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Rudolf Steiners Geisteswissenschaft

2015
978-3-7720-5563-8
A. Francke Verlag 
Marek B. Majorek

Rudolf Steiners Geisteswissenschaft wird oft als unwissenschaftlich und nebulös, als esoterischer Humbug abqualifiziert. Marek B. Majorek zeigt, dass dieser Beurteilung einerseits ein enges und eingeschränktes Bild des Wissenschaftlichen, andererseits ein mangelhaftes Verständnis der Kerneigenschaften von Steiners Geisteswissenschaft, insbesondere ihrer Forschungsmethoden zugrunde liegt. Darüber hinaus wird gezeigt, welche Bedeutung die geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Rudolf Steiners mit Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart haben.

Rudolf Steiners Geisteswissenschaft Mythisches Denken oder Wissenschaft? Band 1 Marek B. Majorek Rudolf Steiners Geisteswissenschaft Band 1 Marek B. Majorek Rudolf Steiners Geisteswissenschaft Mythisches Denken oder Wissenschaft? Band 1 © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8563-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildungen: Hintergrund: Goetheanum, Dornach (Schweiz), kurz vor Sonnenuntergang von Nordwesten (© Wladyslaw Sojka, www.sojka.photo). Vordergrund: Goetheanum, Dornach (Schweiz), Außenfassade (Details) (© Marek B. Majorek). Vorwort Das vorliegende Buch ist eine Antwort auf Helmut Zanders monumentales Werk Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884 - 1945 (Zander 2007 a und b) und auf die Biographien von Rudolf Steiner, die 2011 anlässlich des 150. Jahrestages seiner Geburt am 25. Februar 1861 erschienen (Gebhardt 2011, Ullrich 2011, Zander 2011). Ich halte es für dringlich, diesen äußerst kritischen, manchmal sogar diffamierenden Stimmen ein anderes - und ich hoffe, ein angemesseneres - Bild der Anthroposophie bzw. Geisteswissenschaft Rudolf Steiners entgegenzusetzen. In den Augen der „ unbeteiligten Beobachter “ an den Universitäten avancierte sie nämlich zum Inbegriff des Obskurantismus, der Pseudowissenschaftlichkeit und des voraufklärerischen mythischen Denkens, kurz: zum Gegenteil von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit. So stellte z. B. Zander Anthroposophie in die Reihe der Pseudowissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Zander 2008, S. 82 - 85; 94 - 99), und Ullrich sieht in ihr eine Rückkehr zum mythischen Denken (Ullrich 2011, S. 180 - 191). Mahner schließlich relegiert sie kommentar- und diskussionslos in die Kategorie der Parawissenschaften und zählt sie damit zu jenen Bestrebungen, die wie Esoterik, Okkultismus, New Age a. u. nicht einmal als Pseudowissenschaften klassifiziert werden können, denn sie „ [are] outright antiscientific: they reject the scientific approach to knowledge in favor of various ‚ alternative ways of knowing ‘“ (Mahner 2007, 547f.). Diese Urteile sind nicht ohne praktische Folgen geblieben. So schrieb der deutsche Wissenschaftsrat in seiner negativen Entscheidung bezüglich der Anerkennung der anthroposophischen pädagogischen Ausbildungsstätte in Mannheim (damals Fachhochschule Mannheim, FHM, jetzt Akademie für Waldorfpädagogik) als Hochschule: Die FHM erreicht [aber] auf einer grundsätzlichen Ebene nicht die für eine Hochschule erforderliche Wissenschaftlichkeit: Nach Auffassung des Wissenschaftsrates ist im Leitbild und wissenschaftlichen Konzept der FHM das Verhältnis sowohl zu einer anthroposophisch orientierten Waldorfpädagogik als auch zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft nicht ausreichend geklärt. Dies betrifft die Vielfalt methodischer Ansätze und den Anspruch, den in den Erziehungswissenschaften üblichen Standards gerecht zu werden. Ohne eine solche Klärung besteht jedoch die Gefahr, eine spezifische, weltanschaulich geprägte Pädagogik im Sinne einer außerwissenschaftlichen Erziehungslehre zur Grundlage einer Hochschuleinrichtung zu machen. (Wissenschaftsrat 2011, S. 9) Die Mitglieder des deutschen Wissenschaftsrats erachten die anthroposophische Pädagogik also als eine „ außerwissenschaftliche Lehre “ und verweigern ihr deshalb die Anerkennung der Fachhochschule Mannheim. Daneben gibt es andere, vielleicht weniger prominente und weniger explizite Beispiele der Distanzierung des akademischen Establishments von der Anthroposophie und ihren Institutionen, mit der im Übrigen häufig finanzielle Nachteile verbunden sind. Die scharfe Kritik an der Anthroposophie kommt für mich zwar nicht überraschend, ich halte sie jedoch für unbegründet. Die Gewissenhaftigkeit der wissenschaftlichen Urteilsbildung hätte zumindest verlangt, meine bereits 2002 im Francke Verlag veröffentlichten Dissertation Objektivität: ein Erkenntnisideal auf dem Prüfstand. Rudolf Steiners Geisteswissenschaft als ein Ausweg aus der Sackgasse (Majorek 2002) in die Überlegungen einzubeziehen, die die Wissenschaftlichkeit von Steiners Ansatz nachzuweisen versuchte und damit die spätere Kritik vorwegnahm. Lediglich Helmut Zander erwähnt diese Arbeit mit ein paar Zeilen (Zander 2007 a, S. 538f.), setzt sich aber mit meinen Sachargumenten nicht auseinander. Was die anderen genannten Autoren betrifft, so erwähnen sie diese m. E. bedeutsame Verteidigung der Anthroposophie mit keinem Wort. Vielleicht war sie einfach in der Flut der wissenschaftlichen Literatur untergegangen. Jedenfalls habe ich diesem Umstand den Hinweis entnommen, dass ein neuer, verbesserter Anlauf notwendig ist. Seit dem Erscheinen von Zanders Werk sind mehrere Bücher anthroposophischer Autoren veröffentlicht worden, die Rudolf Steiner und seine Lehre in Schutz nehmen und ihre Bedeutung für die heutige Zivilisation darlegen. Ich möchte hier insbesondere (in chronologischer Reihenfolge) die folgenden Titel erwähnen: Lorenzo Ravaglis Zanders Erzählungen. Eine kritische Analyse des Werkes „ Anthroposophie in Deutschland “ (Ravagli 2009), Peter Heussers Habilitationsschrift Anthroposophische Medizin und Wissenschaft. Beiträge zu einer integrativen medizinischen Anthropologie (Heusser 2011), Peter Selgs dreibändige Biographie Rudolf Steiner, 1861 - 1925. Lebens und Werkgeschichte (Selg 2012) und den Sammelband Rudolf Steiner. Seine Bedeutung für Wissenschaft und Leben heute (Heusser und Weinzirl, 2014). Auch jene Autoren, die es sich wie Heusser zur Aufgabe machen, Rudolf Steiners Ansichten in ein Verhältnis zur Wissenschaft zu stellen, tragen aber m. E. zu wenig den Entwicklungen der Wissenschaftstheorie in den letzten 80 Jahren (seit dem Aufkommen des logischen Positivismus) Rechnung. Mir scheint es indes unmöglich, von der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie zu sprechen, ohne den Begriff der Wissenschaft geklärt und die Kriterien der Abgrenzung von der Pseudowissenschaft herausgearbeitet zu haben. Aus diesen Überlegungen ergibt sich der Plan des vorliegenden Werkes. Der Diskussion des Wissenschaftsbegriffs habe ich einen Abriss der Geschichte der Wissenschaft vorangestellt, um die heute diskutierten Probleme aus einer größeren Perspektive zu betrachten. Diese Darstellung ergibt, dass der Begriff der Wissenschaft ganz unterschiedlich gefasst wurde und bereits für die Erkundungsweisen der alten Griechen und selbst der Babylonier ver- VI Vorwort wendet werden kann, was unsere gegenwärtigen Vorstellung von Wissenschaftlichkeit erweitert und zugleich relativiert. Einen Überblick über die überraschend komplexe Entstehungsgeschichte der Wissenschaft zu geben, ist die Aufgabe des ersten Kapitels des vorliegenden Buches. Des Weiteren schien es mir angebracht, die Entwicklung des logischen Positivismus darzustellen und einen Einblick in einige seiner grundlegenden Werke zu geben. Der logische Positivismus hat fast vierzig Jahre lang einen so starken Einfluss auf das Selbstverständnis der Wissenschaft ausgeübt, dass es immer noch unmöglich ist, ihn zu vernachlässigen, obwohl er bereits seit den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als überholt gilt. Aus heutiger Sicht scheint mir besonders lehrreich an ihm, dass diese einmal so einflussreiche philosophische Richtung später nicht nur von ihren Gegnern, sondern auch von ihren früheren Verfechtern als völlig verfehlt eingeschätzt wurde. Wie ist es möglich, dass sich die besten Köpfe ihrer Zeit so irren können? Das zweite Kapitel will eine vorläufige Antwort auf diese Frage liefern. Der Zerfall des logischen Positivismus in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte weitestgehende Folgen für die Auffassung der Natur der Wissenschaft. Nicht nur öffnete er die Tür für eine kritische Hinterfragung ihres Charakters seitens der sog. Soziologie der Wissenschaft und der feministischen Erkenntnistheorie; er trug auch zur Entstehung einer neuen Ausrichtung der wissenschaftlichen Forschung bei: des Paradigmas der qualitativen Forschung, das dezidiert mit der von den logischen Positivisten herausgestellten Rolle der quantitativen Daten, der Messung, der strengen, abstrakten Theorien brach. Im dritten Kapitel schildere ich diese wichtigen Entwicklungen. Wie es wichtig ist, die Geschichte der Wissenschaft zu kennen, um sich über den aktuellen Zustand dieses Unternehmens ein gebührendes Bild verschaffen zu können, so ist es ebenfalls nützlich, die offenen Fragen und Schwachstellen der heutigen Wissenschaft darzustellen. In der öffentlichen Wahrnehmung ist sie eine Art Monolith, in dem alles fest zusammengefügt ist. Der Laie hält sie für ein Wissenssystem, das auf alle Fragen zuverlässig Antworten liefert und seine Behauptungen abschließend beweist. Dieses Bild hat mit der Wirklichkeit der modernen Wissenschaft herzlich wenig gemein, und die Aufgabe des vierten Kapitels ist es, diese Ansicht zu korrigieren. Im fünften Kapitel wende ich mich der heutigen Diskussion um die Begriffe der Wissenschaft und der Wissenschaftlichkeit sowie um das Abgrenzungskriterium Wissenschaft/ Pseudowissenschaft zu. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang scheint mir die Berücksichtigung jener Stimmen, welche für die grundsätzliche Offenheit des Wissenschaftsbegriffes für künftige Entwicklungen plädieren. Am Ende dieses Kapitels formuliere ich einen „ kleinsten gemeinsamer Nenner “ der heutigen (Natur-)Wissenschaft. Vorwort VII Als eines der wichtigsten Elemente dieses kleinsten gemeinsamen Nenners erweist sich die Forderung, dass naturwissenschaftliche Erklärungen ausschließlich auf sog. natürliche Entitäten und Kräfte zurückgreifen dürfen, dass sie also materialistisch sein müssen. Die heutige Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaft, ist durch und durch materialistisch, bezeichnet diesen Materialismus aber gewöhnlich als Naturalismus oder Physikalismus. Dabei handelt es sich um eine Metaphysik, insofern die damit verbundenen Annahmen den selbstgesteckten Rahmen der streng empirischen Untersuchung sprengen: Eine Metaphysik trifft Aussagen darüber, wie die Wirklichkeit insgesamt und jederzeit beschaffen ist, während empirische Forschung lediglich feststellt, wie sich die bislang erforschte Wirklichkeit aufbaut. Die materialistische Metaphysik war allerdings keineswegs immer ein Bestandteil der Wissenschaft. Im sechsten Kapitel schildere ich, wie und wann sie Einzug in die Wissenschaft gehalten hat. Es wird sich ergeben, dass der endgültige Sieg des Materialismus in der Wissenschaft erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte, und zugleich, dass der Materialismus heute keineswegs die gesellschaftliche Mehrheitsmeinung darstellt. Die allermeisten Menschen dieser Welt (ca. 84 % 1 ) sind, zumindest nominell, gläubig. Es ist deshalb nicht überraschend, dass sich die „ logischen “ Folgen dieser Metaphysik im praktischen und sozialen Leben der Menschen nicht offenbaren: Wir alle, ob Materialisten oder Nichtmaterialisten, haben noch immer Haltungen und Verhaltensweisen, die sich den althergebrachten religiösen Überzeugungen verdanken. Wie würde aber eine Welt aussehen, die sich dieser Traditionen vollständig entledigte? In einem „ Intermezzo “ gebe ich eine persönliche Einschätzung. Wie die moderne Wissenschaft irrtümlicherweise als ein fester Monolith ohne Kratzer und Unebenheiten vorgestellt wird, so ist in der Öffentlichkeit auch die Meinung vorherrschend, dass mehr oder weniger alle Wissenschaftler die Grundprämissen der heutigen Wissenschaft und insbesondere ihre materialistische Ideologie unterstützen. Auch diese Wahrnehmung hat wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Schon immer gab es bedeutende Wissenschaftler, die gläubige Menschen waren oder von der Existenz einer geistigen Wirklichkeit überzeugt waren und diese Überzeugung öffentlich kundtaten. Die Zahl solcher Bekenntnisse ist in den letzten Jahren sogar angestiegen, ohne dass diese Entwicklung von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und gewürdigt wurde. Das achte Kapitel ist einigen von ihnen gewidmet. Es hat zum Ergebnis, dass in Anbetracht der Anzahl und der prominenten Stellung der Wissenschaftler, die sich zur Existenz einer geistigen Welt 1 http: / / www.washingtontimes.com/ blog/ watercooler/ 2012/ dec/ 23/ 84-percent-worldpopulation-has-faith-third-are-ch/ (heruntergeladen am 29. 1. 2015). VIII Vorwort bekennen, die Forderung, sich in der Wissenschaft auf „ natürliche “ Erklärungen der Naturphänomene zu beschränken, heute hinfällig ist. Die Annahme einer geistigen Welt hat selbstverständlich weitgehende Folgen für unser Verständnis des Charakters und der Aufgabe der Wissenschaft. Ich befasse mich mit diesen Folgen nicht direkt, sondern wende meinen Blick zunächst wiederum der Vergangenheit zu. Bis heute hallen in unserer Kultur Echos alter „ Mysterien “ nach, von Orten, an denen Menschen aus zeitlich weit entfernten Kulturen Antworten auf die für sie wichtigen Fragen, aber auch Trost und Heilung suchten. Heute können wir nicht mehr viel mit solchen Überlieferungen anfangen, sie erscheinen uns als bloße Legenden, als Erfindungen oder vielleicht sogar schlicht als Schwindel. Im neunten Kapitel werde ich zeigen, dass die Mysterien in der griechischen, ägyptischen und in noch früheren Kulturen sehr wohl eine Wirklichkeit darstellten. In den Mysterienstätten wurde versucht, mit der geistigen Welt und ihren wichtigsten „ Bewohnern “ , den Göttern, Kontakt zu knüpfen, um das tägliche Leben derMenschengemeinschaft zu befruchten, zu welchem Zweck es raffinierte Methoden und Einrichtungen gab. Ist es denkbar, dass man einen solchen Kontakt wiederherstellen und aus dieser neu erschlossenen Quelle das Leben der heutigen Menschengemeinschaft befruchten kann? Ein weiteres Element des im fünften Kapitel ermittelten kleinsten gemeinsamen Nenners der Wissenschaft ist die Ausrichtung der Forschung auf die Objektivität ihrer Resultate. Objektivität bildet zweifelsohne einen ihrer wesentlichen kognitiven Werte. Dieses Ideal wird jedoch gewöhnlich völlig falsch verstanden. Objektivität wird oft mit Messung und ihren Resultaten, folglich mit der Verwendung von Mess- und sonstigen Forschungsinstrumenten und mit der Verarbeitung der mit ihrer Hilfe gewonnenen Daten durch mathematische und statistische Methoden identifiziert. Im zehnten Kapitel versuche ich zu zeigen, dass derartige Assoziationen verfehlt sind. Die Objektivität der Forschungsergebnisse gründet in erster Linie nicht auf der Verwendung von Forschungsinstrumenten und Messung, sondern auf der Breite der Urteilsgrundlage und dem Ausschluss von Subjektivität. Das elfte und wichtigste Kapitel des vorliegenden Werkes ist der Darstellung der übersinnlichen Forschungsmethoden der Imagination, Inspiration und Intuition der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners gewidmet. Darin will ich zeigen, dass diese Methoden nicht nur die empirische Erforschung der übersinnlichen Wirklichkeit ermöglichen, sondern auch, dass ihre Ergebnisse, insbesondere jene der Inspiration und Intuition, in puncto Zuverlässigkeit den Methoden der Naturwissenschaft in nichts nachstehen und sie hinsichtlich der Objektivität deutlich übertreffen. Der einzige Vorteil, den die konventionelle Naturwissenschaft (noch) gegenüber der Geisteswissenschaft beanspruchen kann, ist, dass ihre Ergebnisse reproduziert wurden, während Rudolf Steiner bislang (mit nur einer mir bekannten Ausnahme) der einzige Geistesforscher geblieben ist, die Ergebnisse seiner Forschung (zu- Vorwort IX mindest soweit es aus der öffentlich zugänglichen Literatur ersichtlich ist) also noch nicht wiederholt wurden. Im zwölften Kapitel schildere ich die bedeutendsten Ergebnisse der übersinnliche Forschung Rudolf Steiners. Im dreizehnten Kapitel stelle ich die m. E. wichtigsten Folgen dieser Forschungsergebnisse für die gegenwärtige Kultur dar und gebe aus Sicht der Geisteswissenschaft Antworten auf einige der im vierten Kapitel gestellten Fragen. Die Folgen der wissenschaftlichen Erforschung der übersinnlichen Welt für das Selbstverständnis des Menschen und für das künftige Handeln der Menschengemeinschaft scheinen mir ausreichend wichtig und radikal zu sein, um von einer bevorstehenden „ Steiner ’ schen Revolution “ zu sprechen. Ich habe an dem vorliegenden Buch 2011 angefangen zu arbeiten 2 und dachte, dass es eine verhältnismäßig schnelle Antwort auf die oben erwähnten Werke sein wird. Indessen hat sich die Aufgabe als viel komplexer und langwieriger erwiesen, als ich es mir vorgestellt habe, so dass das Buch erst jetzt fertig und viel umfangreicher geworden ist als geplant. Die Verzögerung hat aber den Vorteil, dass das Werk im 90. Jahr nach Steiners Tod 1925 erscheint, wenngleich es mir nicht gelungen ist, die Arbeit so früh abzuschließen, dass sie bereits an seinem Todestag am 30. März zugänglich ist. Ich bin mir schmerzhaft bewusst, dass das Buch trotz dieser langen Entstehungszeit und seines Umfangs sehr viel zu wünschen übrig lässt. Die komplexen Themen, mit welchen ich mich in den einzelnen Kapiteln befasse, bedürften für eine angemessene Behandlung viel mehr Raum und selbstverständlich auch viel mehr Zeit. In der Tat könnte fast jedes Kapitel des Buches mit Leichtigkeit zu einer eigenständigen Dissertation erweitert werden. Wäre ich diesen Weg gegangen, hätte ich das Werk aber wahrscheinlich nicht abschließen können. Ich musste also Abkürzungen einschlagen und mich mit einer gewissen Oberflächlichkeit zufrieden geben. Eine weitere Schwierigkeit, die den Leser des Buches erwartet, ist seine Sprache. Deutsch ist (nach Polnisch und Englisch) nur meine dritte Sprache, und ich habe es erst verhältnismäßig spät, mit 33 Jahren, erlernt. Folglich wird der Leser/ die Leserin manche Formulierung recht unbeholfen und verfeinerungsbedürftig finden, und dies trotz der Bemühungen meiner beiden Lektoren, Herrn Axel Walter und Dr. Frank Giesenberg, die den Text sehr gründlich umgearbeitet haben. Ich bin ihnen und vor allem Herrn Dr. Giesenberg, der etwa vier Fünftel des Buches akribisch korrigierte, sehr verpflichtet und möchte ihnen an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen. Die verbleibenden Schwierigkeiten und Schwächen des Textes 2 Man muss dabei betonen, dass das vorliegende Werk nicht nur die Frucht der letzten vier Jahre ist, sondern das Ergebnis der Arbeit, der Veröffentlichungen und von Reflexionen der letzten bald zwanzig Jahre, das heißt seitdem ich mit meiner Dissertation begonnen habe. In einem erweiterten Sinne kann und soll dieses Werk sogar als Resultat der letzten vier Jahrzehnte (seit meiner ersten Begegnung mit der Anthroposophie) betrachtet werden. X Vorwort müssen mir angelastet werden. Für eine sprachlich perfekte Fassung reichten die Zeit und die finanziellen Mittel nicht aus. Mein Dank gebührt darüber hinaus zahlreichen anderen Personen. An erster Stelle möchte ich in diesem Zusammenhang Dr. Benediktus Hardorp erwähnen, der leider 2014 verstorben ist. Er war maßgeblich dafür verantwortlich, dass ich vom DAMUS-DONATA e. V. in Mannheim ein großzügiges Stipendium bekommen habe, das es mir ermöglichte, zwei Jahre lang bei stark reduziertem Lehrpensum am Buch zu arbeiten. Ich möchte mich auch bei Herrn Christian Boettger, dem Geschäftsführer der Pädagogischen Forschungsstelle im Bund der Waldorfschulen in Stuttgart, für die Unterstützung des Vorhabens und bei Herrn Sebastian Jüngel, dem Chefredakteur der Wochenschrift Das Goetheanum, für seine äußerst fruchtbaren Vorschläge zur Finanzierung der Veröffentlichung des Buches bedanken. Mein Dank geht auch an Herrn Prof. Harm Paschen, auf dessen freundliche Empfehlung hin DAMUS-DONATA e. V. mir ein Stipendium gewährte. Ferner gebührt mein Dank den zahlreichen institutionellen und privaten Spendern, die durch ihre Großzügigkeit die Veröffentlichung des Werkes ermöglichten. Diese sind in der Reihenfolge der Höhe der Spende: die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland (hier möchte ich mich an erster Stelle bei Herrn Hartwig Schiller für seine tatkräftige Unterstützung herzlich bedanken), die Hausserstiftung e. V. in Stuttgart (hier bin ich vor allem Frau Dr. Iris Paxino verpflichtet), Frau Dr. Maja Oeri, Herr und Frau Schöne, Frau Barbara Biermann, Herr Thomas Schott, Herr Jürgen Bartels und Herr Alfred Heinrich. Mein besonderer Dank geht an die geistigen Väter dieses Buches: an Herrn Jerzy Prokopiuk, der meine Augen für die übersinnliche Wirklichkeit geöffnet und mich mit der Anthroposophie bekannt gemacht hat, und an den 1981 verstorbenen Robert Walter, der mir zeigte, dass die wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt nicht nur Rudolf Steiner möglich war. Ich möchte mich auch bei Frau Roswitha Schumm für ihre unermüdliche persönliche Unterstützung während der ganzen langen Arbeit und bei Herrn Dr. Krzysztof Dorosz für seine zahlreichen Lektüreanregungen und sonstige wertvollen Hinweise herzlich bedanken. Schließlich möchte ich mich auch bei allen jenen guten Geistern bedanken, die mir unsichtbar, aber spürbar bei der Arbeit an dem Buch mit ihren zahlreichen guten Anregungen, die wie aus dem Nichts kurz nach dem Erwachen oder während eines Spaziergangs in meinem Bewusstsein auftauchten, maßgeblich geholfen haben. Ich habe sie nicht gesehen, aber sie waren da. Zum Schluss möchte ich eine kleine sprachliche Bemerkung anfügen. Rudolf Steiner benutzte die Begriffe „ Anthroposophie “ und „ Geisteswissenschaft “ mehr oder weniger synonym. Ich hingegen unterscheide im Text zwischen der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners und der Anthroposophie, und zwar deshalb, weil man heute unter „ Anthroposophie “ auch allerlei Vorwort XI praktische Anwendungen von Steiners geistiger Forschung versteht, die keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Manchmal spreche ich aber auch von der „ Geisteswissenschaft oder Anthroposophie “ , weil diese zwei Begriffe doch immer noch als fast gleichbedeutend verwendet werden. Latterbach, Schweiz, August 2015 XII Vorwort Inhalt B AND 1 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus . . . 45 2 a Das Aufkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus . . . . . . . . . . 251 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus . . . . . . . . . . . . . . . 299 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus . . . . . . . . . . . . . 313 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 3 b Feministische Wissenschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 3 d Ein neues Verständnis der Natur der Wissenschaft: Philip Kitcher: The Advancement of Science . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream- Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 4 b Die Rätsel der Quantenmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 4 c Einige theoretische Probleme des empirischen Forschungsparadigmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas . . . . . . . . . . . 465 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft: Betrug, Mangel an Reproduzierbarkeit, unterdrückte Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 4 f Exkurs: Einige empirische Probleme des wissenschaftlichen Paradigmas im Detail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 4 f i Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? . . . . . . . . . . 504 4 f ii Können Gene Morphogenese erklären? . . . . . . . . . . . . . . 545 4 f iii Können Proteine die Leistungen erbringen, die ihnen zugeschrieben werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 5 Was ist Wissenschaft? Die Debatte um die Abgrenzung Wissenschaft/ Pseudowissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 7 Intermezzo: Einige sozialen Folgen der Verbreitung der materialistischen Ideologie in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 727 B AND 2 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft . . . . 749 9 Neue Sicht der alten Geschichte: die alten Mysterien als ein Suchen nach dem Verkehr mit der geistigen Welt . . . . . . . . . . . . . . 1012 10 Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals . . . 1084 11 Übersinnliche Forschungsmethoden: Imagination, Inspiration und Intuition und die Frage nach der Wissenschaftlichkeit ihrer Forschungsresultate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1162 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft . . . . . . . . . . 1324 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse für das soziale Leben und die Wissenschaft: die Steiner ’ sche Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1396 14 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1470 15 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1481 16 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1543 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1543 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1556 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1585 XIV Inhalt 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft Will man sich mit der Frage nach der Wissenschaftlichkeit einer Gedankensbzw. Forschungsrichtung, wie z. B. der der Wissenschaft befassen, so scheint es zwingend erforderlich, sich zunächst mit der grundlegenderen Frage danach auseinanderzusetzen, was die Wissenschaftlichkeit einer Disziplin überhaupt ausmacht, oder anders gefragt, welche die definierenden Merkmale dessen sind, was man bereit ist, als Wissenschaft zu bezeichnen, um dann im zweiten Schritt entscheiden zu können, ob das untersuchte Phänomen (in unserem Fall die Anthroposophie oder Geisteswissenschaft Rudolf Steiners) diese Merkmale aufweist oder nicht, ob es den so ermittelten Kriterien entspricht oder nicht. Mit dieser zentralen Frage werde ich mich an einer späteren Stelle dieser Schrift ausführlich auseinandersetzen; ich möchte dieser Betrachtung jedoch eine andere vorausgehen lassen, die mir in Hinblick auf sie zentral wichtig scheint, und zwar eine Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft wie auch der Reflexion über die Natur bzw. den Charakter der Wissenschaft, welche erst zu gewissen Fragestellungen und Kontroversen geführt hat - zunächst am Anfang des 20. Jahrhunderts, dann an seinem Ende und dann wieder zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Mir scheint, dass die Kontroversen, die zunächst um das Programm des logischen Empirismus und das Popper ’ sche Abgrenzungskriterium geführt wurden, dann um den wissenschaftlichen Status des sog. Kreationismus und in der jüngsten Vergangenheit um den wissenschaftlichen Status der sog. Intelligent-Design-Bewegung, ohne eine solche geschichtliche Betrachtung nicht richtig eingeordnet, nicht richtig verstanden werden können. Eine solche geschichtliche Perspektive wird sich letztlich auch als unerlässlich erweisen, wenn es darum geht, die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie bzw. Geisteswissenschaft Rudolf Steiners gebührend zu behandeln. Wann ist die Wissenschaft eigentlich entstanden? Diese Frage mag zunächst trivial erscheinen: schließlich wisse man doch, dass sie auf Entwicklungen irgendwann zwischen der Mitte des 16. und der Mitte des 17. Jahrhunderts zurückgehe. Hinsichtlich der genaueren Festlegung des „ Geburtsdatums “ der Wissenschaft mag es unterschiedliche Meinungen geben: so werden die einen auf das Jahr 1543 verweisen, das Jahr, in dem einmal Nicholaus Kopernikus ’ bahnbrechendendes Werk De Revolutionibus Orbium Coelestium erschienen ist, zum anderen mit De Humani Corporis Fabrica eine biologische Untersuchung des menschlichen Körpers von Andreas Vesalius (Gribbin 2002, S. xvii); andere werden eher geneigt sein, in diesem Zusammenhang das Jahr 1609 anzuführen, in dem Galileo Galilei den Mond durch sein Teleskop betrachtete und dabei feststellte, dass dessen Oberfläche im krassen Widerspruch zu der von Aristoteles ererbten Anschauung (Fara 2009, S. 26) nicht aus himmlischer Materie besteht, sondern mit ganz „ irdischen “ Bergen bedeckt ist (Appleyard 2004, S. 24, 37). Steven Shapin findet in diesem Zusammenhang wichtiger, dass Galileo sein Teleskop „ sometime between the end of 1610 and the middle of 1611 “ auf die Sonne richtete und auf ihrer Oberfläche dunkle Flecken beobachtete, die noch weniger mit der aristotelischen Anschauung vom göttlichen Charakter der Sonne zu vereinbaren waren(Shapin 1996, S. 15). Wieder andere werden in der Frage der Entstehung der Wissenschaft den 1620 bzw. 1624 erschienenen Novum Organon und Nova Atlantis des englischen Philosophen Sir Francis Bacon eine besondere Rolle zuschreiben - den Werken, in denen er einerseits die neue, empirischexperimentelle wissenschaftliche Methode skizzierte, andererseits die Vision der Wissenschaft als einer kollektiven, vom Staat unterstützten Unternehmung entwickelte (Grant 2007, S. 278 ff). Von diesen kleinen Abweichungen abgesehen, herrscht jedoch - zumindest scheinbar - weitgehend Einigkeit, dass die „ scientific revolution “ , die Geburt der Wissenschaft, eben irgendwann zwischen der Mitte des 16. und der Mitte des 17. Jahrhunderts stattgefunden habe. Für einen wissenschaftshistorisch wenig bewanderten Laien vielleicht überraschend, sind die wirklichen Verhältnisse jedoch keineswegs so einfach. So leitet z. B. Shapin sein Buch The Scientific Revolution mit der eher paradox anmutenden Feststellung ein: „ There was no such a thing as the Scientific Revolution, and this is a book about it “ (Shapin, ebd., S. 1); Lucio Russo verfasste 1996 ein umfangreiches Werk über die vergessene wissenschaftliche Revolution der hellenischen Zeit (zweite Hälfte des vierten bis zum ersten Jahrhundert v. Chr.) und Patricia Fara stellt in ihrem 2009 erschienenen Werk Science. A Four Thousand Year History provokativ fest, dass „ science has no definite beginning “ (Fara ebd., S. 8). Wie ist es möglich, dass Autoren zu so unterschiedlichen Ansichten gelangten und der wissenschaftlichen Revolution entweder gleichsam die Existenz absprechen oder sie zeitlich bereits im dritten oder zweiten Jahrhundert vor Christus verorten bzw. wie Fara behaupten, dass sie nicht vierhundert, sondern viertausend Jahre alt sei? Nun, die Antwort auf diese Frage ist verhältnismäßig einfach: ob man die Wissenschaft an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert entstehen sieht oder bereits um das dritte Jahrhundert oder gar irgendwann im zweiten Jahrtausend vor Christus, hängt davon ab, ob man eher die Ähnlichkeiten oder eher die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen der Welterkundung betonen will. Es muss in jedem Fall als unbestritten gelten, dass die Menschen die sie umgebende Welt bereits viel früher als im 16. oder 17. Jahrhundert erforscht haben. So weist die Wissenschaftshistorikerin Patricia Fara, die an der Cambridge University lehrt und zuvor schon zahlreiche Bücher über die Geschichte der Wissenschaft veröffentlicht hat, in ihrem oben erwähnten Werk darauf hin, dass bereits die Erbauer von Stonehenge (um 2500 v. Chr.) offenbar ein 2 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft komplexes Wissen vom Geschehen am Himmel gehabt haben, da Stonehenge als „ mammoth astronomical observatory “ verstanden werden könne (Fara ebd., S. 6). Sie erinnert auch daran, dass bereits die ägyptischen Priester im Alten Reich (von ca. 2700 bis 2200 v. Chr.) imstande waren, die Nilfluten adäquat vorherzusagen (ebd., S. 7), und dass bereits die babylonischen Astronomen (also ca. 1500 v. Chr.) nicht nur das Himmelsgeschehen registrierten und beobachteten, sondern allmählich dazu übergegangen sind, dieses auch zu prognostizieren (ebd., S. 14). In der Tat, wenn man der heutigen Astronomie bzw. Astrophysik den Status der Wissenschaft nicht absprechen will, so muss man zugeben, dass diese beiden Disziplinen, da sie kaum auf Experimente zurückgreifen können und sich eigentlich auf die Beobachtungen und die daraus gezogenen Schlüsse über die Natur der von ihnen beobachteten Objekte und die auf ihnen und zwischen ihnen herrschenden Gesetze beschränken müssen, sich in ihrer Vorgehensweise nicht wesentlich von der babylonischen oder sogar der prähistorischen Himmelskunde unterscheiden. Zweifelsohne sind die Instrumente, welche den heutigen Astronomen zur Verfügung stehen, völlig andere und wesentlich feiner als jene ihrer babylonischen Vorläufer, und zweifellos ist auch das Weltbild der modernen Astronomie bzw. sind die metaphysischen Annahmen die der heutigen astronomischen Forschung zugrunde liegen, völlig andere als die der Erbauer von Stonehenge oder der Astronomen Babyloniens, fraglich ist allerdings, ob die Qualität der Instrumente oder die Art der jeweiligen Metaphysik über den wissenschaftlichen Status einer Disziplin entscheiden können. Fara bemängelt übrigens auch den grundsätzlichen Eurozentrismus der herkömmlichen Vorstellung von der Entstehung der Wissenschaft und weist darauf hin, dass wir vor allem dank der um 1950 begonnenen Erforschung der Geschichte von Wissenschaft und Technologie in China durch Joseph Needham (1900 - 1995; seines Zeichens Companion of Honour, Fellow of the Royal Society, Fellow of the British Academy), den herausragenden britischen Wissenschaftler, Historiker und vielleicht vor allem Sinologen, heute wissen, dass die so paradigmatischen europäischen Erfindungen der Renaissance wie Druckkunst, Schießpulver und magnetischer Kompass (Fara ebd., S. 53), schon viel früher in China vorweggenommen wurden (ebd., S. 58). Needham konnte tatsächlich zeigen, dass die alten Chinesen mindestens 250 wesentliche Erfindungen vor ihren europäischen „ Raubkopierern “ gemacht haben (ebd.) Fara gibt jedoch auch zu, dass Needhams Schlussfolgerungen bis heute umstritten sind (ebd., S. 62). Was Needham in seine Forschungen kaum einbeziehen konnte, war die erst 1974 gemachte Entdeckung des Mausoleums Qín Shihuangdìs, einer Grabanlage aus dem Jahre 210 v. Chr., welche für den ersten chinesischen Kaiser Qin Shihuangdì erbaut worden war und in dem man 7278 lebensgroße Terrakotta-Figuren von Soldaten sowie von deren Pferden und Kriegswagen entdeckte (wobei man berücksichtigen muss, dass bis heute erst etwa ein Viertel der gesamten Anlage komplett freigelegt 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 3 wurde). 3 Die ungewöhnlich hohe künstlerische wie technische Qualität dieser Figuren ist ein eindrucksvolles Zeugnis für die enormen technischen und - vielleicht darf man auch sagen - wissenschaftlichen Fähigkeiten, über die die Chinesen bereits zu jener Zeit verfügten. Fara behandelt auch ein anderes Thema, das in den Standardwerken zur Entstehung der Wissenschaft gewöhnlich unterrepräsentiert ist bzw. gar nicht vorkommt; die Rede ist von dem Beitrag, den die arabische Kultur zu dieser Entwicklung leistete. Es ist allgemein bekannt, dass die wissenschaftlichen Werke von Aristoteles auf dem Umweg über die arabische Kultur und Übersetzungen aus dem Arabischen erst im späten Mittelalter (im 12. oder sogar erst im 13. Jahrhundert) in Europa wieder zugänglich wurden. Fara erinnert jedoch daran, dass die Bedeutung der arabischen Kultur für die Entstehung der Wissenschaft weit darüber hinausreicht. Die Wissenschaft etablierte sich in dieser Kultur bereits in der Mitte des achten Jahrhunderts, wie sie schreibt (ebd., S. 67), als die in Bagdad herrschenden Kalifen begannen, Forschung und Gelehrsamkeit finanziell großzügig zu fördern. Infolgedessen „ research flourished and theoretical knowledge reached an unprecedented level “ , und das Arabische wurde zur internationalen Wissenschaftssprache, die ein riesiges Territorium von Spanien im Westen bis China im Osten umspannte (ebd.). Fara hebt besonders die medizinischen Kenntnisse der arabischen Wissenschaftler hervor - zumal die von Avicenna, dessen Kanon der Medizin griechische, römische und persische medizinische Traditionen vereint und der zum Standardlehrbuch an den Renaissance-Universitäten in ganz Europa avancierte (ebd., S. 68) - und auch ihre präzisen astronomischen Beobachtungen (ebd., S. 70). Darüber hinaus behauptet sie, dass sich China, Europa und die islamische Welt in puncto wissenschaftlicher und technologischer Entwicklung vor 1400 sehr viel ähnlicher waren, als dies heute zugegeben wird (ebd., S. 59). Lucio Russo, ein italienischer Physiker, Mathematiker und Wissenschaftshistoriker, der am Dipartimento di Matematica der „ Tor Vergata “ -Universität in Rom lehrt, erinnert in seinem umfangreichen Werk daran, dass bereits in der hellenischen Zeit in Griechenland zahlreiche Denker und Forscher tätig waren, die sich aus heutiger Perspektive durchaus als Wissenschaftler bezeichnen ließen (Russo 2004, S. 13 f). Euklid beispielsweise, der am Ende des vierten Jahrhunderts v. Chr. in Alexandria arbeitete und lehrte; in Alexandrien lebte in der ersten Hälfte des nächsten Jahrhunderts auch Ktesibios, der Erfinder der Pneumatik und Gründer der Alexandrinischen Schule der Mechanik (ihm wurde etwa die Entdeckung der Materialität und „ Arbeitsfähigkeit “ der Luft zugeschrieben, die ihm die Erfindung des Federkatapults ermöglichte, der durch Luftkompression Gegenstände zu schleudern vermochte, ferner der Feuerspritze, einer Saug- und Druck- 3 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Mausoleum_Qin_Shihuangdis (heruntergeladen am 1. 1. 2014). 4 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft pumpe, die zum Feuerlöschen Verwendung fand, der Wasseruhr mit Zahnradgetriebe und der Wasserorgel, die mittels Wasser Luft komprimieren und auf diese Weise Töne hervorbringen konnte), wie auch Herophilos von Chalkedon (um 330 - um 255 v. Chr.), der Begründer der wissenschaftlichen Anatomie und Physiologie, ferner Aristarchos von Samos (um 310 - um 230 v. Chr.), der Astronom und Mathematiker, der vor allem durch die Einführung des heliozentrischen Weltbildes bekannt ist. Archimedes (287 - 212 v. Chr.) studierte wahrscheinlich in Alexandria und auch während seines Aufenthalts in Syrakus blieb er im ständigen Kontakt mit den dortigen Wissenschaftlern. In der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts war in Alexandria u. a. Eratosthenes (um 276 - um 194 v. Chr.) tätig. Dieser Universalgelehrte (Mathematiker, Geograph, Astronom, Historiker, Philologe, Philosoph und Dichter) und Leiter der Bibliothek von Alexandria ist vielleicht in erster Linie durch die erste stimmige Messung des Erdumfangs bekannt. Es gab selbstverständlich auch Gelehrte und Forscher, die nicht in Alexandria lebten, der Athener Chrysippos (um 281 - um 208 v. Chr.) etwa, um nur einen zu nennen, der vor allem durch seine Beiträge zur Logik in Erinnerung geblieben ist. Russos Verständnis der Wissenschaft ist noch stark den bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskreditierten Vorstellungen des logischen Empirismus verpflichtet. Als wissenschaftlich betrachtet er jede Theorie, welche die folgenden drei Merkmale aufweist: 1) ihre Aussagen beziehen sich nicht auf konkrete Objekte, sondern auf bestimmte theoretische Begriffe; 2) sie hat eine streng deduktive Struktur; 3) Anwendungen der Theorie auf die wirkliche Welt basieren auf Korrespondenzregeln zwischen theoretischen Annahmen und konkreten Objekten (Russo ebd., S. 20f.). Es ist fast erstaunlich, dass er trotz dieses recht engen, restriktiven Verständnisses der Wissenschaft von wissenschaftlichen Theorien der hellenistischen Zeit spricht. Ich kann hier aus Platzgründen natürlich nicht detailliert auf seine - durchaus überzeugenden - Begründungen dieser Behauptung in konkreten Einzelfällen eingehen. Es muss uns genügen, zur Kenntnis zu nehmen, dass er von hellenistischen wissenschaftlichen Theorien u. a. in folgenden Disziplinen spricht: Optik (ebd., S. 65ff.), Geodäsie (ebd., S. 74ff.), Mechanik (ebd., S. 80ff.), Hydrostatik (ebd., S. 83ff.), Pneumatik (ebd., S. 86ff.), Anatomie und Physiologie (ebd., S. 163ff.), Botanik und Zoologie (ebd., S. 181ff.), Chemie (ebd., S. 180ff.). Darüber hinaus beschreibt Russo detailliert den Beitrag dieser Epoche zur Entwicklung der Technologie im Bereich des Maschinenbaus (ebd., S. 110f.), der Messinstrumente (ebd., S. 114ff.), der Militärtechnik (ebd., S. 120ff.), aber auch der Stadtplanung, die er vor allem am beeindruckenden Beispiel von Alexandria selbst illustriert (ebd., S. 233ff.). Russos Ausführungen dienen dem Ziel, drei verbreitete, aber falsche Klischees in Bezug auf die griechische Wissenschaft zu widerlegen, nämlich dass 1) die Antike keine experimentelle Methode kannte; 2) die antiken Wissenschaften eine bloß spekulative Form der Erkenntnis darstellten, die 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 5 sich nicht mit Anwendungen beschäftigte; 3) die Griechen zwar die Mathematik, nicht jedoch die Physik erfanden (ebd., S. 226). Was in unserem Zusammenhang besonders relevant erscheint, ist seine Polemik gegen die erste der obigen Annahmen, nach der die hellenistischen Wissenschaftler die experimentelle Methode nicht kannten. Russo zufolge lässt sich nachweisen, dass, wenn man unter der „ experimentellen Methode “ die systematische Sammlung von empirischen, durch das unmittelbare Eingreifen des Forschers ermittelten Daten verstehe, die hellenischen Wissenschaftlern nicht nur Experimente im Bereich der Physik, sondern auch in der Anatomie, Physiologie, Zoologie und Botanik durchführten (ebd., S. 222). Betrachtet man die Durchführung quantitativer Messungen als eines der wichtigsten Merkmale der experimentellen Methode, komme man nicht umhin festzustellen, dass ihre systematische Anwendung - wie wir bereits oben konstatiert haben - schon lange vor dem Anbruch der hellenistischen Zeit gang und gäbe war. Im frühen Hellenismus weitete man die quantitativen Messungen in erster Linie auf Mechanik und Optik, aber auch über diese Disziplinen hinaus auf die medizinischen und biologischen Wissenschaften aus (ebd., S. 223). Versteht man schließlich unter der experimentellen Methode die Beobachtung unter künstlich geschaffenen Bedingungen, so finden sich beeindruckende Beispiele derartiger Experimente z. B. im Bereich der Pneumatik (ebd.). Russo erinnert auch daran, dass es bereits Eratosthenes gelang, den Erdumfang ziemlich genau zu bestimmen (ebd., S. 77ff., 311), und dass Ptolemäus (um 100 - um 160 n. Chr.) den Brechungsbzw. Einfallswinkel des Lichtes beim seinem Übergang von der Luft ins Wasser genau bestimmte (ebd., S. 73 f). Er weist jedoch ebenfalls darauf hin, dass die experimentelle Methode im Hellenismus des dritten nachchristlichen Jahrhunderts zwar einen raschen Aufstieg erlebte, ein Jahrhundert später aber ebenso rasch wieder verschwand. Aus Russos Perspektive könnte man behaupten, dass es sich bei der Geburt der Wissenschaft an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert eigentlich um eine Wiedergeburt handelte, eine Renaissance der hellenistischen Wissenschaft, nachdem sie lange Zeit in Vergessenheit versunken war. Aber auch die Ansicht, Wissenschaft sei etwa nach dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert zumindest in Europa mehr oder weniger verschwunden, erweist sich als zu einfach und so nicht haltbar. Edward Grant, Distinguished Professor Emeritus am Departement für Wissenschaftsgeschichte und -philosophie der Indiana Universität von Bloomington, zeichnet in seinem 2007 erschienenen Werk A History of Natural Philosophy. From the Ancient World to the Nineteenth Century den Beitrag der Naturphilosophie zur Entwicklung der Wissenschaft nach. Oberflächlich betrachtet mag es zunächst scheinen, dass Naturphilosophie und Wissenschaft nichts miteinander zu tun haben oder sich gar gegenseitig ausschließen: Wissenschaft fange da an, wo die Naturphilosophie aufhört, oder zumindest erst dann, wenn sie sich von der „ bloßen “ Naturphilosophie emanzipiere (Grant 6 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 2007, S. 303, Fussnoten 80, 81). Grant konstatiert dagegen, dass ein für die Entwicklung der Wissenschaft so richtungsweisendes Werk wie Newtons Principia Mathematica im vollen Titel Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, zu Deutsch also Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie heißt (ebd., S. 307, 313f.) und dass das grundlegende zweibändige Werk über die Physik, das 1867 von William Thomson (später Lord Kelvin; 1824 - 1907) und Peter Guthrie Tait (1831 - 1901) veröffentlicht wurde und das verschiedene Bereiche der Physik unter dem Energieprinzip vereinheitlichte und dadurch wesentlich dazu beitrug, diese Wissenschaft zu definieren, als Treatise on Natural Philosophy firmierte (ebd., S. 318). Um die Rolle der Naturphilosophie bei der Entwicklung der Wissenschaft angemessen beurteilen zu können, muss man sich zunächst klarmachen, was mit diesem Begriff geschichtlich überhaupt gemeint war. Es hat sich nämlich eingebürgert, unpräzise von der „ griechischen Naturphilosophie “ zu sprechen, womit üblicherweise die Gesamtheit des präsokratischen Denkens über die Natur der Welt gemeint ist und das heißt, bloße „ philosophische Spekulation “ und keine Wissenschaft. In diesem Zusammenhang werden für gewöhnlich unterschiedliche Denker genannt: Thales, für den das Wasser den Ursprung der Welt bildete, während Anaximenes sie ursprünglich auf die Luft zurückführte, Empedokles auf die vier Elemente, Heraklit auf das Feuer, Anaximander auf das Apeiron und Leukippos und Demokrit auf die Atome. Erst Aristoteles aber definierte das Gebiet der Naturphilosophie und grenzte es klar von den anderen Forschungsbzw. Wissensrichtungen ab. Er unterschied drei Bereiche des Wissens, die er als wissenschaftliche betrachtete (episteme im Gegensatz zur doxa): die produktiven Wissenschaften, die praktischen Wissenschaften und die theoretischen Wissenschaften (Grant ebd., S. 38). Die produktiven Wissenschaften umfassen ihm zufolge das gesamte Wissen über die Herstellung nützlicher Gegenstände, die praktischen Wissenschaften hingegen befassen sich mit der menschlichen Lebensführung (allen voran die Ethik). Alles andere Wissen subsumiert er unter dem allgemeinen Begriff der theoretischen Wissenschaften. Diese wiederum werden von ihm in drei Kategorien unterteilt: Metaphysik oder Theologie, die Gegenstände behandelt, die ewig, unbeweglich und (von den Körpern) getrennt sind, die Mathematik und eben die Naturphilosophie (ebd., S. 39). 4 Wesentlich an dieser Unterscheidung ist der Umstand, dass die Mathematik von Aristoteles deutlich von der Naturphilosophie unterschieden wurde. Auch die Disziplinen (sollen wir sie als „ Wissenschaften “ bezeichnen? ), die Mathematik verwenden, wie z. B. die mathematische Optik, Astronomie, Astrologie 4 Vgl. Aristoteles: Metaphysik VI. Buch, Abschnitt 1., (1025 b - 1026 a) (Aristoteles 1984, S. 155ff.). Einige Übersetzer geben den hier von Aristoteles verwendeten Begriff sogar mit „ Naturwissenschaft “ wieder, denn Aristoteles gebraucht auch noch einen anderen Begriff: physiologon, den man mit „ Naturphilosoph “ übersetzt, und zwar für eine Person, die sich mit Gegenständen befasst, die veränderbar sind, unabhängig existieren und in sich die innere Quelle der Bewegung und der Ruhe tragen. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 7 oder auch die Musik sind aus der Naturphilosophie ausgesondert und im Anschluss an Aristoteles oft unter dem Begriff der „ exakten “ oder später im Mittelalter dem der „ mittleren Wissenschaften “ (Mitte zwischen Mathematik und der Naturphilosophie) subsumiert worden (ebd., S. 43, 158). Diese Unterscheidung prägte immer noch den Fächerkanon der mittelalterlichen Universitäten, auf denen das Studium der Naturphilosophie in allen vier Fakultäten (Artistenfakultät, an der die „ sieben freien Künste “ in Vorbereitung für die höheren und stärker auf die Ausübung eines bestimmten Berufen ausgerichteten Fakultäten: Theologie, Medizin und Jura, gelehrt wurden) zu den zentralen Fächern gehörte. 5 Ein wenig vereinfacht lässt sich also behaupten, dass man noch im Mittelalter unter der Naturphilosophie die Untersuchung der Gesamtheit der Natur verstand, welche nicht den mathematischen Gesetzen unterliegt. Auf der anderen Seite ist zu betonen, dass diese Untersuchung durch die allgemeine Auffassung motiviert war, die in der Naturwelt die Schöpfung Gottes erblickte, welche eine innere Ordnung besitzt, die dem menschlichen Verstand zugänglich ist: Medieval academic life was driven by, among other things, a „ belief in a world order, created by God, rational, accessible to human reason, to be explained by human reason and to be mastered by it; this belief underlies scientific and scholarly research as the attempt to understand this rational order of God ’ s creation “ . (Rüegg 1992, S. 32, zitiert nach Grant ebd., S. 324) Es wäre allerdings vorschnell zu meinen, dass die an den mittelalterlichen Universitäten und anderen damaligen Bildungseinrichtungen betriebene Forschung einen bloß spekulativen Charakter hatte. Es wurde nicht nur beobachtet, sondern auch experimentiert. Das bekannteste Beispiel eines mittelalterlichen europäischen Experimentators ist wohl Roger Bacon (1214 - 1292 oder 1294), der von vielen als der erste wahre Wissenschaftler Englands erachtet wird (Fara ebd., S. 91). Sein Opus maius (1267) enthält Kapitel über Mathematik, Optik, die Position und Größe von Himmelskörpern, die Herstellung von Schwarzpulver, aber auch über Alchemie. Er entdeckte die Gesetze der Spiegelung und der Lichtbrechung, untersuchte das Zustandekommen des Regenbogens und auch den Zusammenhang zwischen den Gezeiten und der Mondposition. 6 Über die Bedeutung der Erfahrung und des Experiments schrieb Bacon: 5 Es ist vielleicht interessant, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass sich in den deutschsprachigen Ländern die „ Artistenfakultät “ zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert allmählich zur Philosophischen Fakultät wandelten, aus der später die heutigen geisteswissenschaftlichen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten hervorgingen (http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Artistenfakultät [heruntergeladen am 2. 1. 2014]). 6 Vgl. die deutsche Wikipedia: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Roger_Bacon (heruntergeladen am 2. 1. 2014). 8 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft In den Naturwissenschaften kann man ohne Erfahrung und Experiment nichts Zureichendes wissen. Das Argument aus der Autorität bringt weder Sicherheit, noch beseitigt es Zweifel. [. . .] Mittels dreier Methoden können wir etwas wissen: durch Autorität, Begründung und Erfahrung. Die Autorität nützt nichts, wenn sie nicht auf Begründung beruht: Wir glauben einer Autorität, sehen aber nichts ihretwegen ein. Doch auch die Begründung führt nicht zu Wissen, wenn wir nicht ihre Schlüsse durch die Praxis (des Experiments) überprüfen. [. . .] Über allen Wissenschaften steht die vollkommenste von ihnen, die alle anderen verifiziert: Es ist das die Erfahrungswissenschaft, die die Begründung vernachlässigt, weil sie nichts verifiziert, wenn nicht das Experiment ihr zu Seite steht. Denn nur das Experiment verifiziert, nicht aber das Argument. (Zitiert nach Lay 1981, S. 34f.) Seine Experimente mit Licht und dessen Interaktion mit Spiegeln und Prismen waren für Bacon jedoch nicht das Ziel an sich, sondern ein Schritt zum Verständnis Gottes (Fara ebd., S. 90). Er war überzeugt, dass das Licht göttliche Aspekte der heiligen Schöpfung Gottes offenbart (ebd., S. 91). Was Roger Bacon seinem Selbstverständnis nach betrieb, war Naturphilosophie. Sie wurde aber auch lange über das Mittelalter hinaus als der Mutterboden der Wissenschaft betrachtet. Im 79. Aphorismus des ersten Buches seines bahnbrechenden Werks Novum Organum, das allgemein als die erste theoretische Darstellung der modernen wissenschaftlichen Methode gilt, bezeichnete Francis Bacon die Naturphilosophie als „ die große Mutter der Wissenschaften “ . 7 Analog dazu entwickelt Grant ein plausibles Argument für die These, dass entgegen der weit verbreiteten Meinung, die Wissenschaft im modernen Sinne habe dadurch zustande kommen können, dass sie sich von der Naturphilosophie gleichsam befreite, die Entwicklung in Wirklichkeit umgekehrt verlief: die Entstehung der modernen Wissenschaft sei dadurch ermöglicht worden, dass die „ exakten “ oder „ mittleren Wissenschaften “ (im oben erläuterten Sinne) in die Naturphilosophie integriert wurden, was die Perspektive darauf eröffnete, nach einheitlichen Ursachen aller Phänomene zu forschen: The Scientific Revolution occurred because, after coexisting independently for many centuries, the exact sciences of optics, mechanics, and especially astronomy merged with natural philosophy in the seventeenth century. This momentous occurrence broadened the previously all-too narrow scope of the ancient and medieval exact sciences [. . .], which now, by virtue of natural philosophy, would seek physical causes for all sorts of natural phenomena, rather than being confined 7 „ An zweiter Stelle bietet sich jene Ursache [der Irrtümer der Vergangenheit] dar, die gewiss von überragender Bedeutung ist, dass nämlich selbst in jenen Zeiten, wo Geisteskraft und Wissenschaften stark oder wenigstens mittelmäßig geblüht haben, auf die Naturphilosophie der geringste Anteil der menschlichen Mühen verwendet worden ist. Dabei muss sie doch für die große Mutter der Wissenschaften gehalten werden. Denn alle Künste und Wissenschaften, die von diesem Stamm getrennt sind, werden vielleicht aufgeputzt und für den Gebrauch zurechtgemacht, aber sie sind ohne Wachstumskraft “ (Bacon 1990, S. 169. Vgl. Grant ebd., S. 305). 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 9 to mere calculation and quantification. Thus were the seeds planted for the flowering of the modern version of the exact physical sciences, and the many other sciences that emerged during the eighteenth and nineteenth centuries. (Grant ebd., S. 303). Grant beschreibt dann im Detail die Stufen der Integration der exakten oder mathematischen Wissenschaften in die Naturphilosophie (ebd. S. 303 - 319), wobei die Subsumierung der mathematischen Astronomie unter die Naturphilosophie durch Kepler (ebd. S. 312) und dann die der Physik unter die Naturphilosophie durch Newton (ebd. S. 313 f) in unserem Zusammenhang als besonders folgenschwere Schritte erachtet werden müssen. Bis in das 19. Jahrhundert hinein fungierte die Bezeichnung Naturphilosophie als Synonym für Physik und die Naturwissenschaften (ebd. S. 317). An dieser Stelle ist der Hinweis angebracht, dass der Begriff „ scientist “ im heutigen Sinne erst 1833 gefasst und verwendet wurde, und zwar von William Whewell (1794 - 1866), dem berühmten englischen Universalgelehrten, (Fara ebd., S. 226f., 245), wobei dieser Gebrauch zunächst auf erbitterten Widerstand stieß (ein hervorragender Geologe etwa verkündete, dass es besser sei zu sterben, als „ bestialise our tongue by such barbarisms “ ; Fara ebd., S. 227, Fußnote 24). Noch 1813 war es durchaus angebracht, den Begriff „ science “ z. B. auf die Tanzkunst anzuwenden ( „ science of dancing “ ; ebd., S. 226), was der ursprünglichen aristotelischen Aufteilung der Wissenschaften in theoretische, produktive und praktische Wissenschaften zumindest in etwa entspricht (s. oben). Es sei hier auch daran erinnert, dass der Beruf des Wissenschaftlers im heutigen Sinne einer professionellen, bezahlten Karriere, die allen entsprechend begabten bzw. veranlagten Menschen offensteht, erst Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist (Fara ebd., S. 228, 243), während Wissenschaft früher eigentlich ein Privatvergnügen war und von einigen wenigen, meist vermögenden Individuen betrieben wurde (ebd., S. 228); dass dieser neue Beruf erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in großen Laboratorien, die an Universitäten oder Fabriken angeschlossen waren, ausgeübt wurde, davor hingegen zumeist zu Hause und auch später zumindest ab und zu wieder dort (ebd., S. 128). 8 Wir haben also gesehen, dass sich die Geschichte der Entstehung der Wissenschaft im heutigen Sinne dieses Wortes bei genauerer Betrachtung als 8 Fara erzählt diesbezüglich Anekdoten aus dem Leben von Lord Rayleigh (1842 - 1919), dem englischen Nobelpreisträger für Physik von 1904, der angeblich jeden Tag seine physikalische Apparatur vom Klavier der Familie räumen musste, um Platz für die Familiengebete zu schaffen, und von Lord Kelvin, der einen ausgedienten Weinkeller in ein Labor umfunktionierte, das stets mit dem Kohlestaub aus dem benachbarten Laden bedeckt war (Fara ebd., S. 243). An dieser Stelle ist der Hinweis angebracht, dass Ioannidis et al. in einer kürzlich veröffentlichten Studie die Zahl der zwischen 1996 und 2011 publizierenden Wissenschaftler auf 15.153.100 geschätzt haben (Ioannidis et al. 2014, S. 1) und dass 2006 angeblich ca. 1.350.000 Artikel in peer-reviewed Zeitschriften veröffentlicht wurden (Larsen und Ins 2010, S. 585). 10 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft viel komplexer erweist, als dies in unseren Tagen immer noch allgemein angenommen wird. Will man als Wissenschaft allein das verstehen, was unter genau diesem Namen praktiziert wird, so darf man ihren Ursprung zeitlich nicht hinter den Anfang des 19. Jahrhundert datieren. Betrachtet man als entscheidendes Kriterium für die Entstehung der modernen Wissenschaft die Anwendung der Mathematik zur Beschreibung der Phänomene der natürlichen Welt, so muss man ihren Anfang vielleicht mit dem Erscheinen von Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica im Jahre 1687 identifizieren. Ist man hingegen der Auffassung, dass für die Wissenschaft im modernen Sinne die Durchführung von Experimenten in der Forschung zentral ist, so kann man ruhig nicht nur bis zu Roger Bacon zurückgehen, sondern bis zu den Wissenschaftlern der hellenischen Zeit in Griechenland, um bei ihnen die Geburt der Wissenschaft zu verorten. Wenn man hingegen das genaue Beobachten der Naturphänomene, z. B. des Gangs der Himmelskörper, als hinreichendes Kriterium der Wissenschaftlichkeit zu akzeptieren bereit ist, so muss man (mit Fara) zu dem Schluss gelangen, dass die Wissenschaft spätestens im alten Babylon, wenn nicht bereits früher (Stonehenge, Ägypten) begonnen hat. Vielleicht hat Faras eingangs zitierte provokative Behauptung, dass die Wissenschaft keinen klar zu bestimmenden Anfang habe, doch eine größere Berechtigung, als es noch zu Beginn dieses Kapitels scheinen konnte. Wissenschaft als das Streben nach sicherer Erkenntnis Es gibt jedoch einen wichtigen Grund, weshalb man die Wissenschaft im modernen Sinne des Wortes doch um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert beginnen lassen sollte. Und dieser hat mit einem Aspekt des modernen wissenschaftlichen Strebens zu tun, der meines Erachtens bislang nicht die ihm gebührende Beachtung gefunden hat, und zwar mit der Verschiebung des Erkenntnisstrebens: von dem nach einer bloß begründeten, zu jenem nach sicherer Erkenntnis. Mindestens seit der griechischen Antike stand die Erkenntnis bzw. das Wissen (episteme) im Gegensatz zum bloßen Meinen (doxa) unter Begründungsanspruch (Mittelstraß 2004d, S. 719). Eine entsprechende Begründung konnte auf verschiedene Weise erfolgen: sie konnte mittels eines geometrischen oder mathematischen Beweises, mittels einer philosophischen Argumentation, die von allgemein anerkannten Prämissen ausging, oder aber auch z. B. über den Bezug auf eine Autorität erreicht werden. Man kann wohl mit Recht behaupten, dass die „ Gründungsväter “ der neuen Wissenschaft - während selbstverständlich auch ihnen die Möglichkeit eines Rückgriffs auf die mathematische Beweisführung weiterhin als ein Ideal der sicheren Erkenntnis galt - mit den anderen, nichtmathematischen Formen der Begründung kognitiver Behauptungen (gedankliche Argumentation, Rückgriff auf Autorität) nicht mehr zufrieden 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 11 waren und entsprechend nach anderen Möglichkeiten suchten, Erkenntnissicherheit zu erlangen. Das Streben nach Sicherheit der Erkenntnis stand fraglos im Zentrum des Interesses sowohl des „ Vaters der modernen Wissenschaft “ , Francis Bacon (1561 - 1626), wie auch des „ Vaters der neuzeitlichen Philosophie “ , René Descartes (1596 - 1650), der zugleich als einer der ersten und vornehmsten modernen Wissenschaftler gilt: Ich wenigstens habe mich, erfüllt von ewiger Liebe zur Wahrheit, den unsicheren und steilen Wegen und Einöden anvertraut [. . .]. So wollte ich endlich den Zeitgenossen und der Nachwelt zuverlässigere und sichere Beweise verschaffen. (Bacon 1990, Teilband 1, S. 27ff.) Es muss das Ziel der wissenschaftlichen Studien sein, die Erkenntniskraft darauf auszurichten, dass sie über alles, was vorkommt, unerschütterliche und wahre Urteile herausbringt. (Descartes 1997, S. 3) Interessanterweise bringt Thomas Sprat (1635 - 1713), der frühe Chronist der 1660 gegründeten Royal Society of London, der ersten wissenschaftlichen Vereinigungen der Welt, ein sehr ähnliches Ideal zum Ausdruck, wenn er die Hauptanliegen der neuen Gesellschaft formuliert: [N]ow men are generally weary of the relics of antiquity, and satiated with religious disputes: now not only the eyes of men, but their hands are open, and prepared to labour: Now there is a universal desire, and appetite after knowledge, after the peaceable, the fruitful, the nourishing Knowledge: and not after that of ancient sects, which only yielded hard indigestible arguments, or sharp contentions instead of food: which when the minds of men required bread, gave them only a stone, and for fish a serpent. (Sprat 1958, S. 158) 9 Die Sorge um die Sicherheit der Erkenntnis findet sich genauso noch in den Schriften der Vordenker des logischen Empirismus. So schrieb z. B. Moritz Schlick: Der Durst nach reiner theoretischen Erkenntnis aber, nach Einsicht in den Zusammenhang der Welt, nach vollkommen sicheren, dem Streit der Meinungen entrückten Wahrheiten, war allein zu befriedigen durch Gewinnung exakter Wirklichkeitserkenntnis, das heißt durch das Studium der mathematischen Naturwissenschaft. (Schlick AE 10 , S. 58) Ähnlich äußerte sich auch Rudolf Carnap: [E]s wird in langsamem, vorsichtigem Aufbau Erkenntnis nach Erkenntnis gewonnen; jeder trägt nur herbei, was er vor der Gesamtheit der Mitarbeitenden verantworten und rechtfertigen kann. So wird sorgsam Stein zu Stein gefügt und ein sicherer Bau errichtet, an dem jede folgende Generation weiterschaffen kann. Aus dieser Forderung zur Rechtfertigung und zwingenden Begründung einer jeden These 9 Rechtschreibung modernisiert von mir, MBM. 10 S. Kürzelverzeichnis. 12 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft ergibt sich die Ausschaltung des spekulativen, dichterischen Arbeitens in der Philosophie. (Carnap 1966, S. XIX. Meine Hervorhebung, MBM) Man kann also behaupten, dass sich das Streben nach Sicherheit der Erkenntnis von der Geburtsstunde der modernen Wissenschaft im 17. Jahrhundert bis mindestens zum Anfang des 20. Jahrhunderts wie ein roter Faden durchzieht. Daraus ergibt sich unmittelbar die Frage, weshalb die Menschen des späten 16. und des frühen 17. Jahrhunderts nicht mehr mit der bloßen (begründeten) Erkenntnis zufrieden waren und nach mehr, genauer gesagt nach anderen Quellen der Erkenntnissicherheit strebten. Das Streben nach Sicherheit und die religiösen Konflikte infolge der Reformation Die Antwort auf diese Frage ist nicht schwer zu finden, wenn man die geschichtliche Situation des damaligen Europas betrachtet. Bereits die Renaissance brachte neben zahlreichen äußerst segensreichen Entwicklungen auch eine bisher praktisch unbekannte skeptische Stimmung mit sich. Denn die Erweiterung des Weltbildes, welche mit den geographischen Entdeckungen einherging, resultierte in einer gewissen Relativierung der Überzeugungen, angesichts ihrer Kontingenz, die Blaise Pascal (1623 - 1663) einige Jahrzehnte später treffend in folgender Feststellung zum Ausdruck brachte: „ Drei Grade der Breite werfen die ganze Jurisprudenz um, und ein Meridian bestimmt, was wahr ist. “ 11 Viel gravierendere Auswirkungen auf die Erkenntnisbedürfnisse der Menschen jener Zeit hatten jedoch die religiösen Entwicklungen in Europa selbst. Mit Martin Luthers Anschlag seiner berühmten fünfundneunzig Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg am 31. Oktober 1517 nahm bekanntlich jene folgenschwere Umwälzung ihren Anfang, die unter dem Begriff „ Reformation “ subsumiert wird. Sie entzweite die bis dahin einheitliche (westliche) römische Kirche. Natürlich hatte es innerhalb der christlichen Kirche schon in der Vergangenheit bedeutende Schismen und Brüche gegeben, allen voran das sog. morgenländische Schisma von 1054, das die früher einheitliche christliche Kirche in die römisch-katholische und die orthodoxe Kirche spaltete, und das sog. Abendländische Schisma (1378 - 1416), als der Kirche gleichzeitig mehrere Päpste (in Rom, Avignon und später auch Pisa) vorstanden; während sich aber das erste dieser Schismen an der weiten Peripherie Europas vollzog und das zweite im Kern als ein Konflikt zwischen den französischen und italienischen Kardinälen bzw. dem französischen Königtum und dem (religiösen) Papsttum verstanden werden kann, fand die Reformation im Herzen Europas statt und betraf neben dem für unseren Zusammenhang eher unerheblichen Problem des Ablasswesens, die (mit den Ablass-Praktiken verknüpfte) zentrale Frage 11 Zitiert nach Bordo 1987, S. 42. