignitas und honestas er‐ kennt und die mit ihr verbundene affektfreie Freude wahrnimmt. Die Wahr‐ nehmung der Attraktivität des tugendhaften Lebens reicht freilich noch nicht aus, ein solches Leben auch zu führen. Das bloße Haben einer Vorstellung ist etwas anderes als die Zustimmung zu ihr, und eine Veränderung der Lebens‐ weise verlangt gerade einen solchen Zustimmungsakt. Der Akteur muss sich also auch zu einem tugendhaften Leben entscheiden, indem er der praktischen Vorstellung, welche ihm ein solches Leben als attraktiv präsentiert, seine Zu‐ stimmung gibt. Diese Zustimmung ist jedoch aufgrund der aus der Erbsünde resultierenden difficultas und der erworbenen consuetudo allein zu schwach, um auch handlungswirksam zu werden. Der Mensch bedarf, um der Vorstellung der Enthaltsamkeit und des tugendhaften Lebens entsprechend handeln zu können, der nachfolgenden und mitwirkenden Gnade Gottes - i.S. der gratia subsequens et cooperans. Diese nachfolgende und mitwirkende Gnade „stärkt den Willen zum Guten so sehr, dass er vermag, wozu er aus sich selbst heraus zu schwach wäre, nämlich den bösen Willen zu überwinden.“ 496 An diesem Punkt stellt sich freilich die Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Freiheit und göttlicher Gnade. Kann sich der Mensch frei zu dem göttlichen Gnadenangebot verhalten? Wie ist die Mitwirkung Gottes in der Zustimmung des Menschen und ihren Auswirkungen genau zu verstehen? In Augustins Überlegungen zur Gnadenlehre lässt sich eine deutliche Ent‐ wicklung hinsichtlich dieser Fragen ausmachen. So sagt er in seiner Schrift De praedestinatione sanctorum explizit, dass er in der Zeit vor Ad Simplicianum der 413 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade 497 Vgl. Aug.Praed.sanct. 7 f: Quo praecipue testimonio etiam ipse convictus sum, cum simi‐ liter errarem, putans fidem qua in deum credimus, non esse donum dei, sed a nobis esse in nobis, et per illam nos impetrare dei dona quibus temperanter et iuste et pie vivamus in hoc saeculo. Neque enim fidem putabam dei gratia praeveniri, ut per illam nobis daretur quod posceremus utiliter; nisi quia credere non possemus, si non praecederet praeconium veritatis: ut autem praedicato nobis evangelio consentiremus, nostrum esse proprium, et nobis ex nobis esse arbitrabar. Quem meum errorem nonnulla opuscula mea satis indicant, ante episcopatum meum scripta. […] „Quod ergo credimus, nostrum est; quod autem bonum operamur, illius est qui credentibus dat spiritum sanctum“, profecto non dicerem, si iam scirem etiam ipsam fidem inter dei munera reperiri, quae dantur in eodem spiritu. Ut‐ rumque ergo nostrum est propter arbitrium voluntatis, et utrumque tamen datum est per spiritum fidei et caritatis. […] Et quod paulo post dixi: „Nostrum est enim credere et velle; illius autem, dare credentibus et volentibus facultatem bene operandi per spiritum sanctum, per quem caritas diffunditur in cordibus nostris“, verum est quidem, sed eadem regula; et utrumque ipsius est, quia ipse praeparat voluntatem; et utrumque nostrum, quia non fit nisi volentibus nobis. […] sed adhuc quaerendum erat, utrum et meritum fidei de miseri‐ cordia dei veniat; id est, utrum ista misericordia ideo tantummodo fiat in homine, quia fidelis est, an etiam facta fuerit, ut fidelis esset. Legimus enim dicente apostolo: „Miseri‐ cordiam consecutus sum, ut fidelis essem.“ Non ait, quia fidelis eram. Fideli ergo datur quidem, sed data est etiam ut esset fidelis. […] In cuius quaestionis solutione laboratum est quidem pro libero arbitrio voluntatis humanae, sed vicit dei gratia; Flasch ( 2 1995), 46 und 61 spricht mit Bezug auf Ad Simplicianum auch von einem „Bruch“ in Augustins Denken, doch ist dies, wie Drecoll (2007), 491 f argumentiert, problematisch und über‐ sieht bereits im Frühwerk zu findende Ansatzpunkte für dieses „neue“ Gnadendenken, so dass er den Begriff der ‚Entwicklungslinie‘ (492) bevorzugt, um die Kontinuitäten und Veränderungen zusammenzusehen. Zur Entwicklung und Entstehung der Gna‐ denlehre Augustins siehe auch: Drecoll (1999); die Kontinuität im Denken Augustins betonen ebenfalls: Lössl (1997, 3 und 146 f; 2010, bes. 315); Harrison (2006); Bonner (2007). 498 Aug.Simpl. 1. 2. 21: Cum ergo nos ea delectant quibus proficiamus ad deum, inspiratur hoc et praebetur gratia dei, non nutu nostro et industria aut operum meritis comparatur, quia ut sit nutus voluntatis, ut sit industria studii, ut sint opera caritate ferventia, ille [sc. deus] tribuit, ille largitur. Überzeugung war, dass der Mensch selbst zustimmen kann, diese Position je‐ doch während der Arbeit an Ad Simplicianum aufgab. 497 Folglich heißt es in dieser Schrift auch: Wenn uns also das erfreut, wodurch wir Gott näherkommen, so wird dies durch die Gnade Gottes eingegeben und gewährt, nicht durch unseren Befehl und unseren Fleiß oder die Verdienste unserer Werke erworben; denn dass es einen Befehl des Willens gibt, dass es Fleiß und Eifer gibt, dass es vor Liebe glühende Werke gibt, das teilt jener [sc. Gott] zu, das schenkt jener. 498 Diese Aussage scheint in die Richtung zu weisen, dass sowohl die praktische Vorstellung, durch welche man tugendhaft handelt und dadurch Gott näher‐ kommt, als auch die Zustimmung des arbitirum voluntatis zu ihr sowie die 414 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 499 Vgl. Aug.Simpl. 1. 2. 13: […], quoniam non potest effectus misericordiae dei esse in hominis potestate, ut frustra ille misereatur, si homo nolit; […]. 500 Vgl. Byers (2013), 189 f; zur Wirkungsgeschichte dieser zwei Gnadenmodelle in der De auxiliis-Kontroverse siehe: Byers (2013), 188-208. Handlungswirksamkeit dieser Zustimmung von Gott geschenkt sind. Dazu passt auch Augustins Bemerkung, dass es nicht in der Macht des Menschen stehen könne, die Gnade Gottes zurückzuweisen. 499 Welcher Raum bleibt hier noch für die menschliche Freiheit? Auf diese Frage finden sich, wie Sarah Byers zu zeigen versucht hat, zwei unterschiedliche Antworten in Augustins Schriften, welche zwei verschiedenen ‚Gnadenmodellen‘ entsprechen: Das ‚Modell der einen Gnade‘ sowie das ‚Modell der zwei Gnaden‘. 500 Das Modell der zwei Gnaden begegnet in Augustins Bericht von seiner Konversion in der Mailänder Gartenszene im achten Buch der Con‐ fessiones. Nachdem Augustinus durch die göttlich vermittelte praktische Vor‐ stellung der Attraktivität der Enthaltsamkeit die erste Gnade erhalten hat, be‐ richtet er wenig später von der Zustimmung zu dieser Vorstellung und der göttlich bewirkten Stärkung und Durchsetzung der neuen voluntas als einer zweiten Gnade i.S. der gratia subsequens et cooperans: Als dann aber ein tiefes Nachdenken mein ganzes Elend aus dem verborgenen Grund meines Herzens hervorzog und vor meinem inneren Auge ausbreitete, da brach ein ungeheurer Sturm in mir los, mit einem Wolkenbruch von Tränen. […] Ich warf mich unter einem Feigenbaum zur Erde, ich weiß nicht, wie. Ich unterdrückte nicht länger meine Tränen. Ströme brachen hervor aus meinen Augen: ein Opfer, das du gern annimmst. Und dann redete ich lange mit dir, nicht genau mit diesen Worten, wohl aber in diesem Sinn: „Und du, Herr, wie lange noch? Wann, Herr, wird dein Zorn ein Ende haben? Vergiss jetzt unsere alten Sünden! “ Denn ich spürte: Nur sie hielten mich auf. Bemitleidenswerte Worte stieß ich aus: „Wie lange noch, wie lange noch, dieses ‚Morgen, ja morgen‘? Warum nicht sofort? Warum soll meine Schande nicht in dieser Stunde enden? “ Dies sagte ich und weinte, bittere Zerknirschung im Herzen. Und da, plötzlich, höre ich die Stimme aus dem Nachbarhaus, wie die eines Kindes, ich weiß nicht, ob eines Jungen oder eines Mädchens, die im Singsang ausruft und oft wieder‐ holt: „Nimm und lies, nimm und lies! “ Sofort änderte sich mein Gesicht, und ich über‐ legte gespannt, ob es etwa ein Kinderspiel gebe, bei dem sie einen solchen Vers trällern; aber ich konnte mich nicht erinnern, das irgendwo gehört zu haben. Ich hemmte den Lauf der Tränen und stand auf, denn ich konnte das nur so deuten, Gott befehle mir ein Buch aufzuschlagen und die Stelle zu lesen, auf die als erste mein Blick fallen werde. […] Deswegen eilte ich erregt zu dem Platz zurück, wo Alypius saß, denn dort hatte ich das Buch mit den Paulusbriefen hingelegt, als ich aufstand. Ich riss es an 415 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade 501 Aug.Conf. 8.28 f: Ubi vero a fundo arcano alta consideratio traxit et congessit totam mi‐ seriam meam in conspectu cordis mei, oborta est procella ingens ferens ingentem imbrem lacrimarum. […] Ego sub quadam fici arbore stravi me nescio quomodo et dimisi habenas lacrimis, et proruperunt flumina oculorum meorum, acceptabile sacrificium tuum, et non quidem his verbis, sed in hac sententia multa dixi tibi: Et tu, domine, usquequo? Usquequo, domine, irasceris in finem? Ne memor fueris iniquitatum nostrarum antiquarum. Sen‐ tiebam enim eis me teneri. Iactabam voces miserabiles: „Quamdiu, quamdiu ‚cras et cras‘? Quare non modo? Quare non hac hora finis turpitudinis meae? “ Dicebam haec et flebam amarissima contritione cordis mei. Et ecce audio vocem de vicina domo cum cantu dicentis et crebro repetentis quasi pueri an puellae, nescio: „Tolle lege, tolle lege.“ Statimque mutato vultu intentissimus cogitare coepi, utrumnam solerent pueri in aliquo genere ludendi can‐ titare tale aliquid, nec occurrebat omnino audisse me uspiam repressoque impetu lacri‐ marum surrexi nihil aliud interpretans divinitus mihi iuberi, nisi ut aperirem codicem et legerem quod primum caput invenissem. […] Itaque concitus redii in eum locum, ubi se‐ debat Alypius: ibi enim posueram codicem apostoli, cum inde surrexeram. Arripui, aperui et legi in silentio capitulum, quo primo coniecti sunt oculi mei: Non in comessationibus et ebrietatibus, non in cubiculis et impudicitiis, non in contentione et aemulatione, sed induite dominum Iesum Christum et carnis providentiam ne feceritis in concupiscentiis. Nec ultra volui legere nec opus erat. Statim quippe cum fine huiusce sententiae quasi luce securitatis infusa cordi meo omnes dubitationis tenebrae diffugerunt. 502 Vgl. Byers (2013), 189: „The account seems to be saying symbolically that the act of consent was authored by God in and through Augustine’s power of consent.“ 503 Vgl. Brachtendorf (2005), 177. mich, schlug es auf und las still für mich den Abschnitt, auf den zuerst mein Auge fiel: Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Unzucht und im Bett, nicht in Streit und Neid, sondern zieht den Herrn Jesus Christus an und sorgt euch nicht um das Fleisch und seine Begierden. Weiter wollte ich nicht lesen; es war nicht nötig. Denn sofort als ich den Satz zu Ende gelesen hatte, strömte das Licht der Gewissheit in mein Herz; jegliche Finsternis des Zweifels war verschwunden. 501 (Übers. Flasch/ Mojsisch) Zu Begin der zitierten Passage schildert Augustinus, wie seine Zustimmung zur Vorstellung der Enthaltsamkeit sich nicht durchsetzen und handlungswirksam werden konnte und er daraufhin in Verzweiflung verfiel. Seine voluntas wird jedoch dadurch gestärkt, dass er gleichsam eine erneute Zustimmung gibt, indem er die Paulusworte liest, welche den Inhalt bzw. den propositionalen Ge‐ halt der Vorstellung der Enthaltsamkeit wiederholen, so dass seine gestärkte voluntas nun handlungswirksam werden kann. Damit scheint Augustinus sym‐ bolisch ausdrücken zu wollen, dass der Akt der Zustimmung von Gott in und durch Augustins Zustimmungsvermögen verursacht wurde. 502 Der Akt der Zu‐ stimmung wird zwar von Augustinus vollzogen, aber durch Gottes Gnade aus‐ gelöst. 503 Die Gnade, welche im Akt der Zustimmung wirksam ist, kann als kompatibel mit der Freiheit des Menschen betrachtet werden, da Gott in ihr den Menschen 416 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 504 Vgl. Aug. Lib.arb. 3.7 f: AUG. Non ergo voluntate, sed necessitate in te fiet beatitudo tua deo faciente. EV. Voluntas illius mihi est necessitas. AUG. Tu itaque invitus beatus eris. EV. Mihi si esset potestas ut essem beatus, iam profecto essem. Volo etiam nunc et non sum, quia non ego sed ille me beatum facit. AUG. […] sed dico, cum futurus es beatus non te invitum, sed volentem futurum. Cum igitur praescius sit deus futurae beatitudinis tuae - nec aliter aliquid fieri possit quam ille praescivit, alioquin nulla praescientia est -, non tamen ex eo cogimur sentire, quod absurdissimum est et longe a veritate seclusum, non te volentem beatum futurum; S. 26.3: Hoc modo ergo ostendere voluit deus homini quid valeat liberum arbitrium sine deo. O malum liberum arbitrium sine deo! Experti sumus quid valet sine deo. […] Ecce bonus factus est homo, et per liberum arbitrium factus est malus homo. Quando facturus est bonum hominem malus homo per liberum arbitrium deserens deum? Servare se non potuit bonus bonum, et facturus est se malus bonum? Cum esset bonus, non se servavit bonum, et cum sit malus dicit: Facio me bonum! Quid facis malus, qui peristi bonus, nisi te reficiat qui permanet bonus? ; Ep. 157.7: Sicut isti Christum insana superbia quodammodo caedunt, cuius gratiae tam benignum adiutorium ad faciendam iustitiam dato legis praecepto necessarium non esse contendunt. Desinant ergo sic insanire, et ad hoc se intellegant habere, quantum possunt, liberum arbitrium, non ut superba voluntate re‐ spuant adiutorium, sed ut pia voluntate invocent dominum; 157.10: Neque enim voluntatis arbitrium ideo tollitur, quia iuvatur; sed ideo iuvatur, quia non tollitur. Qui enim deo dicit: Adiutor meus esto, confitetur se velle implere quod iussit, sed ab eo qui iussit, adiutorium poscere ut possit. Sic et iste cum sciret neminem esse posse continentem, nisi deus det, adiit dominum et deprecatus est: utique volens adiit, volens deprecatus est, nec petiisset nisi esset voluntas; 194.3: Quod enim putant auferri sibi liberum arbitrium, si nec ipsam bonam voluntatem sine adiutorio dei hominem habere consenserint, non intellegunt non se firmare humanum arbitrium, sed inflare, ut per inania feratur, non in domino tamquam in petra stabili collocetur: paratur enim voluntas a domino; Gr. et lib.arb. 31: Ne autem putetur, nihil ibi facere ipsos homines per liberum arbitrium, ideo in psalmo dicitur: Nolite obdurare corda vestra. […] Semper est autem in nobis voluntas libera, sed non semper est bona. Aut enim a iustitia libera est, quando servit peccato, et tunc est mala; aut a peccato libera est, quando servit iustitiae, et tunc est bona. Gratia vero dei semper est bona, et per hanc fit ut sit homo bonae voluntatis, qui prius fuit voluntatis malae. Per hanc etiam fit ut ipsa bona voluntas, quae iam esse coepit, augeatur, et tam magna fiat, ut possit implere divina man‐ data quae voluerit, cum valde perfecteque voluerit. Ad hoc enim valet quod scriptum est: Si volueris, servabis mandata: ut homo qui voluerit et non potuerit, nondum se plene velle cognoscat, et oret ut habeat tantam voluntatem, quanta sufficit ad implenda mandata; Corrept. 2: Liberum itaque arbitrium et ad malum et ad bonum faciendum confitendum est nos habere, sed in malo faciendo liber est quisque iustitiae servusque peccati, in bono autem liber esse nullus potest, nisi fuerit liberatus ab eo qui dixit: Si vos filius liberaverit, tunc vere liberi eritis. Nec ita ut, cum quisque fuerit a peccati dominatione liberatus, iam non indigeat sui liberatoris auxilio, sed ita potius, ut ab illo audiens: Sine me nihil potestis facere, dicat ei et ipse: Adiutor meus esto, ne derelinquas me; 17: Ecce quemadmodum secundum gratiam dei, non contra eam, libertas defenditur voluntatis. Voluntas quippe humana non libertate consequitur gratiam, sed gratia potius libertatem, et ut perseveret delectabilem perpetuitatem, et insuperabilem fortitudinem; 32: Tunc ergo dederat homini deus bonam voluntatem: in illa quippe eum fecerat qui fecerat rectum; dederat adiutorium, in Übereinstimmung mit seiner Natur auf sein Letztziel - die beatitudo - hin bewegt. 504 Somit ist die Gnade der Zustimmung nichts, was dem Akteur gegen 417 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade sine quo in ea non posset permanere si vellet; ut autem vellet, in eius libero reliquit arbitrio. Posset ergo permanere si vellet: quia non deerat adiutorium per quod posset, et sine quo non posset perseveranter bonum tenere quod vellet. Sed quia noluit permanere, profecto eius culpa est, cuius meritum fuisset, si permanere voluisset. […] Fit quippe in nobis per hanc dei gratiam in bono recipiendo et perseveranter tenendo, non solum posse quod vo‐ lumus, verum etiam velle quod possumus. Quod non fuit in homine primo: unum enim horum in illo fuit, alterum non fuit. Namque ut reciperet bonum, gratia non egebat, quia nondum perdiderat; ut autem in eo permaneret, egebat adiutorio gratiae, sine quo id om‐ nino non posset; et acceperat posse si vellet, sed non habuit velle quod posset: nam si ha‐ buisset, perseverasset. Posset enim perseverare si vellet; quod ut nollet, de libero descendit arbitrio, quod tunc ita liberum erat, ut et bene velle posset et male; 42: Hi vero qui non pertinent ad hunc praedestinatorum numerum, quos dei gratia sive nondum habentes ullum liberum suae voluntatis arbitrium, sive cum arbitrio voluntatis, ideo vere libero, quia per ipsam gratiam liberato, perducit ad regnum. […] aut per liberum arbitrium alia insuper addiderunt: arbitrium, inquam, liberum, sed non liberatum, liberum iustitiae, peccati autem servum, quo volvuntur per diversas noxias cupiditates, alii magis, alii minus, sed omnes mali, et pro ipsa diversitate diversis suppliciis iudicandi. Aut gratiam dei suscipiunt, sed temporales sunt, nec perseverant; deserunt et deseruntur. Dimissi enim sunt libero ar‐ bitrio, non accepto perseverantiae dono, iudicio dei iusto et occulto; siehe dazu auch: Byers (2013), 195. 505 Vgl. Aug.Simpl. 1. 2. 21: Liberum voluntatis arbitrium plurimum valet, immo vero est quidem, sed in venundatis sub peccato quid valet? 506 Vgl. Brachtendorf (2005), 176; siehe auch Drecoll (1999), 221: „Gratia wird als Voraus‐ setzung für ein gerechtes Leben verstanden, das gerechte Leben erscheint dann aber als eigenständiges Handeln des Menschen.“ seinen Willen auferlegt wird, sondern sie befreit vielmehr den Willen aus der Knechtschaft der Sünde und hilft dem Akteur sein wahres Strebensziel zu er‐ reichen. 505 Die göttliche Gnade wird wegen des Entschlusses des Menschen zum Guten zugeteilt - als gratia subsequens et cooperans. Gott besitzt zwar aufgrund seiner Vorsehung ein Wissen darüber, wie der Mensch sich entscheiden wird, aber er bestimmt diese Entscheidung nicht. Aufgrund der Entscheidung des Menschen zum Wollen des Guten erhält er die nachfolgende und mitwirkende Gnade Gottes, die bei der Durchsetzung des menschlichen Willensentschlusses für das Gute mitwirkt, so dass der Mensch das Gute auch tun kann. 506 Das Modell der zwei Gnaden lässt dem Akteur zwischen der göttlich vermit‐ telten Vorstellung und der Zustimmung einen Korridor, innerhalb dessen sich der Akteur zur erhaltenen Vorstellung verhalten kann. Er kann ihr entweder seine Zustimmung geben oder verweigern. Auch für Augustinus existiert in Confessiones VIII dieser Korridor. Er empfängt die göttlich vermittelte Vorstel‐ lung der Enthaltsamkeit, gibt dieser aber weder sogleich seine Zustimmung, noch verweigert er sie ihr unmittelbar, sondern er beginnt über die Vorstellung nachzudenken und erkennt den Kontrast, der zwischen dem von ihr präsen‐ tierten Leben und seinem früheren Lebenswandel besteht, was ihn in große 418 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 507 Dieser Vorgang wird von Augustinus in Trin. 12.18 beschrieben: Nec sane, cum sola cogitatione mens oblectatur illicitis, non quidem decernens esse facienda, tenens tamen et volvens libenter quae statim ut attigerunt animum respui debuerunt, negandum est esse peccatum, sed longe minus quam si et opere statuatur impl endum; siehe auch: Aug.S. 57.11: Sed vidit mulierem ad concupiscendum, cogitavit aliquid delectabilius quam debuit; accepit pugnam, etiam optimus proeliator percussus est: sed non consensit, reper‐ cussit motum lascivum, doloris amaritudine castigavit, repercussit et vicit; 77A.3: Ergo unusquisque tentatur a concupiscentia sua; ideo pugnet, resistat, non consentiat, non pertrahatur, non eam permittat concipere quod pariat. Ecce blanditur concupiscentia, stimulat, instat, exigit, ut mali aliquid facias; noli consentire, et non concipit. Si libent er cogitaveris, concipit. 508 Vgl. Aug.S. 179.7 f: Ipse videt quo studio audias, quid cogites, quid teneas, quantum pro‐ fici as de supplementis suis, quam instanter ores, quemadmodum depreceris deum ex eo quod non habes, quomodo gratias agas ex eo quod habes; ille novit qui exacturus est. […] Cogitate si pulchrum est audire, quanto magis facere. S i non audis, auditum negligis, nihil aedificas. Si audis et non facis, ruinam aedificas; Aug.En.Ps. 106.2: Hoc confitemini, quoniam suavis est: si gustastis, confitemini. Non potest autem confiteri qui gustare noluit: unde enim dicturus est suave esse quod nescit? Vos autem si gustastis quam suavis est dominus: Confitemini domino, quoniam suavis est: si gustastis aviditate, confessione eruc‐ tate; 106.10: Vive ergo ben e; iam in via positus es, iam audisti quid agere debeas, quid sperare; siehe auch: Byers (2013), 198. 509 Vgl. Aug.En.Ps. 106 . 10: Vive ergo bene; iam in via positus es, iam audisti quid agere debeas, quid sperare. Quid aliud excipit, quoniam conaris et superaris? Sedentes in tenebris et in umbra mortis, compeditos in mendicitate et ferro. Unde hoc, nisi quia tibi tribuebas, quia gratiam dei non agnoscebas, quia consilium domini circa te reprobabas? Nam vide quid Verzweiflung stürzt. Er bricht in Tränen aus, empfindet tiefe Zerknirschung und Reue (contritio) angesichts seiner alten Sünden und ruft Gott um Hilfe an. Au‐ gustinus lehnt also die göttlich vermittelte Vorstellung der Enthaltsamkeit weder direkt ab, indem er ihr seine Zustimmung verweigert, noch vermag er ihr unmittelbar zuzustimmen. Stattdessen denkt er über sie nach, erwägt die Vor- und Nachteile der präsentierten Handlungsoption bzw. Lebensweise und ver‐ gleicht diese mit seinem vorherigen Leben. Er hält also den Inhalt der Vorstel‐ lung fest und betrachtet ihn von verschiedenen Seiten, ohne ihr jedoch seine Zustimmung zu erteilen. 507 An anderer Stelle beschreibt Augustinus dieses Zwischenstadium zwischen dem Empfangen der göttlich vermittelten Vorstellung und der noch ausste‐ henden Zustimmung zu ihr auch als ‚Kosten‘ (gustare) der göttlichen Gnade bzw. als ‚eifriges Hören‘ (studio audire) auf Gott oder als ‚Festhalten‘ (tenere) an seinem Anstoß zu einer bestimmten Handlung. 508 Dieses Nachdenken über die göttlich vermittelte Vorstellung ruft auf seiten des Menschen Reue über sein bisheriges Leben hervor, da er die Diskrepanz zwischen der durch die göttlich vermittelte Vorstellung vor Augen gestellte Lebensweise und seinem alten Le‐ benswandel erkennt. 509 Die erste Gnade stellt also das menschliche Vermögen 419 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade adiungat: Quoniam inamaricaverunt eloquia domini; per superbiam , iustitiam domini nescientes, et suam volentes constituere. Et consilium altissimi exacerbaverunt. Et humi‐ liatum est in laboribus cor eorum. Et nunc pugna contra concupiscentiam. Deo desistente ab adiutorio, laborare potes, vincere non potes. Et cum fueris pressus consuetudine tua prava, humiliabitur cor tuum in laboribus; ut iam corde humiliato discas clamare: Infelix ego homo, quis me liberabit de corpore mortis huius? Humiliatum est ergo in laboribus cor eorum; infirmati sunt, nec fuit qui adiuvaret eos; siehe auch: Aug.c.Iul. 4. 41: Ibi enim vos, ut video, ponere iam coepistis merita gratiam praecedentia, quod est petere, quaerere, pul‐ sare, ut his meritis debita illa reddatur, ac sic gratia inaniter nuncupetur, tamquam gratia nulla praecesserit, et cor tetigerit, ut beatificum bonum peteretur a deo, ut quaereretur deus, ut pulsaretur ad deum, frustraque sit scriptum: Misericordia eius praeveniet me. 510 Vgl. Aug.En.Ps. 50.13: Auditui meo, inquit, dabis exsultationem et laetitiam: gaudebo au‐ diendo te, non loquendo contra te. Peccasti, quid defendis te? Loqui vis: patere, audi, cede divinis vocibus, ne perturberis et amplius vulnereris: commissum est, non defendatur; in confessionem veniat, non in defensionem. […] paratus est deus dare indulgentiam […]; ille paratus est dare, noli opponere obicem d efensionis, sed aperi sinum confessionis. […] Cum autem ipsum aliquid suggerentem et docentem intus audimus, securi sumus, securi gau‐ demus: sub magistro enim sumus, illius gloriam quaerimus, illum doce ntem laudamus: delectat nos veritas eius intus, ubi nemo facit vel audit strepitum: ibi dixit iste esse laetitiam suam et exsultationem suam. 511 Zur engen Verknüpf ung von Reue mit der Anrufung Gottes um Hilfe siehe: Aug.S. 19D (= 130A).8 f: Dominus dabit suavitatem, et terra nostra dabit fructum suum. […] Unde iste fructus, nisi dominus det suavitatem, qua caritas dei diffusa est in cordibus nostris? […] Videtis quia terra nostra, id est cor nostrum, anima nostra, terra nostra non dat fructum suum, nisi deus pluat. Terra mota est. Mota est ad parturiendum et pariendum. […] terra mota est, etenim caeli destillaverunt a facie dei. A deo mota est, nam non moveretur, nisi pluviam voluntariam, ut ibi sequitur. […] pluviam ergo voluntariam segregans deus he‐ reditati suae, et infirmata est. Infirmatur et quae parturit. Terra enim mota est ad partu‐ riendum, nec pareret, nisi praecederet infirmitas. Tu vero perfecisti eam. Quid est infirmata est? De te totum speravit. […] Non ergo de se praesumat, clamet ad dominum infirma: Converte nos, deus sanitat um nostrarum. […] intellexit se a se non posse perfici; 153.10: Ergo ut eius panem, quem laudas, cum suavitate, id est, cum sanitate manduces, dic illi: Ego dixi, domine, miserere mei; sana animam meam, quoniam peccavi tibi; 254.2-4: Tris‐ titia, inquit, secundum deum paenitentiam in salutem impaenitendam operatur. Q ui se‐ cundum deum tristis est, paenitentia tristis est de peccatis suis. Tristitia de iniquitate propria iustitiam parturit. Prius tibi displiceat quod es, ut possis esse quod non es. […] habuimus vitam paenitendam, sed non possumus pervenire ad vitam impaenitendam, nisi per malae vitae paenitentiam. […] Inspexi alium rursus gementem, flentem, orantem. Stercus agnosco, locum quaero. Intendi aurem in orationem eius, et audio dicentem: Ego dixi: domine miserere mei; sana animam meam, quoniam peccavi tibi; En.Ps. 67.13: Egens der Selbstwahrnehmung und -erkenntnis über den sensus interior wieder her, so dass der Mensch in der Lage ist, das zu erkennen, was für ein Wesen seiner Art das wahrhaft Gute ist - nämlich die fruitio dei und der Weg dorthin über ein tugendhaftes Leben. Diese Selbsterkenntnis führt wiederum zum Bekenntnis der eigenen Schuld und Schwäche, 510 welches eng mit der Anrufung Gottes ver‐ bunden ist, dass er ihm zuhilfe komme. 