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 13 der Erlösung durch gute Werke oder durch Glaube und Gnade. Infolge der Reformation entwickelten sich auf verhältnismäßig kleinem Raum sehr schnell gegensätzliche Weltanschauungen, die sich intolerant gegenüberstanden. Es muss hervorgehoben werden, dass diese Situation grundverschieden war von der Herausforderung des europäischen Christentums durch den Islam im 8. Jahrhundert. Wenn damals die Bedrohung von außen kam, was, wie oben angemerkt, die Einigkeit innerhalb der christlichen Gemeinschaft eigentlich konsolidieren half, so kam es im 16. Jahrhundert zur Spaltung dessen, was früher eine Einheit gebildet hatte. Bekanntlich spielte dieser Glaubensgegensatz eine wichtige Rolle im Dreißigjährigen Krieg, der vom Prager Fenstersturz am 23. Mai 1618 - der von Protestanten an Katholiken verübten Gewalthandlung - bis 1648 in Europa tobte und in dessen Verlauf Teile des Heiligen Römischen Reichs stark verwüstet wurden. Die Schätzungen des Rückgangs der Gesamtbevölkerung im Reichsgebiet reichen von 20 bis 45 %. 12 Während jedoch der Krieg auf dem europäischen Kontinent keinen rein religiösen Charakter trug, sondern fraglos auch von unterschiedlichen Machtansprüchen unterschiedlicher Herrscher herrührte, kann man vom Bürgerkrieg in England 1642 - 1646 sagen, dass die Fronten entlang der rein konfessionellen Linien verliefen. Bereits seit der durch Heinrich VIII. im Jahre 1533 eingeleiteten Trennung der englischen Kirche von Rom, in deren Folge seine Nachfolger abwechselnd dem anglikanischen und dem katholischen Glauben anhingen, gab es in England Verfolgungen der jeweiligen religiösen Gegner, die oft einen recht blutigen Verlauf nahmen (die katholische erste Tochter von Heinrich VIII., die als Maria I. zwischen 1553 und 1556 in England regierte, ging nicht von ungefähr als „ bloody Mary “ in die Geschichte Englands ein). Der Konflikt zwischen den Konfessionen eskalierte zu einem Bürgerkrieg, als der katholische Monarch Karl I. verdächtigt wurde, dass er das von Katholiken in Ulster begangene Massaker von 3.000 Protestanten (d. h. etwa 20 %) nicht nur unterstützt, sondern auch befohlen hatte (Morgan 1993, S. 315). Die Motivation der Unterstützer aufseiten des parliaments wie auch der königlichen Seite war ohne Zweifel religiöser Natur: [T]hose who rushed to join the king in 1642 were those clearly motivated by religion. On the other side, those who mobilized for Parliament were those dedicated to the overthrow of the existing Church and to the creation of a new evangelical church which gave greater priority to preaching God ’ s word, greater priority to imposing moral and social discipline. It was a vision reinforced by the return of exiles from New England who told of the achievements of the godly in the Wilderness. Like the Israelites of the Old Testament led out of bondage in Egypt to the Promised Land, so God ’ s new chosen people, the English, were to be led out of bondage into a Promised Land, a Brave New World. While the majority of 12 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Dreißigjähriger_Krieg (heruntergeladen am 5. 1. 2014). 14 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft Englishmen dithered and compromised, the minority who took up the armed struggle cared passionately about religion. (Morgan ebd., S. 316) Schätzungen besagen, dass zumindest während der besonders heftigen Kämpfe zwischen 1643 und 1645 mehr als 10 % aller volljährigen Männer in der einen oder der anderen Armee dienten (ebd., S. 317). Es wird berichtet, dass viele von ihnen im Kampf die Anwesenheit Gottes fühlten (ebd., S. 322). Die Folgen des Krieges sind allgemein bekannt: Karl I. wurde 1649 enthauptet, die Monarchie abgeschafft und die Republik ausgerufen. Sie wurde von Oliver Cromwell, dem erfolgreichen Befehlshaber der Truppen des Parlaments regiert. Er sah sich in der Rolle Moses ’ , der die Israeliten ins Gelobte Land führte: The English people had been in bondage in the Land of Egypt (Stuart monarchy); they had fled and crossed the Red Sea (Regicide); they were now struggling across the Desert (current misfortunes), guided by the Pillar of Fire (Divine Providence manifested in the army ’ s great victories, renewed from 1656 on in a successful war against Spain). (Ebd., S. 327f.) Cromwells tiefe Überzeugung, dass er den Willen Gottes vollziehe, verleitete ihn jedoch dazu, die zivilen und rechtlichen Freiheiten der Bürger sträflich zu missachten. In seinem Bestreben, England in die (angeblich) von Gott versprochene glorreiche Zukunft zu führen, regierte er willkürlich und tyrannisch, ließ Menschen ohne Prozess inhaftieren, zwang Steuern per Dekret auf. Das führte dazu, dass ihm die englische Krone angeboten wurde, aber nicht in Anerkennung seiner Verdienste, sondern um seine Macht einzugrenzen. Er lehnte sie ab, weil er glaubte, sie anzunehmen würde der Verwirklichung seiner göttlichen Berufung im Wege stehen. Nach seinem Tod erwies sich sein Sohn als völlig ungeeignet, das entstandene Machtvakuum zu füllen. Die Befehlshaber der Armee fingen an, untereinander um die Macht zu kämpfen. Schließlich wurden nur achtzehn Monate nach Cromwells Tod freie Wahlen abgehalten, der Sohn Karl I., wurde zur Rückkehr aus seinem Exil in Frankreich ersucht, um als Karl II. den englischen Thron zu übernehmen. Die Monarchie wurde wiederhergestellt und interessanterweise auf den Todestag seines Vaters zurückdatiert (ebd., S. 330). Die republikanische Episode mit ihrer religiösen Inbrunst geriet bald in Vergessenheit. Dennoch hinterließ sie tiefe Spuren. Die Relativierung der Werte infolge der geographischen Entdeckungen, der Prozess der Kirchenspaltung, der zwangsläufig die Unterminierung des Glaubens an die von der Kirche verkündeten Wahrheiten zur Folge hatte, die langen Jahre des religiösen und machtpolitischen Krieges, in welchem die Armeen verschiedener christlicher Staaten sich gegenseitig äußerst blutig bekämpften, aber auch die Zivilisten nicht verschonten, schließlich die Tatsache, dass sich in einem Land zwei christlichen Armeen bekämpften, deren Soldaten jeweils Gott auf ihrer Seite wähnten, während der oberste Anführer einer dieser Armeen zutiefst davon überzeugt war, dass er unter dem direkten Kommando des Höchsten stand, 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 15 dessen Führerschaft am Ende aber doch nur Tod und Leiden über unzählige Menschen brachte - all das musste das Bedürfnis nach neuer, stabilerer Orientierung als jene des Glaubens aufkommen lassen. Daher ist es wohl kein Zufall, dass die Entstehung der Wissenschaft, die eine solche neue einigende Orientierungskraft zu werden versprach, gerade in diese Zeit fällt und dass die erste wissenschaftliche Vereinigung gerade in England entstanden ist mit „ The Royal Society of London for the Promotion of Natural Knowledge “ . Bereits als Francis Bacon 1620 das Novum Organon veröffentlichte, lag also hinter England und den Engländern eine langjährige kollektive Erfahrung des religiösen Streits. Vor diesem Hintergrund erscheint die im Bacon ’ schen Programm enthaltene Hoffnung, dass die „ neue Wissenschaft “ den Menschen eine Rückkehr zum jungfräulichen Zustand vor dem Sündenfall ermöglichen werde, und besonders vor die babylonische Verwirrung, als die Menschen noch „ eine Sprache sprachen “ (Proctor 1991, S. 93), nicht bloß als theoretisches Postulat, sondern auch als zutiefst empfundenes menschliches Bedürfnis. Und vor dem Hintergrund der Erfahrung des Bürgerkrieges der 40er-Jahre des 17. Jahrhunderts in England wird es nicht überraschen, dass die Suche nach einem Weg zur Überwindung solcher Konflikte auch im Zentrum des Interesses der in der Royal Society versammelten Anhänger Bacons stand und dass das Erlangen zuverlässiger Erkenntnis - wie in dem oben angeführten Zitat von Thomas Sprat vernommen - explizit als das Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels hervorgehoben wurde. Nicht aus irgendwelchen theoretischen Überlegungen heraus, sondern aus einem tiefen existentiellen Bedürfnis, das durch die eigenen schmerzhafte Erfahrungen genährt wurde, äußerte Sprat die oben zitierten Worte: „ Now there is a universal desire, and appetite after knowledge, after the peaceable, the fruitful, the nourishing Knowledge [. . .] “ (Sprat 1958, S. 152). Der Glaube vermochte die Bedürfnisse der Menschen nicht mehr zu stillen, sie verlangten nach dem Wissen, dem sicheren, wissenschaftlichen Wissen. Fazit Selbst wenn man geneigt ist, den Ursprung der Wissenschaft - im Einklang mit der Mehrheitsmeinung - auf das späte 16. bzw. das frühe 17. Jahrhundert zu datieren, so ist die Schwierigkeit, der Wissenschaft ein präzises Geburtsdatum zuzuordnen, ein Hinweis darauf, dass der Begriff der Wissenschaft nicht klar und eindeutig ist. Ob schließlich bereits die astronomischen Beobachtungen der Babylonier als wissenschaftlich gelten dürfen, oder ob man diese Würde erst den astronomischen Beobachtungen eines Kopernikus oder eines Galileis zuerkennt, hängt in einem nicht unerheblichen Maße davon ab, was genau man unter „ Wissenschaft “ versteht bzw. zu verstehen bereit ist. Die Schwierigkeiten bei der präzisen zeitlichen Verortung des Ursprungs der Wissenschaft verweisen also auf ein tieferes Problem: auf die Frage nach der Wissenschaft selbst, nach ihrer Abgrenzung von den ihr 16 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft verwandten Disziplinen bzw. Erkenntnisformen. Dieser wichtigen, ja aus der Sicht der vorliegenden Studie zentralen Frage werden wir uns zu einem späteren Zeitpunkt zuwenden müssen (vgl. unten, „ Was ist Wissenschaft? Die Debatte um die Abgrenzung: Wissenschaft/ Pseudowissenschaft “ ). Die Fortschritte der Wissenschaft im 19. Jahrhundert Neben der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Geburtsstunde der Wissenschaft ist es für unsere Zwecke durchaus lohnenswert, zumindest zwei weitere Entwicklungen in den Blick zu nehmen. Dabei soll es einmal um die Fortschritte der Wissenschaft im 19. Jahrhundert gehen, zum anderen um die Entwicklung, die die Reflexion über Charakter und Methode der Wissenschaft seit der „ wissenschaftlichen Revolution “ der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert bis ins beginnenden 20. Jahrhundert genommen hat, als mit dem logischen Positivismus eine Wissenschaftsauffassung aufkam, die das Denken der Wissenschaftstheoretiker fast vier Jahrzehnte entscheidend prägte. Dass dieser Entwicklungsverlauf für uns von Interesse ist, wird - so hoffe ich - unmittelbar einleuchten, was hingegen die erste Entwicklung anbetrifft, so könnte es durchaus sein, dass sie dem Leser völlig irrelevant scheint. Denn was könnte uns hier der Fortschritt der Wissenschaft im 19. Jahrhundert angehen, wenn doch der Stand des Wissens am Beginn des 20. Jahrhunderts heute in praktisch allen Belangen als überholt gelten muss und insofern nur noch das Interesse der Wissenschaftshistoriker beanspruchen kann, die vorliegende Studie aber gar nicht den Anspruch erhebt, zu dieser Disziplin etwas beizutragen. Dennoch aber wird es sich für den Fortgang unserer Argumentation als nützlich erweisen, wenn wir einen zumindest flüchtigen Blick auf die Entwicklung der Wissenschaft im 19. Jahrhundert werfen. Denn nur wenn man sich den gewaltigen Fortschritt der Wissenschaft in jenem Jahrhundert vor Augen führt, kann man sich eine Vorstellung machen von der Zuversicht und dem Vertrauen in die Wissenschaft, die unter den gebildeten Menschen am Ende des Jahrhunderts herrschte und die den Nährboden bildete für die Entwicklung der Wissenschaftsauffassung, welche Mitte des 20. Jahrhunderts dominierte - die Rede ist vom sogenannten Neopositivismus oder logischen Empirismus, mit dem wir uns bald ausführlich auseinandersetzen werden. Wie wir gleich schon genauer sehen werden, gipfelte diese Zuversicht bezüglich der Leistungen der Wissenschaft in einem unter den Wissenschaftlern weit verbreiteten Gefühl, dass die Forschung kurz vor ihrem Abschluss stehe, es praktisch nichts mehr, oder zumindest nichts Wesentliches mehr zu entdecken gebe, die grundlegenden Fragen bereits beantwortet seien oder in Bälde beantwortet würden. Eine solche Stimmungslage muss aus heutiger Sicht als völlig überzogen, ja beinahe irrational erscheinen, haben wir doch im Laufe des 20. Jahrhunderts ein fast explosionsartiges Anwachsen des Wissens auf nahezu allen Gebieten der Forschung erlebt, und waren überdies Zeugen 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 17 so mancher Entdeckungen, die unser Weltbild radikal verändert haben. Wir haben auch heute noch keineswegs das Gefühl, dass wir mit der Forschung an das Ende gelangt sind. Um sich also in die Stimmungslage am Ende des 19. Jahrhunderts versetzen, sie zumindest einigermaßen verstehen und nachvollziehen zu können, scheint es mir unerlässlich, den Stand des Wissens am Beginn und am Ende jenes Jahrhunderts rückblickend einem Vergleich zu unterziehen. Zuvor aber ist es noch nötig, an eine weiter zurückliegende Entwicklung innerhalb der Wissenschaft zu erinnern, die ihren ebenso frühen wie wesentlichen Teil zu jener von Vertrauen in die Wissenschaft gekennzeichneten Stimmungslage um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert beigetragen hat. Ich denke dabei an die 1687 erfolgte Veröffentlichung des Hauptwerks von Sir Isaac Newton (1642 - 1727) Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie), das im allgemeinen Verständnis den Beginn der Neuzeit in der Mechanik und Astronomie markiert. Mit der Formulierung der drei Gesetze der Bewegung und dem Gesetz der universellen Gravitation entwickelte Newton ein einheitliches System zur Beschreibung der Funktionsweise des Universums. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Gravitationsgesetz nicht nur die Berechnung des Verhaltens fallender Körper erlaubte, sondern auch der Bewegungen der Planeten und anderer Himmelskörper. Newtons Gesetze ermöglichten sogar die Entdeckung neuer Himmelskörper (z. B. die Neptuns im Jahr 1847, s. unten) und dienen bis heute als Grundlage für die Berechnung der Bahnen der Raumfahrzeuge, da diese im Vergleich mit der Lichtgeschwindigkeit nur geringe Geschwindigkeiten erreichen, weshalb die rechnerischen Abweichungen von der Relativitätstheorie vernachlässigt werden können. Erwähnenswert ist, dass Newton im Zuge seiner Forschungen die Infinitesimalrechnung erfand (was unabhängig von ihm auch Gottfried Leibniz tat), die bei vielen späteren Entwicklungen in den meisten Bereichen der Physik zum einem zentral wichtigen Instrument geworden ist. Es soll in diesem Zusammenhang auch daran erinnert werden, dass Immanuel Kant von den Erfolgen der newtonschen Physik und der Genauigkeit der durch sie ermöglichten Voraussagen so beeindruckt war, dass er sich fragte, wie dies überhaupt möglich sei. Seine Lösung dieses Rätsels liegt bekanntlich in der „ kopernikanischen Wende “ der Betrachtungsweise. Kant ist in seiner Kritik der reinen Vernunft zu der Überzeugung gelangt, dass wir die Naturgesetze, die wir durch Beobachtung und Experiment aus der Erfahrung zu gewinnen wähnen, zunächst selbst in die Natur projizieren. Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt. (Kant 1995, A 125) So übertrieben, so widersinnig es [. . .] auch lautet, zu sagen: der Verstand ist selbst der Quell der Gesetze der Natur, und mithin der formalen Einheit der Natur, so 18 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft richtig, und dem Gegenstande, nämlich der Erfahrung angemessen ist gleichwohl eine solche Behauptung. (Kant 1995, A 127) Nur weil die Naturgesetze notwendige Projektionen unserer eigenen Natur sind, können sie die Welt so genau voraussagen, wie die von Newton „ entdeckten “ Gesetze es tun, war Kant überzeugt. 13 Nach diesem kleinen Exkurs können wir uns jetzt der Betrachtung der wissenschaftlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert zuwenden. Diese kann man wohl mit dem von John Gribbin in einem anderen Kontext geprägten Motto: „ progress on all fronts “ (Gribbin 2002, S. 285) beschreiben. Der Fortschritt war in der Tat atemberaubend. Ich möchte im Folgenden an die wichtigsten dieser Entwicklungsschritte erinnern. Werfen wir dabei zunächst einen Blick auf die Chemie. Noch am Ende des 18. Jahrhundert wurde zumindest von einigen Chemikern (z. B. dem Engländer Joseph Priestley (1733 - 1804)) noch der Begriff Phlogiston gebraucht, obschon Antoine Lavoisier (1743 - 1794) bereits 1783 zeigen konnte, dass es im Brennprozess zur Verbindung von Sauerstoff mit dem Brennstoff kommt und nicht zur Freisetzung von Phlogiston. Die Widerlegung der Phlogistontheorie kann man als die krönende Errungenschaft auf dem Felde der Chemie des ausgehenden 18. Jahrhundert betrachten. Das 19. Jahrhundert brachte entscheidende Fortschritte in dieser Wissenschaftsdisziplin. Bereits 1803 gelang es John Dalton (1766 - 1844), die relativen Atomgewichte von Partikeln zu ermitteln, und 1808 formulierte er das für Chemie grundlegende Gesetz der multiplen Proportionen für die Verbindungen zwischen zwei Elementen. Ebenfalls 1808 formulierte er die erste wissenschaftlich fundierte Atomtheorie, der zufolge Atome die kleinsten, nicht weiter teilbaren kugelförmigen Teilchen darstellen, aus denen sich jeder Stoff zusammensetzt. Dalton sah richtig voraus, dass alle Atome eines bestimmten Elementes das gleiche Volumen und die gleiche Masse haben, war aber der Ansicht, dass die unzerstörbar sind und durch chemische Reaktionen weder vernichtet noch erzeugt werden können. Ebenfalls noch am Anfang des Jahrhunderts gelang Sir Humphry Davy (1778 - 1829) die Herstellung der Elemente Natrium, Kalium, Barium, Strontium, Calcium und Magnesium mittels der Elektrolyse und 1828 glückte Friedrich Wöhler die Synthese des Harnstoffs, was bewies, dass sich organische Verbindungen aus anorganischen herstellen lassen - dies wurde als endgültige Widerlegung des Vitalismus mit seinen Lebenskräften gefeiert. 1859 entdeckten Gustav Robert Kirchhoff (1824 - 1887) und Robert Wilhelm Bunsen (1811 - 1899), dass verschiedene chemische Elemente die Flamme eines Gasbrenners auf charakteristische Weise färben: die Methode der Spektroskopie war geboren, die bei der Erforschung selbst der entferntesten Sternen bis heute gute Dienste leistet. Schließlich (um mich auf die wichtigsten Leistungen zu beschränken) publizierte 1869 Dimitri Mendelejew (1834 - 1907) das Periodensystem der Elemente, in dem er alle damals 13 Vgl. auch Gloy 2007, S. 41f. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 19 bekannten 63 Elemente ansteigend nach der Atommasse in sieben Gruppen mit ähnlichen Eigenschaften anordnete. Es gelang ihm auch, die Eigenschaften der damals noch nicht bekannten Elemente Gallium, Scandium und Germanium vorauszusagen. Nur wenige Jahre später wurden diese dann tatsächlich entdeckt. In der Astronomie gelang Pierre-Simon Laplace (1749 - 1827) in seinem von 1799 bis 1823 verfassten Hauptwerk Abhandlung über die Himmelsmechanik der rechnerische Beweis der Stabilität der Planetenbahnen. Bis dahin war man nämlich aufgrund der Unregelmäßigkeiten bei den Planetenbewegungen davon überzeugt, dass das Sonnensystem kollabieren könnte. Laplace postulierte auch die Existenz von Schwarzen Löchern und formulierte (eigentlich bereits vor seiner Himmelsmechanik) die sog. Nebularhypothese der Entstehung des Sonnensystems (die bereits 1755 von Immanuel Kant aufgestellte entsprechende Theorie war Laplace unbekannt.) Als die vielleicht größte Errungenschaft des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Astronomie kann jedoch die Entdeckung des Neptuns im Jahr 1846 gelten. Aufgrund der bekannten Unregelmäßigkeiten in der Planetenbahn von Uranus um die Sonne, die den keplerschen Gesetzen nicht entsprach, vermutete man die Existenz eines weiteren Planeten, der die Bahn des Uranus stört. 1846 errechnete der französische Mathematiker Urbain Le Verrier (1811 - 1877) die Position, an der sich der unbekannte Planet befinden soll, und dieser wurde von Johann Gottfried Galle (1812 - 1910), dem Observator der Berliner Sternwarte, im September 1846 tatsächlich am vorhergesagten Ort gesichtet. Um die Fortschritte im 19. Jahrhundert auf den Gebieten der Medizin und Physiologie gebührend würdigen zu können, muss man wissen, dass in der Medizin zu Beginn des Jahrhunderts die antike Theorie der Lebenssäfte nach wie vor weit verbreitet war und die Überzeugung vorherrschte, dass letztendlich Gott über die Genesung oder den Tod des Patienten entscheidet und der Arzt lediglich eine helfende, begleitende Rolle im Heilungsprozess innehat. Die Heilungsmethoden von Franz Anton Mesmer (1734 - 1815) waren zur damaligen Zeit (besonders unter den gut betuchten Parisern) ein wahrer Renner. Dieser behauptete, dass er das magnetische Fluidum (der „ tierische Magnetismus “ ), das durch die Atmosphäre und durch den Körper des Menschen zirkuliere und dessen Blockade Krankheiten verursache, durch geeignete Behandlung wieder zum harmonischen Zirkulieren bringen und so den Betroffenen Heilung bringen könne (Fara 2009, S. 230ff.). Erst im 19. Jahrhundert wurden die grundlegenden Entdeckungen gemacht, die die moderne Medizin ermöglichten: 1838 formulierte der deutsche Botaniker Mathias Schleiden (1804 - 1881) die Zelltheorie des Aufbaus der Pflanzen, die noch im gleichen Jahr durch den deutschen Physiologen Theodor Schwann (1810 - 1882) auf tierische Organismen erweitert wurde. 1839 dann formulierte Schwann auf der Grundlage seiner Beobachtung, dass ein Ei eine Einzelzelle ist, die sich über mehrere Schritte zu einem vollständigen Organismus entwickelt, die Grundprinzipien der Embryologie. Basierend 20 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft auf diesen Entdeckungen entwarf der Berliner Arzt Rudolf Virchow (1821 - 1902) 1858 die Theorie der Zellularpathologie, nach der Krankheiten auf Störungen der Körperzellfunktionen beruhen. Diese Erkenntnis bildet bekanntlich eine der Säulen der heutigen Pathologie. Der Einfluss der Mikroorganismen auf die Entstehung von Krankheiten war Virchow noch unbekannt. Diese Entdeckung geht auf den französischen Chemiker und Mikrobiologe Louis Pasteur (1822 - 1895) und den deutschen Mediziner und Mikrobiologen Robert Koch (1843 - 1910) zurück, die um 1870 die Theorie der Verursachung der ansteckenden Erkrankungen durch Mikroorganismen formulierten, wobei der in Budapest geborene und in Wien praktizierende Arzt Ignaz Semmelweis (1818 - 1865) bereits 1847 festgestellt hatte, dass sich die Übertragung von Infektionen durch hygienische Maßnahmen unterbinden lässt. 1880 ist es Pasteur dann gelungen, den ersten Impfstoff (gegen Geflügelcholera) herzustellen. Erwähnenswert ist, dass Pasteur um 1860 eine Reihe von Experimenten durchführte, in der er den Beweis sah, dass Abiogenese bzw. Urzeugung (also die spontane Entstehung des Lebens aus toter organischer Materie) unmöglich ist. Die Diskussion um dieses Problem dauerte aber zumindest bis in die späte 70er-Jahre des 19. Jahrhunderts an. 14 1897 wurde in Deutschland Aspirin erfunden, und 1903 entwickelte der niederländische Arzt Willem Einthoven (1860 - 1927) die Elektrokardiographie in ihrer modernen Form. Was die Geologie betrifft, so ist zu sagen, dass der britische Geologe Charles Lyell (1797 - 1875) sein bahnbrechendes Werk Principles of Geology 1830 veröffentlichte (die drei Bände, die es umfasst, erschienen zwischen 1830 und 1833), in dem er sich gegen die damals verbreitete Theorie der kataklysmischen Umbrüche der Erdkruste wendete. Bereits der Untertitel seines Werkes macht deutlich, worum es Lyell ging, nämlich um „ An attempt to explain the former changes of the Earth's surface by reference to causes now in operation “ . Der Autor zeigte, dass sich die Veränderungen der Gebirgsformationen und die allgemeine Ausgestaltung der Erdoberfläche bereits anhand der damals bekannten geologischen Vorgänge erklären ließen, wenn man davon ausging, dass diesen hinreichend lange Zeiträume zur Verfügung standen, in denen sie ihre Wirkung entfalten konnten. Da Lyell seine Theorie durch zahlreiche unwiderlegbare Beobachtungen untermauerte, avancierte sie bald zur vorherrschenden Lehrmeinung. Auch Charles Darwin beeinflusste sie entscheidend. Mit Blick auf die Biologie und ihre Fortschritte im 19. Jahrhundert scheint es fast unnötig daran zu erinnern, dass 1859 Charles Darwins (1809 - 1882) epochales Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection erschienen ist, das nicht nur als die Errungenschaft der Biologie des 19. Jahrhunderts 14 In einer unveröffentlichten Notiz von 1878 spekulierte Pasteur darüber, dass die spontane Entstehung von Leben doch möglich sein müsse, weil sie mit Sicherheit am Anfang des Lebens gestanden habe. (vgl. Pinet 2004, S. 63f.). 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 21 gelten darf, sondern einen über die Grenzen dieser Wissenschaft weit hinausgehenden prägenden Einfluss hatte. Erlaubte dieses Werk doch zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Erklärung der Vielfalt der Lebewesen ohne Rückgriff auf die Idee eines göttlichen Schöpfers. Darwins Leistungen sind so gut bekannt, dass ich hier nicht weiter auf sie eingehen möchte. Zumal wir auf sie und ihre Auswirkungen an späterer Stelle nochmals zu sprechen kommen werden. Ich will hier nur daran erinnern, dass parallel zu Darwin ein anderer britischer Forscher, Alfred Russell Wallace (1823 - 1913), praktisch identische Ideen entwickelte (auch auf ihn werden wir ausführlich zurückkommen) und dass der französische Botaniker und Zoologe Jean-Baptiste de Lamarck (1744 - 1829) um bzw. nach 1800 eine Theorie der Veränderlichkeit der Arten entwickelte, wobei seiner Theorie die Idee der gemeinsamen Abstammung aller Arten fehlte, weshalb sie gemeinhin als eine Transformationstheorie und nicht als Evolutionstheorie bezeichnet wird; Lamarck nahm an, dass die einfachen Organismen durch Urzeugung entstehen. Den größten Wissenszuwachs im 19. Jahrhundert erlebte jedoch sicherlich die Physik. Auch in ihrem Zusammenhang sollte man sich klarmachen, wo diese Wissenschaft am Anfang des Jahrhunderts stand. Als ein passendes Symbol für den damaligen Entwicklungsstand der Physik mag gelten, dass Alessandro Volta (1745 - 1827) dem Ersten Konsul der französischen Republik, Napoleon, im Jahre 1801 eine Batterie vorführte, die er neu entwickelt hatte, die aber nach heutigen Maßstäben äußerst primitiv war. In den Folgejahren und -jahrzehnten aber folgte eine wahre Lawine an Entdeckungen. Um etwa 1804 führte der englische Physiker Thomas Young (1773 - 1829) 15 die bahnbrechenden Doppeltschlitz -Experimente aus, deren Resultate er dahingehend interpretierte, dass das Licht entgegen Newtons Annahme ein wellenartiges und kein korpuskuläres Phänomen ist. Diese revolutionäre Sicht fand bald eine unabhängige Bestätigung durch die experimentellen Arbeiten des französischen Ingenieurs und Physikers Augustin-Jean Fresnel (1788 - 1827). 1820 entdeckte der dänische Physiker und Chemiker Hans Christian Ørsted (1777 - 1851), dass elektrische Ströme magnetische Felder erzeugen. Ende 1824 stellte der englische Physiker Michael Faraday (1791 - 1867) erste Versuche zur Erzeugung von Elektrizität mit Hilfe von Magnetfeldern an, was ihm allerdings erst 1831 gelang. Ebenfalls 1831 entdeckte Faraday den Gegeneffekt, dass nämlich durch das sich bewegende magnetische Feld elektrischer Strom erzeugt werden kann (entspricht der sog. elektromagnetischen Induktion). Ende dieses Jahres trug er vor der Royal Society of London dann seinen Bericht 15 Eigentlich war Young viel mehr als ein „ bloßer “ Physiker. Er war ein Wunderkind, das bereits im Alter von zwei Jahren englische Texte lesen konnte, lateinische als er sechs war, und noch vor seinem 17. Lebensjahr lernte und beherrschte er auch Griechisch, Französisch, Italienisch, Hebräisch, Chaldäisch, Syrisch, Samarisch, Arabisch, Persisch, Türkisch und Äthiopisch. Dank dieser erstaunlich breiten sprachlichen Kompetenz war er später in der Lage, die führende Rolle bei der Entschlüsselung des Steins von Rosetta zu spielen. (Grant 2007, S. 402f.) 22 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft über diese Entdeckung vor. 1832 gelangte Faraday zu der Überzeugung, dass allen damals bekannten Formen der Elektrizität (der sog. voltaischen Elektrizität, der Reibungselektrizität, Thermoelektrizität, tierischen Elektrizität und magnetischen Elektrizität) ein und dasselbe Phänomen zugrunde liegt. 1826 formulierte der deutsche Physiker und Mathematiker Georg Ohm (1789 - 1854) das Gesetz des elektrischen Widerstandes (das ohmsche Gesetz). 1827 entdeckte der schottische Botaniker Robert Brown (1773 - 1858) die nach ihm benannte Brownsche Bewegung: er beobachtete, wie Pollenkörner sich bewegen infolge der Stöße durch die sich schnell bewegenden Atome oder Moleküle der Flüssigkeit, in der sie sich befinden. 1835 veröffentlichte der irischer Mathematiker und Physiker William Hamilton (1805 - 1865) die nach ihm benannte Neuformulierung der klassischen Mechanik (die sog. hamiltonische Mechanik), die später zur Formulierung der Quantenmechanik beigetragen hat. 1841 publiziert der deutsche Arzt und Physiker Robert Mayer (Julius Robert von Mayer 1814 - 1878) einen Artikel, in dem er den Satz von der Erhaltung der Energie formulierte. Seine Überlegungen stießen jedoch zunächst auf wenig Verständnis; allgemeine Anerkennung fand dieser Satz erst, als der deutsche Universalgelehrte Hermann von Helmholtz (1821 - 1894) ihn in seinem 1847 veröffentlichten Buch Über die Erhaltung der Kraft (neu) formulierte. Das Gesetz der Energieerhaltung wurde dann um 1850 von William Thomson (später Lord Kelvin) und dem deutschen Physiker Rudolf Clausius (1822 - 1888) als der erste Hauptsatz der Thermodynamik reformuliert (die Energie eines abgeschlossenen Systems bleibt unverändert). Dieselben zwei Physiker formulierten einige Jahre später den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (einfach ausgedrückt: Wärme kann nicht von selbst von einem Körper niedriger Temperatur auf einen Körper höherer Temperatur übergehen). Ebenfalls 1850 führten die französischen Physiker Hippolyte Fizeau (1819 - 1896) und Léon Foucault (1819 - 1868) Messungen der Lichtgeschwindigkeit im Wasser durch und stellten dabei fest, dass sie kleiner ist als in der Luft ist, was die Wellentheorie des Lichts bestätigte. 1854 formulierte Hermann von Helmholtz die Idee des Wärmetodes des Universums. 1864 veröffentlichte der schottische Physiker James Maxwell (1831 - 1879) verschiedene Artikel über die dynamische Theorie der elektromagnetischen Felder und in seinem 1873 veröffentlichten Treatise on Electricity and Magnetism formulierte er die Hypothese, wonach das Licht ein elektromagnetisches Phänomen sei, eine Form der Energie, die sich in Wellenform durch den (angenommenen) Lichtäther verbreitet. Diese Theorie schien 1888 durch die Entdeckung der elektromagnetischen Strahlung durch den deutschen Physiker Heinrich Hertz (1857 - 1894), der ein Schüler Hermann von Helmholtz ’ war, bestätigt. Hertzens Entdeckung (der übrigens bereits 1887 den photoelektrischen Effekt entdeckte), die von vielen Wissenschaftlern aufgenommen und weiterverfolgt wurde, trug wesentlich zur Entwicklung der sog. drahtlosen Telegraphie und später des Radios (und Fernsehens) bei. Schließlich wurde 1897 die Existenz des Elektrons als 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 23 Elementarteilchen durch den britischen Physiker Joseph John Thomson (1856 - 1940) nachgewiesen. Abschließend sei noch in einem Satz erwähnt, dass neben der Wissenschaft und teilweise infolge der wissenschaftlichen Entdeckungen auch die Technologie im 19. Jahrhundert eine rasante Entwicklung nahm. Diese verlief, wenn man so will, von der Dampflok über die elektrische Glühbirne und das Benzinauto bis hin zum Flugzeug (das allerdings erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickte, nämlich 1903). Abschluss der Forschung Wenn man die gewaltigen Fortschritte, die Wissenschaft und Technologie im Laufe des 19. Jahrhunderts gemacht haben, Revue passieren lässt, wird man vielleicht nicht sonderlich überrascht zur Kenntnis zu nehmen, dass am Ende des Jahrhunderts die weit verbreitete Erwartung die war, dass sich die Forschung ihrem Abschluss nähert, dass alle zentral wichtigen Fragen in Bezug auf die Naturphänomene bereits gelöst sind oder demnächst gelöst werden. So schrieb beispielsweise der berühmte schottische Physiker und Schöpfer der elektromagnetischen Theorie, James Clerk Maxwell (1831 - 1879), im Jahr 1888 Folgendes: [T]he opinion seems to have got abroad that in a few years all the great physical constants will have been approximately estimated, and that the only occupation which will then be left to the men of science will be to carry on these measurements to another place of decimals. (Zitiert nach Kelly und Kelly 2010, S. xxiv) 1880 bemühte sich John Trowbridge, Leiter des Physik-Departements an der Harvard Universität darum, seine Studenten von der Spezialisierung in Physik abzuhalten, da alle wichtigen Entdeckungen auf diesem Feld bereits gemacht worden seien. Es bliebe lediglich das „ tidying up of loose ends “ , und diese Aufgaben sei eigentlich unter der Würde eines Harvard-Studenten (Appleyard 2004, S. 118 f). Und 1888 äußerte der kanadisch-amerikanische Astronom Simon Newcomb: „ We are probably nearing the limit of all we can know about astonomy. “ Nur einige Jahre später, 1894, schrieb der berühmte amerikanische Physiker und erste amerikanische Nobelpreisträger in den Wissenschaften, Albert Abraham Michelson (1852 - 1931): [I]t seems probable that most of the grand underlying principles have been firmly established and that further advances are to be sought chiefly in the rigorous application of these principles to all the phenomena which come under our notice. (Zitiert nach Kelly und Kelly 2010, S. xxiv) und 1902 stellte er zuversichtlich fest: [T]he more important fundamental laws and facts of physical science have all been discovered, and these are now so firmly established that the possibility of their ever being supplanted in consequence of new discoveries is exceedingly remote [. . .]. 24 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft Our future discoveries must be looked for in the sixth place of decimals. (Zitert nach Appleyard 2004, S. 142) 1900 behauptete William Thomson, 1. Baron Kelvin, der englische Physiker und Erfinder der interkontinentalen Telegrafie, zuversichtlich: „ There is nothing new to be discovered in physics now. All that remains is more and more precise measurement “ (zitiert nach Sheldrake 2012, S. 19). 16 Bis hierher haben wir vor allem die Physiker und Astronomen zu Wort kommen lassen. Es scheint freilich, dass sich damals der Eindruck allgemein verfestigte, die Wissenschaft würde sich als solche und nicht bloß in einzelnen ihrer Zweige der Lösung aller wichtigen Rätsel nähern. Ein deutliches Zeugnis dieser Haltung bildet das 1899 erschienene Buch einer der führenden deutschen, aber auch weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannten Wissenschaftler, des Zoologen Ernst Haeckel (1834 - 1919), das bei einem sehr breiten Publikum für ungewöhnlich viel Aufsehen sorgte: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Bereits in seinem Erscheinungsjahr des Buches erreichte es drei Auflagen, von 1900 bis 1905 kamen sechs weitere hinzu; ab 1903 erschienen einige Volksausgaben und ab 1908 die Taschenbuchausgaben. Insgesamt rund eine halbe Million Exemplare wurde an den Leser gebracht (Klohr 1960, S. VII). Die „ Welträtsel “ eroberten sich innerhalb kurzer Zeit nicht nur in Deutschland ein breites Publikum. Sie wurden in 25 Sprachen übersetzt. Besonders die englische Übersetzung von McCabe, dem „ Apostel von Haeckel “ , verkaufte sich ausgesprochen gut. Haeckel war fest davon überzeugt, dass die Wissenschaft seiner Zeit die naive Phase der wissenschaftlichen Entwicklung hinter sich hätte und man nun endlich auf einem soliden Tatsachengrund stehe. Er gab dieser Überzeugung bereits gleich zu Beginn seines Buches Ausdruck: Wenn wir uns den unvollkommenen Zustand der Naturerkenntnis im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden Höhe an dessen Schlusse vergleichen, so muss jedem Sachkundigen der Fortschritt innerhalb desselben erstaunlich groß erscheinen. Jeder einzelne Zweig der Naturwissenschaft darf sich rühmen, dass er innerhalb dieses Jahrhunderts - und besonders in dessen zweiter Hälfte - extensive und intensive Gewinne von größter Tragweite erzielt habe. (Haeckel 1960, S. 13f.) Der gewaltige Fortschritt der Wissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts ist, wie wir eben gesehen haben, unbestritten. Haeckel konstatiert das nicht einfach nur, sein Buch kündet darüber hinaus von der Überzeugung, dass man endlich auch die Wahrheit beim Schopfe gepackt habe und dass es jetzt nur noch darum gehe brauche, das Bild zu glätten und die letzten Falten auszustreichen. So heißt es am Ende: 16 Wie Sheldrake schreibt, wird diese Aussage sehr oft zitiert, obschon sie eigentlich nicht restlos belegt ist und vielleicht eigentlich als apokryph gelten muss. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 25 Die Zahl der Welträtsel hat sich durch die angeführten Fortschritte der wahren Naturerkenntnis im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf ein einziges allumfassendes Universalrätsel zurückgeführt, auf das Substanzproblem. Was ist denn nun eigentlich im tiefsten Grunde dieses allgewaltige Weltwunder, welches der realistische Naturforscher als Natur oder Universum verherrlicht, der idealistische Philosoph als Substanz oder Kosmos, der fromme Gläubige als Schöpfer oder Gott? Können wir heute behaupten, dass die wunderbaren Fortschritte unserer modernen Kosmologie dieses „ Substanzrätsel “ gelöst oder auch nur, dass sie uns dessen Lösung sehr viel näher gebracht haben? (ebd., S. 390) 17 Wie Haeckel empfanden jedoch viele, und keineswegs nur Wissenschaftler. Bryan Appleyard schrieb über diese Zeit: There was a material confidence in the air that contradicted and yet was the necessary correlative of the mechanistic despair of the nineteenth century. [. . .] [A]cross the Western world, the forty years up to 1914 were a period of extraordinary growth and prosperity. Europe and America were rapidly becoming urban continents with a sophisticated urban conception of what was possible. (Appleyard ebd., S. 115f.) 18 Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass zur damaligen Zeit der Eindruck herrschte, Wissenschaft und Technik befänden sich im Zustand schöpferischer Reife oder seien im Begriff, ihn zu erreichen. Als Symbol für die Technologiegläubigkeit jener Zeit steht zweifelsohne die RMS Titanic, die bekanntlich als unsinkbar galt, die aber am 15. April 1912, nur zwei Stunden und vierzig Minuten nach dem Zusammenstoß mit einem Eisberg, unterging. Es ist übrigens interessant festzustellen, dass der Erkenntnisoptimismus, der sich am Ende des Jahrhunderts so offenkundig manifestierte, genau besehen bereits an seinem Beginn spürbar war, also lange bevor dieser Optimismus durch die tatsächlichen Fortschritte der Wissenschaft begründet war. Bereits 1822 veröffentlichte der damals gerade einmal 24 Jahre alte französische Mathematiker und Philosoph Auguste Comte (Isidore Auguste Marie François Comte (1798 - 1857)) 19 seinen Plan de traveaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société dem zwischen 1826 und 1842 die sechs 17 Wir werden Haeckels „ Welträtsel “ ausführlicher im Kapitel „ Einzug des Materialismus in die Wissenschaft “ behandeln. 18 Appleyard schreibt offensichtlich über die Zeit bis 1914, seine Aussage gilt aber vor allem für das 19. Jahrhundert. 19 Comte war als arrogante, energische und mitreißende Persönlichkeit bekannt. Nach der Veröffentlichung seines Plan de traveaux bemühte er sich um eine akademische Anstellung. Ein Lehrstuhl blieb ihm jedoch „ wegen der unmoralischen Falschheit seines mathematisierenden Materialismus “ versagt. 1826 erkrankte er und wurde in eine psychiatrische Heilanstalt eingewiesen, die er jedoch bald wieder verließ, ohne wirklich kuriert worden zu sein. Im April 1827 misslang ihm ein Selbstmordversuch. (http: / / de. wikipedia.org/ wiki/ Auguste_Comte [heruntergeladen am 5. 1. 2014].) 26 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft Bände seines Hauptwerkes Cours de philosophie positive folgten, in denen er sein berühmtes Entwicklungsgesetz ausarbeitete. Es besagt, dass die Menschheit in ihrer Entwicklung drei aufeinanderfolgende geistige Phasen durchlaufe: die theologische, die metaphysische und die „ positive “ . Die erste bilde ihren unerlässlichen Ausgangspunkt, die letzte den Normalzustand, während die zweite eine Art Übergangsstadium darstelle. Im theologischen Stadium suche der menschliche Geist die Erklärung der primären und letzten Ursachen der Phänomene in Interventionen übernatürlicher Mächte. Die zweite Stufe sei nur eine einfache Modifikation der ersten: Die Fragen bleiben die gleichen, in den Antworten aber verschwinde das Übernatürliche und werde ersetzt durch abstrakte Entitäten. Im positiven Zustand höre der Geist auf, nach den letzten Ursachen der Phänomene zu suchen, und beschränke sich strikt auf das Entdecken der sie beherrschenden Gesetze. In dieser Phase werden auch die absoluten Begriffe durch relative ersetzt. Für Comte war die Wissenschaft eine „ connaissance approchée “ : sie nähere sich der Wahrheit an, ohne sie je vollständig zu erreichen. Es gibt in seinem System keinen Platz für die absolute Wahrheit. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass das 19. Jahrhundert neben den Erkenntnisfortschritten auch mit einer Professionalisierung der Wissenschaft einherging. Was früher ein Privatvergnügen Begüterter war, erhielt allmählich einen institutionellen Rahmen und entwickelte sich zu einem bezahlten Beruf. Gegen Ende des Jahrhunderts gingen die vom Staat finanzierten deutschen Universitäten dann dazu über, eigene Forschungslabors einzurichten (Fara ebd., S. 289). Die Rätsel der Physik am Ende des 19. Jahrhunderts Interessant und aufschlussreich ist es, den gewaltigen Fortschritt der Wissenschaft und der Technologie im 19. Jahrhundert von heute aus ins Auge zu fassen. Da erscheint er nämlich verhältnismäßig klein. Bildlich gesprochen verhält sich der Stand der Wissenschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts zu dem von heute wie das Flugzeug der Gebrüder Wright zum Airbus oder gar zum Spaceshuttle. Die Zahl der neuen wissenschaftlichen Publikationen (wie auch die Zahl der Wissenschaftler) ist seit jener Zeit im Wortsinn exponentiell gewachsen (Rescher 1999, S. 54f.), doch auch die Tiefe der Einsicht in die Natur, die seither hauptsächlich durch die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Forschungsinstrumente erreicht worden ist, lässt sich mit der vom Anfang des 20. Jahrhunderts kaum vergleichen. Trotz des weit verbreiteten Optimismus in Bezug auf den Stand des Wissens am Ende des 19. Jahrhunderts gab es gerade zu dieser Zeit vermehrt Anzeichen dafür, dass sich hinter der nach außen hin glatten Fassade des vermeintlich vollkommenen Wissens tiefe Risse verbargen. Schauen wir uns diese beunruhigenden Symptome wieder chronologisch an. 1881 führte der deutsch-amerikanischer Physiker Albert Abraham Michelson (1852 - 1931) in 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 27 Hermann Helmholtz ’ Labor in Berlin ein Experiment durch, dessen Resultate, wie sich später herausgestellte, die Fundamente der (klassischen) Physik erschütterten und ein Problem aufwarfen, das erst Einstein mit seiner Speziellen Relativitätstheorie zu lösen vermochte. Mindestens seit dem 18. Jahrhundert war man davon ausgegangen, dass sich das Licht sich in einem Medium ausbreitet, das als „ Lichtäther “ bezeichnet wurde: eine äußerst feine und durchsichtige, aber dennoch materielle Substanz. Die Existenz einer solchen Substanz schien schon deshalb notwendig, weil man damals fest davon überzeugt war, dass die Natur „ abhors vacuum “ und also der Raum zwischen den Himmelskörpern mit etwas ausgefühlt sein müsse, und weil dieses Etwas dem Licht scheinbar kein Hindernis bot, musste es eben äußerst fein und durchsichtig sein. Die Existenz eines solchen Mediums wurde als umso notwendiger erachtet, als Young und im Anschluss Fresnel Experimente durchgeführt hatten, die eindeutig zu beweisen schienen, dass das Licht ein wellenartiges, nichtkorpuskulares Phänomen sei. Eine Welle aber muss sich in einem Medium ausbreiten, so die Annahme. Als Maxwell dann tatsächlich zeigte, dass das Licht eine elektromagnetische Welle ist, ging man entsprechend davon aus, dass sie sich im Vakuum nicht ausbreiten könne, da es keine elektrischen Felder ohne elektrische Ladung und diese nicht ohne Materie geben könne. Darum entwickelte Maxwell komplexe Theorien der Zusammensetzung und Struktur des Lichtäthers (Fara ebd., S. 285 f) und noch 1878 schrieb er in der Encyclopaedia Britannica: Welche Schwierigkeiten wir auch haben, um eine konsistente Vorstellung der Beschaffenheit des Äthers zu entwickeln: Es kann keinen Zweifel geben, dass der interplanetarische und interstellare Raum nicht leer ist, sondern dass beide von einer materiellen Substanz erfüllt sind, die gewiss die umfangreichste und vermutlich einheitlichste Materie ist, von der wir wissen. 20 In dem Beitrag zur Encylopaedia Britannica, aus dem das obige Zitat stammt, schlug Maxwell auch ein Experiment vor, das die Existenz des Lichtäthers beweisen sollte: wenn man einen Lichtstrahl in zwei teilt und die entstehenden Strahlen sich eine Zeit lang senkrecht zueinander bewegen lässt, und zwar einen Strahl in Richtung der Erdbewegung durch den Raum und somit auch durch den Lichtäther, den anderen aber senkrecht dazu, so müsste der erste Strahl durch den Widerstand des Äthers stärker abgebremst werden als der zweite. Führt man die beiden am Ende wieder zusammen, sollte sich ein zwar sehr geringfügiger, dennoch aber messbarer Zeitunterschied zwischen den beiden Lichtstrahlen ergeben, was wiederum auch bedeutet, dass ein Interferenzmuster zwischen den beiden zu sehen sein müsste. Es leuchtet sofort ein, dass sich ein solches Experiment in Anbetracht der Schnelligkeit 20 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ James Clerk_Maxwell (heruntergeladen am 5. 1. 2014). Da ich leider keinen Zugang zu der 1878-Ausgabe der Encylopaedia Britannica habe, muss ich mich hier auf die deutsche Übersetzung der Stelle, die in der deutschsprachigen Wikiepedia zugänglich gemacht wurde, verlassen. 28 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft des Lichtes und der Geringfügigkeit des erwarteten Abbremseffekts durch den Lichtäther nicht so ohne Weiteres durchführen ließ. Es sollte deshalb nicht überraschen, dass es Michelson eben erst 1881 gelang, mittels einer ziemlich komplizierten Apparatur zu einigermaßen verlässlichen Ergebnissen zu gelangen. Diese fielen aber negativ aus: es zeigte sich kein Unterschied, was die „ Ankunftszeit “ der beiden Lichtstrahlen anging. 1887 wiederholte Michelson sein Experiment zusammen mit Edward Morley (1838 - 1923) an der Case Western Reserve University, wie die Einrichtung in Cleveland, Ohio, heute heißt. Und obwohl sie mit einer verfeinerten Apparatur arbeiteten, 21 kamen zum gleichen Ergebnis: es ließ sich keine Bremswirkung des Lichts durch den Lichtäther nachweisen. 22 Damit stand die Richtigkeit der Theorie, die eine solche Substanz postulierte und verlangte, in Frage. Wenn es aber keinen Lichtäther gibt, wie kann sich das Licht (wenn es eine Welle ist) dann ausbreiten, wie es dies offensichtlich tut? Ein weiteres Problem, das sich mit der Zeit als äußerst hartnäckige Schwierigkeit für die klassische Physik herausstellte, offenbarte sich am 8. November 1895. An diesem Tag entdeckte der deutsche Physiker Wilhelm Conrad Röntgen (1845 - 1923) nämlich eine neuartige Strahlung, die später bekanntlich nach ihm benannt wurde (er selber bezeichnete sie einfach als X-Strahlung, und so heißt sie im englischen Sprachraum noch heute). Röntgen erhielt übrigens für seine Entdeckung 1901 den ersten je vergebenen Nobelpreis für Physik. Bereits 1894 hatte Philipp Lenard gezeigt, dass die sog. Kathodenstrahlen eine dünne Metallfolie durchdringen könne, ohne sie zu beschädigen. Dies Phänomen wurde als Beweis gewertet, dass die Kathodenstrahlen wellenartiger Natur seien, da Teilchen (man dachte natürlich damals noch, dass selbst die kleinsten Teilchen die Größe eines Atoms haben müssen) sichtbare Spuren ihres Durchgangs durch die Folie hinterlassen müssten. Röntgen experimentierte gerade mit einer Vakuumröhre, die zur Erzeugung der sog. Kathodenstrahlen verwendet wurde. 23 Eine der damaligen Standardmethoden zum Nachweis der Kathodenstrahlen bestand darin, einen mit Bariumplatincyanid beschichteten Papierschirm vor der Vakuumröhre zu platzieren, da diese Verbindung fluoresziert, wenn sie von den Kathodenstrahlen aktiviert wird. Röntgen bedeckte seine Vakuumröhre vollständig mit schwarzen Karton um jegliche Lichtstrahlen abzuschirmen. An jenem 8. November 1895 hatte er einen mit Bariumplatincyanid beschichteten Schirm neben seiner Apparatur liegen gelassen, fern der Bahn der Kathodenstrahlen, die in der Vakuumröhre erzeugt werden konnten. Zu seinem Erstaunen sah er 21 Ich verzichte hier auf die Beschreibung seiner Einzelheiten, vgl. aber http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Michelson-Morley_experiment (heruntergeladen am 5. 1. 2014). 22 Die Resultate des Michelson-Morley-Experiments wurden noch im gleichen Jahr im American Journal of Science veröffentlicht (Michelson, Albert Abraham & Morley, Edward Williams (1887): „ On the Relative Motion of the Earth and the Luminiferous Ether “ , American Journal of Science 34, S. 333 - 345). 23 Heute wissen wir, dass diese Strahlung eigentlich aus Elektronen besteht. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 29 jedoch, dass der Schirm in seinem verdunkelten Labor hell fluoreszierte. Ihm ging auf, dass er eine neuartige Strahlung entdeckt hatte, die zwar genau wie die Kathodenstrahlung Bariumplatincyanid fluoreszieren lässt, mit dieser aber unmöglich identisch sein konnte (Gribbin ebd., S. 493). Bereits ein Jahr später stellte der französische Physiker Antoine Henri Becquerel (1852 - 1908) fest, dass Uranium ebenfalls fotografische Platten schwärzen kann. Nachdem er auf einige in seinem verdunkelten Labor deponierte Präparate aus Uransalzen eine Fotoplatte gelegt hatte, bemerkte er am 1. März 1896, dass diese geschwärzt wurde, obwohl kein Licht auf sie fallen konnte (ebd., S. 497). Zunächst meinten er und andere Forscher, dass es sich dabei um eine der von Röntgen entdeckten ähnlichen Strahlung handle. Dennoch schien Becquerels Entdeckung schon damals viel weitreichendere Konsequenzen zu haben als jene von Röntgen. Da den Uransalzen nämlich keine Energie zugeführt wurde, sie aber Energie abstrahlten, schien dieses Phänomen dem damals bereits gut etablierten Energieerhaltungsgesetz zu widersprechen. 1898 dann entdeckten Marie Sklodowska-Curie (1867 - 1934) und Pierre Curie (1859 - 1906) mit Polonium und Radium weitere (nach der heute gebräuchlichen Terminologie) radioaktive Elemente. 24 Sie brauchten weitere fast fünf Jahre, um aus mehreren Tonnen Pechblende (UO 2 ) gerade ein Zehntelgramm Radium zu isolieren. Die genaue Untersuchung der Eigenschaften des neuen Elements durch Pierre Curie förderte erstaunliche Resultate zutage. Es stellte sich heraus, dass ein Gramm Radium genug Energie abstrahlte, um 1,3 Gramm Wasser in nur einer Stunde von 0°C zum 100°C zu erhitzen, und das immer wieder. Wie es schien, konnte Radium seine Energie endlos lang abstrahlen (Grant 2007, S. 498). Indessen hatte der in Neuseeland geborene britische Physiker Ernest Rutherford (1871 - 1937) bereits 1899 festgestellt, dass die neu entdeckten „ radioaktiven “ Elemente ihre Masse verlieren, und 1902 entwickelte er gemeinsam mit dem jungen englischen Chemiker Frederick Soddy (1877 - 1956) die „ Theorie des atomaren Zerfalls “ , der zufolge die Atome radioaktiver Elemente mit der Zeit zerfallen. Die Entdeckung des Ehepaars Curie - für die es 1903 gemeinsam mit Becquerel den Nobelpreis für Physik erhielt (er „ für die Entdeckung der spontanen Radioaktivität “ , sie „ für ihre gemeinsame Forschung an dem von Professor Henri Becquerel entdeckten Phänomen der Radioaktivität “ ) - stellte zusammen mit den Entdeckungen Rutherfords - für die er 1908 den Nobelpreis für Chemie erhielt - nicht nur (zumindest scheinbar) das Energieerhaltungsgesetz infrage, sondern auch das Dogma von der Unvergänglichkeit der Materie und der Unteilbarkeit der Atome, 25 etablierte das neue Forschungs- 24 Es war übrigens Marie Curie-Sklodowska, die den Begriff „ radioaktiv “ prägte (Gribbin, ebd., S. 497). 25 Man kann sich nur schwer den Schock vorstellen, den diese Entdeckung auslöste. Der griechische Name, den die kleinsten Elemente der Materie bereits von Demokrit erhalten hatten, heißt auf Deutsch „ unteilbar “ . Die Atome sind seit der Antike als die letzten, kleinsten, nicht weiter teilbaren Elemente der Materie verstanden worden. 30 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft feld der atomaren Physik und führte schließlich zur Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn (1879 - 1968) und Fritz Strassmann (1902 - 1980) im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin (am 17. Dezember 1938) und schlussendlich zur Herstellung von Kernwaffen und der Entwicklung der Kernenergietechnik. Ein anderes Rätsel für die Physik am Ende des 19. Jahrhunderts reicht bis in die Mitte des Jahrhunderts zurück. Bereits in den späten 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts (Gribbin ebd., S. 509) experimentierte Gustav Kirchhoff mit der Wärmestrahlung von Objekten, die von ihm 1860 als „ Schwarze Körper “ bezeichnet wurden, das sind idealisierte Körper, die die auftreffende elektromagnetische Strahlung jeglicher Wellenlänge vollständig absorbieren und die aufgenommene Energie als elektromagnetische Strahlung in einem charakteristischen, nur von ihrer Temperatur abhängigen Spektrum wieder aussenden. Die Menge der durch einen solchen Körper ausgestrahlten Energie wurde anhand der empirisch ermittelten Messergebnisse durch das sog. Rayleigh-Jeans-Gesetz beschrieben. Diesem zufolge verhält sich diese Menge umgekehrt proportional zur vierten Potenz der Wellenlänge der ausgestrahlten Strahlung, was zu der unsinnigen Konsequenz führte, dass der Schwarze Körper unendlich viel Energie im Ultrakurzwellenbereich ausstrahlen müsste (Camejo 2010, S. 34ff.), was man später als die „ Ultraviolett-Katastrophe “ bezeichnete). 26 Erst im Oktober 1900 ist es dem deutschen Physiker Max Planck gelungen, eine Formel zu entwickeln, die die empirischen Daten zur Schwarzkörperstrahlung außerordentlich gut wiedergab. Plancks Problem war aber, dass die theoretische Kurve, welche sich anhand seiner Formel ergab, keine theoretische Grundlage hatte, es war - so schien es zunächst - eine reine „ Kurvenanpassung “ . Er machte sich ans Werk und nach ein paar Wochen Arbeit - die die schwerste seines Lebens gewesen sei - zerstreute sich die Dunkelheit und es eröffneten sich ihm unvorstellbare Perspektiven (Ford 2004, S. 94) Planck bemerkte, dass sich die empirischen Ergebnisse erklären ließen, wenn man annahm, dass die Energie des Schwarzen Körpers nicht kontinuierlich, wie Wasser aus dem Hahn, sondern in kleinen Lumpen abgegeben wird, wie Pingpongbälle, die aus einer Maschine herauskatapultiert werden. Er nannte diese Lumpen „ Quanta “ (Ford ebd., S. 94). Seine Ergebnisse teilte er während der Sitzung der Berliner Akademie der Wissenschaften 14. Dezember 1900 mit (Gribbin ebd., S. 509f.), und dieses Datum wird oft als die Geburtsstunde der Quantenphysik betrachtet (Ford ebd., S. 94; Camejo ebd., S. 36) Festzuhalten ist indes, dass Planck zu jener Zeit noch über keine Erklärung im Sinne eines realen physikalischen Mechanismus für seine geniale Vermutung verfügte, und viele, einschließlich Planck selbst, hielten sie auch weiter für eine Art mathematischen Trick, der zu den 26 Der Begriff „ Ultraviolett-Katastrophe “ wurde erstmals 1911 von Paul Ehrenfest verwendet (Ehrenfest 1911. Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Rayleigh-Jeans-Gesetz#cite_note-Ehrenfest1911-3 (heruntergeladen am 6. 1. 2014). 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 31 empirischen Daten sehr gut passte. Erst fünf Jahre später postulierte Albert Einstein (1879 - 1955), dass die elektromagnetische Strahlung tatsächlich in kleinen „ Paketen “ , die er Photonen nannte, emittiert wird, 27 und wiederum erst 1913 lieferte der dänische Physiker Niels Bohr (1885 - 1962) eine realistische Erklärung dieses Phänomens in Form seines Atommodels, das für die um den Atomkern kreisenden Elektronen nur bestimmte zulässige Bahnen vorsah, was implizierte, dass bei einem „ Sprung “ eines Elektrons von einer Bahn auf die andere Energie in einem kleinen Paket abgeben bzw. absorbiert werden musste (Ford ebd., S. 105ff.). Heute wissen wir, dass diese Entdeckungen schließlich eine Revolution des Weltbildes bewirkt haben, die sich in der Entstehung der Quantenphysik manifestierte. Mit Tragweite und Bedeutung dieser Revolution werden wir uns später ausführlich auseinandersetzen müssen (vgl. unten „ Das Rätsel der Quantenmechanik “ ), an diesem Punkt möchte ich lediglich auf einen Aspekt des bisher Gesagten aufmerksam machen. Bedenkt man die bekannten Folgen jener physikalischen Entdeckungen und die die oben beschriebene zuversichtliche Erwartung am Ende des 19. Jahrhunderts, die Forschung strebe ihrem Ende entgegen, oder anders gesagt, die Wissenschaft ihrer Vollendung, so sieht man sich, und wie sich im weiteren Verlauf dieser Untersuchung zeigen wird, nicht zum letzten Mal, vor eine echte Rätselfrage gestellt: Wie ist es möglich, dass sich damals so viele führende Persönlichkeiten, so viele bedeutende aufgeklärte Wissenschaftler so grundlegend über den wahren Stand der Dinge täuschten? Mini-Abriss der Geschichte der modernen Wissenschaftstheorie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Im Gegensatz zur Geschichte der Wissenschaft ist die Geschichte der Reflexion über die richtige oder ideale Vorgehensweise der Wissenschaft, über ihre Methode bzw. ihre Methoden weniger bekannt. Darum scheint es mir angebracht, sie zumindest kurz zu beleuchten. Dabei werde ich jedoch die 27 In dem Artikel „ Über die Erzeugung und Verwandlung des Lichts betreffenden heuristischen Gesichtspunkt zum photoelektrischen Effekt “ , den er am 18. März bei den „ Annalen der Physik “ einreichte und der nur ein paar Monate später (Heft 6) in dieser Zeitschrift abgedruckt wurde (Band 322 (6), S. 132 - 148). Einstein schrieb dort: „ Es scheint mir nun in der Tat, dass die Beobachtungen über die „ schwarze Strahlung “ , Photolumineszenz, die Erzeugung von Kathodenstrahlen durch ultraviolettes Licht und andere die Erzeugung bez. Verwandlung des Lichtes betreffende Erscheinungsgruppen besser verständlich erscheinen unter der Annahme, dass die Energie des Lichtes diskontinuierlich im Raume verteilt sei. Nach der hier ins Auge zu fassenden Annahme ist bei Ausbreitung eines von einem Punkte ausgehenden Lichtstrahles die Energie nicht kontinuierlich auf große und größer werdende Raume verteilt, sondern es besteht dieselbe aus einer endlichen Zahl von in Raumpunkten lokalisierten Energiequanten, welche sich bewegen, ohne sich zu teilen und nur als Ganze absorbiert und erzeugt werden können “ (Einstein 1905, S. 133). 32 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft griechischen Wurzeln des wissenschaftstheoretischen Denkens (allen voran den Beitrag von Aristoteles) unberücksichtigt lassen, da die Philosophen der modernen Zeit (d. h. seit Francis Bacon), die über wissenschaftstheoretische Fragen nachgedacht haben, sich kaum auf sie bezogen. Francis Bacon Der erste moderne Denker, der sich verhältnismäßig ausführlich zur Methode der Wissenschaft äußerte, war bekanntlich Francis Bacon (1561 - 1626). Bereits der Titel seines wichtigsten theoretischen Werkes, Novum Organum, ist ein deutlicher Fingerzeig, dass die Modernen nicht gewillt waren, an Aristoteles anzuschließen und seine Verfahren fortzuführen. Organon ist nämlich der Titel der Standardsammlung von Aristoteles ’ sechs Schriften zur Logik und Forschungsmethode, von denen die vierte, die Analytika Posteriora, speziell mit Beweis, Definition und wissenschaftlichem Wissen befasst ist. Bacon äußert sich in seinem Novum Organum explizit kritisch über die aristotelische Forschungsmethode. Er bemängelt an ihr vor allem drei Punkte: 1) dass Aristoteles und seine Nachfolger die empirischen Daten (wie wir heute sagen würden) nur unsystematisch und unkritisch gesammelt haben; 2) dass sie vorschnell dazu neigten, ihre Befunde zu verallgemeinern; 3) dass sie zu sehr auf die Induktion durch Aufzählung vertrauten, d. h., zu bereitwillig davon ausgegangen sind, dass die Eigenschaften, die einigen Exemplaren einer Gattung zukommen, auch allen Exemplaren dieser Gattung (dieses Typus) zukommen werden (Losee 1993, S. 66). Anstelle der unsystematischen Sammlung empirischer Daten schlug Bacon ein systematisches Vorgehen vor; für jedes untersuchte Phänomen sollte man zuallererst drei „ Tafeln “ erstellen: die Tafel der bejahenden Fälle (Bacon selbst nennt sie „ die Tafel des Wesens und des Vorhandenseins “ (Aphorismus 11, Bacon 1990, Teilband 2, S. 301 - 307), die Tafel der verneinenden Fälle (bei Bacon: „ die Tafel der Abweichung oder des Fehlens im Nächsten “ (Aphorismus 12, ebd. S. 307 - 329) sowie die „ Tafel der Grade oder der Vergleichung “ (ebd., S. 331 - 349). Am Beispiel der Wärme veranschaulicht er das Gemeinte: zunächst solle man möglichst viele Fälle finden, in denen das untersuchte Phänomen vorkommt (z. B. die Sonnenstrahlen), dann solche, in denen es nicht anzutreffen ist (z. B. Mondstrahlen), und drittens solle man sich die Rechenschaft über die Fälle geben, in denen es in verschiedenen Graden auftritt. So haben etwa weder Metall noch Holz an sich Wärme, sie können jedoch erwärmt werden. Wenn man dies tut, zeigt sich, dass sich Metall schneller erwärmt als Holz. Diese Beobachtung gehört in die Tafel der Grade und Vergleiche. Erst wenn man möglichst umfangreiche Tafeln dieser Art erstellt hat, kann man Bacon zufolge zur Induktion übergehen (ebd., S. 349). Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Methode der Verneinung und Ausschließung. Dabei geht es um die Ausschließung der - in moderner Begrifflichkeit - bloß zufälligen Korrelationen: von solchen Fällen also, in denen irgendwelche Begleiterschei- 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 33 nungen vorhanden sind, die untersuchte Eigenschaft aber fehlt und der Effekt doch stattfindet (ebd., S. 351). Erst nachdem man alle solche Fälle (der zufälligen Korrelation) ausgeschlossen hat, kann man sich auf den Weg der „ echten Induktion “ begeben (ebd., S. 359). Diese dient letztendlich dazu, und das ist laut Bacon das eigentliche Ziel der Wissenschaft, die Gesetze (in Bacon ’ scher Begrifflichkeit „ die Form “ ) der Phänomene zu erkennen: Werk und Ziel der menschlichen Wissenschaft ist es aber, die Form einer gegebenen Eigenschaft, ihr wahres Wesen oder ihre wirkende Natur oder ihren Entstehungsgrund [. . .] zu entdecken. (Aphorismus 1, ebd., S. 279) Wobei man sich hüten sollte, die Bacon ’ sche Form mit den platonischen Formen oder den aristotelischen formalen Ursachen zu verwechseln. Unter der Form versteht Bacon eigentlich nichts anderes als das Gesetz, dem das Phänomen unterliegt: In der Natur nämlich existiert nichts wahrhaft außer den einzelnen Körpern mit ihrer besonderen reinen, gesetzmäßig hervorgebrachten Wirksamkeit; in den Wissenschaften ist eben dieses Gesetz, seine Erforschung, Auffindung und Erklärung die Grundlage des Wissens wie des Wirkens. Dieses Gesetz nun und seine Bestimmungen verstehe ich unter dem Namen Form, zumal diese Bezeichnung Geltung erlangt hat und gebräuchlich ist. (Aphorismus 2, ebd., S. 281) Obschon Bacons Beharren auf dem Sammeln aller möglichen Informationen in Bezug auf das untersuchte Phänomen unnötig pedantisch und letztendlich auch recht willkürlich erscheinen mag - die Idee der systematischen und breiten Erforschung der Phänomene entspricht dennoch durchaus unserem modernen Verständnis der Natur des wissenschaftlichen Unternehmens. Das von Bacon gesetzte oberste Ziel der Wissenschaft: die Entdeckung der Naturgesetze muss ebenfalls als durchaus modern eingestuft werden. Im Zusammenhang mit Bacon ist noch erwähnenswert, dass er im letzten, dem dritten Teil seines erst 1627, also bereits nach seinem Tode veröffentlichten Werks Nova Atlantis mit fast prophetischem Scharfsinn eine künftige kollektive Form der Wissenschaft, die in einer richtigen Forschungsinstitution (Salomon House) betrieben wird, beschreibt. René Descartes Es ist allgemein bekannt, dass René Descartes (1596 - 1650) den Versuch unternommen hat, von den allgemeinen, für ihn unerschütterlichen Wahrheiten spezielle Gesetze abzuleiten. So leitet er beispielsweise von den Propositionen, dass Gott die letzte Ursache der Bewegung im Kosmos sei und dass ein perfektes Wesen (wie Gott) das Universum auf einen Schlag schaffen würde, die Proposition ab, dass jede Bewegung ewig erhalten bleibe, dazu ferner seine Gesetze der Bewegung, dessen erstes besagt, dass ruhende Körper in Ruhe bleiben und Körper, die sich bewegen, in Bewegung, es sei denn, sie werden durch andere Körper beeinflusst; während das zweite 34 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft statuiert, dass die Trägheitsbewegung eine gradlinige Bewegung ist (Losee ebd., S. 78). Diese Deduktionen dürfen insofern als ungemein scharfsinnig gelten, als sie die Newton ’ schen Gesetze der Bewegung vorwegnahmen. Descartes Methode allerdings, Gesetze aus allgemeinen Prinzipien abzuleiten, wird heute allgemein als völlig ungeeignet für die Naturwissenschaft (im Gegensatz zur Geometrie etwa) angesehen werden. In Anbetracht von Descartes ’ entschiedener Neigung, deduktiv vorzugehen, ist nicht überraschend, dass die empirische Bestätigung der theoretischen Ableitungen für ihn eigentlich zweitrangig war. Er betrachtete das Experiment(ieren) tendenziell eher als eine Hilfe bei der Formulierung der Erklärungen, denn als einen Prüfstein für die Adäquatheit solcher Erklärungen (ebd., S. 81f.). Was Descartes hier anzubieten hatte, war nicht sehr ergiebig und sicher nicht genug, um ihn als einen wichtigen Wissenschaftstheoretiker auszuweisen. (Er war jedoch zweifelsohne ein viel erfolgreicher Wissenschaftler als Bacon, der selber so gut wie keine Forschungen unternahm. Descartes hingegen leistete auf verschiedenen Wissenschaftsfeldern Beträchtliches.) Von größerer Bedeutung mit Blick auf die Entwicklung der Methodologie der Wissenschaft sind indessen die vier praktischen Ratschläge bzw. Vorschriften in Bezug auf die effiziente Vorgehensweise beim Problemlösung, die Descartes in seiner 1637 veröffentlichten Schrift Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung formulierte: Die erste [Vorschrift] besagte, niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht evidentermaßen erkenne, dass sie wahr ist: d. h. Übereilung und Vorurteile sorgfältig zu vermeiden und über nichts zu urteilen, was sich meinem Denken nicht so klar und deutlich darstellte, dass ich keinen Anlass hätte, daran zu zweifeln. Die zweite, jedes Problem, das ich untersuchen würde, in so viele Teile zu teilen, wie es angeht und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen. Die dritte, in der gehörigen Ordnung zu denken, d. h. mit den einfachsten und am leichtesten zu durchschauenden Dingen zu beginnen, um so nach und nach, gleichsam über Stufen, bis zur Erkenntnis der zusammengesetztesten aufzusteigen, ja selbst in Dinge Ordnung zu bringen, die natürlicherweise nicht aufeinander folgen. Die letzte, überall so vollständige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten aufzustellen, dass ich versichert wäre, nichts zu vergessen. (Descartes 1997 a, S. 31ff.). Es ist unmittelbar evident, dass sich jeder moderne Wissenschaftler an diese bzw. entsprechende Regeln hält (zumindest im Großen und Ganzen). Insbesondere die zweite Regel hat sich als ungemein produktiv erwiesen: schließlich sind wir dank der Befolgung dieses Prinzips heute imstande nicht nur Computer, sondern auch Raumschiffe und sogar so monströs komplexe Forschungsinstrumente wie etwa den Teilchenbeschleuniger LHC in Genf zu bauen. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 35 Isaac Newton Auch Isaac Newton (1642 - 1727) formulierte bestimmte Regeln das wissenschaftliche Vorgehen betreffend, die er in der ersten Ausgabe seiner Principia Mathematica als „ Hypothesen “ und in der zweiten dann als „ rules of reasoning in philosophy “ bezeichnete (Losee ebd., S. 96f.). Sie lauteten: I. We are to admit no more causes of natural things than such as are both true and sufficient to explain their appearances. II. Therefore to the same natural effects we must, as far as possible, assign the same causes. III. The qualities of bodies, which admit neither intensification nor remission of degrees, and which are found to belong to all bodies within the reach of our experiments, are to be esteemed the universal qualities of all bodies whatsoever. IV. In experimental philosophy we are to look upon propositions inferred by general induction from phenomena as accurately or very nearly true, notwithstanding any contrary hypotheses that may be imagined, till such time as other phenomena occur, by which they may either be made more accurate, or liable to exceptions. (Ebd., S. 97) Wie Descartes „ Vorschriften “ werden auch Newtons „ Regeln “ in der heutigen wissenschaftlichen Praxis weitgehend befolgt. Die erste entspricht dem, was heute für gewöhnlich als „ Ockhams Rasiermesser “ bezeichnet wird, bei dem es sich um ein Prinzip handelt, dessen Formulierung dem mittelalterlichen englischen Franziskaner und Philosoph William von Ockham (um 1287 - 1347) zugeschrieben wird; 28 die zweite Regel geht mit der ersten Hand in Hand, die vierte wird gemeinhin heute in etwa so formuliert: „ Gib keine Theorie auf, bis es eine bessere gibt “ , und lediglich die dritte scheint eher eine metaphysische Annahme, als eine wissenschaftliche Vorgehensregel zu sein. Hinter der von Newton angewendeten Verfahrensweise lassen sich jedoch zwei unterschiedliche methodische Ansätze ausmachen. Einmal ein Verfahren, das er als „ Method of Analysis and Synthesis “ bezeichnete (Losee ebd., S. 85). Seine berühmten Prisma-Experimente sind dafür ein anschauliches Beispiel. Newton stellte bekanntlich fest, dass Licht, das durch ein Prisma geleitet wird, auf einem Hintergrund ein langgezogenes verschiedenfarbiges Spektrum erzeugt. Daraus schloss er per „ Analyse “ , wie es bei ihm selbst heißt - während wir heute sagen würden, per induktivem Sprung - , 28 Obschon das Prinzip, das er formulierte, eigentlich anders lautete, als das ihm zugeschriebene. Sein „ eigentliches “ Prinzip lautete: : „ For nothing ought to be posited without a reason given, unless it is self-evident (literally, known through itself) or known by experience or proved by the authority of Sacred Scripture “ (Spade 1999, S. 104). 36 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft dass alles Licht aus Strahlen von verschiedenen Farben und unterschiedlichen Brechungseigenschaften besteht. In einem zweiten Schritt (der „ Synthesis “ ) leitete er von diesen Befunden gewisse Schlüsse ab, z. B., dass ein Lichtstrahl einer bestimmten Farbe, leitet man ihn durch ein Prisma, um einen bestimmten Winkel gebeugt sein, allerdings nicht in ein weiteres Spektrum aufgespaltet wird, wobei Newton diese Deduktion dann experimentell bestätigten konnte (ebd., S. 85f.). In bestimmten Fällen lässt sich bei ihm jedoch eine andere, zweite Vorgehensweise ausmachen, die man als „ axiomatische Methode “ bezeichnen kann (ebd., S. 90) und die drei methodische Schritte umfasst; diese fanden, wie wir später sehen werden, noch in der Ideologie des logischen Empirismus ihr Echo. Der erste dieser Schritte besteht in der Formulierung eines Axiomensystems. Ein solches System wird Newton zufolge aus einer Gruppe von geordneten Axiomen, Definitionen und Theoremen gebildet. Unter Axiomen sind Aussagen (Propositionen) zu verstehen, die sich aus anderen Aussagen des Systems nicht ableiten lassen. Theoreme hingegen sind die deduktiven Ableitungen aus den Axiomen. Der zweite Schritt der „ axiomatischen Methode “ (ebd.) besteht in der Festlegung eines Verfahrens zur Korrelation des Axiomensystems mit der Beobachtung. Newton nämlich ging davon aus, dass (physikalische) Axiomensysteme mit der realen Welt verknüpft sind. Schließlich besteht der dritte Schritt seiner Methode in der empirischen Bestätigung der aus dem empirisch interpretierten Axiomensystem durch Deduktion abgeleiteten Folgen (ebd., S. 90 - 95). An dieser Stelle möchte ich noch ein mögliches Missverständnis beseitigen, was Newtons wissenschaftliche Methode angeht. Newton betonte bekanntlich, dass er keine Hypothesen erdichte ( „ I feign no hypotheses “ , ebd., S. 96). John Losee macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass Newton von den Begriffen „ Hypothese “ und „ Theorie “ einen anderen Gebrauch machte als wir heute. Unter einer „ Theorie “ verstand er Aussagen über invariante Beziehungen zwischen Termen, die sich auf manifeste Qualitäten beziehen. Eine „ Hypothese “ hingegen ist seinem Verständnis nach eine Aussage über Terme, die von „ okkulten Qualitäten “ handeln, von „ Dingen “ mithin, die sich nicht messen lassen (ebd., S. 95f.). Bereits am Beispiel seiner Experimente mit Lichtstrahlen haben wir gesehen, dass Newton durchaus Gebrauch von Hypothesen im modernen Sinne machte. Was er mit dem oben angeführten Satz meinte, war, dass er seine „ experimentelle Philosophie “ auf Aussagen über manifeste Qualitäten, auf „ Theorien “ , die sich von diesen Aussagen ableiten lassen, und auf Fragestellungen, die die künftige Forschung leiten können, beschränken, jegliche Bezugname auf „ okkulte “ Qualitäten aber ausschließen wollte. Ob ihm das im Falle seiner vielleicht wichtigsten Entdeckung, der der Gravitation, gelungen ist, sei dahingestellt. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 37 Hume und Kant Dass David Hume (1711 - 1776) und Immanuel Kant (1724 - 1804), wie zuvor John Locke (1632 - 1704) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716), die europäische Philosophie maßgeblich vorangebracht haben, bedarf keines Beweises. Die beiden englischen Philosophen gelten als die Vorreiter des Empirismus, der einen zentralen Pfeiler der modernen Wissenschaft bildet, während Leibniz ein praktizierender Wissenschaftler war, der Bedeutendes zu Mathematik (Infinitesimalrechnung) und Physik (kinetische und potenzielle Energie) als auch zu Geologie (er legte nahe, dass die Erde einen flüssigen Kern besitzt) und Paläontologie beigetragen hat. Sie haben jedoch nichts wirklich Neues zur Theorie der wissenschaftlichen Methodologie beigetragen. Der Skeptiker Hume aber hat Kant aus seinem „ dogmatischen Schlummer “ geweckt (Kant 2001, S. 9) mit seinen Behauptungen, dass die Ursachebeziehungen nicht in der Natur, sondern bloß im Geiste des Menschen begründet sind, dass sie in Wahrheit nichts anderes als bloß konstante, gedächtnismäßige Verbindungen zwischen gewissen Wahrnehmungen, letztendlich nichts anderes als eine Gewohnheit ( „ custom “ ) darstellen (Hume 1978, S. 132f., 139, 170). Infolge seines „ Erwachens “ und unter dem Eindruck der Erfolge newtonschen Physik entwickelte Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft eine Auffassung des Erkenntnisprozesses, die einerseits die Möglichkeit sicherer Erkenntnis gewährleisten sollte (synthetische Urteile a priori), andererseits aber den wachsenden Materialismus der Zeit in seine Schranken verweisen sollte ( „ Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen “ Kant 1995, B XXX). Grob gesprochen dachte Kant den Erkenntnisprozess folgendermaßen: Die Dinge, die sich in ihrem An-sich der menschlichen Erkenntnis entziehen, affizieren die Sinne in Form von Vorstellungen bzw. Eindrücken, wobei bereits auf dieser Stufe die zur natürlichen Ausstattung des Menschen gehörenden apriorischen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit wirken. Das sinnlich Gegebene wird durch die dem Menschen „ angeborenen “ apriorischen Kategorien ( „ reine Verstandesbegriffe “ : Einheit, Vielheit, Allheit, Realität, Negation, Limitation, Kausalität, Möglichkeit, Unmöglichkeit usw.) geformt, die gemäß den vier Urteilsfunktionen (Quantität, Qualität, Relation und Modalität) gebildet werden. Selbst diese führen jedoch noch nicht zu den in der Wissenschaft (wie auch im Alltagsleben) verwendeten Begriffe. Diese kommen aus dem Verstand, der sie durch seine produktive Einbildungskraft nach Regeln bildet. Anhand der Kategorien verknüpft der Verstand mit Hilfe der Urteilskraft (dem Vermögen unter Regeln zu subsumieren) die Sinneseindrücke gemäß den Schemata. Diese sind von der Einbildungskraft gelieferte Bilder (Vorstellungen). Erst auf diesem Wege kommen wir zu aposteriorischen Erkenntnisurteilen. Auf diese komplexe Weise gelingt Kant das „ Kunststück “ , die Möglichkeit, zu sicherem Wissen zu gelangen, die seiner Ansicht nach von der Newton ’ schen Mechanik beispielhaft verwirklicht wurde, 38 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft erklärbar zu machen, andererseits aber Raum zu lassen für die religiösen Überzeugungen, die sich auf die für die Erkenntnis unerreichbare Welt der Dinge an sich, der Noumena, beziehen. Dieses Gelingen geht - wie wir es bereits gesehen haben - ganz wesentlich auf seine „ kopernikanische Wende “ zurück: der Mensch meint die reale Welt zu erkennen, in Wirklichkeit aber erkennt er aber nur das, was er zuvor in diese Welt hineingelegt hat: „ Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt “ (Kant 1995, A 125). Wie wir bald sehen werden, spielten Kants Ansichten am Ende des 19. Jahrhunderts noch eine bedeutende Rolle in der Wissenschaftstheorie und haben zumindest indirekt zur Entstehung des logischen Empirismus beigetragen. John Herschel, William Whewell, John Stuart Mill John Herschel (1792 - 1871), der Sohn des berühmten britischen Astronomen und Entdecker des Uranus William Herschel, veröffentlichte 1830 seinen Preliminary Discourse on Natural Philosophy, der als die zu jener Zeit umfassendste und ausgewogenste wissenschaftstheoretische Arbeit gilt (Losee ebd., S. 121). Eine der wichtigsten seiner theoretischen Leistungen war die klare Differenzierung zwischen, wie wir heute sagen würden, dem Entdeckungs- und dem Begründungszusammenhang - ein Unterschied, der fast genau einhundert Jahre später von Popper und Reichenbach „ wiederentdeckt “ wurde. Es war aber bereits Herschel, der feststellte, dass es zur Beurteilung der Angemessenheit einer Theorie völlig irrelevant ist, nach welchem Verfahren sie aufgestellt und formuliert wurde. Herschel zufolge besteht der erste Schritt der wissenschaftlichen Methode darin, das komplexe Phänomen zu untergliedern und die Aufmerksamkeit dann auf die zu seiner Erklärung zentral erscheinenden Eigenschaften zu richten. Auf der Grundlage des so erarbeiteten Materials sucht der Wissenschaftler in der Folge die „ Naturgesetze “ zu formulieren, wobei Herschel unter solchen Gesetzen sowohl Korrelationen zwischen Eigenschaften als auch Ereignissequenzen verstand. Herschel unterschied zwei Wege, die von den Phänomenen zu Naturgesetzen führten. Der eine besteht in der Anwendung eines spezifischen induktiven Schemas, wie etwa im Falle von Boyles Gesetz, dessen Formel PV = k das Produkt der Verallgemeinerung der beobachteten Korrelation zwischen dem Volumen und Druck von Gasen ist. Der zweite Weg verläuft über die Formulierung der Hypothesen (Herschel führt in diesem Zusammenhang Huygens Vermutung wonach sich der außergewöhnliche Lichtstrahl im „ Medium “ des doppelt-lichtbrechenden Calcits ( „ Islandspat “ ) elliptisch ausbreite, an, da Huygens diese nicht einfach induktiv aus seinen Beobachtungen habe ableiten können. Die wissenschaftliche Arbeit ende jedoch nicht mit der Entdeckung der Naturgesetze, denn im Anschluss gehe 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 39 es darum, diese Gesetze in einer einheitlichen Theorie zusammenzufassen. Dazu bedarf es Herschel zufolge entweder weiterer induktiver Verallgemeinerungen oder der Bildung kühner Hypothesen, um zwischen bislang unzusammenhängenden Gesetzen Zusammenhänge begründen zu können. Es lässt sich mithin die These vertreten, dass Herschels Wissenschaftstheorie das Bacon ’ sche Ideal der Hierarchie wissenschaftlicher Verallgemeinerungen mit der Einsicht in die Rolle der kreativen Einbildungskraft bei der Konstruktion dieser Hierarchie verbindet. Mit Blick auf den Begründungszusammenhang betonte Herschel, dass die Übereinstimmung mit der Erfahrung bzw. der Beobachtung das wichtigste Kriterium der Akzeptanz der wissenschaftlichen Gesetze und Theorien darstelle. Er wies aber auch darauf hin, dass bestimmten Beobachtungen, die Gesetze oder Theorien bestätigen, größere Bedeutung beizumessen sei als anderen. Als besonders wertvoll erachtete er erstens die Bestätigung eines Gesetze durch extreme Fälle, wie z. B. die Beobachtung, dass eine Münze und eine Feder im Vakuum tatsächlich gleich schnell zur Erde fallen; zweitens die Beobachtung unerwarteter Resultate (er zitierte in diesem Zusammenhang die Entdeckung der elliptischen Bahnen der Binärsterne als eine unerwartete Bestätigung der newtonschen Mechanik); und drittens das „ experimentum crucis “ , bei dem die Voraussagen zweier verschiedener Theorien unmittelbar miteinander verglichen werden können, wie etwa das von Pascal vorgeschlagene Experiment, das bewies, dass die beobachteten Unterschiede beim Anstieg der Quecksilber-Säule in einer Röhre im Tal und auf der Spitze eines Berges unmöglich das Resultat des „ horror vacui “ der Natur, sondern nur des von Torricelli postulierten Drucks des „ Luftmeeres “ sein konnten. Herschel unterstrich auch die Wichtigkeit der Falsifizierung für den Fortgang der Wissenschaft. Er forderte den selbstlosen Wissenschaftler, der sozusagen die Rolle eines Gegners seiner eigenen Theorie übernimmt und aktiv sowohl nach der direkten Widerlegungen derselben strebt als auch danach, Ausnahmen ausfindig zu machen, die ihren Anwendungsbereich einschränken. Seiner Überzeugung nach hing der Wert einer Theorie an ihrer Fähigkeit, solchen Angriffen zu widerstehen (Losee ebd., S. 121 - 126). In dieser Hinsicht nahm Herschel eine der Hauptthesen von Poppers kritischem Realismus vorweg. William Whewell (1794 - 1866) war bestrebt, seine Wissenschaftstheorie auf das Fundament einer umfangreichen Gesamtschau der Wissenschaftsgeschichte zu stellen. Der Titel seines wissenschaftstheoretischen Hauptwerkes Novum Organon Renovatum (London, 1858) legt nahe, dass Whewell sich als Fortführer und Weiterdenker der von Bacon begründeten Tradition verstand. Im wissenschaftlichen Fortschritt als eine erfolgreiche Ehe der Fakten und Ideen (die zentrale Rolle der Ideen in seinem System kann man als eine wesentliche Ergänzung des Bacon ’ schen Modells der wissenschaftlichen Forschung einstufen). Unter „ Ideen “ verstand er rationale Prinzipien, die Fakten zusammenbinden, wobei er der Ansicht war, dass es nur einen 40 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft relativen Unterschied zwischen einer Tatsache und einer Theorie gebe. Er befürwortete Kants Ansicht, dass die Ideen (Kant würde sagen die „ reinen Verstandesbegriffe “ ) den Wahrnehmungen auferlegt, nicht von diesen abgeleitet werden. Entsprechend vertrat er die Auffassung, dass es eine „ reine “ , vorstellungsfreie Tatsache nicht gebe. Die Entwicklung einer Theorie vollzieht sich laut Whewell in einer Reihe aufeinanderfolgender Schritte. Im ersten, der „ Zerlegung der Tatsachen “ ( „ decomposition of facts “ ), geht es darum, komplexe Sachverhalte auf „ elementare “ Fakten zu reduzieren, die sich klar und deutlich erfassen lassen. Die Messung von Werten bestimmter veränderlicher Parameter könne dabei hilfreich sein. Im zweiten Schritt, der „ Explikation der Ideen “ ( „ explication of conceptions “ ), geht es um Begriffsklärung, um die Klärung bestimmter zentraler Diskursbegriffe (wie etwa „ Kraft “ , oder „ Gattung “ , oder „ Leben “ ). Den nächsten Schritt bezeichnet Whewell als „ Verbindung der Tatsachen “ ( „ colligation of facts “ ): der Forscher „ auferlegt “ einer Menge von Tatsachen eine übergreifende und verbindende Idee. Whewell spricht von der „ colligation “ als vom Zusammenbinden ( „ binding together “ ) der Tatsachen und bringt dies mit dem gewöhnlich in diesem Kontext gebrauchten Begriff der Induktion in Verbindung: „ Induction is a term applied to describe the process of a true Colligation of Facts by means of an exact and appropriate Conception “ (Whewell 2001, S. 70. Vgl. auch Losee ebd., S. 130). Zu unterstreichen ist, dass Whewell im Zusammenhang mit seiner Untersuchung der Geschichte der Wissenschaft zu dem Schluss kam, dass eine richtige Induktion ( „ colligation of facts “ ) einer Entdeckung entspricht und auf den kreativen Einfall eines Wissenschaftlers zurückgeht, nicht auf die Anwendung spezifischer Induktionsregeln. Den letzten Schritt der Theoriebildung markiert das „ Zusammentreffen der Induktionen “ ( „ consilience of inductions “ ), worunter man sich eine Synthese der Theorien der niederen Stufen vorzustellen hat. Oder um in dem Bild zu bleiben, das Whewell wählte: so, wie viele Nebenflüsse letztendlich in einen großen Fluss münden, so finden die zahlreichen Fakten, Gesetze und auch Theorien in einer übergeordneten Theorie zusammen. Seiner Ansicht nach lässt sich dieses Prinzip am Fortgang der Entwicklung von Kopernikus zu Newton anschaulich machen. Kopernikus ist durch eine Vielzahl an Fakten auf gewisse Gesetzmäßigkeiten aufmerksam geworden; auf deren Grundlage fand und formulierte Kepler seine drei Gesetze der Umlaufbahnen der Planeten; daran schloss wiederum Newton an und entwickelte seine Mechanik, aus der dann wieder die Keplerschen Gesetze abgeleitet bzw. deduziert werden konnten. Whewell Ansicht nach führe das „ Zusammentreffen der Induktionen “ immer zu einer wahren Theorie: „ No example can be pointed out, in the whole history of science, so far as I am aware, in which this Consilience of Inductions has given testimony in favour of an hypothesis afterwards discovered to be false “ (Wheewell ebd., S. 90. Vgl. auch Losee ebd., S. 133). John Stuart Mill (1806 - 1873) formulierte seine Wissenschaftstheorie in dem 1843 erschienenen Werk A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 41 worin er anerkennt, in Herschels und Whewells Dankesschuld zu stehen. Mill vertrat die Auffassung dass ein wichtiges, vielleicht sogar das wichtigste Ziel der wissenschaftlichen Forschung im Nachweis der ursächlichen Zusammenhänge zwischen den Phänomenen bestehe (Losee ebd., S. 161). Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass er in erster Linie für seine vier induktiven Methoden der Ursachenforschung bekannt ist: erstens die Methode der Übereinstimmung ( „ the method of agreement “ : wenn die verschiedenen Fälle, in denen das Phänomen auftritt, nur ein einziges Merkmal gemeinsam haben, so ist dieses Merkmal die Ursache des Phänomens bzw. enthält sie); zweitens die des Unterschieds ( „ the method of difference “ : wenn die (vielen) Fälle, in denen das Phänomen auftritt, sich von den anderen Fällen, in denen es nicht vorkommt, nur in einem einzigen Merkmal unterscheiden, ist dieses Merkmal die Ursache des Phänomens bzw. enthält sie); drittens die Restmethode ( „ the method of residues “ : wenn von den Vorbedingungen bekannt ist, dass sie Ursachen bestimmter beobachteter Phänomene sind, sich unter den Vorbedingungen aber noch eine weitere, und unter den beobachteten Phänomenen noch ein weiteres befinden, so ist diese vorausliegende Bedingung die Ursache dieses Phänomens bzw. enthält sie); und schließlich viertens die Methode der gleichzeitigen Abwandlung ( „ the method of concomitant variations “ : ändert sich das eine Phänomen nur dann, wenn sich ein anderes ändert, besteht zwischen den beiden eine Kausalbeziehung bzw. sind beide kausal auf einen dritten Faktor bezogen). 29 Mill räumte jedoch ein, dass seine vier Methoden im Hinblick auf die Multikausalität und insbesondere die Situation, die er als „ Zusammenwirken von Ursachen “ ( „ composition of causes “ ) bezeichnete, wie etwa den Fall einer Bewegung, in der zwei verschiedene Kräfte auf einen Körper einwirken, wobei die beiden in einem bestimmten Winkelverhältnis zueinander stehen (das Ergebnis einer solchen Einwirkung ist bekanntlich, dass sich der Körper entlang der Diagonale des Parallelogramms bewegt, dessen Seiten die Vektoren der beiden wirkenden Kräfte bilden), unzureichend sind, um die Ursache zu bestimmen. Für solche Fälle empfahl er den Rückgriff auf eine dreistufige „ deduktive Methode “ , bestehend aus 1) der Formulierung einer Anzahl der Gesetze; 2) Deduktion der Voraussagen über die Effekte bezüglich der Wirkungen, die sich aus der bestimmten Kombination der Anwendung dieser Gesetzmäßigkeiten ergeben; 3) Verifikation dieser Voraussagen. Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, dass Mill hohe Anforderungen stellte, was die Verifikation von Hypothesen betraf. Er verlangte nicht nur, dass die deduktiven Schlüsse aus der überprüften Hypothese mit den tatsächlichen Beobachtungen übereinstimmen, sondern auch, dass keine andere Hypothese imstande sei, die beobachteten Tatsachen zu implizieren bzw. erklären. Die vollständige Verifikation einer Hypothese verlange Mill zufolge mithin, dass alle alternativen Hypothesen ausgeschlossen werden 29 Formulierung der Methoden in Anlehnung an Wimmer 2004, S. 892. 42 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft (Losee ebd., S. 160) - eine Bedingung, die, wie wir spätestens bei der Schilderung des Übergangs von der newtonschen Mechanik zu Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie gelernt haben, strenggenommen nie erfüllt werden kann (ebd., S. 154 - 164). Ernst Mach Ernst Mach (1838 - 1916), der von der Ausbildung her Mathematiker und Physiker war, und diese Fächer zunächst an der Universität Graz, später an der (deutschen) Karls-Universität in Prag lehrte, interessierte sich lebhaft für die Wissenschaftstheorie und verfasste auf diesem Gebiet zahlreiche Schriften, die ihm schließlich im Jahre 1895 die Berufung an den neu- und eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für „ Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften “ an der Wiener Universität einbrachte. Mach vertrat ursprünglich eine neukantianische Position, nach der jede wissenschaftliche Theorie in ihren fundamentalen Prinzipien ein apriorisches Element, rein formellen Charakters, enthalte. Später hat er diese Position aufgegeben und behauptete, dass in der Konstitution unseres Wissens jegliche apriorischen Elemente vermieden werden müssen. Machs späteres Denken die wissenschaftliche Methode betreffend muss in eine Linie mit der von Auguste Comte inaugurierten Tradition des Positivismus gestellt werden, also jener Denkströmung, die fordert, dass das Wissen unter völligem Verzicht auf metaphysische, transzendente Hypothesen und Entitäten auf die Interpretation der experimentellen ( „ positiven “ ) Befunde einzuschränken sei. Die Mach ’ sche Variante der positivistischen Doktrin bezeichnet man als „ phänomenalistischen Positivismus “ , da Mach das gesamte Wissen auf das begrenzen wollte, was sich von den Sinneswahrnehmungen unmittelbar ableiten lässt. Er bestand darauf, dass die Quelle aller menschlichen Erkenntnis ausschließlich das „ Gegebene “ sein solle; ihm zufolge liefere die naive Erfahrung der natürlichen Lebenswelt nichts anderes als Komplexe von Sinneseindrücken (in seiner Terminologie: „ Empfindungen “ ). Diese Komplexe sind jedoch auf der „ Körperwelt “ -Seite (Gegenstände), wie auf der „ Ich “ -Seite (Persönlichkeit) der Erfahrung nur bedingt beständig. Die Analyse der Veränderungen der Komplexe führte auf irreduzible, in allen Bereichen gleichartige „ Elemente “ . Innerhalb der Gesamtheit aller Elemente sei eine Abtrennung der Körper und des Ichs voneinander nicht möglich (Mach 2008, S. 21). Eine interessante Folge dieser Auffassung besteht darin, dass für Mach der ins Wasser getauchte Stab zwar geknickt ist, zugleich aber haptisch betrachtet gerade! Ähnlich wie vor ihm George Berkeley lehnte Mach es ab, den als „ Außenwelt “ bezeichneten Empfindungskomplexen eine privilegierte, vom menschlichen Erkenntnisapparat unabhängige Stellung zuzuschreiben. Die Wissenschaft solle sich folglich auf die Untersuchung der Abhängigkeit zwischen Elementen beschränken, sie sei nichts anderes als eine begriffliche Reflexion über die Inhalte unseres Bewusstseins, die in erster 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 43 Linie den Prinzipien der Denkökonomie verpflichtet sein müsse. Letztlich diene sie dem Menschen als Unterstützung bei der Bewältigung seiner zentralen Aufgabe, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden. In seinem bereits erwähnten, ursprünglich 1886 veröffentlichten Werk Die Analyse der Empfindungen unternahm Mach einen Versuch, die Wissenschaft als eine vereinfachte Beschreibung der Wahrnehmungen aufzufassen. Seine Position war unvereinbar mit der Auffassung, dass Atome, Moleküle usw. real und vom menschlichen Geist unabhängig existierende Entitäten sind. Seinen Prinzipien treu und trotz des wachsenden Drucks vonseiten der wissenschaftlichen Gemeinschaft stellte er, wie man weiß, 1897 nach dem Vortrag des berühmten Physikers und bekannten Verfechters der atomistischen Vorstellung, Ludwig Boltzmann (1844 - 1906) an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien trotzig fest: „ Ich glaube nicht, dass Atome existieren! “ (Yourgrau 2005, S. 48). 44 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus 2 a Das Aufkommen Von dem kurzen Überblick über die Hauptlinien der wichtigsten Auffassungen des wissenschaftlichen Unternehmens, der ja mit der Mach ’ schen Position endete, können wir jetzt nahtlos zur Schilderung jener Wissenschaftstheorie übergehen, die in der dritten Dekade des 20. Jahrhunderts aufgekommen ist und die die Wissenschaftstheorie weltweit mehr als drei Jahrzehnte lang vollkommen dominierte (Suppe 1977, S. 617) - die Rede ist vom logischen Positivismus (auch als Neupositivismus bekannt) bzw. vom logischen Empirismus. 30 Um die Entstehungsdynamik dieser Auffassung - man ist aus heutiger Perspektive sogar geneigt zu sagen: dieser Ideologie der Wissenschaft - verstehen zu können, muss man noch ein paar Schritte zurückgehen und gewisse Entwicklungen innerhalb der deutschsprachigen Wissenschaft und der deutschsprachigen Wissenschaftstheorie genauer unter die Lupe nehmen. Zwischen 1850 und 1880 war die deutsche Wissenschaft vom mechanischen Materialismus dominiert (ebd., S. 7). 31 Das Weltbild dieser Position wurde so von einem ihrer Hauptvertreter, Ludwig Büchner, folgendermaßen charakterisiert: Stück für Stück hat die Aufklärung suchende Wissenschaft dem uralten Kinderglauben der Völker seine Positionen abgewonnen, hat den Donner und Blitz und die Verfinsterung der Gestirne den Händen der Götter entwunden und die gewaltigen Kräfte ehemaliger Titanen unter den befehlenden Finger des Menschen geschmiedet. Was unerklärlich, was wunderbar, was durch eine übernatürliche Macht bedingt schien, wie bald und leicht stellte es die Leuchte der Forschung als den Effect bisher unbekannter oder unvollkommen gewürdigter Naturkräfte dar, wie schnell zerrann unter den Händen der Wissenschaft die Macht der Geister und Götter! Der Aberglaube musste unter den Culturnationen fallen und das Wissen an seine Stelle treten. Mit dem vollkommensten Rechte können wir heute sagen: Es gibt nichts Wunderbares; alles, was geschieht, was geschehen ist und was geschehen wird, geschieht und geschah und wird geschehen auf eine natürliche Weise, d. h. auf eine Weise, die nur bedingt ist durch das zufällige oder nothwendige Zusammenwirken oder Begegnen der von Ewigkeit her vorhandenen Stoffe und der mit ihnen verbundenen Naturkräfte. (Büchner 1888, S. 32) 30 Die nachfolgende Schilderung basiert hauptsächlich auf Suppe 1977, S. 6 - 16. 31 Wir werden diese Entwicklung und ihre Ursprünge später genauer betrachten (vgl. das Kapitel „ Einzug des Materialismus in die Wissenschaft “ ). Um 1870 aber geriet diese Sicht aufgrund gewisser Entwicklungen in Physiologie und Psychologie zunehmend infrage. Bereits 1826 hatte Johannes Peter Müller das sog. Gesetz der spezifischen Sinnesenergien formuliert, dem zufolge nicht der äußere Reiz die Qualität der Wahrnehmung bestimmt, sondern nur die Eigenart des gereizten Sinnesorgans. Unabhängig davon, wodurch beispielsweise das Auge stimuliert wird: ob durch normale Sehreize oder durch eine mechanische Einwirkung, die evozierte Reaktion wird einen visuellen Charakter haben. Auf diese Arbeit gründete später Hermann von Helmholtz, der ein Schüler von Müller war, seine Forschungen im Bereich der Physiologie des Hörens und Sehens. Seine auf der Grundlage der zu Beginn des 19. Jahrhunderts unternommenen Vorarbeiten des englischen Universalgelehrten Thomas Young entwickelte Dreifarbentheorie des Farbsehens deutete darauf hin, dass das wahrgenommene Bild eher eine Konstruktion des Gehirns und keine objektive Wahrnehmung sei. Diese Entwicklung öffnete wiederum das Tor für die von Kant lange schon vertretene Einsicht, dass eine adäquate Darstellung der Erkenntnisgewinnung die Aktivität des denkenden Subjektes berücksichtigen müsse, was die mechanistisch materialistische Doktrin, die das wissenschaftliche Wissen als ein unmittelbares Produkt der Welt betrachtete, nicht anerkennen konnte oder wollte. Auf dem Hintergrund dieser Entwicklungen wurde der mechanistische Materialismus allmählich durch eine neukantianische Wissenschaftstheorie ersetzt, die ursprünglich von Helmholtz selbst, Friedrich Albert Lange, Otto Liebmann und Hermann Cohen entwickelt worden war und später von Ernst Cassirer revidiert wurde. So war beispielsweise der berühmt gewordene „ Ignorabimus “ -Vortrag, den einer der führenden deutschen Wissenschaftler, der Physiologe Du Bois-Reymond, am 14. August 1872 im Rahmen der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig hielt (Über die Grenzen des Naturerkennens, Nachdruck in du Bois-Reymond 1974, S. 54 - 77) und in dem er von den sieben für die Wissenschaft unlösbaren Rätseln sprach (auch auf diesen Vortrag werden wir später ausführlicher eingehen), Kant (und seiner Philosophie) verpflichtet. Dieser Vortrag war es übrigens, auf den Haeckel einige Jahrzehnte später mit seinen Welträtseln reagierte. Hermann Cohens Interessen umfassten sowohl die Philosophie Kants wie auch Mathematik und Logik. Aus dieser Kombination entwickelte Cohen eine Auffassung von der Natur des wissenschaftlichen Wissens, nach der dieses Wissen nicht eine Art passiver Spiegelung der Außenwelt im Menschengeist ist, sondern vielmehr eine Wiedergabe der logischen Verhältnisse, die in der sinnlichen Erfahrung nicht direkt gegeben sind. Die Wahrnehmungen haben Formen oder Strukturen, die sie offenbaren, wenn man ihnen unter die Oberfläche dringt. Diese Strukturen aber sind die der Phänomene, nicht die der (im kantischen Sinne) Noumena oder Dinge-an-sich. Sie haben eine Art platonischer Absolutheit, sie bilden eine ideelle Weltstruktur, die sich in den Phänomenen offenbart. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die 46 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Struktur dieser ideellen Welt zu entdecken. Wissenschaftliche Gesetze werden diese Struktur beschreiben. Da die ideellen Strukturen absolut sind, ist auch das wissenschaftliche Wissen absolut. Diese Philosophie wurde in Deutschland bis 1900 dominant. Es ist unmittelbar einsichtig, dass eine solche Auffassung der Aufgabe und des Charakters der Wissenschaft mit den neuen Entwicklungen innerhalb der Physik kollidierte. Die oben erwähnten Entdeckungen von Röntgen, Becquerel und des Ehepaars Curie, die auf völlig neue und völlig unerwartete Eigenschaften der Materie hindeuteten, waren mit einer neukantianischen Erkenntnistheorie grundsätzlich ebenso wenig vereinbar wie die bahnbrechenden Arbeiten Einsteins zur Relativitätstheorie: Wenn die „ unerschütterlichen (apriorischen) Wahrheiten “ erschüttert werden können, dann können sie unmöglich ein Produkt der menschlichen Natur oder genauer der dem Menschen angeborenen kognitiven Ausstattung sein. Aber auch die dritte (neben der materialistischen und der neukantianischen) damals im deutschsprachigen Raum vertretene Auffassung der Wissenschaft, nämlich der Positivismus machscher Prägung, war mit der neuen Physik nicht vereinbar. Wir haben gesehen, dass Mach die wissenschaftliche Erkenntnis ausschließlich auf dem Fundament der den Sinnen unmittelbar zugänglichen Daten errichten wollte und sich radikal weigerte, Atomen Existenz zuzubilligen; die neuere Physik jedoch ließ keinen Zweifel daran, dass sich hinter der Oberfläche der Sinneswahrnehmung eine Wirklichkeit verbirgt, die den Sinnen unzugänglich ist und die dennoch für das Verstehen der sinnlich wahrnehmbaren Welt zentrale Bedeutung besitzt. Mit der wachsenden Akzeptanz der neuen Physik entwickelte sich eine philosophische Krise: Wenn diese Physik mit den geltenden Vorstellungen bezüglich der Natur der Wissenschaft nicht vereinbar war, wie müsste man diese Wissenschaft dann verstehen? An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass die neueren physikalischen Entdeckungen für die Wissenschaftstheorie deshalb von zentraler Bedeutung waren, weil die Physik damals noch stärker als heute als die paradigmatische Wissenschaft galt. Obwohl auch andere Wissenschaften, insbesondere die Chemie und nach Darwin auch die Biologie große Fortschritte zu verzeichnen hatten, standen sie noch immer im Schatten der Physik. Ein Weg, die physikalischen Entdeckungen in die Wissenschaftstheorie einzugliedern, bestand darin, die neukantianische Auffassung der Wissenschaft entsprechend zu modifizieren. Ein Versuch in dieser Richtung wurde von Ernst Casirer unternommen. Ein anderer und wie sich später herausstellen sollte philosophisch viel einflussreicherer Weg zu diesem Ziel führte über die Modifikation des Mach ’ schen Neupositivismus. Dieser Weg wurde in Berlin unter dem Einfluss von Hans Reichenbach und insbesondere in Wien unter dem Einfluss von Moritz Schlick (Wiener Kreis, s. unten) beschritten. Bevor wir uns mit den Einzelheiten dieses Weges vertraut machen, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass sich seine Entstehung auf dem Hintergrund wichtiger Entwicklungen in Mathematik, Geometrie und Logik voll- 2 a Das Aufkommen 47 zogen hat. Bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts hatten die Mathematiker János Bolyai, Nikolai Lobatschewski und Carl Friedrich Gauss festgestellt, dass die vertraute euklidische Geometrie des Raumes nicht zwingend ist, und daraufhin mit der Entwicklung nichteuklidischer Geometrien begonnen. Der Gauss ’ -Schüler Bernhard Riemann stellte 1854 die Differentialgeometrie der gekrümmten Räume vor, die später von Tullio Levi-Civita, Gregorio Riccit- Curbastro und Elwin Bruno Christoffel weiterentwickelt wurde und im 20. Jahrhundert Albert Einstein als Grundlage für die Ausarbeitung der allgemeinen Relativitätstheorie diente. 1879 ist Gottlob Freges revolutionäre Begriffsschrift erschienen (Frege 1977), die eine neue Ära in der Geschichte der Logik einläutete. In ihr entwickelte Frege eine neue Logik in axiomatischer Form, die bereits den Kernbestand der modernen formalen Logik umfasste: eine Prädikatenlogik zweiter Stufe mit Identitätsbegriff. Sein Werk gilt neben den Arbeiten von George Boole, Ernst Schröder, Wilhelm Ackermann und David Hilbert als wichtigster Beitrag zur „ Erfüllung des Bedürfnisses der Mathematik nach exakter Grundlegung und strenger axiomatischer Behandlung “ . 32 Frege gilt auch als der Begründer eines mathematisch-philosophischen Programms, des Logizismus, dem zufolge sich die Sätze der Arithmetik auf logische Wahrheiten zurückführen lassen. Frege skizzierte dieses Programm in seinem Werk Grundlagen der Arithmetik und führte es später in den Grundgesetzen der Arithmetik streng formal durch. Wie er jedoch 1902 aus einem berühmt gewordenen Brief Bertrand Russells an ihn erfahren musste, enthielt sein System einen Widerspruch (die sogenannte Russellsche Antinomie). Auf der anderen Seite legte David Hilbert gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Grundlagen der algebraischen Geometrie fest. Die Entwicklung der nichteuklidischen Geometrien führte zusammen mit den Arbeiten von Frege (und anderen) und denen von Hilbert an der Axiomatisierung der Mathematik bzw. der Rückführung der Geometrie auf die Algebra zum Kollaps des Glaubens an die kantischen Prinzipien a priori: es stellte sich gegen die Behauptungen von Kant heraus, dass weder unsere Auffassung des Raumes auf die Konstitution des Menschen zurückgehe, noch die mathematischen Wahrheiten synthetische a priori seien, sondern dass diese sich aus logischen Prinzipien ableiten ließen (Niiniluoto 2007, S. 17). Das Programm der Rückführung der Mathematik auf logische Prinzipien, das Frege inauguriert hatte, wurde von Bertrand Russell und Alfred N. Whitehead fortgesetzt und kulminierte in den Principia Mathematica (1910 - 1913), eines der bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts, das die gesamte Mathematik auf einen begrenzten Satz von Axiomen und Schlussregeln zurückführt. Dieses Werk machte überall einen großen Eindruck. Auch die späteren Begründer des logischen Positivismus waren tief von ihm beeindruckt. Es leuchtet ein, dass sie aufgrund dieses Werkes zur Überzeugung gelangten, dass der Kern eines wissenschaftlichen Unternehmens in der Entwicklung eines axiomatischen 32 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Gottlob_Frege (heruntergeladen am 1. 2. 2014). 48 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Systems liegen sollte, das einerseits die Sicherheit von dessen Fundamenten garantiere, andererseits neue Entdeckungen ermögliche. 1911 traf Russell den aus Wien stammenden, siebzehn Jahre jüngeren Philosophen Ludwig Wittgenstein, der ein Studium in Cambridge aufgenommen hatte. Die beiden wurden Freunde. Mit Russells Unterstützung konnte Wittgensteins erstes Hauptwerk, der Tractatus logico-philosophicus, den dieser bereits 1918 vollendet hatte, in den Annalen der Naturphilosophie, erscheinen. In diesem Werk, das Wittgenstein 1929 am Trinity College der Universität Cambridge als Doktorarbeit einreichte, kann man eine Art Erweiterung des Russell-Whiteheadschen Programms in den Bereich der Sprache sehen. Während diese zeigten, dass sich das Gesamtbau der Mathematik von einigen einfachen Grundprinzipien ableiten lässt, versuchte Wittgenstein festzulegen, was sich überhaupt sagen und wie sich das Sagbare aus einfachen Bausteinen ableiten lasse. Im Vorwort stellt er fest, dass sein Buch dem Ausdruck des Denkens, der Sprache, Grenzen ziehen will: „ Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen “ (Wittgenstein 1984, S. 9, Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., S. 33: „ Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles, was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen; wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen “ und S. 85: „ Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen “ ). 33 Der Wiener Kreis 34 Es ist allgemein bekannt, dass der logische Empirismus (auch logischer Positivismus oder Neupositivismus genannt) aus den Debatten des sog. Wiener Kreises hervorging. Einen Vorläufer des eigentlichen Wiener Kreises bildete eine lose Diskussionsgruppe, die sich ab ca. 1907 in einem der zahlreichen Wiener Kaffees traf und die ein breites Spektrum an Denkern aufzuweisen hatte, das von katholischen Philosophen bis zu romantischen Mystikern reichte. Zu ihren prominenten Mitgliedern zählten u. a. der später einflussreiche österreichische Philosoph, Physiker und Mathematiker Philipp Frank (1884 - 1966), der später ebenso einflussreiche österreichische Nationalökonom und Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath (1882 - 1945), der bekannte österreichische Mathematiker und Philosoph Hans Hahn (1879 - 1934) und der österreichischer Mathematiker Richard von Mises (1883 - 1953). Was diese (damals) jungen Menschen genau wie die anderen Mitglieder des Diskussionsklubs vereinte, war ihre Bewunderung für die Philosophie Ernst Machs und damit verbunden ihre Überzeugung von der Unwissenschaftlichkeit und also Wertlosigkeit der klassischen Philosophie 33 Ich werde Wittgensteins Tractatus in dem ihm gewidmeten Unterkapitel ausführlich behandeln. 34 Die nachfolgende Schilderung basiert hauptsächlich auf Stadler 2001. 2 a Das Aufkommen 49 und insbesondere der Metaphysik. Man diskutierte die Ansichten von Mach, aber auch Brentano, Husserl, Schröder, Helmholtz, Hertz und Freud, Einsteins Relativitätstheorie und ebenso Probleme der symbolischen Logik, und man hoffte, diese in irgendeiner Form mit dem Empirismus verbinden zu können. (Stadler 2001, S. 143). Frank schrieb über die intellektuelle Ausrichtung dieses Kreises später Folgendes: Our group fully approved Mach ’ s antimetaphysical tendencies, and we joined gladly in his radical empiricism as a starting point; but we felt very strongly about the primary role of mathematics and logic in the structure of science [. . .]. We admitted that the gap between the description of facts and the general principle of science was not fully bridged by Mach, but we could not agree with Kant. (Philipp Frank zitiert nach Stadler ebd., S. 163) Wie andere Mitglieder des Protokreises war auch Frank (neben Mach) stark vom Konventionalismus Henri Poincarés beeinflusst, nach dem die Gesetze der Naturwissenschaft nichts weiter als arbiträre und konventionelle Modelle sind (ebd., S. 163). Verhältnismäßig bald entwickelte sich innerhalb des Protokreises das Bestreben nach Vereinheitlichung der Wissenschaft durch Eliminierung der überempirischen Elemente. Es schien, im Einklang mit Mach und Poincaré, dass sich die Aufgabe da erschöpfen würde, eine passende Sprache für die vereinheitlichte Wissenschaft zu wählen, welche die traditionelle Spaltung zwischen Materialismus und Idealismus überbrücken würde. Das Ziel dieser Bestrebungen wurde schließlich als „ Vereinheitlichung der Wissenschaft durch die Eliminierung der Metaphysik “ formuliert (ebd., S. 165). Das heißt also, dass die Kernelemente der späteren Doktrin des Wiener Kreises von den Mitgliedern des Protokreises bereits debattiert wurden. Der Ausbruch des ersten Weltkrieges unterbrach diese Entwicklung. Mit Hans Hahn, der 1921 nach Wien zurückkehrte, um die Professur für Mathematik an der Universität Wien zu übernehmen, kehrte jedoch auch das Bestreben, eine wissenschaftliche Philosophie zu entwickeln, nach Wien zurück. 1922 wurde der bereits damals weithin anerkannte deutsche Philosoph (und Physiker) Moritz Schlick, Autor der 1918 erschienen und vielgepriesen Allgemeinen Erkenntnislehre, 35 als Nachfolger von Ernst Mach auf den Lehrstuhl für Naturphilosophie an die Universität Wien berufen, was wiederum eine weitere wichtige personelle Voraussetzung für die Wiederaufnahme der Arbeit des Kreises bildete. Schlick war es nämlich, der im Wintersemester 1924/ 25 die regelmäßigen Treffen des Kreises (jeweils am Donnerstagabend) initiierte (ebd., S. 178). 1926 schloss sich dem Kreis der später berühmt gewordene deutsche Philosoph und Logiker Rudolf Carnap (1891 - 1970) an, und etwa um die gleiche Zeit entwickelten sich recht intensive Kontakte zwischen dem Wiener Kreis und Ludwig Wittgenstein, der mehrmals an den Debatten des Kreises teilnahm, obschon er ihm nie 35 Ich behandle dieses Werk ausführlich im nächsten Unterkapitel. 50 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus beitrat. Es vergingen aber noch einige Jahre, bis sich die Mitglieder des zunächst immer noch privaten und informellen Diskussionskreises an die Öffentlichkeit wagten. Ihr erster öffentlicher Auftritt fand während der 1929 in Prag abgehaltenen First Conference on the Epistemology of the Exact Sciences statt. Im Rahmen dieser Tagung wurde auch das Manifest des Kreises „ Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis “ veröffentlicht. (ebd., S. 178). Es sollte Moritz Schlick, dem Vorsitzenden des „ Vereins Ernst Mach “ (wie sich der „ Wiener Kreis “ damals offiziell nannte), bei seiner Rückkehr von seiner Gastprofessur in Stanford nach Wien im Oktober 1929 als eine Art Festschrift überreicht werden. Im Folgenden werde ich die Inhalte dieser wichtigen Schrift kurz zusammenfassen und dabei weitestgehend auf Kommentare verzichten. 36 Das Manifest 37 Die Autoren der Schrift 38 erklären in der Einführung, dass die Berufung von Moritz Schlick 1929 nach Bonn einen gewissen Wendepunkt in der Geschichte des Kreises bildete, insofern als er diesem „ verlockenden Ruf “ , wie es heißt, nicht gefolgt ist. Wurde ihm und „ uns “ doch bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal bewusst, schreiben die Autoren, dass es so etwas wie einen „ Wiener Kreis “ der wissenschaftlichen Weltauffassung gebe. Bereits der Titel der Schrift: „ Der Wiener Kreis der wissenschaftlichen Weltauffassung “ macht deutlich, dass es den Menschen, die in dem Kreis vereint waren, um mehr ging als um eine bloße Erkenntnistheorie: es ging ihnen um eine Einstellung nicht nur zur Wissenschaft bzw. Philosophie, sondern zur Welt, zum Leben überhaupt, eben um eine „ wissenschaftliche Weltauffassung “ . Bereits am Anfang der Schrift kommt diese Ausrichtung deutlich zum Ausdruck. Die Autoren konstatieren eine „ merkwürdige Übereinstimmung “ der Mitglieder des Kreises nicht nur in Bezug auf die Fragen der Philosophie oder Wissenschaft, sondern auch mit Blick auf die Lebensfragen (obwohl diese nicht im Vordergrund standen). Diese Übereinstimmung aber scheine den Autoren auch im Einklang mit den umfassenderen Entwicklungen in der Gesellschaft zu stehen. So zeigten zum Beispiel die Bestrebungen zur Neugestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, zur Vereinigung der Menschheit, zur Erneuerung der Schule und der Erziehung einen inneren 36 Text gemäß der Fassung in Stöltzner und Uebel (Hrsg.), 2006, S. 3 - 29. 37 Da diese Schrift verhältnismäßig kurz ist, werde ich im Folgenden auf die Seitenangaben zu jeder einzelnen Feststellung verzichten und sie lediglich auf die direkten Zitate aus dem „ Manifest “ beschränken. 38 Die Schrift wurde als eine kollektive Leistung des „ Vereins Ernst Mach “ präsentiert: vor dem Titel gibt es keine Angaben bezüglich der Autorschaft, nach dem Titel folgt lediglich der Vermerk: „ Herausgegeben vom Verein Ernst Mach “ und die Widmung: „ Moritz Schlick gewidmet “ . Nach dem „ Geleitwort “ werden jedoch drei Personen als Repräsentanten des Vereins namentlich aufgeführt: Rudolf Carnap, Hans Hahn und Otto Neurath. Im Weiteren werde ich diese Publikation als „ Manifest 1929 “ zitieren. 2 a Das Aufkommen 51 Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Weltauffassung. Diese Bestrebungen würden auch von den Mitgliedern des Kreises bejaht, mit Sympathie betrachtet, von einigen sogar auch tatkräftig gefördert. Im Kern jedoch ist die Schrift eindeutig eine Polemik gegen die (in den Augen der Verfasser) zunehmenden metaphysischen Tendenzen im Geistesleben der Gegenwart. Die ersten Sätze des Hauptteils der Schrift lauten: Dass metaphysisches und theologisierendes Denken nicht nur im Leben, sondern auch in der Wissenschaft heute wieder zunehme, wird von vielen behauptet. [. . .] Die Behauptung selbst wird leicht bestätigt durch einen Blick auf die Themen der Vorlesungen an den Universitäten und auf die Titel der philosophischen Veröffentlichungen. (Manifest 1929, S. 5, Hervorhebung im Original) Aber auch der entgegengesetzte Geist der Aufklärung und der antimetaphysischen Tatsachenforschung erstarke gegenwärtig, stellen die Autoren fest, und zwar in verschiedenen Ländern: in England (es wird diesbezüglich auf Russell und Whitehead verwiesen), den USA (James) und auch „ das neue Russland sucht durchaus nach wissenschaftlicher Weltauffassung “ . In Berlin seien manche Persönlichkeiten (Reichenbach, Petzdoldt, Grelling, Dubislav usw.) diesem Ziel zugewandt, und Wien biete ihm einen besonders geeigneten Boden. Denn schon in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts habe hier ein liberaler und antimetaphysischer Geist geherrscht, verkörpert insbesondere durch Ernst Mach, für den 1895 eine eigene Professur für Philosophie der induktiven Wissenschaften eingerichtet wurde. 1922 wurde Moritz Schlick von Kiel nach Wien berufen und um ihn sammelte sich im Laufe der Jahre ein Kreis, der die verschiedenen Bestrebungen in Richtung einer wissenschaftlichen Weltauffassung vereinigte. Der Kreis zeichnete sich durch fruchtbare gegenseitige Anregung aus, wie es heißt. Keiner seiner Mitglieder sei „ reiner “ Philosoph, alle hätten auf einem der wissenschaftlichen Einzelgebiete gearbeitet. Im Laufe der Jahre entwickelte sich unter den Mitgliedern zunehmend Einheitlichkeit. Ihre spezifische wissenschaftliche Einstellung lasse sich mit Wittgensteins Worten charakterisieren: „ Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen “ (Manifest 1929, S. 9 39 ). Es habe sich immer deutlicher gezeigt, dass die nicht nur metaphysikfreie, sondern antimetaphysische Einstellung das gemeinsame Ziel aller war. Dabei handele es sich auch um die Grundrichtung des Kreises: metaphysikfreie Wissenschaft zu fördern bzw. anzustoßen. Die Gründung des Vereins (der offizielle Name des Kreises lautete „ Verein Ernst Mach “ ) habe dann im November 1928 stattgefunden. Moritz Schlick sei zum Vorsitzenden des Vereins gewählt worden, weil sich die gemeinschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Weltauffassung am stärksten in ihm konzentriert habe. 39 Die Autoren berufen sich an dieser Stelle auf kein konkretes Werk Wittgensteins. Die Aussage stammt bekanntlich aus dem Vorwort zu seinem Tractatus logico-philosophicus (Wittgenstein 1984, S. 9) 52 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Der 2. Abschnitt der Schrift ist der Charakterisierung der Hauptanliegen des Kreises gewidmet. Im Vordergrund des Interesses stehen nicht eigene Thesen, sondern eine grundsätzliche Einstellung: das Ziel sei die Etablierung der Einheitswissenschaft. Die Betonung liege dabei auf der Kollektivarbeit, dem intersubjektiv Erfassbaren; hieraus entspringe das Suchen nach einem neutralen Formelsystem, einer von den „ Schlacken der historischen Sprachen befreiten Symbolik “ , nach einem Gesamtsystem der Begriffe. Sauberkeit und Klarheit werden angestrebt, dunkle Fernen und unergründliche Tiefen als Schimären abgelehnt. In der Wissenschaft gebe es keine „ Tiefen “ , alles liege an der Oberfläche. Alles Erlebte bilde ein kompliziertes, nicht immer überschaubares, oft nur im einzelnen Detail erfassbares Netz. Dennoch seien dem Menschen grundsätzlich alle Dinge zugänglich; er, der Mensch, sei das Maß aller Dinge. Die Verfasser weisen darauf hin, dass sich hier eine Verwandtschaft mit den Sophisten und mit den Epikureern, und keineswegs mit den Platonikern oder den Pythagoreern zeige, letztlich mit allen, die es mit dem irdischen Wesen halten und die Diesseitigkeit vertreten. Die wissenschaftliche Weltauffassung kenne keine unlösbaren Rätsel. Die Klärung der traditionellen philosophischen Probleme führe dazu, dass sie teils als Scheinprobleme entlarvt, teils in empirische Probleme umgewandelt und damit dem Urteil der Erfahrungswissenschaft unterstellt werden. In dieser Klärung von Problemen und Aussagen bestehe die Aufgabe der philosophischen Arbeit, nicht aber darin, eigene „ philosophische “ Aussagen zu treffen. Die Methode dieser Klärung sei die der logischen Analyse. Die Autoren zitieren an dieser Stelle Russell, der über diese Methode schrieb: „ Meines Erachtens liegt hier ein ähnlicher Fortschritt vor, wie er durch Galilei in der Physik hervorgerufen wurde: beweisbare Einzelergebnisse treten an die Stelle unbeweisbarer, auf das Ganze gehender Behauptungen, für die man sich nur auf die Einbildungskraft berufen kann “ (Manifest 1929, S. 12). 40 Diese Methode der logischen Analyse sei es auch, die den neuen Empirismus und Positivismus wesentlich von dem früheren unterscheide, der stärker biologisch-psychologisch ausgerichtet war, betonen die Autoren (deshalb die Bezeichnung „ logischer Positivismus “ ). Wenn jemand behaupte: „ es gibt keinen Gott “ , „ der Urgrund der Welt ist das Unbewusste “ , „ es gibt eine Entelechie als leitendes Prinzip im Lebewesen “ , so erwidere man ihm nicht: „ was du sagst, ist falsch “ ; sondern frage ihn: „ was meinst du mit deinen Aussagen? “ , so die Autoren. Dabei zeige sich, stellen sie weiter fest, dass es eine scharfe Grenze zwischen zwei Arten von Aussagen gebe: die eine umfasst Aussagen, wie sie in der empirischen Wissenschaft gemacht werden. Ihr Sinn lasse sich durch logische Analyse, genauer: durch Rückführung auf einfachste Aussagen über empirisch Gegebenes ermitteln. Die anderen Aussagen, zu denen die vorhin genannten gehören, erweisen sich als völlig 40 Das Russell-Zitat stammt aus seiner Schrift Our Knowledge of the External World (Russell 1972, S. 4). Die Übersetzung ist vermutlich die der Autoren. 2 a Das Aufkommen 53 bedeutungsleer und sinnlos. Man könne sie freilich häufig in empirische Aussagen umdeuten; dann verlieren sie jedoch den Gefühlsgehalt, der dem Metaphysiker meist gerade das Wichtigste ist. Der Metaphysiker und der Theologe glauben, und dabei sitzen sie einem Missverständnis auf - wie es in der Schrift heisst - , mit ihren Sätzen etwas auszusagen, einen Sachverhalt darzustellen. Die Analyse zeige jedoch, dass diese Sätze nichtssagend sind und nur einem Lebensgefühl Ausdruck geben. Dergleichen auszudrücken könne zwar sicherlich eine bedeutsame Aufgabe im Leben sein, heißt es weiter, das adäquate Ausdrucksmittel hierfür sei jedoch die Kunst, zum Beispiel die Lyrik oder die Musik. Werde stattdessen das sprachliche Gewand einer Theorie gewählt, so liege darin eine Gefahr: Es werde ein theoretischer Gehalt vorgetäuscht, wo keiner bestehe. Wolle ein Metaphysiker oder Theologe die übliche sprachliche Einkleidung beibehalten, so müsse er sich im Klaren darüber sein und deutlich erkennen lassen, dass er keiner Erkenntnis im Sinne einer Theorie Ausdruck verleihe, sondern sich im Bereich von Dichtung oder Mythos bewege. Wenn ein Mystiker behaupte, Erlebnisse zu haben, die jenseits aller Begriffe liegen, so könne man nicht bestreiten, dass er sie hatte. Er aber könne darüber nicht sprechen; denn sprechen bedeute Sachverhalte in Begriffen zu erfassen, sie auf wissenschaftlich eingliederbare Tatbestände zurückzuführen, stellen sie - Wittgenstein folgend 41 - fest. In metaphysischen Theorien und Fragestellungen stecken zwei logische Grundfehler, heißt es weiter. Zum einen seien sie durch eine zu enge Bindung an die Form der traditionellen Sprachen, zum anderen durch die Unklarheit in Bezug auf die logische Leistung des Denkens gekennzeichnet. Das Problem der gewöhnlichen Sprache bestehe vor allem darin, dass sie Substantive nicht nur für Dinge, sondern auch für Eigenschaften und sogar Beziehungen und Vorgänge gebrauche. Das sei jedoch eine irreführende Hypostasierung dieser Gegenstände. Der zweite Fehler bestehe in der Annahme, dass das Denken aus sich heraus Erkenntnisse gewinnen könne. Denn eine logische Untersuchung führe zum Ergebnis, dass alles Denken, alles Schließen, nichts anderes sei als ein Übergang von Sätzen zu anderen Sätzen, die nichts enthalten, was nicht schon in den Ausgangssätzen enthalten war (das logische Schließen sei nichts weiter als eine tautologische Umformung). Es sei daher nicht möglich, eine Metaphysik aus „ reinem Denken “ zu entwickeln. In der Ablehnung der offenen Metaphysik und der versteckten des Apriorismus seien sich alle Anhänger einer wissenschaftlichen Weltauffassung einig. Die Aussagen der alten Metaphysik seien sinnlos, weil nicht verifizierbar, nicht sachhaltig. Etwas sei nur und erst dadurch wirklich, dass es dem Gesamtgebäude der Erfahrung eingeordnet werde. Die von den Metaphysikern als Erkenntnisquelle besonders betonte Intuition werde von den Verfechtern der wissenschaftlichen Weltauffassung 41 Wittgenstein ist neben Russell der am meisten zitierte Autor in der Schrift. 54 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus keineswegs abgelehnt. Sie eigne sich zum Entdecken wahrer Aussagen. Angestrebt und gefordert sei jedoch, jede intuitive Erkenntnis nachträglich einer schrittweisen rationalen Rechtfertigung zu unterziehen. Dem Suchenden seien alle Mittel erlaubt; das Gefundene aber müsse der Nachprüfung standhalten. 42 Die Auffassung, die in der Intuition eine höherwertige bzw. tieferreichende Erkenntnisart sehe, die über die sinnlichen Erfahrungsinhalte hinausführen könne und nicht durch die engen Fesseln begrifflichen Denkens gebunden werden dürfe, werde abgelehnt. Wissenschaftliche Weltauffassung, so wie sie von den Verfassern verstanden wird, gründe in zwei Bestimmungen: Sie sei erstens empirisch und positivistisch. Sie stelle sich auf die Annahme, dass es nur Erfahrungserkenntnis gebe, die auf dem unmittelbar Gegebenen beruhe. Solche Erfahrungserkenntnis bilde die Legitimitätsgrenze der Wissenschaft. Wissenschaftliche Weltauffassung sei zweitens durch die Anwendung einer bestimmten Methode gekennzeichnet: die der logischen Analyse. Ziel sei die Errichtung der Einheitswissenschaft durch Anwendung der logischen Analyse auf das empirische Material. Da sich der Sinn jeder wissenschaftlichen Aussage durch Zurückführung auf eine Aussage über das Gegebene angeben lassen müsse, so müsse sich auch der Sinn eines jeden Begriffs, zu welchem Wissenschaftszweig er auch gehören mag, durch schrittweise Zurückführung auf andere Begriffe, bis hinab zu den Begriffen der untersten Stufe, die sich auf das Gegebene selbst beziehen, angeben lassen. Wäre eine solche Analyse für alle Begriffe durchgeführt, so hätte man sie damit in ein Rückführungssystem bzw. „ Konstitutionssystem “ , eingeordnet. Die auf das Ziel eines solchen Konstitutionssystems gerichteten Untersuchungen, bilden den Rahmen der „ Konstitutionstheorie “ , in dem die logische Analyse der wissenschaftlichen Weltauffassung angewendet werde. Die aristotelische Logik sei dafür ungeeignet, weil unzureichend, das könne allein die moderne symbolische Logik (oder wie Carnap sie nennt: die „ Logistik “ ) leisten. Diese ermögliche einerseits die Schärfe der Begriffsdefinitionen, und andererseits, den intuitiven Schlussprozess des gewöhnlichen Denkens zu formalisieren, ihn in eine strenge, durch einen Zeichenmechanismus automatisch kontrollierte Form zu bringen. Die unterste Schicht des Konstitutionssystems bilden Begriffe eigenpsychischer Erlebnisse und Qualitäten. Darüber seien die physischen Gegenstände angesiedelt, gefolgt vom Fremdpsychischen und darüber den Gegenständen der Sozialwissenschaften. Die Einordnung der Begriffe der verschiedenen Wissenschaften in das Konstitutionssystem sei, wie die Autoren behaupten, in groben Zügen schon erkennbar, nur ihre 42 Diese Forderung kann als ein Vorläufer der für gewöhnlich Popper und Reichenbach zugeschriebenen Einführung der Unterscheidung zwischen dem „ Entdeckungs- “ und „ Begründungszusammenhang “ gewertet werden. Vgl. Popper 1966, S. 31, Reichenbach 1938, S. 6f. 2 a Das Aufkommen 55 genauere Durchführung stehe noch aus. 43 Mit dem Nachweis der Möglichkeit und dem Aufweis der Form des Gesamtsystems der Begriffe werde zugleich der Bezug aller Aussagen auf das Gegebene und damit die Aufbauform der Einheitswissenschaft erkennbar. In die wissenschaftliche Beschreibung könne nur die Struktur (Ordnungsform) der Objekte eingehen, nicht ihr „ Wesen “ . Das die Menschen in der Sprache Verbindende seien die Strukturformeln, in ihnen stelle sich der Inhalt der gemeinsamen Erkenntnis der Menschen dar. Die subjektiv erlebten Qualitäten - die Röte, die Lust - seien als solche eben nur Erlebnisse, keine Erkenntnisse. In die physikalische Optik gehe nur das ein, was auch dem Blinden grundsätzlich verständlich sei. 44 Der dritte Abschnitt der Schrift befasst sich mit, wie es heisst, „ einzelnen Problemgebieten “ . Eigentlich befasst er sich mit den einzelnen Wissenschaften, die Verfasser aber wollen sie im Hinblick auf das Ideal der Einheitswissenschaft offensichtlich nicht so benennen. Nach der kurzen Erörterung der „ Grundlagen der Arithmetik “ , die hier weniger von Belang ist, widmen sie sich den Grundlagen der Physik. Ursprünglich habe das stärkste Interesse des Wiener Kreises den Problemen der Methode der, wie sie schreiben, „ Wirklichkeitswissenschaft “ gegolten (Manifest 1929, S. 19). Diese Bezeichnung steht im Singular, als ob die Physik die einzige Wirklichkeitswissenschaft wäre. Angeregt durch Gedanken von Mach, Poincaré und Duhem seien die Probleme der Bewältigung der Wirklichkeit durch wissenschaftliche Systeme, insbesondere durch Hypothesen- und Axiomensysteme, erörtert worden. Ein Axiomensystem könne zunächst, gänzlich losgelöst von aller empirischen Anwendung, als ein System impliziter Definitionen betrachtet werden. Damit sei gemeint, dass die in den Axiomen enthaltenen Begriffe nicht ihrem Inhalte nach, sondern nur durch die Axiome, d. h. ihre gegenseitigen Beziehungen darin, festgelegt würden. Bedeutung für die Wirklichkeit erlange ein solches Axiomensystem aber erst durch Hinzufügen weiterer Definitionen, nämlich der „ Zuordnungsdefinitionen “ (ebd.), durch die angegeben werde, welche Gegenstände der Wirklichkeit als Glieder des Axiomensystems betrachtet werden sollen. Ziel sei die Entwicklung der empirischen Wissenschaft, die die Wirklichkeit durch ein möglichst einheitliches und einfaches Netz von Begriffen und Urteilen wiedergeben könne. Ferner stellen die Autoren fest, dass das methodologische Problem der Anwendung von Axiomensysteme auf die Wirklichkeit zwar grundsätzlich für jeden Wissenschaftszweig in Betracht komme, aber besonders für die Physik untersucht wurde, weil diese am weitesten von allen Wissenschaften entwickelt sei. Die erkenntnistheoretische Analyse der Hauptbegriffe der 43 Diese Feststellung bezieht sich auf das 1928 veröffentlichte erste Hauptwerk Rudolf Carnaps Der logische Aufbau der Welt, in dem er ein solches Konstitutionssystem - eben „ in groben Zügen “ - beschrieben hat. Für eine detaillierte Analyse dieses Werks s. unten. 