511 420 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus est enim, quoniam infirmatus est, ut perficiatur: agnovit se indigentem, ut repleatur. Haec est illa suavitas de qua alibi dicitur: dominus dabit suavitatem, et terra nostra dabit fructum suum; 67.31: Si autem non est, convertam, sed, convertar in profundum maris, hoc intellegitur dixisse dominum nostrum, quod sua misericordia converteretur etiam in pro‐ fundum maris, ad eos quoque liberandos qui essent etiam desperatissimi peccatores. Quamquam in aliquo graeco invenerim non in profundum, sed in profundis, hoc est ἐν βυθοῖς, quod priorem sensum confirmat, quod etiam ibi deus convertat ad se de profundis clamantes; 74.2-4: Prope est dominus his qui obtriverunt cor: tritura cordis, pietas, humi‐ litas. Qui se conterit, irascitur sibi: se habeat iratum, ut illum habeat propitium; se habeat iudicem, ut illum habeat defensorem. Ergo invocatus deus venit. […] Confitere ergo, et invoca: confitendo enim mundas templum quo veniat invocatus. […] Confessio nos humiles facit, propinqua humilibus, qui recedis ab excelsis. […] Dixi quare ante invocationem praecedit confessio: quia quem invocas, invitas. Venire autem non vult invocatus, si tu fueris elatus: elatus si fueris, confiteri non poteris. […] Et iam confessus est, invocavit: imo confessi sunt, invocaverunt; 114.5: Et nesciebam propinquasse aurem dei mei ori meo, nisi per illos speciosos pedes excitarer, ut invocarem: quis enim eum invocavit, nisi quem ipse prior vocavit? […] Humiliatus sum, et salvum me fecit. Salvum me fecit, quia humiliatus sum: non enim poenalis, sed salutaris dolor est quem secando medicus facit; 137.11: Vide quomodo reges voluit cantare in viis, humiliter portantes dominum, non se extollentes adversus dominum. Nam si se extulerint, quid sequitur? Quoniam excelsus dominus, et humilia respicit. Volunt ergo reges respici? Humiles sint; siehe auch: Brachtendorf (2005), 184. 512 Diese Sequenz findet sich auch in Aug.En.Ps. 106.5-15 wieder: Iam scit quomodo vivere debeat: prius enim in errore erat, et famem veritatis patiebatur; accepit autem iam cibum veritatis, et positus est in via: audit: Vive bene, secundum quod nosti; antea enim non noveras quemadmodum viveres, modo accepisti et nosti. Conatur, non potest; ligatum se sentit, exclamat ad dominum. […] Vive ergo bene; iam in via positus es, iam audisti quid agere debeas, quid sperare. […] Et cum fueris pressus consuetudine tua prava, humiliabitur cor tuum in laboribus; ut iam corde humiliato discas clamare: Infelix ego homo, quis me liberabit de corpore mortis huius? Humiliatum est ergo in laboribus cor eorum; infirmati sunt, nec fuit qui adiuvaret eos. Augustinus empfängt also im Mailänder Garten zunächst eine göttlich ver‐ mittelte Vorstellung, welche ihm ein Leben in Enthaltsamkeit attraktiv er‐ scheinen lässt. Er stimmt dieser Vorstellung weder unmittelbar zu, noch lehnt er sie als unzutreffend ab, indem er ihr seine Zustimmung verweigert. Statdessen denkt er über sie nach und vergleicht seinen früheren Lebenswandel mit dem vor Augen gestellten Leben. Dies stürzt ihn in tiefe Verzweiflung, da er seine Sünden erkennt und Reue über sie empfindet, was zu einem Bekenntnis seiner Sünden vor Gott und einer Anrufung Gottes um Hilfe führt. 512 Die Anrufung Gottes enthält dabei die Bitte um weitere Hilfe, so dass die göttliche Hilfe bei der Zustimmung zur Vorstellung und der Durchsetzung des daraus resultierenden Handlungsimpulses nicht gegen den Willen des Akteurs geschieht und mit seiner Freiheit vereinbar ist. Im Zustand der Verzweiflung und Reue und in 421 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade 513 Vgl. Byers (2013), 202. 514 Zum Verständnis der Tolle-lege-Stimme siehe auch: Drecoll (1999), 322 f. 515 Vgl. Aug.En.Ps. 1 01. 2.3-7: De coelo ergo respexit dominus, ut audiret gemitum compedi‐ torum, ut solvat filios mortificatorum. […] Ipse quidem voce de sepulcro suscitavit, ipse clamando animam reddidit […]. Fit hoc in corde poenitentis: cum audis hominem poenitere peccatorum suorum, iam revixit; cum audis hominem confitendo proferre conscientiam, iam de sepulcro eductus est, sed nondum solutus est. […] suscitari autem ipse mortuus nonnisi intus clamante domino potest; haec enim deus interius agit. […] Quid est, respondit ei? Non contempsit vocantem. Quid est, respondit ei? Ille pluit, illa fructum dedit. Respondit ei, sed ubi? In v ia fortitudinis suae. Numquid in se? Nam quid esset in se, aut quam vocem haberet in se, de se, nisi solam vocem peccati, vocem iniquitatis? Excute vocem ipsius, quid invenis nisi ut multum: Ego dixi: Domine, miserere mei; sana animam meam, quia peccavi tibi? Porro, si iustificata est, respondit ei, non ex meritis suis, sed ex manibus ipsius. 516 Vgl. Aug.Lib.arb. 3.53: Cum vero ubique sit praesens qui multis modis per creaturam sibi domino servientem aversum vocet doceat credentem consoletur sperantem diligentem ad‐ hortetur conantem adiuvet exaudiat deprecantem, non tibi deputatur ad culpam quod in‐ vitus ignoras, sed quod neglegis quaerere quod ignoras, neque illud quod vulnerata membra non colligis, sed quod volentem sanare contemnis; ista tua propria peccata sunt. Nulli enim homi ni ablatum est scire utiliter quaeri quod inutiliter ignoratur, et humiliter confitendam esse imbecillitatem, ut quaerenti et confitenti ille subveniat qui nec errat dum subvenit nec laborat; En.Ps. 145.2: Spem qua se erexit, in confessione constituit, quasi diceret ei anima sua, quae illum tristitia conturbabat: Quid mihi dicis: Spera in dominum? Revocat me conscientia peccatorum; ego novi quae commisi, et dicis: Spera in dominum? Commisisti, verum est: unde tamen speras? Quoniam confitebor illi. Sicut odit deus peccata sua defen‐ dentem, sic sublevat confitentem; S. 270.6: Quia ergo spiritus sanctus ex multis in unum colligit nos, capitur autem per humilitatem, repellitur per superbiam. Aqua est enim cor humile tamquam locum concavum quaerens, ubi consistat; elatione autem superbiae, tamquam tumore collis, repulsa labitur: unde dictum est: Deus superbis resistit, humilibus autem dat gratiam. Quid est, dat gratiam? Dat spiritum sanctum. Implet humiles, quia capaces invenit; 279.6: Quid miramur magnum habitare in angusto? Magis in minimis der Erkenntnis der eigenen Ohnmacht und Schwäche gibt man Gott die umfas‐ sende Erlaubnis zur Rettung aus der gegenwärtigen Lage. 513 Augustins Anrufung wird von Gott erhört. Er empfängt eine weitere moti‐ vierende Vorstellung in Form einer Kinderstimme aus dem Nachbarhaus, welche ihm befiehlt, in der Schrift zu lesen. 514 Diese Lektüre bewirkt schließlich die Zustimmung zur göttlich vermittelten Vorstellung der Enthaltsamkeit und die Durchsetzung des daraus resultierenden Handlungsimpulses. Eine zweite Gnade - i.S. der gratia subsequens et cooperans - ist folglich nötig, um Augustins Zustimmung zur Vorstellung der Enthaltsamkeit zur Durchsetzung und zur Handlungswirksamkeit zu verhelfen. Die Bekehrung ist dabei das Werk Gottes. Sie ist keine ausschließliche Leistung des Menschen, sondern Geschenk Gottes (anima si iustificata est, respondit ei, non ex meritis suis, sed ex manibus ipsius). 515 Gott schenkt denen eine zusätzliche Gnade, die sich erniedrigen und ihre Sünden vor ihm bekennen, während er sie denen verweigert, die dies nicht tun. 516 Auch 422 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus habitat. Audi illum dicentem: Super quem requiescet spiritus meus? Super humilem, et quietum, et trementem verba mea. Ideo altus habitat in humili, ut humilem exaltet. Ex‐ celsus enim est dominus, et humilia respicit; excelsa autem a longe cognoscit. Humilia te, et propinquabit tibi: extolle te, et recedet a te; siehe dazu auch: Drecoll (1999), 221: „Die gratia ist dabei Sache des Berufenden, Sache desjenigen, der die gratia annimmt, sind die opera bona, die durch die gratia hervorgebracht werden, sie aber nicht selbst her‐ vorbringen […].“ 517 Vgl. Aug.Conf. 8. 13: Et de vinculo quidem desiderii concubitus, quo artissimo tenebar, et saecularium negotiorum servitute quemadmodum me exemeris, narrabo et confitebor no‐ mini tuo, domine, adiutor meus et redemptor meus. 518 Vgl. Rist (1994), 134. 519 Vgl. Aug.Div.qu. 68.5: Quia etiamsi levioribus quisque peccatis, aut certe quamvis gravi‐ oribus et multis, tamen magno gemitu et dolore paenitendi misericordia dei dignus fuerit, non ipsius est qui si relinqueretur interiret, sed miserentis dei qui eius precibus dolorique subvenit. […] Et quoniam nec velle quisquam potest nisi admonitus et vocatus, sive intrinsecus ubi nullus hominum vide t, sive extrinsecus per sermonem sonantem aut aliqua signa visibilia, efficitur ut etiam ipsum velle deus operetur in nobis. […] Vocatio ergo ante meritum voluntatem operatur; Retr. 1.26: Ubi dixi: Quia etiamsi levioribus quisque pec‐ catis, aut certe quamvis gravioribus et multis, tamen magno gemitu et dolore paenitendi misericordia dei dignus fuerit, non ipsius est, qui si relinqueretur interiret, sed miserentis dei, qui eius precibus doloribusque subvenit. Parum est enim velle, nisi deus misereatur, sed deus non miseretur, qui ad pacem vocat, nisi voluntas praecesserit ad pacem. Hoc dictum est post paenitentiam. Nam est misericordia dei etiam ipsam praeveniens voluntatem, quae (1) (2) (3) retrospektiv weist Augustinus seine Bekehrung nicht seinem eigenen Handeln, sondern der göttlichen Intervention zu, welche ihn im Mailänder Garten durch praktische Vorstellungen zu einem tugendhaften und gottgefälligen Leben be‐ kehrt hat. 517 Wichtig ist dabei zu verstehen, dass die göttliche Gnade die mensch‐ liche Natur und ihre einzelnen Vermögen begleitet und unterfängt, wobei die natürlichen Vermögen des Menschen - z. B. das Vorstellungs-, Entscheidungs- oder Zustimmungsvermögen - dadurch nicht zerstört, sondern vollendet werden. 518 Das Vorstellungsvermögen wird wieder in die Lage versetzt, das sitt‐ lich Gute als attraktiv zu erkennen. Der Mensch kann sich dank der göttlichen Gnade wieder für das Gute entscheiden, und seiner Zustimmung und dem da‐ raus resultierenden Handlungsimpuls in Form der voluntas wird durch die Gnade zur Durchsetzung und Handlungswirksamkeit verholfen. Es ergibt sich folglich ein Dreischritt innerhalb des Modells der zwei Gnaden: die durch die göttliche Gnade vermittelte Vorstellung; das Nachdenken über die Vorstellung verbunden mit Reue über die eigenen Sünden und der Anrufung Gottes um Hilfe; die Zustimmung des Menschen und die Durchsetzung des daraus resul‐ tierenden Handlungsimpulses durch die göttliche Gnade - i.S. der gratia subsequens et cooperans. 519 423 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade si non esset, non praepararetur voluntas a domino. Ad eam misericordiam pertinet et ipsa vocatio , quae etiam fidem praevenit. 520 Vgl. Byers (2013), 204 mit Anm. 139 sowie 211 Anm. 171; siehe dazu auch: Drecoll (1999), 306-313, der dieses Schema auch anhand der Augustins eigener Bekehrung vorausgeh‐ enden Konversionserzählungen des Marius Victorinus sowie der beiden kaiserlichen Beamten in Confessiones VIII aufzeigt. 521 Aug.Ep. 157. 16: Cum autem vocatione divina intellegunt cur sit ingemiscendum, et invo‐ cant eum in quem recte credunt, dicentes: Miserere mei, deus, secundum magnam miseri‐ cordiam tuam; et: Ego dixi: Domine, miserere mei, sana animam meam, quia peccavi tibi; et: In tua iustitia vivifica me; et: Viam iniquitatis amove a me, et de lege tua miserere mei; et: Non veniat mihi pes superbiae, et manus peccatorum non moveat me; et: Itinera mea dirige secundum verbum tuum, et ne dominetur mei omnis iniquitas (A domino enim gressus hominis diriguntur, et viam eius volet); et alia multa, quae propterea scripta sunt, ut nos admonerent, ad implenda ea quae nobis iubentur, ab illo petendum adiutorium a quo iubentur: cum ergo se homo ad illum extenderit, et sic ingemuerit, fiet quod sequitur: Ubi abundavit delictum, superabundavit et gratia; et: Dimittuntur ei peccata multa, quoniam dilexit multum: et diffunditur in corde caritas dei, unde fiat legis plenitudo, non per vires arbitrii quod est in nobis, sed per spiritum sanctum qui datus est nobis. Dieses Schema kann auch, wie Sarah Byers gezeigt hat, in anderen Schriften Augustins nachgewiesen werden: 520 Wenn sie jedoch durch die göttliche Berufung verstehen, warum sie aufseufzen müssen, rufen sie auch den an, an den sie zurecht glauben, indem sie sagen: Sei barm‐ herzig mit mir, mein Gott, gemäß deiner großen Barmherzigkeit; auch ich sagte: „Herr, sei barmherzig mit mir, heile meine Seele, weil ich dir gesündigt habe,“ und: „Belebe mich in deiner Gerechtigkeit,“ und: „Den Weg der Ungerechtigkeit beseitige mir und sei barmherzig mit mir von deinem Gesetz,“ und: „Der Fuß des Hochmuts soll mir nicht kommen und die Hand der Sünder soll mich nicht bewegen,“ und: „Lenke meine Wege nach deinem Wort, und lass kein Unrecht über mich herrschen“ („Vom Herrn nämlich werden die Schritte des Menschen gelenkt, und er will seinen Weg“); und vieles andere, was deswegen geschrieben wurde, damit es uns ermahne, das zu er‐ füllen, was uns befohlen wird, und Hilfe von jenem zu erbitten, von dem befohlen wird. Wenn sich also der Mensch nach jenem ausgestreckt und so aufgeseufzt hat, wird geschehen, was folgt: Wo das Vergehen überfloss, wird auch die Gnade darüber hinaus überfließen; und: Diesem werden viele Sünden vergeben, da er ja viel liebte; und im Herzen breitet sich die Liebe zu Gott aus, woher die Fülle des Gesetzes sich ereignen möge, nicht durch die Kräfte des Willens, welcher in uns ist, sondern durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben ist. 521 Nachdem der Mensch die göttliche Berufung in Form einer göttlich vermittelten Vorstellung empfangen hat, seufzt er auf und empfindet Reue über seine frü‐ heren Sünden. Er ruft Gott um Vergebung seiner Sünden an und bittet ihn, ihn von seinen Lastern zu befreien und auf den Pfad der Tugend zu leiten, um das 424 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 522 Siehe auch: Aug.c.ep.Pel. 2.19 f: Hominis est praeparare cor et a domino responsio linguae, quia homo praeparat cor, non tamen sine adiutorio dei, qui sic tangit cor, ut homo preparet cor. In responsione autem linguae, id est, in eo quod praeparato cordi lingua divina res‐ pondet, nihil operis habet homo, sed totum est a domino deo. […] Quamvis enim nisi adiuvante illo, sine quo nihil possumus facere, os non possumus aperire, tamen nos aperimus illius adiumento et opere nostro, implet autem illud dominus sine opere nostro. […] In sententia ergo illa, ubi dicitur: Aperi os, et adimplebo illud; quasi unum eorum videtur ad hominem pertinere, alterum ad deum, in hac autem, ubi dicitur: Ego aperiam os tuum et instruam te, utrumque ad deum. Quare hoc, nisi quia in uno istorum cooperatur homini facienti, alterum solus facit? 523 Vgl. Aug.Gr. et pecc.or. 1. 20: Facit autem homo arborem bonam, quando dei accipit gra‐ tiam. Non enim se ex malo bonum per se ipsum facit; sed ex illo et per illum et in illo qui semper est bonus: nec tantum ut arbor sit bona, sed etiam ut faciat fructus bonos, eadem gratia necessarium est ut adiuvetur, sine qua boni aliquid facere non potest. Ipse quippe in bonis arboribus cooperatur fructum, qui et forinsecus rigat atque excolit per quemlibet ministrum, et per se dat intrinsecus incrementum; 1. 26: Non propter illorum trium unum, id est, propter possibilitatem bonae voluntatis atque operis, sed etiam propter voluntatem atque operationem bonam erga nos gratia dei praedicanda est. […] Non solum enim deus posse nostrum donavit atque adiuvat, sed etiam velle et operari operatur in nobis. Non quia nos non volumus, aut nos non agimus, sed quia sine ipsius adiutorio nec volumus aliquid boni, nec agimus. […] profecto ut agant quod bonum est, ab illo aguntur qui bonus est; Ep. 194. 16: Adiutorium igitur spiritus sancti sic expressum est, ut ipse facere diceretur quod ut faciamus facit; c.ep.Pel. 2. 22: Hominis autem propositum bonum adiuvat quidem sub‐ sequens gratia, sed nec ipsum esset nisi praecederet gratia. Studium quoque hominis, quod dicitur bonum, quamvis, cum esse coeperit, adiuvetur gratia, non tamen incipit sine gratia, sed ab illo inspiratur, de quo dicit apostolus: Gratias autem deo, qui dedit idem studium pro vobis in corde Titi; Gr. et lib.arb. 17. 33: Et quis istam etsi parvam dare coeperat cari‐ tatem, nisi ille qui praeparat voluntatem, et cooperando perficit, quod operando incipit? Quoniam ipse ut velimus operatur incipiens, qui volentibus cooperatur perficiens. […] Ut ergo velimus, sine nobis operatur; cum autem volumus, et sic volumus ut faciamus, no‐ biscum cooperatur: tamen sine illo vel operante ut velimus, vel cooperante cum volumus, ad bona pietatis opera nihil valemus. De operante illo ut velimus, dictum est: Deus est enim qui operatur in vobis et velle. De cooperante autem cum iam volumus et volendo facimus: moralische Gesetz erfüllen zu können. Durch dieses Bekenntnis seiner eigenen Schuld und seines Unvermögens, das Moralgesetz aus eigener Kraft erfüllen zu können, erhält der Mensch die nachfolgende und mitwirkende Gnade Gottes, durch die ihm seine Sünden vergeben werden und sich die Liebe zu Gott in seinem Herzen ausbreitet, so dass sein ordo amoris in Übereinstimmung mit dem ordo bonorum gebracht wird und er das Moralgesetz erfüllen kann. Dies vermag der Mensch jedoch nicht allein aus seinem eigenen Willen heraus, sondern auf‐ grund der nachfolgenden und mitwirkenden Gnade Gottes - der gratia subse‐ quens et cooperans. 522 Die göttliche Gnade hält auch in der Folge die Motivation zu einem tugend‐ haften Leben aufrecht, damit der Mensch nicht wieder zurück in seine alten consuetudines und Laster verfällt, sondern zu Gott gelangt. 523 „God remains con‐ 425 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade Scimus, inquit, quoniam diligentibus deum omnia cooperatur in bonum; siehe dazu auch: Rist (1994), 130. 524 Byers (2013), 208. 525 Vgl. Rist (1994), 134. 526 Aug.Simpl. 1. 2. 22: Restat ergo ut voluntates eligantur. Sed voluntas ipsa, nisi aliquid oc‐ currerit quod delectet atque invitet animum, moveri nullo modo potest. Hoc autem ut oc‐ currat, non est in hominis potestate. Quid volebat Saulus nisi invadere, trahere, vincire, necare Christianos? Quam rabida voluntas, quam furiosa, quam caeca! Qui tamen una desuper voce prostratus occurrente utique tali viso, quo mens illa et voluntas refracta saevitia retorqueretur et corrigeretur ad fidem, repente ex evangelii mirabili persecutore mi‐ rabilior praedicator effectus est. tinuously active in a person for as long as a morally good act continues“ 524 . Die Gnade Gottes stellt damit die Freiheit des Menschen wieder her, wobei sie seine natürlichen Fähigkeiten nicht zerstört, sondern vollendet. 525 Diesem Freiheit wiederherstellenden und bewahrenden Modell der Wirk‐ samkeit der göttlichen Gnade steht das Modell der einen Gnade gegenüber. Es findet sich in Augustins Überlegungen zur Wirkweise der Gnade insbesondere in der Schrift Ad Simplicianum. Neben der oben bereits zitierten Passage, in welcher die Zustimmung zu einer göttlich vermittelten praktischen Vorstellung in unmittelbaren Zusammenhang mit der Gnade Gottes gebracht wird, ist vor allem der folgende Passus in diesem Kontext anzuführen: Es bleibt also übrig, dass die Willen erwählt werden. Aber der Wille selbst kann auf keine Weise bewegt werden, wenn ihm nicht etwas begegnet, was die Seele erfreut und einlädt. Dass es ihm aber begegnet, liegt nicht in der Macht des Menschen. Was wollte Saulus anderes als die Christen überfallen, wegschleppen, fesseln und töten? Welch wilder Wille, wie rasend, wie blind! Er wurde dennoch durch eine einzige Stimme von oben zu Boden geworfen, als ihn eine solche Vorstellung traf, dass sein von Raserei gebrochener Verstand und Wille geändert und zum Glauben hin gebessert wurden. Auf diese Weise wurde er plötzlich aus einem außerordentlichen Verfolger zu einem noch außerordentlicheren Verkünder des Evangeliums. 526 (Übers. Schäfer mit Modifikationen) In den Überlegungen zur Wirkung der Gnade in Ad Simplicianum finden sich keine Hinweise auf eine zweite Gnade, welche nach der ersten Gnade in der Vermittlung der praktischen Vorstellung wirksam wird, um die Zustimmung des Akteurs zu erzeugen. Vielmehr ist in der zitierten Passage nur von ‚einer ein‐ zigen Stimme von oben‘ (una desuper voce) die Rede, welche die Bekehrung bewirkt. Der Glaube selbst wird hier zu einem donum dei, wobei „der willentliche Glaubensentscheid von der vocatio […] nicht nur ausgelöst, sondern tatsächlich bewirkt wird.“ 527 Gott vermittelt hier - i.S. der gratia praeveniens et operans - 426 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 527 Drecoll (1999), 230. 528 Siehe dazu oben: S. 203 Anm. 525. 529 Vgl. Byers (2013), 189 f. 530 Vgl. ebd; siehe auch: Burns (1980), 43 f; Drecoll (1999), 247: „Gnade und freie Glaubens‐ entscheidung werden in Simpl.I,2 nicht durch das Konzept der vocatio congrua miteinander vereinbart, vielmehr wird auch die Glaubensentscheidung als unverdiente Gabe Gottes angesehen.“ 531 Drecoll (1999), 230. 532 Aug.Praed.sanct. 2. 4: repente est ad illam [sc. fidem] gratia potentiore conversus; zur Bekehrung des Paulus durch eine ‚plötzliche und wundersame Gnade‘ siehe auch: Aug.c.ep.Pel. 1. 37: Dic mihi, obsecro, quid boni Paulus adhuc Saulus volebat ac non potius magna mala, quando spirans caedem pergebat ad vastandos horrenda mentis caecitate ac furore Christianos? Quibus meritis bonae voluntatis deus illum ab his malis ad bona mi‐ rabili et repentina vocatione convertit? […] quam multi inimici Christi quotidie subito dei occulta gratia trahuntur ad Christum! […] Nemo potest venire ad me, nisi pater, qui misit me, traxerit eum! Non enim ait: duxerit, ut illic aliquo modo intellegamus praecedere vo‐ luntatem. Quis trahitur, si iam volebat? Et tamen nemo venit, nisi velit. Trahitur ergo miris modis, ut velit, ab illo, qui novit intus in ipsis hominum cordibus operari, non ut homines, quod fieri non potest, nolentes credant, sed ut volentes ex nolentibus fiant. zugleich die praktische Vorstellung sowie die Zustimmung zu ihr und sorgt dafür, dass sie auch handlungswirksam wird, ohne dass eine Zeit dazwischen‐ läge oder dass Paulus die Möglichkeit hätte, die Vorstellung inzwischen abzu‐ lehnen und ihr seine Zustimmung zu verweigern. Augustinus scheint zu impli‐ zieren, dass die göttlich vermittelte Vorstellung selbstevident sei - ähnlich der stoischen φαντασία καταλεπτική 528 - und dass deswegen das Haben der Vor‐ stellung notwendig die Anerkennung ihrer Wahrheit und damit die Zustim‐ mung zu ihr mit sich bringt, welche dann auch unmittelbar handlungswirksam wird. 529 Sobald man den propositionalen Gehalt der Vorstellung, der auf klare, selbstevidente Weise in der Seele repräsentiert wird, versteht, stimmt man not‐ wendigerweise zu, und Gott verhilft dem daraus resultierenden Handlungsim‐ puls zur Durchsetzung. Die Zustimmung wird in diesem Modell auf andere Weise bewirkt als im Modell der zwei Gnaden, insofern die göttlich vermittelte Vorstellung zugleich die Zustimmung bewirkt. 530 Die Bekehrung des Menschen wird nicht mehr in Abhängigkeit zu seinem Verhalten gesetzt, „ausschlaggebend ist allein die Be‐ rufung, die das velle/ credere (und dann auch das bene operari) bewirkt.“ 531 Auf diese Weise wurde Paulus „plötzlich durch eine mächtigere Gnade zum Glauben bekehrt“ 532 . Im Modell der einen Gnade ist somit eine ‚mächtigere bzw. stärkere Gnade‘ - i.S. der gratia praeveniens et operans - wirksam als im Modell der zwei Gnaden, insofern bereits die gnadenhaft vermittelte göttliche Vorstellung aus‐ reicht, um die Zustimmung des Akteurs zu erzeugen und ihn zum Glauben zu bekehren. 533 427 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade 533 Vgl. Byers (2013), 208: „[T]he only difference between God’s cooperating with us, and God’s doing something alone ‚in‘ us, is the strength of the grace. A merely cooperating grace is a weak grace, but when God does something alone in us, it is an operating or strong grace“; siehe auch: Drecoll (1999), 358: „Nicht nur die Werke, sondern auch der Glaube ist auf die Gnade zurückzuführen, und zwar nicht nur in seiner ethischen Aus‐ richtung, sondern gerade auch in seinem Charakter als willentliche Entscheidung. Es gehört zur Wirkung der Berufungsgnade, daß der Mensch zum Glauben und guten Wollen kommt. Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß der Mensch es nicht in seiner Macht hat, was ihm in den Sinn kommt, und daß alles Gute, was existiert bzw. ihm in den Sinn kommt, auf Gott zurückgeht.“ 534 Drecoll (1999), 230. 535 Vgl. Aug.Simpl. 1. 2. 13: Sed si vocatio ista ita est effectrix bonae voluntatis, ut omnis eam vocatus sequatur, quomodo verum erit: „Multi vocati, pauci electi“? […] Illi enim electi qui congruenter vocati, illi autem qui non congruebant neque contemperabantur vocationi non electi, quia non secuti quamvis vocati; siehe dazu auch: Drecoll (1999), 231: „Daß Gott diejenigen, derer er sich erbarmt, so beruft, daß sie folgen, ist wiederum in dem Wissen Gottes begründet.“ 536 Siehe oben: S. 343-346. 537 Vgl. Aug.Gr. et lib.arb. 28: Ergo spiritus gratiae facit ut habeamus fidem, ut per fidem impetremus orando, ut possimus facere quae iubemur. Ideo ipse apostolus assidue legi praeponit fidem, quoniam quod lex iubet, facere non valemus, nisi per fidem rogando impetremus, ut facere valeamus; 32: Ipsa est enim fides, quae orando impetrat quod lex imperat. […] Certum est enim nos mandata servare, si volumus; sed quia praeparatur voluntas a domino, ab illo petendum est ut tantum velimus, quantum sufficit ut volendo faciamus. Certum est nos velle, cum volumus; sed ille facit ut velimus bonum, de quo dictum est, quod paulo ante posui: Praeparatur voluntas a domino; de quo dictum est: A domino gressus hominis dirigentur, et viam eius volet; de quo dictum est: Deus est qui operatur in vobis et velle. Certum est nos facere, cum facimus; sed ille facit ut faciamus, praebendo vires efficacissimas voluntati, qui dixit: Faciam ut in iustificationibus meis ambuletis, et iudicia mea observetis et faciatis. Cum dicit: faciam ut faciatis, quid aliud dicit, nisi: au- Der Mensch folgt dem Modell der einen Gnade zufolge der Berufung Gottes und hat keine Möglichkeit, sich dieser zu widersetzen, so wie er sich auch keiner anderen selbstevidenten Vorstellung widersetzen kann. „Jeder, der berufen worden ist, befolgt die Berufung.“ 534 Gott scheint sein Gnadenhandeln an die verschiedenen Akteure anzupassen, um ihnen die Gnade zukommen zu lassen, durch welche sie entsprechend ihrer individuellen Eigenschaften zum Glauben bekehrt werden können. 535 Dies ist angesichts der Handlungspsychologie Au‐ gustins, in welche das Gnadenhandeln Gottes eingefügt ist, nur folgerichtig, da dort der individuelle Charakter des Akteurs die Vorstellungen beeinflusst, welche er hat, wie bei der Diskussion der Vorstellung im Rahmen der augusti‐ nischen Handlungspsychologie deutlich wurde. 536 Das Modell der einen Gnade und die Lehre von der gratia praeveniens et ope‐ rans sind das Ergebnis einer Entwicklung im Denken des späten Augustinus. 537 Dahinter dürfte vermutlich Augustins Sorge stehen, dass sich der Mensch die 428 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus feram a vobis cor lapideum, unde non faciebatis, et dabo vobis cor carneum, unde faciatis? Et hoc quid est, nisi: Auferam cor durum, unde non faciebatis, et dabo cor oboediens, unde faciatis? ; Praed.sanct. 4: Et ipsum igitur initium fidei nostrae, ex quo, nisi ex ipso est? Neque enim hoc excepto ex ipso sunt cetera: sed ex ipso, et per ipsum, et in ipso sunt omnia. […] Vobis donatum est pro Christo, non solum ut credatis in eum, verum etiam ut patiamini pro eo. Utrumque ostendit dei donum, quia utrumque dixit esse donatum. Nec ait: Ut plenius et perfectius credatis in eum; sed: ut credatis in eum. Nec se ipsum misericordiam conse‐ cutum dixit, ut fidelior, sed ut fidelis esset, quia sciebat non se initium fidei suae priorem dedisse deo, et retributum sibi ab illo eius augmentum, sed ab eo se factum fidelem, a quo et apostolus factus est. […] Aversus quippe a fide quam vastabat, eique vehementer ad‐ versus, repente est ad illam gratia potentiore conversus: convertente illo cui hoc ipsum facturo per prophetiam dictum est: Tu convertens vivificabis nos: ut non solum ex nolente fieret volens credere, verum etiam ex persecutore persecutionem in eius fidei, quam perse‐ quebatur, defensione pateretur. Donatum quippe illi erat a Christo, non solum ut crederet in eum, verum etiam ut pateretur pro eo; 34: Intellegamus ergo vocationem qua fiunt electi: non qui eliguntur quia crediderunt, sed qui eliguntur ut credant. Hanc enim et dominus ipse satis aperit, ubi dicit: Non vos me elegistis, sed ego elegi vos. […] Unde non ob aliud dicit: Non vos me elegistis, sed ego vos elegi; nisi quia non elegerunt eum ut eligeret eos, sed ut eligerent eum elegit eos, quia misericordia eius praevenit eos secundum gratiam, non secundum debitum; 41: Quid est enim: Orantes simul et pro nobis, ut deus aperiat nobis ostium verbi, nisi apertissima demostratio, etiam ipsum initium fidei esse donum dei? Non enim orando peteretur ab eo, nisi ab ipso tribui crederetur. Hoc donum caelestis gratiae in illam purpurariam descenderat, cui, sicut scriptura dicit in actibus apostolorum: deus ape‐ ruerat sensum eius, et intendebat in ea quae a Paulo dicebantur. Sic enim vocabatur, ut crederet. Agit quippe deus quod vult in cordibus hominum, vel adiuvando, vel iudicando, ut etiam per eos impleatur quod manus eius et consilium praedestinavit fieri; zu dieser Entwicklung siehe: Burns (1980). 538 Vgl. Flasch ( 2 1995), 16 und 32. 539 Vgl. Drecoll (1999), 249 Anm. 246: „An dem Gedanken von Gott als alles bestimmender Größe hängt die Vorstellung, daß der Mensch auch in seinem Wollen von ihn prägenden Einflüssen (äußeren wie inneren) abhängig ist, am Verständnis von Sünde als Defizienz der Gedanke, daß alles Gute von Gott stammt, auch wenn es Objekt des Willens ist.“ 540 Vgl. Aug.Corrept. 31-35. Annahme des göttlichen Gnadenangebotes als eigene moralische Leistung zu‐ schreiben und dem Laster der superbia verfallen könnte. Dies vermeidet Au‐ gustinus dadurch, dass er nun die Annahme des göttlichen Gnadenangebotes und damit den Glauben selbst zu Gnadenwirkungen macht. 538 Zudem dürfte er der Ansicht gewesen sein, dass die Möglichkeit der Zurückweisung der göttli‐ chen Gnade im Modell der zwei Gnaden die göttliche Allwirksamkeit ge‐ fährde. 539 Die göttliche Gnade ist jedoch, wie an Christus deutlich wird, eine sehr mächtige und wirksame Gnade. 540 Daher müsse jedes göttliche Gnadenhan‐ deln - sei es in der Rechtfertigung des Sünders, sei es in der Ausführung guter Werke auf dem Weg zur Vollendung - ein göttliches Wirken durch den Men‐ schen hindurch sein, so dass er den Menschen unfehlbar zu einem bestimmten 429 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade 541 Vgl. Aug.Corrept. 38: Sed in eis etiam, operatur et velle, ut quoniam non perseverabunt, nisi et possint et velint, perseverandi eis et possibilitas et voluntas divinae gratiae largitate donetur. Tantum quippe spiritu sancto accenditur voluntas eorum, ut ideo possint, quia sic volunt; ideo sic velint, quia deus operatur ut velint. […] Subventum est igitur infirmitati voluntatis humanae, ut divina gratia indeclinabiliter et insuperabiliter ageretur; et ideo, quamvis infirma, non tamen deficeret, neque adversitate aliqua vinceretur; Praed.sanct. 22: Omnia autem haec operatur unus atque idem spiritus, dividens propria unicuique prout vult. Inter quae omnia, sicut scitis, nominavit et fidem. Sicut ergo quamvis donum dei sit, facta carnis mortificare, exigitur tamen a nobis proposito praemio vitae: ita donum dei est et fides, quamvis et ipsa cum dicitur: Si credideris, salvus eris, proposito praemio salutis exigatur a nobis. Ideo enim haec et nobis praecipiuntur, et dona dei esse monstrantur, ut intellegatur quod et nos ea facimus, et deus facit ut illa faciamus, sicut per prophetam Ezechielem apertissime dicit. Quid enim apertius, quam ubi dicit: Ego faciam ut faciatis? Locum ipsum scripturae attendite, et videbitis illa deum promittere facturum se ut faciant, quae iubet ut fiant. 542 Vgl. Drecoll (1999), 231: „Es geht Augustin also nicht wie bei den Lösungsmodellen der zeitlichen Vorordnung darum, die freie Willensentscheidung des Menschen zu erhalten, sondern darum, die Wirksamkeit von Gottes Berufungshandeln aufzuzeigen“; siehe dazu auch: Kirwan (1989), 82-128; O’Daly (1989); Wetzel (1992), 197-235; Chappell (1995). Handeln bringe und dieser sich ihm und seinem Willen nicht verweigern könne. 541 Diese Entwicklung im Denken des späten Augustinus führt letztlich zu einem Problem hinsichtlich der Vereinbarkeit der göttlichen Gnade mit der menschli‐ chen Freiheit. 542 Da das Problem der Vereinbarkeit von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit für die Frage, wie und warum der Mensch zum Handeln motiviert ist, von untergeordneter Bedeutung ist, kann es hier bei einigen kurzen Bemerkungen bleiben. Der Mensch kann sich im Modell der einen Gnade nicht mehr frei zum göttlichen Gnadenangebot verhalten, sondern wird von diesem einfach überwältigt. Inwiefern der Mensch dann noch für sein Handeln verant‐ wortlich sein kann, ist eine offene Frage. Dabei war es für Augustinus keines‐ wegs notwendig, seine Gnadenlehre weg vom Modell der zwei Gnaden auf das Modell der einen Gnade hin zu verengen bzw. seine Lehre von der gratia sub‐ sequens et cooperans hin zur gratia praeveniens et operans zu entwickeln. Seine Prämisse, dass Gottes Allwirksamkeit gefährdet sei, wenn er nur in schwacher Weise bei der Zustimmung und der Durchsetzung des daraus resultierenden Handlungsimpulses in der Handlungsgenese mitwirke, ist nicht ohne Weiteres zu akzeptieren. Wenn Gott nur eine gratia subsequens et cooperans schenkt, ist sie nur nachfolgend und mitwirkend, weil Gott dies so wollte, und sie erreicht genau das, was sie nach Gottes Willen erreichen soll. Die göttliche Allwirksam‐ keit ist also keineswegs in Frage gestellt. Gott mag aufgrund seiner Vorsehung 430 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 543 Vgl. Byers (2013), 214. 544 Vgl. Aug.Spir. et litt. 46: Si ergo gentes commemorans naturaliter quae legis sunt facientes et scriptum habentes opus legis in cordibus illos intellegi voluit, qui credunt in Christum, quia non sicut Iudaei praemissa sibi lege veniunt ad fidem, non est cur eos conemur dis‐ cernere ab his quibus dominus per prophetam promittens testamentum novum dixit leges suas se scripturum in cordibus eorum, quia et ipsi per insertionem, quam oleastro prae‐ stitam dicit, ad eamdem oleam, hoc est, ad eumdem dei populum, pertinent, potiusque concordat prophetico etiam hoc apostolicum testimonium, ut hoc sit pertinere ad testa‐ mentum novum legem dei habere non in tabulis, sed in cordibus scriptam, hoc est, intimo affectu iustitiam legis amplecti, ubi fides per dilectionem operatur, quia ex fide iustificat gentes deus […]; siehe auch: Aug.c.Iul. 4. 25: Isti ergo qui naturali lege sunt iusti, aut placent deo, et ex fide placent, quia sine fide impossibile est placere; et ex qua fide placent, nisi ex fide Christi? quoniam sicut legitur in actibus apostolorum: In illo deus definivit fidem omnibus, suscitans eum a mortuis. Ideoque dicuntur sine lege naturaliter quae legis sunt facere, quia ex gentibus venerunt ad evangelium, non ex circumcisione, cui lex data est; et propterea naturaliter, quia ut crederent, ipsa in eis est per dei gratiam correcta natura. gute Gründe haben, warum er in bestimmten Fällen nur eine nachfolgende und mitwirkende, und keine vorhergehende und wirksame Gnade verleiht. 543 Aus diesen Überlegungen zur Notwendigkeit der göttlichen Gnade für das sittlich richtige Handeln des Menschen und ihrer genauen Wirkweise ergibt sich eine weitere Frage für Augustins Theorie sittlich richtigen Handelns und der damit verbundenen Motivation: Können Nicht-Christen, die an der göttlichen Gnade keinen Anteil haben, da ihnen der Glaube fehlt, moralisch richtige Hand‐ lungen ausführen? Dieser Frage soll nun nachgegangen werden, bevor zum Ab‐ schluss dieses Teils der Arbeit die Ergebnisse nocheinmal zusammengeführt und mit den Erkenntnissen der ersten beiden Teile in Verbindung gebracht werden sollen. IV.4. 3 Die Moral der Heiden Wenn Augustinus zufolge der Glaube an Gott und die göttliche Gnade not‐ wendig sind, um das Gute zu tun, stellt sich freilich die Frage, ob Nicht-Christen überhaupt dazu in der Lage sind, moralisch richtige Handlungen auszuführen. Augustinus muss in diesem Zusammenhang die Aussage des Paulus in Röm 2,14 f erklären, wonach die Heiden, die das Gesetz nicht haben, wenn sie von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, sich selbst Gesetz sind und zeigen, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist. Auch die Heiden kennen demnach die grundlegenden moralischen Prinzipien und lassen sich von ihnen leiten. In seiner Diskussion dieser Paulus-Stelle in De spiritu et littera erwähnt Augustinus sowohl Ambrosiasters Interpretation der Passage, der zu‐ folge Paulus mit ‚Heiden‘ nur ‚Heiden-Christen‘ meine, 544 als auch die Ansicht, 431 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade Nec per eos probare quod vis, etiam infideles veras posse habere virtutes: sunt quippe isti fideles; zu Ambrosiaster siehe: Ambrosiast.in Rom. 2.14 f: Cum enim gentes, quae legem non habent, naturaliter quae legis sunt, faciunt. Gentes Christianos dicit, quia magister gentium est, sicut dicit alio loco: Vobis enim dico gentibus, qui incircumcisi neque neome‐ nias neque sabbatum neque escarum legem servant et duce natura credunt in deum et Christum, id est in patrem et in filium. Hoc est enim legem servare, deum legis agnoscere. Prima enim sapientiae pars haec est: timere deum patrem, ex quo sunt omnia, et dominum Iesum filium eius, per quem sunt omnia. Ipsa ergo natura proprio iudicio creatorem suum agnoscit, non per legem, sed per rationem naturae; opus enim opificem cernit in sese. Hi legem non habentes ipsi sibi sunt lex, qui ostendunt opus legis scriptum in cordibus suis. Idem sensus est, quia dum natura duce credunt, opus legis ostendunt non per litteram, sed per conscientiam. 545 Vgl. Aug.Spir. et litt. 48: Si autem hi, qui naturaliter quae legis sunt faciunt, nondum sunt habendi in numero eorum, quos Christi iustificat gratia, sed in eorum potius, quorum etiam impiorum nec deum verum veraciter iusteque colentium quaedam tamen facta vel legimus vel novimus vel audivimus, quae secundum iustitiae regulam non solum vituperare non possumus, verum etiam merito recteque laudamus quamquam si discutiatur, quo fine fiant, vix inveniuntur quae iustitiae debitam laudem defensionemve mereantur. Verum tamen quia non usque adeo in anima humana imago dei terrenorum affectuum labe detrita est, ut nulla in ea velut lineamenta extrema remanserint, unde merito dici possit etiam in ipsa impietate vitae suae facere aliqua legis vel sapere […]. 546 Vgl. Aug.En.Ps. 57. 1: Cui enim iniquo non facile est loqui iustitiam? Aut quis de iustitia interrogatus, quando non habet causam, non facile respondeat quid sit iustum? Quando‐ quidem manu formatoris nostri in ipsis cordibus nostris veritas scripsit: Quod tibi non vis fieri, ne facias alteri. Hoc et antequam lex daretur nemo ignorare permissus est, ut esset unde iudicarentur et quibus lex non esset data. 547 Vgl. Aug.Civ. 15. 2 2: Nam et amor ipse ordinate amandus est, quo bene amatur quod amandum est, ut sit in nobis virtus qua vivitur bene. Unde mihi videtur, quod definitio brevis et vera virtutis ordo est amoris; 14. 7: Recta itaque v oluntas est bonus amor et vo‐ luntas perversa malus amor; siehe dazu auch: Brachtendorf (2012b), 141. dass Paulus hier den Heiden eine Kenntnis des natürlichen Sittengesetzes zu‐ schreibe. 545 Er entscheidet sich jedoch für keine der beiden Interpretationen. Anderswo spricht er jedoch von der Möglichkeit der Erkenntnis des natürlichen Sittengesetzes durch alle Menschen. 546 Damit scheint zumindest die christliche Moral nicht völlig verschieden von der Moral der Heiden zu sein. Es wurde oben darauf hingewiesen, dass für Augustinus die Tugend in der korrekten Ausrichtung des ordo amoris auf das richtige Letztziel des menschli‐ chen Strebens besteht - also in einer Wohlgeordnetheit der Seele. 547 Somit ist es für Augustinus eine Grundvoraussetzung für den tugendhaften Menschen, die richtigen Ziele und Motive zu haben. Wenn die Liebe des Menschen in richtiger Weise auf das korrekte Letztziel seines Strebens ausgerichtet ist und die daraus hervorgehenden Volitionen in rechter Weise damit verbunden sind, ist der Ak‐ teur tugendhaft. 548 Da die Heiden jedoch nicht die richtigen Ziele und Motive haben, besitzen sie notwendigerweise auch keine echten Tugenden. 549 Sind die 432 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 548 Vgl. Aug.Trin. 11.10: Rectae autem sunt voluntates et omnes sibimet religatae si bona est illa quo cunctae referuntur; si autem prava est, pravae sunt omnes. Et ideo rectarum vo‐ luntatum conexio iter est quoddam ascendentium ad beatitudinem quod certis velut pas‐ sibus agitur; pravarum autem atque distortarum voluntatum implicatio vinculum est quo alligabitur qui hoc agit ut proiciatur in tenebras exteriores. 549 Augustinus verwendet diesen Einwand gegen die Vorstellung von ‚Tugenden der Heiden‘ nicht nur gegen die Heiden und Nicht-Christen, sondern auch gegen Manichäer und Pelagianer, da sie zentrale katholische Lehren (z. B. in Bezug auf die Schöpfung, die Sünde, die Gnade oder die Inkarnation) ablehnen; siehe dazu auch: Wang (1938), 65-98. 550 Die Bezeichnung de r Tugenden der Heiden als splendida peccata findet sich so nicht in Augustins Œuvre und dürfte eine Erfindung Pierre Bayles (1697) sein. Mausbach (1909), 259 führt die Iunktur auf Aug.c.Iul. 4. 20 und Retr. 1. 3. 2 zurück. 551 Aug.Civ. 19. 25: Nam licet a quibusdam tunc verae atque honestae putentur esse virtutes, cum referuntur ad se ipsas nec propter aliud expetuntur: etiam tunc inflatae ac superbae sunt, ideo non virtutes, sed vitia iudicanda sunt. Sicut enim non est a carne sed super carnem, quod carnem facit vivere: sic non est ab hominem sed super hominem, quod ho‐ minem facit beate vivere; siehe auch: Aug.Civ. 19. 4: Si enim verae virtutes sunt, quae nisi in eis, quibus vera inest pietas, esse non possunt: […]; c.Iul. 4. 17: Sed absit ut sit in aliquo vera virtus, nisi fuerit iustus. Absit autem ut sit iustus vere, nisi vivat ex fide: Iustus enim ex fide vivit. […] Verum tu in hac causa etsi ad scholam Pythagorae provoces vel Platonis, ubi eruditissimi atque doctissimi viri multo excellentiore ceteris philosophia nobilitati veras virtutes non esse dicebant, nisi quae menti quodam modo imprimuntur a forma illius aeternae immutabilisque substantiae, quod est deus; […] Ac per hoc Christus gratis mortuus est, si homines sine fide Christi ad fidem veram, ad virtutem veram, ad iustitiam veram, ad sapientiam veram, quacumque re alia, quacumque ratione perveniunt. […] Si per na‐ turam voluntatemque iustitia, ergo Christus gratis mortuus est. Si per doctrinas hominum qualiscumque iustitia, ergo Christus gratis mortuus est. […] Porro si veram iustitiam non habent impii; profecto nec alias virtutes comites eius et socias, si quas habent, veras habent: ac per hoc nec continentia sive pudicitia vera virtus est impiorum. Tugenden der Heiden jedoch deswegen ‚glänzende Sünden‘ (splendida pec‐ cata) - eine Bezeichnung, die Augustinus oft fälschlicherweise zugeschrieben wird? 550 Ein solches Verständnis, dem zufolge es ohne den rechten Glauben keine wahren Tugenden geben könne und alle vermeintlichen Tugenden ohne Glauben eigentlich Sünden sind, könnte zumindest folgende Passage aus De ci‐ vitate dei nahelegen: Mögen auch manche sie dann für wahre und rechtschaffene Tugenden halten, wenn sie nicht um irgendeines anderen Gutes willen, sondern nur um ihrer selbst willen angestrebt werden, so sind sie doch auch in diesem Falle aufgeblasen und hochmütig, also nicht als Tugenden, sondern als Laster anzusehen. Denn wie das, was dem Fleisch Leben verleiht, nicht vom Fleisch stammt, sondern höher ist als Fleisch, so ist auch nicht vom Menschen, sondern höher als der Mensch, was dem Menschen das glück‐ selige Leben verleiht. 551 (Übers. Thimme mit Modifikationen) 433 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade 552 Vgl. Aug.c.Iul. 4. 19: Neque enim omnes homines naturali instinctu immortales et beati esse vellemus, nisi esse possemus. Sed hoc summum bonum praestari hominibus non potest, nisi per Christum et hunc crucifixum, cuius morte mors vincitur, cuius vulneribus natura nostra sanatur. […] An placet tibi ut veras virtutes avarorum esse dicamus, cum lucrorum vias prudenter excogitant, cum pro acquirenda pecunia saeva atque aspera multa fortiter tolerant, cum varias cupiditates quibus sumptuose vivitur, temperanter sobrieque casti‐ gant, cum abstinent ab alieno, et de suo saepe amissa contemnunt, quod videtur ad iusti‐ tiam pertinere, ne iurgiis et iudiciis plura consumant? Cum enim agitur aliquid prudenter, fortiter, temperanter, et iuste, omnibus quattuor virtutibus agitur, quae secundum tuam disputationem verae virtutes sunt, si ad cognoscendum utrum verae sint, hoc tantummodo intuendum quod agitur, nec causa quaerenda est cur agatur; 4. 21: Noveris itaque, non officiis, sed finibus a vitiis discernendas esse virtutes. Officium est autem quod faciendum est, finis vero propter quod faciendum est. Cum itaque facit homo aliquid ubi peccare non videtur, si non propter hoc facit propter quod facere debet, peccare convincitur. 553 Vgl. Irwin (2007), 423-425. Die Beobachtung äußerlich richtigen Handelns reicht nicht aus, um ein Urteil über den tugendhaften Charakter des Akteurs zu fällen. Die Tugend verlangt, dass die richtige Handlung aus den richtigen Gründen getan wird, und dies verlangt für Augustinus aufgrund seiner eudämonistischen Ethikkonzeption wiederum, dass die Handlung auf das richtige Letztziel ausgerichtet sein muss. 552 Aufgrund dieses teleologischen Kriteriums können die Tugenden der Heiden keine echten Tugenden sein, da sie nicht über das richtige Letztziel ver‐ fügen. Ist es jedoch tatsächlich der Fall, dass die Heiden nicht das richtige Letztziel haben? Es kommt für die Beantwortung dieser Frage auf das korrekte Ver‐ ständnis dessen an, was es heißt, das richtige Letztziel zu haben. Denn der Aus‐ druck ‚das richtige Letztziel‘ kann auf zweierlei Weise verstanden werden: zum einen als vollkommen richtiges Letztziel; zum anderen als moralisch richtiges Letztziel. 553 Das moralisch richtige Verständnis des Letztziels ist nicht dasselbe wie das vollkommen richtige Verständnis des Letztziels. Diese Unterscheidung zwischen einem vollkommen richtigen und einem moralisch richtigen Ver‐ ständnis des Letztziels ist von Bedeutung, wenn das Letztziel eine Verbindung mehrerer Komponenten ist. Denn hier kann das Verständnis des Letztziels in verschiedenen Graden richtig oder falsch sein. So ist es denkbar, dass das Letzt‐ ziel aus drei Komponenten A, B und C besteht und ein Akteur eine tugendhafte Handlung aufgrund von A ausführt, wobei er A zurecht als Bestandteil des Letztziels ansieht. Sein Verständnis des Letztziels mag jedoch immer noch de‐ fizitär sein, da er der Ansicht sein könnte, dass das Letztziel nur aus A bestehe oder dass es neben A, B und C auch D umfasse, was jedoch nicht der Fall ist. Der Akteur kann in diesem Fall über das moralisch richtige Verständnis des Letztziels verfügen, indem er z. B. den nicht-instrumentellen Wert der Tugend 434 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 554 Vgl. Irwin (2007), 424. 555 Siehe oben: S. 433 Anm. 551. (1) (2) erkennt, der höher ist als der aller äußeren Güter, jedoch nicht über das voll‐ ständig richtige Verständnis des Letztziels. Er handelt nicht aus einem falschen, sondern aus einem richtigen Grund, ist jedoch aufgrund seines fehlerhaften Verständnisses des Letztziels zu kritisieren. Es ergeben sich folglich aus dem unterschiedlichen Verständnis des richtigen Letztziels zwei Varianten des tele‐ ologischen Kriteriums für den Besitz der Tugend: Strenges Kriterium: Ein Akteur ist genau dann im Besitz der Tugend, wenn sein Handeln vom vollkommen richtigen Verständnis des Letztziels geleitet wird. Moderates Kriterium: Ein Akteur ist genau dann im Besitz der Tugend, wenn sein Handeln vom moralisch richtigen Verständnis des Letztziels geleitet wird. Das strenge Kriterium schließt die Heiden klar vom Besitz der Tugend aus, da sie eine falsche Vorstellung vom Letztziel - der fruitio dei - haben. Doch ist dieses Kriterium für den Besitz der Tugend vernünftig? Hat Augustinus ein solch strenges Kriterium vertreten? In unseren Urteilen über tugendhaftes Handeln scheinen wir kein derart strenges Kriterium zu verwenden. Wenn ein Akteur in seinem Handeln von einem nicht-instrumentellen Interesse an der Tugend ge‐ leitet ist, halten wir ihn vernünftigerweise für einen tugendhaften Menschen, selbst wenn er irrtümlicherweise glauben sollte, dass alberne Vergnügungen Teil des Letztziels - der Glückseligkeit - sind. Ein solcher Irrtum muss die richtige Einschätzung des Wesens und Werts der Tugend seitens des Akteurs nicht be‐ einträchtigen, so dass dieser immer noch als tugendhaft gelten kann. 554 Der Ak‐ teur verfügt über ein moralisch richtiges Verständnis des Letztziels, insofern er den nicht-intrumentellen Wert der Tugend erkennt und diese allen äußeren Gütern vorzieht, jedoch nicht über ein vollkommen richtiges Verständnis des Letztziels, da er auch alberne Vergüngungen zu seinen Bestandteilen zählt. Al‐ lerdings scheint das moralisch richtige Verständnis des Letztziels auf Seiten des Akteurs auszureichen, um zu urteilen, dass er tugendhaft ist. Unseren Urteilen über die Tugend scheint damit lediglich das moderate Kriterium für den Besitz der Tugend zugrunde zu liegen. Aber war dies auch Augustins Ansicht? Für Augustinus sind die Tugenden von Menschen, die der Ansicht sind, dass es sich um echte Tugenden handelt, wenn sie nur um ihrer selbst willen und nicht auch um einer anderen Sache willen erstrebt werden, hochmütig und ar‐ rogant und daher eher für Laster als für Tugenden zu halten. 555 Er weist die 435 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade 556 Vgl. Aug.Trin 13 . 11: Nisi forte virtutes, quas propter solam beatitudinem sic amamus, persuadere nobis audent, ut ipsam beatitudinem non amemus. Quod si faciunt, etiam ipsas utique amare desistimus, quando illam propter quam solam istas amavimus, non amamus. 557 Vgl. Aug.Civ. 5. 1 9: […] neminem sine vera pietate, id est veri dei vero cultu, veram posse habere virtutem, nec eam veram esse, quando gloriae servit humanae. […] Tales autem homines virtutes suas, quantascumque in hac vita possunt habere, non tribuunt nisi gratiae dei, quod eas volentibus credentibus petentibus dederit, simulque intellegunt, quantum sibi desit ad perfectionem iustitiae, qualis est in illorum sanctorum angelorum societate, cui se nituntur aptare; siehe dazu auch: Brachtendorf (2012b), 142. 558 Vgl. Aug.Ep. 138 . 1 7: Ut quamdiu inde peregrinamur, feramus eos si corrigere non valemus, qui vitiis impunitis volunt stare rempublicam, quam primi Romani constituerunt auxe‐ runtque virtutibus, etsi non habentes veram pietatem erga deum verum, quae illos etiam in aeternam civitatem posset salubri religione perducere, custodientes tamen quandam sui generis probitatem, quae posset terrenae civitati constituendae, augendae, conservandaeque sufficere. Deus enim sic ostendit in opulentissimo et praeclaro imperio Ro‐ manorum, quantum valerent civiles etiam sine vera religione virtutes, ut intellegeretur hac addita fieri homines cives alterius civitatis, cuius rex veritas, cuius lex caritas, cuius modus aeternitas. Meinung zurück, dass man die Tugenden allein um ihrer selbst willen und nicht auch um der Glückseligkeit willen lieben müsse. Die Folge dieser Überzeugung wäre es - entgegen der eigentlichen Absicht -, dass man aufhörte, die Tugenden zu lieben, da man nicht mehr das lieben würde, worum willen man die Tugenden liebt. 556 Diese selbstwidersprüchliche Position resultiert freilich nicht daraus, dass man die Tugenden um ihrer selbst willen liebt, sondern daraus, dass man sie nur um ihrer selbst willen und nicht auch um der Glückseligkeit willen liebt. Darin ist sich also Augustinus mit den heidnischen Philosophen einig, die der Ansicht waren, dass die Tugenden um ihrer selbst willen und um der Glückse‐ ligkeit willen - bei den Stoikern fällt, wie wir gesehen haben, beides miteinander zusammen - zu lieben seien. Die heidnischen Philosophen haben somit ein teil‐ weise richtiges Verständnis vom Letztziel. Wenn sie folglich aufgrund dieses Tugendverständnisses handeln und gemäß dem moderaten Kriterium für den Besitz der Tugend beurteilt werden, haben sie sowohl Tugenden, insofern sie sich in ihrem Handeln vom moralisch richtigen Verständnis des Letztziels leiten lassen, als auch Laster, insofern sie kein umfassend richtiges Verständnis des Letztziels besitzen, da ihnen der Glaube an Gott fehlt. Sie sind der Überzeugung, dass sie aus sich heraus, sittlich richtige Handlungen ausführen können, und erkennen nicht ihre eigene Schwäche. Daher sind sie hochmütig. 