44 Diese erstaunliche Behauptung findet man auf S. 16 des Manifests. 56 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Naturwissenschaft habe diese Begriffe immer mehr von den metaphysischen Beimengungen befreit, die ihnen seit Urzeiten anhafteten. Insbesondere seien durch Helmholtz, Mach, Einstein und andere die Begriffe Raum, Zeit, Substanz, Kausalität, Wahrscheinlichkeit gereinigt worden. Die Kausalität würde ihres anthropomorphen Charakters einer „ Einwirkung “ oder „ notwendigen Verknüpfung “ entkleidet und auf die Bedingungsbeziehung bzw. die funktionale Zuordnung, zurückgeführt. Durch die Anwendung der axiomatischen Methode auf die genannten Probleme scheiden sich überall die empirischen Bestandteile der Wissenschaft von den bloß konventionellen, der Aussagegehalt von der Definition, heisst es weiter. Für ein synthetisches Urteil a priori bleibe da keinen Platz mehr. Die Autoren widmen auch einige Zeilen dem Problem der Induktion. Die Methode der Induktion, der Schluss vom Gestern aufs Morgen, vom Hier aufs Dort, sei nur gültig, wenn eine Gesetzmäßigkeit bestehe. Sie mag überall dort angewendet werden, wo sie zu fruchtbaren Ergebnissen führe; Sicherheit gewähre sie nie. Die erkenntnistheoretische Besinnung fordere, dass einem Induktionsschluss nur insoweit Bedeutung beigelegt werde, als er empirisch nachgeprüft werden könne. Es folgt ein Abschnitt zu den Grundlagen der Geometrie, der uns hier auch nicht weiter zu interessieren braucht, und dann einige interessante Bemerkungen zu den Grundlagen der Biologie und Psychologie, die bezeichnenderweise in einem gemeinsamen Abschnitt enthalten sind. Die Biologie werde mit Vorliebe als ein Sondergebiet behandelt, lesen wir. Im Vitalismus würde eine besondere Lebenskraft postuliert, moderne Vertreter dieser Lehre bemühten sich dagegen, in die verschwommenen Begriffe Klarheit zu bringen: sie sprechen nicht von der Lebenskraft, sondern von den „ Dominanten “ (Reinke) oder von „ Entelechien “ (Driesch) (Manifest 1929, S. 23). Diese Begriffe genügten jedoch nicht der Forderung nach Zurückführung auf das Gegebene und werden darum als metaphysisch abgelehnt. Das Gleiche gelte vom sogenannten „ Psychovitalismus “ , der ein Eingreifen der Seele, eine „ Führerrolle des Geistigen im Materiellen “ lehre (ebd.). Im Weiteren räumen die Autoren ein, dass die wissenschaftliche Weltauffassung auf gewissen Gebieten weiter entwickelt sei als auf anderen. In der Physik sei sie bereits weit fortgeschritten, in der Psychologie hingegen noch nicht. Denn dort habe sie mit zahlreichen Problemen kämpfen zu kämpfen: sprachliche Formen seien in alter Zeiten aufgrund gewisser metaphysischer Vorstellungen gebildet worden, weshalb sie metaphysisch belastet und überdies durch logische Unstimmigkeiten gekennzeichnet seien. Dazu kämen noch gewisse sachliche Schwierigkeiten, weshalb die meisten psychologischen Begriffe nur mangelhaft definiert seien. Von vielen könne man nicht einmal sagen, ob sie überhaupt Sinn ergäben. Hier gebe es noch sehr viel zu tun, sei noch fast alles zu leisten. Die Autoren betonen jedoch, dass die behavioristische Psychologie ihrem ganzen Ansatz nach der wissenschaftlichen Weltauffassung nahe stehe. 2 a Das Aufkommen 57 Schließlich wenden sie sich den Grundlagen der Sozialwissenschaften zu. Diese seien noch nicht so weit wie jene der Physik ausgearbeitet, die Reinigungsaufgabe sei aber auf diesem Felde auch nicht so dringend. Denn einerseits sei der Einfluss der Metaphysik dort nicht so stark, andererseits stünden manche Begriffe (Krieg, Frieden, Einfuhr, Ausfuhr) der unmittelbaren Wahrnehmung näher als „ Atom “ und „ Äther “ . 45 Es sei jedoch ohne Weiteres möglich, den Begriff „ Volksgeist “ fallen zu lassen, und stattdessen von Gruppen von Individuen zu sprechen. Gegenstand der Geschichte und Nationalökonomie seien Menschen, Dinge und ihre Anordnung. Im abschließenden, vierten Abschnitt der Schrift ( „ Rückblick und Ausblick “ ) fassen die Autoren das bereits Gesagte in prägnanter Form zusammen. Das Wesen der neuen wissenschaftlichen Weltauffassung bestehe nicht in der Formulierung eigener „ philosophischer Sätze “ , sondern hauptsächlich in der Klärung von Sätzen, und zwar von Sätzen der empirischen Wissenschaft. Manche Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung seien nicht bereit, ihre Arbeit mit dem Wort „ Philosophie “ zu bezeichnen. Wie immer solche Untersuchungen auch benannt werden mögen, eines stehe jedenfalls fest: Es gibt keine Philosophie als Grund- oder Universalwissenschaft neben oder über den verschiedenen Gebieten der einen Erfahrungswissenschaft; es gibt keinen Weg zu inhaltlicher Erkenntnis neben dem der Erfahrung; es gibt kein Reich der Ideen, das über oder jenseits der Erfahrung stände. (Manifest 1929, S. 26. Hervorhebung im Original) Dennoch bleibe die Arbeit der „ philosophischen “ oder „ Grundlagen “ -Untersuchungen im Sinne der wissenschaftlichen Weltauffassung wichtig. Denn die logische Klärung der wissenschaftlichen Begriffe, Sätze und Methoden befreie von hemmenden Vorurteilen. Die logische und erkenntnistheoretische Analyse wolle der wissenschaftlichen Forschung nicht etwa Schranken auferlegen. Im Gegenteil: sie stelle ihr einen möglichst vollständigen Bereich formaler Möglichkeiten zur Verfügung, aus dem die zu der jeweiligen Erfahrung stimmende auszuwählen sei. Die Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung stehen entschlossen auf dem Boden der einfachen menschlichen Erfahrung, heißt es. Sie seien zuversichtlich, den metaphysischen und theologischen Schutt der Jahrtausende durch logische Aufräumarbeiten beseitigen zu können. Die Zunahme metaphysischer und theologisierender Neigungen, die sich in vielen Bünden und Sekten, in Büchern und Zeitschriften, in Vorträgen und Universitätsvorlesungen bemerken lasse, scheine den Autoren zufolge auf den heftigen sozialen und wirtschaftlichen Kämpfen der Gegenwart zu beruhen: Die eine Gruppe der Kämpfenden, die auf sozialem Gebiet am Vergangenen festhalte, pflege die überkommenen, oft inhaltlich längst überwundenen Einstellungen 45 An dieser Stelle wird klar, dass sich die Autoren der Schrift nicht nur des Ätherbegriffs, sondern auch des Begriffs des Atoms entledigen wollen. 58 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus der Metaphysik und Theologie, während die andere, der neuen Zeit zugewendete Gruppe diese Einstellungen ablehne und sich auf den Boden der Erfahrungswissenschaft stelle. Diese Entwicklung hänge mit der des modernen Produktionsprozesses zusammen, der immer stärker maschinentechnisch ausgestaltet werde und immer weniger Raum für metaphysische Vorstellungen lasse. Sie habe auch mit der Enttäuschung breiter Massen über die Haltung derjenigen zu tun, die die überkommenen metaphysischen und theologischen Lehren verkünden. So komme es, dass die Massen diese Lehren in vielen Ländern jetzt weit bewusster als je zuvor ablehnen und im Zusammenhang mit ihrer sozialistischen Einstellung einer erdverbundenen, empiristischen Auffassung zuneigen würden. In früherer Zeit sei der Materialismus der Ausdruck für diese Auffassung gewesen; inzwischen aber habe sich der moderne Empirismus aus manchen unzulänglichen Formen herausentwickelt und in der wissenschaftlichen Weltauffassung 46 eine haltbare Gestalt gewonnen. Die Schrift schließt, wie sie angefangen hat, mit dem Hinweis darauf, dass die „ wissenschaftliche Weltauffassung “ mehr sei als eine wissenschaftliche oder philosophische Theorie. Sie sei eine Lebenshaltung, ein Lebensstil: So steht die wissenschaftliche Weltauffassung dem Leben der Gegenwart nahe. [. . .] Wir erleben, wie der Geist wissenschaftlicher Weltauffassung in steigendem Maße die Formen persönlichen und öffentlichen Lebens, des Unterrichts, der Erziehung, der Baukunst durchdringt, die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen leiten hilft. Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf. (Manifest 1929, S. 27, Hervorhebung im Original) Dem Text der Schrift folgt die Aufzählung der Mitglieder des Wiener Kreises, der „ dem Wiener Kreise nahestehenden Autoren “ , und schließlich der „ führenden Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung “ . Diese Kategorie umfasst nur drei Namen. Sie zu erwähnen, scheint mir lohnenswert: Albert Einstein, Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein. Fazit Ich werde an dieser Stelle auf eine ausführliche Diskussion des „ Manifests “ verzichten, da fast alle seine Kernaussagen Ableitungen aus den drei zentralen Schriften darstellen, die ich im Folgenden einer genaueren Analyse unterziehen werde: Moritz Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre, Rudolf Carnaps Logischem Aufbau der Welt und Ludwig Wittgensteins Tractatus logicophilosophicus. Worum es den Autoren der Schrift und mithin dem Wiener Kreis ging, dürfte jedoch bereits hinreichend deutlich geworden sein, nämlich den „ metaphysierenden “ Tendenzen in der Philosophie und vor allem in der Wissenschaft entgegenzuwirken, „ den metaphysischen und theologischen 46 Diese Bezeichnung wird im Original kursiv geschrieben (vgl. S. 27). 2 a Das Aufkommen 59 Schutt der Jahrtausende aus dem Wege [. . .] räumen “ (Manifest 1929, S. 26), eine Einheitswissenschaft zu etablieren, die sich ausschließlich auf die Erfahrung stützt, und die wissenschaftliche Weltauffassung zu verbreiten (also den Materialismus unter dem Namen des „ modernen Empirismus “ ), die sich, wie es (in der Schrift) heißt, aus den zivilisatorischen Umwälzungen der jüngsten Zeit, insbesondere den modernen (mechanisierten) Produktionsprozessen quasi natürlich ergibt und die dadurch auch dem sozialen Leben zugute kommen wird. Was jedoch im Abstand der über 80 Jahre seit der Veröffentlichung dieses Dokuments auffällt, ist, dass zahlreiche der von den Autoren als „ unerschütterliche Wahrheiten “ erachtete Behauptungen willkürlich, unbegründet und sogar unverständlich erscheinen, weshalb es nicht überrascht, dass diese hehren Ziele nach ca. dreißig Jahren selbst zu Schutt geworden sind. Darüber hinaus lässt sich eine gewisse Paradoxie des „ Manifests “ nicht übersehen: Was als „ wissenschaftliche Weltauffassung “ gepriesen wird, gilt den Autoren gleichzeitig als „ Lebenshaltung, Lebensstil “ . Die Verknüpfung der beiden Begriffe führt unweigerlich zu der Frage: Was ist hier ursprünglicher, die „ wissenschaftliche “ Weltauffassung oder eine bestimmte Lebenshaltung? Den Autoren scheint es selbstverständlich zu sein, dass der bestimmte Lebensstil in der „ unvoreingenommenen “ Wissenschaft gründet und aus ihr erwächst. Die Frage wird jedoch virulent, wenn man sich näher mit Ludwig Flecks Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache befasst, einem nur sechs Jahre nach dem Erscheinen des „ Manifests “ veröffentlichten und damals wenig beachteten Werk, in dem er den Einfluss der Denkgewohnheiten eines Denkkollektivs (man könnte auch sagen der Lebenshaltung und des Lebensstils dieses Denkkollektivs) auf die von ihm entworfenen Theorien beschrieb. 47 Liegt nicht die Vermutung nahe, dass die kühnen Behauptungen des „ Manifests “ nicht das Resultat unvoreingenommener wissenschaftlicher Forschung sind, sondern vielmehr etwas, das die Forschung, indem es ihr die Richtung vorgibt, steuernd beeinflusst und leitet? Diese Vermutung erhärtet sich, wenn man bedenkt, dass das „ Manifest “ wie die drei ihm vorausgehenden und im Weiteren näher zu analysierenden Schlüsselwerke keineswegs Resultat (natur)wissenschaftlicher Forschung, sondern vielmehr und selbstverständlich der philosophischen Reflexion sind. Ob diese Anspruch auf Unvoreingenommenheit erheben kann, ist aber zumindest zweifelhaft „ The Received View “ Die Auffassung der wissenschaftlichen Methode, die den Kern des logischen Positivismus oder logischen Empirismus bildete, bezeichnet Frederick Suppe (nach Putnam) als „ Received View “ (Suppe 1977, S. 3). Diese Auffassung 47 Für eine ausführlichere Betrachtung dieses Werks s. Unterkapitel „ Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung “ . 60 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus basierte, wie wir bereits dem „ Manifest “ andeutungsweise entnehmen konnten, auf der Annahme, dass eine wissenschaftliche Theorie in mathematischer Logik axiomatisiert werden müsse, wobei die Begriffe einer solchen logischen Axiomatisierung in drei Klassen aufgeteilt werden sollten: (1) logische und mathematische Termini, (2) theoretische Termini und (3) beobachtbare Termini. Die letzteren sollten gemäß dieser Auffassung von Wissenschaftlichkeit mit den theoretischen Termini mittels Korrespondenzregeln, die die theoretischen Termini durch Kombinationen von beobachtbaren Termini explizit definieren, verknüpft werden (Suppe ebd., S. 12). Die „ Received View “ gründete in der Überzeugung, dass sich der Fortschritt der Wissenschaft sich so vollzieht, wie Bacon nahegelegt hatte: Das Fundament des Gebäudes bilden unmittelbare Beobachtungen, von welchen man aufwärts bis zu immer allgemeineren Gesetzen aufsteigt (ebd., S. 15). Wissenschaftliche Sicherheit, oder einfach Wissenschaftlichkeit als solche, gewährleistet nach diesem Modell der Rückgriff auf die unmittelbar beobachtbaren Daten oder zumindest die Möglichkeit desselben: eine Theorie, die die empirischen Prüfungen (Tests) bestanden hat, kann als hochgradig bestätigt gelten, und es ist unwahrscheinlich, dass sie je widerlegt werden wird (ebd., S. 53f.). Die erste ausgereifte 48 Formulierung dieser Auffassung wurde Suppe zufolge 1928 von Carnap in seinem Logischem Aufbau der Welt vorgelegt; die ursprüngliche Position unterlag im Laufe der Zeit manchen Veränderungen und Modifikationen (ebd., S. 16 - 56), behielt aber bis zum Ende ihrer Geltung die oben charakterisierten grundlegenden Annahmen bei (ebd., S. 15). Die Eckpunkte der endgültigen Form der „ Received View “ lassen sich, ein wenig vereinfacht, 49 folgendermaßen zusammenfassen: 1) Es gibt eine Sprache des ersten Grades L, in der die Theorie formuliert wird, und ein logisches Kalkül, das in der Begrifflichkeit von L definiert wird; 2) Die nichtlogischen oder beschreibenden Terme von L werden in zwei getrennte Klassen unterteilt: V O , die die Beobachtungsterme, und V T , die die theoretischen Terme beinhaltet; 3) Die Sprache L wird weiter in folgende Untersprachen unterteilt: a) die Beobachtungssprache L O , die lediglich die Ausdrücke von V O und keine Ausdrücke von V T beinhalten darf; b) die logisch erweiterte Beobachtungssprache L O' , die weiterhin keine Ausdrücke von V T beinhalten darf und von L O abgeleitet wird dadurch, dass man dieser (logische) Quantoren, Modalitäten usw. hinzufügt; 48 Die erste Formulierung der „ received view “ überhaupt war nach Suppe Carnaps Aufsatz „ Über die Aufgabe der Physik und die Anwendung der Grundsätze der Einfachheit “ , der 1923 veröffentlicht wurde (Suppe ebd., S. 12). 49 Für die präzisere Formulierung vgl. Suppe ebd., S. 50ff. 2 a Das Aufkommen 61 c) die theoretische Sprache L T , d. h. jener Teil von L, der keine V O Ausdrücke enthält; 4) L O erhält die semantische Interpretation, die die folgenden Bedingungen erfüllt: a) Die Domäne der Interpretation besteht in konkreten, beobachtbaren Ereignissen oder Dingen, die Relationen und Eigenschaften der Interpretation müssen direkt beobachtbar sein; b) Jeder Wert jeder Größe in L O muss durch einen Ausdruck aus L O bezeichnet werden; 5) Eine partielle Interpretation der theoretischen Terme und der Sätze von L, die sie enthalten, wird durch zwei Arten von Postulaten gewährleistet: die theoretischen Postulate T (d. h. die Axiome der Theorie), in denen ausschließlich die Begriffe von V T vorkommen, und die Korrespondenzregeln oder Postulate C, die eine Art gemischte Sätze bilden. Diese müssen die folgenden Bedingungen erfüllen: a) Die Menge der Regel C muss endlich sein; b) Die Menge der Regel C muss logisch mit T vereinbar sein; c) C darf keine außerlogischen Terme beinhalten, die weder zu V O noch zu V T gehören; d) Jede Regel in C muss mindestens einen V O - und einen V T -Term beinhalten. In diesem Sinne besteht eine wissenschaftliche Theorie, welche auf L, T, und C basiert, in der Konjunktion von T und C und kann als „ TC “ bezeichnet werden. Zu dieser eher formalen Charakterisierung des Kernes des logischen Empirismus müssen noch drei weitere Elemente hinzugefügt werden. Zum einen wurde die „ Received View “ in den frühen Stadien ihrer Entwicklung unter dem Einfluss von Wittgenstein um eine allgemeine Theorie der Bedeutung erweitert, nach der diese lediglich denjenigen Aussagen zugeschrieben werden kann, die sich empirisch verifizieren lassen (die sog. Verifikationstheorie der Bedeutung), während die anderen Aussagen als metaphysisch und somit kognitiv unbedeutend betrachtet werden (Suppe ebd., S. 13). Dieses Verständnis der Natur der Bedeutung wurde allerdings später aufgegeben. Die zweite zentrale Eigenschaft der neupositivistischen Auffassung des wissenschaftlichen Unternehmens war, wie wir bereits gesehen haben, ihre radikal antimetaphysische Haltung. In dieser lässt sich ein Erbe der Mach ’ schen Philosophie sehen, also der Philosophie, auf die sich die Arbeit des Wiener Kreises hauptsächlich stützte. Die Haltung der Mitglieder des Wiener Kreises der Metaphysik gegenüber kommt sehr treffend in einem 1931 in der Zeitschrift Erkenntnis veröffentlichten Aufsatz Rudolf Carnaps mit dem Titel „ Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache “ zum Ausdruck: 62 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus [S]ollten wirklich so viele Männer der verschiedensten Zeiten und Völker, darunter hervorragende Köpfe, so viel Mühe, ja wirkliche Inbrunst auf die Metaphysik verwendet haben, wenn diese in nichts bestände als in bloßen, sinnlos aneinandergereihten Wörtern? (Carnap 1931, S. 238) Die „ Received View “ war schließlich drittens eng mit der wichtigen Doktrin der Theoriereduktion verknüpft, obwohl strenggenommen nicht Teil derselben. Diese wiederum nahm zwei Hauptformen an. Zum einen kann man mit Blick auf den logischen Empirismus von der ontologischen Reduktion sprechen, also der Überzeugung, dass sich wissenschaftliche Theorien der höheren Stufen letztlich auf Theorien (und Entitäten) der untersten Seinstufen zurückführen lassen. Konkret: Psychologische Theorien auf die der Biologie, diese auf die der Chemie und diese wiederum auf die der Physik, die allein die „ wahre “ Wirklichkeit beschreibe. Die andere Form der Theoriereduktion kann man als theoretische Reduktion bezeichnen. Diese fußt auf der Überzeugung, dass der Fortschritt der Wissenschaft grundsätzlich dadurch erreicht werde, dass eine bereits akzeptierte und durch zahlreiche empirische Bestätigungen gut abgestützte wissenschaftliche Theorie mit neuen, früher unbekannten Beobachtungen konfrontiert wird, die zunächst innerhalb der bestehenden Theorie nicht erklärt werden können. Dieser Zustand zwinge dazu, die Theorie zu erweitern, um die neuen Fakten zu assimilieren. Die neue Theorie widerlegt in dem Fall die alte nicht, sondern umfasst sie als einen Spezialfall, so wie z. B. die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegungen aus der Newtonschen Mechanik folgen, oder wie die Newtonsche Mechanik sich als ein Sonderfall der Allgemeinen Relativitätstheorie erweist. Der logische Positivismus kann aufgrund seiner Abneigung gegen jegliche Metaphysik als ein Nachfolger des mittelalterlichen Nominalismus betrachtet werden. Gleichzeitig machte er es sich zur Aufgabe, den Weg zur Erlangung empirisch fundierter und sicherer Erkenntnis aufzuzeigen. Die Hoffnung, dass dieses Ziel nicht nur erstrebenswert, sondern auch realistisch ist, kommt deutlich in den bereits zitierten Worten Carnaps 50 aus dem Vorwort zu seinem Logischen Aufbau der Welt zum Ausdruck: „ [E]s wird in langsamem, vorsichtigem Aufbau Erkenntnis nach Erkenntnis gewonnen; jeder trägt nur herbei, was er vor der Gesamtheit der Mitarbeitenden verantworten und rechtfertigen kann. So wird sorgsam Stein zu Stein gefügt und ein sicherer Bau errichtet, an dem jede folgende Generation weiterschaffen kann “ (Carnap LA 1966, S. XIX, meine Hervorhebung, MBM). Heute sind sich die Wissenschaftstheoretiker darin einig, dass jegliche empirische also induktive Erkenntnis prinzipiell unsicher ist. 51 Es war diese Einsicht, die Kant zu seiner Theorie des menschlichen Erkenntnisprozesses veranlasste, mit der er kraft der „ kopernikanischen Wende “ die Sicherheit der 50 Vgl. „ Kurzer Abriss der Geschichte der Wissenschaft “ . 51 Ich werde dieses Problem ausführlicher im Unterkapitel „ Einige theoretische Probleme des empirischen Forschungsparadigmas “ behandeln. 2 a Das Aufkommen 63 Erkenntnis dadurch sichern wollte, dass er nicht die Erkenntnis sich nach den Gegenständen richten ließ, sondern diese sich nach „ unserer Erkenntnis “ (Kant 1995, B XVI). Zwingende Folge einer Weltauffassung, die den ideellen Entitäten die Existenz abspricht und sich in ihren Erklärungen auf das bloß sinnlich Wahrnehmbare bzw. das vom sinnlich Wahrnehmbaren Abgeleitete beschränken will, ist also, dass sich in ihrem Rahmen eigentlich keine Erkenntnisgewissheit erlangen lässt. Aus dieser Sicht kann man den logischen Positivismus gewissermaßen als Bemühung um die Quadratur des Kreises betrachten, nämlich, bloß empirisch zu bleiben und dennoch sichere Erkenntnis erlangen zu wollen. Schon aus diesem Grunde kann es kaum verwundern, dass dieses Programm scheitern musste. Die Hauptwerke des logischen Empirismus Das Programm des logischen Empirismus ist heute, wie gesagt, diskreditiert. John Passmore äußerte sich in seinem einschlägigen Artikel für die Routledge Encyclopedia of Philosophy wie folgt: „ Logical positisivism [. . .] is dead, or as dead as a philosophical movement ever becomes “ (Passmore 1998, S. 529), und ein früher führender britischer Verfechter dieser Doktrin, der herausragende englische Philosoph und Hauptvertreter des logischen Empirismus in England, A. J. Ayer, stellte auf die Frage nach den Hauptmängel dieser Auffassung 1978 fest: „ I suppose the most important [. . .] was that nearly all of it was false “ . 52 Es scheint mir jedoch auch heute noch äußerst wichtig, dass man sich mit der Entstehung dieser Doktrin ausführlicher befasst. Denn der Aufstieg des logischen Empirismus zur Vorherrschaft in der Wissenschaftstheorie und vor allem die Tatsache, dass er diese Stellung mehr als drei Jahrzehnte lang behaupten konnte, bietet ein lehrreiches Beispiel eines wohl viel verbreiteteren Phänomens: dass sich nämlich viele sehr intelligente Menschen, die nahezu dieselben Überzeugungen teilen, zutiefst täuschen können. In der Regel gehen wir leichthin davon aus, dass eine solche Täuschung nur „ die Alten “ befallen konnte, z. B. die Wissenschaftler des 16. Jahrhunderts, die die kopernikanische Theorie vehement ablehnten, oder die Philosophen der Antike, die sogar noch an die Götter glaubten, und dass wir „ Modernen “ vor solchen groben Fehlern gefeit sind. Das Beispiel vom Aufstieg und Fall des logischen Empirismus belehrt uns aber eines Besseren: Auch wir aufgeklärten Modernen können völlig in die Irre gehen. Oswald Hanfling, Autor eines wichtigen Buches zum logischen Empirismus, bringt die Verwunderung über die Tatsache, dass auch wir „ Modernen “ uns in Bezug auf wichtige Hauptfragen der Philosophie immer noch derart täuschen können, sehr deutlich zum Ausdruck: 52 A. J. Ayer in einem Interview mit Brian Magee. (Magee 1978, S. 131), zitiert von Oswald Hanfling in: Hanfling 1981, S. 1. 64 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus In my Introduction I quoted a typical passage from Carnap in which he expressed astonishment that ‘ so many men [. . .] outstanding minds among them, have devoted so much effort, and indeed fervour, to metaphysics, when this consists in nothing more than words strung together without sense ’ . After reading the critical literature about Logical Positivism, one may be tempted to express a similar astonishment about the men who devoted so much effort and fervour to the construction and exposition of that philosophy. It can hardly be denied, moreover, that these men too had some outstanding minds among them. And the same may be said of the many readers, both inside and outside the ranks of philosophers, who have felt themselves attracted by the new philosophy. (Hanfling 1981, S. 171) 53 Wenn man sich eingestehen muss, dass die Vorstellungen intelligenter Menschen, ja führender Wissenschaftler und Intellektueller ihrer Zeit, die vor nicht einmal hundert Jahren lebten und wirkten, uns heute zutiefst fragwürdig erscheinen und eigentlich unannehmbar sind, so bekommt man - so hoffe ich - ein leises Herzklopfen. Man kann sich über diese Meneschen nicht intellektuell oder kulturell erhaben fühlen, denn schließlich glaubten sie an keine Märchen oder Mythen mehr. Aber dann muss man sich die Frage stellen, wie es möglich ist, dass sie sich so gründlich irren konnten, von der unbedingten Überzeugung getragen, auf dem festen Boden der einen und einzigen Wahrheit zu stehen. Daraus ergibt sich eine weitere Frage - und die ist fast noch wichtiger: Wenn es ihnen so gegangen ist, woher sollen wir die Zuversicht nehmen, dass wir heute nicht ebenso wie sie, wenngleich vielleicht anders, in die Irre gehen, selbst wenn wir unbedingt überzeugt sind, „ auf dem festen Boden der einen und einzigen Wahrheit zu stehen “ ? Und zweitens: Obwohl das Programm des logischen Positivismus Geschichte ist, wirken einige seiner Elemente, wie wir noch sehen werden, als unhinterfragte Annahmen im täglichen Geschäft der heutigen Wissenschaft weiter. Unhinterfragt wohlgemerkt, denn im Unterschied zu damals, 53 An dieser Stelle mag der Hinweis interessant sein, dass Rudolf Steiner bereits 1911 die damalige Zeit als die Zeit charakterisierte, die trotz ihres expliziten Bekenntnisses zur intellektuellen Nüchternheit und zum kritischen Geist äußerst anfällig für Dogmen war: „ [U]nsere Zeit ist eine solche der Dogmatik, der Abstraktion. Merkwürdig ist dabei, dass man diesen ihren Grundcharakter im exoterischen Leben missversteht und allgemein glaubt, dogmenfrei zu denken und zu handeln, obgleich man tief in Dogmen steckt. Man glaubt, auf Realitäten loszugehen, trotzdem man sich tief hinein in die wüstesten Abstraktionen verirrt. [. . .] Wie sehr unsere Zivilisation in Dogmen und Abstraktionen befangen ist, erkennt man erst, wenn man sie [. . .] in wirklich lebensvoller Art betrachtet. Man findet dann eine Denkrichtung, deren Charakter darin besteht, fertige Dogmen aufzustellen und zu verlangen, dass ein aufgeklärter Mensch sich daran halte, dabei aber glaube, sich rein kritisch zu verhalten “ (Steiner GA130, S. 139f. Für die Form des Verweises auf Rudolf Steiners Schriften vgl. das Kürzelverzeichnis). Diese Bemerkungen beziehen sich zwar in erster Linie auf die Ansichten des sog. „ Monisten Bundes “ von Ernst Haeckel (s. unten, Kapitel „ Einzug des Materialismus in die Wissenschaft “ ), doch hätte Steiner das Aufkommen des logischen Positivismus erlebt, hätte er wahrscheinlich das Gleiche über dessen „ Selbstverständlichkeiten “ gesagt. 2 a Das Aufkommen 65 werden sie heute nicht mehr argumentativ begründet. Ihre Betrachtung kann deshalb Licht auf die Frage werfen, inwiefern gewisse heutige Dogmen berechtigt sind. Die Untersuchung der Wurzel hilft also eine gewisse gesunde Distanz zu der heute gängigen wissenschaftlichen Praxis zu gewinnen und mit den Gespenstern der noch gar nicht so alten Vergangenheit fertig zu werden. Im weiteren Gang möchte ich also die drei Werke unter die Lupe nehmen, die die Entwicklung des logischen Empirismus maßgebend geprägt haben: Moritz Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre, die eine der Grundlagen der Arbeiten des Wiener Kreises bildete, das bereits erwähnte Hauptwerk Rudolf Carnaps Der logische Aufbau der Welt, das Frederick Suppe zufolge die erste ausgereifte Fassung des logischen Positivismus beinhaltet, und schließlich mit dem Tractatus logico-philosophicus das frühe Hauptwerk Ludwig Wittgensteins, das genau wie Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre im Zentrum der Diskussionen des Wiener Kreises stand. Ich möchte untersuchen, ob diese Werke heute noch die Strahlkraft haben, die damals von ihnen ausging, und wenn nicht, wieso das nicht mehr der Fall ist. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre Will man die Ansichten einer Persönlichkeit richtig einordnen, so ist es oft hilfreich, und manchmal auch unerlässlich (wie wir demnächst im Fall von Ludwig Wittgenstein sehen werden), sie vor dem Hintergrund ihrer Biographie zu betrachten. Es leuchtet ein, dass die Überlegungen bzw. Theorien eines frischgebackenen Doktoranden anders zu beurteilen sind als ähnliche Überlegungen bzw. Theorien einer auf ihrem Felde anerkannten Autorität, obwohl es selbstverständlich nicht auszuschließen ist, dass die Ansichten des frischgebackenen Doktoranden richtiger sein können als die seines erfahrenen Doktorvaters. Ich werde deshalb im Laufe dieser Studie, wann immer möglich und wenn es mir relevant erscheint, den von mir ausführlicher diskutierten oder aber auch bloß ausführlicher dargestellten Ansichten verschiedener Philosophen bzw. Wissenschaftler eine kurze biographische Skizze ihres Autors vorausgehen lassen. Ich hoffe, eine solche wird zu einem vertieften Verständnis der Anliegen dieser Persönlichkeiten beitragen können. In diesem Sinne wenden wir uns jetzt der Biographie des Autors der Allgemeinen Erkenntnislehre Moritz Schlick zu. Moritz Schlick (1882 - 1936) absolvierte das Luisenstädtische Realgymnasium in Berlin und studierte dann Naturwissenschaften und Mathematik an den Universitäten Heidelberg, Lausanne und Berlin. 1904 (also mit nur 22 Jahren! ) promovierte er bei Max Planck in Physik mit einer Arbeit Über die Reflexion des Lichts in einer inhomogenen Schicht (Wendel und Engler 2009 a, S. 54). Im Herbst 1907 (ebd., S. 53) heiratete er Blanche Hardy, die Tochter eines Geistlichen aus Massachusetts in den USA, und ließ sich nach 66 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus der Rückkehr aus Amerika zunächst in Zürich nieder. Schlick behauptete, dass für die Wahl dieses Ortes ausschließlich „ Gründe der Landschaft “ maßgebend waren (ebd.). Diese scheinbar zufällige Entscheidung erwies sich jedoch bald als wegweisend für Schlicks weitere intellektuelle Entwicklung. Er machte nämlich die Bekanntschaft mit dem Psychologen und Philosophen Gustav Störring, der zu jener Zeit an der Universität Zürich lehrte. Nach seiner Promotion und einem kurzen Ausflug in die Experimentalphysik widmete sich Schlick nämlich zunächst ethischen und ästhetischen Studien. Ende 1907 publizierte er eine größere Arbeit zur Ethik: Lebensweisheit. Versuch einer Glückseligkeitslehre und Mitte 1908 reichte er im Archiv für die gesamte Psychologie einen Aufsatz mit dem Titel „ Das Grundproblem der Ästhetik in entwicklungsgeschichtlicher Beleuchtung “ zur Veröffentlichung ein (ebd., S. 54). Er plante auch ein größeres Werk mit dem Titel „ Der neue Epikur “ zu verfassen, das offenbar als Fortsetzung der Lebensweisheit gedacht war. Ein Mitschüler aus dem Gymnasium ermunterte Schlick, sich so schnell als möglich zu habilitieren, und in der Tat ersuchte dieser am 22. 6. 1909 die Philosophische Fakultät der (damaligen) Hochschule Zürich um die Erteilung der Venia Legendi für „ Die Geschichte der Philosophie und die systematischen philosophischen Fächer (Logik, Erkenntnistheorie, Ethik etc.) “ (ebd., S. 55). Bemerkenswert an dieser Aufzählung ist, dass die Physik, sein eigentliches Promotionsfach, nicht einmal erwähnt wird. Was ist geschehen? Einerseits kann man in dieser tiefgreifenden Verschiebung von Schlicks Lebensinteressen den Einfluss der Bekanntschaft mit Störring vermuten. Störring beschäftigte sich zu jener Zeit mit den psychologischen Grundlagen der Erkenntnistheorie (Wendel und Engler 2009, S. 10) und kam u. a. zu der Einsicht, dass es unberechtigt ist, zu verlangen, als wahr nur solche Aussagen zu akzeptieren, die verifiziert worden sind, da Verifikation bereits Deduktionsprozesse beinhalte, die ihrerseits begründungsbedürftig seien (ebd.). Die Ergebnisse von Störrings psychologischen Experimenten machten auf Schlick einen so tiefen Eindruck, dass er sich vornahm, eine größere Arbeit über den Wahrheitsbegriff zu verfassen. Später resultierte daraus die Schrift „ Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik “ , mit der sich Schlick nicht in Zürich, sondern 1911 in Rostock habilitierte (in Zürich ergaben sich hinsichtlich seines Vorhaben Schwierigkeiten: da er Absolvent eines Realgymnasiums war und keine Griechischkenntnisse hatte, wurde sein Gesuch abgelehnt, wobei möglicherweise die geringe Zahl gedruckter Werke, die er vorzuweisen hatte, mitentscheidend war). Die andere Motivationslinie dieser existenziellen Umstellung kann man in seiner biographischen Entwicklung erblicken. Schlick berichtet, dass er einerseits bereits im Jugendalter ein tiefes Interesse für die Philosophie hatte, andererseits aber auch von der Nichtigkeit der Metaphysik überzeugt war und ein tiefes Misstrauen gegen jede reine Spekulation hegte (Wendel und Engler 2009 a, S. 58). Diese Abneigung gegen die metaphysische Spekulation war so tief, dass Schlick keinen Augenblick daran dachte, die Philosophie zum Hauptgegenstand des Universitätsstu- 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 67 diums zu machen. Wie wir bereits gesehen haben, 54 sehnte er sich nach „ vollkommen sicheren, dem Streit der Meinungen entrückten Wahrheiten “ , nach „ exakter Wirklichkeitserkenntnis “ - eine Sehnsucht, die sich aus seiner Sicht nur durch das Studium der mathematischen Naturwissenschaft befriedigen ließ (ebd.). Das Paradigma einer solchen Naturwissenschaft war für ihn die Physik, deshalb die Wahl seines ersten Studiums. Er wandte sich der Physik nicht um der Sammlung physikalischer Fakten willen zu, sondern „ aus philosophischem Bedürfnis und in philosophischem Geiste “ (ebd., S. 59). Was ihn interessierte, war von Anfang an nicht bloß die Naturerkenntnis, sondern immer auch deren Verhältnis zu allgemeineren, letztendlich philosophischen Fragen. Bereits während seines Studiums der Physik in Berlin hörte er „ mit Genuss und Gewinn “ Wilhelm Diltheys Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie und in Zürich begann er sich neben seinen psychologischen Studien unter Störring mit Husserls Logischen Untersuchungen (die auch in Störrings Seminar behandelt wurden) auseinanderzusetzen, wie auch mit Fragen der Logik und der Erkenntnistheorie bei Heinrich Rickert und Wilhelm Wundt sowie mit Leonard Nelsons Behandlung des Begründungsproblem in der Erkenntnistheorie (ebd., S. 63). Es erwachte bei ihm ein lebhaftes Interesse für Logik, mit der er sich früher wenig beschäftigt hatte (ebd., S. 64) Gleichzeitig begann er sich mit der Frage des Zusammenhanges von Wahrheit und Erkenntnis auseinanderzusetzen, was schließlich in der Schrift Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik kulminierte. Schlick zog von Zürich zu seinen Eltern nach Berlin um; von dort nahm er Kontakt mit dem an der Universität Rostock lehrenden Philosophieprofessor Franz Erhardt auf, dessen Hauptinteresse im Bereich der Erkenntnistheorie lag (ebd., S. 67; seine Erkenntnistheorie ist 1894 erschienen (Wendel und Engler 2009 b, S. 853), legte ihm brieflich seine philosophischen Auffassungen dar und bekundete seine Absicht, sich in Rostock zu habilitieren (Wendel und Engler 2009 a, S. 66) (Rostock war möglicherweise Schlicks Wahl, weil dort die Bedingungen in puncto Griechischkenntnissen und die „ orthodoxe “ Laufbahn lockerer waren). Ermuntert durch Erhardts positive Reaktion übersiedelte Schlick mit seiner Familie nach Rostock und reichte dort 1911 den Antrag auf Habilitation ein (ebd., S. 67). Im Habilitationskolloquium, das im Mai 1911 stattfand, referierte er seine Schrift „ Über die Möglichkeit der Erkenntnistheorie “ (ebd.), in der er ausführlich auf das Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaften eingegangen war. Schlick sah die Einzelwissenschaften in einem hierarchischen Zusammenhang stehend (ebd.), meinte aber, dass sie alle nur durch die Philosophie verstanden werden können. Er sah zwei Hauptfragen, deren Beantwortung sich die Erkenntnistheorie widmen soll: „ [D]ie erstere hat es mit der Entstehung der Erkenntnis zu tun, die letztere aber ist die eigentliche Kernfrage unserer 54 S. oben, „ Kurzer Abriss der Geschichte der Wissenschaft “ 68 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Wissenschaft. Sie lautet: Inwieweit kommt unserer Erkenntnis objective Gültigkeit zu “ (ebd., S. 68). Schlick hat das Habilitationskolloquium offensichtlich zur Zufriedenheit des Rates der Philosophischen Fakultät bewältigt; am 29. 6. 1911 hielt er seine Antrittsvorlesung zum Thema „ Die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart “ . Er beschrieb sie als die der Koordination und Integration des Wissens. Philosophie stehe in gewissem Sinne über den einzelnen Wissenschaften, umfasse sie, sei ein „ Streben nach geistiger Vollendung im Ganzen, durch das Mittel der intellectuellen Vervollkommnung “ (ebd.). Was die Erkenntnistheorie der Gegenwart betraf, sah er noch großen Klärungsbedarf: Freilich herrscht doch noch eine große Gährung in den erkenntnistheoretischen Bewegungen der Gegenwart, und über gewisse Fragen wird (äußerst) lebhaft gestritten; diese widerstrebenden Meinungen zu vereinen und die unhaltbaren auszuschalten, ist eine der dringendsten Aufgaben der Philosophie der Gegenwart, eine Aufgabe, von der wir, wie ich glaube, mit Grund hoffen dürfen, dass sie in nicht zu ferner Zeit ihrer Lösung ein gutes Stück näher gebracht werden wird. (Zitiert nach ebd., S. 68f.) Es ist offensichtlich, dass dieser Satz die Intention erkennen lässt, an einer „ allgemeinen Erkenntnistheorie “ zu arbeiten. Bezeichnenderweise ist Schlicks erste Vorlesung an der Rostocker Universität dem Thema „ Grundzüge der Erkenntnistheorie und Logik “ gewidmet. Ihre Struktur entsprach bereits, wie wir bald genauer sehen werden, der Dreiteilung der AE: 55 Schlick behandelt in ihr 1) das Wesen des Erkennens; 2) Denkprobleme; und 3) Wirklichkeitsprobleme. Das ausgearbeitete Manuskript der Vorlesung deckt sich zum Teil fast wörtlich mit dem Text der ersten Auflage der Allgemeinen Erkenntnislehre (ebd., S. 69). Erwähnenswert ist noch, dass Schlick 1913 einen Aufsatz „ Gibt es intuitive Erkenntnis? “ veröffentlichte (ebd., S. 69), in dem er auf die Auffassungen von Henri Bergson, Hermann Graf Keyserling, Rudolf Eucken, Edmund Husserl und Heinrich Rickert einging und zu dem Schluss gelangte, dass bei dieser (aus seiner Sicht vermeintlichen) Form der Erkenntnis das Zentrale, nämlich die Objektivität der Erkenntnis, gänzlich verloren gehe. Er sah in der so verstandenen Intuition „ gerade das Gegenteil von Erkenntnis “ , weil in „ der reinen Intuition, der unverarbeiteten Anschauung, [. . .] alles schlechthin individuell [ist] “ (ebd., S. 71). Erkennen sei nicht das Einswerden mit dem Gegenstand, wie es die Mystiker anstreben, es sei auch nicht das Anschauen, da die Gegenstände in der Anschauung gegeben, aber nicht begriffen würden, sei keine auf Vertrautheit beruhende Kenntnis, welche die Anschauung liefere. Wer erkennen will, der „ muss in die Sphäre des Allgemeinen aufsteigen, wo er die Begriffe findet, deren er bedarf, um das Individuelle zu ordnen und zu bezeichnen “ (AE, S. 486). 55 Im Weiteren AE. S. Kürzelverzeichnis. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 69 Erkennen sei also nicht Intuition, sondern bilde fast einen Gegenpol zu ihr: Je mehr man erkennt, um so höher erhebt man sich über die Intuition; je mehr man sich im Schauen verliert, desto weniger Erkenntnis genießt man. [Es kann] keine schärfere Verurteilung der Metaphysik als Wissenschaft geben als die Behauptung, die Intuition sei ihre Methode. (Zitiert nach Wendel und Engler 2009 a, S. 71) Die weiteren Stationen von Schlicks Leben sind verhältnismäßig gut bekannt und brauchen hier nur kursorisch erwähnt werden. 1922 wurde er auf den seit Jahren vakanten Lehrstuhl für „ Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften “ an der Universität Wien berufen, auf den Lehrstuhl mithin, den vor ihm Ernst Mach und Ludwig Boltzmann innegehabt hatten (Mittelstraß 2004 c, S. 707). Dort rief er 1924 eine interdisziplinäre Diskussionsrunde ins Leben ( „ Schlick-Zirkel “ ), aus der 1928 der „ Verein Ernst Macht “ hervorging, und aus diesem wiederum dann 1929 mit dem „ Wiener Kreis “ gleichsam die Wiege des logischen Positivismus (ebd.). 1929 hatte Schlick eine Gastprofessur an der Universität Stanford inne und 1931/ 32 eine an der Universität Berkeley; ebenfalls im Zeitraum von 1929 bis 1932 stand Schlick in regelmäßigem Kontakt mit Ludwig Wittgenstein, der ihn stark beeinflusste (ebd.). 1936 wurde Schlick von seinem ehemaligen Studenten Hans Nelböck, der 1931 bei ihm promoviert hatte, auf den Treppen der Wiener Universität erschossen. Nelböck begründete seine Tat unter anderem damit, dass Schlicks antimetaphysische Philosophie seine moralischen Überzeugungen erschüttert habe, wodurch er seinen lebensweltlichen Rück- und Zusammenhalt verlor (Stadler 1997 a, S. 920). Allgemeine Erkenntnislehre: Hauptgedanken Die oben knapp zusammengefassten Ansichten Schlicks sind in sein Hauptwerk, die Allgemeine Erkenntnislehre eingegangen, das den Fokus und die Grundlage der Beratungen des Wiener Kreises bildete. Die AE, oder wie es sich später herausstellen sollte, die erste Auflage dieses Werkes, wurde vermutlich 1916 fertiggeschrieben (Wendel und Engler 2009 a, S. 75), aber erst Anfang 1919 (datiert 1918; ebd., S. 83), teilweise aufgrund der Kriegswirren, aber auch aufgrund von Schlicks militärischen Dienstpflichten (ebd., S. 76 - 83) vom Verlag Julius Springer in Berlin veröffentlicht. Springer hatte im Übrigen geplant, das Buch als ersten Band einer von der Redaktion der Zeitschrift „ Die Naturwissenschaften “ herausgegeben Monographienreihe erscheinen zu lassen, was an sich schon von seiner Wichtigkeit zeugt (ebd., S. 77). Wie bereits angedeutet, verfolgte Schlick mit seiner Allgemeinen Erkenntnislehre das Ziel, Wege aufzuzeigen, auf denen sich sichere, objektive Erkenntnis erlangen ließe. Dazu müsse man, so Schlick, zunächst den Erkenntnisprozess untersuchen, um festzustellen, ob und inwiefern dieses Ziel überhaupt erreicht werden kann. Dieser Aufgabe ist der erste Teil des Werkes gewidmet, auf den ich das Hauptaugenmerk legen werde. Der zweite Teil gilt dann den „ Denkproblemen “ . In ihm geht Schlick der Frage nach, 70 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus inwiefern es überhaupt möglich ist, durch urteilendes Denken zu Erkenntnissen zu gelangen. Im dritten und umfangreichsten Teil beschäftigt sich Schlick schließlich mit den „ Wirklichkeitsproblemen “ . Hierin erörtert er, inwiefern synthetische Urteile objektive Gültigkeit beanspruchen können und zumindest wahrscheinliche Aussagen über die Wirklichkeit ermöglichen. Das Werk ordnet sich in den Kanon der erkenntnistheoretischen Abhandlungen ein, die zu Beginn des 20. Jahrhundert entstanden sind. 56 Es ist lohnenswert, sich auf den gedanklichen Aufbau dieses Werkes in einiger Ausführlichkeit einzulassen, da dieser ungewöhnlich systematisch und klar ist und überdies bereits die Grundlinien des später entwickelten logischen Positivismus beinhaltet. Ich werde zunächst Schlicks Hauptgedanken zusammenfassen, wobei ich nahezu ganz auf Kommentare verzichte, um deren Entwicklung gemäß der Intention des Verfassers, ohne störende Einwände darstellen zu können. Erst im zweiten Schritt werde ich den Versuch unternehmen, einige seiner Gedanken kritisch zu beleuchten. Erster Teil. Das Wesen der Erkenntnis § 1 - 3 Schlick geht es mit seinem Werk nicht um eine psychologische Analyse des Erkenntnisprozesses, sondern um die Darlegung allgemeiner Gründe, durch welche gültige Erkenntnis überhaupt möglich ist. Der Psychologie komme die Aufgabe zu, den Entstehungsvorgang der Erkenntnis zu untersuchen, während Erkenntnistheorie sich im Unterschied dazu mit dem Geltungsproblem der Erkenntnis beschäftige: [Sie] fragt nach den allgemeinen Gründen, durch welche gültiges Erkennen überhaupt möglich ist, und diese Frage ist offenbar prinzipiell verschieden von derjenigen nach der Natur der psychischen Prozesse, in denen irgendwelche Erkenntnisse sich in diesem oder jenem Individuum zeitlich entwickeln. (AE, S. 137) 57 Nach den später im Wiener Kreis vertretenen Überzeugungen ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass sich Schlick zufolge alltägliches Erkennen und wissenschaftliches Erkennen in ihrem Grundcharakter nicht wesentlich voneinander unterscheiden: „ [D]as Wesentliche beim Erkennen [ist] hier wie dort ganz dasselbe [. . .]. Nur der erhabene Gegenstand und Zweck des Erkenntnisprozesses in der Forschung und Philosophie verleihen ihm hier eine höhere Dignität “ (AE, S. 153). Zentral für Schlicks Auffassung vom Erkenntnisprozess ist der Gedanke, dass jedes Erkennen immer ein Zurückführen des zu Erkennenden auf etwas bereits Erkanntes, ein Wiederentdecken des Gleichen im Verschiedenen ist (AE, 56 Für deren Liste vgl. Wendel und Engler 2009, S. 12 57 Man sieht hier den Vorboten der späteren Unterscheidung zwischen dem Entdeckungs- und dem Begründungszusammenhang. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 71 S. 152, 157). Ob man ein Tier als den eigenen Hund Tyras erkennt (AE, S. 150) oder das Licht als eine Form der elektromagnetischen Schwingung (AE, S. 156) - Erkennen sei stets Rückführung auf das bereits Bekannte: „ Das Resultat der Analysen ist immer, dass Erkennen in der Wissenschaft, wie schon im täglichen Leben, ein Wiederfinden des einen im andern bedeutet “ (AE, S. 158). Während jedoch beim richtigen Erkennen im Alltag der Erkenntnisprozess im Bezeichnen des zu Erkennenden mit dem richtigen Namen kulminiere (AE, S. 150), kulminiere es in den empirischen Wissenschaften, wo das Gemeinsame der verschiedenen Phänomene in einem gemeinsamen Gesetz bestehe, in der Subsumierung derselben unter ein Gesetz (AE, S. 157). Aus dieser Beobachtung resultieren für Schlick „ gewichtige Schlüsse “ über das Ziel und die Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis: wissenschaftliche Erkenntnis erweise sich im Grunde immer als eine „ Zurückführung des einen auf das andere “ (AE, S. 160). Daraus ergeben sich für Schlick zwei zentrale Fragen: 1) Auf welche Momente kann das zu Erkennende möglicherweise zurückgeführt werden? ; 2) Auf welchem Wege muss diese Reduktion erfolgen? (AE, S. 161). Was die erste Frage betrifft, weist Schlick darauf hin, dass sich die früher vorherrschende Meinung, alles müsse sich als mechanische, als Bewegungsvorgänge erkennen lassen, als falsch erwiesen habe und dass die Physik (seiner wie unserer Zeit) „ zur modernen Quantenhypothese und zur Relativitätstheorie “ gelangte (AE, S. 161). 58 Damit gibt er zu verstehen, dass die letzten Prinzipien der wissenschaftlichen Erklärung noch offen sind. Über das letzte Ziel des Erkennens hingegen scheint bereits auf diesem „ frühen Punkte der Untersuchung “ (AE, S. 162) eine klare Aussage möglich: die höchste Erkenntnis sei diejenige, die mit einem Minimum erklärender und nicht weiter erklärungsfähiger Prinzipien auskomme (AE, S. 163). Dieses Minimum möglichst klein zu halten, ist die letzte Aufgabe des Erkennens (ebd.), wobei Schlick auch explizit feststellt, dass die Vorstellung, man könne alle Erkenntnisse auf ein „ letztes “ Prinzip zurückführen, „ eines Lächelns würdig “ ist (ebd.). Schlick meint ferner, dass nur eine solche Methode wirklich imstande ist, wissenschaftliche Erkenntnis im strengsten, vollgültigen Sinne zu vermitteln, die den beiden Bedingungen Genüge tue: 1) vollständige Bestimmung des Individuellen und 2) dessen Zurückführung auf das Allgemeinste, und dies sei die Methode der mathematischen Wissenschaften (AE, S. 166). § 4 Erkenntnis durch Vorstellungen In den nachfolgenden zwei Paragraphen diskutiert Schlick zwei mögliche Formen der Erkenntnis: Erkenntnis durch Vorstellungen und Erkenntnis durch Begriffe. Mit Blick auf die Erstere stellt er fest, dass sich aus seiner 58 Es ist wichtig, an dieser Stelle darauf aufmerksam zu machen, dass Schlick bereits 1915 einen wesentlichen Aufsatz zur philosophischen Bedeutung der Relativitätstheorie veröffentlicht hat. 72 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Bestimmung des Wesens des Erkenntnisaktes große Schwierigkeiten für diese Art des Erkennens ergeben. Denn wenn alles Erkennen ein Gleichsetzen dessen, was erkannt wird, mit dem, als was es erkannt wird, sei, müssen wir die Fähigkeit haben, die Vorstellungen (des zu Erkennenden und des bereits Bekannten) miteinander zu vergleichen, müssten die Vorstellungen scharf umrissenen Gebilde sein (AE, S. 168). Doch Erinnerungsvorstellungen - und mit solchen haben wir es im Erkenntnisakt zwangsläufig zu tun: schließlich ist, auch wenn wir eine gegenwärtige Wahrnehmung als etwas erkennen wollen, uns das bereits Bekannte lediglich als eine Erinnerungsvorstellung gegenwärtig - seien „ außerordentlich flüchtige und unscharfe, nebelgleich zerfließende Gebilde “ (AE, S. 169). Mehr noch: es ist wohl bekannt, dass jede Person uns in verschiedenen Situationen z. B. ganz unterschiedliche Antlitze darbietet und dennoch von uns mühelos als z. B. unser Freund Fritz Müller erkannt wird. Schlick erinnert ferner daran, dass bereits Berkeley realisierte, dass es überhaupt keine allgemeinen Vorstellungen gibt (AE, S. 175). Wenn wir einen Allgemeinbegriff denken, dann haben wir meist ein schwaches individuelles Bild eines Exemplars der gemeinten Gattung vor unserem „ geistigen Auge “ , das als Repräsentant der ganzen Gattung fungiert. Aus diesem psychologischen Tatbestand ergeben sich laut Schlick beträchtliche erkenntnistheoretische Schwierigkeiten. Denn wenn schon bei Individualvorstellungen Identifikation schwierig sei, wie könne sie dann vollzogen werden, wenn ein Individuum als zu einer bestimmten Klasse gehörig bestimmt werden soll? (AE, S. 176). Man müsste die Wahrnehmungsvorstellung mit der Vorstellung der ganzen Klasse vergleichen! Es ist jedoch unklar, wie dies konkret zu leisten wäre. Dennoch, aber ohne diese tiefen Schwierigkeiten gelöst zu haben, konstatiert Schlick, dass im täglichen Leben Wiedererkennen unproblematisch sei, dass das alltägliche Erkennen offensichtlich zustande komme und zwar mit einer Genauigkeit und Sicherheit, „ die für gewöhnliche Bedürfnisse unter allen Umständen ausreicht “ (AE, S. 171). Aus diesen Überlegungen geht jedoch unwiderleglich hervor, dass sich ein wissenschaftlich absolut brauchbarer, d. h. strenger, exakter Begriff des Erkennens auf diese Weise überhaupt nicht begründen lasse (AE, S. 177). Wissenschaftliches Erkennen verfährt in diesem Punkt grundsätzlich anders als das alltägliche Erkennen, indem es an die Stelle der Vorstellungen Begriffe setze. § 5 Das Erkennen durch Begriffe Am Anfang dieses Abschnittes stellt Schlick die zentrale und schwierige Frage, was ein Begriff sei (AE, S. 178). Zu seiner Zeit war die Ansicht weit verbreitet, dass es sich bei einem Begriff um eine Vorstellung mit fest bestimmtem Inhalt handele (ebd). Schlick widerspricht dieser Auffassung: solche Gebilde gebe es in der psychologischen Wirklichkeit überhaupt nicht. Schlick zufolge sind Begriffe keine Vorstellungen, keine realen psychischen 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 73 Gebilde irgendwelcher Art, überhaupt nichts Wirkliches, sondern bloß etwas Gedachtes, „ das wir uns an Stelle der Vorstellungen mit fest bestimmtem Inhalt gesetzt denken. Wir schalten mit Begriffen so, als ob es Vorstellungen mit völlig genau umrissenen Eigenschaften wären, die sich stets mit absoluter Sicherheit wiedererkennen lassen “ (AE, S. 179). Diese „ genau umrissene Eigenschaften “ heißen Merkmale des Begriffes und werden durch die Definition des Begriffes festgelegt. Die Gesamtheit der Merkmale eines Begriffes wird sein Inhalt genannt, die Gesamtheit der Gegenstände, die ein Begriff bezeichnet sein Umfang. 59 Durch Definition will man absolute Konstanz und Bestimmtheit des Begriffs erreichen. Gemäß Schlick spielt der Begriff die Rolle eines Zeichens für die Gegenstände, die unter den Begriff „ fallen “ (AE, S. 180). Ein Begriff muss aber durch irgend etwas psychisch Reales vertreten werden: dieses Etwas ist nach Schlick eine Vorstellung oder ein Wort (AE, S. 181). Die Stellvertretung der Begriffe durch Vorstellungen stellt Schlick zufolge die ergiebigste Quelle von Irrtümern im Denken dar (AE, S. 183). Man müsse, um diese zu vermeiden, das Denken stets auf die Definitionen führen; Schlick hebt gesondert hervor, dass Bilder nicht die Bedeutung des Begriffs ausmachen (AE, S. 184). 60 Er resümiert seine Überlegung zu diesem Thema wie folgt: So sind also Begriffe nichts Wirkliches. Sie sind weder reale Gebilde im Bewusstsein des Denkenden, noch gar (wie es die Meinung des „ Realismus “ im Mittelalter war) irgend etwas Wirkliches an den realen Objekten, die durch sie bezeichnet werden. Es gibt streng genommen überhaupt keine Begriffe, wohl aber gibt es eine begriffliche Funktion, und diese kann je nach den Umständen durch Vorstellungen oder sonstige psychische Akte, oder auch durch Namen oder Schriftzeichen ausgeübt werden. (AE, S. 184f.) Überraschenderweise expliziert Schlick an dieser Stelle nicht, was genau er unter der „ begrifflichen Funktion “ versteht. Die Herausgeber der AE führen diese seine Feststellung auf die Ausführungen Cassirers in seiner Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff zurück. Cassirer schrieb dort: Aber je mehr der Begriff gleichsam von allem dinglichen Sein entleert wird, um so mehr tritt auf der andern Seite seine eigentümliche funktionale Leistung hervor. Die festen Eigenschaften [eines Gegenstandes] werden durch allgemeine Regeln ersetzt, die uns eine Gesamtheit möglicher Bestimmungen mit einem Blick überschauen lassen. (Zitiert nach AE, S. 184) Nach Schlick ist demnach die begriffliche Funktion etwas Wirkliches, nicht aber der Begriff selbst (AE, S. 187). Die erkenntnistheoretische Bedeutung der 59 Schlick betont an dieser Stelle, dass er den Begriff „ Gegenstand “ im „ allerweitesten Sinne “ gebraucht. „ Gegenstand kann schlechthin alles sein, an das man nur denken und das man nur bezeichnen kann, also nicht bloß ‚ Dinge ‘ , sondern ebensowohl etwa Vorgänge, Beziehungen, beliebige Fiktionen, also auch Begriffe [. . .]. “ (AE, S. 181) 60 Er beruft sich in diesem Punkt auf Husserls Logische Untersuchungen (vgl. Husserl 1992, Bd. II, S. 61ff.). 74 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus begrifflichen Funktion bestehe im Bezeichnen bzw. Zuordnen. „ Wenn man von irgendwelchen Gegenständen sagt, sie fallen unter den und den Begriff, so heißt das nur: man hat ihnen diesen Begriff zugeordnet “ (AE, S. 187). Diese Haltung führt jedoch zu einer gewissen Schwierigkeit, die Schlick mit seinem naturwissenschaftlichen Hintergrund konfrontieren muss: In der Mathematik hat man es nur mit Begriffen zu tun. Es scheint also, man könne das Sein der Begriffe nicht leugnen, ohne zu absurden Behauptungen zu kommen, wie etwa Lorenz Oken, 61 der in seinem Lehrbuch der Naturphilosophie feststellte: „ Die Mathematik ist auf das Nichts begründet und entspringt mithin aus dem Nichts “ 62 (AE, S. 189). Deshalb, so Schlick, ziehen es einige vor zu sagen: es gibt Begriffe, aber sie haben kein reales, sondern ein ideales Sein. Gegen diese Ausdrucksweise lasse sich ohne Zweifel nichts einwenden, meint er weiter, wenn sie rein terminologische Bedeutung behalte. Sie führe jedoch leicht zu unklaren, irrigen Anschauungen, die in die Richtung der platonischen Metaphysik weisen. In dem Sinne, dass man der Welt des Wirklichen eine von ihr unabhängige Welt des idealen Seins gegenüberstellt, ein Reich der Ideen, Werte, Wahrheiten, des Geltenden, die unzeitliche Welt der Begriffe (AE, S. 190). Die Annahme einer solchen Welt führe jedoch zu zahlreichen Problemen: zu der Frage nach dem Verhältnis der beiden Reiche (der Welt des Wirklichen und der Welt des idealen Seins) zueinander, nach den Beziehungen des Idealen zum Realen mit zahlreichen Scheinproblemen, welche die philosophische Spekulation belasten. [. . .] So wird das aufzuklärende Verhältnis in Wahrheit immer unklarer, zumal man den letzten Schritt zur völligen Hypostasierung der Begriffe und den Übergang zur echten platonischen Ideenlehre nicht gern vollziehen möchte [. . .]. Allen diesen Wirrnissen entgeht man, wenn man sich von vornherein klar macht, dass das ideale „ Sein “ [. . .] mit dem Sein der Wirklichkeit in keiner Weise verglichen oder ihm gegenübergestellt werden kann; es ist ihm nicht verwandt, vermag zu ihm in kein irgendwie geartetes Verhältnis zu treten. Es hat vor allem keinen Sinn, dem Reiche der Ideen Unabhängigkeit von der Welt des Wirklichen zuzuschreiben [. . .]. (AE, S. 190) Die Natur der Begriffe bestehe also darin, Zeichen zu sein, folglich setzen sie unter allen Umständen jemanden voraus, der zu bezeichnen wünscht (AE, S. 191). Schlick warnt ferner, dass auch nachdem der mittelalterliche Begriffsrealismus längst überwunden sei, immer noch viele Irrtümer begangen werden können, indem man das Verhältnis von Begriff und Gegenstand anders denn als bloßes Bezeichnen vorstelle. Insbesondere greift er die Lehre 61 1779 - 1851, ein deutscher Naturforscher, Naturphilosoph und vergleichender Anatom. Oken gilt als bedeutendster Vertreter einer romantisch-spekulativen Naturphilosophie schellingscher Prägung. Mit seiner dreizehnbändigen Allgemeinen Naturgeschichte für alle Stände (1833 - 1841) trug er wesentlich zur wachsenden Popularisierung der Naturwissenschaften bei. Sein Lehrbuch der Naturphilosophie ist zwischen 1813 und 1826 erschienen. 62 Oken 2007, § 32. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 75 von der Abstraktion (Begriff entstehe aus den Dingen durch Abstraktion) an (AE, S. 191). Reale Dinge und Vorstellungen können nicht aus Begriffen aufgebaut werden, Begriffe können nicht aus Dingen/ Vorstellungen durch Weglassung bestimmter Eigenschaften entstehen. Schlick warnt vor jeder möglichen Verdinglichung der Begriffe: Begriffe seien nichts als Gedankendinge, die eine exakte Bezeichnung der Gegenstände zu Erkenntniszwecken ermöglichen sollen, wie ein fiktives Gradnetz, das die Erde umspanne und die genaue Bezeichnung eines Ortes ihrer Oberfläche gestatte (AE, S. 193). § 6 Grenzen des Definierens Im nächsten Abschnitt diskutiert Schlick die Frage, ob es möglich sei, eine absolut zuverlässige Definition eines Begriffes zu geben. Ist das Stück Metall, das ich in der Hand halte, Silber? Um diese Frage beantworten zu können, müsse ich, stellt Schlick fest, den Begriff des Silbers zu Hilfe nehmen, der die Eigenschaften dieses Stoffes definiere, wobei diese nicht nur die direkt sinnlich anschaubaren umfassten, wie z. B. die Farbe, sondern auch seine chemischen bzw. physikalischen, wie etwa Gewicht, Atomgewicht, elektrische Leitfähigkeit usw. (AE, S. 195f.). Diese Feststellung führt jedoch sofort zu einer prinzipiellen Schwierigkeit. Zu jeder sinnlichen Beobachtung (oder auch der Skalenablesung usw.) brauche es stets die Wiedererkennung eines Wahrnehmungsbildes, was uns zu unserem anfänglichen Problem zurückführe: Wiedererkennen anschaulicher Gebilde, Vergleichen von Wahrnehmungs- und Erinnerungsvorstellungen bleibe auch hier erforderlich, diese aber seien mit einer gewissen Unschärfe behaftet (AE, S. 197). Auch die Merkmale einer Definition müssen letztlich immer anschaulicher Natur sein, aus dem einfachen Grunde, weil alles Gegebene uns schließlich durch die Anschauung gegeben sei (AE, S. 198). Schlick konstatiert, dass diese Schwierigkeit für die Praxis überwindbar ist, für die Erkenntnistheorie jedoch bestehen bleibt. Diese müsse nämlich fragen, ob sich die Schwierigkeit ganz beseitigen lasse. Denn nur wenn das der Fall ist, könne es absolut sichere Erkenntnis geben (AE, S. 199). Schlick diskutiert dann die Kette der Rückführungen der Merkmale einer Definition. Bestimmte, in einer Definition gebrauchte Merkmale können auf andere, ursprünglichere (bereits bekannte) zurückgeführt werden, dabei allerdings drohe die Gefahr eines unendlichen Regressus (AE, S. 199). Deshalb stellt Schlick fest, dass die Bedeutung der letzten Merkmale nicht mehr definiert, sondern demonstriert werden (können) müsse. „ Was ‚ blau ‘ ist oder was ‚ Lust ‘ , kann man nicht durch Definition kennen lernen, sondern nur bei Gelegenheit des Anschauens von etwas Blauem oder des Erlebens von Lust “ (AE, S. 200). Weil aber die Wahrnehmung eines solchen unmittelbar Gegebenen stets mit Unsicherheit behaftet sei, scheint der Schluss zwingend, dass die Gewinnung absolut exakter Begriffe doch unmöglich sei. Schlick stellt an dieser Stelle die Frage: Müsse man diesem Skeptizismus recht geben? (AE, S. 200). Und fährt fort, bis 76 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus dato habe sich die Logik mit diesem Ergebnis begnügt: man meinte, dass es nicht nur keine Definition der letzten Begriffe geben könne, sondern dass diese auch keiner bedürften. Alles definieren zu wollen erschien als überflüssige Spitzfindigkeit, welche den Bau der Wissenschaft störe, statt ihn zu fördern. Der Inhalt der einfachsten Begriffe werde in der Anschauung aufgezeigt. Das könne bedeuten, dass 1) die Anschauung den Begriffen vollkommen klaren Inhalt zu geben vermag (AE, S. 202); 2) wir nirgends einer absolut exakten, prinzipiell vollkommenen Erkenntnis bedürfen (AE, S. 203). Schlick erinnert daran, dass die zweite Option nur von wenigen Philosophen vertreten wurde. Die prominentesten Beispiele dafür sind Gorgias und John Stuart Mill. Nach ihnen dürfte für keine Erkenntnis absolute Gewissheit in Anspruch genommen werden, auch nicht für die sogenannten Begriffswahrheiten (AE, S. 203). Aus diesen Überlegungen folgt für Schlick, dass die Sicherheit und Strenge von Erkenntnissen wenn, dann nur auf dem Wege zu retten sei, dass die Erlebnisse nicht immer undeutlich sind, dass in ihnen etwas Konstantes, Bestimmtes vorhanden ist. Da aber an der Flüchtigkeit des jeweils Gegebenen nicht zu zweifeln sei, könne jenes Konstante nur das Gesetz sein, das es beherrscht und ihm seine Form gibt. Hier könne man im heraklitischen Fluss der Erlebnisse ein festes Ufer gewinnen (AE, S. 204). Es scheint aber, dass ein prinzipieller Zweifel bestehen müsse, stellt sich doch an dieser Stelle die Frage, was wir von solchen strengen Regeln wissen können? Schließlich komme das Wissen nur durch flüchtige Erlebnisse zustande. Es scheint, dass wir uns im Kreis drehen. An diesem Punkt eröffnet Schlick die Aussicht auf einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma: Ist es tatsächlich so, dass der Inhalt aller Begriffe nur im Anschaulichen gefunden werde? Diese Frage gelte es zu untersuchen. Wenn die Antwort negativ ausfallen könne, dann und nur dann sei exaktes Denken und somit exaktes Erkennen möglich (AE, S. 204). Den Ausweg aus der Krise findet Schlick in der Mathematik und konkret in der dort erfundenen Methode, die Grundbegriffe durch implizite Definitionen zu bestimmen. In der Mathematik könne und solle bei jedem ihrer Schritte absolute Sicherheit gewährleistet sein. Die alten Mathematiker realisierten bald, dass die primitiven Begriffe (Punkt, Gerade) eigentlich nicht definierbar sind, weil sie sich nicht in noch einfachere Begriffe auflösen lassen. Sie beruhigten sich aber damit, schreibt Schlick, dass die Bedeutung dieser Begriffe in der Anschauung mit großer Deutlichkeit gegeben war (AE, S. 205). Der neueren Mathematik aber, fährt er fort, genügte der Hinweis auf die Anschauung nicht. Die Beweisführung gewann an Strenge; Wendungen wie „ Aus der Zeichnung sieht man . . . “ usw. waren verpönt. Es schien jetzt unerträglich, dass die Grundelemente der Geometrie, die unbeweisbaren Axiome, ihre Gültigkeit nur der Anschauung verdanken sollten (AE, S. 206). Um die Unsicherheit zu vermeiden, beschritten die Mathematiker einen Weg, der, wie Schlick betont, für die Erkenntnistheorie von höchster Bedeutung sei (AE, S. 207). Hilbert habe es unternommen, die Geometrie auf einem Fun- 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 77 dament aufzubauen, das der Anschauung nicht bedürfe. Ob seine Lösung vollkommen oder nicht sei, interessiere hier nicht, betont Schlick, worauf es ankomme, sei das Prinzip, das er verwendete (AE, S. 208). Sein Prinzip war von überraschender Einfachheit: Die Grundbegriffe sollen dadurch definiert sein, dass sie den Axiomen genügen. „ Das ist die sogenannte Definition durch Axiome, oder Definition durch Postulate, oder die implizite Definition “ , schreibt Schlick (AE, S. 208). Was könne eine solche Definition in der Wissenschaft leisten, fragt er weiter. Alles Definieren in der Wissenschaft habe den Zweck, Begriffe als scharf bestimmte Zeichen zu bilden, mit denen sich die Erkenntnisarbeit völlig sicher verrichten lasse. Die Definition baute den Begriff aus allen den Merkmalen auf, die zu dieser Arbeit gebraucht werden. Die wissenschaftliche Denkarbeit bestehe aber im Schließen, stellt Schlick weiter fest (AE, S. 209). Für die strenge, Schluss an Schluss reihende Wissenschaft sei folglich der Begriff in der Tat nichts anderes als dasjenige, wovon gewisse Urteile ausgesagt werden können. Dadurch ist er auch zu definieren. Die Hilbert ’ sche Geometrie beginnt mit einem System von Sätzen, in denen Wörter vorkommen, die zunächst keinen Sinn und Inhalt haben, sie erhalten diesen erst durch das Axiomensystem. Ihr ganzes Wesen bestehe darin, Träger der durch dieses System festgelegten Beziehungen zu sein. Den Anfänger falle es schwer, den Gedanken eines Begriffs zu fassen, der durch ein System von Postulaten definiert und ohne jeden eigentlichen „ Inhalt “ sei, Schlick zufolge gebe es jedoch keine prinzipielle Schwierigkeit mit einer solchen Auffassung, weil Begriffe ohnehin nichts Reales seien (AE, S. 210). Schlick nennt auch einige konkrete Beispiele einer solchen Vorgehensweise, die, wie er vermerkt, in reinster Form „ naturgemäß “ die Mathematik liefert (AE, S. 211). Wenn wir etwa die Sätze der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie nehmen und überall den Begriff „ Ebene “ durch die Kugelflächen ersetzen, unter dem Wort „ Punkt “ einen Punkt, unter dem Wort „ Gerade “ aber die größten Kreise auf der Kugelfläche verstehen, und in analoger Weise das Wort „ parallel “ umdeuten, so werden unter den Gebilden aus Kugeln, größten Kreisen usw. genau die gleichen Relationen gelten wie zwischen Ebenen, Geraden usw. im gewöhnlichen Raum. „ Wir haben also ein Beispiel von Gebilden, die ein anderes anschauliches Aussehen haben als die Geraden und Ebenen der gewöhnlichen Geometrie, aber doch in denselben Beziehungen zueinander stehen, denselben Axiome gehorchen “ , schreibt Schlick (AE, S. 211). So kann man zeigen, dass die Sätze der Riemann ’ schen Geometrie der Ebene identisch mit denen der Euklidischen sphärischen Geometrie sind, wenn unter Geraden der ersteren die größten Kreise der letzteren verstanden werden. Auch die theoretische Physik biete Beispiele für dieses Prinzip, fährt Schlick fort, wesensverschiedene Erscheinungen gehorchen denselben formalen Gesetzen. 63 Den einfachsten, allen geläufigen Fall der 63 Schlick nennt keine konkreten Beispiele an dieser Stelle, möglicherweise weil sie ihm sehr geläufig waren, man kann jedoch z. B. an ein „ Ideales Gas “ -Gesetz denken, hinter 78 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Situation, in der die Beziehungen zwischen Begriffen von ihrem anschaulichen Gehalt völlig losgelöst seien, bilden für Schlick die aristotelischen Schlussfiguren (z. B. Wenn „ M ist P “ und „ S ist M “ , dann „ S ist P “ ), die völlig unabhängig davon gelten, was man unter M, P, und S versteht (AE, S. 212). Der streng deduktive Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie, wie in der Mathematik, habe also mit dem anschaulichen Bilde nichts zu tun, konstatiert er weiter. Alleine Axiome und implizite Definitionen seien hier von Bedeutung. Anschauliche Vorstellungen dienen bloß als illustrierende Beispiele (AE, S. 213). An dieser Stelle nun vollzieht Schlick einen zentral wichtigen Schritt für seine Auffassung vom Charakter der wissenschaftlichen Erkenntnis im Allgemeinen, nicht begrenzt auf die „ formalen “ Wissenschaften wie Mathematik oder Physik. Er schreibt: Was in den besprochenen Fällen an die Stelle der gewöhnlichen Bedeutung der Grundbegriffe trat, waren freilich immer noch räumliche Gebilde, die uns aus der gewöhnlichen Geometrie bekannt waren; prinzipiell steht aber nichts im Wege, uns darunter auch ganz andere, unräumliche Gegenstände zu denken, etwa Gefühle oder Töne. Oder auch ganz unanschauliche Dinge: bedeutet doch z. B. in der analytischen Geometrie des Wort „ Punkt “ streng genommen nichts anderes als den Inbegriff dreier Zahlen. Denn dass diesen Zahlen die anschauliche Bedeutung von räumlichen Koordinaten beigelegt werden kann, ist für ihre Beziehungen zueinander und für die Rechnungen mit ihnen ganz gleichgültig. 64 (AE, S. 213) Ein mit Hilfe der impliziten Definitionen geschaffenes Gefüge von Wahrheiten ruhe nirgends auf dem Grunde der Wirklichkeit, sondern schwebe gleichsam frei, wie das Sonnensystem, schreibt Schlick (AE, S. 214). Die Bedeutung eines Begriffs sei nichts anderes als eine bestimmte Konstellation einer Anzahl der anderen Begriffe (AE, S. 215). Der Aufbau jeder strengen deduktiven Wissenschaft sei ein bloßes Spiel mit Symbolen. Im Augenblick der Übertragung der begrifflichen Relation auf anschauliche Beispiele sei die exakte Strenge nicht mehr gewährleistet. Erneut entsteht die Frage: Wenn uns wirkliche Gegenstände gegeben sind, wie können wir mit absoluter Sicherheit wissen, dass sie in genau diesen Beziehungen stehen, die in unseren Postulaten festgelegt sind? Kant meinte, schreibt Schlick, dass apodiktisch gewisse Urteile möglich seien, wir aber sind in diesem Glauben schwankend geworden (AE, S. 216). Umso wichtiger sei die Entdeckung der impliziten Definitionen: sie garantierten die vollkommene Bestimmtheit der Begriffe und damit die strenge Exaktheit des Denkens. Schlick betont allerdings, dass dieses Vorgehen einer radikalen Trennung des Begriffes von der Anschauung, des Denkens von der Wirklichkeit notwendig mache. Zwar beziehen wir dem sich die Vorstellung verbirgt, dass die Gasmoleküle sich in einer völlig mechanischen Weise, also wie kleine Kügelchen verhalten, oder an die Gleichsetzung des Lichtes mit der elektromagnetischen Strahlung. 64 Im Grunde entspricht dies der Kernidee von Carnaps Logischem Aufbau der Welt. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 79 die beiden Sphären aufeinander, sie aber scheinen gar nicht miteinander verbunden zu sein, die Brücken zwischen ihnen seien abgebrochen. Dieser hohe Preis müsse jedoch zumindest vorläufig gezahlt werden, stellt Schlick fest (ebd.). § 8 Das Wesen des Urteils Im nächsten Abschnitt seiner Allgemeinen Erkenntnislehre behandelt Schlick das Wesen des Urteils. Dies scheint ihm zwingend, um zur vollen Einsicht über das Wesen des Begriffs zu gelangen, weil Axiome, die in seinem Schema Begriffe (implizit) definieren, Urteile seien. 65 Da auf der anderen Seite in jedem Urteil Begriffe auftreten, betrachtet Schlick die beiden Kategorien als korrelativ zueinander (AE, S. 218). „ Begriffe sind zweifellos nur um der Urteile willen da “ (ebd.), stellt er ferner fest, denn wenn der Mensch Gegenstände durch Begriffe und Begriffe durch Wörter bezeichne, so nur zu dem Zweck, um über sie zu denken, d. h. aber, Urteile über sie zu fällen. Was also ist ein Urteil aus erkenntnistheoretischer Sicht? Es wurde bereits festgestellt, dass Begriffe Zeichen sind und dass Axiome, die - wie eben dargelegt - Urteile sind, Beziehungen zwischen Begriffen festlegen. Es scheine deshalb naheliegend, dass so, wie Begriffe Zeichen für die Gegenstände, Urteile Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegenständen sind (AE, S. 220). Zur Erhärtung dieser Vermutung betrachtet Schlick ein „ schlichtes “ Urteil: „ Der Schnee ist kalt “ 66 und kommt zu dem Schluss, dass dieses tatsächlich eine Beziehung zwischen dem Schnee (Subjekt) und der Kälte (Prädikat) bezeichnet, nämlich diejenige, die er die Beziehung der „ Zusammengehörigkeit “ nennt (AE, S. 221). Schlick folgert, dass das Urteil ein Zusammenbestehen (räumlich und zeitlich) der Merkmale bezeichnet, und nennt das Bestehen einer Beziehung eine Tatsache. Urteile sind demnach Zeichen für Tatsachen (AE, S. 222), wobei er auch mathematische Aussagen der Art 2 x 2 = 4 als Urteile über Tatsachen bezeichnet (AE, S. 223). Schlick stellt ferner fest, dass ein Mathematiker die „ Existenz “ eines Objekts seiner Wissenschaft bewiesen habe, sobald er gezeigt habe, dass es widerspruchslos definiert sei (AE, S. 227). Dasselbe gelte für alle reinen Begriffe: dabei handele es sich um Begriffe, die durch implizite Definitionen bestimmt seien und diese wiederum (Definitionen) unterliegen keiner anderen Bedingung als der der Widerspruchslosigkeit, wobei Widerspruch als eine Beziehung zwischen Urteilen zu verstehen sei (ebd). Urteile und Begriffe stehen also in einem eigentümlichen Wechselverhältnis zueinander: Begriffe werden durch Urteile verknüpft, es werden jedoch auch Urteile durch Begriffe miteinander verknüpft (ein Begriff taucht in mehreren Urteilen 65 Schlick begründet diese Behauptung nicht. Offensichtlich scheint sie ihm selbstverständlich zu sein. Wir werden auf diesen Punkt später - in der Diskussion seines Werkes - zurückkommen. 66 Interessanterweise betrachtet er nur ein Beispiel eines Urteils. 80 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus auf) (AE, S. 229). Derart bilde jeder Begriff einen Punkt, in dem eine Reihe von Urteilen zusammenstößt. Auf diese Weise kommt Schlick zu einer der zentralen Feststellungen seines Werkes: „ Die Systeme unserer Wissenschaften bilden ein Netz, in welchem die Begriffe die Knoten und die Urteile die sie verbindenden Fäden darstellen “ (AE, S. 230). Begriffe kann Schlick folglich als Beziehungszentren von Urteilen beschreiben. Er weist ferner darauf hin, dass in einem völlig in sich geschlossenen, deduktiv zusammenhängenden System einer Wissenschaft der Unterschied zwischen einem Lehrsatz und einer Definition nur relativ sei (AE, S. 231). Bei Übertragung dieser Erwägungen auf die Realwissenschaften sei jedoch zu bedenken, betont er, dass diese niemals streng in sich abgeschlossen seien. Von realen Gegenständen werden im Laufe der Forschung immer neue Eigenschaften bekannt, was dazu führe, dass die Begriffe dieser Wissenschaften immer stärker angereichert werden (obschon die Wortbezeichnungen für sie gleich bleiben). Das Wort steht Schlick zufolge für den wirklichen Gegenstand „ in der ganzen Fülle seiner Eigenschaften und Beziehungen “ (AE, S. 232). Es sei durchaus denkbar, dass der Begriff eines Gegenstandes im Laufe der Forschung völlig anders als am Anfang bestimmt werde. 67 Der Begriff stehe immer nur für das, was die Definition ihm zuschreibe. „ Deshalb sind Definitionen und echte Erkenntnisurteile für unser Denken in den Realwissenschaften zwar streng voneinander geschieden, aber ein und derselbe sprachliche Satz kann je nach dem Stande der Forschung das eine oder das andere, Definition oder Erkenntnis sein “ (AE, S. 232). Jedes Urteil setze einen Begriff zu anderen Begriffen in Beziehung. Definitionen seien also eine Unterklasse der Urteile. Der Zusammenhang der Urteile und Begriffe mache „ das Wesentliche der Erkenntnis aus. Ihre Möglichkeit besteht darin, dass die Begriffe durch Urteil miteinander verbunden sind. Nur in Urteilen ist Erkenntnis “ , resümiert Schlick (AE, S. 233). § 9 Urteilen und Erkennen Diese Überlegungen ermöglichen Schlick jetzt das Wesen des Erkennens genauer zu bestimmen. Dieser Aufgabe widmet er sich im nächsten Abschnitt seines Werkes: „ Urteilen und Erkennen “ . Einen Gegenstand zu erkennen heiße - wie wir bereits gesehen haben - , einen anderen in ihm wiederfinden oder auffinden. Wirkliche Erkenntnis liege dort vor, wo zwei Begriffe nicht bloß vermöge ihrer Definitionen denselben Gegenstand bezeichnen, sondern kraft heterogener Zusammenhänge (AE, S. 234). Man könne von der Erkenntnis realer oder begrifflicher Zusammenhänge sprechen (wie z. B. die Lösung einer mathematischen Aufgabe) (AE, S. 235). Erkenntnis bedeute, eine Beziehung zwischen Gegenständen aufzudecken. Jedes Urteil, das keine Tautologie oder Definition sei, enthalte eine Erkenntnis. Im Erkenntnisakt werde 67 Schlick bedient sich hier des Beispiels der Elektrizität, man kann auch an den Begriff des Atoms denken. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 81 der erkannte Gegenstand demjenigen gleichgesetzt, als welcher er erkannt sei (AE, S. 236): so z. B. werde der Verfasser der Schrift über den athenischen Staat dem Aristoteles, das Licht „ gewissen Schwingungsvorgängen “ , der Schnee etwas Kaltem usw. gleichgesetzt. Im Weiteren diskutiert Schlick eine gewichtige Schwierigkeit dieser Sichtweise. Um das Urteil „ Schnee ist kalt “ zu fällen, brauche man eigentlich zwei Erkenntnisakte: „ Dies ist Schnee “ und „ Dies ist kalt “ (AE, S. 238). Das Subjekt dieser zwei Urteile sei zunächst nicht identisch: das erste Urteil ist ein Resultat einer „ Gesichtsempfindung “ , das zweite einer „ Hautempfindung “ . Mehr noch: das Urteil „ Dies ist kalt “ sei nicht als vollkommene Identität gemeint. Hier werde der durch das Demonstrativpronomen bezeichnete Gegenstand nur mit einem der unendlich vielen unter den Prädikatsbegriff fallenden Gegenstände identifiziert (AE, S. 239). Wie stehe es jedoch, fragt Schlick, mit der Gleichsetzung der Gegenstände, die in den beiden Sätzen ( „ Dies ist Schnee “ und „ Dies ist kalt “ ) durch das Demonstrativpronomen bezeichnet seien. Diese seien zunächst nicht identisch: „ Dies ist Schnee “ ist ein Urteil, das sich aufgrund einer Gesichtswahrnehmung ergebe, „ Dies ist kalt “ hingegen eines, das auf einer Tastwahrnehmung beruhe (AE, S. 240). Eine Möglichkeit, diese Schwierigkeit zu überwinden, bestünde darin, den beiden Urteilen den gleichen Gegenstand zugrunde zu legen, indem man die Relation Ding-Eigenschaft oder Substanz-Attribut einführe. Diese Option verwirft Schlick jedoch mit dem Hinweis darauf, dass beide: Substanz und Attribut metaphysische Begriffe seien, die „ manche Schwierigkeit in sich bergen “ (AE, S. 240). Man brauche solche Begriffe aber auch nicht, denn die Identität der beiden Gegenstände (der Subjekte der beiden Urteile) ergebe sich als Identität eines Raum- und eines Zeitpunktes (AE, S. 241). 68 Wir können beliebige, auch zeitlich und räumlich beliebig auseinander liegende Elemente gedanklich zusammenfassen, doch das stärkste Motiv, einen Gegenstand zu setzen, liege immer in der beständigen raumzeitlichen Koinzidenz (AE, S. 243). 69 Eine ähnliche Zergliederung lasse sich mit jedem Urteil vornehmen. Alles in der Außenwelt sei an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit. Auch historische Erkenntnisse lassen sich so auffassen. Schlick weist jedoch darauf hin, dass in den exakten Disziplinen und überhaupt bei jeder tiefer dringenden Erkenntnis die errungene Identifikation nicht nur die einer Raum- und Zeitstelle sei, sondern eine bedeutsamere, nämlich zuletzt eine Übereinstimmung der Gesetzmäßigkeit. So z. B. erweise sich Wärme als Molekularbewegung und Wille als „ Verlauf von Vorstellungen und Gefühlen “ (AE, S. 246). Das Wichtigste 68 In der ersten Ausgabe der AE stand an dieser Stelle noch eine Ausführung zur Identifikation von psychologischen Phänomenen (mittels der Identifizierung des Zeitpunktes) und eine Bemerkung zur „ Zeitlosigkeit der Begriffe “ . 69 Schlick betont, dass seine Analyse von der positivistischen Auflösung des Körpers in einen Komplex von „ Elementen “ (Ernst Mach) zu unterscheiden ist (AE, S. 244). Er weist ebenfalls darauf hin, dass das Verhältnis des Gegenstandes zu seinen Eigenschaften an dieser Stelle noch eine offene Frage ist (AE, S. 245). 82 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus mit Blick auf die Erkenntnis sei jedoch, dass ein Gegenstand durch verschiedene Beziehungen gegeben sei. In dem Urteil „ Der Schnee ist weiß “ werde die Identität der Gegenstände noch nicht im demselben Sinne gesetzt wie in dem wissenschaftlichen Urteil „ das Licht besteht in elektrischen Wellen “ (AE, S. 249). In diesem sei einer der Begriffe durch eine Ursachenbeziehung definiert, was ein typischer Fall einer wissenschaftlichen Erklärung sei. Im Urteil „ Die Wärme ist eine Molekularbewegung “ sei der Gegenstand „ Wärme “ nur als Ursache einer Temperaturempfindung oder Thermometeranzeige gedacht. 70 Überall in der Wirklichkeitsforschung lasse sich das zu Erforschende durch Ursachenbeziehung darstellen, behauptet Schlick. Ihm zufolge ist die von vielen vertretene Ansicht gerechtfertigt, nach der jede wissenschaftliche Erklärung eine Kausalerklärung sein müsse (ebd.). Am leichtesten sei das Wesen der in einer Erkenntnis vollzogenen Gleichsetzung bzw. Identifikation bei Urteilen zu durchschauen, die sich auf reine Begriffe beziehen, stellt Schlick weiter fest und gibt einige einfache mathematische Beispiele (z. B. 2 x 2 = 2 + 2). Bei jeder wissenschaftlichen Erkenntnis münde der Akt des Gleichfindens in einer teilweisen oder vollständigen Identifikation, z. B. werde das Licht mit elektrischen Wellen identifiziert (AE, S. 250). 71 Ziel der Wissenschaften sei es, die Erkenntnis so weit zu voranzutreiben, dass die Mittel bereit liegen, um im Einzelfall jederzeit eine völlige Identifikation zu ermöglichen und somit das Individuelle in der Welt vollständig zu bestimmen. „ Der Prädikatbegriff wird durch Kreuzung mehrerer Allgemeinbegriffe gebildet, das Subjekt wird unter jeden von ihnen durch das Urteil subsumiert und so als dasjenige bestimmt, was durch sie alle bezeichnet wird, an ihnen allen zugleich teilhat “ (AE, S. 251). Aus diesen Überlegungen folge, dass die große Aufgabe der Erkenntnis, individuelle oder besondere Gegenstände mit Hilfe allgemeiner Begriffe zu bezeichnen, sich in die folgende auflöse: „ Durch Kreuzung der allgemeinen Begriffe wird in ihrer Mitte ein Bezirk abgegrenzt, in welchem nichts anderes Platz hat, als allein der Gegenstand, der da erkannt wird “ (AE, S. 251f.). § 10 Was ist Wahrheit? Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen wagt sich Schlick an eine der zentralsten Fragen der Erkenntnistheorie wie der Philosophie überhaupt: Was ist Wahrheit? Er weist darauf hin, dass Wahrheit fast immer als Übereinstimmung des Denkens mit seinem Objekt definiert wurde. Was aber ist Übereinstimmung, fragt er. Keine Gleichheit (Identität), denn ein Urteil sei offensichtlich nicht mit dem Beurteilten gleich (identisch). Vielleicht haben wir es hier also mit Ähnlichkeit zu tun? Aber sind unsere Urteile den 70 An dieser Stelle zeichnet sich bereits die spätere Verfikationstheorie der Bedeutung ab, so wie die Ähnlichkeit zum Operationalismus. 71 Streng genommen haben wir hier mit einer Subsumtion zu tun, denn nicht jede elektrische Welle ist Licht, präzisiert Schlick 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 83 Tatsachen ähnlich? Schlick verneint das und entwickelt seine eigene Position (AE, S. 255). Der Ausgangspunkt seiner diesbezüglichen Überlegungen ist die Frage: Warum ordnen wir den Gegenständen Begriffe zu? (AE, S. 253). Die Antwort auf diese Frage wurde von ihm bereits früher gegeben: um über die Gegenstände urteilen zu können. Warum aber urteilen wir? Schlick meint, dass man sich zur Beantwortung dieser Frage Klarheit in Bezug auf eine andere Frage verschaffen muss: Wozu dient alles Bezeichnen überhaupt? (AE, S. 253). Die Antwort auf diese Frage lasse sich leicht geben. Schlick bedient sich der Analogie einer Bibliothek: so wie in einer Bibliothek die Bücher durch die Eintragungen im Bücherkatalog effizient repräsentiert werden, so stellen die Urteile Vertreter der Tatsachen dar: „ Überall wo es unmöglich oder unbequem ist, mit den Gegenständen selbst zu operieren, die uns beschäftigen, da setzen wir Zeichen an ihre Stelle, die sich leichter und nach Belieben handhaben lassen “ (ebd.). Damit diese jedoch ihre Rolle erfüllen können, müsse die Zuordnung eindeutig sein: ein bestimmtes Buch müsse durch eine eindeutige Kombination von Ziffern und Buchstaben repräsentiert werden. Das gelte auch für die Zuordnung der Urteile zu Tatsachen (AE, S. 254). Diese recht elementare Einsicht bildet für Schlick die Grundlage der Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Wahrheit: „ ein Urteil, das einen Tatbestand eindeutig bezeichnet, heißt wahr. “ (AE, S. 254, Hervorhebung im Original) Schlick postuliert mithin seine eigene, neuartige 72 Theorie der Wahrheit: Wahrheit sei nicht Übereinstimmung, nicht Kohärenz der Urteile (Kohärenztheorie der Wahrheit), nicht dasjenige, was sich in der Praxis bewährt (pragmatische Theorie der Wahrheit), sondern eindeutige Zuordnung des Urteils zur Tatsache (wobei - wie bereits gesagt - eine Tatsache mit einem Verhältnis zwischen Gegenständen identisch ist). 73 Interessanterweise illustriert er seine Auffassung mit dem seiner Ansicht nach falschen Urteil, „ Ein Lichtstrahl besteht in einem Strome schnell bewegter Körperchen “ (AE, S. 257). Schlick schreibt: [B]ei Prüfung aller Tatsachen, die die physikalische Forschung uns kennen gelehrt hat, [werden wir] bald gewahr, dass dieses Urteil keine eindeutige Bezeichnung der Tatbestände ermöglicht. Wir würden nämlich finden, dass hierbei zwei verschiedenen Tatsachenklassen [die Kathodenstrahlen und die Lichtfortpflanzung] dieselben Urteile zugeordnet wären, dass also eine Zweideutigkeit vorläge. (AE, S. 257f.) Im Anschluss kommt Schlick auf die Frage zu sprechen, die sich aus seiner Auffassung vom Wesen der Wahrheit ergibt und deren Klärung „ uns erst 72 Wobei zu erwähnen ist, dass Schlick diese Sicht der Wahrheit bereits in seinem Aufsatz von 1910 „ Wesen der Wahrheit “ vertreten hat (S. 469). 73 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Schlick auch die Möglichkeit kurz diskutiert, dass ein falsches Urteil ein Urteil sei, dem keine Tatsache entspricht (259f.). Er kommt zu dem Schluss, dass beide Auffassungen sich nicht widersprechen, dass aber seine doch zu bevorzugen ist. 84 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus volles Verständnis für das Wesen der Wahrheit geben kann “ (AE, S. 264). Denn wenn ein Urteil ein Zeichen einer bestimmten Tatsache sei, und Zeichen doch willkürlich gesetzt werden, stellt sich (für Schlick) die Frage „ wodurch denn eigentlich ein bestimmtes Urteil gerade zum Zeichen einer bestimmten Tatsache wird; mit anderen Worten: woran erkenne ich, welche Tatsache ein gegebenes Urteil bezeichnet? “ (ebd.) Seine Antwort auf diese Frage ist überraschend. Anstatt auf die gesellschaftliche bzw. kulturelle Konventionen zu rekurrieren, kraft derer die ursprünglich willkürliche Zuordnung ( „ Dies da ist ein Baum/ tree/ arbre/ drzewo/ derewo usw. “ ) eindeutig wird, führt er eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Erkenntnis ein. Schlick meint, dass es durchaus möglich wäre, alle Dinge der Welt so zu bezeichnen, dass wir jedem Ding ein besonderes Zeichen eindeutig zuschreiben würden. Diese theoretische Möglichkeit hat aber innerhalb von Schlicks System eine überraschende Folge: „ da Wahrheit bloß in [der] Eindeutigkeit der Zuordnung besteht, 74 so wäre es im Prinzip ein Kinderspiel, zu vollkommener Wahrheit zu gelangen. Die Wissenschaft hätte eine gar leichte Aufgabe, wenn Wahrheit einfach mit Erkenntnis identisch wäre “ (AE, S. 265). Das aber sei „ ganz und gar nicht der Fall “ : Erkenntnis ist mehr, viel mehr als bloße Wahrheit. Letztere verlangt nur Eindeutigkeit der Zuordnung und es ist ihr gleichgültig, welche Zeichen dazu benützt werden; Erkenntnis dagegen bedeutet eindeutige Zuordnung mit Hilfe ganz bestimmter Symbole, nämlich solcher, die bereits anderswo Verwendung fanden. (Ebd.) Ein Erkenntnisurteil sei demnach eine neue Kombination von lauter alten Begriffen (AE, S. 266). Kraft des Urteils komme einer neuen Wahrheit ein ganz bestimmter Platz im Kreise der bereits bekannten Wahrheiten zu. Dadurch, dass das Urteil diesen Platz anweist, werde die Tatsache oder der Gegenstand erkannt (ebd.). Ferner betont Schlick, dass nur die ersten Begriffe und Urteile, auf welche die Erkenntnis die übrigen zurückführe, auf Konvention beruhen und als willkürliche Zeichen gelernt werden müssen (AE, S. 267). So wie die Sprache neue Worte nicht durch neue Laute, sondern durch neue Kombinationen der wenigen fundamentaleren Sprachlauten bilde, so entstehen neue Begriffe durch Kombination der (wenigen) alten. „ Die Sucht, neue Worte für ihre Begriffe zu erfinden, kennzeichnet die kleineren Geister unter den Philosophen; einem Hume genügte die simpelste Terminologie als Kleid grundlegender Gedanken “ (AE, S. 267f.). Die primitivste Art des Erkennens, schreibt Schlick weiter, bestehe in einer Menge von unabhängigen Einzelzuordnungen und ergebe noch kein System (AE, S. 270). Es gäbe unter diesen Umständen so viele Zeichen wie unterscheidbare Gegenstände und ihre Zahl ließe sich nicht reduzieren, wenn nicht 74 Er scheint vergessen zu haben, dass er Wahrheit ausschließlich den Urteilen zuschreiben will, nicht der Zuschreibung der Begriffe zu den Gegenständen (AE, S. 263), während hier die Rede von Zuschreibung der Zeichen zu den Dingen, also von Begriffen ist. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 85 noch etwas dazukommen würde. Erkenntnisgegenstände seien nicht von vornherein bestimmte, fest abgegrenzte Einheiten. Dass die Inhalte unseres Bewusstseins in ihm zu gewissen Komplexen zusammentreten, die wir als „ Einheiten “ erleben, beruhe auf einer psychologischen Tatsache, für welche „ die moderne Psychologie “ den von Christian von Ehrenfels geprägten Begriff „ Gestaltqualität “ verwendet. Demnach kann dasselbe Element verschiedenen Gegenständen angehören, aber auch umgekehrt: es kann gelingen in allen Gegenständen eines Gebietes dieselben ganz wenigen Elemente in steter Wiederholung aufzufinden. 75 Schlick schließt diesen Abschnitt mit der Feststellung: So sind Zuordnung, Wiederfinden des Gleichen und Zusammenhang ganz untrennbar verknüpft; von ihrem Verhältnis zueinander scheint die vorgetragene Wahrheitstheorie vollständig Rechenschaft zu geben. (AE, S. 271) § 11 Definitionen, Konventionen, Erfahrungsurteile Der nachfolgende Paragraph war in der ersten Auflage der Allgemeinen Erkenntnislehre nicht enthalten und bildet eine wichtige substanzielle Ergänzung zu ihr, die Schlick als Reaktion auf unterschiedliche Einwände, insbesondere vonseiten Hans Reichenbachs, 76 ausarbeitete und die als eine Art Auseinandersetzung mit der damals immer noch gegenwärtigen neukantianischen Erkenntnistheorie 77 angelegt ist. Am Anfang stellt Schlick paradigmatisch fest: „ Alle unsere Urteile sind entweder Definitionen oder Erkenntnisurteile “ (AE, S. 271) und betont, dass dieser Unterschied in den reinen Begriffswissenschaften nur relativ sei, in den Realbzw. Wirklichkeitswissenschaften hingegen umso schärfer hervortrete. In der Tat sei es „ eine Hauptaufgabe der Erkenntnistheorie, an der Hand dieser Unterscheidung über den Geltungscharakter der verschiedenen Urteile bei der Wirklichkeitserkenntnis Klarheit zu schaffen “ (ebd.). 78 Schlick zufolge stellt das System der Wirklichkeitswissenschaften „ ein Netz von Urteilen “ dar, dessen einzelne Maschen einzelnen Tatsachen zugeordnet seien. Diese Zuordnung werde entweder durch Definition oder durch Erkenntnis erreicht. Schlick führt zwei Arten der Definition an: konkrete (Zurückführung auf bereits bekannte Begriffe), und implizite (Situierung in einem Netz von Axiomen). Von diesen zwei komme für die Begriffe wirklicher Gegenstände zunächst nur die erste in Frage. Wenn wir einem bestimmten Gegenstand wieder begegnen (ihn also wiedererken- 75 Was vermutlich dazu führen kann, dass sich die Zahl der Zeichen reduzieren lässt. Diese Möglichkeit aber wird von Schlick nicht explizit thematisiert. 76 AE, S. 103 - 113. 77 Aus solchen grundsätzlich neukantianischen Positionen heraus hat z. B. Hans Reichenbach gegen Schlick polemisiert (AE, S. 103 - 113). 78 Vgl. Fußnote 172 (S. 271), die Bezug nimmt auf Einsteins Überlegungen zu Geometrie und Denken. Vgl. auch Fußnote 173, S. 273 in der Einsteins Behauptung zitiert wird, dass die Axiome der Geometrie freie Schöpfungen des menschlichen Geistes sind. 86 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus nen), so sprechen wir von Erfahrung. Da die Erfahrung die gleichen Gegenstände in verschiedenen Relationen zeige, ergeben sich zahlreiche Erkenntnisurteile, die allmählich ein zusammenhängendes Netz bilden. Solange es zur Aufstellung jedes neuen Urteils einer neuen Erfahrung bedürfe, also eine neue direkte Verbindung mit der Wirklichkeit erzielt werde, spricht man von der Klasse der Urteile, die man als deskriptive oder historische bezeichnen könne und die in den beschreibenden und historischen Disziplinen anzutreffen seien. Es gebe aber auch eine andere Möglichkeit des wissenschaftlichen Vorgehens: Nun ist das Merkwürdige, dass bei passender Wahl der Gegenstände, welche durch die konkreten Definitionen herausgegriffen werden, implizite Definitionen gefunden werden können von der Art, dass die durch sie bestimmten Begriffe sich zur eindeutigen Bezeichnung jener wirklichen Gegenstände verwenden lassen. Diese Begriffe hängen dann nämlich durch ein System von Urteilen untereinander zusammen, welches völlig übereinstimmt mit dem Urteilsnetze, das auf Grund der Erfahrung dem System der Tatsachen eindeutig zugeordnet wurde. Während dieses Netz durch mühsame Einzelerkenntnis Masche für Masche empirisch gewonnen werden musste, kann jenes Urteilssystem aus den impliziten Definitionen seiner Grundbegriffe auf rein logischem Wege vollständig abgeleitet werden. Wenn es also gelingt, jene impliziten Definitionen aufzufinden, so hat man das gesamte Urteilsnetz mit einem Schlage, ohne in jedem Falle auf neue Einzelerfahrung angewiesen zu sein. 79 (AE, S. 272f.) Schlick stellt weiter fest, dass dieses Vorgehen für die exakten Wissenschaften charakteristisch und dass nur auf diesem Wege „ eine strenge Lösung “ denkbar sei, derentwillen „ alle Wissenschaft in letzter Linie erfunden wurde “ , nämlich zur Vorhersage künftiger Ereignisse. Er illustriert diese Behauptung mit einem Beispiel aus der Astronomie. Man könne die Bewegungen der Planeten durch eine Unzahl von konkreten ( „ historischen “ ) Urteilen beschreiben, man könne aber auch die Planeten als etwas bezeichnen, das sich nach gewissen Gleichungen bewegt (was Schlick zufolge einer impliziten Definition gleichkommt), und was uns dann ermöglicht, Aussagen über vergangene und zukünftige Stellungen der Himmelskörper zu treffen. 80 Aus diesen Überlegungen zieht Schlick eine gewichtige Konsequenz: Es ist offensichtlich die Voraussetzung der Begreifbarkeit der Welt, dass es ein System von impliziten Definitionen gibt, das dem System der Erfahrungsurteile genau korrespondiert, und es wäre um unsere Wirklichkeitserkenntnis aufs beste bestellt, wenn wir mit absoluter Sicherheit wüssten, dass stete durch implizite Definitionen erzeugte Begriffe existieren, die eine streng eindeutige Bezeichnung der Welt der Tatsachen gewährleisten. (AE, S. 274) 79 Es ist unschwer in dieser Formulierung den Kerngedanken von Carnaps Logischer Aufbau der Welt zu sehen. S. unten. 80 Interessant ist, dass Schlick an dieser Stelle den Begriff des Naturgesetzes vermeidet. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 87 Schlick ist jedoch skeptisch bezüglich der Möglichkeit der Existenz eines solchen Systems und erachtet die Behauptung, dass sich ein solches System finden lasse, im besten Fall als eine Hypothese, nicht als ein wahres Urteil (Tatsache). Er hält es allerdings für möglich, bestimmte einzelne Begriffe so einzurichten, dass sie unter allen Umständen auf die Wirklichkeit passen. Einen Begriff implizit definieren heiße, ihn durch seine Beziehungen zu anderen Begriffen festzulegen. Einen solchen Begriff auf die Wirklichkeit anwenden heiße, „ aus dem unendlichen Beziehungsreichtum der Welt eine bestimmte Gruppe, einen bestimmten Komplex auszuwählen und durch Bezeichnung mittels eines Namens zu einer Einheit zusammenzufassen “ (ebd.). Wenn uns nun gelingt, eine eindeutige Bezeichnung von Wirklichem durch diesen Begriff zu erreichen, so nennen wir die so entstandene Zuordnung eine Konvention (AE, S. 275). Schlick erinnert daran, dass der Begriff der Konvention in dieser Bedeutung von Poincaré 81 eingeführt wurde, und illustriert Natur und Funktion der Konventionen am Beispiel der Zeitmessung (die Zeiteinheit wurde per Konvention gesetzt und hätte auch anders bestimmt werden können). Wenn eine gewisse Zahl von Begriffen durch Konvention festgelegt ist, so Schlick, sind die Beziehungen zwischen den durch sie bezeichneten Gegenständen dann nicht mehr konventionell, sondern aus der Erfahrung abzulesen. In diesen seine Ausführungen erkennt Schlick eine genaue Beschreibung der zwei Klassen von Urteilen, aus denen sich jedes System der Wirklichkeitswissenschaft aufbaut: Definitionen, mit denen die exakte Erkenntnis auf Stellvertretung der konkret bestimmten Begriffe durch implizit bestimmte hinzielt und unter denen die Konventionen „ einen ausgezeichneten Platz einnehmen “ (AE, S. 278), und auf der anderen Seite die Erkenntnisurteile, die entweder beobachtete Tatsachen bezeichnen (historische Urteile) oder auch „ für nicht beobachtete zu gelten beanspruchen “ (Hypothesen). 82 Zu den Definitionen sind Schlick zufolge auch jene Sätze zu rechnen, die sich aus Definitionen auf rein logischem Wege ableiten. Folglich bestehen reine Begriffswissenschaften (zu welchen er z. B. die Arithmetik zählt) eigentlich nur aus Definitionen: „ sie lehren nichts prinzipiell Neues, über ihre Axiome Hinausgehendes, aber dafür sind alle ihre Aussagen absolut wahr “ (AE, S. 279). Was hingegen die Wirklichkeitswissenschaften betrifft, so bestehen sie zur Hauptsache aus Erkenntnisurteilen (im engeren Sinne), die aber deshalb letztlich Hypothesen bleiben, „ ihre Wahrheit ist nicht schlechthin verbürgt “ (ebd.); wir müssen uns damit begnügen, dass die Wahrscheinlichkeit, „ mit 81 In seiner Schrift Wissenschaft und Hypothese (Poincaré 1906). 82 Schlick meint, dass die Klasse der historischen Urteile streng genommen leer ist, denn sie darf nur die Urteile beinhalten, die sich auf den Moment der Beobachtung beziehen und bereits einen Augenblick später, in Erinnerung, hypothetischen Charakter erlangen (AE, S. 278). 88 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus ihnen eine eindeutige Zuordnung “ (also in gewöhnlicher Sprache: die Wahrheit) erreicht zu haben, sehr hoch sei. Bei Schlick folgt nun eine Passage, die meines Erachtens nicht streng aus dem Dargelegten hervorgeht, die jedoch im Hinblick auf die spätere Entwicklung des logischen Positivismus von offenkundig zentraler Wichtigkeit ist]. Da sie äußerst dicht formuliert ist, zitiere ich sie hier verbatim: Das System von Definitionen und Erkenntnisurteilen, welche jede Realwissenschaft darstellt, wird also an einzelnen Punkten mit dem System der Wirklichkeit direkt zur Deckung gebracht und so eingerichtet, dass dann an allen übrigen Punkten von selbst Deckung stattfindet. Diejenigen Sätze des Urteilssystems, mit denen es sich unmittelbar auf die wirklichen Tatsachen stützt, können wir Fundamentalurteile nennen. Es sind die Definitionen im engeren Sinne und die historischen Urteile. Von ihnen ausgehend wird das ganze System Schritt für Schritt errichtet, indem man die einzelnen Bausteine durch rein logisches, deduktives Verfahren gewinnt [. . .]. Ist der ganze Bau richtig gefügt, und entspricht nicht nur den Ausgangspunkten, den Fundamentalurteilen, sondern auch den auf deduktivem Wege erzeugten Gliedern des Systems je ein Tatbestand der Wirklichkeit; jedes einzelne Urteil des ganzen Baues ist einem wirklichen Tatbestande eindeutig zugeordnet. 83 (AE, S. 285f.) Bezüglich der Strenge des „ logischen Aufbaus “ erblickt Schlick deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Wissenschaften. Die historischen Wissenschaften zeichneten sich dadurch aus, dass in ihnen keine Ableitungen, keine Voraussagen und viele Fundamentalurteile vorkommen. Sie seien also reich am Material, ganz arm dagegen an Erkenntnissen. Anders verhält es sich Schlick zufolge mit den exakten Wissenschaften. Sie erreichen die Eindeutigkeit der Zuordnung des Urteilssystems zu den Tatsachen nicht dadurch, dass sie die Zahl ihrer Fundamentalurteile möglichst groß machen, sondern sie streben im Gegenteil danach, diese möglichst gering zu halten und überlassen es „ dem unfehlbaren logischen Zusammenhang “ , die beiden Systeme (Urteilssystem und die Tatsachen) zu eindeutiger Übereinstimmung zu bringen (AE, S. 287). Es folgt eine programmatische Festlegung des reduktionistischen Paradigmas: „ Je weniger fundamentale Urteile einer Wissenschaft zugrunde liegen, desto geringer ist die Zahl der Elementarbegriffe, die sie zur Bezeichnung der Welt gebraucht, desto höher mithin die Erkenntnisstufe, zu der sie uns emporhebt “ (ebd.). Die wichtigste Bedingung der ganzen Erkenntnisarbeit, ohne welche sie keinen Sinn hätte, sei die, „ dass jedes Glied des Urteilsgefüges einem Gliede des Tatsachengefüges eindeutig zugeordnet ist, und wenn es diese Bedingung erfüllt, so heißt es wahr “ (ebd.). § 12 Was Erkenntnis nicht ist Den nächsten Abschnitt bildet eine Polemik gegen den möglichen Einwand, der sich aus der Enttäuschung ergibt, dass Schlick Erkennen als ein bloßes 83 Also in der gewöhnlichen Sprache: jedes Urteil des Systems ist dann wahr. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 89 Bezeichnen bestimmte (AE, S. 288). Bleibe damit, so der Einwand, der menschliche Geist den Dingen und Vorgängen nicht ewig fremd und fern? Könne er sich den Gegenständen dieser Welt, der er doch selbst als ein Glied angehört, nicht inniger vermählen? Das könne er, aber nicht als erkennend, meint Schlick. Wer sich Dingen nähert, stehe im Leben, nicht im Erkennen; ihm zeigen die Dinge das Antlitz ihres Wertes, nicht ihres Wesens (AE, S. 289). Aber sei nicht das Erkennen auch eine Lebensfunktion, fragt er weiter. Ja, aber es habe eine besondere Stellung im Leben. Deshalb müsse man die bisherigen Untersuchungen nach zwei Seiten noch besonders stützen. Man müsse erstens zeigen, dass dem Begriff der Erkenntnis keine andere Bedeutung beigelegt werden dürfe; man müsse ferner nachweisen, dass alle Hoffnungen des Menschen bezüglich der Erkenntnis mit dem geschilderten Prozess erfüllt seien (AE, S. 290). In den stärksten philosophischen Strömungen der Gegenwart herrsche die Meinung, dass allein die Anschauung, die Intuition, wahre Erkenntnis sei, dass die mit Begriffen arbeitende Methode der Wissenschaft nur ein Surrogat geben könne, keine echte Erkenntnis des Wesens der Dinge, schreibt Schlick weiter und bezieht sich dabei auf Bergson und Husserl (AE, S. 291). Die Propheten der Intuition behaupten, fährt er fort, die unmittelbare Anschauung leiste das in vollkommener Weise, was auch die symbolisierende Erkenntnis mit dem unzureichenden Mittel des Begriffes zu leisten trachte (AE, S. 292). Hier aber irren sie sich sehr, so Schlick. Intuition habe mit der Erkenntnis gar keine Ähnlichkeit. Ich müsste Rot mit anderen Farben vergleichen und dadurch dann seine Nuance richtig bezeichnen, oder ich müsste ein Tätigkeitsgefühl psychologisch analysieren und darin Spannungsempfindungen, Lustgefühle usw. aufdecken - dann erst dürfte ich mit einigem Recht behaupten, das Wesen des Rots/ des Tätigkeitsgefühls bis zu einem gewissen Grad erkannt zu haben. Solange ein Gegenstand mit nichts verglichen, in kein Begriffssystem in irgendeiner Weise eingefügt sei, solange sei er nicht erkannt (AE, S. 293). Durch die Anschauung werden uns Gegenstände nur gegeben, sie werden durch sie nicht begriffen. Intuition sei bloßes Erleben, Erkennen aber sei etwas ganz anderes, sei mehr. Intuitive Erkenntnis sei eine contradictio in adiectio. Der kulturlose Mensch und das Tier sehen die Welt vielleicht besser als wir, sie erkennen diese aber gar nicht. Damit sei der große Fehler aufgedeckt, den die Intuitionsphilosophen begehen: sie verwechseln Kennen mit Erkennen. Wir erkennen die Dinge allein durch das Denken, denn das Ordnen und Zuordnen, das dazu nötig ist, mache eben das aus, was man als Denken bezeichnet (ebd.). Erkenntnis der Dinge an sich sei so lange eine contradictio in adiectio, als man unter Erkenntnis Anschauen oder anschauliches Vorstellen verstehe, denn so werde ein Widersinn gefordert: Dinge vorzustellen, die unabhängig von allem Vorstellen seien. Die Frage nach der Möglichkeit solcher Erkenntnis dürfe nicht gestellt werden. Der wahre Erkenntnisbegriff habe dieses Problem nicht. Erkenntnis sei bloßes Zuordnen von Zeichen zu Gegenständen, sie berühre die Dinge nicht, Erkenntnis sei Bezeichnen (AE, S. 302). Eine Abbildung 90 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus könne ihre Aufgaben nie vollkommen erfüllen, dazu müsste sie eine Verdoppelung des Originals sein. Ein Gegenstand lasse sich nie so abbilden, wie er sei, da jede Abbildung an einen bestimmten Standpunkt gebunden sei, sie bezeichne aber durchaus. 84 Die Zeichen seien subjektiv, ihre Zuordnung zu den Gegenständen hingegen nicht. Deshalb können wir getrost sagen: in Wahrheit gibt uns jedes Erkennen eine Erkenntnis von Gegenständen, wie sie an sich selbst sind. Nehmen wir einmal an, unserer Kenntnis seien nur „ Erscheinungen “ zugänglich, hinter denen unbekannte Dinge an sich ständen, so wären diese Dinge doch zugleich mit den Erscheinungen von uns erkannt, denn da unsere Begriffe den Erscheinungen zugeordnet sind, diese aber als den Dingen an sich zugeordnet angenommen waren, so bezeichnen ja unsere Begriffe auch die letzteren, weil ein Zeichen des Zeichens doch auch ein Zeichen für das Bezeichnete selbst sei (AE, S. 303). § 13 Vom Wert der Erkenntnis In diesem Abschnitt beschäftigt sich Schlick mit der wichtigen Frage nach dem Wert der Erkenntnis. Die Frage hat seit der Publikation seines Werkes deutlich an Wichtigkeit zugenommen, wenn man allein die Höhe der Ausgaben für die wissenschaftliche Forschung betrachtet. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung beliefen sich im Jahr 2007 auf ungefähr 1.145.700.000.000 Dollar, während sie noch 2002 „ nur “ rund 790 Milliarden Dollar betragen hatten. 85 Es werden also weltweit enorme Summen ausgegeben und sie wachsen sehr schnell weiter. Ich habe leider keine entsprechenden Daten für 1918 - 1920. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung dürften bedeutend niedriger gewesen sein als heute, sie waren aber sicherlich bereits damals beträchtlich. Im Hinblick auf diesen enormen Aufwand mag Schlicks Antwort auf die Frage nach dem Wert des Wissens überraschen. Er hebt nicht den praktischen Nutzen des Wissens hervor, sondern stellt thetisch fest, dass Erkenntnis Wert habe, weil sie uns Lust bereite (AE, S. 310). Um diese These zu untermauern, greift er auf die biologischen Entwicklungstheorien zurück. Alle solche Theorien stimmten darin überein, dass sich in der Evolution der Lebewesen der Drang nach solchen Tätigkeiten verstärken müsse, die die Erhaltung des Lebens der Individuen und der Gattung begünstigen (AE, S. 311). Das Denken sei ursprünglich nur ein Werkzeug zur Selbstbehauptung gewesen, doch der Apparat des Urteilens und Schließens habe eine sehr viel weiter gehende Anpassung an die Umgebung ermöglicht als die automatische Assoziation (AE, S. 312). Dass alle Erkenntnis zunächst ganz allein dem Handeln diente, sei unzweifelhafte Wahrheit (AE, S. 313). Die Praxis gebe der reinen Forschung unaufhörlich neue Antriebe und stelle sie vor neue Probleme (ebd.). 84 Interessanterweise beinhaltet diese Überlegung den Kern der viel späteren Auseinandersetzung Rortys in seinem Werk Philosophy and the Mirror of Nature (Rorty 1979). 85 Knowledge, Networks and Nations 2011, S. 16. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 91 Schlick zufolge irren sich jedoch diejenigen, die behaupten, Wissenschaft diene allein der praktischen Herrschaft über die Natur (AE, S. 314). Es sei zwar wahr, dass der Verstand zunächst bloß ein Instrument zur Erhaltung des Lebens gewesen sei, heute aber stelle seine Tätigkeit eine Quelle der Lust dar. Sie sei aus einem Mittel zum Zweck geworden (AE, S. 315). Der Prozess der Umbildung von Mitteln zu Zwecken mache das Leben immer reicher, lasse in uns neue Triebe entstehen und damit neue Möglichkeiten der Lust (AE, S. 316). Mögen die meisten Erkenntnisakte irgendeinen Nutzen haben, reine Wissenschaft sei nur dort zu finden, wo sie selber Zweck sei - alles andere sei Lebensklugheit oder Technik (AE, S. 317). Erkenntnis, sofern sie Wissenschaft sei, diene also nicht irgendwelchen anderen Lebensfunktionen. Sie sei nicht auf die praktische Beherrschung der Natur gerichtet, sondern eine selbstständige Funktion und bereite uns unmittelbare Freude (AE, S. 320). Und in dieser Lust, mit der der Erkenntnistrieb das Leben des Forschenden erfülle, bestehe ihr Wert. Die Rede vom „ Wert an sich “ , der nichts mit Lust und Unlust zu tun habe, sei Unsinn, eine der schlimmsten Irrlehren der Philosophie. Das Gute sei deshalb gut, weil es Freude mache, so bestehe der Wert der Erkenntnis ganz einfach darin, dass sie uns erfreue, fasst Schlick seine Argumentation zusammen (AE, S. 321). Teil II und III der Allgemeinen Erkenntnislehre Es wäre sicher lohnenswert, sich auch mit dem II. und dem III. Teil von Schlicks Werk (Denkprobleme, §§ 14 - 21 und Wirklichkeitsprobleme, §§ 22 - 41) ausführlich auseinanderzusetzen, dies würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ich werde deshalb der Vollständigkeit halber die Hauptthemen dieser beiden Teile bloß kursorisch abhandeln, um mich später lediglich mit einigen von ihnen ein wenig ausführlicher zu befassen, da diese ihre Aktualität bis heute kaum eingebüßt haben. Teil II Im zweiten Teil seines Werkes geht Schlick, wie bereits erwähnt, auf die Frage ein, inwiefern es überhaupt möglich ist, vermittels des urteilenden Denkens Erkenntnisse zu erlangen. Er diskutiert kurz die Schullogik, die bekanntlich neunzehn gültigen Modi des Syllogismus aufgestellt hat (AE, S. 324 ff). Zwölf von ihnen beinhalten negative Urteile, weshalb sie Schlick zufolge für die Wissenschaft unbrauchbar seien, wodurch nur noch sieben übrig blieben. Sechs von diesen aber beinhalten partikuläre Urteile (z. B. „ Einige S sind P “ ), weshalb sie aus Schlicks Sicht in der Wissenschaft nur von einer vorläufigen Bedeutung seien. Es bleibe also nur eine Schlussfigur übrig, der sog. Modus Barbara (Alle M sind P, Alle S sind M > Alle S sind P; AE, S. 326). Schlick kommt zu dem Schluss, dass alles Beweisen in der Wissenschaft ein Aneinanderreihen von Syllogismen im Modus Barbara sei (AE, S. 327, 330). Um auf die moderne Wissenschaft anwendbar zu sein, müsse die aristote- 92 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus lische Schlusslehre nicht geändert, sondern die Lehre vom Begriff vertieft werden (AE, S. 331). Strenges Schließen sei analytisch, so Schlick, was bedeute, dass durch den Syllogismus keine neuen Erkenntnisse zu gewinnen seien (AE, S. 333). Folglich könne das reine Denken, das bloß auf den Verhältnissen der Begriffe zueinander beruhe und keine Rücksicht auf die anschauliche Wirklichkeit nehme, niemals Quelle eigentlicher Erkenntnis sein (AE, S. 344f.). Dem deduktiven, syllogistischen Schließen stehe das induktive gegenüber (AE, S. 345). Es verfahre aufbauend, synthetisch, sei aber kein strenges Schließen und habe keine apodiktische Gültigkeit. Notwendige Voraussetzung aller Deduktion sei das Gedächtnis (AE, S. 354f.). Die Flüchtigkeit unseres Geistes hindere uns nicht daran, die einfachen Akte des analytischen Schließens zu vollziehen (AE, S. 379f.). Des Weiteren behandelt Schlick das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. Ein Reich des idealen Seins sei bereits in der Antike postuliert worden (AE, S. 380). Aber selbst Plato habe das Problem des Verhältnisses der beiden Sphären nicht lösen können, und auch die Modernen seien dazu nicht in der Lage. Die von Husserl postulierte „ Wesensschau “ biete Schlick zufolge keine Lösung des Problems (AE, S. 388). Die logischen Gebilde seien nichts Wirkliches, sie werden von uns fingiert (AE, S. 390). Fernerhin diskutiert Schlick ein interessantes Problem, das sich aus der Unterscheidung zwischen den psychologischen und logischen Inhalten ergibt: Wie ist es möglich, fragt er, dass die realen psychischen Beziehungen genau dasselbe leisten wie die rein logischen Relationen, ohne doch dasselbe zu sein, ohne die gleiche Schärfe zu besitzen? (AE, S. 392). Die Lösung des Rätsels biete die Rechenmaschine. Sie liefere präzise Resultate, obgleich die völlige Exaktheit durch keine natürliche Maschine zu realisieren sei. Wie werde dies erreicht? Kontinuierliche Prozesse können die Funktion des Diskontinuierlichen erfüllen (AE, S. 396). Das Problem des Verhältnisses der psychologischen Prozesse zu den logischen Beziehungen stelle sich uns also dar als ein Spezialfall der Frage nach der Erzeugung diskreter, d. h. zählbarer Gebilde durch kontinuierliche. Mit dem Nachweis, dass Letzteres möglich sei, sei auch das Problem gelöst, stellt Schlick fest (AE, S. 397). Im letzten Paragraph des zweiten Teils diskutiert Schlick das Problem der Verifikation der wissenschaftlichen Aussagen. Das Problem ergibt sich aus einem der Grundsatz seiner Erkenntnistheorie: Realbehauptungen der empirischen Wissenschaften, also synthetische Urteile, sind von den Begriffswahrheiten, den analytischen Urteilen, streng zu unterscheiden ( „ Es ist aber von allerhöchsten Bedeutung [. . .] nicht den Unterschied aus dem Auge zu verlieren, der die beiden Klassen von Urteilen durch einen Abgrund voneinander trennt, den keine Logik und Erkenntnistheorie überbrücken kann “ [AE, S. 433]). Während Erstere von den Gesetzen der Naturvorgänge abhängen und durch Verifikation anhand der Erfahrung immer nur vorläufig bestätigt werden (AE, S. 425), besitzen die Letzteren apodiktische Gewissheit, (AE, S. 430, 435f.). Zwar seien auch analytische Schlüsse von der Realisierung im Denken als psychologischem 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 93 Prozess abhängig, synthetische Urteile seien jedoch empirische Wiedererkennungsakte, während analytische Urteile Identitätssetzungen von Begriffen darstellen, welche absolute Sicherheit besitzen. Logische Wahrheiten können durch mannigfaltige bildliche Beispiele veranschaulicht werden. Man erkenne ihre Wahrheit aber, indem am Schluss des Gedankenprozesses, wie Schlick es formuliert: das „ Identitätserlebnis “ auftrete, das man gewöhnlich als „ Evidenzgefühl “ bezeichne ( „ es stimmt “ , „ so ist es “ usw.; AE, S. 431). Das Evidenzgefühl sei allerdings kein untrügliches Kriterium der Wahrheit. Fehler können auftreten. Falsche Schlussfolgerungen hingegen kündigen sich durch ein „ Ungleichheitserlebnis “ an (AE, S. 432). Teil III Im letzten und umfangreichsten Teil des Werkes behandelt Schlick die Frage, wie synthetische Urteile objektive Gültigkeit beanspruchen und zumindest wahrscheinliche Aussagen über die Wirklichkeit treffen können. Sein Hauptanliegen am Anfang dieses Teils besteht darin, eine explizite Kennzeichnung eines charakteristischen Merkmals zu finden, das sich als Kriterium alles Wirklichen eignet. Er findet diese in der Zeitlichkeit: Wirklich sei alles, was zu einer bestimmten Zeit seiend gedacht werden müsse, stellt er fest (AE, S. 480) und unterstreicht die außerordentliche Tragweite dieses Satzes. Er führe nämlich weit über die Welt des unmittelbar Gegebenen hinaus. Gemäß diesem Kriterium gebe es viele Dinge an sich, wobei Schlick unter Dingen an sich im Gegensatz zu Kant und den Neukantianern nicht Dinge versteht, wie „ sie wirklich sind “ , im Unterschied zu ihrer Erscheinung, sondern Dinge, die nicht gegenwärtig gegeben sind und dennoch als seiend betrachtet werden müssen (AE, S. 483). Des Weiteren polemisiert er gegen Philosophen, die das Ding an sich (in diesem Sinne) ablehnen, die sog. Immanenzphilosophen (AE, S. 484 - 542). Er fasst diese Diskussion folgendermaßen zusammen: Es gibt nur eine Wirklichkeit, alles, was in ihren Bereich fällt, ist unserer Erkenntnis prinzipiell auf gleiche Weise zugänglich, dem Dasein wie dem Wesen nach. Nur ein kleiner Teil dieser Wirklichkeit ist uns jeweils gegeben. Aber die dadurch bedingte Trennung des Subjektiven und Objektiven ist zufälliger Art, nicht prinzipieller Natur, wie es diejenige zwischen Wesen und Erscheinung sein sollte, die wir als undurchführbar erkannt haben. (AE, S. 558f.) Im nächsten Paragraph widmet sich Schlick der Subjektivität der Zeit. Er betont, dass die Zeit als anschauliche Qualität rein subjektiv gelte; die Zeitordnung als eindimensionales Kontinuum aber habe in ihrer Zuordnung zur Welt der Dinge an sich in demselben Sinne objektive Bedeutung wie jede andere Bezeichnung durch Begriffe (AE, S. 571). Im nächsten Abschnitt erfahren wir, dass Ähnliches auch vom Raume gelte. Schlicks Ansicht nach existieren die anschaulich-räumlichen Verhältnisse nicht unabhängig von ihrem Angeschautwerden. Die transzendenten Gegenstände können 94 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus nicht im Anschauungsraume lokalisiert werden, denn die objektive Ordnung der Dinge sei nur eine, von Wahrnehmungsräumen aber gebe es mehrere, und keiner von ihnen habe unmittelbar Eigenschaften, die ihn zum alleinigen Träger jener Ordnung stempelten (AE, S. 576). Als Raum sollte folglich nur die Ordnung des Sinnlich-Anschaulichen bezeichnet werden; wenn man transzendente Dinge beschreibe, so müsse man das durch ein entsprechendes Adjektiv deutlich machen: transzendenter oder objektiver Raum, oder nach Leibniz, Herbart, Lotze: „ intelligibler Raum “ (AE, S. 593). Im wichtigen § 30 (AE, S. 595ff.) diskutiert Schlick die Frage der Subjektivität der Sinnesqualitäten. Die sinnlichen Qualitäten seien Bewusstseinselemente, nicht Elemente der transzendenten Wirklichkeit, sie gehören dem Subjekt an, nicht den Objekten (AE, S. 599). Diese Feststellung hat wichtige Folgen für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen der quantitativen und der qualitativen Erkenntnis, das in § 31 behandelt wird. Die Ordnung unserer Bewusstseinsinhalte in Raum und Zeit sei zugleich das Mittel, durch welches wir die transzendente Ordnung der Dinge jenseits des Bewusstseins bestimmen lernen, und diese Bestimmung sei der wichtigste Schritt zu ihrer Erkenntnis. Wie vollziehen wir diesen Schritt? Bereits in § 9 hat Schlick darauf hingewiesen, dass die Identitätssetzung eines Dinges in seiner Lokalisation an demselben Raum- und Zeitpunkt bestehe. Alles in der Außenwelt sei an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, und das eine im anderen wiederfinden heiße, beiden denselben Ort zur selben Zeit anzuweisen (AE, S. 609). Damals aber hat Schlick noch keinen Unterschied gemacht zwischen Raum und Zeit als anschaulichen und als transzendenten „ Größen “ . Das Mittel, um von der (bloß) anschaulichen zur transzendenten Welt zu gelangen, sei die Methode der Koinzidenzen (AE, S. 610). Sie sei erkenntnistheoretisch von allerhöchster Wichtigkeit, betont Schlick. Er illustriert sie anhand der alltäglichen Beobachtung eines Bleistiftes. Wir schauen ihn an, wir können aber auch seine Spitze berühren. Beide Erlebnisse werden einem „ Punkte “ des transzendenten Raumes zugeordnet: Berührungspunkt der beiden Dinge „ Finger “ und „ Bleistift “ . Entscheidend für die Kennzeichnung des Wirklichen sei also die Koinzidenz unterschiedlicher Sinneseindrücke (AE, S. 609 - 613) Was ist nun durch die Einfügung der Dinge in die transzendente Ordnung erreicht? Ein gewaltiger Erkenntnisfortschritt, meint Schlick (AE, S. 616). Erkennen heißt Wiederfinden. Durch die obige Prozedur ist ein und dieselbe gemeinsame Ordnung aufgefunden; in der Fülle und dem Gewirr der subjektiven Daten sei die eine objektive Welt entdeckt. Das Objekt, das ich mit der rechten Hand berühre und mit dem rechten und dem linken Auge jeweils ein wenig anders sehe, erweise sich als dasselbe Objekt, derselbe Bleistift (AE, S. 617). Die Einfügung in das transzendentale Ordnungsschema bedeute das Wiederfinden der identischen Gegenstände in den mannigfaltigsten Relationen. Das würde einen ungeheuren Erkenntnisfortschritt auch dann bedeuten, wenn jene Relationen qualitativ ganz verschieden voneinander wären. In Wahrheit aber seien sie qualitativ völlig gleichartig: alle ihre 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 95 Unterschiede werden als rein quantitative aufgedeckt und seien damit aufeinander zurückführbar. Was bedeutet das? Jede Beziehung wird durch die Angabe einer Anzahl von Größen (z. B. die Lage eines Punktes durch drei Raumkoordinaten und die Zeit) bestimmt, letztlich durch die Angabe der Länge von Strecken. Die Länge sei aber die Zahl der in ihr enthaltenen Einheiten. Ein und dieselbe Längeneinheit werde in allen Längen wiedergefunden, nur in verschiedener Anzahl. So werden sie quantitativ aufeinander zurückgeführt und es gebe keine vollkommenere Art der Erkenntnis (AE, S. 618). Denn das Wiederfinden des einen Gegenstandes im anderen vollziehe sich am vollkommensten dort, wo der Letztere eine bloße Summe von lauter gleichen Exemplaren des Ersteren sei. Das Wesen der quantitativen Erkenntnis bestehe also darin, dass sie den erkannten Gegenstand in eine Summe von Einheiten auflöse, die unverändert und unter sich völlig gleich in ihm wiedergefunden und gezählt werden können. Auf diese Weise werden alle räumlichen Größen, dann auch Zeitstrecken, der „ Herrschaft der Zahl “ unterworfen. Diese Erkenntnis beziehe sich auf die transzendente Ordnung: die objektive Welt sei der Gegenstand der quantitativen Erkenntnis (ebd.). Ähnlich könne man bei der Reduktion der wahrgenommenen Farbe auf die Wellenlängen vorgehen, heißt es weiter: es zeige sich, dass auch in diesem Fall den (bloß) subjektiven Farben, die lediglich in den Anschauungsraum des Gesichts, nicht in den objektiven Raum der Dinge gehören (AE, S. 620), im transzendenten Raum gewisse elektromagnetische Strahlungen zugeordnet werden können, wobei die konkrete Zuordnung bestimmter Frequenzen (bzw. Wellenlängen) zu bestimmten Farben „ natürlich wiederum mit Hilfe der Methode der Koinzidenzen “ geschehe (AE, S. 622). Aus dieser Betrachtung ergibt sich mit Klarheit, dass die (sinnlichen) Qualitäten nur dann vollständig erkannt werden, d. h. durch Kombinationen bereits vorhandener Begriffe vollkommen und eindeutig bezeichnet, wenn es gelinge, sie quantitativ auf andere Größen zurückzuführen. Und dadurch werden sie in ihrer Eigenschaft als besondere Qualitäten aus dem Weltbilde gänzlich eliminiert, so Schlick weiter (AE, S. 624). Im weiteren Verlauf seiner Diskussion wendet er sich dem Problem des Substanzbegriffes zu, also der Behauptung, dass man von einem Substrat der Wirklichkeit sprechen darf und soll, das seine Qualitäten als Eigenschaften trägt. Schlick schreibt, dass Humes Kritik an dem Substanzbegriff 86 nach wie vor Gültigkeit habe. Die Idee eines von den Eigenschaften unabhängigen und sie nur tragenden Kernes sei verfehlt, denn der Kern wäre dann etwas Eigenschaftsloses. Wir bräuchten uns mit dieser Idee also nicht weiter befassen. Alle Erkenntnis gehe demnach letztlich auf Beziehungen, Abhängigkeiten, nicht auf Dinge, Substanzen (AE, S. 629). Aus diesen Bestimmungen ergibt sich für Schlick eine (in seinen Augen) elegante Lösung des vertrackten Problems des Verhältnisses von Physischem 86 Hume 1978 I.iv.III. 96 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus und Psychischem. Physisches sei kein Begriff für die extramentale Wirklichkeit, sondern (bedeute) eine bestimmte Art und Weise ihrer Bezeichnung. „‚ [P]hysisch ‘ heißt die Wirklichkeit, sofern sie durch das räumlich-zeitlich-quantitative Begriffssystem der Naturwissenschaften bezeichnet ist “ (AE, S. 643, Hervorhebung im Original). Das naturwissenschaftliche Weltbild sei nur ein System von Zeichen, die wir den Qualitäten und Qualitätskomplexen zuordnen, deren Gesamtheit und Zusammenhang das Universum bildet (AE, S. 644). „ Psychisches “ wiederum sei nur eine Beschreibungsweise des unmittelbar Gegebenen, des Inhalts des bewussten Erlebens. Wir haben eigentlich dreierlei Reiche zu unterscheiden, deren Verwechslung das psychophysische Problem mitverschuldet habe: 1. Die Wirklichkeit selbst (die Qualitätenkomplexe, die Dinge an sich); 2. die der Wirklichkeit zugeordneten quantitativen Begriffe der Naturwissenschaft, die in ihrer Gesamtheit den physikalischen Weltbegriff bilden; und 3. die anschaulichen Vorstellungen, durch welche die unter 2. genannten Größen in unserem Bewusstsein repräsentiert werden. Dabei ist 3. natürlich ein Teil von 1. [. . .]. (AE, S. 645) In welchem dieser drei Reichen sei das Physische zu suchen, fragt Schlick weiter. Zweifellos im 1. Aber das Wort [Physisches] beziehe sich auf jene wirklichen Gegenstände [des 1. Reiches], denen Begriffe aus dem 2. Reiche zugeordnet seien oder zugeordnet werden können. Dabei sei es zunächst eine offene Frage, ob sämtliche Gegenstände des 1. Reiches durch das naturwissenschaftliches Begriffssystem des 2. bezeichnet werden können, d. h., ob die ganze Welt als etwas Physisches aufgefasst werden könne. 87 Vom 3. Reiche und vom Psychischen (das ein Teilbezirk des 1. ist) sei bei der Begriffsbestimmung des Physischen also keine Rede. Eine Hypothese, die durch empirische Befunde dringend nahegelegt werde, ist die, dass die raumzeitlichen Begriffe tatsächlich zur Beschreibung jeder beliebigen Wirklichkeit ausnahmslos geeignet seien, also auch der Bewusstseinswirklichkeit (AE, S. 646). Dass wir die Letztere außerdem noch durch die sog. „ psychologischen “ Begriffe beschreiben, schaffe Schlick zufolge keinerlei Gegensatz zwischen Physischem und Psychischem. „ Physisch “ bedeutet mithin nicht eine besondere Art des Wirklichen, sondern eine besondere Art der Bezeichnung des Wirklichen, nämlich die zur Wirklichkeitserkenntnis notwendige naturwissenschaftliche Begriffsbildung (AE, S. 647). Schlick fasst diesen Gedankengang folgendermaßen zusammen: Die Physik ist das System exakter Begriffe, welches unsere Erkenntnis allem Wirklichen zuordnet. Allem Wirklichen, denn nach unserer Hypothese im Prinzip ist die gesamte Welt der Bezeichnung durch jenes Begriffssystem zugänglich. Natur ist alles, alles Wirkliche ist natürlich. Geist, Bewusstseinsleben, ist kein Gegensatz 87 Wir haben soeben gesehen, dass Schlick zufolge dasjenige, was durch die „ räumlichzeitlich-quantitative “ Begriffe der Naturwissenschaft bezeichnet ist, als Physisches zu klassifizieren ist. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 97 zur Natur, sondern ein Ausschnitt aus der Gesamtheit des Natürlichen. (AE, S. 647) 88 Im § 33 (Weiteres zum psychophysischen Problem) ergänzt Schlick diese Betrachtungen. Seiner Ansicht nach besteht der Grundfehler, dem die Leib- Seele-Frage geschuldet ist, darin, dass das Physische als etwas Wirkliches betrachtet wurde, das anschaulich-räumliche Ausdehnung besitzt. Es habe sich jedoch herausgestellt, dass diese anschaulich-räumliche Ausdehnung bloß eine subjektive Eigenschaft des „ anschaulichen Raumes “ sei, nicht des transzendenten Raumes der Dinge an sich (AE, S. 655). Die andere Komponente des Problems erblickt Schlick in dem Fehler, das Seelische schlechthin als unräumlich aufzufassen. Die Wirklichkeit sei das Gegenteil: alle unsere Raumvorstellungen seien aus den räumlichen, örtlichen Bestimmtheiten der (seelischen) Empfindungen geschöpft, man müsse also festhalten, dass nur diesen letzteren psychischen Größen Ausdehnung im anschaulichen Sinne zukomme, und gerade nicht den physischen Dingen (AE, S. 657). Die Welt des Physischen nämlich, wie unsere Vorstellungskraft sie ausmalt, ist dann nicht bloß räumlich, sondern sie umfasst auch alles Räumliche: sie erfüllt als einzige den ganzen Raum und duldet darin nichts anderes neben sich. Die Empfindungsqualitäten haben in diesem Weltbild keine Stelle, denn die „ sekundären Qualitäten “ werden ja aus ihm, wie wir sahen, mit Notwendigkeit und mit Recht eliminiert. Sie kommen in den Gesetzen nicht vor, welche die Abhängigkeiten in der physischen Welt regeln. Alles, was in jener Welt geschieht, wird allein durch physische Größen bestimmt (AE, S. 657). Im letzten Abschnitt des dritten Teils seines Werks wendet sich Schlick schließlich der Frage nach der Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis zu. Es folgt eine Auseinandersetzung mit Kant und die Ablehnung seiner Erkenntnistheorie. Zentral dabei ist Schlicks Stellungnahme zu den synthetischen Urteilen a priori, deren Existenz Schlick entschieden ablehnt. Er weist darauf hin, dass für Kant das Vorhandensein einer a priori gültigen Wirklichkeitserkenntnis irrtümlicherweise als Faktum dastand (AE, S. 723). Schlick befasst sich mit der Geometrie, die für Kant ein Beispiel dieser Art der Erkenntnis war, und weist darauf hin, dass ihre Bestimmung der Eigenschaften des Raumes nicht auf einer apriorischen Anschauungsform beruhe, wovon Kant ausging, sondern durch eine begriffliche Konstruktion zustande komme (AE, S. 734). Der Anschauungsraum besitze keine allgemeingültige und notwendige Geometrie. „ Der geometrische Raum ist ein begriffliches Hilfsmittel zur Bezeichnung der Ordnung des Wirklichen; es gibt keine reine Anschauung von ihm und es gibt keine synthetische Sätze a priori über ihn “ (AE, S. 739). Auch Arithmetik und Zeit sind Schlick zufolge begriffliche Konstruktionen, nicht „ reine Anschauung “ (AE, S. 739ff.). Angewandt auf die Wirklichkeit erweist sich die Arithmetik als eine die Naturgesetze in eine 88 Wir werden dieses Thema alsbald noch ausführlicher betrachten. 98 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus möglichst einfache und bequeme Form bringende Konvention, deren Zweckmäßigkeit allein anhand der Erfahrung überprüft wird (AE, S. 742). Der Mensch sei nicht im Besitze der synthetischen Urteile a priori, eine apodiktisch gültige Wirklichkeitserkenntnis ist ihm überhaupt versagt (AE, S. 743). Im nächsten (39.) Paragraph diskutiert Schlick die Annahme von reinen Denkformen, Kategorien im Sinne Kants. Schlick stellt fest, dass keine Form des Denkens Wirklichkeit bestimmen (erzeugen) kann; gegebene Tatsachen werden dadurch erkannt, dass diesen Urteile eindeutig zugeordnet werden. Der folgenschwere Irrtum Kants und des Neukantianismus ’ bestehe darin, dass beide das Verhältnis vom Denken und Sein missverstanden haben. Schlick zufolge haben Denken und Erkennen bloß bezeichnenden (semiotischen) und keinen konstruktiven Charakter (AE, S. 746f.). Er kommt zu dem Schluss, dass es reine Denkformen im Sinne Kants, die uns einer apodiktisch gültigen Wirklichkeitserkenntnis versichern, nicht gibt. Am Ende seiner Auseinandersetzung mit der kantischen Philosophie stellt er fest: Nun bestand aber die letzte und einzige Möglichkeit strenger, allgemeingültiger Wirklichkeitserkenntnis darin, dass das Bewusstsein der Natur ihre Gesetze diktiert. Da diese Möglichkeit entschwunden ist, so sind wir jeder Hoffnung beraubt, im Erkennen des Wirklichen zu absoluter Sicherheit zu gelangen. Apodiktische Wahrheiten vom Wirklichen übersteigen die Kraft des menschlichen Erkenntnisvermögens und sind ihm nicht zugänglich. Es gibt keine synthetischen Urteile a priori. (AE, S. 782) Aus dieser Konklusion ergibt sich als drängende Frage die nach der Berechtigung einer Erkenntnis, die auf induktivem Wege gewonnen wird. Diese Diskussion führt Schlick im letzten, dem 41. Paragraphen seines Werks: „ Von der induktiven Erkenntnis “ . Zum Leben, zum Handeln und für die Wissenschaft brauchen wir allgemeine Sätze, gültige Prämissen, aus denen wir Schlusssätze deduktiv ableiten können (AE, S. 783). Das Resultat der letzten Betrachtungen war jedoch, dass wir die absolute Gültigkeit solcher empirisch (nicht begrifflich) gewonnen Sätze nicht behaupten dürfen. An dieser Stelle ergeben sich für Schlick drei Fragen: 1) Wie gelangen wir dahin, Sätze von wahrgenommenen Fällen auf nicht wahrgenommene zu übertragen? ; 2) Welcher Art ist die Geltung, die wir für dergleichen Sätze beanspruchen, da wir doch ihre absolute Gültigkeit nicht behaupten dürfen? ; 3) Mit welchem Recht machen wir diesen Anspruch? „ Diese 3 Fragen bilden das Problem der Induktion “ (ebd.). Im Zusammenhang dieser Fragen erörtert Schlick zunächst die Herkunft der Kausalvorstellung. Wie die Bildung der Raum- und der Zeitvorstellung habe auch die Entstehung der Kausalvorstellung subjektive Wurzeln, die durch die empirische Psychologie beschrieben werden können. Unsere Vorstellung der Kausalität sei ein Produkt der Gewöhnung durch Assoziationsvorgänge: das Erleben einer Anzahl gleichartiger Abläufe lässt den Glauben an das durchgehende Bestehen eines allgemeinen Gesetzes entstehen (AE, S. 785f.). Ein Kausalzusammenhang sei nichts anderes als ein 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 99 Gewöhnungszusammenhang (AE, S. 788f.). Der übliche Sprachgebrauch hierfür ist der, dass induktive gewonnene Sätze nicht den Charakter der Gewissheit tragen, sondern nur wahrscheinlich seien (AE, S. 791). Alle unsere Wirklichkeitserkenntnisse seien also streng genommen Hypothesen (AE, S. 792). Keine wissenschaftliche Wahrheit, mag sie historischer Art sein oder der exaktesten Naturforschung angehören, macht davon eine Ausnahme, keine ist im Prinzip von der Gefahr sicher, irgendwann einmal widerlegt und ungültig zu werden. (AE, S. 792) Insbesondere können weder die Vernunft noch die Erfahrung den Beweis der Gültigkeit des Kausalsatzes liefern (AE, S. 802). Man finde aber im Leben eine Art praktischer Rechtfertigung dieses Satzes: [D]er praktische Glaube an den [Kausal]satz entsteht durch Assoziation, durch einen Instinkt, der das handelnde Leben in jedem Augenblicke durchdringt, beherrscht und erhält: die Resultate dieser fundamentalen Lebensfunktion sind für das Leben gültig, es gibt keine andere Art des Geltens für das Handeln. Und der Betrieb der Wissenschaft ist ja auch ein Handeln. Weil die Welt nach dem Kausalprinzip aufgebaut ist, muss alles Leben in dieser Welt jenem Instinkte unterworfen sein. (AE, S. 805) Schlick spricht in diesem Zusammenhang von der „ absolute[n] praktische[n] Sicherung der wahrscheinlichen Geltung allgemeiner Erfahrungsurteile “ (AE, S. 806). Am Ende seines Werkes schreibt er, dass die Gewinnung der Wirklichkeitserkenntnis den einzelnen Wissenschaften aufgegeben sei, die Erkenntnistheorie habe hingegen nur die Aufgabe, die Prinzipien und Bedingungen dieser Arbeit zu beleuchten. Von dem, was die Wissenschaften errungen haben, könne die Erkenntnistheorie „ nichts vernichten oder umwerfen oder verändern, sondern sie will es nur richtig deuten, seinen tiefsten Sinn aufdecken. Solche Deutung ist aber die letzte, höchste wissenschaftliche Aufgabe und wird es bleiben “ (AE, S. 809). Fazit Bereits an dieser Stelle scheint eines klar zu sein: Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre ist ein monumentales Werk, das für die Arbeit der Wissenschaft das erkenntnistheoretische Fundament im Sinne eines konsequenten Empirismus legen will. Schlicks Werk kann als ein Musterbeispiel eines klar durchdachten, systematisch ausgearbeiteten, konsistenten und überschaubaren philosophischen Werks gelten. Schlicks präzise Gedankenführung mit ihren klaren, scharfen und kühnen Konturen, die Stringenz und die Ausführlichkeit seiner Argumentation sind wohltuend. Wohltuend ist auch, dass sich Schlick sichtlich darum bemüht hat, auf alle möglichen Einwände des Lesers einzugehen und ihn wohlwollend, zugleich aber sicher und bestimmt durch die komplexen Landschaften seiner Vorstellungen zu führen. Dabei entsteht vor 100 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus unseren Augen ein philosophisches Gebäude von imponierenden Ausmaßen, das den Eindruck der Solidität und Zuverlässigkeit erweckt. Das Werk ist jedoch fraglos auch ein Versuch einer rationalen Begründung des Reduktionismus, des eliminativen Materialismus und der Hegemonie der Physik und der mathematisierenden Erkenntnis über alle anderen Erkenntnisformen. Schlick liefert scheinbar unschlagbare Argumente dafür, dass Erkenntnis nichts anderes sein könne als ein bloßes Wiedererkennen des Alten im Neuen; dass Intuition keine Erkenntnis sein könne, da Erkenntnis begrifflich sein müsse und sich in nicht in bloßer Anschauung erschöpfen dürfe; dass Begriffe bloße Zeichen für die Wirklichkeit seien, dass das wissenschaftliche Weltbild also nichts anderes darstelle als ein System von Zeichen, deren Präzision der impliziten Definitionen anhand der Axiome zu verdanken sei; dass das Ziel oder Ideal der wissenschaftlichen Erkenntnis darin bestehen müsse, ein Netzwerk von Axiomen und Begriffen zu erstellen, das sich an einigen wenigen Punkten mit der Wirklichkeit decke und ihr so entspreche, dass die übrige Deckung sich von allein ergebe; dass die Qualitäten auf Zahlenverhältnisse zu reduzieren, der „ Herrschaft der Zahl “ zu unterwerfen seien, was seine Begründung und Rechtfertigung darin habe, dass Wärme letztendlich nichts anderes sei als die Bewegung der Moleküle, Licht letztendlich nichts anderes als ein elektromagnetische Welle (bzw. ein Photonenstrom), Psychisches letztendlich nichts anderes als die Aktivität des Gehirns. Es überrascht deshalb nicht, dass die erste Auflage des Werks nach seiner Erscheinung eine lebhafte und wohlwollende Aufnahme „ durch das an einer den Naturwissenschaften zugewandten Philosophie interessierten Publikum “ erfuhr (AE, S. 83). Es wurde in zahlreichen Rezensionen besprochen, 89 die „ weitestgehend zustimmend oder kritisch konstruktiv “ waren (AE, S. 85). Es ergab sich eine umfangreiche Diskussion mit Reichenbach über manche Einzelfragen des Werks, die für die Ausarbeitung der 2. Auflage von Bedeutung war (AE, S. 103 - 113). Schlick schickte ein Exemplar des Buches u. a. an Albert Einstein, der ihm Mitte Oktober 1919 Folgendes schrieb: Morgen fahre ich nach Holland für 2 Wochen und habe als einzige Lektüre Ihre Erkenntnistheorie mitgenommen. Dies zum Beweis dafür, wie gern ich drin lese. Auch Born liebt Ihr Buch sehr. (AE, S. 84) Die wohlwollende Aufnahme durch Physiker überrascht nicht: Das Werk ist im Großen und Ganzen eine Hymne an die Vorzüge der Physik und ihrer Art der Erkenntnisgewinnung. Dennoch, vielleicht gerade weil seine Gedankenführung so präzise, ausführlich und konsequent (ohne Sprünge) ist, zeigen sich beim genaueren Betrachten deutliche Risse und Spalten in dem Gedankenbau und es kann aus heutiger Sicht nur erstaunen, dass sie nicht früher, nicht schon beim Erscheinen des Werks angesprochen und bemängelt wurden. Im Folgenden möchte 89 Für die Aufzählung vgl. AE, S. 85f. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 101 ich einige dieser Probleme chronologisch, d. h. in der Reihenfolge ihres „ Auftauchens “ in Schlicks Argumentation behandeln. Diskussion des I. Teils 1) Alles Erkennen ist ein Wiedererkennen oder Wiederfinden 90 Bereits Schlicks erste zentrale Feststellung: Erkennen ist Wiederfinden des Bekannten im Neuen gibt zu Zweifeln Anlass. Er gewinnt diese Auffassung des Wesens der Erkenntnis zunächst in Bezug auf das Erkennen im Alltag - am einfachen Beispiel des Erkennens des eigenen Hundes in dem sich dem Betrachter schnell nähernden Objekt. Ich werde die entsprechende Stelle wörtlich zitieren, da sie sich kaum vereinfachen lässt: Ich gehe auf der Straße nach Hause; da gewahre ich in der Ferne ein bewegliches braunes Etwas. An seiner Bewegung, Größe und anderen kleinen Merkmalen erkenne ich, dass es ein Tier ist. Die Entfernung verringert sich, und es kommt schließlich ein Augenblick, in dem ich mit Sicherheit erkenne: ich habe einen Hund vor mir. Er kommt immer näher, und bald erkenne ich, dass es nicht bloß irgendein Hund ist, [. . .] sondern ein wohlbekannter, nämlich mein eigener, Tyras, oder wie er sonst heißen mag. (AE, S. 147) Aufgrund dieses und nur dieses einzigen Beispiels gelangt Schlick zu dem folgenschweren Schluss, dass Erkennen nicht mehr sei als Wiedererkennen: „ Allen drei Stufen dieses Erkennens ist gemeinsam, dass dabei ein Objekt wiedererkannt wird, dass in etwas Neuem etwas Altes wiedergefunden wird, so dass es nun mit einem vertrauten Namen bezeichnet werden kann “ (AE, S. 150). Später erweitert Schlick diese Feststellung auf das Gebiet des Erkennens in der Wissenschaft (§ 3, AE, S. 157). Nun, es ist unschwer einzusehen, dass das Wiedererkennen des bereits Bekannten in etwas Neuem voraussetzt, dass etwas eben bereits bekannt ist. Ich kann nicht Hans Müller in der Menschenmenge wiedererkennen, wenn ich nicht früher die Bekanntschaft mit Hans Müller gemacht habe. Die Frage ist also, wie ich Hans Müller erkannt habe. Nach Schlick müssten wir ihn als etwas bereits Bekanntes erkannt haben. Aber als was? Und wie ist dieser ursprüngliche Erkenntnisakt vonstatten gegangen? War es auch ein Wiedererkennen des Bekannten in dem Neuen? Stehen wir hier nicht vor einem unendlichen Regressus? Schlick ist sich dieser Gefahr bewusst und versucht ihr vorzubeugen, indem er für das wissenschaftliche Erkennen die Vermittlung durch die Begriffe postuliert, deren Bedeutung durch Definitionen festgelegt werden kann, wobei er - um eben den unendlichen Regressus zu vermeiden - voraussetzt, dass der Umfang der primitivsten Begriffe durch Anschauung festgelegt wird (heute 90 Vgl. AE, S. 233: „ Sagt jemand: ‚ ich erkenne A als B ‘ oder in anderer, gleichbedeutender Formulierung: ‚ ich erkenne, dass A B ist ‘ - z. B.: ich erkenne, dass das Licht ein Schwingungsvorgang ist - , so heißt das: die Begriffe A und B bezeichnen einen und denselben Gegenstand [. . .]. “ 102 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus würde man dazu ostensive Definition sagen) ( „ Die Merkmale, in die eine Definition den Begriff eines beliebigen wirklichen Gegenstandes auflöst, müssen in letzter Linie immer anschaulicher Natur sein “ [AE, S. 198]). Das mag zunächst überzeugend klingen, erweist sich jedoch bei genauerer Prüfung als problematisch. Erstens geht aus Schlicks Beispiel eindeutig hervor, dass bereits alltägliche Erkenntnis durch Begriffe vermittelt wird. Schlick selber schrieb, dass er „ das braune Etwas “ zunächst als ein Tier erkannt hatte. Es lässt sich schwerlich bestreiten, dass wir es hier bereits mit einem Begriff zu tun haben, dem eines Tieres. Die andere Möglichkeit wäre zu behaupten, dass wir es hier nicht mit einem Begriff, sondern einem Fall der „ Allgemeinvorstellung “ zu tun haben, einer Vorstellung also, „ die in unserem Denken nicht einen einzelnen, individuellen Gegenstand vertr[itt], sondern gleich eine ganze Klasse von Objekten “ (AE, S. 173). Diese Möglichkeit weist Schlick jedoch, meines Erachtens zu Recht, dezidiert zurück, mit dem Hinweis, dass es unmöglich sei, eine Vorstellung von einem Hund zu haben, der weder braun noch weiß, weder groß noch klein, weder Bernhardiner noch Neufundländer usw. ist (ebd.). Wenn wir es aber bereits hier mit einem Begriff (Tier) zu tun haben, stellt sich selbstverständlich die Frage, wie wir mit ihm bekannt werden? Schlick sagt nichts zu diesem Thema und in Bezug auf die Wissenschaft behauptet er, dass - wie bereits erwähnt - die Bedeutung der Begriffe durch Definitionen festgelegt wird. Ein solcher Weg ist jedoch, was das Alltagsleben angeht, sicher untauglich: Kinder lernen die Bedeutung der Begriffe bestimmt nicht anhand von Definitionen. Nun, man könnte hier einwenden, dass die Beantwortung dieser Frage für das Hauptthema von Schlicks Werk, und das ist die wissenschaftliche Erkenntnis, irrelevant sei, wobei man allerdings nicht vergessen darf, dass Schlick selbst zur Bestimmung des Erkenntnisbegriffs von dem Erkenntnisprozess im alltäglichen Leben ausgeht. Und dies ist richtig so, denn der Begriff wird im Alltagsleben gebraucht, und ohne gewichtige Gegenargumente ist davon auszugehen, dass die Bedeutung des Begriffs im wissenschaftlichen Kontext, wenn überhaupt, dann nur unwesentlich von der alltäglichen Bedeutung abweicht und sie allenfalls modifiziert. Wie gelangen wir also zur Erkenntnis der elementaren, alltäglichen Begriffe, einer Erkenntnis im Sinne einer Befähigung, „ das braune Etwas “ als einen Hund zu erkennen? Eine naheliegende Vermutung wäre, dass dies durch Ostension, also durch Zeigen bzw. Hinweisen geschehen kann. Wir wissen aber zumindest seit Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen 91 (§ 239 - 246), 92 dass ostensive Definitionen überhaupt nicht einfach zu vollbringen sind. Bereits das Hinweisen auf konkrete Gegenstände ist ein 91 Wittgenstein 1999 a. 92 Dieses Werk wurde allerdings erst 1953, also bereits nach Wittgensteins Tod veröffentlicht. In diesem Punkt kann man also Schlicks Zeitgenossen verzeihen, dass sie die Schwierigkeit nicht bemerkt haben. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 103 keineswegs eindeutiger Akt. Wenn ich auf einen Apfel zeige und sage, „ Dies ist ein Apfel “ , dann ist meinem Kind nicht unbedingt klar, ob ich das ganze „ Ding “ meine oder vielleicht nur einen Teil davon oder einen Aspekt daran, z. B. die Farbe oder den Stiel oder vielleicht auch das Wurmloch. Ich erlaube mir hier eine kleine persönliche Anekdote, die das Problem sehr schön illustriert. Als mein erster Sohn klein war, wohnten wir in einer modernen Wohnung im ersten Stock. Das Wohnzimmer hatte ein sehr großes Fenster, das von dem Boden bis fast zu der Decke reichte und auf die Parkplätze vor dem Haus hinausging. Es war die Zeit, als mein Sohn seine ersten Worte lernte. Ich habe mich bemüht, ihm möglichst viele beizubringen. Unter ihnen waren auch „ Auto “ und „ Fenster “ . Nach einer gewissen Zeit intensiver Bemühungen habe ich mit Schrecken festgestellt, dass mein Sohn Autos mit dem Wort „ Fenster “ und Fenster mit dem Wort „ Auto “ bezeichnete! Der Ursprung der Verwechslung war leicht zu finden: wenn ich ihm Autos gezeigt habe, dann stets durch das große Fenster des Wohnzimmers. Ich habe also zugleich die Autos und das Fenster gezeigt und mein Sohn hat meine Intention falsch gedeutet. Inzwischen ist er glücklicherweise aus der Verwirrung herausgewachsen und der Vorfall scheint keine bleibenden Schäden hinterlassen zu haben. Nun, an dieser Stelle muss man sich die Frage stellen: Hat mein Sohn eigentlich falsche Begriffe gelernt oder bloß falsche Worte, falsche „ Namenschilder “ mit den richtigen Begriffen in Verbindung gebracht? Interessanterweise ist die Frage schwer zu beantworten, weil ich ihn damals (selbstverständlich) nicht gefragt habe, was er unter dem Wort „ Auto “ und was er unter dem Wort „ Fenster “ verstehe. Es ist jedoch zu vermuten, dass die Begriffe richtig waren, da er die falschen Bezeichnungen konsistent benutzte, also wirklich Autos als „ Fenster “ bezeichnete und umgekehrt. Das Zeigen bzw. Hinweisen ist also immer mehrdeutig. Nehmen wir an, ich zeige nur direkt auf stehende Autos und zwar in einer Art, welche die herumstehenden Gegenstände eindeutig ausschließt. Indem ich jedoch auf ein Auto zeige, zeige ich zwangsläufig zugleich auf Räder, Karosserie, Scheiben, Türen usw. usw. Wie soll die Person, an die sich das Zeigen richtet, wissen, welche von diesen Einheiten ich meine, indem ich „ Auto “ sage? Nun, sie kann raten, dass ich das ganze „ Ding “ meine, da ich keine Differenzierungen mache. Die Tür kann man öffnen, das Rad kann man separat zeigen, um es von der ganzen Gestalt abzusondern. Aber dann kommt der entscheidende Punkt: Wenn der Lehrling versteht, dass ich das ganze vor uns stehende „ Ding “ als „ Auto “ bezeichne, was für einen Begriff dieses Dinges bildet er sich dann eigentlich? Schlick zufolge muss er dieses „ Ding “ als etwas bereits Bekanntes wiedererkennen. Das Problem aber ist, dass er sich eben einen neuen Begriff bilden sollte. Diesen Schritt hat Schlick in seiner Erzählung vernachlässigt. Er war davon ausgegangen, dass er die Begriffe „ Tier “ , „ Hund “ , „ Tyras “ bereits hatte und das wahrgenommene „ Ding “ als zu der entsprechenden Klasse gehörend erkennen konnte (wobei die letzte Klasse nur ein Element beinhaltet). Die Frage ist jedoch, wie der Begriff 104 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus einer Klasse gebildet wird. Im Falle eines Autos muss man fähig sein, Unterscheidungen zwischen Motorrädern, Fahrrädern, Autos, Lastwagen, Bussen usw. zu treffen, im Falle eines Hundes vermutlich die zwischen Kühen, Pferden, Schweinen, Schafen, Hühnern, Gänsen, Enten, Katzen, Hunden usw. Man muss also die Fähigkeit haben, die für die Wahrnehmung doch ziemlich unterschiedlichen Objekte zusammenzubringen und sie zugleich von anderen Objekten, zu denen doch gewisse Ähnlichkeiten bestehen (neben Hunden haben auch Katzen, Pferde, Schafe, Kühe, Schweine usw. vier Beine), zu unterscheiden. Diese komplexe kognitive Fähigkeit, die keineswegs auf das Definieren oder Hinweisen reduziert werden kann, besitzen offensichtlich bereits kleine Kinder und dank dieser Fähigkeit können sie neue Begriffe bilden bzw. lernen. In der Tat, die neusten Untersuchungen belegen, dass bereits sechs Monate alte Säuglinge über gewisse einfache Begriffe verfügen (Bergelson und Swigley 2012). Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die „ Gestalten “ , die sich in diesem Prozess bilden, keineswegs bloße Zusammensetzungen aus bestimmten Teilelementen sind. Das Auto wird nicht als ein Gebilde, das aus vier Rädern, einigen Türen, einigen Fenstern, einer Karoserie usw. besteht, verstanden, der Hund nicht als ein Lebewesen, dass sich aus vier Beinen, einem Rumpf, einem Kopf, zwei Ohren, einer Schnauze und einem Schwanz zusammensetzt. Wenn der Erwerb eines Begriffs eines äußeren Gegenstandes solche komplexe Prozesse voraussetzt, so muss man sich vorstellen, dass die Schwierigkeit exponentiell wächst, wenn es darum geht, Begriffe interner Zustände oder Empfindungen (Lust, Unlust, Freude, Trauer, Schmerz, aber auch Gedanke, Vorstellung, Begriff usw.) zu erwerben. Denn in solchem Fall haben wir mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass das mit dem entsprechenden Begriff gefasste Phänomen überhaupt nicht in einer hinweisenden Geste zugänglich ist. Und doch sind wir auch in diesem Fall durchaus fähig, entsprechende Begriffe zu bilden. Wie ist das überhaupt möglich? Die Möglichkeit, Begriffe der internen oder psychischen Zustände zu bilden, deutet darauf hin, dass die Prozesse, durch die es im Falle der äußeren Gegenstände/ Phänomene zur Begriffsbildung kommt, den Prozessen jener Begriffsbildung ähnlich sind. Es ist nicht auszuschließen, dass das Hinweisen bei der Begriffsbildung allgemein eine höchstens untergeordnete Rolle spielt, dass wir in die Irre gehen, wenn wir annehmen, dass es hier von zentraler Bedeutung ist. In der Tat muss uns schon der Umstand vorsichtig machen, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass die Eltern eines Kindes ihm die Begriffe durch stetiges Aufzeigen beibringen, und viel wahrscheinlicher, dass das Kind sie irgendwie „ aus der Luft “ , aus den Gesprächen, denen es beiwohnt, „ aufschnappt “ . Welches sind also die Mechanismen, die zum Erlernen von elementaren Begriffen führen? Wir müssen hier nicht die endgültige Antwort auf diese wichtige Frage liefern. Für unseren Kontext ist lediglich die Frage entscheidend, ob das Erkennen tatsächlich immer ein Wiedererkennen des Alten im Neuen 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 105 bedeutet, wie Schlick behauptet. Denn diese Behauptung wird, wie wir noch sehen werden, innerhalb seines Systems gewichtige Konsequenzen haben. Mir scheint, dass die obigen Beispiele bereits ausreichen, um Schlicks Behauptung in Zweifel zu ziehen. Betrachten wir das Problem aber noch genauer. Wir können das am Beispiel des Erkennens einer Person tun. Dafür genügt es, Schlicks Beispiel mit seinem Hund Tyras ein wenig auszudehnen. Nehmen wir an, dass wir auf der Straße unseren Freund Hans Müller oder unsere Freundin Greta Muschg wiedererkennen. Der Akt des Wiedererkennen ist verhältnismäßig einfach zu verstehen: wir sehen die bekannten Gesichtszüge oder den bekannten Gang, oder vielleicht hören wir die bekannte Stimme (Das dies keineswegs einfache kognitive Leistungen sind, hat man erst jüngst zur Kenntnis nehmen müssen, als man realisierte, wie schwer es ist, Computern beizubringen, Gesichter oder die Stimme zu erkennen.) Was heißt es aber, Hans Müller bzw. Greta Muschg zu kennen? Besteht unsere Bekanntschaft mit diesen Menschen tatsächlich darin, dass wir sie unter bereits bekannte Begriffe subsumieren? Dies scheint nicht der Fall zu sein. Hans Müller oder Greta Muschg sind für uns nicht in erster Linie Exemplare einer Gattung (Mensch, Mann, Frau), sondern eigenständige und individuelle Persönlichkeiten. Es ist zweifelsohne wahr, dass wir an ihnen bekannte Elemente wiedererkennen: Gesicht, Hände, Füße, Kleider usw., wir erkennen in ihnen auch Persönlichkeitseigenschaften, die wir vielleicht bereits an anderen Menschen erkannt haben (obschon sie hoffentlich auch Eigenschaften aufweisen, die ihnen genuin eigentümlich sind). Man könnte deshalb postulieren, dass wir uns den Begriff unseres Freundes Hans Müller und den unserer Freundin Greta Muschg als eine Art komplexe Kreuzung oder Mischung ihrer entsprechenden körperlichen und seelischen Eigenschaften bilden. Wir sehen sie als Träger gewisser Eigenschaften, die wir bereits woanders kennengelernt haben. An dieser Stelle haben wir aber drei Probleme: 1) Schlick bestreitet vehement, dass wir die Gegenstände als „ Träger der Eigenschaften “ verstehen; 2) Ist der Mensch für uns tatsächlich bloß eine Summe der Eigenschaften? ; 3) Ist man berechtigt anzunehmen, dass wir den Begriff oder die Idee eines uns gut bekannten Menschen aus diesen Einzelheiten konstruieren? Wenn ja, dann müsste sich, wenn sich die Eigenschaften ändern, wir z. B. eine neue Eigenschaft entdecken, auch der Mensch ändern. Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Ist es nicht plausibler, sich den Vorgang so vorzustellen, dass wir von dem Begriff der Individualität ausgehen und ihn entsprechend unserer Erfahrungen sukzessiv anreichern und ausgestalten? In diesem Zusammenhang mag der Hinweis angebracht sein, dass - soweit wir das beurteilen können - die ersten Begriffe, die ein Kind beherrscht, keineswegs die Begriffe der Sinnesqualitäten (Blau, warm usw.) sind, sondern vielmehr die von Mutter und Vater (zumindest sind dies für gewöhnlich die ersten Wörter, die das Kind sprechen lernt), also recht komplexer „ Gestalten “ , an welchen erst in einem späteren Stadium die 106 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Einzelheiten (Augen, Nase, Hände usw.) ausdifferenziert werden. Jeder Mensch ist einzigartig, ein unwiederholbares Individuum, anders als alle andere, eine völlig neue Gestalt. Einen Menschen zu erkennen, ist ein langer Prozess. Ihn erkennen heißt nicht, ihn als etwas Altes zu erkennen, sondern genau als eine einzigartige, völlig individuelle Persönlichkeit. Demnach scheint man nicht sagen zu dürfen, dass alles Erkennen im gewöhnlichen Leben bloß ein Wiedererkennen des Alten im Neuen sei. Aber vielleicht wollte Schlick lediglich behaupten, dass der Aufbau der Begriffe aus einfachsten „ Bausteinen “ der Wahrnehmungsqualitäten charakteristisch nicht für die Verhältnisse des Alltagslebens, sondern für die strenge Begriffsbildung der Wissenschaften ist? Wenn ja, dann wäre er uns allemal die Erklärung schuldig, wie das Alltagserkennen zustande kommt, denn seine Erklärung, dass dies nichts anderes sei als Wiedererkennen, erweist sich als untauglich. Schauen wir uns aber genauer an, wie sich der Erkenntnisprozess in der Wissenschaft vollzieht. Entspricht er dort tatsächlich Schlicks Vorstellungen? Schlick gibt u. a. das Beispiel des Erkennens eines Metalls als Silber (AE, S. 195 f). Er schreibt: Wenn man mir ein Stück Metall in die Hand gibt, so werde ich nicht erkennen können, ob es etwa reines Silber ist oder nicht, solange ich auf die Wahrnehmungen angewiesen bin, die ich durch blosses Ansehen oder Betasten des Stückes gewinne. Denn die Erinnerungsvorstellungen, die ich vom Silber habe, sind nicht scharf genug, um sich deutlich von den Vorstellungen ähnlicher Metalle, etwa des Zinns oder gewisser Legierungen, zu unterscheiden. Ganz anders jedoch, wenn ich den wissenschaftlichen Begriff des Silbers zu Hilfe nehme. Dann ist es definiert als ein Stoff vom spezifischen Gewicht 10,5, vom Atomgewicht 108, von bestimmter elektrischer Leitfähigkeit usw. [. . .] (AE, S. 194 - 196) Das alles ist sicher richtig, die Frage ist aber, wie wir dazu gekommen sind, diese (und viele andere) Einzelheiten über die Eigenschaften dem Silber zuzuschreiben? Es gab nämlich eine Zeit, als die Menschen keine Ahnung davon hatten, dass das spezifische Gewicht des Silbers 10,5 G/ cm 3 beträgt (heute wird sie mit 10,49 bei 20°C angegeben), das Atomgewicht des Silbers 108 (heute wird sie übrigens mit 107,8682 angegeben) und das Silber ein elektrischer Leiter ist. Und dennoch, die damaligen Menschen erkannten Silber richtig als Silber. Wie machten sie das? Es ist doch offensichtlich, dass man zuerst etwas als eine besondere Substanz, eine „ Gattung “ für sich erkennen muss, um dann die Eigenschaften dieser Substanz allmählich erkennen zu können, und nicht umgekehrt. Also hier auch scheint es wie im Falle von Hans Müller oder Greta Muschg (oder Mutter und Vater), dass die Identifizierung einer neuartigen „ Gestalt “ im Vordergrund steht, einer Gestalt, die keineswegs als etwas bereits Bekanntes identifiziert wird, sondern eben als etwas Neues entdeckt. Wie kommt es zu einer solchen Entdeckung? Es ist sicher nicht einfach, den Prozess der Entdeckung des Silbers als Silber oder die des Goldes als Gold usw. zu rekonstruieren, weil diese Entdeckungen zu weit zurückliegen, 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 107 als dass wir uns gesicherte Vorstellungen bzw. Erkenntnisse über sie bilden könnten. Wir können jedoch ziemlich genau nachvollziehen, wie es zur Entdeckung der sog. Elementarpartikel gekommen ist, denn diese Entdeckung ist relativ jungen Datums und verhältnismäßig gut dokumentiert. Schauen wir uns die Geschichte der Entdeckung des Elektrons an, die Schlicks sicher gut bekannt war. Im Jahr 1897 wollte J. J. Thompson, ein Professor für Physik an der Universität von Cambridge, Genaueres über die damals bereits bekannte sog. Kathodenstrahlen in Erfahrung bringen. Man wusste, dass, wenn man in einem Glasbehälter, aus dem die Luft herausgepumpt worden war, zwei Metallplatten in einer gewissen Entfernung voneinander anbringt und diese Platten mit einer ausreichend großen Spannung elektrisch lädt, die eine positiv, die andere negativ, gewisse „ Strahlen “ von der negativ zu der positiv geladenen Platte fließen werden. Da die negative Platte üblicherweise als Kathode bezeichnet wurde (die positive als Anode), nannte man diese Strahlen „ Kathodestrahlen “ . Thompson und seine Zeitgenossen wussten, dass die Kathodenstrahlen, wenngleich sie normalerweise den geraden Weg von einer Platte zur anderen nahmen, durch magnetische Felder gebeugt werden konnten. Durch Messungen solcher Beugungen gelangte Thompson zu dem Schluss, dass die „ Strahlen “ aus negativ geladenen Teilchen bestanden. Er konnte auch das Verhältnis der Masse dieses Teilchens zu seiner Ladung bestimmen. Dieses erwies sich als mindestens 1000 Mal kleiner als das entsprechende Verhältnis eines Wasserstoffions (also, wie wir es heute wissen, eines Protons). Thompson folgerte, dass dieser gewaltige Unterschied entweder auf die geringe Masse der Teilchen oder auf die von ihnen getragene große Ladung oder auf die Kombination beider zurückzuführen ist. Da jedoch die „ Kathodenstrahlen “ ohne Weiteres verdünntes Gas durchdringen konnten, folgerte er zu Recht, dass sie unmöglich eine große Ladung tragen können, also eine kleine Masse haben müssen verglichen mit der Masse eines Atoms. Thompsons Messungen und Schlussfolgerungen werden als die Entdeckung des Elektrons erachtet (Ford 2004, S. 30 f). Nun kann diese Geschichte von Schlicks Auffassung des Wesens der Erkenntnis her auf zwei verschiedene Weisen gedeutet werden. Der einen Deutung nach bestätigt sie diese Auffassung: Elektronen wurden als Teilchen erkannt und der Begriff des Teilchen war selbstverständlich bereits damals bekannt. Der anderen Deutung nach ist das, was hier im Vordergrund steht, nicht die Tatsache, dass Elektronen als Teilchen erkannt wurden, sondern, dass eine völlig neue Art von Teilchen, die sich als fast unvorstellbar klein erwiesen habe, entdeckt wurde. Welche Deutung ist nun die richtige? Wenden wir unseren Blick an dieser Stelle nochmals auf die alltägliche Erkenntnis zurück. Ich sehe vor mir mehrere Bäume: eine Birke, eine Eiche, eine Kastanie und eine Buche. Ich weiß, dass es sich bei ihnen allen eben um Bäume handelt. Ich weiß auch, dass sie genauso wie das Gras, das um sie herum wächst, und die kleinen Löwenzahnblumen, die im Gras sichtbar sind, Pflanzen sind. Nun kann man sich die Frage stellen: Bedeutet es einen Erkenntniszuwachs, wenn 108 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus ich von den Einzelheiten der Birke, Eiche, Kastanie usw. abstrahiere und sie alle pauschal als Bäume oder sogar als Pflanzen betrachte, oder bedeutet dies einen Erkenntnisverlust? Ich glaube, diese Frage lässt sich recht leicht beantworten: meine Erkenntnis der Birke als Birke beinhaltet alle die Eigenschaften dieses Baumes, kraft welcher er eben als ein Baum oder als eine Pflanze bezeichnet werden kann, ich gewinne aber substanziell mehr an Erkenntnis dieses Baumes, wenn ich diesen allgemeinen Eigenschaften auch jene beifüge, die nur der Birke, nicht aber der Eiche usw. zukommen. 93 Das Gleiche lässt sich über die Erkenntnis eines konkreten Menschen sagen: Wenn ich Hans Müller oder Greta Muschg bloß als Menschen bezeichne, ist meine Erkenntnis dieser Personen nur sehr allgemein und abstrakt. Ich kenne sie als Individualitäten noch überhaupt nicht. Wenn ich weiß, dass die eine Person ein Mann, die andere eine Frau ist, dann weiß ich schon ein wenig mehr über sie, wenn auch noch nicht allzu viel. Meine Erkenntnis wächst, nicht indem ich sie auf die möglichst allgemeinen Begriffe, unter die sie subsumiert werden können, zurückführe, sondern indem ich immer mehr Einzelheiten über sie in Erfahrung bringe und insbesondere an ihnen Eigenschaften entdecke, die für jede dieser Personen einzigartig und vielleicht - in ihrer Ausprägung oder Kombination - gar nicht replizierbar sind, d. h. keiner anderer Persönlichkeit zukommen. Die Beobachtung des Prozesses des Spracherwerbs bei Kindern legt die Vermutung nahe, dass sich dieser weder von den abstrakten „ Sinnesqualitäten “ (Blau, Warm usw.) in Richtung auf die Gegenstände noch von den abstrakten Begriffen (Mensch, Substanz, Kraft) in Richtung auf die konkreten Objekte vollzieht, sondern vielmehr gleichsam von der Mitte aus, von den konkreten Individualitäten aus (Mutter, Vater usw.) in Richtung auf die beiden begrifflichen Extreme (abstrakte Sinnesqualitäten, abstrakte Begriffe). In jedem Fall erscheint das Erkennen vor dem Hintergrund dieser Analyse keineswegs als eine Rückführung des Neuen auf das Alte, sondern vielmehr als eine Ergänzung des Alten durch neuartige Elemente bzw. Eigenschaften. Warum ist Schlick dann zu seinen ganz anderes lautenden und doch einigermaßen kontraintuitiven Schlüssen gekommen? Wenn man seine Vorgehensweise beleuchtet, fällt auf, dass er als sein paradigmatisches Beispiel des Erkennens einen paradigmatischen Fall der Wiedererkennung gewählt hat. „ Das braune Etwas “ als den eigenen Hund Tyras zu erkennen, ist eigentlich eine ungenaue Beschreibung der Sachlage, unabhängig davon, dass die deutsche Sprache einen solchen Gebrauch der Sprache durchaus zulässt. (Interessanterweise würde man im Englischen an dieser Stelle eindeutig von „ recognising “ und nicht von „ knowing “ des Hundes sprechen; auf Polnisch würde man sagen: „ ja rozpoznaje w tym zwierzeciu mego psa “ , nie „ ja 93 Es ist eine in der Logik wohlbekannte Tatsache, dass die Begriffe, je allgemeiner sie werden, desto mehr an Umfang (an der Zahl der unter sie „ fallenden “ Objekte bzw. Token) gewinnen, jedoch an ihrem Inhalt verlieren. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 109 poznaje w tym zwierzeciu . . . “ ). Ich kannte Tyras schon als meinen Hund mit seinen individuellen Eigenschaften, bevor ich ihn in dem „ braunen Etwas “ wiedererkennen konnte. Das Gleiche trifft selbstverständlich auf die Wiedererkennung von Hans Müller oder Greta Muschg in einer Menschenmenge zu. Ich hätte sie nicht wiedererkennen können, wenn ich sie nicht früher bereits (gut) gekannt hätte. Das Verheerende an Schlicks Vorgehensweise ist, dass er nicht nur das Beispiel radikal falsch wählt, sondern dass er sich grundsätzlich mit diesem einen Beispiel begnügt und dann seine irreführenden Schlussfolgerungen auf alle Situationen verallgemeinert. Insbesondere führt er gerne die Reduktion des Lichts auf „ elektromagnetische Wellen “ als Beispiel für den wissenschaftlichen Erkennungsprozess an (AE, S. 154f., 233, 236, 247, 622). Seiner Ansicht nach haben wir „ das Wesen “ des Lichts erkannt, indem wir es auf solche Wellen zurückgeführt haben. Dies mag eine korrekte Beschreibung des Erkenntnisprozesses des Lichts im Sinne seiner Theorie sein, in Rücksicht auf das oben Gesagte aber muss man die Frage stellen, ob wir bei diesem Fall der Reduktion des Einen (des Lichts) auf das Andere (die elektromagnetischen Wellen) nicht von einem ähnlichen Erkenntnisverlust sprechen müssen, den wir bei der Rückführung der Birke auf den Begriff „ Baum “ festgestellt haben. Übrigens, wenn Erkennen tatsächlich Zurückführen das Neuen auf das bereits Bekannte ist, wie Schlick behauptet, muss man sich die Frage stellen, warum man eigentlich das Licht auf die elektromagnetischen Wellen zurückführen sollte und nicht umgekehrt. Licht ist uns sehr viel mehr bekannt als die elektromagnetischen Wellen, also sollte man sie im Sinne Schlicks auf das Licht „ reduzieren “ , und nicht umgekehrt. Ich habe oben von der Entdeckung des Elektrons gesprochen. Lassen Sie mich diesen Abschnitt mit dem Hinweis abschließen, dass bereits die Existenz dieses Begriffs Schlick in Bezug auf seine Ansichten hätte „ stutzig “ machen sollen. Denn eine Entdeckung scheint selbstverständlich einen Erkenntniszuwachs zu bedeuten. Und zugleich deutet dieses Wort unzweifelhaft darauf hin, dass das Entdeckte etwas Neuartiges ist, etwas, das früher nicht da gewesen ist. Entdecken lässt sich nicht auf das bereits Bekannte reduzieren. Aber wenn dies der Fall ist, dann kann alles Erkennen unmöglich eine solche Reduktion bzw. ein solches Zurückführen sein. (Wie werden zu dem Problem der Entdeckung in Bezug auf die Begriffe später zurückkehren). 2) Ihre Natur besteht ja darin Zeichen zu sein 94 Betrachten wir jetzt einen weiteren wichtigen Eckpfeiler von Schlicks System: seine Behauptung, dass die Begriffe nichts anderes sind als Zeichen, die man einigermaßen willkürlich an die Stelle der durch sie bezeichneten Gegenstände setzt. Wie oben summarisch dargestellt, erreicht Schlick diese Behauptung auf folgendem Wege: Unsere Vorstellungen sind zwangsläufig unscharf 94 AE, S. 179, 180, 184, 191. 110 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus und unstetig, und je weiter zurück eine Wahrnehmung liegt, der eine bestimmte Vorstellung entspricht, desto unschärfer ist die Vorstellung, die ihr entspricht. Unsere Erkenntnis soll jedoch zuverlässig und präzise sein. Dies lässt sich anhand der Vorstellungen nicht erreichen. Der Mensch hilft sich mit Blick auf sein Ziel, zuverlässige Erkenntnis möglich zu machen, indem er an die Stelle der Vorstellungen Begriffe setzt, die sich von den „ anschaulichen “ Vorstellungen dadurch unterscheiden, dass sie vollkommen bestimmt sind und „ nichts Schwankendes “ an sich haben (AE, S. 178). Diese Eigenschaft der Begriffe wird dadurch erreicht, dass ihr Inhalt mittels Definitionen festlegt wird: „ Durch die Definition sucht man also das zu erreichen, was man in der Wirklichkeit der Vorstellungen niemals vorfindet, aber zum wissenschaftlichen Erkennen notwendig gebraucht, nämlich absolute Konstanz und Bestimmtheit “ (AE, S. 180). „ Wir schalten mit den Begriffen so, als ob es Vorstellungen mit völlig genau umrissenen Eigenschaften wären, die sich stets mit absoluter Sicherheit wiedererkennen lassen “ (AE, S. 179). Es folgt aus dieser Bestimmung des Wesens der Begriffe zwingend, dass sie nichts Wirkliches sind, „ weder reale Gebilde im Bewusstsein des Denkenden, noch gar (wie es die Meinung des ‚ Realismus ‘ im Mittelalter war) irgend etwas Wirkliches an den realen Objekten, die durch sie bezeichnet werden. Es gibt streng genommen überhaupt keine Begriffe, wohl aber gibt es eine begriffliche Funktion [. . .]. “ (AE, S. 184f.). 95 Begriffe sind nichts als Zeichen für die Gegenstände, die unter sie „ fallen “ (AE, S. 188, 239), man kann sie sogar mit den Nummern vergleichen, durch die wir die Bücher, die in einer Bibliothek vorhanden sind, im Katalog repräsentieren (AE, S. 253). Sind Begriffe tatsächlich das, wofür sie Schlick hält? Erstens mag es überraschen, dass er von der begrifflichen Erkenntnis erst im Kontext der wissenschaftlichen Erkenntnis spricht und so den Anschein erweckt, als spielten Begriffe in der Alltagserkenntnis überhaupt keine Rolle. Eine solche Behauptung lässt sich sehr schwer mit unserer Erfahrung vereinbaren (wir haben bereits gesehen, dass wir, wie Schlick selber sagt, im Alltagsleben Begriffe verwenden, z. B. „ Hund “ ), sie lässt sich aber auch schwer mit Schlicks eigenem Gedankengang in Einklang bringen. Denn wie wir gesehen haben, behauptet er, dass das Erkennen ein Wiederfinden des Bekannten im Neuen und „ alles Wiederfinden [. . .] ein Gleichsetzen dessen [ist], was erkannt wird, mit dem, als was es erkannt wird “ (AE, S. 166). Er weist dann zu Recht darauf hin, dass ein Wiederfinden ein Vergleichen (des Neuen mit dem Alten) 95 Überraschenderweise erklärt Schlick nicht, was er mit dieser Funktion meint. Die Herausgeber der AE führen diesen Ausdruck auf die folgenden Ausführungen Ernst Cassirers in Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik zurück: „ Aber je mehr der Begriff gleichsam von allem dinglichen Sein entleert wird, um so mehr tritt auf der andern Seite seine eigentümliche funktionale Leistung hervor. Die festen Eigenschaften werden durch allgemeine Regeln ersetzt, die uns eine Gesamtreihe möglicher Bestimmungen mit einem Blick überschauen lassen “ (S. 29), zitiert in AE, Fußnote 79, S. 185. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 111 voraussetzt, und stellt - wieder zu Recht - fest, dass ein solches Vergleichen im Falle von verschwommenen, unscharfen Vorstellungen nur mit großen Schwierigkeiten zu bewerkstelligen ist. Die Aufgabe gestalte sich insbesondere dann schwierig, wenn man die Zuordnung eines Exemplars ( „ das braune Etwas “ ) zu einer Klasse ( „ Hund “ ) vollziehen soll, denn in diesem Fall müsste man die Vorstellung des Einzelexemplars mit der Vorstellung der ganzen Klasse vergleichen, es gibt aber überhaupt keine allgemeinen Vorstellungen (AE, S. 174). Schlick überwindet diese offensichtliche und tiefe Schwierigkeit mit der unbekümmerten Feststellung, dass ein Erkennen im alltäglichen Leben eben doch „ auf diese Weise zustande kommt und praktisch ausreichende Sicherheit besitzt “ (AE, S. 171). Später heißt es bei ihm in Bezug auf die Zuordnung eines Exemplars zu einer Klasse: „ Die Erfahrung lehrt auch hier, dass es [Vergleichen und Gleichfinden] tatsächlich möglich ist und zwar mit einem Grade der Sicherheit, der für die Fälle des täglichen Lebens fast immer ausreicht, aber doch auch schon hier manchmal zu Irrtümern führt “ (AE, S. 176). Nun, dies mag erstaunen angesichts der erheblichen Schwierigkeiten, die sich in diesem Zusammenhang ergeben dürften, wie Schlick selbst einräumt. Wie erklärt er denn diese unsere merkwürdige und in Anbetracht der Tatsache, dass wir über keine allgemeinen Vorstellungen verfügen, sogar fast wundersame Fähigkeit? Nun, dazu findet sich bei ihm Folgendes: Im allgemeinen werde ich einen Hund ganz richtig als Hund erkennen, indem das Wahrnehmungsbild [des braunen Etwas] in genügendem Grade übereinstimmt mit irgendwelchen Vorstellungen von Tieren, die ich irgend einmal gesehen habe und als Hunde bezeichnen lernte. 96 (AE, S. 176) Schlicks Unbekümmertheit an dieser Stelle ist erstaunlich. Zunächst ist nicht klar, wie ich mein gegenwärtiges Wahrnehmungsbild mit irgendeiner Vorstellung vergleichen kann. Denn man muss sich die Frage stellen, ob ich, während ich „ das braune Etwas “ wahrnehme, überhaupt eine Vorstellung „ nebenher “ habe. Normalerweise bilden wir, genauer gesagt, vergegenwärtigen wir uns unsere Vorstellungen, wenn wir nichts wahrnehmen, sondern mit geschlossenen Augen in Ruhe irgendwo sitzen. Es ist überhaupt nicht einfach, obschon nicht unmöglich, eine konkrete, gut konturierte Vorstellung parallel zu einer gegenwärtigen Wahrnehmung, die doch stark auf uns einwirkt, zu haben. Zweitens, wenn ich mir eine Vorstellung ins Gedächtnis „ rufen “ soll, dann muss man die Frage stellen, welche? Ich habe nämlich unendlich viele Vorstellungen zur Verfügung. Eine oberflächliche Antwort auf diese Frage würde lauten, selbstverständlich alle diese Vorstellungen, die dem gegenwärtigen Wahrnehmungsbild ähneln. Das Problem ist nur, solange ich die Vorstellung nicht habe, kann ich sie nicht mit der Wahrnehmung 96 Man beachte, dass Schlick an dieser Stelle bemüht ist zu vermeiden, vom Begriff des Hundes zu reden. Deshalb erfolgt der Vergleich seiner Meinung nach nicht mit dem Begriff, sondern mit „ irgendwelchen Vorstellungen “ von Hunden. 112 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus vergleichen, und wenn sie bloß in meinem Gedächtnis „ gespeichert “ ist, so „ habe “ ich sie nicht gegenwärtig. Ich müsste einen unbewussten Prozess voraussetzen, der ähnlich der Suchfunktion eines Computers die „ Festplatte “ meines Gedächtnisses „ scannt “ , um die Ähnlichkeit von etwas, das dort „ gespeichert “ ist, mit der gegenwärtigen Wahrnehmung festzustellen. Man kann sich einen solchen Prozess vorstellen, dieser aber wäre von mir, von meinem Bewusstsein und meiner bewussten Anstrengung unabhängig. Damit aber sind wir noch nicht am Ende der Schwierigkeiten. Was würde „ vergleichen “ konkret heißen? Man müsste „ Dinge “ vergleichen, die sich womöglich kaum, wenn überhaupt vergleichen lassen. Anhand welcher Kriterien aber entscheiden wir (oder entscheidet der postulierte Mechanismus), was ähnlich ist und was nicht? Schlick schreibt, dass die gegenwärtige Wahrnehmung mit eben jenen meiner Erfahrungsvorstellungen verbunden wird, die „ in genügendem Grade “ mit ihr übereinstimmen (und die damals, als sie gebildet worden sind, den Wahrnehmungen entsprachen, die ich als „ Hund “ bezeichnet habe.) Wie kann ich die gegenwärtige Wahrnehmung mit den „ gespeicherten “ Vorstellungen vergleichen? Warum? Ist es so, dass ich mir sage (im Bruchteil einer Sekunde): „ Sicher kein Baum, sicher kein Auto, sicher kein Flugzeug, sicher keine Blume, sicher nicht Greta Muschg “ usw.? Vermutlich benutze ich, um solche unbewusste Entscheidungen zu treffen, irgendwelche Kriterien, z. B.: „ Es bewegt sich, also sicher kein Baum, keine Blume “ , ferner: „ Es ist klein, also sicher kein Auto oder Flugzeug “ , vielleicht ferner „ Es hat vier Beine, also sicher nicht Greta Muschg “ . Man kann sich auch eine „ positive “ Suchmethode vorstellen: „ Es ist klein, es bewegt sich, es hat vier Beine, es ist braun, was kann es sein? “ Bereits die Feststellung, dass es unter den kleinen Tieren zu suchen ist, ist keineswegs selbstverständlich und dazu ist sie nicht sonderlich scharf umrissen (was heißt „ kleines Tier “ ? ). Wenn wir dazu noch ein zweites Kriterium hinzufügen: unter den vierbeinigen Tieren zu suchen, dann haben wir gewaltige Schwierigkeiten. Denn was ist ein Bein? Die Beinformen verschiedener Tiere unterscheiden sich bekanntlich gewaltig voneinander, was ist ihnen allen eigentlich gemeinsam? Und woran erkenne ich aus der Entfernung und möglicherweise bei schlechter Sicht, dass „ das braune Etwas “ überhaupt Beine hat? Dieses Problem führt uns schließlich zu dem tiefsten Rätsel: Schlick schrieb sorglos, dass wir das Wahrnehmungsbild „ des braunen Etwas “ mit „ irgendwelchen Vorstellungen von Tieren, die ich irgend einmal gesehen habe und als Hunde bezeichnen lernte “ vergleichen. Welche „ irgendwelche Vorstellungen “ von Hunden meint er? Ich kann nur konkrete Vorstellungen haben, die sind nie miteinander identisch, es muss also etwas vorhanden sein, dass diese unterschiedlichen Vorstellungen (wie die unterschiedlichen Vorstellungen von unterschiedlichen Beinen) miteinander vereint, so dass ich sagen kann: „ Vorstellung V 1 bis Vorstellung V n sind alle Vorstellungen von Hunden “ , und kraft dessen ich allen diesen Vorstellungen das Etikett „ Hund “ „ aufkleben “ kann. Normalerweise würden wir diese Funktion dem Begriff 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 113 überlassen, Schlick will jedoch den Begriff des Begriffs nur für die wissenschaftliche Erkenntnis reservieren und sie als per Definition festgelegt betrachten. Mir scheint aber, dass die genauere Analyse, deren Konturen ich oben angedeutet habe, ergibt, dass auch im Alltagsleben kein Wiedererkennen und auch kein Erkennen ohne Begriffe zustande kommen kann. Dieser Befund hat aber gravierende Folgen für Schlicks Position. Denn weil an der Feststellung kein Weg vorbeiführt, dass wir im Alltagsleben bestens ohne Definitionen auskommen (wer hat je versucht, den Tisch oder die Kuh zu definieren? ! ), muss es zwangsläufig Begriffe geben, die nicht durch Definitionen festgelegt sind. Man könnte meinen, dass dies kein sonderliches Problem darstelle, schließlich ließe sich die Bedeutung der Alltagsbegriffe stets durch Hinweisen verdeutlichen bzw. festlegen. Wir haben aber bereits gesehen, dass ein solcher Ausweg keiner ist: der Begriff muss bereits da sein, um einen Gegenstand als ein Beispiel (eine mögliche konkrete Realisierung, ein Token) dieses Begriffs erkennen zu können. Darüber hinaus ist überhaupt nicht einsichtig, wie man auf solchem Wege die Begriffe der „ internen “ psychischen Zustände und Phänomene oder auch abstrakte Begriffe (Liebe, Frieden, Gerechtigkeit, Gedanke usw.) „ definieren “ könnte. Wenn sie aber nicht durch Definition und nicht durch Hinweisen festgelegt werden, wie entstehen sie dann überhaupt? Heutzutage denkt man sich das für gewöhnlich ungefähr folgendermaßen: vor sehr, sehr langer Zeit realisierte irgendein Neandertaler, dass das, was er gerade in der Hand hielt, und das, was er am Tag zuvor in der Hand gehalten hatte (und was mit dem Ding von heute nicht identisch war), eigentlich gleich sei, das gleiche Ding, nämlich eine Keule. Unser Neandertaler freute sich sehr, diese Entdeckung machen zu können, und brach umgehend auf, weil er sie seinen Kameraden in der Höhle beibringen wollte. Angekommen, legte er die beiden Gegenstände vor dem Lagefeuer nieder, zeigte auf sie und machte dabei jeweils Grunzgeräusche der gleichen Art, etwa „ Dies ist (hinweisende Geste) HrmHrm und dies ist (erneut eine hinweisende Geste, diesmal auf den anderen Gegenstand gerichtet) HrmHrm. Nach langem hin und her haben seine Höhlenkammeraden kapiert, dass er in den beiden offensichtlich unterschiedlichen Gegenständen das Gleiche erblickt. Haben sie auch verstanden, dass er in beiden Fällen eine Keule meinte? Kaum, sie sind wohl eher zu der Überzeugung gekommen, dass der Kerl ein Dummkopf und Depp sei, der zwei offensichtlich unterschiedliche Dinge nicht auseinanderhalten könne. Erst als er mit dem einen Gegenstand in der einen Hand und mit dem anderen in der anderen verzweifelt auf sie loszuschlagen anfing, ist ihnen eingefallen, dass die beiden sich ganz ähnlich benutzen lassen und also in einer gewissen Hinsicht doch eins sind. An dieser Stelle sind wir einer sehr wichtigen Entdeckung auf die Spur gekommen, denn wie ich sagte: Es ist den Höhlenkameraden unseres Neandertalers eingefallen, dass die beiden Gegenstände für den gleichen 114 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Zweck gebraucht werden können. Dieser Moment ist sehr wichtig: es scheint wirklich so zu sein, dass das bloße Hinweisen unmöglich zum Erfassen eines neuen Begriffen führen kann. Es muss ihm etwas, gleichsam von innen her, entgegenkommen. Dieses Ereignis wird in der deutschen Sprache mit dem bildhaften Wort „ einfallen “ bezeichnet, als ob in einem solchen Moment etwas, gleichsam von oben, in den Menschen hineinfällt. Was aber ist dieses Etwas? Ist es zufälligerweise nicht eben der Begriff? Wir haben gesehen, dass er durch das Hinweisen nicht produziert werden kann. Wie ist er denn überhaupt entstanden? Wenn man die Schritte der obigen fiktiven Geschichte zurückverfolgt, kommt man zu dem Moment, wo unserer Neandertaler realisierte, dass zwei Gegenstände in einer gewissen Hinsicht eigentlich eins sind, nämlich Keule. Aber ist es nicht möglich, anstatt „ er realisierte “ , „ es ist ihm eingefallen “ zu sagen? War nicht der ursprüngliche Moment der Entdeckung der Gleichheit (gleicher Anwendungsmöglichkeit) auch ein Fall des Ein-Fallens? Aber wenn wir das so sehen können, dann ergibt sich selbstverständlich die Frage, von wo dieses Etwas (der Begriff) gleichsam herunter- und „ in den Kopf “ des Neandertalers hinein „ gefallen “ ist? Wir müssen dieser Frage hier nicht bis zu Ende nachgehen, an dieser Stelle genügt es uns festzuhalten, dass sich Schlicks Behauptung, die Grundbegriffe liegen gleichsam auf der Straße, man könne auf sie einfach hinweisen, als unbegründet und höchst zweifelhaft erweist. Es ist überhaupt interessant festzustellen, mit welcher Leichtigkeit Schlick die Möglichkeit zurückweist, dass die Begriffe Realitäten (im platonischen Sinne) sind. Er begründet seine Entscheidung eigentlich gar nicht, sondern stellt bloß thetisch fest, dass sie eben keine sind. Es mag sein, dass diese ontologische Position sich in dem intellektuellen Umfeld, in dem Schlick arbeitete, großer Beliebtheit erfreute und er es deshalb als nicht als nötig erachtete, das „ Selbstverständliche “ zu begründen. Es muss jedoch festgehalten werden, dass dieser Begründungsmangel den Eindruck erweckt, Schlicks Entscheidung sei das Resultat einer persönlichen Präferenz und nicht von unvoreingenommen und allseitigen Überlegungen. Die Einsicht, dass die Grundbegriffe nicht „ auf der Straße “ liegen, dass man auf sie nicht zeigen, hinweisen kann, hat Folgen auch für unser Verständnis des Wesens komplexer Begriffe, von welchen wir oft unreflektiert annehmen, dass es sich bei ihnen um bloße Kombinationen der Grundbegriffe handle. Versuchen wir diese Vermutung anhand eines konkreten Beispiels zu überprüfen. Was ist eine Kuh? Nehmen wir einmal an, wir sprechen mit jemanden, der noch nie im Leben eine Kuh gesehen hat (z. B. einem Eskimo oder einem Mitglied eines Urvolkes im Amazonasgebiet), und wir entscheiden uns dafür, auf eine Wörterbuchdefinition zurückzugreifen, um uns unnötige Mühen zu ersparen. Was sagt der Duden zu diesem Thema? Kuh: 1. a) weibliches Hausrind (nach dem ersten Kalben) (Duden 1996, S. 907). Das ist sehr schön, wird aber unseren Gesprächspartner nicht weiterbringen. Die Begriffe weiblich/ männlich werden ihm sicher vertraut sein, aber 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 115 Hausrind? Also, suchen wir weiter: Hausrind: vom Auerochsen abstammendes, als Haustier gehaltenes Rind (ebd., S. 674). Das ist auch noch nicht besonders hilfreich. Haustier dürfte hoffentlich eine klare Sache sein, aber Auerochse? Rind? Also weiter: Auerochse: ausgestorbenes wildes Großrind (ebd., S. 150). Offensichtlich dreht sich die Sache um das Rind: 1. a) (als Milch u. Fleisch lieferndes Nutz-, auch noch als Arbeitstier gehaltenes) zu den Wiederkäuern gehörendes Tier mit kurzhaarigem, glattem, braunem bis schwarzem [weiß geflecktem] Fell, mit breitem Schädel mit Hörnern, langem, in einer Quaste endendem Schwanz und einem großen Euter beim weiblichen Tier (ebd., S. 1258). Die Definition ist für uns, die wir wohl wissen, was eine Kuh ist, sicher nicht schlecht (abgesehen davon, dass es auch weiße Kühe gibt, dass viele Kühe keine Hörnern mehr haben, weil man sie ihnen abgesägt hat, und dass die Definition keine Vorstellung davon gibt, wie groß das (ausgewachsene) Tier etwa ist). Doch wird unser unkundiger Gesprächspartner von ihr wirklich profitieren können? Wird er jetzt eine Kuh erkennen können, wenn er eine auf dem Felde sieht? Ergibt die Kombination der Begriffe wirklich den Begriff der Kuh? Ist es nicht viel mehr so, dass diese Kombination eine hinreichend präzise Beschreibung oder Charakterisierung dessen zu sein versucht, was wir sowieso unter dem Begriff verstehen? Denn wenn sie den Begriff tatsächlich definitiv festlegen würde, könnte man sie nicht verbessern. Ich habe aber bereits angedeutet, dass die obige Definition durchaus verbesserungsfähig, und auch -bedürftig ist, und man könnte die oben angedeuteten Verbesserungen auch noch vermehren: so wäre es beispielsweise sicher angemessen, etwas über die Hufe der Kuh zu sagen, die bekanntlich eine wesentlich andere Form haben als die der Pferde etwa. Also legt diese Definition den Begriff der Kuh nicht fest, sie versucht ihn vielmehr zu charakterisieren bzw. den alltäglichen Gebrauch des Begriffs korrekt zu spiegeln (dies ist in der Tat die anerkannte Funktion der sog. lexikalischen Definition). Diese Überlegungen haben auch Folgen für die Beurteilung von Schlicks Behauptung, dass im wissenschaftlichen Kontext die Bedeutungen der Begriffe durch Definitionen 97 festgelegt werden, um die für diesen Kontext nötige Präzision (in Schlicks Worten: „ absolute Konstanz und Bestimmtheit “ ; AE, S. 180) gewährleisten zu können. Es ist unbestritten, dass wir zu solchen Mitteln greifen und zwar nicht unbedingt nur im wissenschaftlichen Kontext. Auch im Alltagsleben - wie oben angedeutet - greifen wir oft zu einem Wörterbuch, um uns im Zweifelsfall der genauen Bedeutung eines bestimmten Begriffes zu vergewissern bzw. Unstimmigkeiten mit einem Gesprächs- 97 Schlickunterscheidet zwei Arten der Definitionen: die „ gewöhnlichen “ Wortdefinitionen, die er als „ explizit “ bezeichnet (AE, S. 217), und die „ impliziten “ (AE, S. 205ff.), die mittels Axiomen festgelegt werden. Wir werden auf die zweite Art der Definition weiter unten eingehen, meine Ausführungen an dieser Stelle beschränken sich auf die „ gewöhnlichen “ Definitionen. 116 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus partner auszuräumen. Aus dem früher Gesagten geht jedoch hervor, dass wir, indem wir das tun, uns auf andere Begriffe verlassen, deren Ursprung letztendlich - entgegen Schlick - nicht im bloßen Hinweisen liegt, sondern uns auf irgendeine momentan noch nicht feststellbare Weise gegeben ist. An diesem Punkt stellt sich erneut die Frage, der wir bereits einmal begegnet sind (s. oben): Woher haben wir diese Begriffe? Und wenn wir einräumen, dass sie nicht durch Hinweisen und nicht durch die Kombination anderer Begriffe entstehen, könnte es dann nicht sein, dass auch komplexere Begriffe nicht durch die Kombination von einfacheren gebildet werden? Ich habe bereits angedeutet, dass ich zu diesem wichtigen Punkt an einer anderen Stelle dieser Arbeit zurückkehren werde. Schlick formuliert in Bezug auf die Natur des wissenschaftlichen Definierens jedoch noch eine wichtige und folgenschwere Behauptung: Denn die Definition gibt eben den gemeinsamen Namen an, mit dem alle Objekte genannt werden sollen, welche die in der Definition angeführten Merkmale besitzen. Oder, in der herkömmlichen Sprache der Logik ausgedrückt: jede Definition ist eine Nominaldefinition. (AE, S. 180) Diese Feststellung scheint zu implizieren, dass eine wissenschaftliche Definition die Bedeutung eines Begriffes ein für allemal festlegt, in der Absicht ihre „ Konstanz und Bestimmtheit “ zu sichern. Diese Interpretation würde auch mit einer weiteren Behauptung Schlicks in Einklang stehen, dass der Begriff „ etwas Unwirkliches “ sei (AE, S. 181). Sein Sein werde ihm ausschließlich durch die Definition verliehen. Eine solche Interpretation ist jedoch schwer mit der Wirklichkeit der wissenschaftlichen Forschung zu vereinbaren, in der, wie wir wohl wissen, die Bedeutung bestimmter Begriffe sich mit der Zeit grundlegend ändern kann (denken wir nur an die Veränderungen der Bedeutung des Begriffs „ Atom “ von der griechischen Antike bis heute). Interessanterweise gibt Schlick diesen Punkt an einer späteren Stelle seines Werkes selbst zu: Zuerst ist der Begriff eines Gegenstandes immer durch diejenigen Eigenschaften oder Beziehungen definiert, durch die der Gegenstand anfänglich entdeckt wurde; beim weiteren Fortgang der Wissenschaft geschieht es nicht selten, dass man einen Begriff desselben Gegenstandes später auf ganze andere Weise bestimmt [. . .]. Man denke etwa an das Wort und den Begriff der Elektrizität. (AE, S. 232) Wenn aber Schlick diese Möglichkeit zulässt, dann müsste er entweder auch zugeben, dass die wissenschaftlichen Definitionen nicht bloß Nominaldefinitionen bzw. nicht alle wissenschaftliche Definitionen solche sind, was seiner oben zitierten Feststellung (AE, S. 180) direkt widersprechen würde, oder er hätte zumindest klarmachen sollen, dass er die Nominaldefinitionen als veränderbar versteht, was wiederum aber der Absicht, durch solche Definitionen „ absolute Konstanz und Bestimmtheit “ der Bedeutung der Begriffe zu sichern, beträchtlichen Abbruch tun würde. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 117 Die Tatsache, dass sich die Bedeutung der Begriffe ändern kann, ist aber schwer zu vereinbaren mit der am Anfang dieses Abschnittes zitierter Behauptung, die Begriffe seien bloße Zeichen. Denn das Zeichen muss sich nicht ändern, wenn sich das „ Ding “ , auf das es verweist, ändert. Der Wegweiser „ Bern “ (oder „ Berlin “ oder was auch immer) bleibt bestehen, auch wenn die Gestalt dieser Städte im Laufe der Zeit weitgehende Metamorphosen durchmacht. Wenn Schlick gesagt hätte, dass das Wort ein Zeichen des Begriffs sei, ergäbe sich diese Schwierigkeit nicht, er sagt aber ausdrücklich, dass der Begriff ein (bloßes) Zeichen sei. Vielleicht aber ist der Begriff doch mehr als nur ein Zeichen (für einen Gegenstand)? Die Begriffe haben noch eine weitere Eigenschaft, die sich schwer mit der Idee vereinbaren lässt, dass sie bloße Zeichen sind: man kann sie in ein Verhältnis zueinander setzen. Der Begriff „ Enkel “ steht in einer bestimmten Beziehung zum Begriff „ Großvater “ . Dies ist offensichtlich. Wie aber verhält sich die Sache mit Zeichen? Nehmen wir zwei Zeichen (Wegweiser): Berlin und Bern. Kann man sie in ein Verhältnis zueinander setzen? Nun, man kann die Größe und die Farbe der Zeichen vergleichen, vielleicht auch die Größe und Farbe der Buchstaben usw., doch die Zeichen sagen uns inhaltlich nichts über die Größe der beiden Städte beispielweise oder über ihre Lage. Darauf könnte Schlick erwidern, dass die Begriffe in wechselseitigen Verhältnissen stehen können, weil ihre Inhalte durch z. B. Definitionen gegeben sind und man diese Inhalte durchaus in ein Verhältnis zueinander setzen kann. Doch wenn man das zulässt, dann muss man auch zulassen, dass die Begriffe mehr sind als Zeichen, dass sie Bedeutung haben. Dann aber ergibt sich sofort die Frage, in welchem Verhältnis diese Inhalte zu den Gegenständen, die „ unter den Begriff fallen “ , stehen. Eine schwierige Frage, die man sich nicht stellen muss, wenn man sie als bloße „ Wegweisertafeln “ betrachtet. Mit dieser Frage hängt auch eine weitere Schwierigkeit zusammen: wozu brauchen wir überhaupt die Begriffe, wenn sie bloße Zeichen sind? Nun, eine Antwort auf diese Frage scheint nahezuliegen und wurde bereits erwähnt (s. oben): so wie die Katalognummer die Bücher in einer Bibliothek repräsentieren und (gemeinsam mit den entsprechenden Katalogeinträgen) das Handhaben des Bibliotheksbestandes erheblich erleichtern, so können wir mit den Begriffen erfolgreich „ hantieren “ , ohne mit den durch sie bezeichneten Gegenständen hantieren zu müssen. Es wäre doch einigermaßen kompliziert, wenn ich mir etwa über eine Eiche Gedanken machen wollte und diese Eiche tatsächlich „ zur Hand “ nehmen müsste . . . Wenn aber die Begriffe bloße Zeichen sind, und zwar willkürliche Zeichen für die Gegenstände, dann ergibt sich für Schlick ein Problem. Man könnte sich auf der Grundlage dieser Annahme vorstellen, dass wir die Gegenstände nicht mit Begriffen bezeichnen, sondern mit Zahlen oder Kombinationen von Zahlen oder vielleicht mit Zahlen und Buchstaben, wie man das tatsächlich in einer Bibliothek macht. Denn solange eine solche Zuschreibung eindeutig wäre, 118 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus würde sie den Zweck, den Schlick hier meint, erfüllen. In der Tat gibt er diese Möglichkeit selber zu: Es wäre nun aber nicht angebracht, alle Dinge der Welt in der Weise zu bezeichnen, dass wir lauter einzelne Zeichen dafür erfinden und die Bedeutung eines jeden auswendig lernen. Prinzipiell wäre es zwar leicht möglich, auf dieser Weise eine eindeutige Bezeichnung durchzuführen [. . .]