557 Da also auch die Heiden ein moralisch richtiges Verständnis des Letztziels haben können und dieses auch nicht verschwindet, obschon das umfassende Verständnis des Letztziels nicht korrekt ist, 558 können auch sie im Besitz der Tugend sein und moralisch richtige Handlungen ausführen. Der christliche 436 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 559 Siehe oben: S. 432 Anm. 545. 560 Vgl. Aug.S. 349. 2 : Licitam ergo caritatem habete; humana est, sed, ut dixi, licita est. Non solum autem ita licita est, ut concedatur, sed ita licita, ut si defuerit, reprehendatur. Liceat vobis humana caritate diligere coniuges, diligere filios, diligere amicos vestros, diligere cives vestros. 561 Vgl. Aug.Trin. 1 3 . 9: Quorum bonorum habet aliquid iam, idque non parvi aestimandum, eam ipsam scilicet voluntatem bonam, qui de bonis quorum capax est humana natura, non de ullius mali perpetratione vel adeptione gaudere desiderat; et bona, qualia et in hac misera vita esse possunt, prudenti, temperanti, forti, et iusta mente sectatur, et quantum datur assequitur. 562 Vgl. Irwin (2007), 428. 563 Vgl. Aug.Ci v. 1. 15: Merito certe laudant virtutem tam magna infelicitate maiorem; 1. 24: Inter omnes suos laudabiles et virtutis insignibus inlustres viros non proferunt Romani meliorem […]. 564 Aug.Ep.138. 17: […] custodientes […] quandam sui generis probitatem […]. 565 Vgl. Brachtendorf (2012b), 142. Glaube ist damit keine notwendige Bedingung für moralisch richtiges Handeln. Es kann durch andere Gründe wie die Sorge um die Tugend als nicht-instru‐ mentellen Wert motiviert werden. Damit sind die ‚Heiden‘ in Röm 2,14 f nicht auf die Heiden-Christen zu beschränken, sondern zu ihnen gehören auch Nicht-Christen, deren Handlungen Lob verdienen, da sie das moralisch richtige Verständnis, wenn auch nicht das umfassend richtige Verständnis des Letztziels haben. 559 Ihr Handeln stimmt nicht nur äußerlich mit dem tugendhaften Han‐ deln überein, sondern sie sind auch von einem teilweise richtigen Verständnis des Letztziels motiviert. 560 Wenn jemand um der Tugend selbst willen handelt, realisiert er in seinem Leben einen zentralen Bestandteil der Glückseligkeit, da der Besitz der richtigen Ziele selbst Teil der Glückseligkeit ist. 561 Wenn also ein Heide, der im Besitz der Tugend ist, anstrebt, in Übereinstimmung mit der Tu‐ gend zu leben, verfügt er über ein moralisch richtiges Verständnis des Letztziels und besitzt insofern echte Tugenden. 562 Diese Position illustriert Augustinus am Beispiel des Marcus Regulus, der im Krieg gegen die Karthager nach seiner Gefangennahme als Unterhändler nach Rom geschickt wurde, um die Freilassung der karthagischen Gefangenen zu verhandlen, seinen Landsleuten jedoch davon abriet und anschließend nach Karthago zurückkehrte, um seinen Eid zu erfüllen, welchen er vor seiner Ent‐ sendung abgelegt hatte, wo er schließlich hingerichtet wurde. Diese Tapferkeit des Regulus werde Augustinus zufolge zurecht gelobt. 563 Auch die Heiden, die um in moralischer Hinsicht respektabler Ziele willen handeln, „bewahren […] eine gewisse Gutheit eigener Art“ 564 und können im Besitz der Tugend sein. 565 In dem Maße jedoch, wie ihr umfassendes Verständnis des Letztziels falsch ist, da sie der Überzeugung sind, aus sich heraus richtig handeln zu können, und 437 IV.4 Die Wirkweise der göttlichen Gnade 566 Aug.Civ. 5. 19: […] dum illud constet inter omnes veraciter pios, neminem sine vera pietate, id est veri dei vero cultu, veram posse habere virtutem, nec eam veram esse, quando gloriae servit humanae. 567 Siehe oben: S. 436 Anm. 557. 568 Siehe oben: S. 415-425; siehe auch: Ep. 118. 15: Da item qui cito videat animum quoque ipsum, non suo bono beatum esse, cum beatus est, alioquin numquam esset miser; […] Nam cum seipso sibi quasi suo bono animus gaudet, superbus est. Cum vero perspicit se esse mutabilem, vel hoc uno saltem quod de stulto sapiens efficitur, sapientiamque esse incom‐ mutabilem cernit, simul oportet cernat esse illam supra suam naturam, eiusque partici‐ patione atque illustratione se uberius et certius gaudere quam seipso. Ita cessans atque detumescens a iactatione atque inflatione propria, inhaerere deo, atque ab illo incommu‐ tabili refici et reformari nititur, a quo esse iam capit non solum omnem speciem rerum omnium, sive quae sensu corporis, sive quae intellegentia mentis attinguntur, sed etiam ipsam capacitatem formationis ante formationem, cum vel informe aliquid dicitur, quod formari potest. sie ihre eigene Schwäche nicht erkennen, sind sie dem Laster des Hochmuts bzw. des Stolzes (superbia) verfallen: Daran jedoch besteht unter wahrhaft frommen Leuten kein Zweifel, dass niemand ohne wahre Frömmigkeit, das heißt ohne wahre Verehrung des wahren Gottes, wahre Tugend haben kann, und dass dies keine wahre Tugend ist, weil sie dem menschlichen Ruhm dient. 566 (Übers. Thimme mit Modifikationen) Wer also die Tugend ohne Bezug auf Gott um ihrer selbst willen erstrebt, handelt Augustinus zufolge um seines eigenen Ruhmes und Ansehens willen. Er handelt aus Selbstgefälligkeit und zeigt darin seine superbia. Er rechnet sich selbst zu, was er nur Dank Gottes Hilfe vermag, und erkennt nicht die Unzulänglichkeit all seiner Taten. 567 In der Hinwendung zu Gott erkennen wir unsere Unterwor‐ fenheit unter die Macht der Sünde und unser eigenes Unvermögen, uns daraus aus eigener Kraft zu befreien. Aber wir können unsere Schuld bereuen und Gott um Hilfe anrufen, damit er uns durch das Geschenk seiner mitwirkenden Gnade aus dieser Situation befreit, indem er uns die Kraft gibt, der Vorstellung eines tugendhaften Lebens zuzustimmen. 568 Die Weigerung, diese Abhängigkeit des Menschen von Gott anzuerkennen, ist ein Zeichen von superbia. Diese superbia ist unter den heidnischen Philosophen verbreitet, da sie die Tugend für ihre eigene Errungenschaft halten und sich ihr eigenes Unvermögen, ihr selbst ent‐ worfenes Ideal moralischer Vollkommenheit zu erreichen, nicht eingestehen. Dieser Irrtum auf seiten der Heiden reicht jedoch nicht aus, um ihre Tugenden zu splendida peccata zu machen, da ihre Tugenden, obschon sie hochmütigen Menschen gehören, nicht den Zielen hochmütiger Menschen dienen, sondern moralisch lobenswerte Ziele verfolgen, die auch für Menschen angemessen sind, die frei von superbia sind. 569 438 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 569 Vgl. Brachtendorf (2012b), 141 f. Bevor im abschließenden Teil der Arbeit der systematische Ertrag der in den drei Hauptteilen der Untersuchung angestellten Überlegungen betrachtet und die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen beantwortet werden sollen, sind zunächst in einem Zwischenfazit die Ergebnisse der Analyse der augustinischen Rezeption und Modifikation der stoischen Motivationstheorie zusammenzu‐ fassen und mit den Erkenntnissen der vorhergehenden beiden Teile zu ver‐ knüpfen. IV.5 Zwischenfazit: Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus Nachdem in den vorangehenden Kapiteln die Rezeption der stoischen Motiva‐ tionstheorie im Œuvre Augustins untersucht worden ist, sollen in diesem ab‐ schließenden Kapitel die Ergbnisse nocheinmal kurz zusammengefasst und mit den im ersten Teil erarbeiteten Fragen in Beziehung gesetzt werden. Es konnte anhand einer Verhältnisbestimmung von Augustins Eudämonismus und seiner Lehre von einem objektiven ordo bonorum aufgezeigt werden, dass auch für Augustinus wie für die Stoiker externe normative Handlungsgründe existieren. In der Ausarbeitung seiner Position griff Augustinus auch auf die stoische Lehre vom göttlichen Gesetz oder vom absoluten Vorrang der Tugend vor den außer‐ moralischen Gütern zurück. Ebenfalls konnte eine Parallele zwischen der Ein‐ bettung der augustinischen Ethik über den ordo bonorum in die Schöpfungs‐ ordnung und der Fundierung des Ethischen in der kosmologischen Naturphilosophie der Stoa aufgezeigt werden. Augustinus nimmt jedoch auch einige Modifikationen am klassischen antiken Eudämonismus vor, wie die Es‐ chatologisierung der Glückseligkeit oder ihr neuer Gnadencharakter zeigen. Die Frage, wie diese externen Handlungsgründe auch motivational wirksam werden können, beantwortet Augustinus mit der Angleichung des subjektiven ordo amoris an den objektiv in der Welt existierenden ordo bonorum. Die Über‐ legungen zur Angleichung des ordo amoris an den ordo bonorum nehmen ihren Ausgang von Augustins Rezeption der stoischen οἰκείωσις-Lehre. Wie in der Stoa besitzt der Mensch bei Augustinus neben dem Selbsterhaltungstrieb ein Streben danach, ein Lebewesen zu sein und in der Verbindung von Körper und Seele zu leben, was in der Stoa die Funktion der πρωτὴ ὁρμή zum Erhalt der Konstitution des Lebewesens in einem naturgemäßen Zustand war. Insofern sich die Konstitution im Laufe der Zeit verändert und es mit der Ausbildung des 439 IV.5 Zwischenfazit: Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus Vernunftvermögens zu einer Zäsur kommt, in deren Folge die außermoralischen Güter ihre überragende Bedeutung für den Menschen verlieren und dieser ein anderes Leben wählen kann, gehört es zur Wesensvollendung des Menschen, nach den höheren Gütern - den Tugenden und Gott - zu streben und damit moralisch zu handeln. Daher ergeben sich für den Menschen aus der οἰκείωσις und seiner Sozialnatur umfassende moralische Pflichten anderen gegenüber, welche er erfüllen muss, um seine Konstitution in einem naturgemäßen Zustand zu erhalten und zur Wesensvollendung zu gelangen. Die stoische οἰκείωσις-Lehre bildet für Augustinus das Scharnier zwischen der stoischen Ethik und dem biblischen Gebot der Nächstenliebe. Sie ist das philosophische Instru‐ ment, um die sozialen Implikationen des biblischen Gebots der Nächstenliebe zu durchdenken. Wie bei den Stoikern basiert auch bei Augustinus die οἰκείωσις auf dem Ver‐ mögen der Lebewesen zur Selbstwahrnehmung, wobei Augustinus eine eigene Instanz für dieses Vermögen im Menschen identifiziert hat: den sog. ‚inneren Sinn‘ (sensus interior). Der sensus interior ermöglicht es dem Lebewesen durch die Wahrnehmung der eigenen Konstitution, diejenigen Objekte auszumachen, welche nützlich bzw. schädlich für es sind, und diese anschließend zu verfolgen bzw. zu vermeiden. Das Vermögen der Selbstwahrnehmung und die natürliche Sorge des Menschen um seine Konstitution sind Augustinus zufolge allerdings infolge der Erbsünde stark beschädigt, so dass bereits die ersten vorrationalen Handlungsimpulse des Menschen exzessiv sind und die Menschen maßlos und ungerecht werden, was sich auch im Erwachsenenalter fortsetzt. Die Menschen streben in exzessiver Weise nach den außermoralischen Gütern, wodurch ihr Glücksstreben einen Schaden erleidet, da ihr ordo amoris nicht mit dem ordo bonorum übereinstimmt. Um zu verstehen, wie sich diese Beschädigung näherhin auswirkt, war es nötig, einen Blick auf die Psychologie Augustins zu werfen. Nachdem zunächst der Aufbau der Seele in verschiedenen Stufen betrachtet wurde, sollte das Ver‐ hältnis der Seele zum Körper näher bestimmt werden. In dieser Verhältnisbe‐ stimmung konnten eindeutige stoische Einflüsse aufgewiesen werden. So erin‐ nert die Charakertisierung des Verhältnisses von Körper und Seele als ‚Mischung‘ (contermperatio bzw. permixtio) an die stoische Verbindung von Körper und pneumatischem Substrat als κράσις. In beiden Fällen bewahren die jeweiligen Komponenten in der Mischung ihre Identität. Außerdem ist die Seele bei Augustinus wie bei den Stoikern in Form einer vitalen Spannung (intentio vitalis bzw. τόνος) in jedem Körperteil vollständig gegenwärtig und sorgt für den Zusammenhalt des Körpers. Die Seele unterliegt dementsprechend der Ver‐ änderung und kann sowohl von Affekten des Körpers (Alter, Krankheit, Er‐ 440 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus schöpfung) als auch von Affekten der Seele (Begierde, Lust, Furcht, Traurigkeit, Eifer) befallen werden. Im Anschluss an diese allgemeinen Überlegungen zur Psychologie Augustins war es möglich, Augustins Rezeption und Modifikation der stoischen Hand‐ lungspsychologie näher zu untersuchen, um so Aufschlüsse über die Frage nach den motivierenden Gründen und die motivationalen mentalen Zustände zu er‐ halten. Es wurde dabei deutlich, dass Augustinus bei der Erklärung der Hand‐ lungsgenese und Handlungsmotivation auf die stoische Handlungspsychologie zurückgreift. In der Rekonstruktion der stoischen Handlungspsychologie konnte folgendes Schema herausgearbeitet werden: Abb. 1: Stoische Handlungspsychologie Diese Grundstruktur der Handlungspsychologie findet sich mit einigen Modi‐ fikationen bei Augustinus wieder: Abb. 3: Augustins Handlungspsychologie Durch eine äußere sinnliche Wahrnehmung (sensus) oder durch innere Imagi‐ nation oder Erinnerung (memoria) entsteht eine Vorstellung (visum) in der Seele des Menschen, welche von einer sprachlichen Proposition (dicibile) begleitet wird. Im Falle einer Handlung stellt die sprachliche Proposition eine Handlung als im Interesse des Akteurs liegend und als attraktiv für ihn dar. Die Attrakti‐ vität (suavitas bzw. delectatio) hängt dabei von der Selbstwahrnehmung des Ak‐ teurs über den sensus interior ab, so dass ihm nur Handlungen als attraktiv er‐ scheinen können, insofern sie ihm als für ein Lebewesen von der Art, wie er sich wahrnimmt, gut und nützlich scheinen. Ein dicibile, welches dem Akteur eine Handlung attraktiv erscheinen lässt, bezeichnet Augustinus auch als suggestio, und eine suggestio macht eine Vorstellung zu einer praktischen Vorstellung, d. h. 441 IV.5 Zwischenfazit: Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus einer Vorstellung, aus welcher eine Handlung hervorgehen kann. Wie in der Stoa steht es auch bei Augustinus nicht in der Macht des Menschen, von welchen Vorstellungen er berührt wird. Der Mensch kann sich jedoch dazu entscheiden, einer durch eine Vorstellung präsentierten Handlungsoption zu folgen oder nicht zu folgen, indem er der entsprechenden suggestio seine Zustimmung (con‐ sensio) gibt oder verweigert. Die Entscheidung darüber, ob der Akteur zustimmt oder nicht, trifft sein Wille (arbitrium voluntatis). Hat er jedoch der Vorstellung seine Zustimmung gegeben, folgt wie in der Stoa auch ein Handlungsimpuls (appetitus actionis bzw. voluntas), welcher - sollten keine äußeren Hindernisse auftreten oder ein Fall von Willensschwäche vorliegen - zu der entsprechenden Handlung führt. Anhand dieser Schilderung des augustinischen Modells der Handlungsgenese werden die Anleihen deutlich, welche Augustinus am stoi‐ schen Modell macht. Das visum ist Augustins Übersetzung der stoischen φαντασία und kann wie diese auch entweder durch sinnliche Wahrnehmung oder durch innere Imagi‐ nation und Erinnerung in der Seele des Akteurs entstehen. Bei den Vorstel‐ lungen unterscheidet Augustinus wie auch die Stoa zwischen rein theoretischen und praktischen Vorstellungen bzw. φαντασίαι ὁρμετικαί. Wie in der stoischen φαντασία ein λεκτόν subsistiert, wird auch bei Augustinus das visum von einem dicibile begleitet, welches wie das λεκτόν eine rein geistige Größe ist und das bezeichnet, was in einem Wort verstanden und durch den Geist behalten wird. Die Form des dicibile bestimmt u. a. auch, von welcher Art die Vorstellung ist, welche es begleitet - d. h. ob es eine rein theoretische oder praktische Vorstel‐ lung ist. Findet sich im dicibile ein praktisches Prädikat wie suavis, utile, ho‐ nestum, delectatio, voluptas, illecebra etc., welches dem Akteur die im Verbum des dicibile repräsentierte Handlung attraktiv erscheinen lässt, ist eine notwen‐ dige Bedingung erfüllt, um die Vorstellung zu einer praktischen Vorstellung zu machen. Das praktische Prädikat übernimmt damit die Funktion, welche in der stoischen Theorie der καθῆκον-Operator innehatte, der eine φαντασία zu einer φαντασία ὁρμετική machte. Ein dicibile, welches durch sein praktisches Prä‐ dikat eine Vorstellung zu einer praktischen Vorstellung macht, nennt Augus‐ tinus auch suggestio - oder seltener praeceptum. Wie bei den Stoikern ergibt sich aus der Bedingung, dass dem Akteur eine Handlung, welche ihm durch eine praktische Vorstellung präsentiert wird, attraktiv erscheinen muss, zusammen mit der Selbstwahrnehmung der eigenen Konstitution durch den sensus inte‐ rior, welche einem Lebewesen nur ganz bestimmte Dinge - nämlich solche, die seiner Konstitution zuträglich sind - attraktiv erscheinen lässt, bei Augustinus eine doppelte Einschränkung der Handlungsmotivation: 442 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus Subjektive und objektive Einschränkung der Motivation: Wenn ein Akteur φ-t, muss ihm φ-en selbst oder ein mit φ-en verbundenes Ziel attraktiv erscheinen und ihn (aus diesem Grund) zu φ-en motivieren, wobei φ-en selbst oder ein mit φ-en verbundenes Ziel attraktiv für ihn ist, weil er ein Wesen von bestimmter Art ist. Eine zweite notwendige Bedingung, welche erfüllt sein muss, damit eine Vor‐ stellung zu einer praktischen Vorstellung wird, besteht darin, dass sie auch auf richtige Weise gedacht werden muss - d. h. dass über den propositionalen Gehalt hinaus auch der repräsentationale Gehalt der Vorstellung stimmen muss. Denn auch Augustinus bemerkte, dass zwei hinsichtlich ihres propositionalen Gehalts identische Vorstellungen unterschiedliche motivationale Wirkungen bei ver‐ schiedenen Individuen hervorrufen können. Eine Vorstellung muss auch freudig oder lustvoll - entsprechend des jeweiligen praktischen Prädikats - gedacht werden, um eine praktische - d. h. motivational wirksame - Vorstellung zu sein. Dazu muss der Akteur eine partizipatorische Haltung sich selbst gegenüber einnehmen. Betrachtet er sich aus einer rein objektiven Zuschauerhaltung, in der er sich als isoliert und losgelöst von seiner Umwelt versteht, kann die Vor‐ stellung keine motivationale Wirkung bei ihm entfalten. Die praktische Vor‐ stellung bestimmt sich damit nicht nur über ihren propositonalen, sondern auch über ihren repräsentationalen Gehalt. Diese Unterscheidung der zwei verschie‐ denen Arten von Gehalt ist aus der Untersuchung der stoischen Überlegungen zur φαντασία bzw. zur φαντασία ὁρμετική vertraut. Anhand dieser Überlegungen zur unterschiedlichen motivationalen Wirk‐ samkeit von Vorstellungen auf verschiedene Personen wird deutlich, dass der Charakter einer Person einen Einfluss darauf hat, welche Vorstellungen sie hat und wie diese von ihr gedacht werden. Auch für diesen Gedanken konnten sto‐ ische Vorläufer identifiziert werden. Bei Augustinus zeigt sich dieser Einfluss des Charakters auf die Vorstellungen einer Person auch darin, dass der Teufel nur entsprechend des spezifischen Charakters einer Person wirksame prakti‐ sche Vorstellungen einzugeben vermag, und auch in der Gnadenlehre ist es der Fall, dass Gott seine Mittel dem Charakter des jeweiligen Akteurs anpasst. Neben der Vorstellung, welche dem Akteur eine bestimmte Handlung als at‐ traktiv präsentiert, spielt für Augustinus auch die ‚Liebe‘ (amor, dilectio, ca‐ ritas) eine wichtige Rolle für die Handlungsmotivation. Diese Rolle der Liebe erweitert sein strukturell an der stoischen Handlungspsychologie orientiertes Modell der Handlungsgenese um eine platonische ἔρως-Konzeption der Hand‐ lungsmotivation. Während das an der stoischen Handlungspsychologie orien‐ tierte Modell der Handlungsgenese eine Antwort auf die strukturelle Frage gibt, wie wir motiviert sind, eine Handlung auszuführen, beantwortet die ἔρως-Kon‐ zeption der Handlungsmotivation die substantielle Frage, warum wir motiviert 443 IV.5 Zwischenfazit: Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus sind, eine Handlung auszuführen. Die Liebe als grundlegende Neigung oder Handlungstendenz bildet für Augustinus einen fundamentalen Grund für unser Handeln und ist eine notwendige Bedingung für die Ausführung all unserer Handlungen. Die praktische Vorstellung und die Liebe als zwei Komponenten innerhalb der Handlungsgenese besitzen zwei unterschiedliche intentionale Objekte: Während die praktische Vorstellung die jeweilige Handlung als at‐ traktiv präsentiert, ist die Liebe auf diejenigen Objekte oder Zustände gerichtet, die durch die Handlung erlangt bzw. herbeigeführt werden sollen. Eine Liebe, welche sich auf die zeitlichen und außermoralischen Güter richtet und damit falsche Strebensziele verfolgt, bezeichnet Augustinus als Begierde oder Konku‐ piszenz (cupiditas bzw. concupiscentia) und unterscheidet sie von einer Liebe, welche sich auf Gott und die Tugend - als richtige Strebensziele - richtet und die er als caritas bezeichnet. Damit geht es bei der Frage nach der richtigen Motivation i.S. der Liebe um die korrekte Erkenntnis des ordo bonorum und der ontologischen Gutheit des jeweils erstrebten Objekts. Die Verbindung zwischen der Liebe und der praktischen Vorstellung besteht nun darin, dass die praktische Vorstellung dem Akteur eine Handlung als at‐ traktiv erscheinen lässt, welche zur Erlangung des Objekts, auf welches die Liebe gerichtet ist, geeignet ist. Damit besteht ein innerer Zusammenhang zwischen den praktischen Prädikaten der suggestiones und der Liebe, insofern die Liebe nach Objekten strebt, deren Besitz attraktiv ist und als angenehm empfunden wird. Der Gedanke an ihren Besitz ruft eine antizipatorische Lust hervor, welche von Augustinus als Lieblichkeit (suavitas) oder Freude (delectatio) bezeichnet wird. Der Akteur sieht seine Handlung als ein notwendiges Mittel zur Erlangung eines vermeintlichen Gutes an, dessen Besitz für ihn lustvoll und erfreulich ist. Damit bilden die in den suggestiones enthaltenen praktischen Prädikate ein not‐ wendiges Zwischenglied zwischen der Liebe und dem lustvollen Besitz der er‐ strebten Objekte. Die antizipierte Lust hängt von diesen Prädikaten ab und er‐ gibt sich aus der Wahrnehmung eines Objekts als ein zu erstrebendes und der Vorstellung einer Handlung als geeignet, um das Objekt zu erlangen. Dadurch weckt die praktische Vorstellung eine antizipatorische Lust im Akteur, wodurch er aufgrund seiner Liebe zu dem erstrebten Objekt zum Handeln motiviert wird. Um diese Handlungsmotivation jedoch auszubilden und wirksam werden zu lassen, bedarf es der Zustimmung (consensio) seitens des Akteurs. Sein Zustim‐ mungsvermögen erlaubt es ihm, sich kritisch zu den ihm begegnenden Vorstel‐ lungen zu verhalten. Der Akteur kann der Vorstellung seine Zustimmung geben oder verweigern. Diese Charakterisierung zeigt, dass Augustins consensio der stoischen συγκατάθεσις entspricht und damit derselben Unterscheidung zwi‐ schen dem bloßen Haben einer Vorstellung und der Akzeptanz derselben als 444 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus wahr dient, wie man sie auch bei den Stoikern findet. Den Unterschied zwischen einer Vostellung, welche noch keine Zustimmung erfahren hat, und einer sol‐ chen, welcher bereits zugestimmt wurde, macht Augustinus durch den unter‐ schiedlichen Artikulationsgrad deutlich, mit welchem der propositionale Gehalt der Vorstellung ausgedrückt wird. Während Vorstellungen, denen noch nicht zugestimmt wurde, nur ‚flüstern‘ oder ‚murmeln‘, wird der propositionale Ge‐ halt von Vorstellungen, denen zugestimmt wurde, im Inneren klar ausgespro‐ chen und deutlich artikuliert. Das bloße Haben einer Vorstellung bleibt dabei schuldlos, und erst die Zustimmung zu einer verwerflichen Vorstellung bringt eine Schuld für den Akteur mit sich. Die Verantwortung des Akteurs für sein Handeln hängt damit also von seiner Zustimmung ab. Genau genommen wird auch bei Augustinus wie in der stoischen Theorie nicht der Vorstellung als ganzer, sondern vielmehr dem sie begleitenden dicibile - im Falle einer prakti‐ schen Vorstellung der suggestio - die Zustimmung gegeben. Die Entscheidung dazu, der suggestio einer Vorstellung zuzustimmen oder nicht, ist Sache des Willens (arbitrium voluntatis), der sich freilich nicht will‐ kürlich entscheidet, sondern die evaluative Tätigkeit der mens berücksichtigt, welche die durch die Vorstellung präsentierte Handlungsoption hinsichtlich der von ihr betroffenen Güter und deren Status im ordo bonorum sowie ihres Bei‐ trags zur Glückseligkeit des Akteurs bewertet, und eine entsprechende Ent‐ scheidung trifft. Das arbitirum voluntatis stellt damit ein Vermögen des Akteurs dar, sich für oder gegen eine Handlung zu entscheiden. Es ist ein Dezisionsver‐ mögen hinsichtlich unserer Handlungen, durch welches der Mensch ent‐ scheidet, eine bestimmte Handlung zu wollen oder nicht zu wollen. Das arbi‐ tirum voluntatis hat sich dabei auf das Gute hin auszurichten und soll das Gute wählen, da es sich andernfalls unfrei macht und versklavt. Im Zustand der Erb‐ sünde ist das arbitrium voluntatis nicht wirklich frei, da es sich nicht aus sich selbst heraus zum Guten entscheiden kann. Es muss erst durch die göttliche Gnade befreit werden, bevor es die Freiheit zum richtigen Handeln aus der rich‐ tigen Motivation heraus wiedererlangt. Der Gedanke der Selbstversklavung des menschlichen Dezisionsvermögens war auch bei den Stoikern im Kontext der Untersuchung der stoischen προαίρεσις begegnet, und überhaupt konnten auffällige Parallelen zwischen Augustins arbitrium voluntatis und der stoischen προαίρεσις aufgezeigt werden, so dass auch hier ein Fall der Rezeption stoischen Gedankenguts durch Augus‐ tinus zu vermuten ist. Als Folge der Erbsünde ist das arbitrium voluntatis nicht mehr in dem Sinne frei, dass es sich auch für das Gute entscheiden könnte. Um diese Möglichkeit wiederherzustellen, ist der Mensch auf das Eingreifen der göttlichen Gnade angewiesen. Durch die göttliche Gnade erhält der Mensch 445 IV.5 Zwischenfazit: Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus wieder die Freiheit, sich für das Gute zu entscheiden, wobei diese Freiheit darin besteht, Gott zu dienen, sich seiner Wahrheit zu unterwerfen und sich das gött‐ liche Gesetz zueigen zu machen, um in Übereinstimmung mit diesem zu han‐ deln. Durch die Aneignung des göttlichen Gesetzes bringt der Mensch seinen subjektiven ordo amoris in Übereinstimmung mit dem objektiven ordo bonorum und erlangt so wahre Freiheit. Dieses Freiheitsverständnis verrät wiederum sto‐ ische Einflüsse, insofern der stoische Weise dadurch autonom und frei wird, dass er sich das göttliche Gesetz zu eigen macht und in Übereinstimmung mit diesem handelt. Der entscheidende Unterschied zwischen Augustinus und den Stoikern besteht freilich darin, dass für die Stoiker der Mensch allein aus sich selbst heraus dazu in der Lage war, diese Freiheit zu erreichen, während für Augustinus der Mensch auf die helfende Gnade Gottes angewiesen bleibt. Hat das arbitrium voluntatis jedoch seine Entscheidung getroffen und hat der Akteur der suggestio zugestimmt, folgt für Augustinus wie für die Stoiker die Handlungsmotivation in Form eines entsprechenden Handlungsimpulses, wel‐ chen er als voluntas bzw. appetitus actionis bezeichnet. Insofern die voluntas notwendig aus der Zustimmung zu einer praktischen Vorstellung hervorgeht, teilt Augustinus den stoischen motivationstheoretischen Internalismus, der einen notwendigen Zusammenhang zwischen dem moralischen Urteil bzw. der Zu‐ stimmung zu einer praktischen Vorstellung und einer entsprechenden Hand‐ lungsmotivation bzw. einem entsprechenden Handlungsimpuls annimmt. Die voluntas ist bei Augustinus eine Bewegung bzw. ein Vermögen der Seele (motus bzw. vis animi), welches Handlungen verursacht, und übernimmt damit in seiner Handlungspsychologie die Rolle der stoischen ὁρμή. Wie diese führt auch eine einmal definierte voluntas notwendig zur Ausführung einer Handlung, wenn keine äußeren Hindernisse dazwischentreten oder ein Fall von Willens‐ schwäche vorliegt. Ebenfalls wie die stoische ὁρμή ist auch die voluntas bei Au‐ gustinus auf eine Handlung gerichtet, die durch das Prädikat der die Vorstellung begleitenden suggestio repräsentiert wird, und wird als ein Befehl der vernünf‐ tigen Seele bestimmt, der die Ausführung einer bestimmten Handlung anordnet. Die Zustimmung impliziert damit wie in der Stoa auch eine Anordnung der Vernunft, entsprechend zu handeln, und verursacht letztlich eine voluntas, welche die Handlung motiviert. Auch bei Augustinus ist es also die Vernunft i.S. der mens, welche durch ihre Zustimmung die Handlungsmotivation hervor‐ bringt, so dass auch bei Augustinus eine Anti-Humeanische Motivtionstheorie avant la lettre vorliegt, welche als hybrider Kognitivismus oder ‚besire‘-Theorie der Handlungsmotivation bezeichnet werden kann. Anhand dieser Überlegungen kann nun auch erklärt werden, wie ein objektiv in der Welt - d. h. im ordo bonorum - bestehender, vom subjektiven Motivati‐ 446 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus onsprofil des Akteurs unabhängiger normativer Grund Zugriff auf sein subjek‐ tives Motivationsprofil bekommen kann, so dass der normative Grund, der für eine Handlung spricht, auch der motivierende Grund ist, aus dem der Akteur de facto handelt. Der normative Grund, der eine Tatsache in der Welt darstellt, wird in der suggestio, welche eine praktische Vorstellung begleitet, erfasst und gelangt so in die psychologische Struktur des Akteurs. Handlungswirksam wird der Grund allerdings erst durch die Zustimmung des Akteurs zu der suggestio, indem durch diese Zustimmung eine voluntas verursacht wird, welche auf die im Prädikat der suggestio repräsentierte Handlung gerichtet ist und den Akteur zur Ausführung dieser Handlung motiviert. Damit konstituiert der mentale Zu‐ stand der voluntas im Zusammenspiel mit der consensio den motivierenden Grund des Akteurs. Man hat es folglich bei Augustinus wie auch in der Stoa mit einer psychologistischen Motivationstheorie zu tun. Augustinus kannte nun nicht nur den maßvollen, geregelten Handlungsim‐ puls, sondern auch den perversen, ungezügelten Handlungsimpuls, wie sich an seiner Rezeption und Modifikation der stoischen Affektenlehre zeigt. Wie in der Stoa sind auch bei Augustinus die Affekte (perturbationes, affectiones, affectus, passiones) eine Form des Handlungsimpulses, der voluntas bzw. des appetitus actionis, und von der Stoa übernimmt er auch die Einteilung in die vier generi‐ schen Affekte: Begierde (cupiditas), Lust (laetitia), Furcht (metus) und Traurig‐ keit (tristitia). Diese Bestimmungen der Affekte bleiben bei ihm jedoch im Ge‐ gesatz zur Stoa zunächst neutral. Sie können gut oder schlecht sein - je nachdem, ob die zugrundeliegende voluntas gut oder schlecht ist. Die voluntas und damit der Affekt ist gut, wenn die Liebe des Akteurs auf die richtigen Objekte - d. h. auf Gott als das summum bonum - ausgerichtet ist. Schlecht sind voluntas und Affekt des Akteurs, wenn seine Liebe auf die falschen Objekte - d. h. auf die minima bona - ausgerichtet ist. Der Grund für diese Reinterpretation der stoi‐ schen Affektenlehre, wodurch es neben den schlechten auch gute Affekte geben könne - je nachdem, wie sich die grundlegende Willensausrichtung und Stre‐ benstendenz des Akteurs gestaltet, dürfte im Sprachgebrauch der Heiligen Schrift zu finden sein. Diese verwendet für die gute oder schlechte Ausrichtung der voluntas keine verschiedenen Begriffe, sondern bezeichnet diese unter‐ schiedslos als amor, caritas oder dilectio. Die rechte voluntas ist guter amor, die verkehrte schlechter amor. Selbst die Affekte cupiditas, laetitia, metus und tris‐ titia werden in positiver wie negativer Weise verwendet - je nachdem, ob die zugrundeliegende Liebe gut oder schlecht - d. h. auf die richtigen oder falschen Objekte im ordo bonorum ausgerichtet - ist. So schlägt sich die Liebe zu einem minimum bonum in schlechten Affekten nieder, während die Liebe zum summum bonum gute Affekte mit sich bringt. 447 IV.5 Zwischenfazit: Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus Die guten Affekte sind freilich nicht mit den εὐπάθειαι des stoischen Weisen zu identifizieren. Eine Parallele zum stoischen Weisheits- und Apathie-Ideal findet sich bei Augustinus beim Menschen im Paradies sowie in der eschatolo‐ gischen Vollendung. Angst und Traurigkeit sind dort nicht zu finden, da es keine Übel gibt, und die Menschen empfinden allein Freude (gaudium) und Liebe (amor) zu Gott wie zum Nächsten sowie - jedenfalls im Paradies - Vorsicht (devitatio tranquilla) vor der Sünde. Die guten Affekte stehen dagegen allen bekehrten Menschen offen und haben eine pädagogische Funktion, insofern sie zur moralischen Besserung eines Menschen beitragen können. Durch die guten Affekte in Bezug auf echte Güter und Übel ist der Mensch bereits fortgeschritten auf dem Weg der moralischen Besserung hin zu seiner Vollendung, was zur Aufgabe der strengen stoischen Dichotomie zwischen Weisen und Toren führt, der zufolge es keine Zwischenstufe zwischen den beiden Extremen gebe. Für Augustinus existiert eine solche Zwischenstufe mit dem durch die guten Affekte auf dem Weg der moralischen Besserung Fortschreitenden, weshalb er auch die stoische Lehre von der Gleichheit aller Sünden aufgibt und zwischen schweren und weniger schweren Sünden unterscheidet. Trotz ihres Beitrags zur morali‐ schen Besserung des Menschen bleiben jedoch auch die guten Affekte Affekte und sind als solche ambivalent. Auch sie können die Vernunft überwältigen und zur Sünde drängen, indem man z. B. zu viel Furcht davor hat, zu sündigen, oder zu viel Traurigkeit über die eigenen Sünden empfindet. Die Affekte stellen in jedem Fall ein Übel dar, welches droht, uns zur Sünde zu verleiten, und von dem wir im ewigen Leben befreit werden müssen, um die Glückseligkeit genießen zu können. Augustinus rechnet also mit einem möglichen irreführenden Einfluss der Af‐ fekte auf unser Handeln, doch können sie diesen Einfluss nicht unabhängig von unserer Willensentscheidung und Zustimmung ausüben. Auch die affekthafte Handlung ist eine Handlung, die aus der Willensentscheidung des Akteurs und seiner Zustimmung hervorgeht. Die Affekte sind damit auch für Augustinus keine von der Vernunft des Akteurs unabhängige Kraft, welche diese überwäl‐ tigen kann. Mit dieser Zurückweisung eines platonischen Dualismus und der damit einhergehenden Verteidigung eines sokratisch-stoischen Monismus ak‐ zeptiert Augustinus die intellektualistische Seite der stoischen Motivationsthe‐ orie und weicht damit weniger stark von der stoischen Affektenlehre ab, als uns seine Kritik und Einwände dieser gegenüber glauben lassen wollen. So findet sich auch die stoische Unterscheidung zwischen sog. Prä-Affekten (προπάθειαι) und echten Affekten in Augustins Werk. Die Prä-Affekte sind für Au‐ gustinus gewisse Regungen in der Seele des Akteurs, welche ihn geneigt ma‐ chen, einer Vorstellung, welche diese Regungen verursacht, zuzustimmen, je‐ 448 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus 570 Stob.Ecl. 2. 93.6 f = LS 65S = SVF 3.421: […] δόξαν ἐπιθυμίας ἐρρυηκυῖαν εἰς ἕξιν καὶ ἐνεσκιρωμένην […]. doch handelt es sich bei ihnen nicht um Affekte im vollen Sinn, da echte Affekte - wie in der Stoa - auch bei Augustinus eine vorhergehende Zustim‐ mung seitens des Akteurs erfordern. Alle Menschen unterliegen somit den af‐ fektiven Regungen, welche als Prä-Affekte bezeichnet werden, doch steht es in ihrer Macht, den sie hervorrufenden Vorstellungen die Zustimmung zu verwei‐ gern und es dadurch zu verhindern, in einen echten Affekt zu verfallen. Die mit der Affektenlehre in Beziehung stehende Lehre von der schlechten ‚Gewohnheit‘ (consuetudo) bildet ein weiteres Feld, in welchem stoische Ein‐ flüsse auf Augustinus nachweisbar sind. Durch wiederholte Ausführung affekthafter Handlungen über eine gewisse Zeit hinweg kommt es zur Ausbildung eines dispositionalen Handlungsimpulses, welchen Augustinus als consuetudo bezeichnet. Die consuetudo beeinflusst in der Folge nicht nur, welche Hand‐ lungen der Mensch ausführt, sondern hat bereits einen Einfluss darauf, welche Vorstellungen er überhaupt haben und welchen er seine Zustimmung geben wird. Sie schränkt den Rahmen der praktischen Vorstellungen ein, die ein Akteur haben kann und die es vermögen, ihn zum Handeln zu motivieren. Die schlechte Gewohnheit macht es für ihn fast unmöglich, die Attraktivität einer tugend‐ haften Handlung zu erkennen, so dass er nicht zu ihrer Ausführung motiviert werden kann. Als eine ‚zweite Natur‘ verhindert es die schlechte consuetudo, dass der Mensch aus sich heraus das Gute tun kann. Er ist immer schon prädisponiert, den falschen Vorstellungen, welche zu seiner verkehrten Einschätzung des Werts seiner Strebensobjekte passen, ohne weitere Prüfung zuzustimmen. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung für das menschliche Handeln allgemein und die Handlungsmotivation im Besonderen die dispositionalen Zustände, welche unsere affektiven Regungen regulieren, zu kultivieren, um durch die richtigen Gründe angesprochen werden zu können. Diese Charakterisierung der consuetudo und ihrer Wirkungen erinnert an die stoische Lehre von den ‚Krankheiten‘ (νοσήματα/ morbi) bzw. ‚Schwächen‘ (ἀρρωστήματα/ aegrotationes) und ‚Anfälligkeiten‘ (εὐεμπτωσίαι/ proclivitates) der Seele. Die stoische ‚Krankheit‘ ist eine „Meinung des Begehrens, die in einen Habitus hineingeflossen ist und sich verfestigt hat“ 570 . Wie bei der schlechten consuetudo ist dabei die Überzeugung, dass es bestimmte Objekte verdienen, geliebt bzw. erstrebt zu werden, falsch, und die Objekte werden in ungebührli‐ cher Weise erstrebt. Das wiederholte Ausführen der entsprechenden, auf die Erlangung der Objekte ausgerichteten Handlungen führt zur Ausbildung eines Habitus, der den Akteur geneigt macht, in entsprechenden Situationen künftig 449 IV.5 Zwischenfazit: Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus gleichermaßen zu handeln und damit den Habitus weiter zu verfestigen. Letzt‐ lich kann dieser dann aus eigener Kraft nicht mehr überwunden oder beseitigt werden. Der vernunftwidrige Handlungsimpuls - die perversa voluntas - kon‐ stituiert sowohl bei Augustinus als auch in der Stoa den Affekt der libido, wel‐ cher, wenn er häufiger auftritt, zur Ausbildung der consuetudo bzw. der ‚Krank‐ heit‘ führt, welche den Akteur schließlich derart einnimmt, dass er die Freiheit verliert, anders handeln zu können. Auch die Erbsünde ist für Augustinus eine schlechte consuetudo, welche al‐ lerdings äußerst tief in allen Menschen verwurzelt ist und daher nicht leicht überwunden oder getilgt werden kann. Sie bringt neben der Unfähigkeit, die Wahrheit und den Wert der Dinge im ordo bonorum zu erkennen (ignorantia), auch das Unvermögen mit sich, die eigene voluntas auf das summum bonum - Gott - auszurichten (difficultas), selbst wenn man es erkannt hat. Die difficultas ist dabei eine ‚Schwäche‘ (aegritudo) der Seele, durch welche der Mensch - zu‐ mindest teilweise - die Kontrolle über sein Streben und Begehren wie über seinen Köper verliert. Selbst wenn der Mensch das Wissen um die göttliche Ordnung besitzt, vermag er es dennoch nicht, in Übereinstimmung mit diesem Wissen und der darin erfassten Ordnung zu leben. Er kann seine ‚Schwäche‘ nicht aus eigener Kraft überwinden. Die Frage, wie man aus der erbsündlichen Verstrickung herauskommt, ist damit ein Spezialfall der Frage, wie man sich von seinen schlechten Gewohnheiten befreien kann. Diese Überlegungen zur consuetudo sowie zu Augustins Affektenlehre er‐ wiesen sich auch als fruchtbar für ein besseres Verständnis des Phänomens des zerissenen Willens, welches von Augustinus insbesondere in Confessiones VIII eindrücklich geschildert wird. Augustinus beschreibt, wie er zwischen zwei konkurrierenden Handlungsimpulsen hin und her gerissen ist, von denen der eine aus der schlechten Gewohnheit hervorgeht und verhindert, dass der andere, neue Handlungsimpuls, ein gutes und gottgefälliges Leben zu führen, hand‐ lungswirksam werden kann. Die neue voluntas ist nicht stark genug, die alte, zur Gewohnheit verfestigte voluntas zu überwinden. Deshalb empfindet er eine Zerrissenheit in seiner voluntas, wobei die neue gegen die alte kämpft. Die alte voluntas, welche der prudentia carnis folgt, übertrumpft die neue voluntas, die in Übereinstimmung mit der prudentia spiritus ist, und Augustinus hält sich für beide Strebungen verantwortlich, auch wenn er sich mehr mit der neuen vo‐ luntas identifiziert und die alte vielmehr gegen seinen Willen erduldet. Aller‐ dings ist er auch für die alte voluntas und die ihr zugrundeliegende consuetudo verantwortlich, da er sie durch seine früheren Entscheidungen und Handlungen hervorgebracht hat. Augustinus ist mit zwei konkurrierenden praktischen Vor‐ stellungen konfrontiert, die ihm jeweils inkompatible Handlungsoptionen als 450 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus attraktiv präsentieren. Er gibt beiden seine Zustimmung - einer aus Gewohn‐ heit, der anderen mit besserem Wissen - und verursacht dadurch zwei einander entgegengesetzte Handlungsimpulse. Die aus der consuetudo - auch unbe‐ wusst - hervorgehende Zustimmung bringt eine voluntas hervor, die ein Affekt ist, der Augustinus gefangen hält, so dass die neue voluntas sich nicht gegen ihn durchsetzen und handlungswirksam werden kann. Aufgrund der späteren be‐ wussten Zustimmung, welche die neue voluntas hervorbringt, erscheint es Au‐ gustinus so, dass das mit der alten voluntas verbundene Handeln gegen seinen Willen geschieht. In Wahrheit ist jedoch auch dieses willentlich, insofern es auf einer Zustimmung - wenn auch auf einer impliziten Zustimmung infolge der consuetudo - basiert. Hinter diesen Überlegungen Augustins zum Phänomen des zerrissenen Wil‐ lens verbirgt sich freilich das stoische Persistenzmodell zur Erklärung des Phä‐ nomens der Willensschwäche, dem zufolge die Affekte aufgrund ihrer Vehe‐ menz auch nach einer Urteilsänderung fortbestehen und die Korrektur des Urteils machtlos gegen die Kraft der Affekte ist. Wie die stoischen Affekte un‐ bewusst durch ‚Krankheiten‘ und ‚Schwächen‘ der Seele entstehen können, ist nun auch Augustins consuetudo für seine alte voluntas verantwortlich, die ihn gefangen hält. Seine alte voluntas persistiert wie der stoische Affekt und über‐ trumpft seine neue voluntas, die durch eine spätere Zustimmung zustande kommt, wie auch der Affekt im stoischen Persistenzmodell den mit dem korri‐ gierten Urteil verbundenen Handlungsimpuls übertrumpft. Es kommt zu einem synchronen Konflikt in seiner Seele, in welchem es ihm erscheint, als dränge ihn seine alte voluntas gegen seinen Willen zu einer Handlung bzw. dazu, an seinen bisherigen Verhaltensweisen festzuhalten. Augustinus ist sich des Kon‐ flikts zwischen seinen voluntates bewusst und identifiziert sich dabei stärker mit seiner neuen voluntas, jedoch kann diese aufgrund der mit der consuetudo ver‐ bundenen Vehemenz und Persistenz nicht handlungswirksam werden. Die Stärke dieses Modells der Erklärung des zerrissenen Willens besteht darin, dass der Mensch, auch wenn er unter einem zerrissenen Willen handelt, intentional handelt. Er handelt aus Gründen, die ihm subjektiv - aus der Perspektive der prudentia carnis - als vernünftig und richtig erscheinen bzw. erschienen sind und die in der consuetudo verinnerlicht sind, welche sein Handeln beeinflusst; objektiv - aus der Perspektive der prudentia spiritus - sind diese Gründe jedoch falsch und unvernünftig, da sie eine Verkehrung des ordo bonorum darstellen. Der ordo amoris des Akteurs stimmt nicht mit dem ordo bonorum überein, und folglich sind seine motivierenden Gründe nicht die normativen Gründe, die für ihn aufgrund des ordo bonorum und des göttlichen Moralgestzes bestehen. Der Akteur, der einen zerrissenen Willen besitzt, wird damit nicht von einem irra‐ 451 IV.5 Zwischenfazit: Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus tionalen, der Vernunft unzugänglichen Seelenteil überwältigt und zum Handeln gedrängt, sondern er entscheidet sich für eine Handlung - möglicherweise durch implizite Zustimmung aus Gewohnheit -, wodurch er einen Prozess in Gang setzt, den er später nicht mehr stoppen kann, obwohl er sein früheres Urteil korrigiert hat und anders handeln möchte. Um aus dieser Zerrissenheit des Willens herauszukommen, bedarf es einer Vereinigung der voluntas, damit sich der Akteur uneingeschränkt für eine Hand‐ lungsoption entscheiden kann. Als Folge der Erbsünde ist diese Auflösung von seiten des Menschen nur zum Schlechten hin möglich. Die Vereinigung des Willens zum Guten hin kann der Mensch aus eigener Kraft nicht bewerkstel‐ ligen, sondern er ist hier auf die Gnade Gottes angewiesen. Die durch die Erb‐ sünde auf den Menschen gekommene poenalis consuetudo verhindert es, dass der Mensch die Attraktivität der Tugend erkennen und seine voluntas auf Gott hin ausrichten kann. Um aus dieser Situation herauszukommen, muss der Mensch in die Lage versetzt werden, die Attraktivität einer tugendhaften Hand‐ lung zu erkennen, ihrer Vorstellung seine Zustimmung zu geben und sich schließlich von ihr zu einem entsprechenden Handeln motivieren zu lassen. An dieser Stelle greift die göttliche Gnade ein. Sie lässt dem Menschen eine tugendhafte Handlung attraktiv erscheinen, indem sie eine entsprechende prak‐ tische Vorstellung in die Seele des Menschen hinein vermittelt. Diese Vermitt‐ lung einer praktischen Vorstellung, welche dem Akteur eine tugendhafte Hand‐ lung attraktiv erscheinen lässt, ermöglicht es dem menschlichen Verstand, die Attraktivität der tugendhaften Handlung zu erkennen, so dass der Akteur mo‐ tiviert ist, diese auszuführen. Gott weckt damit im Menschen die Liebe zum moralisch Guten und schafft die Voraussetzung dafür, dass die tugendhafte Handlung um des Guten willen getan wird. Die göttliche Gnade verhilft dem Menschen zur richtigen Erkenntnis des ordo bonorum, wodurch er wieder in das rechte Verhältnis zu Gott treten und nach dem Genuß Gottes als dem summum bonum streben kann. Durch die von der Gnade ermöglichte Erkenntnis der At‐ traktivität des Guten wird das richtige Letztziel allen menschlichen Handelns - die beatitudo bzw. fruitio dei - wieder in die menschliche Seele eingeführt und der ordo amoris mit dem ordo bonorum in Übereinstimmung gebracht, so dass tugendhaftes Handeln für den Menschen wieder möglich wird. Die göttlich ver‐ mittelte Vorstellung der Attraktivität der Tugend verursacht im Menschen eine innere Veränderung seiner Wahrnehmungs- und Motivationsstruktur, so dass dieser von nun an die Attraktivität tugendhafter Handlungen erkennen und durch Vorstellungen, die solche präsentieren, zu einem entsprechenden Handeln motiviert werden kann. 452 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus Hinsichtlich der Wirkweise der in der praktischen Vorstellung vermittelten Gnade lassen sich im Werk Augustins zwei unterschiedliche Modelle identifi‐ zieren, die auch mit der Entwicklung seines Gnadendenkens zu tun haben. Ins‐ besondere seine Schrift Ad Simplicianum stellt eine gewisse Zäsur in dieser Ent‐ wicklung dar. War das frühe Gnadendenken Augustins durch das Modell der zwei Gnaden und die Lehre von der gratia subsequens et cooperans bestimmt, treten im Denken des späten Augustinus das Modell der einen Gnade und die Lehre von der gratia praeveniens et operans in den Vordergrund. Das Modell der zwei Gnaden geht davon aus, dass die bloße Wahrnehmung der Attraktivität der Tugend noch nicht ausreiche, um auch ein tugendhaftes Leben zu führen. Der Mensch muss sich auch zu einem tugendhaften Leben entscheiden und der praktischen Vorstellung, welche ihm ein solches Leben als attraktiv präsentiert, seine Zustimmung geben. Diese Zustimmung ist jedoch aufgrund der aus der Erbsünde resultierenden difficultas und der erworbenen consuetudo allein zu schwach, um auch handlungswirksam zu werden. Der Mensch bedarf der nachfolgenden und mitwirkenden Gnade Gottes - der gratia subsequens et cooperans -, um der Vorstellung des tugendhaften Lebens ent‐ sprechend handeln zu können. Diese nachfolgende und mitwirkende Gnade stärkt die gute voluntas des Menschen so sehr, dass sie die böse überwinden kann. Sie wird dem Menschen geschenkt, nachdem er durch die göttlich ver‐ mittelte praktische Vorstellung die Diskrepanz zwischen seinem bisherigen Le‐ benswandel und dem präsentierten tugendhaften Leben erkannt, seine alten Sünden bereut, sein Unvermögen, sich selbst aus seiner Lage befreien zu können, anerkannt und Gott deshalb um Hilfe angerufen hat. Der Akt der Zustimmung wird durch die göttliche Gnade von Gott im und durch das Zustimmungsver‐ mögen des Menschen verursacht. Der Akt der Zustimmung wird zwar vom Menschen vollzogen, aber durch Gottes Gnade ausgelöst, insofern er die prak‐ tische Vorstellung überhaupt erst eingegeben hat. Die göttliche Gnade hält schließlich auch in der Folge die Motivation zu einem tugendhaften Leben auf‐ recht, damit der Mensch nicht wieder zurück in seine alten consuetudines und Laster verfällt. Wichtig ist dabei zu verstehen, dass die göttliche Gnade die menschliche Natur und ihre einzelnen Vermögen begleitet und unterfängt, wobei die natürlichen Vermögen des Menschen - z. B. das Vorstellungs-, Ent‐ scheidungs- oder Zustimmungsvermögen - dadurch nicht zerstört, sondern vollendet werden. Das Vorstellungsvermögen wird wieder in die Lage versetzt, das sittlich Gute als attraktiv zu erkennen. Der Mensch kann sich dank der göttlichen Gnade wieder für das Gute entscheiden, und seiner Zustimmung und dem daraus resultierenden Handlungsimpuls in Form der voulntas wird durch 453 IV.5 Zwischenfazit: Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus (1) (2) (3) die Gnade zur Durchsetzung und Handlungswirksamkeit verholfen. Es ergibt sich für das Modell der zwei Gnaden folgender Dreischritt: die durch die göttliche Gnade vermittelte Vorstellung; das Nachdenken über die Vorstellung verbunden mit Reue über die eigenen Sünden und der Anrufung Gottes um Hilfe; die Zustimmung des Menschen und die Durchsetzung des daraus resul‐ tierenden Handlungsimpulses durch die göttliche Gnade - i.S. der gratia subsequens et cooperans. Gegenüber dem Modell der zwei Gnaden entfällt beim Modell der einen Gnade die zweite Intervention Gottes. Hier ist bereits alles mit der ersten Gnade - i.S. der gratia praeveniens et operans - gegeben. Gott vermittelt zugleich die prak‐ tische Vorstellung sowie die Zustimmung zu ihr und verhilft dem daraus resul‐ tierenden Handlungsimpuls zur Durchsetzung und Handlungswirksamkeit. Dies scheint zu implizieren, dass die göttliche Vorstellung in diesem Fall selbst‐ evident sei - ähnlich der stoischen φαντασία καταλεπτική - und dass deswegen das Haben der Vorstellung notwendig die Anerkennung ihrer Wahrheit und damit die Zustimmung zu ihr mit sich bringe, welche dann auch unmittelbar handlungswirksam wird. Im Modell der einen Gnade ist somit eine mächtigere bzw. stärkere Gnade - i.S. der gratia praeveniens et operans - wirksam als im Modell der zwei Gnaden, insofern bereits die gnadenhaft vermittelte Vorstellung ausreicht, um die Zustimmung des Akteurs zu erzeugen und den daraus resul‐ tierenden Impuls handlungswirksam werden zu lassen. Gott scheint dabei sein Gnadenhandeln an die verschiedenen Akteure anzu‐ passen, um ihnen die Gnade zukommen zu lassen, welche sie entsprechend ihrer individuellen Eigenschaften brauchen. Dies ist angesichts der Handlungspsy‐ chologie Augustins nicht verwunderlich, da der individuelle Charakter des Ak‐ teurs die Vorstellungen beeinflusst, die dieser hat. Das Modell der einen Gnade findet sich dabei in Augustins Werk vor allem bei Personen, die eine entschei‐ dende Rolle in der Heilsgeschichte spielen - z. B. Paulus - und bei denen Au‐ gustinus nichts dem Zufall überlassen wollte. Überhaupt scheint sich das Modell der einen Gnade und die Lehre von der gratia praeveniens et operans Augustins Sorge zu verdanken, dass sich der Mensch die Zustimmung zur göttlich vermit‐ telten Vorstellung als eigene Leistung anrechnen und der superbia verfallen könnte sowie dass die Möglichkeit der Zurückweisung der göttlichen Gnade im Modell der zwei Gnaden die göttliche Allwirksamkeit gefährde. Jedes göttliche Gnadenhandeln muss ein göttliches Wirken durch den Menschen hindurch sein, so dass er den Menschen unfehlbar zu einem bestimmten Handeln bringt und dieser sich ihm und seinem Willen nicht verweigern kann. 454 IV. Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus Wenn tugendhaftes bzw. moralisch richtiges Handeln für Augustinus die göttliche Gnade und den Glauben an Gott voraussetzt, wie es in der Anrufung Gottes um Hilfe zum Ausdruck kommt, stellt sich freilich die Frage, ob Nicht-Christen überhaupt dazu in der Lage sind, moralisch richtige bzw. tu‐ gendhafte Handlungen auszuführen. Augustinus bejahte diese Frage, wie oben dargelegt wurde. Er spricht nicht nur von den Tugenden der Heiden, sondern gesteht allen Menschen die Möglichkeit der Erkenntnis des natürlichen Sitten‐ gesetzes zu. Für Augustinus besteht die Tugend in der Übereinstimmung des ordo amoris mit dem ordo bonorum und in der Ausrichtung des menschlichen Strebens auf das richtige Letztziel. Dieses teleologische Kriterium lässt sich, wie aufgezeigt wurde, unterschiedlich interpretieren. Der plausibleren Interpreta‐ tion zufolge kann ein Aktuer auch dann tugendhaft handeln, wenn er von einem nicht-instrumentellen Interesse an der Tugend geleitet wird, obschon er auch andere irrige Überzeugungen über das Letztziel besitzt. Ein solcher Irrtum muss die richtige Einschätzung des Wesens und Werts der Tugend durch den Akteur nicht beeinträchtigen. Der Akteur handelt aus den richtigen Gründen, kann je‐ doch aufgrund seines defizitären Verständnisses des Letztziels immer noch kri‐ tisiert werden. Dies ändert jedoch nichts an seiner Tugendhaftigkeit. Der christ‐ liche Glaube ist damit keine notwendige Bedingung für moralisch richtiges Handeln. Dieses kann durch andere Gründe wie die Sorge um die Tugend als nicht-instrumentellen Wert motiviert werden. Was folgt aus diesen Überlegungen nun in systematischer Hinsicht für das eingangs diskutierte Problem der moralischen Motivation und der Relevanz des christlichen Glaubens für die menschliche Praxis? 