. (AE, S. 265) Warum also nicht festlegen: der Baum = 1, die Erde = 2, wachsen = 3, in = 4, dann könnten wir sehr schöne und einfache Aussagen formulieren: 1 3 4 2. Sie wären dann sogar einfacher, als Aussagen der Art: „ Der Baum wächst in der Erde “ . Wenn jemand diesen Vorschlag für absurd halten wollte, sollte er/ sie bitte bedenken, dass dies im Grunde genommen genau das ist, was unsere Computer machen. In ihnen sind nämlich alle Begriffe durch Zahlen (sogar Zahlen im binären System geschrieben) sehr erfolgreich repräsentiert und es zeigt sich, dass man solche Zahlen-Zeichen sehr erfolgreich manipulieren kann. Für uns Menschen aber kommt das nicht infrage. Wieso eigentlich nicht? Eine Antwort auf diese Frage wäre die, dass es uns Menschen Mühe macht, sehr viele Zahlen auswendig zu lernen und dazu noch in Kombination mit bestimmten Inhalten (Zahlenkombination als Zeichen für den Inhalt eines Begriffes). Es ist einfacher, statt Zahlen Wörter zu lernen, so das Argument. Das mag sein, aber jeder, der im „ hohen “ Alter eine fremde Sprache lernen musste, kann bestätigen, dass das Auswendiglernen von vielen neuen Wörtern überhaupt nicht einfach ist. Vielleicht liegt aber der Grund, weshalb wir nicht Zahlen zum Kennzeichnen von Gegenständen gebrauchen, nicht darin, dass sie schwieriger zu memorieren sind als Wörter, sondern darin, dass die Begriffe, die für die „ Gegenstände “ stehen, mehr sind als bloße Zeichen, dass sie nicht nur eine willkürliche, sondern eine reale Verbindung mit den „ Gegenständen “ haben, aufgrund derer uns das Assoziieren des Begriffs mit dem „ Gegenstand “ recht leichtfällt. 3) Begriffe vereinfachen die Wirklichkeit, Begriffsbildung Abgesehen davon, dass Begriffe die Gegenstände bezeichnen, haben sie nach Schlick auch eine andere Funktion: sie vereinfachen uns die Welt. Denn im Prinzip wäre es möglich, jedem Gegenstand ein spezifisches Zeichen eindeutig zuzuordnen (vgl. AE, S. 265), wir hätten dann so viele Zeichen wie Gegenstände. Dies wäre ohnehin von Vorteil, weil, wie wir am Beispiel der Bücher in einer Bibliothek gesehen haben, es einfacher ist mit den Zeichen zu hantieren als mit den Dingen selbst. Begriffe greifen aus der potenziell unendlichen Fülle der Eigenschaften eines Gegenstandes (AE, S. 239) nur verhältnismäßig wenige heraus, die für die Identifizierung des Gegenstandes hinreichen (wenn man sich vorstellt, wie viele Eigenschaften man einem Baum zuschreiben könnte, den wir einfach als „ Eiche “ bezeichnen). Wie vollziehen wir diese Operation? Offensichtlich muss man nach gewissen Kriterien gewisse Eigenschaften bezüglich ihrer Relevanz ordnen und lässt 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 119 nur diejenigen dem Begriff zukommen, die für die eindeutige Zuordnung notwendig und die allen unter den Begriff fallenden Gegenstände gemeinsam sind (vgl. AE, S. 180). Diese Aufgabe scheint zunächst relativ einfach zu sein: im Falle einer Eiche weiß ich, dass ich nicht die Zahl der Blätter und ihre jeweils ein wenig unterschiedliche Färbung oder die Zahl und die Form aller Äste oder die Zahl der Wurzeln zum Begriff zählen muss, dafür aber die allgemeine Form der Krone des Baumes, die Form der Blätter wie auch die Form und die Farbe der Rinde und die Form der Früchte des Baumes. Schlick macht uns die Aufgabe jedoch bedeutend schwieriger, indem er die Lehre von der Abstraktion explizit ablehnt (AE, S. 191). Seiner Ansicht nach kann ein Begriff nicht aus den Dingen entstehen dadurch, „ dass man von ihren individuellen Eigenschaften abstrahiere “ (ebd.). Denn wäre dies der Fall, „ so müsste man ja umgekehrt aus einem Begriff durch Hinzufügung ganz bestimmter Merkmale ein wirkliches Ding machen können. Das ist natürlich Nonsens “ (ebd.). Man kann sicher nicht aus den Dingen Begriffe konstruieren. Aus Tomaten kann ich Tomatensuppe machen, nicht aber den Begriff der Tomate. Dies ist unbestritten, und ich glaube, es würde sich niemand finden, der diesen Weg der Begriffskonstruktion beschreiten wollte. Dennoch scheint es ebenso unbestritten, dass, wie oben angedeutet, der Begriff eines Objekts nicht alle Eigenschaften dieses Objekts umfasst. Auf der anderen Seite es ist sicherlich auch wahr, dass ich dem Objekt keine Eigenschaft „ wegnehmen “ kann. Die Eiche hat soundso viele Blätter, ob ich sie abgezählt habe oder nicht, ob ich ihre Zahl denke oder nicht. Aber mein Begriff der Eiche muss diese Zahl nicht festlegen. Für meinen Begriff der Eiche ist es ziemlich egal, ob sie sehr viele Blätter hat (wie im Sommer) oder gar keine (wie im Winter). Dessen ungeachtet lässt Schlick keinen Zweifel daran, dass er eine solche Vorgehensweise nicht zulassen will. Er schreibt weiter: Wie also reale Dinge oder Vorstellungen nicht aufgebaut werden können aus bloßen Begriffen, so können Begriffe auch nicht aus Dingen und Vorstellungen durch Weglassung bestimmter Eigenschaften entstehen. Man kann im allgemeinen überhaupt nicht eine Eigenschaft von einem Dinge fortdenken und die übrigen ungeändert bestehen lassen. Ich kann z. B. nicht den Begriff der mathematischen Kugel bilden, indem ich mir eine wirkliche Kugel vorstelle und dann von allen ihren physischen Eigenschaften, wie Farbe usw. abstrahiere; denn ich kann mir wohl eine Kugel einer beliebigen Farbe, niemals aber eine Kugel von gar keiner Farbe visuell vorstellen. (AE, S. 192) Dies ist sicherlich richtig, aber an dieser Stelle vermischt Schlick entgegen seinen eigenen Warnungen 98 zwei Dinge: den Begriff und die Vorstellung. Es 98 „ Das erkenntnistheoretisch noch nicht abgeklärte Denken verwechselt aber nicht nur leicht den Begriff mit dem realen Gegenstande, den er bezeichnet, sondern auch mit den anschaulichen Vorstellungen, welche in unserem Bewusstsein den Begriff repräsentieren “ (AE, S. 644). 120 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus ist richtig, dass ich mir niemals einen Gegenstand ohne Farbe (wenn „ durchsichtig “ auch als eine Farbe gilt) „ visuell vorstellen “ kann, aber heißt das wirklich, dass auch der Begriff eines Gegenstands eine Farbe haben muss? Man kann das Problem vielleicht deutlicher sehen, wenn man sich überlegt, dass es unter normalen Umständen sicherlich keinen physischen Gegenstand auf der Erde geben kann, der kein Gewicht hat, dass es aber sicher absurd wäre, die Frage zu stellen, wie schwer der Begriff eines Gegenstands ist. Je länger wir darüber nachdenken, desto rätselhafter erscheint der Prozess der Begriffsbildung. Wie stellt sich nun aber Schlick diesen Prozess vor? Nicht dadurch gelangt man zu den Begriffen, das man gewisse Merkmale der Dinge oder Vorstellungen fortließe, [. . .] sondern dadurch, dass man die Merkmale voneinander unterscheidet und einzeln bezeichnet. Die Unterscheidung aber wird, wie bereits Hume eingesehen hat, 99 dadurch ermöglicht, dass die einzelnen Merkmale unabhängig voneinander veränderlich sind: so vermag ich bei der Kugel Gestalt und Farbe als besondere Merkmale voneinander zu trennen, weil ich mir einerseits beliebig gefärbte Körper in der gleichen Farbe, andererseits beliebig gefärbte Körper in der gleichen Gestalt vorstellen kann. (AE, S. 192f.) 100 Mir scheint, dass der hier beschriebene Prozess (einen zweiten werden wir bald kennen lernen) es uns tatsächlich ermöglicht, die einzelnen Merkmale oder Eigenschaften voneinander zu unterscheiden. Es ist aber fraglich, ob er für die Begriffsbildung überhaupt notwendig und hinreichend ist. Normalerweise würden wir einfach sagen, dass der Gegenstand (Kugel) eine gewisse Farbe, eine gewisse Form, eine gewisse Größe usw. habe. Wir müssen nicht in der Vorstellung die einzelnen dieser Eigenschaften umändern, um sie „ voneinander zu trennen “ , weil wir wissen, dass sie eben völlig unterschiedliche Eigenschaften sind, die alle einem Gegenstand zukommen müssen, und dass sie unterschiedliche „ Werte “ (z. B. rot, blau, grün usw.) annehmen können. Demnach scheint uns der von Schlick anvisierte Prozess bei der Beschreibung der Begriffsbildung nicht weiterzubringen. Hat Schlick noch mehr zu diesem Thema zu sagen? Eigentlich nicht. Er schließt diesen Abschnitt mit der Bemerkung: „ Diese kurzen Ausführungen mögen genügen, um vorläufig einige Klarheit über das Wesen des Begriffs zu schaffen “ (AE, S. 193), und warnt noch ausdrücklich vor jeder möglichen „ Verdinglichung der Begriffe “ . Begriffe seien nichts als „ Gedankendinge “ , die eine exakte Bezeichnung der Gegenstände zu Erkenntniszwecken ermöglichen sollen, wie ein fiktives Gradnetz, das die Erde umspannt und die genaue Bezeichnung eines Ortes ihrer Oberfläche gestattet (AE, S. 193). Diese Analogie ist sehr interessant. Denn wir wissen, dass sich der Ort eines Punktes im Raum zumindest im Prinzip durch die Angabe von drei Koordinaten genau 99 In seiner Treatise (Hume 1978, I. i.VII). 100 Vgl. auch § 11: „ Das synthetische Urteil, so können wir sagen, bezeichnet die Vereinigung von Gegenständen zu einem Tatbestand, die Definition dagegen die Vereinigung von Merkmalen zu einem Begriff “ (AE, S. 283). 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 121 angegeben lässt, wobei der Ausgangspunkt dieser Koordinaten, der Kreuzungspunkt der Achsen x, y, und z, beliebig gewählt werden kann. Was Schlick „ vor Augen “ schwebt, ist wahrscheinlich eine Art multidimensionaler Raum, mit eben Farbe, Form, Größe, Gewicht usw. als seinen Dimensionen, in dem jeder bestimmte Begriff sich an einem konkreten Kreuzungspunkt dieser Dimensionen befindet (also z. B.: Farbe: beliebig; Form: rund, Kugel; Größe: 20 cm im Durchmesser; Gewicht: ca. 200 g, also Fussball). Die Frage ist, ob sich diese Idee wirklich realisieren lässt. Sind die angegebenen Dimensionen wirklich ausreichend, um den Begriff des Fussballs zu bilden, oder gar, mit anderen Dimensionen, den der Kuh? Ich glaube, man müsste diese Frage negativ beantworten. Wenn sie aber nicht ausreichend sind, welche weiteren Dimensionen müsste man hinzufügen, um nach der Schlick ’ schen Methode einen Begriff bilden zu können? Welche Dimensionen müsste man hinzufügen, um die Begriffe Lastwagen, iPod, Tulpe, Elefant, Liebe, Gerechtigkeit, Koordinatensystem, Logarithmus usw. in dem fiktiven „ multidimensionalen Raum “ erfolgreich lokalisieren zu können? Ist diese Idee überhaupt realisierbar? Mir scheint die Antwort auf diese Frage eher negativ zu sein. Man kann aber an dieser Stelle auch eine allgemeinere Frage stellen: Trifft es überhaupt zu, dass man durch irgendwelche Operationen an den Vorstellungen zu den Begriffen gelangen kann? Müsste man nicht vielmehr annehmen, dass Begriffe den Vorstellungen vorausgehen und nicht umgekehrt? Denn wie lernt ein Kind seine elementarsten Begriffe? Es sieht einen Hund vorbeilaufen, die Mutter sagt: „ Schau, ein Hund “ . Ein anderes Mal sieht es eine Katze auf dem Sofa sitzen. Seine Mutter sagt: „ Die Katze schläft “ . Nach einigen derartigen Erfahrungen kann das Kind einen Hund von einer Katze unterscheiden und mit der Zeit lernt es auch, sie richtig zu benennen. Hat es irgendwelche Operationen an seinen Vorstellungen vollzogen? Sich beispielsweise zunächst einen schwarzen, dann einen weißen Hund oder zunächst eine graue, dann eine gestreifte Katze vorgestellt? Dass macht keinen Sinn, und darüber hinaus führt es nirgendwohin, denn der Hund kann auch grau sein und die Katze schwarz. Die Unterscheidung zwischen Hund und Katze wird also im Geiste des Kindes sicher nicht dadurch herbeigeführt, dass, wie Schlick formuliert, „ die einzelnen Merkmale [z. B. Farbe, Anzahl Beine usw.] unabhängig voneinander veränderlich sind “ . Wodurch wird sie aber herbeigeführt? Ist es nicht so, dass dadurch, dass das Kind durch seine Eltern quasi gezwungen wird, die Unterscheidung zwischen Hund und Katze zu treffen, es auch dazu quasi gezwungen wird, die beiden genauer zu betrachten? Denn beide haben Kopf, Rumpf, vier Beine und einen Schwanz. Die sie unterscheidenden Merkmale liegen also nicht darin, sondern in etwas anderem: in der Form des Kopfes, in der Gangart, selbstverständlich auch oft in der Größe. Differenzierte Begriffe „ zwingen “ uns dazu, die Welt differenziert zu sehen. Für einen Laien sind alle Kühe auf dem Feld mehr oder weniger gleich, der Bauer kann sie unterscheiden und einzeln beim Namen nennen, der Bauer oder ein Fachmann kann auch die Vorzüge einer 122 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus konkreten Kuh und die Schwachstellen einer anderen wahrnehmen, weil er über die entsprechenden Begriffe verfügt. Diese Beobachtung lässt vermuten, dass man im Gegensatz zu Schlicks Behauptung, Begriffe seien in erster Linie dazu da, die Welt zu vereinfachen, vielmehr sagen sollte, dass sie die Welt bereichern. Sie ermöglichen es uns, die wahrgenommene Welt feiner zu differenzieren: aus einem mehr oder weniger konturlosen „ Wahrnehmungsbrei “ gestalten sich dank der Begriffe konkrete, abgegrenzte Dinge. Wenn dem aber tatsächlich so ist, so vertieft sich das Rätsel der Begriffsbildung zusehends. Denn es wird noch unverständlicher, wie ein Kind die Begriffe bilden kann, die es braucht, um die Welt überhaupt differenzierter zu sehen. Denn wenn es die Welt am Anfang nicht gleich differenziert sieht, dann hat es auch keine Veranlassung dazu, sie zu differenzieren. Wir scheinen uns im Kreis zu drehen. Aber wir haben gesagt, dass die Eltern es sind, die das Kind „ quasi “ dazu zwingen, die Unterscheidung zwischen Hund und Katze zu treffen. Es scheint zutreffend, dass die Anregung zur Begriffsbildung von den Eltern des Kindes kommt. In der Tat wissen wir, dass Menschen, die außerhalb der Menschengemeinschaft aufgewachsen sind, die Sprache und somit vermutlich auch die Begriffe nicht haben. Diese Beobachtung wiederum deutet darauf hin, dass man anstatt von „ Begriffsbildung “ besser von „ Begriffsübermittlung “ von einer Generation auf die andere sprechen sollte. Schließlich benutzen die allermeisten Menschen Begriffe, die sie in ihrer Kultur bereits vorgefunden haben. Begriffsschöpfungen sind eigentlich äußerst selten. Wenn man dies jedoch zugeben würde, dann stünden wir selbstverständlich vor der scheinbar unlösbaren Aufgabe zu erklären, wie unsere entfernten Vorfahren die ersten Begriffe gebildet haben. Denn es ist nur zu klar, dass, selbst wenn das heutige Kind seine Begriffe eher übernimmt als formt, sie doch irgendjemand irgendwann gebildet haben muss. 4) Die Grundbegriffe sollen dadurch definiert sein, dass sie den Axiomen genügen Schlick geht aber, wie oben bereits erwähnt, noch einer anderen Idee nach, wie man die Bedeutung der Begriffe festlegen kann. Im § 6 weist er nämlich darauf hin, dass die gewöhnliche, alltägliche Art, Begriffe zu definieren, an Präzisionsgrenzen stößt: Die Merkmale einer Definition müssen in letzter Linie immer anschaulicher Natur sein, weil alles Gegebene uns schließlich durch die Anschauung gegeben ist (AE, S. 198). Die letzten Merkmale können nicht mehr definiert, sie müssen demonstriert werden (Blau, Lust) (AE, S. 200). Diese Methode aber sei stets mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, woraus folgen würde, dass absolute Erkenntnis (absolut sichere Erkenntnis) unmöglich sei (ebd.). Im § 7 beschreibt Schlick dann, wie sich diese prinzipielle Schwierigkeit überwinden lässt, indem man sich an der Geometrie ein Vorbild nimmt. Lange Zeit habe man sich in der Geometrie damit zufriedengegeben, dass ihre Grundbegriffe (Punkt, Gerade, Raum usw.) als gleichsam „ primitiv “ angenommen wurden, d. h. als nicht definierbar und nicht 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 123 definitionsbedürftig, weil (letztlich) selbstverständlich. Erst gegen das Ende des 19. Jahrhunderts habe die Mathematiker dieser Zustand nicht mehr befriedigt. Sie suchten nach den Gründen der Gültigkeit aller geometrischen Wahrheiten (AE, S. 206). Insbesondere habe sich Hilbert mit dem Versuch hervorgetan, die Geometrie auf einem Fundament aufzubauen, das der Anschauung nicht bedurfte. Sein Ausweg aus dem Dilemma war einfach und genial zugleich: anstatt die Grundbegriffe definieren zu wollen, entschloss er sich, diese durch die Axiome zu definieren: Punkt und Gerade sind in diesem System nichts anderes als jene Gebilde, die bestimme Axiome des Systems erfüllen. Derart war die Definition durch Axiome oder Postulate bzw. die implizite Definition geboren (AE, S. 208). Diese brauche keine Anschaulichkeit mehr, könne folglich auch so absolute Schärfe und Konstanz garantieren. Was durch diese Vorgehensweise für die Wissenschaft gewonnen werden kann, beschreibt Schlick folgendermaßen: Alles definieren in der Wissenschaft hat den Zweck, Begriffe zu schaffen als scharf bestimmte Zeichen, mit denen sich die Erkenntnisarbeit völlig sicher verrichten lässt. Die Definition baut den Begriff aus allen den Merkmalen auf, die zu dieser Arbeit gebraucht werden. Die wissenschaftliche Denkarbeit besteht aber im Schließen, das heißt im Ableiten neuer Urteile aus alten. Von Urteilen, von Aussagen allein kann das Schließen seinen Anfang nehmen; zur Verwertung des Begriffs beim Denkgeschäfte wird also von seinen Eigenschaften keine andere gebraucht als die, dass gewisse Urteile von ihm gelten (z. B. von den Grundbegriffen der Geometrie die Axiome). Für die strenge, Schluss an Schluss reihende Wissenschaft ist folglich der Begriff in der Tat gar nichts weiter als dasjenige, wovon gewisse Urteile ausgesagt werden können. Dadurch ist er auch zu definieren. (AE, S. 209) Er ergänzt diese Feststellung dann, indem er unterstreicht, dass die Begriffe im wissenschaftlichen System tatsächlich zunächst keinen Sinn und Inhalt haben, „ sie erhalten Sinn erst durch das Axiomensystem, und nur soviel Inhalt, als dieses ihnen verleihen kann: ihr ganzes Wesen besteht darin, Träger der durch jenes festgelegten Beziehungen zu sein. Darin liegt keine Schwierigkeit, weil ja Begriffe überhaupt nichts Reales sind “ (AE, S. 210). Schlick räumt ein, dass diese Idee „ dem Anfänger “ schwer begreiflich erscheinen mag, dennoch aber könne man sich in diese „ überaus wichtigen Ideen “ mit Hilfe von Beispielen einleben (AE, S. 211), und dann liefert er solche Beispiele aus dem Bereich der Mathematik und konkret der Geometrie. An diesem Punkt muss man sich freilich die Frage stellen: Wird eine derartige Prozedur, die ja durchaus in der Geometrie funktionieren mag, aber auch im Leben funktionieren? Es leuchtet unmittelbar ein, dass die ganze Geometrie (insbesondere die euklidische) in kleinen logischen Schritten aufgebaut werden kann. Wenn ich zu einem Punkt A in einer gewissen Entfernung einen Punkt B hinzusetze, erhalte ich sofort eine Gerade a, die diese zwei Punkte als die kleinste Entfernung zwischen ihnen verbindet (und die unendlich viele Punkte enthält). Wenn ich einen dritten Punkt X hin- 124 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus zusetze, der sich nicht auf dieser Gerade befindet, kann ich mir eine zweite Gerade b vorstellen, die durch diesen Punkt verläuft und sich mit der ersten nicht schneidet (zu ihr parallel ist). Ich kann mir aber auch eine dritte Gerade c vorstellen, die durch X verläuft und sich mit der ersten Geraden a in einem bestimmten Punkt C kreuzt. Denke ich zu diesen Geraden noch eine weitere Gerade d, die wie b und c ebenfalls durch den Punkt X verläuft, aber sich mit der ersten Geraden a an einem anderen Punkt als die Gerade c kreuzt (nennen wir diesen Punkt D), so erhalte ich aus den entsprechenden Abschnitten der drei Geraden a, c und d eine geschlossene Figur mit drei Seiten, die ich „ Dreieck “ nennen kann. Diese hat nicht nur drei Ecken und drei Seiten von je einer bestimmten Länge, sondern auch drei „ Winkel “ . Man kann dann leicht feststellen, dass die „ Summe “ dieser Winkel usw. Die Schritte, die von einem ganz einfachen Anfang: einem Punkt im Raum (oder auf der Ebene) zu immer komplexeren Gebilden führen, sind klar, logisch, übersichtlich. Kann man jedoch realistisch hoffen, dass sich ebensolche klaren, logischen und übersichtlichen Übergänge in der „ wirklichen Welt “ finden lassen? Welcher Weg führt von einer Kuh zu einem Huhn? Oder zu einer Eiche? Wenn ich zwei Kühe in einer gewissen Entfernung voneinander aufstelle, erhalte ich dadurch zwischen ihnen auf logischem Weg ein Gebilde, das aus einer unendlichen Zahl von Kühen besteht? Oder wenn man wissenschaftlichere Beispiele haben will: Kann man durch irgendwelche Axiome die Bedeutungen der Begriffe Elektron, Proton oder Neutron festlegen und aus ihnen axiomatisch ableiten, dass es auch Myon-Neutrinos, Charm-Quarks und Pionen gibt? Ich glaube, man müsste eine solche Vorstellung - um mit Schlick zu reden - als Nonsens einordnen. Schlick geht jedoch noch weiter. Er schreibt: [D]urch die konkrete Definition wird der Zusammenhang der Begriffe mit der Wirklichkeit hergestellt, sie zeigt in der anschaulichen oder erlebten Wirklichkeit dasjenige auf, was nun durch den Begriff bezeichnet werden soll. Die implizite Definition dagegen steht nirgends in Gemeinschaft oder Verbindung mit der Wirklichkeit, sie lehnt sie absichtlich und prinzipiell ab, sie verharrt im Reich der Begriffe. Ein mit Hilfe impliziter Definition[en] geschaffenes Gefüge von Wahrheiten ruht nirgends auf dem Grunde der Wirklichkeit, sondern schwebt gleichsam frei, wie das Sonnensystem die Gewähr seiner Stabilität in sich selber tragend. (AE, S. 214) Das klingt grandios, insbesondere wenn man mit dem „ Reich der Begriffe “ platonische Assoziationen verbindet (die aber Schlick mit ihm explizit nicht verbindet, Begriffe sind für ihn, das muss man sich stets vor Augen halten, bloße Zeichen), aber wollen wir wirklich eine solche Wissenschaft haben? Eine Wissenschaft, die „ nirgends auf dem Grunde der Wirklichkeit [ruht] “ ? Wäre dies nicht zufälligerweise eine Wissenschaft, die uns die uns umliegende Welt nicht erschließt, sondern vielmehr eine intern konsistente Fiktion entwirft, also letztendlich zu einem schönen Mythos wird? 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 125 Schlick entwickelt diese Gedanken weiter: ihm steht weiterhin das Ziel des Absoluten, der absolut sicheren Erkenntnis vor Augen, wenn er schreibt: Eben deshalb ist es von um so größerer Wichtigkeit, dass wir in der impliziten Definition ein Mittel gefunden haben, welches vollkommene Bestimmtheit der Begriffe und damit strenge Exaktheit des Denkens ermöglicht. Allerdings bedurfte es dazu einer radikalen Trennung des Begriffes von der Anschauung, des Denkens von der Wirklichkeit. Wir beziehen beide Sphären wohl aufeinander, aber sie scheinen gar nicht miteinander verbunden, die Brücken zwischen ihnen sind abgebrochen. (AE, S. 216) Schlick erklärt dann, dass man sich keine Sorgen machen solle, diesen „ sehr hohen Kaufpreis “ zahlen zu müssen, denn die Aufgabe an dieser Stelle sei nicht, die Strenge und Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis zu retten, die Aufgabe (dieses Teils des Werks) „ ist allein das Erkennen der Erkenntnis “ (AE, S. 216). Aber was für eine Erkenntnis ist das, die uns verkündet, dass wir sie nur erlangen können, wenn wir „ die Brücken zu der Wirklichkeit “ abbrechen? Wollen wir eine solche Erkenntnis, selbst wenn wir sie definitionsgemäß als „ Erkenntnis “ bezeichnen dürften? Sollte man sich nicht vielmehr sagen: „ Mag sein, dass meine Erkenntnis nicht perfekt und absolut sicher sein wird, aber ich setze alles darauf, dass sie mich in möglichst enge Beziehung mit der Wirklichkeit bringt. Ich will in der Wirklichkeit stehen, auch wenn ich sie nur unscharf, leicht verschwommen sehen darf, und nicht in einem perfekt scharfen 3-D- und HD-Kino sitzen “ ? Schlicks geometrisierende Denkweise hat als eine natürliche Folge, dass er das höchste Ideal der Erkenntnis darin sieht, die Zahl der Erklärungsprinzipien möglichst klein zu halten: Eine Vorstellung vom letzten Ziel alles Erkennens können wir schon an diesem frühen Punkte der Untersuchung uns verschaffen. Wir brauchen nur darauf zu achten, dass alles Begreifen dadurch von Stufe zu Stufe weiterschreitet, dass zuerst das eine im anderen wiedergefunden wird, dann in jenem wieder ein anderes und so fort. [. . . A]uf die geschilderte Weise wird die Zahl der Erscheinungen, die durch ein und dasselbe Prinzip erklärt werden, immer größer, und demnach die Zahl der zur Erklärung der Gesamtheit der Erscheinungen nötigen Prinzipien immer kleiner. [. . .] Es kann daher die Anzahl der verwendeten Erklärungsprinzipien geradezu als ein Maß der erreichten Höhe der Erkenntnis dienen, die höchste Erkenntnis wird nämlich offenbar diejenige sein, die mit einem Minimum erklärender nicht weiter erklärungsbedürftiger Prinzipien auskommt. Dies Minimum möglichst klein zu machen, ist also die letzte Aufgabe des Erkennens. (AE, S. 162f.) Diese Worte tönen wie ein Echo des Ideals, das Hilbert in Bezug auf ein axiomatisches System in der Geometrie bereits 1893 aufgestellt hatte. In einem Brief schrieb er damals: Die Frage nach dem kleinsten System von Forderungen [Axiomen], die ich an ein System von Einheiten stellen muss, damit dasselbe dazu dienen kann, die 126 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus geometrischen (d. h. auf die äußere Gestalt der Dinge bezüglichen) Erscheinungen der Außenwelt zu beschreiben, scheint bis heute noch nicht vollständig erledigt. 101 Dieses Prinzip ist sehr verständlich und nachvollziehbar im Rahmen der Geometrie oder auch der Mathematik, die man beide von den einfachsten Annahmen ausgehend in konsequenter Weise aufbauen kann. Ist es aber auch auf andere Gebiete anwendbar? Wie bereits angedeutet, kann eine Kuh kaum auf einen Regenwurm zurückgeführt oder, in Schlicks Terminologie, in ihm „ wiedergefunden “ werden. Ist es berechtigt zu erwarten, wie es heute zweifelsohne noch üblich ist, dass sich die Prozesse, die im Innern einer Kuh ablaufen, nach den gleichen Prinzipien vollziehen wie die in einem Regenwurm? Würde man der Realität nicht eher gerecht, wenn man sich sagte, dass es zumindest wahrscheinlich ist, dass sich in einer Kuh auch Prozesse abspielen, die sich unmöglich auf jene eines Regenwurms zurückführen lassen? Dann würde man das Idealprinzip der Erkenntnis vielleicht nicht in einem (absoluten) Minimum erklärender Prinzipien sehen, sondern in einem Minimum, das zur Erklärung des bestimmten, konkreten Erkenntnisgegenstandes notwendig ist. Es bleiben also an dieser Stelle viele offene Fragen. Schlicks geometrisierende Denkweise erreicht im § 11 eine Art Gipfelpunkt. 102 Bereits am Anfang dieses Paragraph findet sich eine Formulierung, die einen stutzig macht: Nun ist das Merkwürdige, dass bei passender Wahl der Gegenstände, welche durch die konkreten [d. h. begrifflichen, im Gegensatz zu „ impliziten “ , durch Axiome] Definitionen herausgegriffen werden, implizite Definitionen gefunden werden können von der Art, dass die durch sie bestimmten Begriffe sich zur eindeutigen Bezeichnung jener wirklichen Gegenstände verwenden lassen. Diese Begriffe hängen dann nämlich durch ein System von Urteilen untereinander zusammen, welches völlig übereinstimmt mit dem Urteilsnetze, das auf Grund der Erfahrung dem System der Tatsachen eindeutig zugeordnet wurde. Während dieses Netz durch mühsame Einzelerkenntnis Masche für Masche empirisch gewonnen werden musste, kann jenes Urteilssystem aus den impliziten Definitionen seiner Grundbegriffe auf rein logischem Wege vollständig abgeleitet werden. (AE, S. 273) Wie es scheint, hält Schlick es für möglich, dass man Axiome einer Wissenschaft, und zwar jetzt nicht bloß einer rein begrifflichen Wissenschaft wie der Geometrie oder der Arithmetik, sondern, wie er sagt, einer „ Realwissenschaft “ (AE, S. 232, 271 usw.) so wählen könnte, dass die empirische Erkenntnis sich erübrigt, weil sich jedes Erkenntnisurteil „ auf rein logischem Wege “ aus den impliziten Definitionen ableiten lässt. An dieser Stelle „ reibt man sich die Augen “ und fragt sich, ob man vielleicht etwas falsch verstanden hat, 101 Zitiert nach Scriba und Schreiber 2005, S. 501. 102 Wir werden auf diesen Paragraph weiter unten noch zurückkommen, es scheint jedoch angebracht, den nachfolgenden Punkt bereits jetzt anzusprechen. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 127 denn die Behauptung (oder vielleicht sollte man eher „ Hoffnung “ sagen) hört sich doch wiederum ziemlich unsinnig an. Die nachfolgende Formulierung lässt jedoch keinen Zweifel an Schlicks Intentionen: Das System von Definitionen und Erkenntnisurteilen, 103 welche jede Realwissenschaft [im Gegensatz zu reiner Begriffswissenschaft] darstellt, wird also an einzelnen Punkten mit dem System der Wirklichkeit direkt zur Deckung gebracht und so eingerichtet, dass dann an allen übrigen Punkten von selbst Deckung stattfindet. [. . .] Von ihnen ausgehend wird das ganze System Schritt für Schritt errichtet, indem man die einzelnen Bausteine durch rein logisches, deduktives Verfahren gewinnt [. . .]. Ist der ganze Bau richtig gefügt, und entspricht nicht nur den Ausgangspunkten, den Fundamentalurteilen, sondern auch den auf deduktivem Wege erzeugten Gliedern des Systems je ein Tatbestand der Wirklichkeit; jedes einzelne Urteil des ganzen Baues ist einem wirklichen Tatbestande eindeutig zugeordnet. (AE, S. 285f.) Schlick unterhält also offensichtlich die Vorstellung, dass man die Wirklichkeit durch geschickte Definitionen perfekt abbilden kann, so dass sich auch die zukünftigen Tatsachen „ auf rein logischem Wege “ ableiten lassen. Diese Vorstellung mag der Wirklichkeit der reinen Logik oder Geometrie (oder Mathematik) entsprechen, sie ist aber mit Blick auf die Realität der empirischen Welt völlig unangebracht. Es ist aber eben diese Vorstellung, die die Grundlage von Carnaps Logischem Aufbau der Welt und auch des gesamten Programms des logischen Positivismus bzw. Empirismus bildet. Dieser Interpretation von Schlicks Intentionen scheint die folgende Stelle aus § 9 zu widersprechen: Bei der Übertragung dieser Erwägungen auf die Realwissenschaften ist zu bedenken, dass diese niemals streng in sich abgeschlossen sind; vielmehr werden uns von den realen Gegenständen im Laufe der Forschung immer neue Eigenschaften bekannt, so dass die Begriffe dieser Gegenstände mit der Zeit immer reicheren Inhalt gewinnen, also sich ändern, während die Worte, mit denen wir sie benennen, immer die gleichen bleiben. (AE, S. 233) Da Schlick auf S. 285 eindeutig von der Realwissenschaft sprach, und nicht bloß von den Begriffswissenschaften, stellt sich die Frage, wie sich dieser Widerspruch auflösen lässt. Eine mögliche Deutung wäre die, dass er auf S. 233 an den „ Realzustand “ der Realwissenschaft seiner Zeit denkt, auf S. 285 hingegen an den „ Idealzustand “ , der sich vielleicht nicht einmal in der näheren Zukunft erreichen lässt. Die andere Möglichkeit ist weniger schmeichelhaft: Die Passage auf S. 285 gehört zu § 11, der erst für die zweite Auflage der AE geschrieben worden ist. Vielleicht hat Schlick die Konsequenzen der Veränderungen, die er in dieser Auflage vorgenommen hat, für die aus der ersten Auflage übernommenen Inhalte nicht in aller Gründlichkeit durch- 103 Was dieser Begriff konkret bzw. genau bedeutet, werden wir weiter unten diskutieren. Die hier zitierte Aussage lässt sich jedoch auch ohne eine solche ausführliche Erklärung nachvollziehen. 128 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus dacht. Für diese Interpretation würde sprechen, dass Schlick die Veränderungen seiner erkenntnistheoretischen Position in der Zeit zwischen der ersten Auflage des Werks (1918) und der zweiten (1925) als so gravierend betrachtete, dass diese den gesamten Charakter der Allgemeinen Erkenntnislehre betroffen und es sich darum nicht um eine eigentliche Neuauflage gehandelt hätte (AE, S. 97f.). 5) Da nun Begriffe Zeichen für die Gegenstände sind, so sind Urteile vermutlich Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegenständen Wir haben im vorigen Abschnitt bereits gesehen, dass Schlick in seiner Analyse des Erkenntnisprozesses neben Begriffen auch den Begriff des Urteils benutzt. Er spricht sogar vom „ System der Urteile “ und man vermutet, dass sich das Erkennen seiner Auffassung nach nicht in Begriffen und ihren Relationen erschöpft, sondern entscheidend mit den Urteilen zusammenhängt. Was aber versteht Schlick unter dem Begriff des Urteils? Er leitet seine diesbezügliche Diskussion mit der Feststellung ein, dass, wenn man das Wesen des Begriffs als das des Zeichens verstanden hat, 104 man es als naheliegend erachten wird, dass auch das Urteil „ nichts anderes [. . .] als ein Zeichen [ist] “ (AE, S. 220). So viel ist für ihn klar, die Frage ist dabei nur: ein Zeichen für was? Die Antwort findet sich leicht: Im vorigen Paragraphen wurde gezeigt, dass die Axiome, die ja Urteile sind, Beziehungen zwischen Begriffen festlegen. Da nun Begriffe Zeichen für die Gegenstände sind, so sind Urteile vermutlich Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegenständen. 105 (AE, S. 220) Interessant an diesem Schritt ist, dass er stillschweigend zwei Annahmen macht: 1) dass ein Axiom ein Urteil ist: die Frage ob es sich so verhält, wird von ihm nicht diskutiert; 2) dass, wenn eine Klasse von Urteilen (Axiomen) Beziehungen zwischen gewissen Gegenständen (Begriffen) festlegt, alle Urteile Beziehungen zwischen Gegenständen bezeichnen werden. Schlick analysiert dann „ ein schlichtes Beispiel “ eines Urteils: „ Der Schnee ist kalt “ 106 und kommt dabei zu dem Schluss, dass man die ursprüngliche Vermutung leicht modifizieren muss: das Urteil bezeichnet nicht bloß die Beziehung zwischen zwei Gegenständen, sondern „ das Bestehen einer Beziehung, d. h. die Tatsache, dass die Beziehung zwischen ihnen statthat “ (AE, S. 222). Zur Bezeichnung einer Beziehung an sich, brauche es kein Urteil, es reiche hier ein Begriff (Schlick gibt als Beispiele „ Gleichzeitigkeit “ und „ Verschiedenheit “ ). Das Urteil muss also darüber hinausgehen, und das tut es, indem es das 104 „ Das Wesen der Begriffe war darin erschöpft, das sie Zeichen sind, die wir im Denken den Gegenständen zuordnen, über die wir denken “ (AE, S. 220). 105 Schlick erinnert an dieser Stelle daran, dass er den Begriff „ Gegenstand “ im „ allerweitesten Sinne “ gebraucht (vgl. AE, S. 181). 106 Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass Schlick weiß, was ein Urteil ist, er versucht lediglich die Bedeutung des Wortes deutlicher zu machen. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 129 Bestehen einer Beziehung quasi „ besiegelt “ . Daraus ergibt sich für Schlick der Schluss: Urteile sind also Zeichen für Tatsachen. So oft wir ein Urteil fällen, wollen wir damit einen Tatbestand bezeichnen; und zwar entweder einen realen oder einen begrifflichen, denn nicht nur die Verhältnisse wirklicher Gegenstände, sondern auch das Dasein von Relationen zwischen Begriffen ist als ein Tatbestand aufzufassen. Es ist eine Tatsache, dass der Schnee kalt ist, es ist aber auch eine Tatsache, dass 2 x 2 und 4 einander gleich sind. (AE, S. 222) Das alles klingt überzeugend, bei genauerer Betrachtung ergeben sich wiederum auch hier Probleme. Schlick vollzieht an dieser Stelle einen merkwürdigen Übergang von der konkreten Feststellung, dass ein Urteil der Art „ Der Schnee ist kalt “ das Bestehen der in ihm zum Ausdruck gebrachten Beziehung bestätigt oder behauptet, zu der allgemeinen Feststellung, dass ein Urteil immer ein Zeichen für Tatsachen allgemein ist. Die Feststellung, „ Es ist eine Tatsache, dass zwischen X und Y eine Beziehung B besteht “ ist keineswegs identisch mit der Feststellung, „ Eine Tatsache ist (df) das Bestehen einer Beziehung “ . Etwas Gegenteiliges zu behaupten würde heißen, fälschlicherweise von der Feststellung, „ Es ist eine Tatsache, dass Peter älter als Karl ist “ , auf die Feststellung schließen zu wollen „ Das Bestehen eines Verhältnisses zwischen (mindestens) zwei Elementen ist eine Tatsache “ . Ein solcher Schluss wäre offensichtlich ungültig. Um zu prüfen, ob Schlicks Behauptungen an dieser Stelle berechtigt sind, müssen wir mindestens drei Fragen beantworten: 1) Stimmt es, dass eine Tatsache nichts anderes als das Bestehen einer Beziehung ist? ; 2) Stimmt es, dass ein Urteil immer eine Tatsache zum Ausdruck bringt; 3) Stimmt es, dass es (immer) ein Zeichen für Tatsachen ist. Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir ein ursprünglicheres Problem behandeln: Was ist eine Tatsache, was wird gewöhnlich unter dem Begriff „ Tatsache “ verstanden? Eine Wörterbuchdefinition besagt: „ wirklicher, gegebener Umstand; Faktum “ (Duden 1996, S. 1517). Und dann weiter: „ Umstand: 1. Zu einem Sachverhalt, einer Situation, zu bestimmten Verhältnissen, zu einem Geschehen beitragende oder dafür mehr oder weniger wichtige Einzelheit, einzelne Tatsache “ (Duden 1996, S. 1593). Wir drehen uns ein wenig im Kreis, was darauf hindeutet, dass wir es hier mit elementaren, grundsätzlichen, schwer zu definierenden Begriffen zu tun haben. Es ist manchmal hilfreich, sich dem Verständnis eines Wortes dadurch zu nähern, dass man es mit seinem Gegenteil kontrastiert. Was ist das Gegenteil einer „ Tatsache “ ? Ich hoffe, der Leser wird sich mit mir einverstanden erklären können, wenn ich sage, eine „ Fiktion “ , „ Erfindung “ oder vielleicht sogar „ Lüge “ . Wenn wir auf etwas als auf eine „ Tatsache “ hinweisen, so meinen wir in erster Linie, dass dieses Etwas wirklich, real, nicht erfunden, bloß erdacht oder erwünscht ist. „ Schweiz ist kleiner als Deutschland, dies ist eine Tatsache “ , „ Sarah hat sich mit Wilhelm verlobt, dies ist eine 130 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Tatsache “ , „ Karl hat gelogen, dies ist eine Tatsache “ , „ Ich habe meine Schlüssel verloren, dies ist eine Tatsache “ , „ Morgen wird es wieder schneien, dies ist (aller Voraussucht nach) eine Tatsache “ , sind die Arten von Sätzen, die einem hier in Sinn kommen. Trifft es zu, dass alle diese Sätze „ das Bestehen einer Beziehung “ zum Ausdruck bringen? Wenn man den Begriff der Beziehung weit genug fasst, dann vielleicht. Schließlich steht auf der Welt alles mit allem in irgendeiner Beziehung. Einige der obigen Beispiele scheinen diese Auffassung sogar zu bestätigen ( „ Schweiz ist kleiner als Deutschland “ , „ Sarah hat sich mit Wilhelm verlobt “ ). Ob jedoch solche Sätze wie „ Ich habe meine Schlüssel verloren “ oder „ Karl hat gelogen “ tatsächlich in erster Linie eine Beziehung zwischen zwei „ Gegenständen “ zum Ausdruck bringen, ist zumindest fraglich. Interessanterweise scheint man bei allen obigen Sätzen den Nebensatz „ dies ist eine Tatsache “ durch eine Feststellung der Art „ und es stimmt “ bzw. „ es ist wahr “ ersetzen zu können. Diese Überlegungen deuten offensichtlich darauf hin, dass wir gewöhnlich dann von Tatsachen sprechen, wenn das Gesagte wahr ist, stimmt, der Wirklichkeit entspricht bzw. sie korrekt wiedergibt, manchmal dann, wenn die Feststellung überraschend, vielleicht sogar unglaubwürdig ist, wobei es nicht darauf ankommt, ob darin von Beziehungen oder anderen Inhalten die Rede ist. Wenn diese Analyse stimmt, dann hätte Schlicks Auffassung vom Wesen des Urteils, dass nämlich ein Urteil immer ein Zeichen einer Tatsache sei, eine unerwartete Folge: als Urteil würden nur Wahrheiten gelten (was immer unter Wahrheit zu verstehen ist, zu dieser Frage werden wir demnächst kommen), es wäre per definitionem nicht möglich, ein falsches Urteil zu fällen. Also kann eine Tatsache unmöglich bloß die Beziehung zwischen zwei Elementen sein. Man könnte diese Diskussion weiter fortsetzten. Betrachten wir z. B. das Urteil „ Dieses Bild ist schön “ . Stimmt es, dass es eine Tatsache zum Ausdruck bringt bzw. bezeichnet? Wenn ja, welche wäre das? Bestimmt nicht die, dass das Bild, das ich als „ schön “ bezeichne, wirklich schön ist. Die Mehrheit der Betrachter könnte es durchaus „ scheußlich “ finden. Vielleicht aber die Tatsache, die mit dem fraglichen Urteil zum Ausdruck gebracht bzw. gedeutet wird, dass ich überzeugt davon bin, dass das Bild schön ist. Kann man aber eine Überzeugung als Tatsache beschreiben? Auch hier bleiben viele Fragen offen. Es scheint also zumindest fraglich, ob sich ein Urteil immer als ein Zeichen für eine Tatsache auffassen lässt. Wenn aber nicht, was ist ein Urteil dann? Vielleicht ist es ein bloßes Zeichen für eine real existierende oder aber bloß vermeintliche Beziehung zwischen zwei Gegenständen (sehr breit gefasst)? Eine Wörterbuchdefinition des Begriffs „ Urteil “ im philosophischen Sinne besagt, dass es sich bei ihm um eine „ in einen Satz gefasste Erkenntnis “ handelt (Duden 1996, S. 1625). Dies scheint zu eng gefasst, denn eine solche Definition schließt die Möglichkeit von Urteilen, die falsch sind, aus. Der gewöhnliche Gebrauch des Wortes (im philosophischen Sinne) lässt aber eine solche Möglichkeit durchaus zu. Denn der Satz „ Es gibt grüne Männchen auf dem Mars “ würde durchaus als ein Urteil 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 131 gelten, obschon ihm höchstwahrscheinlich keine Tatsachen entsprechen, der Satz also kaum als eine Erkenntnis gelten kann. Eine solche Möglichkeit lässt Schlick übrigens selbst durchaus zu (AE, S. 235 107 ). Was ein Urteil ist, muss hier nicht endgültig entschieden werden. Für unsere Zwecke reicht es, wenn wir einfach festhalten, dass Schlicks Auffassung vom Wesen des Urteils fraglich ist. Und schließlich müssen wir uns mit der Frage befassen, ob die Behauptung zutrifft, dass ein Urteil ein Zeichen ist. Wir haben bereits festgestellt, dass es unmöglich (ausschließlich) ein Zeichen einer Tatsache sein kann. Wir haben auch bereits die Frage diskutiert, ob es sich bei Begriffen um bloße Zeichen handeln könnte, und sind zu dem Schluss gekommen, dass dies eher unwahrscheinlich ist. Uns schien die Annahme berechtigt, dass Begriffe doch mehr sind als bloße Zeichen. Aber wenn das so ist, trifft es höchstwahrscheinlich auch auf die Urteile zu, denn diese werden in begrifflicher Sprache verfasst. Alle diese scheinbar völlig abstrakten und nutzlosen Überlegungen haben weitreichende Folgen. Denn aus der Annahme, dass alles Urteilen ein In- Beziehung-Setzen ist, zieht Schlick nicht nur den Schluss, dass Begriffe und Urteile gleichsam Systeme von Netzen bilden 108 - und auch die „ Systeme unserer Wissenschaften [. . .] ein Netz [bilden], in welchem die Begriffe die Knoten und die Urteile die sie verbindenden Fäden darstellen “ (AE, S. 230) - , sondern auch, und dies ist viel entscheidender, dass das Erkennen in einem solchen In-Beziehung-Setzen besteht. § 8 schließt mit der Feststellung: „ Dieser Zusammenhang [zwischen Begriffen und Urteilen] macht das Wesentliche der Erkenntnis aus. Ihre Möglichkeit beruht darauf, dass die Begriffe durch Urteile miteinander verbunden sind. Nur in Urteilen ist Erkenntnis “ (AE, S. 233). Und am Anfang von § 9 stellt Schlick fest: „ Erkenntnis bedeutet Aufdeckung einer Beziehung zwischen Gegenständen; indem wir eine Erkenntnis aussprechen, bezeichnen wir also eine Beziehung, und indem wir eine Beziehung bezeichnen, fällen wir ein Urteil “ (AE, S. 235). Stimmt das? Eine Person kann man anhand ihrer gegenseitigen Beziehungen zu den Familienmitgliedern eindeutig bestimmen. Solche Beziehungen bilden ein Netz, in dem jede Person einen Knoten und in dem die Beziehungen zwischen dieser Person und den anderen Familienmitgliedern die „ verbindenden Fäden darstellen “ . Miriam ist die Tochter von Paul und Karla Müller, Stefan ihr älterer Bruder und Ida ihre jüngere Schwester. Pauls Vater heißt . . .usw. Angenommen ich hätte eine bestimmte Person mittels eines solchen Familiennetzes eindeutig bestimmt, habe ich sie damit schon erkannt? Weiß ich etwas 107 „ Jedes Urteil, das nicht eine offene Tautologie oder eine Definition ist, enthält eine Erkenntnis (sofern es nicht etwa falsch ist [. . .]). “ 108 „ So bildet jeder Begriff gleichsam einen Punkt, in welchem eine Reihe von Urteilen zusammenstoßen [. . .]. Er ist wie ein Gelenk, das sie alle zusammenhält “ (AE, S. 230). 132 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus über Miriam, wenn ich weiß, dass sie die Tochter von Paul und Karla ist (und sonst nichts über diese Personen weiß)? Offensichtlich nicht. Es mag stimmen, dass die Aussage „ Miriam ist die Tochter von Paul “ ein Urteil darstellt und dass dieses Urteil eine Erkenntnis beinhaltet, aber es ist auch offensichtlich, dass diese Erkenntnis nicht hinreicht, um sagen zu können, ich hätte Miriam erkannt. Darauf könnte Schlick entgegnen, dass dies sicher nicht die vollständige Erkenntnis von Miriam sei, dass mich aber nichts daran hindert, weitere Beziehungen zwischen ihr und anderen „ Gegenständen “ zu entdecken, und dass, wenn ich sie alle entdeckt habe, ich über die vollständige Erkenntnis von Miriam verfügen werde. Ist es aber nicht so, dass wir normalerweise denken, wir erkennen Miriam nicht dadurch, dass wir ihre familiären, sozialen und sonstigen Netzwerke erforschen (wenngleich derartige Kenntnisse durchaus zu unserem Wissen von Miriam beitragen können), sondern dadurch, dass wir herausfinden, welche Person sie völlig unabhängig von solchen Beziehungen ist: ist sie tapfer, ist sie feige, warmherzig oder kalt, weltoffen oder eine Eigenbrötlerin, welche Musik mag sie, was sind ihre Lieblingsfreizeitbeschäftigungen, welchen Beruf übt sie aus usw. Darauf könnte Schlick entgegnen: Kein Problem, denn „ [e]inen Gegenstand erkennen heißt, einen andern in ihm wiederfinden oder auffinden “ (AE, S. 233). In Schlicks Terminologie ist eine Charaktereigenschaft wie z. B. Tapferkeit ein „ Gegenstand “ , demnach gehört: Tapferkeit in Miriam „ wiederfinden oder auffinden “ durchaus zum Erkenntniskerngeschäft. Das Problem ist, dass Schlick unter „ einen andern in ihm wiederfinden oder auffinden “ eindeutig etwas anderes versteht, und zwar etwas, was man heute mit dem Begriff „ Reduktion “ bezeichnet. Als ein typisches Beispiel des „ Erkennens von A als B “ oder dafür „ dass A B ist “ führt er die Identifizierung des Lichts mit einem „ Schwingungsvorgang “ an (AE, S. 233) und ergänzend schreibt er, dass es sich bei einer solchen Identifizierung nicht um die Zurückführung (Reduktion) eines Gegenstand auf einen anderen kraft bloßer Definitionen (etwa „ Junggeselle ist ein unverheirateter junger Mann “ ), sondern vielmehr „ kraft heterogener Zusammenhänge “ handelt. Sind zwei Begriffe auf ganze verschiedene Weise definiert und findet man dann, dass unter den Gegenständen, die der eine vermöge seiner Definition bezeichnet, auch solche sind, die unter den zweiten Begriff fallen, dann ist der eine durch den andern erkannt. (AE, S. 234) Diese Formulierung ist offensichtlich so gewählt, dass man sagen kann: Unter den unterschiedlichen Arten der elektromagnetischen Strahlung, gibt es eine (zwischen 380 und 780 nm Wellenlänge), die wir als Licht wahrnehmen. Das Licht ist also elektromagnetische Strahlung, aber nicht jede Form dieser Strahlung ist auch Licht. So viel ist klar. Da sich die Umfänge der beiden Begriffe nicht vollständig decken, lässt Schlicks Formulierung jedoch die Frage offen, ob es Formen des Lichts geben kann, bei denen es sich nicht um elektromagnetische Strahlung handelt. Vermutlich meint er jedoch, dass alle 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 133 „ Gegenstände “ , die unter den Begriff „ Licht “ fallen, auch unter den Begriff der „ elektromagnetischen Strahlung “ fallen, dass also die Beziehung zwischen den beiden Begriffen keine symmetrische ist. Mir scheint an dieser Stelle ein Kommentar zu einer gewissen Verschiebung angebracht, die sich im Denken Schlicks vollzogen hat, verglichen mit den ursprünglichen Beispielen des Erkenntnisprozesses, und die hier zum Vorschein kommt. Wir erinnern uns, dass Schlick den alltäglichen Erkenntnisvorgang am Beispiel der Erkenntnis, dass „ ein bewegliches braunes Etwas “ ein Tier, ein Hund, und schließlich „ mein Hund Tyras “ ist (AE, S. 147). Wenn wir sagen, „ ein Hund ist ein Tier “ , haben wir eine andere Empfindung, als wenn wir sagen, „ Licht ist eine Form der elektromagnetischen Strahlung “ . Schliesslich ist es, wie bereits erwähnt, üblich, die Aussagen der letzteren Art (es gibt selbstverständlich unzählige weitere davon: Wasser ist H 2 O; Bewusstsein ist ein Ergebnis der Nervenprozesse im Gehirn; Der menschliche Leib ist eine Ansammlung von Molekülen usw.) als Fälle von Reduktion zu bezeichnen, dennoch hat man nicht das Gefühl, dass, wenn man sagt, „ ein Hund ist ein Tier “ , man den Hund auf das Tier reduziert. Wieso eigentlich? Die Vermutung liegt nahe, dass dieser subtile Unterschied in der Empfindung damit zusammenhängt, dass wir das Gefühl haben, es gibt in der Welt nicht nur „ natürliche Arten “ (Hunde, Katzen, Bäume, Menschen usw.), sondern auch eine „ natürliche Hierarchie “ der Begriffe: alle Hunde sind Säugetiere, alle Säugetiere sind Wirbeltiere, alle Wirbeltiere sind Chordatiere, alle Chordatiere sind Tiere, alle Tiere sind Lebewesen, und wir haben keine Schwierigkeit damit, die enger gefasste Klasse als einen Teil der breiter gefassten Klasse anzuerkennen. Oberflächlich betrachtet liegt der Fall des Lichts ganz ähnlich: wir haben eine enger gefasste Klasse (verschiedene Formen des Lichts, z. B. verschiedene Farben) als einen Teil einer breiter gefassten Klasse: elektromagnetische Strahlung, die neben dem Licht noch andere Formen der Strahlung umfasst (Radiowellen, Infrarot, ultraviolette Strahlung, Röntgenstrahlung, Gammastrahlung usw.), anerkannt. Und dennoch, ein gewisses Unbehagen bleibt. Wieso? Sehen wir ein Tier auf der Weide, haben wir kein Problem damit, es als z. B. „ eine Kuh “ zu bezeichnen. Sehen wir eine Welle auf dem Teich, haben wir ebenfalls kein Problem damit, sie als eine solche zu benennen. Der Satz: „ Das Licht ist eine Welle “ (oder „ eine Photonenwelle bzw. Photonenstrom “ ) hingegen erzeugt gewisse Widerstände. Wieso? Erstens muss festgehalten werden, dass man eine Kuh oder eine Welle problemlos sehen kann, das Licht hingegen eigentlich nicht. Wir sehen eigentlich nicht das Licht, sondern lediglich die vom Licht beleuchteten Gegenstände. Man kann sich davon überzeugen, wenn man den nächtlichen Himmel betrachtet. Dieser erscheint schwarz, mit Ausnahme der leuchtenden Punkte der Sterne und ggf. der leuchtenden Mondscheibe. Der interstellare Raum ist jedoch durch und durch beleuchtet: das Licht der Sonne und der anderen Sterne kann sich in ihm ungehindert verbreiten, es ist dort anwesend, immer auf dem Weg von der Sonne (oder anderen Sternen) in die 134 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus entferntesten Winkel des Solarsystems bzw. des Universums. Dieser interstellare Raum erscheint uns allerdings als schwarz. Das Licht ist also eigentlich unsichtbar. Zweitens sehen wir, anders als bei einem Teich oder dem Meer, die Wellen nicht dort, wo wir das Licht vermuten. Das Licht scheint unter gewissen Bedingungen gewisse Phänomene zu erzeugen, die auf seine Wellennatur schließen lassen (Interferenzmuster in einem Doppelspaltexperiment), aber darf man von der Tatsache, dass das Licht sich wie eine Welle verhalten kann, darauf schließen, dass es eine Welle ist? Der Mensch kann kriechen, aber er ist kein Regenwurm. Und darf man aus der Tatsache, dass das Licht sich wie ein Teilchenstrom verhalten kann, schließen, dass es nichts anderes als ein solcher Teilchenstrom ist? Der Mensch kann springen, aber er ist deshalb kein Fussball. Wir haben keine Schwierigkeit damit anzuerkennen, dass der Mensch weder ein Wurm noch ein Fussball ist, denn wir sehen, dass er noch viele andere Eigenschaften hat, die weder diesem noch jenem zukommen. Können wir aber sicher sein, dass das Licht keine anderen Eigenschaften hat, als die uns bis jetzt bekannten? Vielleicht ist das Licht viel mehr als bloß „ eine Welle “ oder ein „ Teilchenstrom “ , und vielleicht finden wir deshalb, weil wir diese Tatsache dumpf ahnen, den Satz „ Das Licht ist eine elektromagnetische Strahlung “ problematisch? Es scheint darüber hinaus angebracht, auf eine besondere Stelle in Schlicks Gedankengang aufmerksam zu machen. Am Ende von § 8 schreibt er: „ Jedes Urteil setzt einen Begriff zu andern Begriffen in Beziehung “ (AE, S. 233). Diese Formulierung erweckt den Eindruck, dass das Urteil nicht die bereits bestehenden Beziehungen zwischen „ Gegenständen “ gleichsam begrifflich „ widerspiegelt “ , sondern dass es eine neue Beziehung (und zwar zwischen Begriffen, nicht zwischen Gegenständen) setzt oder womöglich sogar konstruiert. Träfe diese Interpretation zu, würde sie ohne Frage „ Tür und Tor öffnen “ für die Erkenntniswillkür oder Subjektivität: die ausgesagten Beziehungen wären dann nicht in der Welt, sondern nur in unseren „ Köpfen “ vorhanden. Das will Schlick bestimmt nicht sagen. Er schreibt auch explizit, dass das Finden, dass unter gewissen Gegenständen, die auf eine bestimmte Art definiert werden, auch solche fallen, die auf eine andere Art definiert sind (elektromagnetische Wellen/ Licht), auf zwei Wegen gewonnen werden könne: 1) durch Begriffsanalyse (z. B. man kann zeigen, dass sich das Licht in Übereinstimmung mit gewissen mathematischen Gleichungen verhält); 2) „ durch Beobachtung und Erfahrung - und dann ist dadurch eine Erkenntnis realer Zusammenhänge gewonnen [. . .] “ (AE, S. 234f.). Wir werden aber bald sehen, dass diese zweideutige Formulierung keineswegs bloß eine vernachlässigbare Ungenauigkeit von Schlicks Seite darstellt, sondern dass sie doch tiefere Gründe hat. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 135 6) „ [E]in Urteil, das einen Tatbestand eindeutig bezeichnet, heißt wahr. “ Im § 10 diskutiert Schlick einen der zentralsten Begriffe jeder Erkenntnistheorie, den Begriff der Wahrheit, und dabei gelangt er wiederum zu überraschenden und kontraintuitiven Schlüssen. Warum ordnen wir den Gegenständen Begriffe zu, fragt Schlick nochmals? Um über sie urteilen zu können. Warum aber urteilen wir? Wir haben seine Antwort bereits in der Zusammenfassung seines Werkes kennengelernt, deshalb nur kurz zur Wiederholung: Wo es unhandlich ist, mit den Gegenständen zu hantieren (wie z. B. in einer Bibliothek mit Büchern), setzen wir an die Stelle der Gegenstände Zeichen (Katalogeinträge). Eine Bedingung muss aber erfüllt sein, damit das System funktionieren kann: die Zuordnung der Zeichen zu den Gegenständen muss eindeutig sein. Das gilt auch für die Zuordnung der Urteile zu Tatsachen; bei Schlick heißt es: „ [E]in Urteil, das einen Tatbestand eindeutig bezeichnet, heißt wahr “ (AE, S. 254) Nachdem er diese überraschende Feststellung formuliert hat, verteidigt er sie. Früher wurde Wahrheit fast immer als Übereinstimmung des Denkens mit seinem Objekt definiert, schreibt er. Aber was ist Übereinstimmung? Keine Gleichheit, denn das Urteil ist mit dem Beurteilten nicht identisch (ist nur ein Zeichen dafür, für die Tatsache). Vielleicht ist das, was mit „ Übereinstimmung “ gemeint ist, keine Gleichheit (Identität), sondern eine bloße Ähnlichkeit? Aber sind unsere Urteile den Tatsachen ähnlich, fragt Schlick und stellt dann fest, dass die im Urteil auftretenden Begriffe den durch sie bezeichnenden Gegenständen gewiss nicht ähnlich sind, aber genauso wenig den Beziehungen, die sie bezeichnen. „ In dem Urteil ‚ der Stuhl steht rechts vom Tisch ’ wird doch nicht der Begriff des Stuhles rechts vom Begriff des Tisches gestellt “ (AE, S. 256). Schlick schließt seine Diskussion dieses Problems mit der Feststellung: So zerschmilzt der Begriff der Übereinstimmung vor den Strahlen der Analyse, insofern er Gleichheit oder Ähnlichkeit bedeuten soll, und was von ihm übrig bleibt, ist allein eindeutige Zuordnung. In ihr besteht das Verhältnis der wahren Urteile zur Wirklichkeit. (AE, S. 256) Diese Feststellung erstaunt, denn selbst nachdem man zwei mögliche Analysen des Begriffs „ Übereinstimmung “ in Bezug auf den Wahrheitsbegriff (zu Recht) zurückgewissen hat, bleiben sicher noch weitere Möglichkeiten auf dem Kampffeld des Wahrheitsbegriffs, die untersucht werden sollten (z. B. Wahrheit als Nichtwiderspruch oder Wahrheit als das, was sich in der Praxis bewährt usw.). Schlicks Feststellung bzw. Schluss setzt eigentlich folgende Prämissen voraus: 1) Ich habe unterschiedliche Verständnismöglichkeiten des Wahrheitsbegriffes untersucht und fand, dass sich nur zwei davon als tragfähig erwiesen: Wahrheit in der Form der Übereinstimmung und als eindeutige Zuordnung. 2) Ich habe unterschiedliche Verständnismöglichkeiten des Begriffs der „ Übereinstimmung “ untersucht und dabei festgestellt, dass es nur zwei tragfähige Interpretationsmöglichkeiten dieses Begriffs gibt: 136 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus a) Übereinstimmung ist Identität (des Urteils und der Tatsache); b) Übereinstimmung ist Ähnlichkeit (des Urteils und der Tatsache). 3) Ich habe die Varianten a) und b) untersucht (s. oben) und festgestellt, dass sie abgewiesen werden müssen. Ergo bleibt nur eine Möglichkeit: Wahrheit besteht in der eindeutigen Zuordnung. Schlick hat von den drei Prämissen eigentlich nur eine, nämlich 3), einigermaßen adäquat begründet, ist also zu seinem Schluss überhaupt nicht berechtigt. Der Leser ist erneut erstaunt, wie wenig folgerichtig Schlicks Denken eigentlich ist, trotzdem es sich den Anschein strenger Konsequenz gibt. Da nun die Idee der Wahrheit als eindeutiger Zuordnung völlig neu und nicht sofort intuitiv nachvollziehbar ist und sie bis jetzt eigentlich überhaupt nicht begründet, sondern bloß thetisch festgestellt wurde, fühlt sich Schlick zu ihrer Verteidigung genötigt. Wiewohl ihre Rechtfertigung überraschend knapp ausfällt. Seine Verteidigungsstrategie besteht aus zwei Schritten. Im ersten versucht er die Idee, dass das Urteil mehr als ein Zeichen einer Tatsache sein könnte, zu diskreditieren. Man muss sich durchaus des Gedankens entschlagen, als könne ein Urteil im Verhältnis zu einem Tatbestand mehr sein als ein Zeichen, als könne es inniger mit ihm zusammenhängen denn durch bloße Zuordnung, als sei es imstande, ihn irgendwie adäquat zu beschreiben oder auszudrücken oder abzubilden. Nichts dergleichen ist der Fall. Das Urteil bildet das Wesen des Beurteilten so wenig ab wie die Note den Ton, oder wie der Namen eines Menschen seine Persönlichkeit. (AE, S. 257) Der Leser merkt, dass dies eigentlich keine rationale Begründung seiner Behauptung, sondern bloß eine Beschwörung derselben ist. Schlick liefert keine neuen Argumente, die seine These stützen könnten, er wiederholt diese nur nochmals und illustriert sie mit einer (vermeintlichen) Analogie. Der zweite Schritt ist sehr interessant. Schlick schreibt: Eindeutigkeit ist die einzige wesentliche Tugend einer Zuordnung, und da die Wahrheit die einzige Tugend der Urteile ist, so muss die Wahrheit in der Eindeutigkeit der Bezeichnung bestehen, zu welcher das Urteil dienen soll. (AE, S. 257) Angenommen, dass ein Urteil tatsächlich ein Zeichen einer Tatsache ist (was wir oben in Frage gestellt haben), folgt Schlicks Schluss hieraus? Zum einen ist auffallend, dass Schlick sich des Begriffs der „ Tugend “ bedient, was in der Wissenschaft bekanntlich ganz unüblich ist, da dieser Begriff in die wissenschaftliche Diskussion Werte einführt, was man innerhalb des Empirismus normalerweise tunlichst vermeidet, damit sich in den streng objektiven Diskurs, wie es heißt, keine Subjektivität einschleicht. Man kann versuchen, diesen Begriff durch das neutrale „ Eigenschaft “ zu ersetzen, wodurch die Schwierigkeit sich zwar wesentlich verringern, aber nicht ganz verschwinden würde. Denn indem man von „ wesentlicher “ Eigenschaft sprechen wollte, müsste man eigentlich objektiv angeben können, wieso eine bestimmte 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 137 Eigenschaft wesentlicher sei als andere. Wir sehen hier die Wurzel oder die ersten Anzeichen eines Streits, der Jahrzehnte später (insbesondere nach der Veröffentlichung von Kuhns Structure of Scientific Revolutions im Jahr 1962) innerhalb des logischen Positivismus ausgebrochen ist und der sich um den Status der Werte innerhalb der Wissenschaft drehte. Doch belassen wir es bei diesem Ausdruck und schauen, ob wir den Schluss dann schon als begründet erachten können. Eindeutigkeit ist „ die einzige wesentliche Tugend “ einer Zuordnung. Stimmt das? Ist es nicht eher so, dass man sich durchaus unterschiedliche eindeutige Zuordnungen vorstellen kann, die jedoch nicht gleichwertig sind. Z. B. könnte man sich vorstellen, dass man jedem Buch in einer Bibliothek ein und nur ein Gemälde in irgendeinem Museum der Welt zuordnen würde. Die Zuordnung wäre eindeutig, wäre sie aber auch nützlich? Genauso könnte man jedem Buch eine zufällige Zahl zuordnen, die jeweils für ein neues Buch gesondert generiert würde (wobei man strengstens darauf achten würde, dass eine Zahl, die bereits einem Buch zugeordnet worden war, nicht nochmals zum Einsatz käme). Wäre eine solche Zuordnung in einer Bibliothek etwas wert? Man kann sich auch weitere Beispiele von eindeutigen Zuordnungen gewisser Zeichen zu bestimmten Büchern ausdenken. Es zeigt sich unmittelbar, dass Eindeutigkeit sicherlich nicht „ die einzige wesentliche Tugend “ einer Zuordnung ist. Wie steht es aber mit der Behauptung, dass die Wahrheit die einzige „ Tugend “ der Urteile ist? „ Der Schnee ist kalt “ , „ Die Tage im Sommer sind länger als im Winter “ , „ Der (gesunde) Mensch hat zwei Beine “ , „ Ein Panzer ist schwerer als ein Schmetterling “ , „ Das Produkt von 20 und 30 ist eine Zahl zwischen 1 und 1.000.000 “ . Ich könnte noch Tausende solcher „ Wahrheiten “ produzieren, doch dürften diese bereits ausreichen, um sich klarzumachen, dass die Wahrheit nicht die einzige „ Tugend “ der Urteile ist. Die Urteile, besonders in der Wissenschaft, müssen nicht nur wahr, sondern und vor allem auch noch wichtig, interessant, neu, vielleicht auch im Sinne Poppers riskant usw. sein. Was folgt aber daraus, dass Eindeutigkeit nicht „ die einzige wesentliche Tugend “ der Zuordnung und Wahrheit nicht „ die einzige wesentliche Tugend “ der Urteile ist? Es folgt, dass die von Schlick vollzogene Identifizierung der Wahrheit mit der Eindeutigkeit der Zuordnung völlig unbegründet dasteht. Denn seine Denkfigur war diese: 1) Das Urteil ist eine Zuordnung (wir haben gesehen, dass die Wahrheit diese Prämisse äußerst zweifelhaft ist); 2) Die zentrale Eigenschaft der Zuordnung ist Eindeutigkeit; 3) Die zentrale Eigenschaft der Urteile ist Wahrheit. Ergo: Wahrheit ist Eindeutigkeit der Zuordnung. Wenn aber sowohl die Zuordnungen als auch die Urteile über mehrere wichtige Eigenschaften verfügen, ist überhaupt nicht klar, welche mit welchen „ gepaart “ werden sollten, wenn überhaupt. Übrigens begeht Schlick mit seiner Schlussmethode an dieser Stelle noch einen anderen logischen Fehler. Seine Gedankenschritte sind, wie wir gese- 138 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus hen haben, die folgenden: Urteile sind Zuordnungen; zentrale Tugend des Urteils ist Wahrheit; zentrale Tugend der Zuordnung Eindeutigkeit, ergo ist Wahrheit Eindeutigkeit der Zuordnung. Die Mangelhaftigkeit der Schlussmethode lässt sich an einem Beispiel ihrer Anwendung (auf einen anderen Fall) leicht erkennen. Eine Katze ist ein Säugetier, dies ist unbestritten; die zentrale Eigenschaft einer Katze ist, (sagen wir) dass sie Mäuse fängt; die zentrale Eigenschaft eines Säugetiers ist, (sagen wir) dass sich seine Jungen von der Milch der Mutter ernähren. Ergo ist Mäuse fangen, sich von der Milch der Mutter ernähren. Offensichtlich stimmt hier etwas nicht . . . Das Problem besteht darin, dass, wenn man eine Klasse von Objekten als sich innerhalb einer anderen, größeren Klasse befindend einordnet (alle Katze sind Säugetiere, aber nicht umgekehrt; alle Urteile sind Zuordnungen, aber nicht umgekehrt), die zentrale Eigenschaft der übergeordneten Klasse mit der zentralen Eigenschaften der kleineren Klasse zwangsläufig nicht identisch ist. Die zentrale Eigenschaft der kleineren Klasse muss sich von der zentralen Eigenschaft der größeren Klasse unterscheiden, um überhaupt die Grundlage zur Bildung der kleineren Klasse abgeben zu können. Die zentralen Eigenschaften zweier Klassen werden identisch sein, wenn die Klassen identisch sind (Junggeselle, unverheirateter Mann), dann aber sind sie eine Eigenschaft (unverheiratet). Schlick hat uns also keine stichhaltigen Argumente für seine Behauptung geliefert, dass Wahrheit in der eindeutigen Zuordnung besteht. Es ist jedoch logisch möglich, dass er die Wahrheit auch ohne gute Argumente getroffen hat. Denn wie allgemein bekannt, kann man logisch aus falschen Prämissen zu einem richtigen Schluss gelangen. Wir müssen also noch gesondert untersuchen, ob Schlicks Behauptung in Bezug auf das Wesen der Wahrheit Sinn macht oder nicht. Wir haben uns bereits eine Vorstellung darüber gebildet, worin eine eindeutige Zuordnung eines Begriffs (als ein Zeichen verstanden) zu einem Gegenstand bestehen soll. Schlick betont jedoch, dass nur ein Urteil, nicht aber ein Begriff, wahr oder falsch sein kann (AE, S. 263). Worin besteht der Unterschied zwischen den beiden Fällen der Bezeichnung? Schlick argumentiert, dass sich der Unterschied daraus ergibt, dass nur im Falle eines Urteils, nicht aber in dem eines Begriffs, der Vollzug der Zuordnung beabsichtigt ist. Wenn ich das Wort „ Wasser “ ausspreche und mir die Vorstellung Wasser zur Vertretung des Begriffs vergegenwärtige, so kann dabei nichts Wahres oder Falsches, nichts Eindeutiges oder Mehrdeutiges sein. Wenn ich aber beim Aussprechen des Wortes auf eine farblose Flüssigkeit zeige, so wird meine Handlung sofort einem Urteil äquivalent; ich deute damit an, dass ich eine Zuordnung vollziehen will, und die kann nun in der Tat richtig oder falsch sein. (AE, S. 263) „ Wenn ich das Wort ‚ Wasser ’ ausspreche und mir die Vorstellung Wasser zur Vertretung des Begriffs vergegenwärtige, so kann dabei nichts Wahres oder 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 139 Falsches, nichts Eindeutiges oder Mehrdeutiges sein “ . Stimmt das? Nehmen wir an, ich habe ein Kind vor mir, von dem ich herausfinden soll, ob es die Bedeutungen unterschiedlicher Begriffe richtig versteht. Nehmen wir an, ich habe mich entschlossen, diese Aufgabe dadurch zu erledigen, dass ich dem Kind eine Anzahl von verschiedenen Bildern gebe, aus denen das Kind ein passendes für einen Begriff auswählen soll. Nehmen wir weiter an, dass ich das Wort „ Wasser “ ausspreche und dem Kind Zeit lasse, das passende Bild zu finden. Das Kind wählt jedoch ein Bild eines Fahrrads. Dies ist eindeutig falsch. Ich bin berechtigt, diese Handlung so zu interpretieren, dass das Kind dieses Wort nicht richtig versteht. Auf der anderen Seite muss festgehalten werden, dass wir es hier mit der Zuordnung eines Wortes zu einem (durch das Bild repräsentierten) Begriff zu tun haben, und nicht mit der Zuordnung des Begriffs zu einem Gegenstand/ Objekt. Dies wäre der Fall, wenn das Kind, sagen wir, eine in Worte gefasste, also „ explizite “ (AE, S. 217) Definition eines Begriffs (z. B. Wasser ist eine durchsichtige Flüssigkeit, die Durst stillt, Feuer löscht und in großen Mengen in Seen, Flüssen, und Meeren oder Ozeanen vorhanden ist) mit einem Bild in Einklang bringen sollte. Wenn wir sicher wären, dass das Kind alle in der Definition gebrauchten Worte richtig versteht und dennoch das Bild des Fahrrads als das der Definition entsprechende wählt (was selbstverständlich sehr unwahrscheinlich ist), dann würden wir doch sagen wollen, dass die Zuordnung falsch ist (und etwas Gravierendes mit dem Kind nicht in Ordnung ist). Interessanterweise würden wir in einem solchen Fall von der „ richtigen “ oder „ falschen “ , nicht aber von der „ wahren “ oder „ falschen “ Zuordnung sprechen wollen, aber wir haben jetzt nicht die Zeit, uns mit dieser Feinheit zu beschäftigen. 