455 IV.5 Zwischenfazit: Die Rezeption der stoischen Motivationstheorie bei Augustinus V. Motivation und christlicher Glaube In diesem abschließenden Kapitel soll der systematische Ertrag der Untersu‐ chung für die Beantwortung der in der Einleitung aufgeworfenen Fragen auf‐ gezeigt und für die moraltheologische Reflexion fruchtbar gemacht werden. Mit der Frage nach der moralischen Motivation steht man vor dem Problem, wie es zu erklären ist, dass ein Akteur dazu bewegt wird bzw. bewegt werden kann, dem moralischen Anspruch, dem er untersteht und den er als solchen erkannt hat, gerecht zu werden und ihm entsprechend zu handeln. Zur Erklärung dieses Phänomens konzentriert sich die Diskussion in der gegenwärtigen analytischen Philosophie auf die Kategorie der Handlungsgründe. Die Handlungsgründe des Akteurs nehmen für die Klärung der Frage, wie seine Einsicht in den morali‐ schen Anspruch, welchem er untersteht, auch handlungswirksam werden kann, eine Schlüsselstellung ein. Allerdings ist der Begriff des Handlungsgrundes no‐ torisch mehrdeutig, weshalb weitere Unterscheidungen zu seiner Klärung nötig sind. Dabei ist zunächst der normative Handlungsgrund, der den moralischen An‐ spruch an den Akteur konstituiert und für eine bestimmte Handlungsweise spricht, vom motivierenden Handlungsgrund zu unterscheiden, aus dem der Ak‐ teur de facto handelt. Normative Gründe sind ipso facto gute Gründe, motivie‐ rende Gründe nicht. Die philosophische Problematik besteht nun darin zu er‐ klären, wie die normativen Gründe, welche in der Welt bestehen und den moralischen Anspruch an den Akteur begründen, auch zu den motivierenden Gründen werden können, aus denen der Akteur de facto handelt. Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage hat zu zwei sehr unterschiedlichen Verständ‐ nissen von normativen Handlungsgründen geführt. So besteht für die Vertreter einer Theorie interner Gründe überhaupt nur dann ein normativer Handlungs‐ grund - und damit ein moralischer Anspruch - für einen Akteur, wenn der Akteur nach Durchlaufen eines rationalen Deliberationsprozesses zu einem dem Grund entsprechenden Handeln motiviert werden kann und der Grund somit in Verbindung mit dem vorgängig bestehenden subjektiven Motivationsprofil des Akteurs steht. Da dieser Theorie zufolge bereits immer schon ein motivati‐ onales Element mit dem normativen Grund gegeben ist, weil er andernfalls kein normativer Grund wäre, kann hier leicht erklärt werden, wie der normative Grund auch handlungswirksam werden kann - er hat immer schon Zugriff auf das subjektive Motivationsprofil des Akteurs. Vertreter einer Theorie externer Gründe wenden gegen ein solches Ver‐ ständnis normativer Handlungsgründe ein, dass es die Normativität moralischer Forderungen nicht sicherstellen könne und der darin erfahrenen Beanspru‐ chung seitens des Akteurs nicht gerecht werde. Für den Akteur könne auch dann ein normativer Handlungsgrund bestehen, wenn er in keiner Weise motiviert werden kann, dem Grund entsprechend zu handeln. Der Akteur werde in diesem Fall den Vertretern einer Theorie externer Gründe zufolge dem normativen An‐ spruch des Grundes an ihn nicht gerecht, welcher unabhängig von ihm in der Welt besteht. Bei der Untersuchung der stoischen sowie der augustinischen Motivations‐ theorie wurde aufgezeigt, dass sowohl die Stoiker als auch Augustinus eine Theorie externer normativer Handlungsgründe vertraten. Der in der Stoa vorge‐ nommenen Verhältnisbestimmung von rationalem Eudämonismus und Natur‐ philosophie zufolge stellt die kosmische Natur objektive Forderungen an den Akteur, der den Anspruch dieser Forderungen erfährt und ihnen entsprechen muss, wenn er in Übereinstimmung mit der Natur leben und εὐδαιμονία er‐ langen möchte. Ist er nicht motiviert, diesen Forderungen entsprechend zu han‐ deln, wird er dem objektiv für ihn bestehenden Anspruch des Grundes nicht gerecht, und der Fehler liegt bei ihm, wodurch er seine εὐδαιμονία aufs Spiel setzt. Die stoische eudämonistische Ethik erfährt ihre Fundierung in der kos‐ mischen Naturphilosophie. Zum selben Resultat in Form einer Theorie externer Gründe führt auch Augustins Verhältnisbestimmung von Eudämonismus und ordo bonorum. Auch Augustins eudämonistische Ethik ist über den ordo bonorum in die Schöpfungsordnung eingebettet, aus welcher ein normativer Anspruch in Form des göttlichen Gesetzes für den Akteur resultiert, diesem entsprechend zu handeln. Lässt er sich nicht zu einem entsprechenden Handeln motivieren, liegt der Fehler wiederum bei ihm und er verstößt gegen das göttliche Gesetz, indem er sündigt, was zur Wiederherstellung der Ordnung ein göttliches Strafhandeln zur Folge hat. Das Problem für einen Vertreter einer Theorie externer normativer Gründe besteht nun allerdings darin zu erklären, wie ein unabhängig vom je‐ weiligen Motivationsprofil des Akteurs in der Welt bestehender normativer Handlungsgrund auch handlungswirksam werden kann. Eine naheliegende Lösung für dieses Problem bietet der sog. motivationsthe‐ oretische Internalismus, der annimmt, dass eine notwendige bzw. innere Verbin‐ dung zwischen dem moralischen Urteil eines Akteurs und einer entsprechenden Handlungsmotivation besteht. Motiviert den Akteur seine Einsicht in bzw. sein Urteil über das Bestehen eines normativen Handlungsgrundes aufgrund der in‐ neren Verbindung zwischen Urteil und Handlungsmotivation notwendig zum Handeln, reicht die Einsicht bzw. das Fällen des Urteils aus, um zu erklären, wie 458 V. Motivation und christlicher Glaube die für ihn bestehenden normativen Gründe handlungswirksam werden können, so dass er dem moralischen Anspruch, welchen sie begründen, gerecht werden kann. Aufrichtige moralische Urteile ohne eine entsprechende Hand‐ lungsmotivation sind damit dem motivationstheoretischen Internalisten zufolge gar nicht möglich. Diesen Weg beschreiten sowohl die Stoiker als auch Augus‐ tinus. Das Urteil, dass eine konkrete Handlung καθῆκον ist, ist die zentrale moti‐ vationale Erwägung in der Stoa. Die motivationale Kraft des Begriffs καθῆκον stammt aus seiner Genese im Prozess der οἰκείωσις, deren motivationale Di‐ mension sich auch auf den in ihr entstehenden Begriff des καθῆκον überträgt. Erhält ein Akteur eine φαντασία, welche von einem λεκτόν bzw. ἀξιώμα be‐ gleitet wird, welches ihm eine konkrete Handlung als καθῆκον präsentiert, wo‐ durch die φαντασία zu einer φαντασία ὁρμετική wird, insofern der Akteur zu‐ sätzlich eine partizipatorische Haltung sich selbst gegenüber einnimmt, und gibt er dieser bzw. - genauer gesagt - dem sie begleitenden λεκτόν bzw. ἀξιώμα seine Zustimmung, da es ihm als wahr erscheint, verursacht er damit notwendiger‐ weise eine ὁρμή, die auf die im κατηγόρημα des ἀξιώμα repräsentierte Handlung gerichtet ist und ihn zum Handeln motiviert. In diesem Punkt zeigt sich der motivationstheoretische Internalismus der Stoa, insofern eine Zustimmung zu einer φαντασία ὁρμετική notwendig zu einer ὁρμή führt, welche den Akteur zum Handeln motiviert. Es besteht folglich eine innere Verbindung zwischen der Zustimmung des Akteurs zu einer φαντασία ὁρμετική - d. h. seinem Urteil - und der ὁρμή, welche ihn zu einem entsprechenden Handeln motiviert. Es steht jedoch in der Macht des Akteurs, sich dazu zu entscheiden, einem in einer φαντασία subsistierenden ἀξιώμα seine Zustimmung zu geben oder zu verwei‐ gern. Die φαντασία ὁρμετική und das in ihr subsistierende ἀξιώμα übernehmen in dieser Theorie die Brückenfunktion zwischen dem in der Welt bestehenden normativen Grund, der für das Ausführen einer bestimmten Handlung spricht, und dem motivierenden Grund, aus dem ein Akteur auch de facto handelt. Der normative Handlungsgrund wird im die φαντασία ὁρμετική begleitenden ἀξιώμα erfasst und gelangt so über die φαντασία ὁρμετική in die psychologische Struktur des Akteurs. Er kann dann handlungswirksam werden, wenn der Ak‐ teur dem ἀξιώμα seine Zustimmung erteilt und dadurch eine ὁρμή verursacht, welche auf die im κατηγόρημα des ἀξιώμα repräsentierte Handlung gerichtet ist und ihn zur Ausführung dieser Handlung motiviert. Insofern also das κατηγόρημα, auf welches die den Akteur zum Handeln motivierende ὁρμή ge‐ richtet ist, im ἀξιώμα enthalten ist, welches den normativen Grund in proposi‐ tionaler Form erfasst, verfügen die Stoiker über eine Erklärung dafür, wie der 459 V. Motivation und christlicher Glaube normative Grund auch zu einem motivierenden Grund werden kann, aus dem der Akteur de facto handelt. Der normative Grund findet über das die φαντασία ὁρμετική begleitende ἀξιώμα Eingang in die psychologische Struktur des Ak‐ teurs und wird durch die Repräsentation der von ihm geforderten Handlung im κατηγόρημα des ἀξιώμα, auf welches die ὁρμή gerichtet ist, zum motivierenden Grund, aus dem heraus er auch de facto handelt. Einem motivationstheoretischen Internalismus und einer stoisch inspirierten Erklärung, wie die normativen Handlungsgründe, die objektiv in der Welt be‐ stehen, auch handlungswirksam werden können, begegnet man auch im Denken Augustins. Seine Antwort auf diese Frage besteht in einer Angleichung des subjektiven ordo amoris an den objektiv in der Welt existierenden ordo bo‐ norum. Der normative Grund, der im ordo bonorum fußt, wird in propositionaler Form durch die suggestio erfasst und gelangt auf diese Weise in die psychologi‐ sche Struktur des Akteurs. Gibt dieser der suggestio seine Zustimmung, weil sie ihm wahr erscheint, verursacht er dadurch einen Handlungsimpuls in Form einer voluntas, welche auf die im Prädikat der suggestio repräsentierte Handlung gerichtet ist und den Akteur zu einem entsprechenden Handeln motiviert. So kann der normative Handlungsgrund, der im ordo bonorum in der Welt existiert, zu einem motivierenden Grund werden, aus dem heraus der Akteur auch de facto handelt. Diese internalistische Lösung des Motivationsproblems ist freilich weder un‐ kontrovers, noch wird sie kritiklos akzeptiert. So führen in der zeitgenössischen Diskussion motivationstheoretische Externalisten, welche die innere bzw. not‐ wendige Verbindung zwischen einem moralischen Urteil und einer entsprech‐ enden Handlungsmotivation bestreiten und eine lediglich kontingente, wenn auch verlässliche Verbindung zwischen den beiden Größen - z. B. aufgrund der spezifischen psychologischen Verfasstheit eines Akteurs, seiner genossenen Moralerziehung oder seines sozialen Umfelds - annehmen, verschiedene Ge‐ genbeispiele an, welche aufzeigen sollen, dass ein Akteur durchaus aufrichtige moralische Urteile fällen könne, ohne dass diese notwendig von einer ent‐ sprechenden Handlungsmotivation begleitet würden. Das dabei am häufigsten ins Feld geführte Gegenbeispiel bildet die Figur des sog. Amoralisten, der zwar ein aufrichtiges moralisches Urteil fälle, jedoch in keiner Weise motiviert sei, diesem Urteil entsprechend zu handeln. Eine überzeugende internalistische Po‐ sition muss eine Erklärungsstrategie für solche Gegenbeispiele bereithalten. Den Stoikern stehen zur Erklärung des Phänomens des Amoralisten im We‐ sentlichen zwei Erklärungsstrategien zur Verfügung: Zum einen könnten sie die Position vertreten, dass der Amoralist zwar hinsichtlich des ἀξιώμα, welches durch den καθῆκον-Operator qualifiziert ist, eine φαντασία ὁρμετική habe, er 460 V. Motivation und christlicher Glaube sich selbst gegenüber jedoch keine partizipatorische Haltung einnehme und sich nicht als Teil der moralischen Gemeinschaft sehe, wodurch die φαντασία nicht in der für eine φαντασία ὁρμετική typischen Weise gedacht werde. Insofern eine φαντασία ὁρμετική durch den propositionalen Gehalt des ἀξιώμα und durch den repräsentationalen Gehalt der Art und Weise, wie sie gedacht wird (z. B. freudig, hoffnungsvoll oder ärgerlich), konstituiert wird, handelt es sich bei der φαντασία des Amoralisten gar nicht um eine φαντασία ὁρμετική, da sie nur in ihrem propositionalen, nicht jedoch in ihrem repräsentationalen Gehalt einer solchen entspricht, wodurch eine konstitutive Bedingung für das Vorliegen einer φαντασία ὁρμετική nicht erfüllt ist. Der Amoralist fällt daher gar kein moralisches oder praktisches Urteil, wenn er einer solchen φαντασία seine Zu‐ stimmung gibt, sondern lediglich ein theoretisches - z. B. über die herrschenden Moralvorstellungen in der Gesellschaft, in der er lebt. Er fällt nur ein Urteil darüber, was jeweils καθῆκον ist und was man für gewöhnlich in einer solchen Situation tun sollte, nicht jedoch darüber, was er selbst aus einer erstpersönlichen Perspektive tun sollte. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn einem solchen Urteil keine Motivation folgt, ihm entsprechend zu handeln. Die zweite Erklärungsstrategie für das Phänomen des Amoralisten greift auf die stoische Affektenlehre und das Persistenzmodell akratischen Handelns zu‐ rück. Die Affekte stellen für die Stoiker weniger Emotionen in ihrem phäno‐ menalen Gehalt, als vielmehr Handlungsmotivationen dar, was an ihrer Defi‐ nition als vernunftwidrige bzw. exzessive ὁρμαί deutlich wird. Sie gehen aus einem falschen Urteil über den Wert eines Strebensobjektes sowie über die an‐ gemessene Reaktion diesem gegenüber hervor und sind deswegen als exzessiv zu betrachten, da sie andere ὁρμαί übertrumpfen können, wodurch der Akteur die rationale Kontrolle über sein Handeln verliert. Verfällt der Akteur in einen Affekt, können seine ὁρμαί, etwas Anderes zu tun, nicht mehr handlungs‐ wirksam werden, da sie vom Affekt übertrumpft werden. Die Vehemenz der Affekte ist dabei so groß, dass sie auch nach einer Urteilsänderung fortbestehen können. Wenn der Akteur ein falsches Urteil fällt und dadurch in einen Affekt verfällt, gleich darauf jedoch sein Urteil korrigiert und eine neue ὁρμή ausbildet, kann diese neue ὁρμή nicht handlungswirksam werden, da sie durch den per‐ sistierenden Affekt übertrumpft wird, und die Urteilskorrektur bleibt machtlos. Der Akteur wird durch den Affekt fortgetragen und handelt gegen sein zweites, besseres Urteil. Das erste Urteil muss dabei nicht immer auch ins Bewusstsein des Akteurs treten, da einer Vorstellung vielleicht nur implizit zugestimmt wurde und die Urteilskorrektur so schnell erfolgte, dass sie unbewusst blieb. Wenn der Amo‐ ralist nun also ein aufrichtiges moralisches Urteil gefällt zu haben scheint, je‐ 461 V. Motivation und christlicher Glaube doch angibt, keinerlei Motivation zu empfinden, dem Urteil entsprechend zu handeln, hat er möglicherweise zuvor - vielleicht auch nur implizit und unbe‐ wusst - ein anderes Urteil gefällt und ist dadurch in einen Affekt verfallen, dessen Exzessivität die aus seinem späteren Urteil resultierende ὁρμή über‐ trumpft und verhindert, dass diese handlungswirksam werden kann. Demnach fällt der Amoralist also ein aufrichtiges moralisches Urteil und bildet auch eine Motivation aus, diesem Urteil entsprechend zu handeln, doch verhindert der aus einem vorangegangenen falschen Urteil resultierende Affekt, dass diese Moti‐ vation auch handlungswirksam werden kann. So scheint der Amoralist ohne jede Motivation zu sein, seinem Urteil entsprechend zu handeln. In Wahrheit ist jedoch eine entsprechende Motivation vorhanden. Sie wird nur durch den Affekt übertrumpft. Dieselben beiden Erklärungsstrategien stehen mit kleineren Modifikationen und Spezifizierungen auch Augustinus zur Verfügung. So macht auch er die Beobachtung, dass zwei hinsichtlich ihres in der suggestio erfassten propositio‐ nalen Gehaltes identische Vorstellungen unterschiedliche motivationale Wir‐ kungen bei verschiedenen Individuen hervorrufen können, und übernimmt damit aus der stoischen Erkenntnistheorie die Unterscheidung zwischen dem propositionalen und dem repräsentationalen Gehalt einer Vorstellung. Der Ak‐ teur muss eine partizipatorische Haltung sich selbst gegenüber einnehmen, damit eine Vorstellung mit einem entsprechenden - d. h. ein praktisches Prä‐ dikat enthaltenden - propositionalen Gehalt auch motivational wirksam werden kann. Der Amoralist hingegen betrachtet sich aus einer objektiven Zuschauer‐ haltung und beschreibt möglicherweise nur, was die anderen in seiner Gesell‐ schaft für die moralisch richtige Handlung halten, ohne sich jedoch als Teil der moralischen Gemeinschaft zu verstehen. Damit hat der Amoralist auch der au‐ gustinischen Theorie zufolge gar keine praktische Vorstellung, da ihr repräsen‐ tationaler Gehalt nicht der für eine praktische Vorstellung charakteristische ist, so dass er auch kein moralisches bzw. praktisches Urteil fällt. Daher stellt die in diesem Fall nicht vorhandene Motivation für die internalistische Position kein Problem dar. Auch die zweite Erklärungsoption lehnt sich stark an die stoische Strategie an, das Phänomen des Amoralisten unter Rückgriff auf die Affektenlehre und das Persistenzmodell der Willensschwäche zu erklären, wenn auch Augustinus einige wichtige Modifikationen an der stoischen Affektenlehre und am Wil‐ lensbegriff vornimmt. Affekte sind auch für Augustinus das Resultat einer menschlichen Willensentscheidung und Zustimmung zu einer praktischen Vor‐ stellung und stellen Handlungsmotivationen (voluntates) dar. Durch das wie‐ derholte Verfallen in einen Affekt und die wiederholte Ausführung affekt- 462 V. Motivation und christlicher Glaube hafter Handlungen bildet sich im Menschen eine dispositionale Handlungsmo‐ tivation heraus, welche Augustinus als Gewohnheit (consuetudo) bezeichnet. Diese beeinflusst nicht nur, welche Handlungen ein Akteur ausführt, sondern auch welche Vorstellungen er haben und welchen er seine Zustimmung geben wird. Durch die consuetudo wird das Spektrum der praktischen Vorstellungen eingeschränkt, welche ein Akteur zu haben vermag und durch welche er zum Handeln motiviert werden kann. Sie kann es für ihn fast unmöglich werden lassen, die Attraktivität tugendhafter Handlungen zu erkennen, so dass er nicht zu ihrer Ausführung motiviert werden kann. Der Akteur ist durch die consuetudo immer schon prädisponiert, den falschen Vorstellungen ohne nähere Prüfung seine Zustimmung zu geben, da diese zu seinen verkehrten Überzeugungen über den Wert seiner Strebensobjekte passen. Dies führt schließlich dazu, dass sich der Habitus verfestigt und letztlich aus eigener Kraft nicht mehr überwunden werden kann. Der Akteur verliert auf diese Weise die Freiheit, anders handeln zu können. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung für das menschliche Handeln allgemein und die Handlungsmotivation im Besonderen, die dispositionalen Zustände, welche unsere affektiven Regungen regulieren, zu kultivieren, um durch die richtigen Gründe angesprochen werden zu können. Auch die Erbsünde stellt für Augustinus letztlich eine schlechte consuetudo dar, welche äußerst tief im Menschen verwurzelt ist und es ihm nicht nur un‐ möglich macht, den wahren Wert der Dinge zu erkennen, sondern auch seine eigene voluntas auf das summum bonum auszurichten, wodurch der Mensch - zumindest teilweise - die Kontrolle über sein Streben und Begehren verliert. Eine Folge der consuetudo - gerade auch i.S. der Erbsünde - besteht darin, dass ein Akteur eine Zerrissenheit in seinem Willen empfinden kann, welche sich darin ausdrückt, dass er zwischen zwei konkurrierenden Handlungsmotivati‐ onen - small-scale motivations - hin und her gerissen ist, von denen die eine aus der consuetudo hervorgeht und verhindert, dass die andere, aus einer spä‐ teren Zustimmung resultierende handlungswirksam werden kann. Die neue Handlungsmotivation - die neue voluntas - ist nicht stark genug, die alte, zur consuetudo verfestigte Motivation - die alte voluntas - zu überwinden, so dass der Akteur eine Zerrissenheit in seiner voluntas empfindet, wobei die neue gegen die alte kämpft. Er mag sich dabei mehr mit seiner neuen voluntas iden‐ tifizieren, doch ist er auch für seine alte verantwortlich, da er diese durch seine früheren Entscheidungen und Handlungen hervorgebracht und durch seine - vielleicht infolge der consuetudo auch nur implizite - Zustimmung verursacht hat. Zwei konkurrierende Handlungsmotivationen kämpfen miteinander, wobei sich die aus der consuetudo hervorgehende aufgrund ihres Affektcharakters und 463 V. Motivation und christlicher Glaube der damit verbundenen Exzessivität und Vehemenz durchsetzt und verhindert, dass die neue, aus einem späteren, besseren Urteil resultierende voluntas hand‐ lungswirksam werden kann. Die alte voluntas scheint sich dabei gegen den Willen des Akteurs zu vollziehen, der sich stärker mit seinem späteren, besseren Urteil identifiziert, doch ist auch sie das Ergebnis einer Zustimmung seitens des Akteurs. Die alte voluntas persistiert aufgrund ihres Affektcharakters und über‐ trumpft aufgrund desselben auch seine neue voluntas, die durch eine spätere Zustimmung zustande kommt, so dass diese nicht handlungswirksam werden kann. Es kommt damit zu einem synchronen Konflikt in der Seele des Akteurs, wobei sich dieser stärker mit seiner neuen voluntas identifiziert, die jedoch durch die alte affekthafte und sich gegen den Willen des Akteurs zu ereignen schein‐ ende voluntas übertrumpft wird und nicht handlungswirksam werden kann. Der Akteur, der einen zerrissenen Willen besitzt, wird dabei jedoch nicht von einem irrationalen, der Vernunft unzugänglichen Seelenteil überwältigt und zum Han‐ deln gedrängt, sondern er hat durch seine - vielleicht aufgrund der consuetudo auch nur implizite - Zustimmung einen Prozess in Gang gesetzt, den er nicht mehr stoppen kann, obwohl er sein früheres Urteil korrigiert hat und gerne anders handeln möchte. Fällt folglich der Amoralist ein aufrichtiges moralisches Urteil, ohne dass er eine Motivation, diesem Urteil entsprechend zu handeln, zu empfinden scheint, hat er dieser Erklärungsstrategie über die Persistenz des Affekts zufolge bereits vorher - vielleicht auch nur implizit - ein Urteil gefällt, welches ihn in einen Affekt hat verfallen lassen, welcher nun als alte voluntas aufgrund seiner Ve‐ hemenz und Persistenz die aus dem späteren, besseren moralischen Urteil re‐ sultierende neue voluntas übertrumpft und verhindert, dass sie handlungs‐ wirksam werden kann. Der Amoralist fällt also dieser Erklärungsstrategie zufolge - wie in der Stoa - ein aufrichtiges moralisches Urteil und bildet auch eine entsprechende Handlungsmotivation aus, doch kann diese nicht hand‐ lungswirksam werden, da sie durch eine andere, vorgängige Handlungsmoti‐ vation in Gestalt der alten voluntas übertrumpft wird. Auf diese Weise scheint der Amoralist ohne jegliche Motivation zu sein, seinem moralischen Urteil ent‐ sprechend zu handeln. In Wahrheit ist sie jedoch vorhanden und wird nur durch die stärkere Motivation des Affekts übertrumpft. Für Augustinus stellt das Phänomen des zerrissenen Willens freilich nicht nur eine Erklärungsmöglichkeit für das Verhalten des modernen Amoralisten dar, sondern ist ein Faktum in der Welt, dem alle Menschen infolge der erbsündlichen Verstrickung unterliegen. Aufgrund der Erbsünde, welche eine besonders schwere Form der consuetudo darstellt, haben alle Menschen einen zerrissenen Willen, wodurch sie niemals etwas uneingeschränkt wollen können und stets 464 V. Motivation und christlicher Glaube zwischen einem teilweisen Wollen und einem teilweisen Nicht-Wollen hin und her schwanken. Um aus dieser Zerrissenheit des Willens herauszukommen, be‐ darf es einer Vereinigung der voluntas, damit der Akteur sich uneingeschränkt für eine Handlungsoption entscheiden kann. Diese Vereinigung vermag der Mensch jedoch aus sich heraus nur zum Schlechten hin zu bewerkstelligen. Für die Auflösung zum Guten hin ist er Augustinus zufolge auf die Gnade Gottes angewiesen. An diesem Punkt geht es folglich um die Relevanz des Glaubens für die menschliche Praxis. Die durch die Erbsünde auf den Menschen gekom‐ mene poenalis consuetudo verhindert es, dass der Mensch die Attraktivität der Tugend erkennen und seine voluntas auf Gott hin ausrichten kann. Er muss daher wieder dazu in die Lage versetzt werden, die Attraktivität einer tugend‐ haften Handlung zu erkennen, ihrer Vorstellung seine Zustimmung zu geben sowie sich schließlich von ihr zu einem entsprechenden Handeln motivieren zu lassen. Durch die göttliche Gnade wird der Mensch wieder in die Lage versetzt, die Attraktivität einer tugendhaften Handlung zu erkennen, indem Gott eine ent‐ sprechende praktische Vorstellung in seine Seele hinein vermittelt, welche ihm diese Handlung als attraktiv präsentiert. Der in die Erbsünde verstrickte Mensch wird so wieder in die Lage versetzt, sich vom Guten motivieren lassen zu können. Gott weckt in ihm die Liebe zum moralisch Guten und schafft die Vo‐ raussetzung dafür, dass die tugendhafte Handlung um des Guten willen getan wird. Der subjektive ordo amoris des Akteurs wird so wieder mit dem objektiven, die Welt strukturierenden ordo bonorum in Übereinstimmung gebracht und tu‐ gendhaftes Handeln ermöglicht. Die göttlich vermittelte Vorstellung der At‐ traktivität der Tugend verursacht im Menschen eine innere Veränderung seiner Wahrnehmungs- und Motivationsstruktur, so dass er von nun an die Attrakti‐ vität tugendhafter Handlungen erkennen und durch Vorstellungen, die solche präsentieren, zu einem entsprechenden Handeln motiviert werden kann. Ent‐ scheidend an dieser Wirkweise der göttlichen Gnade und des christlichen Glau‐ bens ist, dass nicht die Überlegung, dass es Gottes Wille sei, dies zu tun, oder dass es der Glaube dem Akteur auferlege, entsprechend zu handeln, sondern die Attraktivität der Tugend und der sittlich richtigen Handlung selbst den Akteur zum Handeln motiviert. Der Glaube und die Wirkung der göttlichen Gnade stellen vielmehr die Ermöglichungsbedingungen dafür dar, sich durch die er‐ kannte Attraktivität der Tugend motivieren lassen zu können. Allein die Ein‐ sicht, dass es tugendhaft bzw. sittlich richtig ist, auf diese Weise zu handeln, und die Erkenntnis der Attraktivität dieser Handlungsweise motivieren den Akteur zu einem entsprechenden Handeln. 465 V. Motivation und christlicher Glaube Damit lässt sich die pauschal vorgetragene These von der motivationalen Dimension des christlichen Glaubens für die menschliche Praxis mit Augustinus in Zweifel ziehen, und das von den Vertretern einer ‚Autonomen Moral‘ ge‐ zeichnete Bild einer allgemein stimulierenden Funktion des Glaubens dürfte unbefriedigend erscheinen. Der Glaube ist für unsere Motivation zu sittlich richtigem Handeln relevant, jedoch nicht i.S. der entscheidenden motivierenden Erwägung, welche jede einzelne unserer konkreten moralischen Handlungen motiviert. Seine Relevanz ist diesen konkreten Einzelhandlungen vielmehr vor‐ gelagert und liegt darin, uns die Attraktivität der konkreten moralischen Hand‐ lung erkennen zu lassen, welche uns dann zu ihrer Ausführung motivieren kann. In dieser Hinsicht liegt die Relevanz des Glaubens und der göttlichen Gnade also eher in der epistemologischen als in der motivationalen Dimension. Dies schließt allerdings die Heiden nicht von der Erkenntnis des sittlich Rich‐ tigen aus. Auch die Heiden können Augustinus zufolge Tugenden besitzen und sittlich richtige Handlungen ausführen. Die Tugend besteht in der Übereinstim‐ mung des subjektiven ordo amoris mit dem objektiven ordo bonorum und damit in der Ausrichtung des menschlichen Strebens auf das richtige Letztziel, wobei dieses in einem moralischen Sinne verstanden und der Akteur in seinem Han‐ deln von einem nicht-instrumentellen Interesse an der Tugend geleitet wird. Er handelt aus den richtigen Gründen, auch wenn sein Verständnis des Letztziels noch nicht vollständig richtig sein mag - weil er möglicherweise seine Ange‐ wiesenheit auf die göttliche Hilfe nicht anerkennt und dadurch superbia an den Tag legt -, wofür er kritisiert werden kann. Dies ändert jedoch nichts an der sittlichen Richtigkeit und Tugendhaftigkeit seines Handelns, weshalb sittlich richtiges Handeln Augustinus zufolge auch unabhängig vom christlichen Glauben möglich ist. Es reicht nun allerdings nicht aus, um ein tugendhaftes Leben zu führen, die Attraktivität einer tugendhaften Handlung lediglich wahrzunehmen. Der Mensch muss sich auch zu einem solchen Leben entscheiden und einer ent‐ sprechenden praktischen Vorstellung seine Zustimmung geben. Damit diese Zustimmung jedoch auch handlungswirksam werden und sich gegen die kon‐ kurrierenden aus der Erbsünde und den lasterhaften Gewohnheiten resultier‐ enden schlechten Motivationen durchsetzen kann, bedarf der Mensch der nach‐ folgenden und mitwirkenden Gnade Gottes - der gratia subsequens et cooperans -, welche die voluntas des Menschen zu einem tugendhaften Leben so sehr stärkt, dass sie die aus der Erbsünde und schlechten consuetudo resul‐ tierende böse voluntas überwinden kann. Der motivationstheoretische Interna‐ lismus wird dabei durch den Gedanken der Notwendigkeit der göttlichen Gnade für die Handlungswirksamkeit der neuen voluntas zu einem tugendhaften Leben 466 V. Motivation und christlicher Glaube keineswegs verlassen. Die Zustimmung zu einer Vorstellung, welche dem Ak‐ teur ein tugendhaftes Leben als attraktiv präsentiert, bringt notwendig eine voluntas - d. h. eine Motivation - zu einem entsprechenden Leben hervor. Doch ist diese aus sich heraus zu schwach, um sich gegen die aus der Erbsünde und den lasterhaften consuetudines resultierenden schlechten und aufgrund ihres Affektcharakters stärkeren voluntates durchzusetzen. Hierfür bedarf es der gött‐ lichen Gnade, welche die neue voluntas zu einem tugendhaften Leben stärkt und handlungswirksam werden lässt. Der Akt der Zustimmung zu einer tugendhaften Handlung und einem ent‐ sprechenden Leben wird durch die göttliche Gnade von Gott durch das Zustim‐ mungsvermögen des Menschen verursacht, wobei er zwar durch den Menschen vollzogen, aber durch Gottes Gnade ausgelöst wird, insofern er dem Menschen eine entsprechende Vorstellung eingibt. Die göttliche Gnade hält auch die Mo‐ tivation zu einem tugendhaften Leben aufrecht, damit der Mensch nicht wieder zurück in seine alten consuetudines und Laster verfällt, doch ist sie nicht die motivationale Erwägung, welche das tugendhafte Handeln motiviert. Sie be‐ gleitet und unterfängt die menschliche Natur und ihre einzelnen Vermögen, wobei die natürlichen Vermögen des Menschen - z. B. das Vorstellungs-, Ent‐ scheidungs- oder Zustimmungsvermögen - nicht zerstört, sondern vollendet werden. Das Vorstellungsvermögen wird wieder in die Lage versetzt, das sittlich Gute als attraktiv zu erkennen. Der Mensch kann sich dank der göttlichen Gnade wieder für das Gute entscheiden, und seiner Zustimmung und dem daraus re‐ sultierenden Handlungsimpuls in Form der voulntas wird durch die Gnade zur Durchsetzung und Handlungswirksamkeit verholfen. Im späteren Denken Augustins gewann die Sorge immer mehr Raum, dass sich der Mensch die Annahme des göttlichen Gnadenangebotes als eigene mo‐ ralische Leistung zuschreiben und dem Laster der superbia verfallen könnte sowie dass die Möglichkeit, der göttlichen Gnade die Zustimmung zu verwei‐ gern, die Allwirksamkeit Gottes gefährde, weshalb er seine Gnadenlehre um die vorhergehende und wirksame Gnade Gottes - die gratia praeveniens et ope‐ rans - erweiterte, was letztlich zu einem Problem in Bezug auf die Vereinbarkeit der göttlichen Gnade mit der menschlichen Freiheit führte, da sich der Mensch nicht mehr frei zum göttlichen Gnadenhandeln verhalten kann, sondern von diesem einfach überwältigt wird. Inwiefern der Mensch dann noch für sein Handeln verantwortlich sein kann, ist eine offene Frage. Dabei wäre es für Au‐ gustinus gar nicht nötig gewesen, seine Gnadenlehre in diese problematische Richtung weiterzuentwickeln. Die göttliche Allwirksamkeit ist im Falle der gratia subsequens et cooperans keineswegs gefährdet, da Gott genau die Gnade 467 V. Motivation und christlicher Glaube schenkt, die er schenken will, und mit ihr genau das erreicht, was er erreichen will. Um zu verstehen, wie diese Gnade im Inneren des Menschen näherhin wirkt, wurden in den vorhergehenden Kapiteln verschiedene Theorien motivierender Gründe und die motivierenden mentalen Zustände des Menschen genauer un‐ tersucht. Dabei wurde zunächst auf die Unterscheidung zwischen psychologis‐ tischen und non-psychologistischen Theorien motivierender Gründe einge‐ gangen. Non-psychologistische Theorien motivierender Gründe behaupten, dass Tatsachen in der Welt selbst motivierende Gründe bilden und unsere psychi‐ schen Zustände nur den epistemischen Zugang zu diesen Gründen eröffnen, so dass die Gründe auch handlungswirksam werden können. Allerdings liegt den non-psychologistischen Theorien motivierender Gründe eine allzu wörtliche Interpretation des von Jonathan Dancy formulierten ‚normative constraint‘ in Bezug auf motivierende Gründe zugrunde, dem zufolge es möglich sein müsse, dass die normativen Gründe, die für eine Handlung sprächen, auch die moti‐ vierenden Gründe seien, aus welchen ein Akteur de facto handle. Es wurde eine Interpretation des ‚normative constraint‘ entwickelt, welche sowohl der Tatsache Rechnung trägt, dass normative und motivierende Gründe nicht streng identisch sind, da Handlungserklärung und Deliberation verschiedene Kontexte defi‐ nieren, in denen motivierenden und normativen Gründen jeweils spezifische Rollen zukommen, als auch an der Idee festhält, dass es möglich sein müsse, aus guten Gründen zu handeln. Der ‚normative constraint‘ ist dann erfüllt, wenn es gute Gründe für einen Akteur gibt, die für eine bestimmte Handlung sprechen, und der Akteur entsprechend handelt, weil er der Überzeugung ist, dass diese Gründe vorliegen. Motivierende Gründe erklären damit Handlungen, indem sie diejenigen psychischen Zustände angeben, welche die normativen Erwägungen des Akteurs in Bezug auf eine bestimmte Handlung verständlich machen. Diesen Überlegungen entsprechend nehmen psychologistische Theorien mo‐ tivierender Gründe an, dass unsere psychischen Zustände - wie Wünsche, Überzeugungen, Intentionen etc. - unsere motivierenden Gründe konstituieren. Innerhalb der psychologistischen Theorien motivierender Gründe können wei‐ tere Unterscheidungen anhand der mentalen Zustände vorgenommen werden, welche die motivierenden Gründe konstituieren. So nimmt die Humeanische Motivationstheorie an, dass sich ein motivierender Grund aus einem konativen Element (z. B. einem Wunsch) und einem kognitiven Element (z. B. einer Über‐ zeugung) zusammensetzt, wobei eine Asymmetrie zugunsten des konativen Elements bestehe, insofern die motivierende Kraft allein bei diesem liege und das kognitive Element die vom konativen ausgehende motivierende Kraft le‐ diglich kanalisiere und in die richtige Richtung lenke. Kognitives und konatives 468 V. Motivation und christlicher Glaube Element werden dabei als distinkte Existenzen verstanden, so dass keine kau‐ salen Beziehungen zwischen den beiden Elementen existieren. Theorien motivierender Gründe, welche diese Konzeption ablehnen, werden unter dem Begriff der Anti-Humeanischen Motivationstheorien zusammengefasst und können anhand des Grades ihrer Ablehnung der Humeanischen Theorie differenziert werden. Gemeinsam ist diesen Anti-Humeanischen Konzeptionen motivierender Gründe, dass sie davon ausgehen, dass evaluative Überzeu‐ gungen allein hinreichend sein können, um eine Handlungsmotivation hervor‐ zubringen. Während allerdings der hybride Kognitivismus lediglich die Humea‐ nische Asymmetriethese aufgibt und behauptet, dass evaluative Überzeugungen insofern hinreichend für die Handlungsmotivation sind, als sie allein dazu in der Lage sind, Wünsche hervorzubringen, mit welchen zusammen sie dann einen motivierenden Grund konstituieren, sind für den reinen Kognitivismus überhaupt keine Wünsche oder affektiven Zustände dafür notwendig. Die Stoiker wie auch Augustinus sind in diesem Spektrum der Theorien mo‐ tivierender Gründe der psychologistischen sowie der Anti-Humeanischen Moti‐ vationstheorie avant la lettre - genauer gesagt einem hybriden Kognitivismus - zuzuordnen. Im psychologischen Monismus der Stoa sind alle Seelenteile dem vernünftigen ἡγεμονικόν untergeordnet, so dass keine irrationalen Seelenteile existieren, welche sich diesem widersetzen könnten. Alles steht unter der Kon‐ trolle des ἡγεμονικόν, und auch die Handlungsmotivation des Akteurs nimmt von dort ihren Ausgang. Die Handlungsmotivation ist für die Stoiker ein Aspekt der Vernunft in Gestalt des ἡγεμονικόν. Dieses ist der Ursprung aller Hand‐ lungen des Menschen, der aufgrund seiner Überzeugungen darüber handelt, was καθῆκον ist. Seine Vernunft ist die letzte Kausalursache all seiner Handlungen. Die Erklärung der Handlungsgenese vollzieht sich bei den Stoikern anhand der vier bzw. fünf Vermögen des ἡγεμονικόν: φαντασία, (προαίρεσις,) συγκατάθεσις, ὁρμή und λόγος, wobei der λόγος nicht einfach ein Vermögen auf derselben Ebene wie die anderen darstellt, sondern die übrigen Vermögen so modifiziert, dass sie nur noch in rationaler Form existieren. Erhält ein Akteur nun eine φαντασία ὁρμετική, deren ἀξιώμα ihm eine Handlung als καθῆκον präsentiert, und entscheidet er sich dazu, diesem ἀξιώμα seine Zustimmung zu geben, und stimmt ihm auch tatsächlich zu, verursacht er durch diese συγκατάθεσις eine ὁρμή, welche auf die im κατηγόρημα des ἀξιώμα repräsen‐ tierte Handlung gerichtet ist und ihn zur Ausführung dieser Handlung motiviert. Entscheidend für die Konstitution eines motivierenden Grundes ist die Zu‐ stimmung des Akteurs zum ἀξιώμα einer φαντασία ὁρμετική, welche zur Aus‐ bildung einer entsprechenden Überzeugung seitens des Akteurs führt, dass die präsentierte Handlung καθῆκον ist und ein normativer Grund für ihn besteht, 469 V. Motivation und christlicher Glaube die Handlung auszuführen. Seine Vernunft gibt ihm im Akt der συγκατάθεσις als λόγος προστακτικός die Anordnung, die Handlung auch tatsächlich auszu‐ führen. Die συγκατάθεσις impliziert eine Anordnung der Vernunft, entspre‐ chend zu handeln, und verursacht letztlich eine ὁρμή, welche die Handlung motiviert. Die ὁρμή ist dabei die Vernunft selbst, insofern sie zum Handeln drängt. Das Streben des Menschen wird damit ganz in seine Vernunfttätigkeit hineingenommen, und die ὁρμή stellt die Vernunft in ihrer appetitiven Gestalt dar, welche den Akteur zum Handeln motiviert. Sie ist das letzte mentale Er‐ eignis, das einer Handlung vorhergeht, und nimmt damit eine Schlüsselstellung in der stoischen Handlungstheorie ein. Wenn eine ὁρμή vorliegt, ist der jeweilige Akteur den Stoikern zufolge notwendig zu einem entsprechenden Handeln mo‐ tiviert, und eine Handlung wird erfolgen, wenn keine äußeren Hindernisse oder ein Fall von Akrasie vorliegen. Die ὁρμή ist also dasjenige psychologische Er‐ eignis, das eine Handlung verursacht, und bildet die notwendige und hinrei‐ chende Bedingung für das Zustandekommen einer Handlung. Im Zusammen‐ spiel mit der συγκατάθεσις konstituiert sie den motivierenden Grund des Akteurs. Insofern die ὁρμή nur die Kehrseite der συγκατάθεσις zu einem in einer φαντασία ὁρμετική subsistierenden ἀξιώμα ist, kann man auch sagen, dass der Akteur durch seine Vernunft in Gestalt der ὁρμή zum Handeln motiviert wird. Die Vernunft vermag es, den Akteur i.S. eines hybriden Kognitivismus als be‐ sire - also einer Kombination von Überzeugung und konativer Einstellung - zum Handeln zu motivieren. Ein und derselbe mentale Zustand repräsentiert zugleich die Welt und ist motivational wirksam. Repräsentation der Welt und Motivation sind zwei verschiedene Aspekte eines einzigen mentalen Zustands. Der Akteur ist zugleich der Überzeugung, dass die präsentierte Handlung καθῆκον ist, und motiviert, sie auszuführen. Der repräsentationale Zustand ist damit selbst ein Zustand, in dem der Akteur zum Handeln motiviert ist. Eine analoge Konzeption motivierender Gründe und damit eine analoge Ant‐ wort auf die Frage, welche mentalen Zustände einen Akteur zum Handeln mo‐ tivieren, findet sich im Œuvre Augustins, der das stoische Modell der Hand‐ lungsgenese rezipiert und modifiziert sowie mit seiner Gnadenlehre verknüpft hat. Die Willensentscheidung, einer praktischen Vorstellung bzw. der sie be‐ gleitenden suggestio, welche dem Akteur eine Handlung als attraktiv präsen‐ tiert - was durch die Selbstwahrnehmung durch den sensus interior beeinflusst ist -, zuzustimmen, und der daraus resultierende Zustimmungsakt verursachen eine voluntas, welche den Akteur zur Ausführung der entsprechenden Handlung motiviert. Die Entscheidung, einer suggestio zuzustimmen oder nicht, trifft das arbitrium voluntatis des Akteurs, wobei der Akteur die evaluative Tätigkeit seiner mens berücksichtigt, welche die durch die Vorstellung präsentierte Hand‐ 470 V. Motivation und christlicher Glaube lung hinsichtlich der von ihr betroffenen Güter und deren Status im ordo bo‐ norum sowie ihres Beitrags zur Glückseligkeit des Akteurs bewertet, und eine entsprechende Entscheidung trifft. Das arbitrium voluntatis ist damit ein Dezi‐ sionsvermögen des Akteurs hinsichtlich seines Handelns, durch welches er ent‐ scheidet, eine bestimmte Handlung zu wollen oder nicht zu wollen. Augustinus verankert daher das persönliche Zentrum von Verantwortung und Freiheit im arbitrium voluntatis, welchem in dieser Hinsicht dieselbe Funktion wie der stoi‐ schen προαίρεσις zukommt. Es konstituiert den moralischen Charakter einer Person. Durch das arbitirum voluntatis als Dezisionsvermögen, durch welches sich ein Akteur für oder gegen eine Handlung entscheiden kann, verfügt Au‐ gustinus über eine einheitliche Konzeption menschlichen Handelns, welches rationaler Kontrolle unterliegt, und kann die Verantwortung des Menschen für sein Handeln im arbitrium voluntatis verorten. Hat ein Akteur einer suggestio zugestimmt, verursacht er dadurch notwendig eine Handlungsmotivation in Form der voluntas, welche schließlich eine Hand‐ lung verursacht. Wie die stoische ὁρμή ist die voluntas das letzte mentale Er‐ eignis, das einer Handlung vorhergeht und diese verursacht. Eine einmal defi‐ nierte voluntas führt, wenn keine äußeren Hindernisse auftreten oder ein Fall von Akrasie vorliegt, notwendig zur Ausführung einer Handlung, wobei diese dem Akteur durch die voluntas als ein Befehl der vernünftigen Seele angeordnet wird. Die Zustimmung impliziert also bei Augustinus - wie auch in der Stoa - eine Anordnung der Vernunft an den Akteur, die im Prädikat der suggestio repräsentierte Handlung auszuführen, und resultiert in einer voluntas, welche die Handlung motiviert. Es ist also die Vernunft i.S. der mens, welche durch ihre Zustimmung die Handlungsmotivation hervorbringt, wobei die Motivation le‐ diglich die Kehrseite der Zustimmung zu einer suggestio darstellt. Auch bei Au‐ gustinus wird damit das Streben des Menschen in seine Vernunfttätigkeit hineingenommen und die voluntas stellt die Vernunft in ihrer appetitiven Gestalt dar, welche den Akteur zum Handeln bewegt. Ein besire in Gestalt von consensio und voluntas motiviert den Akteur zum Handeln. Er bildet durch die consensio zu der suggestio die Überzeugung aus, dass die Ausführung der Handlung für ihn attraktiv ist, und ist dadurch zugleich durch die voluntas dazu motiviert, die Handlung auszuführen. Die Repräsenta‐ tion der Attraktivität der Handlung für den Akteur in der Überzeugung und die Motivation, die Handlung auch auszuführen, sind zwei Aspekte eines einzigen mentalen Zustandes - die voluntas ist die Kehrseite der consensio zu einer sug‐ gestio. Ein und derselbe Zustand repräsentiert damit zugleich die Welt und ist motivational wirksam. 471 V. Motivation und christlicher Glaube Unter den Bedingungen der erbsündlichen Verstrickung des Menschen in dieser Welt und der daraus resultierenden Zerrissenheit seines Willens kann sich jedoch die Motivation aufgrund des niemals uneingeschränkten Wollens seitens des Akteurs nicht in einer sittlich richtigen bzw. tugendhaften Handlung niederschlagen. Er ist auf die Vereinigung und Stärkung seiner voluntas durch die göttliche Gnade angewiesen, damit er seinem moralischen Urteil entspre‐ chend handeln kann. Die Wirkung der Gnade zeigt sich zum einen auf episte‐ mologischer Ebene darin, dass sie es dem Akteur wiederum ermöglicht, die At‐ traktivität der tugendhaften Handlung zu erkennen. Zum anderen beeinflusst sie sein Handeln jedoch auch darin, dass sie in seiner Zustimmung mitwirkt und seine Motivation zu einem tugendhaften Leben aufrechterhält, damit der Mensch nicht wieder zurück in alte Laster verfällt. Dies tut sie jedoch nicht dadurch, dass sie seine jeweiligen konkreten Einzelhandlungen motiviert. Der motivierende mentale Zustand ist hier die consensio zu einer suggestio, welche eine tugendhafte Handlung als attraktiv - als suavis, utile, honestum bzw. als delectatio oder voluptas versprechend - präsentiert, und die voluntas, welche auf die im Prädikat der suggestio repräsentierte Handlung gerichtet ist. Auf diese Weise wird die Reinheit der moralischen Motivation verteidigt, die Selbstzwecklichkeit der Moral bewahrt und der Heteronomie-Vorwurf ver‐ mieden, welchem sich, wie in der Einleitung aufgezeigt, die Autonome Moral ausgesetzt sah. Wenn nämlich der Glaube als Motiv für eine konkrete Einzel‐ handlung angesehen wird und der Akteur eine in äußerer Hinsicht moralisch richtige Handlung aus dem Grund ausführt, dass dies der Wille Gottes sei bzw. dieser es ihm befehle, ist die Reinheit der moralischen Motivation und die Selbstzwecklichkeit der Moral aufgegeben und die Handlung dürfte kaum als moralisch vorbildlich gelten können. Der Akteur handelt nicht autonom, son‐ dern heteronom. Er tut das Richtige nicht allein aus dem Grund, dass es das Richtige ist, sondern weil es der Wille Gottes ist und er sich möglicherweise eine göttliche Belohnung für seinen Gehorsam erhofft bzw. eine göttliche Strafe für seinen Ungehorsam fürchtet. Dieses Heteronomie-Problem vermeidet die sto‐ isch-augustinische Motivationstheorie, indem sie dem Glauben für die Motiva‐ tion eines Akteurs zu konkreten moralischen Einzelhandlungen keine Relevanz einräumt. Im mentalen Zustand, der eine konkrete Einzelhandlung motiviert, kommt der Glaube nicht vor. Die suggestio präsentiert eine tugendhafte Hand‐ lung als attraktiv und die Zustimmung zu dieser suggestio verursacht eine vo‐ luntas, welche auf die im Prädikat der suggestio repräsentierte Handlung ge‐ richtet ist und den Akteur zur Ausführung der Handlung motiviert. Der Glaube hat dabei keine Funktion. 472 V. Motivation und christlicher Glaube 1 Eine ähnliche Theorie - wenn auch nicht auf die Relevanz des christlichen Glaubens für unser Handeln bezogen - entwickelt Vogt (2017a), 196 f in Bezug auf eine Guise of the Good-Theorie der Handlungsmotivation, indem sie den Guise of the Good auf die Dennoch ist der Glaube für die Motivation und das Handeln des Menschen nicht ohne jede Bedeutung. Die Rolle der Gnade und des durch sie bewirkten christlichen Glaubens für die Handlungsmotivation ist vielmehr die eines Sinn‐ grundes, welcher als largebzw. mid-scale motivation das Handeln des Menschen trägt und ihm einen tieferen Sinn verleiht. Der Glaube bettet die Einzelhand‐ lungen des Akteurs in einen größeren Kontext ein und lässt sie dadurch ver‐ ständlich und sinnvoll werden. Der durch die göttliche Gnade geschenkte Glaube ermöglicht es dem Menschen, die Sinnhaftigkeit seines Handelns - ge‐ rade auch in Situationen, wo diese in Frage steht - zu erkennen, so dass dieser daran festhalten kann. In diesem Sinne kann der Glaube als Sinngrund be‐ trachtet werden, der das menschliche Handeln unterfängt und ihm Sinn verleiht. So ist die Gnade, deren Geschenk der Glaube darstellt, in allem Handeln des Menschen gegenwärtig und unterfängt dieses, auch wenn der christliche Glaube nicht im konkreten motivierenden Zustand - d. h. in der Zustimmung zu einer suggestio und in der auf die im Prädikat der suggestio repräsentierte Handlung gerichtete voluntas - vorkommt. Dennoch wird die Zustimmung zur suggestio durch die göttliche Gnade i.S. der gratia subsequens et cooperans mitbewirkt und die daraus resultierende voluntas durch sie mitgetragen. Allerdings spielt weder sie noch der von ihr bewirkte Glaube in der konkreten, den Akteur zum Handeln motivierenden Einzelerwägung eine Rolle - zumindest insofern die Handlung nicht Gegenstand des christlichen Sonderethosʼ ist und zum Bereich der allge‐ meinen moralischen Pflichten gehört. Es ist allein die in der suggestio in pro‐ positionaler Form und im repräsentationalen Gehalt der Vorstellung ausge‐ drückte Attraktivität der Handlung, welche den Akteur zu ihrer Ausführung motiviert. Für die Motivation zu konkreten Einzelhandlungen - d. h. auf der motivationalen Ebene erster Ordnung i.S. einer small-scale motivation - spielt der christliche Glaube im Bereich der allgemeinen moralischen Pflichten keine Rolle. Er kommt in den motivierenden mentalen Zuständen des Akteurs nicht vor - weder in der Zustimmung noch in der voluntas. Dadurch kann innerhalb dieser Motivationstheorie - darauf wurde bereits hingewiesen - die Reinheit der moralischen Motivation sowie die Selbstzwecklichkeit der Moral gewahrt und der Heteronomie-Vorwurf vermieden werden. Die Relevanz des Glaubens für das Handeln des Menschen ist, wie in den Ausführungen zum zerrissenen Willen bei Augustinus herausgearbeitet wurde, vielmehr auf einer höheren mo‐ tivationalen Ebene anzusiedeln - d. h. als Motivation höherer Ordnung i.S. einer midbzw. large-scale motivation. 1 473 V. Motivation und christlicher Glaube mid- und large-scale motivation beschränkt, während die small-scale motivation zu einer konkreten Einzelhandlung in der Erkenntnis der Handlung als ‚to-be-done‘ besteht. Bei den Überlegungen zum zerrissenen Willen bei Augustinus wurde aufge‐ zeigt, dass es sich bei dem Konflikt in seinem Willen sowohl um einen Konflikt zwischen zwei (oder mehr) Motivationen erster Ordnung - first-order volitions bzw. small-scale motivations - als auch um einen Konflikt zwischen seiner Mo‐ tivation zweiter Ordnung zu einem tugendhaften und gottgefälligen Leben - einer second-order volition bzw. mid- oder large-scale motivation - und seiner Motivation erster Ordnung, seinen alten Liebschaften zu folgen, handelt. Die göttliche Gnade i.S. der gratia subsequens et cooperans vereinigt nun das Wollen des Akteurs und bringt die secondmit der first-order volition, ein tugendhaftes und gottgefälliges Leben zu führen, in Übereinstimmung, indem sie letztere stärkt und ihr zum Durchbruch verhilft. Dies macht sie jedoch von einer höheren Ebene aus. In der Einleitung wurde darauf hingewiesen, dass sich die Motiva‐ tionen zu konkreten Einzelhandlungen - die small-scale motivations - aus den mid-scale motivations, bestimmte Projekte - z. B. ein tugendhaftes Leben - zu verfolgen, und der large-scale motivation, ein gutes Leben zu führen, speisen und von ihnen geleitet werden. Ändert sich nun die large-scale motivation bzw. kon‐ kretisiert sie sich in veränderter Weise in den mid-scale motivations, indem man den Inhalt des guten Lebens neu bestimmt bzw. dieses durch andere Projekte zu realisieren sucht, hat dies auch Auswirkungen auf die small-scale motivations zu konkreten Einzelhandlungen. Die mid-scale motivations übersetzen die large-scale motivation, ein gutes Leben zu führen, in konkrete handlungsleitende Pläne und verleihen dadurch den small-scale motivations, welche diese Pläne in konkreten Einzelhandlungen realisieren, Form und Struktur und setzen ihnen damit einen bestimmten Rahmen, von dem aus die Einzelhandlungen hinsicht‐ lich ihres Beitrags zur Realisierung der von den mid-scale motivations inten‐ dierten Projekte bewertet werden können. Ein Bekehrungserlebnis, wie es Augustinus in Confessiones VIII schildert, geht offenkundig mit einer Transformation seiner large- und mid-scale motivations einher, indem er das gute Leben nicht mehr in seinen alten Liebschaften und Nichtigkeiten realisiert sieht, sondern im Genuss Gottes und dem dafür not‐ wendigen tugendhaften Leben. Seine Bekehrung ist also mit einem ganz spezi‐ fischen Verständnis des guten Lebens verbunden und prägt daher sowohl seine largeals auch seine mid-scale motivations, welche wiederum Auswirkungen hinsichtlich seiner small-scale motivations zu konkreten Einzelhandlungen zei‐ tigen. Der christliche Glaube ist jedoch vorwiegend auf der Ebene der largebzw. der mid-scale motivations (i.S. der spezifisch christlichen Vollendungsgestalt 474 V. Motivation und christlicher Glaube 2 Vgl. dazu auch: Bormann (2012), 346. menschlichen Lebens bzw. des Projekts der Nachfolge Jesu) präsent, prägt da‐ durch jedoch auch die small-scale motivations zu konkreten Einzelhandlungen, insofern diese zur Realisierung der mid- und large-scale motivations beitragen. Der Beitrag der konkreten Einzelhandlung zur Realisierung der von den mid-scale motivations intendierten Projekte (z. B. der Nachfolge Jesu) bzw. des guten Lebens (i.S. der spezifischen christlichen Vollendungsgestalt menschli‐ chen Lebens), auf welches die large-scale motivation des Akteurs ausgerichtet ist, verleiht dieser einen Sinn und macht sie überhaupt erst verständlich, so dass der christliche Glaube, welcher in den midbzw. large-scale motivations wirksam ist, auch als Sinngrund bezeichnet werden kann. Der Glaube unterfängt in Form der midbzw. large-scale motivations die small-scale motivation zu einer kon‐ kreten Einzelhandlung und verhilft ihr in bestimmten Grenzsituationen zum Durchbruch, in denen die Erfüllung der erkannten elementaren moralischen Pflichten dem Menschen besonders schwerfällt und möglicherweise die Sinn‐ haftigkeit der eigenen Praxis in Frage steht, sodass eine ‚Stellungnahme zur Welt als Ganzer‘ (i.S. des Wittgensteinschen Ethikbegriffs) unausweichlich er‐ scheint. 2 Obschon damit der christliche Glaube - anders als von den Vertretern einer ‚Autonomen Moral‘ behauptet - in den konkrete Einzelhandlungen motivier‐ enden mentalen Zuständen keine Funktion besitzt, behält er dennoch in Form eines Sinngrundes, welcher die mid- und large-scale motivations eines Akteurs prägt und bestimmt, - also i.S. einer Motivation höherer Ordnung - eine zentrale Bedeutung für das Handeln des Akteurs. Er verleiht der konkreten Einzelhand‐ lung in einem größeren Kontext überhaupt erst einen Sinn und unterfängt bzw. trägt die ihr zugrundeliegende Motivation auf diese Weise, so dass er ihr, indem der Akteur in existentieller Weise Stellung bezieht, auch in bestimmten Grenz‐ situationen zum Durchbruch verhelfen kann, in welchen es fraglich ist, ob sie sich gegen konkurrierende Motivationen durchsetzen kann. Diese motivationstheoretische Relevanz des Glaubens i.S. einer Motivation höherer Ordnung kann auch anhand Augustins Rezeption der stoischen οἰκείωσις-Lehre aufgewiesen werden, welche ihm als Bindeglied zwischen der paganen Ethik und des biblischen Gebotes der Gottes- und Nächstenliebe dient, dessen soziale Implikationen mit ihrer Hilfe philosophisch durchdacht werden können. So strebt der Mensch Augustinus wie auch den Stoikern zufolge - i.S. einer large-scale motivation - danach, seine Konstitution in einem naturge‐ mäßen Zustand zu erhalten. Die Konstitution wird dabei von beiden als die Ver‐ bindung von Körper und Seele verstanden, wobei die Seele in dieser Mischung 475 V. Motivation und christlicher Glaube 3 Vgl. Gal 3,26-29; Eph 4,22-32. einen gewissen Vorrang vor dem Körper besitzt, insofern es ihre Disposition in Bezug auf den Körper ist - und nicht umgekehrt -, welche die Konstitution des Lebewesens ausmacht, und sie auch in der Stufenordnung des Seienden eine höhere Stellung als das Körperliche einnimmt. Wirkt nun die göttliche Gnade auf die menschliche Seele ein, indem sie zum einen den Glauben im Menschen bewirkt, und zum anderen die Erkenntnis der Attraktivität einer tugendhaften Handlung von neuem ermöglicht sowie die entsprechende Motivation zur Aus‐ führung einer solchen Handlung stärkt und den zerrissenen Willen des Akteurs vereinigt, dann prägt sie damit auch die Konstitution des Akteurs. Der bekehrte Mensch zieht, wie Paulus sagt, in der Taufe Christus an 3 und nimmt damit ein neues Sein in Form einer veränderten Konstitution an. Die menschliche Moti‐ vation zum Erhalt der Konstitution in einem naturgemäßen Zustand - die large-scale motivation - ist damit vom christlichen Glauben mitbestimmt, inso‐ fern er diese Konstitution prägt. Da diese Motivation nun auf den naturgemäßen Erhalt derjenigen Instanz ausgerichtet ist, welche sämtliche Motivationen erster Ordnung zur Ausführung konkreter Einzelhandlungen - die small-scale moti‐ vations - hervorbringt, - nämlich der Seele -, kann sie auch als Motivation höherer Ordnung beschrieben werden, welche die verschiedenen Motivationen erster Ordnung - die small-scale motivations - und die ihnen entsprechenden Handlungen bestimmt und begrenzt. Die von der Gnade und dem durch sie hervorgerufenen Glauben geprägte Konstitution des bekehrten Menschen bildet damit den Hintergrund für die Handlungsmotivationen erster Ordnung - die small-scale motivations - und be‐ stimmt, welche Handlungen ihm attraktiv erscheinen. Die Konstitution steckt also den Horizont ab, innerhalb dessen sich die Motivationen erster Ordnung bzw. die small-scale motivations bewegen können, so dass sie nicht völlig beliebig sind, sondern ihnen gewisse Grenzen gesetzt sind. Insofern die Konstitution des bekehrten Menschen eine andere ist als die des Ungläubigen, werden auch an‐ dere Handlungen notwendig sein, um seine Konstitution in einem naturge‐ mäßen Zustand zu erhalten. So besteht für den Christen ein bestimmtes Son‐ derethos innerhalb eines gestuften Ethossystems. Während es für den Nichtchristen möglicherweise ausreichend ist, allgemeine, universal gültige moralische Forderungen i.S. basaler Gerechtigkeitspflichten zu erfüllen, um seine Konstitution in einem naturgemäßen Zustand zu erhalten - in diese Rich‐ tung weisen die oben diskutierten Aussagen Augustins zu den Tugenden der Heiden, die eine ‚gewisse Gutheit eigener Art‘ (quandam sui generis probi‐ tatem) 4 bewahren -, muss der bekehrte Mensch bestimmte religiöse Weisungen 476 V. Motivation und christlicher Glaube 4 Vgl. Aug.Ep. 138. 17: Ut quamdiu inde peregrinamur, feramus eos si corrigere non valemus, qui vitiis impunitis volunt stare rempublicam, quam primi Romani constituerunt auxe‐ runtque virtutibus, etsi non habentes veram pietatem erga deum verum, quae illos etiam in aeternam civitatem posset salubri religione perducere, custodientes tamen quandam sui generis probitatem, quae posset terrenae civitati constituendae, augendae, conservandaeque sufficere. Deus enim sic ostendit in opulentissimo et praeclaro imperio Roman‐ orum, quantum valerent civiles etiam sine vera religione virtutes, ut intellegeretur hac addita fieri homines cives alterius civitatis, cuius rex veritas, cuius lex caritas, cuius modus aeternitas. 5 Vgl. dazu Bormann (2012), 346 f. 6 Vgl. Bormann (2012), 347. 7 Vgl. Ebd. erfüllen, um seine Konstitution in einem naturgemäßen Zustand zu erhalten. Dazu wäre z. B. das christliche Liebesgebot mit seiner triangulären Struktur von Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe, das auf einer ganz bestimmten Verhältnis‐ bestimmung Gottes zur Welt basiert, sowie die jesuanische Aufforderung zur ‚größeren Gerechtigkeit‘ angesichts der in seiner Person angebrochenen Got‐ tesherrschaft zu zählen, wie sie sich in der Bergpredigt zeigt. 5 Dieses religiöse Sonderethos ergibt sich weder notwendig aus einem Deliberationsprozess der praktischen Vernunft, wie sie die Konstitution aller Menschen prägt, noch steht es in Widerspruch zu dieser, sondern ist i.S. moralischer Weisungen praeter ra‐ tionem allein der durch den Glauben erleuchteten Vernunft zugänglich, wie sie für die Konstitution des bekehrten Menschen bestimmend ist. 6 Daher kann es für den bekehrten Menschen durchaus spezifisch religiös gefärbte normative Handlungsgründe geben, 7 die für die Ausführung bestimmter Handlungen spre‐ chen, insofern sie dazu beitragen, seine Konstitution in einem naturgemäßen Zustand zu erhalten. In der Motivation zu diesen konkreten supererogatorischen Einzelhand‐ lungen, welche sich nicht zwangsläufig aus einer rationalen Vernunfterwägung ergeben, ist es denkbar, dass der Glaube eine andere Funktion als bei der Moti‐ vation zur Erfüllung allgemeiner moralischer Pflichten übernimmt und im mo‐ tivierenden mentalen Zustand enthalten ist und damit den motivierenden Grund mitkonstituiert und prägt. Der spezifisch religiöse Handlungsgrund kann so auch zum motivierenden Grund werden, aus dem der Christ de facto handelt. Zugleich bleibt jedoch auch die Relevanz des christlichen Glaubens für die menschliche Praxis auf einer motivationalen Ebene höherer Ordnung erhalten - nämlich der des Erhalts der Konstitution in einem naturgemäßen Zustand i.S. einer large-scale motivation sowie von durch mid-scale motivations intendierten Projekten, welche dies realisieren und den Horizont abstecken, innerhalb dessen sich die Handlungsmotivationen erster Ordnung - also die small-scale motiva‐ 477 V. Motivation und christlicher Glaube tions zu konkreten Einzelhandlungen - ereignen können. Der christliche Glaube ist der Sinngrund, der den small-scale motivations zugrunde liegt und sie trägt, leitet und verständlich macht, indem er sie in einen größeren Kontext einbettet und ihnen Sinn verleiht. Die göttliche Gnade i.S. der gratia subsequens et coope‐ rans verhindert dabei, dass der Mensch von seinem tugendhaften Leben ab‐ kommt und den naturgemäßen Zustand seiner Konstitution aufs Spiel setzt. Auf diese Weise bleiben der christliche Glaube und das Wirken der göttlichen Gnade nicht nur auf die Ränder der sittlichen Praxis des Menschen beschränkt, sondern sie zeigen sich in der Mitte des alltäglichen Lebens des Christen und prägen sein Handeln in grundlegender Weise, indem sie diesem einen besonderen Sinn ver‐ leihen. 478 V. Motivation und christlicher Glaube VI. Abkürzungen, Quellen, Übersetzungen und Literatur VI.1 Abkürzungen Antike Autoren wurden nach dem Abkürzungsverzeichnis von K. Algra et al. (Hg.), The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, Cambridge 1999 bzw. bei griechischen Autoren nach den Vorgaben von H. G. Liddell/ R. Scott/ H. S. Jones, A Greek-English Lexicon, Oxford 9 1996 oder bei lateinischen Autoren nach den Vorgaben des Index des Thesaurus Linguae Latinae, Berlin 2 1990 zitiert. Die Werke Augustins wurden nach den Vorgaben von C. Mayer (Hg.), Augus‐ tinus-Lexikon, Bd. 1, Basel 1986 zitiert. Folgende Abkürzungen wurden darüber hinaus verwendet: AA = Akademie Ausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken CCSL = Corpus Christianorum Series Latina CSEL = Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum DK = Diels, H./ Kranz, W. (Hg), Die Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bde., Berlin 11 1964. EK = Poseidonios, The Fragments, Bd. 1, ed. L. Edelstein/ I. G. Kidd, Cambridge 1972. IP = Senocrate-Ermodoro. Frammenti (La scuola di Platone 3), ed. M. Isnardi-Parente, Neapel 1982. LS = Long, A. A./ Sedley D. N. (Hg.), The Hellenistic Philosophers, 2 Bde., Cambridge 1987 (dt. Übersetzung von Bd. 1: Die hellenis‐ tischen Philosophen. Texte und Kommentare, übers. von K. Hülser, Stuttgart 2006). PL = Patrologia Latina SVF = Stoicorum veterum fragmenta, 3 Bde., ed. H. von Arnim, Leipzig 1903-1905. VI.2 Quellen und Übersetzungen Alexander von Aphrodisias, De anima liber cum Mantissa, ed. I. Bruns, Berlin 1887. Ambrosiaster, Commentarius in epistulas Paulinas, Pars I: In epistulam ad Romanos (CSEL 81,1), ed. H. J. Vogels, Wien 1966. Ambrosius, De fide (CSEL 78), ed. O. Faller, Wien 1962. ―――, De Iacob, De Ioseph, De patriarchis, De fuga saeculi, De interpellatione Iob et David, De apologia David, Apologia David altera, De Helia et ieiunio, De Nabuthae, De Tobia (CSEL 32,2), ed. K. Schenkl, Wien 1897. Aristoteles, Ethica Eudemia, ed. R. R. Walzer/ J. M. Mingay, Oxford 1991. ―――, Ethica Nicomachea, ed. I. Bywater, Oxford 1894. ―――, De anima, ed. W. D. Ross, Oxford 1956. ―――, Topiques, Bd. 1: Livres I-IV, ed. J. Brunschwig, Paris 2009. Augustinus, Confessiones, ed. M. Skutella, Berlin 1934. ―――, Confessiones - Bekenntnisse, übers., hg. und komm. von K. Flasch/ B. Mojsisch, Stuttgart 2009. ―――, Contra Academicos, De beata vita, De ordine, ed. T. Fuhrer/ S. Adam, Berlin 2017. ―――, Contra Felicem Manichaeum, De natura boni, Epistula Secundini, Contra Secun‐ dinum Manichaeum (CSEL 25,2), ed. J. 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Aristoteles 87, 105, 115, 158, 199, 206, 218, 278, 294, 297, 316, 358 Athenaios 134, 139 Audi, R. 164, 205 Auer, A. 11f., 17 Augustinus von Hippo 20f., 219, 260, 271, 5, 273ff., 6, 276-284, 286-294, 6, 294-304, 6, 305-321, 6, 322- 325ff., 6, 328-357, 359-369, 371-438, 6, 439-451, 453ff., 458ff., 462ff., 466f., 469ff., 473-477 Balckburn, S. 78, 80f. Barnes, J. 161 Barney, R. 181f. Barwick, K. 334 Bastianini, G. 123 Bayles, P. 433 Bedke, M. S. 79ff. Bees, R. 120 Beierwaltes, W. 276f. Bénatouïl, T. 117, 149, 215 Berges, B. 290 Betegh, G. 102, 104f., 107, 111, 274 Björklund, F. 82 Björnsson, G. 65, 76, 78ff., 82 Blackson, T. 199 Blank, D. 304f. Bloomfield, P. 26 Blumenthal, H. J. 349 Blundell, M. W. 120 Bobzien, S. 195, 197, 205, 217f., 274 Bonazzi, M. 190 Bonhöffer, A. 154, 212, 217, 235 Bonner, G. 21, 319, 414 Bormann, F. J. 11, 13, 16ff., 475, 477 Bormann, K. 223 Bouton-Touboulic, A.-I. 288 Bowin, J. 142 Brachtendorf, J. 21, 290f., 298, 300, 303, 314f., 329, 349, 357, 366, 368-372, 376, 382f., 399f., 402, 407, 413, 416, 418, 421, 432, 436f., 439 Braund, S. 364 Brechtken, J. 276 Brennan, T. 120, 130, 132f., 136, 152, 167, 169, 171, 174f., 177, 182-187, 194, 197, 199ff., 203, 205, 207-210, 212, 214, 223ff., 232, 235, 247, 252, 257ff. Brickhouse, T. C. 192 Brink, C. O. 120 Brink, D. O. 26, 65, 67, 69f., 76 Brittain, C. 21, 123, 144, 150, 200, 203, 273ff., 314f., 317 Bromwich, D. 67, 77 Broome, J. 28, 54f., 74 Brouwer, R. 117, 134, 139, 141, 149, 174 Brown, P. 275 Brunero, J. 36 Brunschwig, J. 98, 114, 120, 125, 130, 132, 137, 142, 223 Buddensiek, F. 223, 276 Burnaby, J. 321 Burnell, P. 312, 390, 401 Burns, J. P. 283, 427, 429 Byers, S. 21, 273f., 305, 315, 320f., 334-337, 341f., 347, 352, 354, 358, 363f., 366, 383, 390, 406ff., 411, 415f., 418f., 422, 424, 426ff., 431 Calcidius 316 Chappell, T. 430 Cholbi, M. 82 Christensen, J. 174 Chrysipp von Soloi 92, 95, 98, 100f., 106, 108, 115, 123, 133f., 138, 171f., 177f., 182, 188, 190, 194, 196f., 216, 231, 234, 236, 251 Cicero, Marcus Tullius 99, 101, 106f., 109, 112f., 116-121, 123, 125ff., 132, 134f., 139, 141ff., 145, 147, 149ff., 153-156, 158, 160-163, 165f., 168, 173f., 176, 179, 182-187, 191, 197, 199, 204, 206, 209, 213, 220, 225, 228ff., 236f., 239f., 242, 246, 252f., 255f., 273, 279, 285, 287, 289, 295, 297, 303, 305, 308, 314, 327, 329, 332, 334, 336, 357f., 366, 371, 385, 388, 404 Clair, J. 294, 300f., 305, 312 Clark, P. 67 Clemens von Alexandrien 107, 117, 148f., 151, 154, 228, 250, 357 Colish, M. L. 21, 275, 356 Combès, A. 274 Cooper, J. 88, 104, 107f., 110f., 123, 143f., 152ff., 168f., 173f., 186, 190f., 203f., 206f., 223, 225, 232f., 255, 381 Copp, D. 36, 76, 80 Cordner, C. 36 Cornelius Celsus 327 Couenhoven, J. 363, 394 Courcelle, P. 274f. Crisp, R. 16, 164 Cuneo, T. 26, 76 Cyprian von Karthago 357 Dancy, J. 28, 32, 57, 59-64, 67, 80, 468 Darwall, S. 29f., 32, 65, 164 Davidson, D. 43 de Harven, V. 136, 203 De Lacy, P. 213 de la Peza, E. 342, 405 Demmer, K. 11 den Bok, N. 355 518 Register de Noronha Galvao, H. 276 Dienstbeck, S. 111 Dihle, A. 219, 358f. Dillon, J. M. 161 Diogenes Laertios 88, 92f., 95ff., 101-108, 110f., 115f., 118f., 121, 123ff., 128, 131, 135ff., 140f., 144f., 150-153, 155, 162f., 174, 176, 179, 182, 184, 187-191, 195, 197-200, 202, 204, 208, 213, 225, 229, 234, 250, 252f., 255ff., 287, 308, 334 Diogenes Ptolemaios 95 Diogenes von Babylon 121, 141, 215f. Dion von Prusa 110 Djuth, M. 357 Dobbin, R. 212, 216ff. Doignon, J. 276 Donini, P. 225 Dorandi, T. 124 Döring, S. 19, 223 Dörrie, H. 275, 327 Drecoll, V. H. 275, 281, 283, 323, 325, 344, 350, 357, 361, 376, 378, 391, 395, 402, 407f., 411, 413f., 418, 422ff., 427-430 Dreier, J. 76, 80f. Drozdek, A. 197 Duchrow, U. 334 Dworkin, R. 26 Dyck, A. R. 213 Dyroff, A. 154 Eggers, D. 77 Engberg-Pedersen, T. 90f., 120 Enoch, D. 26 Epiktet 103, 105, 110, 121, 140, 150, 172, 177ff., 184, 186, 188, 199f., 202, 204, 206, 212-218, 241f., 256f., 274, 329, 374f. Eriksson, J. 78 Eusebios 116ff. Evans, G. 315 Falk, W. D. 30, 68 Faraci, D. 65 Fenner, D. 16 Fillion-Lahille, J. 190 Fine, C. 82 Fine, K. 179 Finlay, S. 33, 36 Fischer, B. 334 FitzPatrick, W. 36 Flasch, K. 313, 339f., 387, 392, 396, 403, 414, 416, 429 Foot, P. 16, 26 Forschner, M. 111, 116, 120, 145, 150, 153-156, 190, 197, 213, 223, 225, 228, 232, 236, 238, 244, 257 Fortenbaugh, W. W. 120 Frankena, W. K. 16, 65 Frankfurt, H. 400 Frede, M. 21, 103, 114, 120, 123, 129, 141f., 144, 150f., 157, 162, 173f., 197, 199f., 203f., 206f., 212, 214, 219, 223, 258, 360, 406, 408 Fuhrer, T. 273, 275 Galen 115, 117f., 120, 123, 133f., 144f., 148, 174, 176, 182, 188, 190, 206ff., 215f., 219, 221, 227f., 230f., 233f., 236, 238, 242, 246, 248, 251f., 316 Gantar, K. 306 Garrard, E. 67 Gauthier, R. A. 219 Gellius, Aulus 151, 274, 329, 332, 366, 374f., 379 Gellius Aulus 121, 204, 241f., 274, 305, 329, 334, 375 Gert, J. 36, 81 519 Register Gibbard A. 26, 78 Gigon, O. 358 Gill, C. 97, 120, 142, 190, 213, 223, 230, 235, 247, 249 Gilson, É. 357 Glucker, J. 161, 175 Göbel, W. 15f. Goebel, B. 290 Görler, W. 161, 253, 273 Gosling, J. 210, 247, 249 Goulet, R. 105 Gourinat, J.-B. 146, 156, 176, 200, 212-218, 247, 250 Graeser, A. 275 Graver, M. 194, 197, 212, 215f., 223, 230, 232, 235f., 238, 242, 252ff., 258f. Greenspan, P. S. 81 Griffin, J. 16 Guckes B. 211, 233, 245ff., 249 Hacking, I. 175 Hadot, I. 274 Hadot, P. 275, 305 Hagendahl, H. 273ff. Hahm, D. 101 Halbig, C. 16, 26, 29, 31, 37ff., 46, 51f., 55f., 61, 65, 70, 72f., 76, 223, 225, 230, 232, 236, 242ff. Hamilton, R. 36 Hampton, J. 36 Hankinson, R. J. 203, 258 Hare, R. M. 68, 73 Harrison, C. 21, 414 Hartmann, N. 12 Harwardt, S. 276 Heller-Roazen, D. 135, 316 Helm, B. 19 Helm, P. 381 Henry, P. 33, 275 Heraklit 115 Hermanni, F. 290 Heuer, U. 36 Hierokles 117, 120, 122ff., 135ff., 139, 202 Hirschi, H. 11 Hoesch, M. 16 Holte, R. 276, 303, 305, 361 Honecker, M. 16 Honnefelder, L. 17f. Hooker, B. 36 Horn, C. 219, 275f., 283-286, 355, 361, 387, 397, 400ff. Huftier, M. 355 Hülser, K. 93, 124, 127, 135, 143, 146f., 172, 177, 179, 185, 188, 192, 196, 198, 208, 220, 225, 228, 231, 233f., 238, 243f., 248, 251, 253, 255, 258, 334f. Hultgren, G. 305 Humberstone, I. L. 47 Hume, D. 44ff., 67, 224 Hunter, D. G. 325 Hurka, T. 16 Hurley, S. 36, 180 Hursthouse, R. 16 Ierodiakonou, K. 96, 98 Inwood, B. 21, 102f., 105f., 108-114, 117, 120f., 124, 128f., 132, 136, 139, 164, 166, 174-177, 184, 190f., 193, 195f., 201-204, 206f., 209, 220, 223, 228, 230, 232, 235f., 239, 242ff., 251f., 257, 306 Ioppolo, A.-M. 148, 167 Irvine, W. B. 20 Irwin, T. 21, 91, 142, 160, 165-169, 223, 294, 304, 359, 373, 375, 377f., 381, 383, 393, 434f., 437 520 Register Jackson, B. D. 334 Jackson, F. 67 Jackson-McCabe, M. 202f. Jamblich 192, 194 Jedan, C. 109, 111, 184 Joyce, R. 26, 247 Julian Apostata 139 Justin der Märtyrer 219 Kahn, C. 212, 219, 359 Kalderon, M. E. 26 Kamtekar, R. 186, 200, 203, 255 Kant, I. 13, 111 Karneades 121, 152, 158, 166 Kauppinen, A. 76 Kennett, J. 82 Kenny, A. 197 Kent, B. 321 Kerferd, G. B. 103, 106, 120, 174, 258 Kidd, I. G. 164, 253 Kirchin, S. 51, 58 Kirwan, C. 430 Kleanthes von Assos 92, 101, 108, 146, 197 Klein, J. 111, 119-124, 128, 130-133, 135-140, 150, 152, 157, 160, 163, 166, 170-176, 178-182 Knuuttila, S. 223 Koch, B. 230 Korsgaard, C. 32, 36, 63, 79, 164 Kramer, M. 26 Kreuzer, J. 317 Krewet, M. 223 Kriegel, U. 36 Kühn, W. 120, 124, 132 Labriolle, P. de 274 Laktanz 118 Langton, R. 164 Lapidge, M. 115 Lee, C. U. 120 Lenman, J. 77, 80f. Lesses, G. 162f. Lévy, C. 230 Lewis, E. 136, 142 Lillehammer, H. 36, 76 Liu, J. 174 Lloyd, A. C. 199f., 223, 235, 336 Long, A. A. 97, 101, 109, 115, 120, 123, 136f., 140f., 145, 157, 164, 166, 197, 204, 212, 214, 217f., 220, 223, 230, 244, 274, 334f. Lord, E. 36 Lorenz, H. 190, 207 Lorenz, R. 277, 303, 407 Lössl, J. 21, 283f., 357, 389f., 407, 414 Lukrez 204 Luschnat, O. 202 Lütcke, K.-H. 314 Mabrito, R. 76 MacDonald, S. 338ff., 349f. MacIntyre, A. 16 Mackenzie, M. M. 174 Mackie, J. L. 24, 26, 67 Madec, G. 275 Manne, K. 36, 205 Mansfeld, J. 216, 219 Mantel, S. 62 Marius Victorinus 275, 358, 424 Mark Aurel 105, 128, 139f., 142, 177 Markovits, J. 32, 36 Marrou, H.-I. 274 Mason, E. 80 Mausbach, J. 433 McCabe, M. M. 120 McDowell, J. 36f., 44, 57, 67, 77, 79 McNaughton, D. 24, 58, 67, 79 McPherson, T. 65 Mele, A. 67, 81 Menn, S. 106, 112, 130, 174, 187f. 521 Register Merkl, A. 16 Merklein, H. 14f. Metz, T. 16 Meyer, S. S. 223 Miller, A. 76, 80 Miller, C. 67 Millgram, E. 36, 39ff. Mitsis, P. 184 Mojsisch, B. 313, 339f., 387, 392, 396, 403, 416 Mondolfo, R. 315 Moore, G. E. 74 Moreau, S. 36 Muders, S. 16 Müller, J. 200, 219, 233, 244-247, 249, 251, 257, 276, 278f., 281, 283, 346, 357, 378, 384, 389, 393, 395, 397, 401f. Musonius Rufus 110 Nagel, T. 26, 52f., 55ff., 67, 219 Nawar, T. 142 Nemesios von Emesa 116ff., 190 Newmark, C. 223 Nichols, S. 82 Niederbacher, B. 325 Nourisson, J.-F. 274 Nussbaum, M. 20, 157, 204, 223, 257 Nygren, A. 346 O’Connell, R. J. 21 O’Daly, G. 315f., 323-327, 350, 430 O’Donnell, J. J. 273, 350 O’Donovan, O. 303, 305 Obbink, D. 117 Oddie, G. 26 Olson, J. 76 Olympiodoros von Alexandria 145 Origenes 106f., 117, 189, 207, 219, 237, 341 Paakkunainen, H. 36 Panaitios von Rhodos 95, 121, 190 Papadi, S. 223 Parfit, D. 26, 38f. Patzig, G. 13, 90 Paulus 377f., 427, 431, 454, 476 Peacocke, C. 72, 315 Pembroke, S. G. 120, 128, 132 Pendlebury, M. 67 Pépin, J. 334 Persson, I. 67 Pfligersdorffer, G. 303 Philippson, R. 132 Philon von Alexandrien 115ff., 156, 174, 188, 193f., 242 Photios 120 Pich, R. H. 212, 217, 219 Pies, R. 20 Pigliucci, M. 20 Pinborg, J. 334 Platon 13, 104-107, 114, 151, 184, 187, 228f., 244, 297, 377 Platts, M. 47 Plotin 21, 271, 275, 297, 315, 322, 326, 349, 358 Plunkett, D. 36 Plutarch 98, 100, 107, 115f., 118, 120ff., 128, 134, 136, 138f., 141f., 146-150, 154, 158f., 166, 168, 178f., 181, 185, 190, 196, 199, 202, 207, 209, 220, 233, 237, 242, 244, 250, 253, 255f., 285, 365 Pohlenz, M. 120, 124, 128, 132, 154, 190, 194, 197, 202f., 306 Pollmann, K. 334 Porphyrios 21, 118, 271, 275, 323, 326 Porter, J. 148 Poseidonios 92, 95, 190, 242 522 Register Powell, J. G. F. 404 Powers, N. 131ff. Price, A. W. 190, 209, 223, 235, 245f. Price, T. 36 Prichard, H. A. 14 Prinz, J. J. 82 Proklos 107, 161 Pseudo-Andronikos von Rhodos 225, 228, 236, 255 Putnam, H. 202 Quinn, W. 36 Quintilian 334 Radcliffe, E. 67 Radice, R. 120 Railton, P. 26, 67, 70 Ramelli, I. 120 Ranocchia, G. 253 Rawling, P. 24 Rawls, J. 90 Raz, J. 27f., 267 Regulus, Marcus 437 Reich, J. 13 Reinhardt, K. 116 Reinhardt, T. 203 Reydams-Schils, G. 105, 120, 144 Rief, J. 288 Rieth, O. 150, 166 Rist, J. M. 21, 105, 124, 164, 212, 235, 242, 274, 276, 285, 292, 303, 313, 318-321, 325, 327, 330, 346, 349, 357, 359, 372, 377, 385f., 389f., 423, 426 Robertson, D. 20, 223 Robertson, T. 36 Roloff, D. 106 Rosen, G. 179 Roskies, A. 67, 80, 82 Ross, W. D. 52 Rotter, H. 11, 16, 18, 75 Runia, D. T. 117 Rüther, M. 16 Rutzenhöfer, E. 286 Saarinen, R. 393, 401 Sacks, O. 137 Salles, R. 120, 128 Sambursky, S. 117 Sandbach, F. H. 137, 164, 196 Sayre-McCord, G. 67, 80 Scanlon, T. M. 24, 26, 28, 36, 38f., 67, 164 Schaber, P. 70 Schäfer, W. 283, 426 Schelkshorn, H. 11, 18 Schmekel, A. 190 Schmitz, P. 121 Schofield, M. 102, 117, 120, 123, 144, 148, 158 Schriefl, A. 115, 136, 145, 197, 206 Schroeder, M. 28 Schubert A. 197 Schueler, G. F. 42f., 53 Schuster, J. 16 Scott Davis, G. 285 Searle, J. 47 Sedley, D. N. 106, 142, 156, 161, 164, 194, 197 Seel, M. 16 Segvic, H. 13 Sellars, J. 20f. Seneca, Lucius Annaeus 102, 107, 115, 117, 120f., 125, 131f., 134, 136f., 139-142, 151, 157, 174, 177f., 203f., 220, 229, 242f., 257, 261, 273, 276, 303, 305, 312, 314, 318, 334, 337, 358f., 364, 366, 379, 385 Setiya, K. 36 523 Register Sextus Empiricus 93, 95ff., 101f., 115ff., 123, 125, 138, 145, 151, 153, 155f., 162, 167, 174, 177, 185, 188, 190, 194, 197f., 201, 204f., 207f., 246, 258, 335, 358 Shafer-Landau, R. 26, 49, 51, 66f., 70, 76, 80 Sharples, R. W. 129 Shelton, M. 36 Sherrington, C. 137 Shields, C. 197 Shogry, S. 195, 203 Simplikios 117, 150, 193f. Simpson, E. 80 Slote, M. 16 Smith, M. 26, 36, 40, 44-50, 68f., 72, 74ff., 79, 82f. Smith, N. D. 192 Sobel, D. 36 Solignac, A. 273f. Solomon, R. 223 Sorabji, R. 21, 120, 177, 190, 212, 215, 219, 223, 225, 230, 234, 236, 238, 242, 247 Soreth, M. 166 Sosa, E. 181 Steinfath, H. 16 Steinmetz, P. 154 Stelzenberger, J. 21 Stevenson, C. L. 68 Stobaios, Johannes 87f., 101, 106, 116f., 119, 121, 123, 137, 139ff., 145-153, 155f., 161ff., 171, 174, 176ff., 188ff., 192-195, 199f., 208, 212, 217, 219ff., 225, 227f., 234, 236f., 239, 248, 250- 253, 256ff., 285, 289, 388, 449 Stockdale, J. 223 Stocker, M. 16, 28, 70 Strandberg, C. 76, 78, 80, 82 Strauss, R. 407 Strawson, P. F. 25, 205 Striker, G. 102, 104, 109, 111, 120f., 125, 129f., 145, 148, 174ff., 184, 210, 223, 243 Sturgeon, N. L. 26, 67 Sturgeon, S. 67 Sumner, L. W. 16 Svavarsdóttir, S. 67, 70, 76, 81 Taylor, C. C. W. 159 Tenenbaum, S. 58, 67, 76, 267 Tertullian 115, 357 TeSelle, E. 275 Testard, M. 273 Theiler, W. 275 Themistios 107 Theophrast 120, 306 Thimme, W. 366, 368, 373, 380, 433, 438 Thomas, A. 36 Tiberius, V. 36, 65 Tieleman, T. 105, 111, 116, 123, 133, 135f., 144, 171, 175f., 190, 193, 223ff., 230, 246f., 249, 252 Tiffany, E. 36 Timmons, M. 78 Toivanen, J. 120, 135, 316 Tolhurst, W. 79 Tornau, C. 276 Trego, K. 298, 355ff., 359, 364, 386 Tresan, J. 67, 80f. Tsekourakis, D. 154, 175f. van Geest, P. 277, 290 van Riel, G. 275, 358f. van Roojen, M. 29, 58, 65, 67, 79 Varro, Marcus Terentius 274, 303, 305, 323, 327, 334 Velleman, D. 267 Verbeke, G. 21, 275, 322 Vlastos, G. 146, 161 524 Register Voelke, A.-J. 149, 219 Vogt, K. M. 13f., 106f., 117, 146, 148f., 169, 174, 185, 200, 203, 205, 209, 223, 226, 236, 242, 257f., 267, 473 von Arnim, H. 306 Wallace, R. J. 19, 49, 51, 53f., 62f., 79 Wang, Y. 433 Watson, G. 203, 258 Wedgwood, R. 26, 79, 164 Wessels, U. 16 Wetzel, J. 21, 276, 283, 288, 293, 318ff., 338, 343, 372, 395, 430 White, N. P. 16, 106, 120, 129, 132 White, S. A. 167, 199f., 259, 336 Wiggins, D. 79 Wiland, E. 41 Williams, B. 27, 29, 32-39, 47, 75 Wittgenstein, L. 17, 114 Wolf, S. 16, 19 Wollheim, R. 47, 223 Wolterstorff, N. 164, 166 Yang, X. 389 Zagdoun, M. A. 120 Zagzebski, L. 16 Zangwill, N. 58, 70, 76 Zenon von Kitium 92, 95, 101f., 132, 147f., 192, 197, 229, 234f., 237, 242, 289 Zepf, M. 305, 309 525 Register 28 Die Frage, warum man moralisch sein soll, ist eine der ältesten und schwierigsten Fragen der Moraltheorie: Wie kann der Mensch dem moralischen Anspruch, dem er untersteht, gerecht werden? In welchem Verhältnis stehen moralische Urteile und Überzeugungen zu den Wünschen, Neigungen und Gefühlen des Menschen? Welche Rolle kommt der Vernunft in der Handlungsmotivation zu? Welche Bedeutung hat der religiöse Glaube für die menschliche Praxis? In der zeitgenössischen Moraltheologie werden diese grundlegenden Fragen weitgehend vernachlässigt. Die vorliegende Untersuchung leistet einen Beitrag, die Motivationsproblematik wieder ins Zentrum der moraltheologischen Reflexion zu rücken. Ausgehend von einem Überblick über die gegenwärtige philosophische Diskussion um das Problem der moralischen Motivation wird die Motivationstheorie der Stoa rekonstruiert und ihre Rezeption durch Augustinus herausgearbeitet. Dabei erweisen sich die klassischen Motivationstheorien nicht nur als anschlussfähig an die gegenwärtige Diskussion, sondern sie bieten darüber hinaus auch wichtige Impulse für die Beschäftigung mit dem Motivationsproblem. Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie Herausgegeben von Franz-Josef Bormann und Johannes Brachtendorf ISBN 978-3-7720-8701-1 Held Moralische Motivation in der Stoa und bei Augustinus Markus Held Moralische Motivation in der Stoa und bei Augustinus 38701_Umschlag.indd Alle Seiten 38701_Umschlag.indd Alle Seiten 19.05.2020 14: 39: 26 19.05.2020 14: 39: 26