109 Es ist schon richtig, dass wir erst bei dem Urteil „ Dies hier ist Wasser “ von seiner Wahrheit bzw. Falschheit sprechen. Geben wir Schlick so viel zu und fragen weiter. Wir wollen wissen, ob die eindeutige Zuordnung eines Urteils zu einer Tatsache tatsächlich das Wesen der Wahrheit ausmacht. Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns zunächst Klarheit darüber verschaffen, worin die eindeutige Zuordnung eines Urteils zu einer Tatsache bestehen soll. Um dieses Ziel erreichen zu können, müsste man einerseits die Fälle einer mehrdeutigen Zuordnung, andererseits solche einer eindeutigen Zuordnung konstruieren, um durch einen Vergleich zwischen ihnen das Wesen der eindeutigen Zuordnung genau fassen zu können. Nun liefert uns Schlick ein Beispiel für beides, der sehr interessant ist. Er schreibt: Wenn diese Bestimmung richtig ist [dass die Wahrheit in der Eindeutigkeit der Zuordnung des Urteils zu der Tatsache bestehe], so kann ein falsches Urteil nichts anderes sein, als ein solches, das eine Mehrdeutigkeit der Zuordnung verschuldet. Dies lässt sich in der Tat sehr leicht bestätigen. Nehmen wir etwa, um an unser altes 109 Wir werden aber auf sie in dem Kapitel „ Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals “ eingehen. 140 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Beispiel anzuschließen, das falsche Urteil: „ Ein Lichtstrahl besteht in einem Strome schnell bewegter Körperchen “ [. . .], so werden wir bei Prüfung aller Tatsachen, die die physikalische Forschung uns kennen gelehrt hat, bald gewahr, dass dieses Urteil keine eindeutige Bezeichnung der Tatbestände ermöglicht. Wir würden nämlich finden, dass hierbei zwei verschiedenen Tatsachenklassen dieselben Urteile zugeordnet wären, dass also eine Zweideutigkeit vorläge. Es wären ja einerseits die Tatsachen, bei denen es sich wirklich um bewegte Korpuskeln handelt, wie etwa Kathodenstrahlen, andererseits die Tatsachen der Lichtfortpflanzung durch dieselben Symbole bezeichnet. Überdies würden zugleich auch zwei identischen Tatsachenreihen, nämlich der Lichtfortpflanzung einerseits, der Wellenausbreitung andererseits, verschiedene Zeichen zugeordnet sein. Die Eindeutigkeit wäre verloren, und der Nachweis davon ist der Nachweis der Falschheit jenes Urteils. (AE, S. 257f.) Schlick geht also etwa folgendermaßen vor: Wir sind der Ansicht, dass das Licht in einem Strome schnell bewegter Körperchen bestehe. Dann aber stellen wir fest, dass dies nicht der Fall ist, weil Lichtverbreitungsphänomene entdeckt worden sind (z. B. Interferenzmuster beim Beleuchten einer undurchsichtigen Fläche mit zwei kleinen Öffnungen), die auf den Wellencharakter des Lichtes hindeuten. Weil sich nun unsere ursprüngliche Behauptung auf zwei unterschiedliche Tatsachenreihen beziehen bzw. ihnen zugeordnet sein würde, erweist sich die Zuordnung als nicht eindeutig, die These mithin als falsch. Eine seltsame Behauptung. Normalerweise würden wir, nachdem wir uns mit den Ergebnissen der Interferenzexperimente vertraut gemacht haben, doch nicht sagen, dass die ursprüngliche Behauptung sich auf zwei verschiedene Tatsachenklassen bezieht, sondern, dass sie teilweise falsch ist bzw. gewissen Arten der Phänomene nicht entspricht, sie nicht korrekt beschreibt, und deshalb falsch ist. Man kann sich aber auch leicht eine Situation vorstellen, in der sich eine eindeutige Zuordnung dennoch als falsch erweist. Stellen wir uns nochmals die Situation vor, in der ein Kind seine Kenntnisse einer ihm fremden Sprache zeigen soll. Nehmen wir an, das Kind steht noch ganz am Anfang des Lernprozesses. Wir geben ihm zwei Stapel von Karten: in dem einem befinden sich Bilder von Gegenständen, in dem anderen die diesen Gegenständen zugehörenden Worte. Das Kind soll jetzt die Worte den Bildern zuordnen. Gehen wir ferner davon aus, dass das arme Kind alles falsch macht: keine einzige Zuordnung stimmt. Dieses Beispiel veranschaulicht die Tatsache, dass man sich sehr wohl eine eindeutige Zuordnung vorstellen kann, die keineswegs die Wahrheit der mit ihm zusammenhängenden bzw. durch sie zum Ausdruck gebrachten Urteile garantiert. Das obige Zitat zeigt aber auch eine weitere offensichtlich gewordene Schwäche von Schlicks Auffassung des Wesens der Wahrheit: wir wissen heute, oder zumindest meinen wir zu wissen, dass das Licht zugleich Teilchencharakter und Wellencharakter aufweist. Das heißt, nicht in gleichen Situationen, sondern abhängig davon, wie man es untersucht, einmal diese, 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 141 einmal jene Eigenschaften offenbart. Das Urteil: „ Licht ist sowohl Teilchen als auch Welle “ ist also wahr (oder wird heute für wahr gehalten), aber nicht eindeutig. Es zeigt sich also, dass die Zuordnung des Urteils zu einer Tatsache (um bei dieser Terminologie zu bleiben) gar nicht eindeutig sein muss, um ein Urteil als wahr bezeichnen zu können. Wir wissen im Übrigen, oder zumindest meinen wir zu wissen, dass eine solche Mehrdeutigkeit in der Welt der Quantenmechanik sehr verbreitet ist. Nicht nur das Licht, sondern alle Elementarteilchen, sogar auch Moleküle, können in gewissen Situationen als Teilchen, in anderen hingegen als Wellen erscheinen; wir wissen auch, oder zumindest meinen wir zu wissen, dass sich ein Teilchen zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten befinden kann, und vieles mehr, das noch Schlick, der doch Physik studiert hatte, als Verrücktheit gelten musste. Es scheint also zutreffend und richtig, dass die Auffassung, die Wahrheit (eines Urteils) bestehe in der Eindeutigkeit der Zuordnung des Urteils zu einer Tatsache, verworfen werden muss. Die Behauptung, Wahrheit ist Eindeutigkeit der Zuordnung, hat aber für Schlick nicht nur eine rein theoretische Bedeutung. Sie hat auch interessante mehr oder weniger praktische Konsequenzen. Denn wie Schlick folgerichtig bemerkt, hat diese Auffassung eine völlig überraschende und unerwünschte Folge: Man könnte nämlich alle „ Gegenstände “ der Welt mit je einem Zeichen versehen, wodurch man eine eindeutige Zuordnung erhalten, dadurch aber auch eine unendliche Zahl von Wahrheiten hervorbringen würde: Es wäre nun aber nicht angebracht, alle Dinge der Welt in der Weise zu bezeichnen, dass wir lauter einzelne Zeichen dafür erfinden und die Bedeutung eines jeden auswendig lernen. Prinzipiell wäre es zwar leicht möglich, auf dieser Weise eine eindeutige Bezeichnung durchzuführen; und da Wahrheit bloß in [der] Eindeutigkeit der Zuordnung besteht, so wäre es im Prinzip ein Kinderspiel, zu vollkommener Wahrheit zu gelangen. Die Wissenschaften hätten eine gar leichte Aufgabe, wenn Wahrheit einfach mit Erkenntnis identisch wäre. (AE, S. 265) Schlick scheint an dieser Stelle bereits vergessen zu haben, dass er auf S. 263 argumentierte, dass man nicht von der Wahrheit der Zuordnung von Zeichen (Begriffen) zu Gegenständen sprechen könne, dass Wahrheit ausschließlich den Urteilen zukomme, die nach seiner Auffassung keine Zeichen für Gegenstände (Dinge), sondern Zeichen für die Beziehungen zwischen den Gegenständen sind. Man kann ihm diese kleine Unsicherheit der Gedankenführung jedoch verzeihen und zur Hauptsache übergehen. Die Hauptsache ist aber die, dass aus seiner Auffassung vom Wesen der Wahrheit folgt, dass Erkenntnis auf die Entdeckung der Wahrheiten abzielt. Dieses Ziel wäre, wie oben angedeutet, innerhalb seines Systems leicht zu erreichen. Worum bemühen wir uns also in unserem Erkenntnisstreben, wenn nicht um die Wahrheit über die Welt? Dazu stellt Schlick Folgendes fest: Erkenntnis ist mehr, viel mehr als bloße Wahrheit. Letztere verlangt nur Eindeutigkeit der Zuordnung und es ist ihr gleichgültig, welche Zeichen dazu benützt 142 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus werden; Erkenntnis dagegen bedeutet eindeutige Zuordnung mit Hilfe ganz bestimmter Symbole, nämlich solcher, die bereits anderswo Verwendung fanden. [. . .] Das Erkenntnisurteil ist eine neue Kombination von lauter alten Begriffen. (AE, S. 266f.) An sich ist dieser Gedanke eine konsequente Weiterführung seines ursprünglichen Diktums „ Alles Erkennen ist ein Wiedererkennen oder Wiederfinden “ (AE, S. 166), der Annahme, dass ein Objekt (wieder)erkannt wird, indem in etwas Neuem etwas Altes wiedergefunden wird (AE, S. 150). Wir haben bereits gesehen, dass diese These der Überprüfung nicht standhält. Die obige Formulierung birgt aber zusätzliche Gefahren in sich. Ohne eine Präzisierung oder Einschränkung würde sie nämlich zu der Absurdität führen, dass ein Urteil der Art „ Der Baum hat fünf Augen, zwei Flügel und vier Räder “ eine neue Erkenntnis bedeuten würde. Dieses Urteil stellt nämlich ohne Zweifel eine neue Kombination von alten Begriffen dar und scheint zumindest eindeutig zu sein. Schlick korrigiert sich jedoch schnell und spricht nicht bloß von Urteilen, sondern von wahren Urteilen: Kraft des Urteilszusammenhanges kommt also der neuen Wahrheit ein ganz bestimmter Platz im Kreise der Wahrheiten zu: die ihr entsprechende Tatsache erhält dadurch den Platz zugewiesen, den sie kraft des Tatsachenzusammenhanges im Reiche der Wirklichkeit einnimmt. Und eben dadurch, dass das Urteil diesen Platz uns anzeigt, wird die Tatsache oder der Gegenstand erkannt. (AE, S. 266) Die Idee eines zusammenhängenden Systems der Wahrheiten hat zweifelsohne etwas Bestechendes an sich. Ist es jedoch berechtigt, darauf zu bestehen, dass das Neue stets auf das Alte zurückgeführt wird? Wir haben bereits gesehen, dass Schlicks Beschreibung des Erkenntnisprozesses eigentlich auf das Wiedererkennen, nicht auf das Erkennen zugeschnitten ist. Man kann sich das in dieser Auffassung vorliegende Problem verdeutlichen, indem man paar Schritte überspringt und zum nächsten Paragraph übergeht. Dort diskutiert Schlick das Verhältnis zwischen Definitionen, Konventionen, und Erfahrungsurteilen. 7) § 11 Definitionen, Konventionen, Erfahrungsurteile Für unsere Zwecke ist weniger interessant, wie Schlick zwischen Definitionen und Konventionen unterscheidet (was an sich ein interessantes Diskussionsthema wäre), sondern welche Auffassung er in Bezug auf das vertritt, was bei ihm „ Erfahrungsurteile “ heißt und was die Hauptverbindung darstellt zwischen dem System der wissenschaftlichen Urteile und dem „ Tatsachenzusammenhang im Reiche der Wirklichkeit “ (AE, S. 266), wobei unser besonderes Augenmerk auf dem Stellenwert liegt, den Schlick diesen Urteilen in seiner Wissenschaftstheorie zuschreibt. Zunächst lassen sich seine Ausführungen intuitiv unmittelbar nachvollziehen: Angenommen, wir haben 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 143 einen Gegenstand einmal erkannt und begegnen ihm dann wieder, möglicherweise auch in anderen Zusammenhängen. Diese Art der Erlebnisse mit dem bereits bekannten Gegenstand nennen wir Erfahrung, wie Schlick schreibt (AE, S. 272). Da sich der betreffende Gegenstand in unserer Erfahrung in unterschiedlichen Relationen zu anderen Gegenständen zeigt, können wir zahlreiche Erkenntnisurteile über diese Verhältnisse fällen, die ihrerseits ein Netz bilden. Dann führt Schlick den Begriff des deskriptiven oder historischen Urteils ein: unter einem solchen versteht er ein Urteil, das nur durch direkte Verbindung mit der Wirklichkeit gefällt werden kann, im Kontrast mit den Urteilen, die sich aufgrund von bekannten Gesetzmäßigkeiten aus diesen (Urteilen) in Verbindung mit Anfangsparametern auf logischem Wege ableiten lassen. Der Name wurde hier so gewählt, weil diese Art von Urteilen vor allem in den beschreibenden und historischen Disziplinen vorkommt, daneben aber auch im täglichen Leben (ebd.). Ein wenig weiter (AE, S. 285) führt Schlick den Begriff des Fundamentalurteils ein. Fundamentalurteile sind diejenigen Sätze des Urteilssystems, „ mit denen es sich unmittelbar auf die wirklichen Tatsachen stützt “ (ebd.), wobei Schlick darunter nicht nur die „ historischen Urteile “ , sondern auch Definitionen versteht (ebd.). Und hier nun folgt eine einigermaßen überraschende Wende. Zunächst weist Schlick zu Recht darauf hin, dass sich die unterschiedlichen Wissenschaften in der Art unterscheiden, wie in ihnen das Urteilssystem der Wissenschaft (Definitionen und Erkenntnisurteile) mit dem „ System der Wirklichkeit “ (ebd.) „ zur Deckung “ kommt. 110 Bei den historischen Wissenschaften muss diese „ Deckung “ in Einzelarbeit gewährleistet werden, es fehlen ihnen die Elemente (wir würden gerne sagen: Gesetze, aber Schlick vermeidet dieses Wort tunlichst), die als Grundlage für die Ableitung der logischen Folgen anderer Urteile des Systems benutzt wurden. Innerhalb dieser Wissenschaften lässt sich folglich die Zukunft nicht voraussagen. Diese unbestrittene Beobachtung führt Schlick nun zu der folgenden einigermaßen erstaunlichen Feststellung: „ Diese [historischen] Disziplinen sind sehr reich an Material, ganz arm dagegen an Erkenntnissen “ (AE, S. 286). Die „ exakten Wissenschaften “ verfahren diesbezüglich in einer völlig anderen Weise: sie streben danach, die Zahl ihrer Fundamentalerkenntnisse möglichst klein zu halten und stützen sich auf logische Deduktionen, um „ die beiden Systeme [das Urteilssystem der Wissenschaft und das ‚ System der Wirklichkeit ‘ ] zur eindeutigen Übereinstimmung zu bringen “ (AE, S. 287). Schlick singt dann eine Lobeshymne an die Adresse der „ exakten Wissenschaften “ : So gleichen die exakten Wissenschaften nicht einem Maulwurfsbau, der sich durch das Erdreich der Tatsachen windet, sondern einem Eiffelturm, der nur an wenigen Punkten gestützt frei und leicht in die luftige Höhe allgemeinster Begriffe sich 110 Wir haben zuvor gesehen, dass Schlick die Idee der Wahrheit als einer Übereinstimmung des Urteils mit der Wirklichkeit ablehnt. Ist die Vorstellung der „ Deckung “ der Urteile mit dem „ System der Wirklichkeit “ aber nicht in etwa das Gleiche? 144 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus erhebt, von der aus man die Einzeltatsachen nur um so vollkommener beherrscht. Je weniger fundamentale Urteile einer Wissenschaft zugrunde liegen, desto geringer ist die Zahl der Elementarbegriffe, die sie zur Bezeichnung der Welt gebraucht, desto höher mithin die Erkenntnisstufe, zu der sie uns emporhebt. (AE, S. 287) Die historischen Wissenschaften sind also „ reich an Material, ganz arm dagegen an Erkenntnissen “ und „ je weniger fundamentale Urteile einer Wissenschaft zugrunde liegen, [. . .], desto höher mithin die Erkenntnisstufe, zu der sie uns emporhebt. “ Jetzt sieht man genauer, welche Folgen die Annahme hat, dass Erkennen „ ein Wiedererkennen das Alten in dem Neuen “ sei, ein Hinzufügen des Neuen in das bereits vorhandene System der Urteile. Nimmt man die Geometrie (oder die Mathematik) als Vorbild der Wissenschaft und hält sich zudem an Schlicks Bestimmung des Wesens des Erkenntnisprozesses, so kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass diejenigen Wissenschaften, die auf möglichst wenigen Prämissen bzw. „ Fundamentalurteilen “ oder Gesetzmässigkeiten aufbauen, die sind, die die höchste Erkenntnisstufe erreichen. Diese Sichtweise verkennt völlig, dass das Leben gerade dort, wo es sich nicht voraussagen lässt, reich und interessant ist. Wie wäre es, wenn ich mit der Geburt detailliert wüsste, was ich bis zu meinem Tode alles erleben werde? Würde ich dieses Leben leben wollen? Wie wäre es, wenn ich im Voraus genau wüsste, was ich während einer Ferienreise in ein fremdes Land erleben werde? Würde ich diese Reise unternehmen wollen? Diese Sichtweise verkennt völlig, dass, wenn ich die Positionen der Planeten genau berechnen kann (Schlicks Beispiel S. 273f.), ich mich dafür nicht mehr zu interessieren brauche, dass ich diese Aufgaben genauso gut einem Computer überlassen kann, weil sie völlig uninteressant, zur reinen Routine für mich geworden ist. Schlicks Auffassung vom Wesen des Erkenntnisprozesses verarmt unsere Welt, sie lässt dasjenige, was man in ihr als schöne, neue und überraschende Blumen entdeckt, als lästigen Maulwurfbau des bloßen „ historischen Urteils “ erscheinen. Auf der anderen Seite legt Schlick in der oben zitierten Passage seinen Finger genau auf den Punkt, der entscheidend dafür ist, dass die Voraussagbarkeit so hoch geschätzt wird: es ist zweifelsohne so, dass die „ exakten Wissenschaften “ uns „ die Einzeltatsachen “ auf eine Weise beherrschen lassen, wie die „ historischen Wissenschaften “ uns das nicht ermöglichen können. Wenn die Beherrschung der Welt (bzw. der Natur) im Vordergrund steht, muss man wohl nach dem von Schlick so hoch gepriesenen Wissen der exakten Wissenschaften streben. Ein solches Erkenntnisziel kann man also nachvollziehen. Mehr noch, man kann es als ein notwendiges Ziel der Erkenntnis zu schätzen wissen. Die Autos müssen zuverlässig fahren, die Computer müssen zuverlässig funktionieren, die Wolkenkratzer müssen dem Wind und sogar dem Erdbeben standhalten können, die Flugzeuge sollen bitte ja nicht regelmäßig ohne Grund in der Luft zerschellen. Alle diese Ziele könnten wir ohne exakte Wissenschaften nicht erreichen. Aber man sollte aus 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 145 ihrer Nützlichkeit nicht den Schluss ziehen, dass die „ historischen Wissenschaften “ „ reich an Material, ganz arm dagegen an Erkenntnissen “ sind. Wenn ich eine neue schöne Orchideenart im Amazonasurwald entdecke, so ist dies doch kein Grund für Zähneknirschen und Selbstvorwürfe, weil ich nicht imstande war, diese Art von den anderen, mir bereits bekannten abzuleiten, sondern ein Grund zur Freude, dass die Welt sich als noch reicher erweist, als ich mir sie vorgestellt habe. 8) § 12 Was Erkenntnis nicht ist Die Festlegung des Erkenntnisbegriffs ermöglicht es Schlick, die Frage zu beantworten, was das Erkennen nicht ist. Man könnte meinen, dass diese Frage an sich nicht interessant ist, Schlick erkennt jedoch ganz richtig, dass seine Bestimmung des Wesens des Erkennens so brisant ist, dass sich das Problem durchaus stellt. Er formuliert die möglichen Einwände gegen seine Position sehr treffend selbst: Wer die Bestimmungen überblickt, die wir bis jetzt über das Wesen der Erkenntnis machen konnten, wird vielleicht von einem Gefühl der Enttäuschung beschlichen. Erkenntnis nichts weiter als ein bloßes Bezeichnen? Bleibt damit der menschliche Geist den Dingen und Vorgängen und Beziehungen, die er erkennen will, nicht ewig fremd und fern? Kann er sich den Gegenständen dieser Welt, der er doch selbst als ein Glied angehört, nicht inniger vermählen? (AE, S. 287f.) Er verteidigt dann seine Auffassung insbesondere gegen die damals einflussreichen Positionen von Husserl und Bergson, welche das Ideal der Erkenntnis in der Anwendung der Intuition erblickten. 111 Schlick polemisiert gegen diese Haltung, indem er behauptet, dass unmittelbare Anschauung - er versteht Intuition offensichtlich als eine solche - , keine Erkenntnisse im eigentlichen Sinne zu liefern imstande sei. Solange ein Gegenstand mit nichts verglichen, in kein Begriffssystem in irgendeiner Weise eingefügt sei, solange sei er nicht erkannt (AE, S. 293). (Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass er hier seine Position bloß wiederholt, ohne zusätzliche Gründe dafür zu geben.) Durch die Anschauung werden uns Gegenstände nur gegeben, sie werden durch sie nicht begriffen, schreibt er weiter, Intuition sei bloßes Erleben, Erkennen aber sei etwas ganz anderes, sei mehr. Intuitive Erkenntnis sei eine 111 S. 291. Bergson: „ Philosophieren besteht darin, sich durch eine Aufbietung der Intuition in das Objekt selbst zu versetzen “ (Bergson 1909, S. 26). Husserl: „ Es liegt aber gerade im Wesen der Philosophie, sofern sie auf die letzten Ursprünge zurückgeht, dass ihre wissenschaftliche Arbeit sich in Sphären direkter Intuition bewegt, und es ist der größte Schritt, den unsere Zeit zu machen hat, zu erkennen, dass mit der im rechten Sinne philosophischen Intuition, der phänomenologischen Wesenserfassung, ein endloses Arbeitsfeld sich auftut und eine Wissenschaft, die ohne alle symbolisierenden und mathematisierenden Methoden ohne den Apparat der Schlüsse und Beweise, doch eine Fülle strengster und für alle weitere Philosophie entscheidender Erkenntnisse gewinnt “ (Husserl 1910, S. 341). 146 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus contradictio in adiectio. Der kulturlose Mensch und das Tier sehen die Welt vielleicht besser als wir, aber sie erkennen sie nicht besser, sie erkennen sie nämlich gar nicht. Und damit ist der große Fehler aufgedeckt, den die Intuitionsphilosophen begehen: sie verwechseln Kennen mit Erkennen. Kennen lernen wir alle Dinge durch Intuition, denn alles, was uns von der Welt gegeben ist, ist uns in der Anschauung gegeben; aber wir erkennen die Dinge allein durch das Denken, denn das Ordnen und Zuordnen, das dazu nötig ist, macht eben das aus, was man als Denken bezeichnet. (AE, S. 293) Sind seine Argumente überzeugend? Es ist, so glaube ich, unbestritten, dass das bloße Anschauen keine Erkenntnis liefert. Ich kann eine Uhr so lange anschauen wie ich will, ich werde sie dadurch nicht erkennen, nicht verstehen können, wie sie funktioniert. Genauso unbestritten scheint mir, dass ich mein Denken betätigen muss, um die Welt zu erkennen, und dass sich aus einer solchen Tätigkeit ein gewisses „ Ordnen und Zuordnen “ ergibt. Folgt aber daraus, dass einen Gegenstand erkennen heißt, ihn in ein Begriffssystem einzuordnen (und insbesondere, wie Schlick nicht müde wird zu betonen, „ das Alte in dem Neuem wiederzuerkennen “ ; AE, S. 150), und heißt es, dass die Intuition mit der Erkenntnistätigkeit nichts zu tun hat? Betrachten wir zunächst die erste Frage. Nehmen wir an, dass ich vor mir eine einfache mechanische Uhr habe und ich herausfinden will, wie sie funktioniert. Nehmen wir weiter an, dass es mir gelungen ist, die Uhr zu öffnen, und ich sie nun in ihre Einzelteile zerlege. Dabei stelle ich fest, dass sie im Innern hauptsächlich aus verschiedenen Zahnrädern besteht, dass sich dort auch eine Feder befindet, dazu Edelsteine, die als Lagerung für die Zahnräder dienen, eine Anzeigevorrichtung mit den Zeigern, ein Zifferblatt selbstverständlich, eine Antriebsvorrichtung und vielleicht noch andere kleine Teilchen. Mit Glück und Geschick werde ich nach einer langen Zeit herausfinden können, wie die Uhr aufgebaut ist (und arbeitet), welche Funktion die einzelnen Teilen in dem ganzen Getriebe haben, und ich werde imstande sein, die Uhr wieder zusammenzubauen. Ich weiß jetzt, wie sie funktioniert, ich habe die Uhr erkannt. Ist mir das dadurch gelungen, dass ich sie in ein Begriffssystem eingefügt habe? Ich habe zweifelsohne verschiedene Begriffe gebraucht, um ihre Funktionsweise zu verstehen. So z. B. den Begriff des Zahnrades. Eine Katze, die ein Zahnrad anschaut, wird nie herausfinden können, wozu es gut ist. Ein kleines Kind auch nicht. Ich muss schon eine Vorstellung oder genauer einen Begriff von der Sache haben, um zu wissen, dass ein sich bewegendes Zahnrad das andere antreiben kann und dass die Geschwindigkeiten der beiden von ihren relativen Größen abhängen. Das Gleiche gilt etwa auch für die Antriebsfeder. Für ein Tier genau wie für ein Kleinkind ist eine solche Feder bloß ein Stück Metall mit scharfen Kanten, also etwas, was vor allem gefährlich ist. (Ein Tier wird sogar nicht einmal das „ wissen “ , doch wenn er sich an der Kante der Feder verletzt, wird er bei 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 147 nochmaliger Begegnung vorsichtig sein.) Man muss schon einen Begriff von der Feder haben, um zu wissen, dass sie eben als Antrieb dienen kann. Es scheint mir allerdings offensichtlich, dass sich meine Erkenntnisarbeit in dem vorliegenden Fall nicht mit der Aufdeckung der begrifflichen Verhältnisse zwischen diesen beiden und noch anderen Begriffen erschöpfen wird. Im Gegenteil, ihre begrifflichen Wechselverhältnisse sind im vorliegenden Fall von relativ geringer Bedeutung. In welchem Verhältnis stehen der Begriff des Zahnrades und der Begriff der Feder zueinander? Vielleicht in dem, dass beide (im Falle des Zahnrades allerdings nicht zwingend) aus Metall gefertigt sind. Diese Erkenntnis ist aber für die bevorstehende Aufgabe wenig ersprießlich. Dabei kommt es vielmehr darauf an, dass ich mir, wie man so sagt, eine Vorstellung davon verschaffe, wie die einzelnen Teile der Uhr (nicht die einzelnen Begriffe: es gibt mehr Teile als Begriffe) zusammenwirken. Dieses Beispiel, und man kann es selbstverständlich um beliebig viele vermehren, scheint also darauf hinzuweisen, dass durchaus eine Erkenntnis denkbar ist, die sich nicht in der Einordnung des neuen Phänomens in ein bereits bestehendes Begriffssystem erschöpft. Dieses Beispiel zeigt übrigens auch, dass sich nicht alle Erkenntnis als „ das Wiedererkennen des Alten in dem Neuen “ klassifizieren lässt. Wenn ich die Funktionsweise einer Uhr zum ersten Mal erforsche, so erkenne ich nicht das Alte in dem Neuen, sondern eindeutig etwas Neues. Gehen wir jetzt zur zweiten Frage über: Stimmt es, dass die Intuition mit der Erkenntnistätigkeit nichts zu tun hat? Schlick behauptet, Intuition sei lediglich ein Anschauen und spiele insofern eine gewisse, gleichwohl untergeordnete Rolle im Erkenntnisprozess, da „ alles, was uns von der Welt gegeben ist, [. . .] uns in der Anschauung gegeben [ist] “ (AE, S. 293). Dies sei aber ein bloßes Kennen, kein Erkennen. Diese zwei seien jedoch „ so grundverschiedene Begriffe, dass selbst die Umgangssprache dafür verschiedene Worte hat; und doch werden sie von der Mehrzahl der Philosophen hoffnungslos miteinander verwechselt “ (AE, S. 294). Interessanterweise begründet Schlick seine Auffassung der Intuition (als eine bloße Anschauung) nicht, sondern baut sein Argument gegen sie auf dieser Annahme auf. Ist Intuition Anschauung? Was ist Intuition überhaupt? Schlick hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Umgangssprache zwei verschiedene Worte hat: Kennen und Erkennen, was dokumentiert, dass die beiden Prozesse nicht identisch sind. Da nun die Umgangssprache mit Intuition und Anschauung ebenfalls zwei verschiedene Worte hat, deutet diese Tatsache dann nicht auch darauf hin, dass sich hinter den zwei Worten zwei verschiedene Wirklichkeiten verbergen? Es trifft zu, dass Husserl Intuition als „ Wesensschau “ bezeichnete. Was die Vermutung nahelegt, dass er damit (eine Art von) Anschauung meinte. Dies ist aber nicht die einzige Möglichkeit den Begriff zu verstehen. Bereits in der oben (Fußnote 58) zitierten Passage aus Bergson tritt deutlich eine andere Auffassung zutage: Intuition heißt bei ihm die Fähigkeit, sich in das Objekt 148 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus der Erkenntnis zu versetzen (Husserl wiederum spricht von Wesenserfassung). Diese Sicht ist allerdings älter als Bergsons Philosophie: sie kommt in einer bis zur Verschmelzung gesteigerten Variation bei manchen Mystikern vor. Es muss Schlick als Verdienst angerechnet werden, dass er diese Auffassung, obschon recht knapp, diskutiert. Bei ihm heißt es: Das denkbar innigste Verhältnis zwischen zwei Gegenständen ist die gänzliche Identität beider, so dass sie also in Wirklichkeit gar nicht zwei, sondern nur einer sind. So hat es denn nicht an Denkern gefehlt, die sich mit keinem geringeren Erkenntnisbegriff zufrieden gaben als dem des völligen Einswerden des Erkennenden mit dem Erkannten: es waren die Mystiker des Mittelalters, nach denen besonders die Erkenntnis Gottes in dieser Weise stattfinden sollte. (AE, S. 289f.) Schlick weist darauf hin, dass diese Vorstellung der Erkenntnis mehrheitlich aufgegeben wurde, weil sich die Überzeugung durchsetzte, dass ein solches Einswerden nicht möglich sei. Schlick meint jedoch, dass das Problem mit dieser Auffassung woanders liegt: denn selbst wenn ein solches Einswerden möglich wäre, wäre es ihm zufolge auf keinen Fall eine Erkenntnis, wobei er diese Ansicht nicht weiter begründet (AE, S. 290). Vielleicht hielt er es nicht für nötig, da er bereits ausführlich darlegt hatte, dass Erkenntnis „ ein Wiederfinden des Alten in dem Neuen “ ist, „ ein Urteil “ , „ eine Einordnung in ein Begriffssystem “ . Auf jeden Fall lässt er dieser Behauptung keine Erörterung folgen. 112 Wir allerdings sollten einen Moment bei dieser Frage verweilen. Oberflächlich betrachtet ist die Behauptung, Erkennen bestehe in dem Einswerden mit dem Objekt des Erkennens, ein offensichtlicher Unsinn. Ich kann doch nicht eins mit einem Baum, einer Kuh oder mit einer Uhr werden, wenn ich sie erkennen will. Ebenso offensichtlich ist jedoch, wie ich hoffe, dass die Menschen, die eine solche Idee in die Welt gesetzt haben, etwas anderes damit meinten als die buchstäblich körperliche Verschmelzung mit einem Gegenstand. Sie waren doch nicht dumm. Was konnten sie dann gemeint haben? Wenn man sich klarmacht, dass sie vom „ Einswerden mit Gott “ sprachen, sollte kein Zweifel daran bestehen, dass sie einen seelischen oder geistigen Prozess meinten (oder beides), aber sicher keinen körperlichen. Sobald man diesen recht elementaren - so hoffe ich - Punkt berücksichtigt, verliert die Behauptung ihren „ verrückten Anstrich “ . Es ist selbstverständlich nicht leicht, von seelischen oder geistigen Prozessen zu sprechen in einem Zeitalter, in dem sie als bloße Illusionen, reine Epiphänomene und Fiktionen abgetan werden, man muss aber bedenken, dass sie zumindest für die Mystiker des Mittelalters, eigentlich aber auch für die meisten Menschen bis etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts offensichtliche, unbezweifelbare Wirklichkeiten waren. Aus dieser Perspektive ist es 112 Schlick diskutiert (AE, S. 296 - 298) den vermeintlichen Fehler, den Descartes mit seinem berühmten „ cogito, ergo sum “ begangen habe, als bestes Beispiel für den „ in dem Unbegriff der intuitiven Erkenntnis verborgene[n] Irrtum “ (AE, S. 296). Diese Diskussion ist jedoch für das gegenwärtige Thema irrelevant. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 149 verhältnismäßig leicht, sich das „ Einswerden “ mit dem Objekt der Erkenntnis vorzustellen. Man muss lediglich voraussetzen, dass es sich bei ihm nicht um die grobklotzige äußere Erscheinung (z. B. des Baumes) handelt, sondern um sein inneres Wesen (Entelechie), das wiederum geistiger und/ oder seelischer Natur ist. Man muss ferner bedenken, dass Seele oder Geist eigentlich keine räumlichen Dimensionen aufweisen, und dass es deshalb durchaus denkbar ist, dass sich die Seele eines Menschen unter besonderen und besonders günstigen Bedingungen mit dem Wesen/ der Entelechie eines Baumes vereint bzw. von ihm durchdrungen wird, was dazu führt, dass man die Welt gleichsam aus der Perspektive dieses Wesens (Entelechie des Baumes) betrachtet. Dieser Prozess würde es dem Erkennenden ermöglichen, die berühmte Frage von Thomas Nagel „ What is it like to be a bat “ (Nagel 1974) ganz genau zu beantworten. Man merkt also an dieser Stelle, dass es eigentlich Schlicks materialistische Hintergrundannahmen sind, die ihn daran hindern, dem Ideal vom „ Einswerden “ mit dem Erkenntnisobjekt Sinn zuzuschreiben. Diese Betrachtungen helfen auch Schlicks anderen Vorwurf zu entkräften, der eher an die Adresse Husserls als an die Bergsons gerichtet ist. Schlick schreibt (zu Recht), dass sich Erkenntnis unmöglich in der Anschauung erschöpft. Aber behauptet Husserl das denn, wenn er von „ Wesensschau “ spricht? Mit einer anderen Möglichkeit, die Rede vom Einswerden und der Wesensschau zu verstehen, befasst sich Schlick im § 18 (Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen) des 2. Teils seines Werks. Dort greift er „ den platonischen Mythos “ an, dass die wirklichen Wesen in einer von der unseren ewig weit entfernten Welt thronten, und diskutiert das bekannte Problem, wie die realen Dinge an den Ideen teilhaben könnten. Insbesondere greift er die Vorstellung, die (platonischen) Ideen würden „ erfasst “ oder „ erlebt “ an (AE, S. 383). In diesem Zusammenhang zitiert er die folgende Passage aus Husserls Logischen Untersuchungen: Aber vom Erfassen, Erleben und Bewusstwerden ist hier, in Beziehung auf dieses ideelle Sein, in ganz anderem Sinn die Rede, als in Beziehung auf das empirische, d. i. das individuell vereinzelte Sein. [. . . Wir erleben die Ideen] in einem Akte auf Anschauung gegründeter Ideation. (Husserl 1992, Bd. I, S. 128 f) Schlick macht sich über diese Formulierung lustig: Was nun dies Erleben des Ideellen (das ja nicht zu dem Erleben in dem uns allein bekannten Sinne des Wortes gehört) eigentlich für ein Erlebnis ist, kann man folgerichtig nicht weiter fragen; es ist eben ein letztes, es wird einfach - erlebt. (AE, S. 385) Schauen wir uns das Problem ein wenig genauer an. Ich sage „ Gerechtigkeit “ , und Sie wissen, was ich meine. Wie wissen Sie das? Nun, auf irgendeine Weise haben Sie irgendwann die Bedeutung dieses Wortes verstanden. Wir haben schon darüber gesprochen, dass sich die konkrete Weise, wie wir die Bedeutungen einzelner Begriffe lernen, überhaupt nicht einfach nachzuvoll- 150 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus ziehen lässt und bis heute rätselhaft geblieben ist. Vielleicht geschieht es ja so, dass, wenn ich das Wort sage, in Ihrem „ Geiste “ ein Bild, eine Vorstellung erscheint, das/ die Sie mit dem Begriff „ Gerechtigkeit “ zu assoziieren gelernt haben. Schlick selbst warnt uns allerdings davor (obschon ein wenig später in dem Buch), die Vorstellung mit dem Begriff zu verwechseln. 113 Die Vorstellung, die Sie haben, ist also nicht der Begriff der Gerechtigkeit. Das Wort „ Gerechtigkeit “ sicher auch nicht. Der gleiche Begriff wird in anderen Sprachen anders benannt. Was also ist der Begriff? Schlick sagt, „ ein Zeichen für den Gegenstand “ . Was für ein Gegenstand kommt hier jedoch in Frage? Solange wir von Katzen und Autos sprechen, ist es augenscheinlich so, dass wir mit den entsprechenden Begriffen diese konkreten Gegenstände meinen. Die Gerechtigkeit aber kann man mit den Augen nicht sehen. Und dennoch, wenn ich das Wort „ Gerechtigkeit “ ausspreche, haben Sie keine Schwierigkeit es zu verstehen. Würde ich von Ihnen verlangen, eine genaue Definition oder zumindest eine genaue Erklärung des Begriffs zu formulieren, so wäre das für Sie möglicherweise keine leichte Aufgabe. Und dennoch, Sie verstehen (zumindest ungefähr), was ich meine. Wie ist das möglich? Die Alltagssprache hat eine Reihe von Wörtern und Wendungen, die in einer solchen Situation zur Anwendung kommen können: „ Ich begreife es “ , „ Ich verstehe es “ , „ Ich kapiere es “ . Sie beschreiben alltägliche Erlebnisse, die uns jedoch nur scheinbar vertraut sind. Kant hat einmal sehr treffend beobachtet, dass die Definitionen der philosophischen Begriffe „ das Werk eher schließen als anfangen müssen “ (Kant 1995, B759), weil solche Begriffe oft „ dunkle Vorstellungen enthalten [. . .], die wir in der Zergliederung übergehen, ob wir sie zwar in der Anwendung jederzeit brauchen [. . .] “ (Kant 1995, B757). 114 Interessanterweise nun wird das Wort „ Intuition “ im Alltag verwendet, wenn von einer Ahnung, einem „ Bauchgefühl “ die Rede sein soll. Könnte es nicht sein, dass wir von den Inhalten der Begriffe auch Intuitionen in diesem Sinne haben, die es uns ermöglichen, bestimmte Worte korrekt anzuwenden und uns gegenseitig auch zu verstehen, obschon wir eigentlich selten imstande sind, die Inhalte der Begriffe präzise zu formulieren? Wenn aber dieser Gedanke zulässig ist, kann man sich dann nicht ferner vorstellen, dass wir uns heute in Bezug auf die Erkenntnis der Begriffe in der Situation befinden, die Paulus im 1. Korintherbrief so treffend charakterisierte: „ Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels, undeutlich, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt worden bin “ (1. Kor. 13,12)? Mit anderen Worten: dass also eine Situation denkbar ist, in der unsere Einsicht in das Wesen der Begriffe 113 „ Das erkenntnistheoretisch noch nicht abgeklärte Denken aber verwechselt den Begriff nicht nur leicht mit dem realen Gegenstande, den er bezeichnet, sondern auch mit den anschaulichen Vorstellungen, die den Begriff in unserem Bewusstsein repräsentieren “ (AE, S. 644). 114 Vgl. auch Steiner: „ Es ist sogar im Leben höchst selten, dass ein Mensch wirklich mit seinem Bewusstsein in all dasjenige eindringt, was er ausspricht “ (GA326, S. 60). 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 151 viel unmittelbarer und umfangreicher sein könnte, als dies heute der Fall ist, und wir sie „ von Angesicht zu Angesicht “ erkennen können, durch eine Art „ Wesensschau “ , von der Husserl sprach, die aber nicht bloßes Schauen bedeutet, sondern vielmehr eine vollkommene Ein-Sicht in ihr Wesen ermöglicht? Nachdem sich Schlick zu seiner eigenen Zufriedenheit der Idee, dass Erkenntnis durch Intuition erlangt werden könnte, entledigt hat, diskutiert er noch eine weitere Möglichkeit, die er bereits früher kurz angesprochen hat, dass wir nämlich im Erkenntnisakt eine Abbildung des erkannten Gegenstandes schaffen. Dazu bemerkt er, dass eine Abbildung ihre Aufgaben nie vollkommen erfüllen kann; sie müsste, wenn sie eine vollkommene Abbildung sein wollte, eine Verdoppelung des Originals sein. Abgebildet könne ein Gegenstand nie so werden, wie er ist, weil wir einen Gegenstand immer nur von einem bestimmten Standpunkt aus betrachten, während er auch aus sehr vielen anderen Perspektiven wahrgenommen werden könnte. 115 Diese Schwierigkeit kommt beim Bezeichnen nicht vor, betont Schlick. Bezeichnen lasse sich ein Gegenstand eindeutig. Die Zeichen, die man zum Bezeichnen verwende, seien zwar subjektiv, ihre Zuordnung zu dem Gegenstand jedoch nicht (AE, S. 303). Somit fühlt sich Schlick in seiner Auffassung bestätigt, dass das Erkennen ein bloßes Zuordnen von Zeichen zu Gegenständen, ein Bezeichnen sei. Erkennen berühre die Dinge nicht, brauche sie aber auch nicht zu berühren, um eine vollkommene Erkenntnis zu sichern (AE, S. 302). Ich glaube, man muss Schlick Recht geben, wenn er behauptet, dass das Erkennen kein Abbilden von Erkenntnisobjekten sein kann. Diese Idee rührt von der Verwechslung des Begriffs mit der Vorstellung her: man hat das Gefühl, dass man einen Gegenstand bereits irgendwie „ erfasst “ hat, wenn man sich eine Vorstellung von ihm gemacht hat. Dabei wird vergessen, dass jeder Begriff (z. B. Baum) durch unendlich viele konkrete Vorstellungen repräsentiert werden kann und dass keine dieser Vorstellungen das Wesen des Begriffs vollständig zum Ausdruck bringt. Erst durch die Reflexion über die Eigenschaften verschiedener Vorstellungen eines Begriffs kann man zu den wesenhaften Bestimmungen des Begriffs an sich gelangen. Wir haben aber auch bereits gesehen, dass diese Arbeit, anders als Schlick es sich wünscht, nicht als bloßes Bezeichnen (Zuschreibung des subjektiven Zeichens zu einem Gegenstand) verstanden werden kann. Wenn aber das Erkennen weder Abbilden noch Bezeichnen ist, was ist es dann? Auch auf diese Frage werden wir an einer späteren Stelle dieses Buches zurückkommen müssen. Hier möchte ich noch kurz einen weiteren Aspekt des Problems ansprechen. Ich habe eben gesagt, dass Schlick zu Recht vor der Verwechslung des Begriffs mit der Vorstellung warnt, ich habe aber bereits im zweiten Abschnitt 115 Diese Passage erinnert an die berühmte Formulierung des Ideals der objektiven Erkenntnis von Thomas Nagel: „ The View from Nowhere “ (Nagel 1986). 152 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus der Diskussion seines Werkes gegen die Auffassung Stellung bezogen, dass Begriffe bloße Zeichen sind. Wenn sie keine Vorstellungen und nicht bloße Zeichen sind, was sind sie dann eigentlich? Interessant ist nun, dass fast zeitgleich mit dem Erscheinen der ersten Auflage der Allgemeinen Erkenntnislehre der berühmte deutsche Philosoph und Logiker Gottlob Frege, auf den sich Schlick in seinem Werk übrigens bezieht (AE, S. 740), einen wichtigen Aufsatz veröffentlichte ( „ Der Gedanke “ , Frege 1966), in dem er sich genau mit diesem Problem befasst. Frege stellt in seinem Aufsatz eine ungewöhnliche Frage. Nehmen wir an, ein Mathematiker hält einen Vortrag über den pythagoreischen Lehrsatz, der auf großes Interesse stößt: viele interessierte Zuhörer sind im Vortragssaal anwesend. Nehmen wir weiter an, dass der Vortragende die Zuhörer auffordert, sich über diesen Lehrsatz Gedanken zu machen. Wie viele Lehrsätze gibt es im Saal? Frege weist darauf hin, dass es so viele Vorstellungen dieses Lehrsatzes gibt, wie Zuhörer anwesend sind (plus die Vorstellung des Vortragenden). Denn eine Vorstellung muss in einem konkreten Bewusstsein repräsentiert sein, sie existiert nicht, ohne vorgestellt zu werden, sie braucht einen bewussten Träger. Dies scheint jedoch auf den Begriff des Lehrsatzes nicht zuzutreffen. Bereits die Sprache weist darauf hin, schreibt Frege, dass es sich in diesem Falle unmöglich um mehrere Fassungen des fraglichen Lehrsatzes handeln kann: der Vortragende bittet die Zuhörer über den Lehrsatz (nicht die Lehrsätze) nachzudenken, mithin denkt er über den Lehrsatz spontan in Einzahl. 116 Aus dieser Überlegung zieht Frege einen weitreichenden Schluss. Wir sind, heißt es bei ihm weiter, mit dem Reich der physischen, räumlichen Gegenstände ganz vertraut. Diese Gegenstände werden mit den Sinnen wahrgenommen und brauchen keinen bewussten Träger, um zu existieren: sie sind da, ob die Menschen, die über sie nachdenken können, da sind oder nicht. Die Stühle, auf denen die Zuhörer während des Vortrags sitzen, werden im Vortragssaal bleiben, auch nachdem die Zuhörer den Saal verlassen und die Stühle bereits vergessen haben. Wir sind, sagt Frege, auch mit einem zweiten Reich verhältnismäßig gut vertraut: dem Reich unserer Vorstellungen. Wir sind fähig, uns mentale Bilder von den Gegenständen zu machen, sei es von konkreten (Stuhl, Baum), sei es von abstrakten (Dreieck, Gerechtigkeit: diese werden für gewöhnlich durch konkrete Bilder repräsentiert) oder von fiktiven (Einhorn). Diese „ Gegenstände “ lassen sich nicht mit den leiblichen Sinnen wahrnehmen (sie werden mit dem „ inneren Sinn “ wahrgenommen), sie brauchen aber stets einen bewussten Träger, um in Erschei- 116 Es ist in diesem Zusammenhang relevant, darauf hinzuweisen, dass Rudolf Steiner diese Idee bereits 1894 in seiner Philosophie der Freiheit formulierte: „ Es gibt in der einigen Begriffswelt nicht etwa so viele Begriffe des Löwen, wie es Individuen gibt, die einen Löwen denken, sondern nur einen. Und der Begriff, den A zu der Wahrnehmung des Löwen hinzufügt, ist derselbe, wie der des B, nur durch ein anderes Wahrnehmungssubjekt aufgefasst [. . .] “ (GA4, S. 249). 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 153 nung treten zu können. Keine Vorstellung ohne den Vorstellenden. Und dann kommt bei Frege der entscheide Punkt. Er fährt fort: Ein drittes Reich muss anerkannt werden. Was zu diesem gehört, stimmt mit den Vorstellungen darin überein, dass es nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, mit den Dingen aber darin, dass es keines Trägers bedarf, zu dessen Bewusstseinsinhalte es gehört. So ist z. B. der Gedanke, den wir im pythagoreischen Lehrsatz aussprachen, zeitlos wahr, unabhängig davon wahr, ob irgend jemand ihn für wahr hält. Er bedarf keines Trägers. (Frege 1966, S. 43f.) Der Gedanke scheint einleuchtend. Der pythagoreische Lehrsatz ist wahr, unabhängig davon, ob jemand das weiß oder nicht. Er war auch schon wahr, bevor Pythagoras ihn entdeckte. An dieser Stelle ist die Alltagssprache wiederum lehrreich: Wir sagen: „ Pythagoras entdeckte den pythagoreischen Lehrsatz “ , nicht, „ Pythagoras erfand ihn “ . Demnach sehen wir eine Ähnlichkeit zwischen dem entsprechenden Prozess und der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus ( „ Kolumbus entdeckte Amerika “ , nicht, „ er erfand Amerika “ ) und einen Unterschied zwischen ihm und der Erfindung des Telefons etwa ( „ Bell erfand das Telefon “ , nicht, „ Bell entdeckte das Telefon “ ). Die Wendung „ Kolumbus entdeckte Amerika “ setzt aber offensichtlich voraus, dass das Entdeckte bereits vor der Entdeckung existierte. Wenn wir dann von der Entdeckung des pythagoreischen Lehrsatzes oder der des Gravitationsgesetzes sprechen, müssen wir wohl genauso davon ausgehen, dass diese Dinge bereits vor der jeweiligen Entdeckung existierten. Wenn das aber so ist, wo existierten sie dann? Nicht im Kopf des Entdeckers und auch nicht in irgendeinem anderen Kopf, aber wo dann? In Anbetracht dieser und ähnlicher Überlegungen scheint es durchaus angebracht, mit Frege die Existenz eines solchen „ dritten Reiches “ zu postulieren. 117 Es ist auffallend, dass sich Schlick mit diesen Gedankengängen auch in der 2. Auflage seiner Schrift überhaupt nicht befasst. Er erwähnt zwar, dass ein Reich des idealen Seins von Plato postuliert wurde, um das Problem zu lösen, das logische Gebilde offensichtlich keine bloßen psychologischen Gebilde sind (AE, S. 380), und bemerkt dazu lakonisch: „ Die bildliche, platonische Lösung, wonach die Ideen von unserem Geist einfach ‚ geschaut ’ werden, befriedigt uns heute nicht “ (AE, S. 381). Er erwähnt ebenfalls die Debatte um den „ Psychologismus “ und Husserls Angriff auf diese Idee, Freges Beitrag dagegen mit keinem Wort. Es könnte zwar sein, dass ihm Freges Aufsatz im Januar 1925, als er das Manuskript der zweiten Auflage mehr oder weniger fertiggestellt hatte (Wendel und Engler 2009 a, S. 92), einfach nicht bekannt war. Allerdings war Frege zu jener Zeit eine sehr bedeutende Größe in der philosophischen und auch mathematisch-logischen Welt und seine neuesten 117 Nachdem Frege diese Idee in die Welt gebracht hatte, schien sie bald wieder in Vergessenheit geraten zu sein, bis sie einige Jahrzehnte später in leicht veränderter Form in Poppers Objective Knowledge. An Evolutionary Approach wieder auftauchte (Popper 1979, S. 106 - 118, 156 - 158). 154 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Überlegungen dürften eigentlich zur „ Pflichtlektüre “ der damaligen philosophischen Elite gehört haben. Ist Schlick auf Freges Gedanken möglicherweise nicht eingegangen, weil sie ihm zu unbequem und gleichzeitig nicht einfach zu widerlegen schienen? 9) § 13 Der Wert der Erkenntnis besteht ganz einfach darin, dass sie uns erfreut Im 13. und letzten Abschnitt des ersten Teils seines Werks handelt Schlick vom Wert der Erkenntnis. Nach allen bisherigen streng logisch und möglichst objektiv gehaltenen Überlegungen würde der Leser sicher eine ähnlich gelagerte Argumentation erwarten. Vielleicht, könnte er vermuten, würde Schlick auf die praktischen Folgen und die Erfolge der wissenschaftlichen Erkenntnis eingehen, die doch bereits zu seiner Zeit beträchtlich waren und dazu unbestritten (womöglich sogar „ unbestrittener “ als heute). Darum ist man überrascht zu lesen, dass Schlick den zentralen Wert der Erkenntnis darin erblickt, dass sie uns Lust bereitet: Aus welchem Grunde bemühen wir uns, die reiche Mannigfaltigkeit des Universums nur durch solche Begriffe zu bezeichnen, die aus einem Minimum von Elementarbegriffen aufgebaut sind? Die letzte Antwort auf diese Frage ist zweifellos: Weil uns diese Zurückführung des einen auf das andere Lust bereitet [. . .] (AE, S. 310) Es irren sich die Philosophen, so Schlick, die behaupten, Wissenschaft diene allein der praktischen Herrschaft über die Natur (AE, S. 314). Richtig sei, dass der Verstand zunächst nur ein Instrument zur Lebenserhaltung war, heute aber sei seine Tätigkeit eine Quelle der Lust. Die Erkenntnistätigkeit habe sich aus einem Mittel zu einem Zweck an sich entwickelt (AE, S. 315). Mögen die meisten Erkenntnisakte irgendeinen Nutzen haben; reine Wissenschaft werde nur dort betrieben, wo sie selber Zweck sei - alles andere ist Lebensklugheit oder Technik, heißt es weiter (AE, S. 317). Wissenschaft diene also nicht irgendwelchen Lebensfunktionen. Sie sei nicht auf praktische Beherrschung der Natur gerichtet, sondern eine selbstständige Funktion und bereite uns unmittelbare Freude. Und in dieser Lust, mit der der Erkenntnistrieb das Leben des Forschenden erfüllt, bestehe ihr Wert (AE, S. 320). Erstaunlicherweise vergleicht Schlick - im Sinne von Schillers Briefen über ästhetische Erziehung - wissenschaftliche Arbeit mit einem Spiel: die spielenden Tätigkeiten seien die höchsten, schreibt er, sie alleine befriedigen unmittelbar, während alles auf Zwecke orientierte Handeln bloß ein Mittel sei und seinen Wert erst aus dem Erfolg erhalte (AE, S. 315). Am Ende dieses Abschnitts wendet sich Schlick noch dezidiert gegen jegliche Versuche, objektive, von der menschlichen Wirklichkeit unabhängige Werte geltend zu machen. Die Rede vom „ Wert an sich “ , der nichts mit Lust und Unlust zu tun hat, sei Unsinn, eine der schlimmsten Irrlehren der Philosophie. Das Gute sei deshalb gut, weil es Freude mache, so bestehe 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 155 der Wert der Erkenntnis ganz einfach darin, dass sie uns erfreue, schließt Schlick den 1. Teil ab (AE, S. 321). Wissenschaft als ein Spiel, als Selbstzweck und Quelle der Lust. Eine interessante Idee, es fragt sich nur, ob die Steuerzahler bereit wären, den Wissenschaftlern jährlich die Hunderte von Milliarden Euro, Dollar, Pfund, Franken oder was auch immer zur Verfügung zu stellen, damit sie mit ihren teuren Spielzeugen spielen können. Der praktische Wert der Wissenschaft (Technologie) ist leicht nachvollziehbar. Doch es gibt auch „ Grundlagenforschung “ , deren Nutzen sich nicht unmittelbar erschließt (z. B. die Fragen nach der Entstehung des Universums, wie die „ schwarzen Löcher “ funktionieren usw.), und dennoch haben wir (die Gesellschaft) das Gefühl, dass solche Forschung sinnvoll ist, und sind bereit, dafür zu bezahlen. Es fällt schwer zu glauben, dass dieses gesellschaftliche Geschenk deshalb geleistet wird, weil wir den Wissenschaftlern Lust bereiten wollen. Aus Schlicks Auffassung vom Wert der Erkenntnis ergibt sich aber zumindest noch eine weitere unbequeme Frage: Was sollen wir mit den Wissenschaftlern machen, denen die „ Zurückführung auf das Minimum von Elementarbegriffen “ keine, die „ Wesensschau “ dafür jedoch große Lust bereitet? Sollte man im Sinne von Schlicks Auffassung sagen, dass sie dann eben die „ Wesensschau “ und nicht die Zurückführung auf das Minimum von Elementarbegriffen betreiben dürfen? 10) Zusammenfassung Damit sind wir am Ende der Betrachtung des 1. Teils von Schlicks Schrift angelangt. Bevor wir uns mit einigen wenigen Themen des 2. und des 3. Teils auseinandersetzen werden, scheint es angebracht, den Weg, den wir in der Diskussion seines Werkes bislang zurückgelegt haben, kurz zu rekapitulieren. Im 1. Abschnitt der Diskussion haben wir uns mit Schlicks Hauptthese des Werks beschäftigt, dass das Erkennen ein „ Wiederfinden des Alten im Neuen “ sei. Wir haben feststellen müssen, dass die von ihm zugunsten seiner These angeführten Argumente unzulänglich sind: zum einen haben wir festgestellt, dass sich die Bedeutung von Begriffen nicht durch Zeigen festlegen lässt; dann haben wir das Problem des Erkennens einer Person in den Blick genommen und festgestellt, dass es sich kaum auf das „ Wiederfinden “ reduzieren lässt, da jeder Mensch einzigartig ist. Zuletzt haben wir den Eindruck gewonnen, dass Schlick nur deshalb zu seiner ungewöhnlichen Behauptung gelangt ist, weil er als Schlüsselbeispiel des Erkenntnisprozesses eigentlich einen Fall des Wiedererkennens (seines Hundes in der sich ihm nähernden Gestalt) gewählt hat, dass er also grundsätzlich das Erkennen mit dem Wiedererkennen verwechselt und über dieses schreibt, nicht über jenes. Im 2. Abschnitt haben wir uns mit Schlicks These auseinandergesetzt, dass Begriffe bloße Zeichen für Gegenstände (im weitesten Sinne) seien. Wir haben 156 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus erstens gesehen, dass sich seine Behauptung, Erkennen vollziehe sich im Alltagsleben mittels Vorstellungen (nicht Begriffen), als unbegründet erweist, und ferner festgestellt, dass es Begriffe geben kann, deren Inhalt nicht durch Definitionen (aber auch nicht durch Hinweisen) festgelegt wird, was zu der Frage führt, wie sie gebildet werden. Wir haben festgestellt, dass eine Kombination von Begriffen, wie sie für eine Definition typisch ist, es kaum vermag, den Begriff festzulegen/ ihn verständlich zu machen; wir haben auch gesehen, dass Definitionen verbesserungsfähig sind, was darauf hindeutet, dass Definitionen keine bloßen Nominaldefinitionen sind (wie Schlick behauptet) und dass Begriffe doch mehr sind als Zeichen (Zeichen muss man nicht abändern, wenn sich das durch sie Angezeigte verändert). Wir haben ferner festgestellt, dass die von Schlick behauptete Funktion der Begriffe, die (quasi) Einträgen in Bibliothekskatalogen gleichkommt, geradesogut von Zahlen erfüllt werden könnte, wir gebrauchen im Alltagsleben aber keine Zahlen zu diesem Zweck, was offensichtlich ein Hinweis darauf ist, dass Begriffe doch noch andere Funktionen erfüllen, die über ihre bloße Zeichennatur hinausgehen. Schließlich haben wir uns mit Schlicks These auseinandergesetzt, dass Begriffe nicht durch Abstraktion entstehen. Die Gründe, die er für diese These anführt, haben sich als unzureichend erwiesen. Wir haben allgemein festgehalten, dass Schlicks These, Begriffe seien keine Realitäten, sondern bloße Zeichen, eigentlich eine thetische Feststellung ist, die vielmehr von seiner persönlichen Präferenz zeugt, als dass sie eine gut begründete philosophische Position darstellt. Im 3. Abschnitt haben wir Schlicks These unter die Lupe genommen, dass die Hauptfunktion der Begriffe in der Vereinfachung der Wirklichkeit bestehe, wie auch seine Vorstellungen in Bezug auf den Prozess der Begriffsbildung. Wir haben die Unwahrscheinlichkeit festgestellt, dass die Hauptaufgabe der Begriffe bloß in der Vereinfachung der Wirklichkeit besteht. Es scheint vielmehr so zu sein, dass die Begriffe unsere Wahrnehmungswirklichkeit bereichern. Darüber hinaus haben wir festgestellt, dass Schlicks Beschreibung des Begriffsbildungsprozesses unbefriedigend ist. Schlick meinte: „ Nicht dadurch gelangt man zu den Begriffen, das man gewisse Merkmale der Dinge oder Vorstellungen fortließe, [. . .] sondern dadurch, dass man die Merkmale voneinander unterscheidet und einzeln bezeichnet. “ Man muss aber generell bezweifeln, dass Begriffe in irgendeiner Form von Vorstellungen in abgeleitet werden können, sie scheinen den Vorstellungen eher vorauszugehen, als dass sie durch sie gebildet würden. Zudem haben wir uns von der Richtigkeit der Auffassung überzeugt, nach der jeder Mensch in seiner individuellen Entwicklung die Begriffe nicht bildet, sondern aus dem bestehenden Begriffsfundus bzw. Begriffsschatz seiner Kultur übernimmt. Was natürlich die schwierige Frage aufwirft, wie sie in der grauen Vorzeit von unseren Vorfahren gebildet wurden. Wir werden gegen Ende des Buches auf diese Frage zurückkommen. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 157 Im 4. Abschnitt haben wir uns seiner der Geometrie entlehnten Idee zugewandt, Begriffe ließen sich durch Axiome definieren (implizite Definition), wodurch sie eine ungewöhnliche Präzision gewinnen würden, da man auf die unscharfe Ostension verzichten könne. Dieser Weg mag in der Geometrie gangbar sein, wir haben jedoch die Frage aufgeworfen, ob er es auch für die „ Wirklichkeitswissenschaften “ ist. Eine Wissenschaft, die „ nirgends auf dem Grunde der Wirklichkeit [ruht] “ , scheint kaum ein Ideal einer Wirklichkeitswissenschaft zu sein. Infolge seiner geometrisierenden Denkweise sieht Schlick das Ideal der Erkenntnis darin, die Zahl der Erklärungsprinzipien möglichst klein zu halten. Man kann bezweifeln, ob dieses Ideal in den Wirklichkeitswissenschaften erstrebenswert ist. Wir haben auch Schlicks Vorstellung diskutiert, dass sich durch eine geschickte Wahl von Definitionen Erkenntnis erreichen lasse, die quasi wie von selbst mit der Welt an allen Punkten im Einklang stehe. Diese Vorstellung ist beinahe unsinnig zu nennen, es sei denn, man versteht unter ihr das Erkennen von Gesetzmäßigkeiten, die eine unbegrenzte Zahl konkreter Realisierungen aufweisen können, dann aber stellt sich die Frage, warum Schlick dies nicht so formulierte; zudem fragt sich, inwiefern dieses Ideal für Wissenschaften gelten kann, in denen keine Naturgesetze zum Tragen kommen. Im 5. Abschnitt haben wie Schlicks weitere These diskutiert, dass Urteile Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegenständen sind, also für die Tatsachen. Wir haben gefragt, ob es stimmt, 1) dass eine Tatsache nichts anderes als das Bestehen einer Beziehung sei; 2) dass ein Urteil immer eine Tatsache zum Ausdruck bringe; 3) dass es (immer) ein Zeichen für Tatsachen sei. Alle drei Fragen wurden von uns negativ beantwortet. Dieses Ergebnis unterminiert Schlicks These, die er in § 9 formuliert, dass das Erkennen nichts weiter sei als ein Netz von Begriffen. Ist eine Person erkannt, indem sie in ein Netz von Beziehungen gesetzt wird, durch die sie sich eindeutig bestimmen lässt, haben wir gefragt. Und auch hier lautete unsere Antwort, nein. Dieses Ergebnis stellt auch die These in Frage, dass Erkenntnis nur in Urteilen zu finden sei. Wir haben auch gesehen, dass es anders als Schlick nahelegt - der beide als erkenntnistheoretisch gleichwertige Fälle von begrifflicher „ Zurückführung “ auf das bereits Bekannte betrachtet - , einen wichtigen Unterschied gibt zwischen der Feststellung, dass ein Hund ein Tier ist, und der Feststellung, dass das Licht elektromagnetische Strahlung ist. Im ersten Fall haben wir es mit einer natürlichen Einordnung eines Begriffs in eine umfangreichere Klasse zu tun, im zweiten steht die Natürlichkeit der entsprechenden Einordnung in Frage. Im 6. Abschnitt haben wir uns mit Schlicks These auseinandergesetzt, dass Wahrheit in der eindeutigen Bezeichnung bestehe. Wir haben gesehen, dass er durch einen erstaunlichen argumentativen „ Kurzschluss “ zu dieser Behauptung gelangt: die Übereinstimmungstheorie der Wahrheit mache keinen Sinn, also bleibe die eindeutige Zuordnung als einzige Möglichkeit, das Wesen der Wahrheit zu verstehen. Wir haben auch die folgende merkwürdige Gedan- 158 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus kenfigur unter die Lupe genommen: da Eindeutigkeit die einzige wesentliche Tugend einer Zuordnung sei und da die Wahrheit die einzige Tugend der Urteile darstelle, müsse die Wahrheit in der Eindeutigkeit der Bezeichnung bestehen. Wir haben auch gesehen, dass die Entwicklungen in der Physik, die zu der Einsicht führten, dass die Grundbestandteile der Materie zugleich Wellen und Teilchen sind, Schlicks Hauptthese widerlegen. Damit fällt auch seine These, dass Erkenntnis mehr sein müsse als bloße Wahrheit (weil diese „ billig “ zu haben sei), dass sie in einer neuen Kombination von lauter alten Begriffen bestehen müsse. Wörtlich und ohne weitere Einschränkungen verstanden führt diese These zu Absurditäten ( „ Der Baum hat fünf Augen, zwei Flügel und vier Räder “ ) - ein Problem, das sich entschärfen lässt, indem man darauf hinweist, dass jede Erkenntnis in ein System von Wahrheiten eingeordnet werden muss, wobei es nicht sicher ist, ob man das Problem endgültig lösen kann, ohne zuzugeben, dass Wahrheit etwas anderes ist als eine eindeutige Bezeichnung. Im 7. Abschnitt, haben wir uns nochmals mit Schlicks hoffnungsvoller Vorstellung auseinandergesetzt, dass das System von Definitionen und Erkenntnisurteilen, das jede Realwissenschaft darstelle, an einzelnen Punkten mit dem System der Wirklichkeit direkt zur Deckung gebracht und so eingerichtet werde, dass es dann an allen übrigen Punkten von selbst zur Deckung komme. Die kritische Diskussion dieser, wie uns bereits im 3. Abschnitt schien, die Absurdität streifenden Vorstellung, entkräftet Schlicks Kritik, dass die „ historischen Wissenschaften “ einem Maulwurfsbau ähneln und dass sie „ reich an Material, ganz arm dagegen an Erkenntnissen “ seien. Im 8. Abschnitt haben wir Schlicks Auffassung hinterfragt, dass Erkennen unmöglich ein „ Einswerden “ mit dem Objekt der Erkenntnis oder Intuition sein kann. Wir haben gesehen, dass 1) Intuition nicht bloßes Anschauen oder Erleben ist und deshalb vielleicht doch eine Form der Erkenntnis sein kann (ob die höchste oder niedrigste sei hier dahingestellt); 2) die Vorstellung, dass Erkennen im „ Einswerden “ des Erkennenden mit dem Objekt der Erkenntnis gipfeln kann, nicht so absurd ist, wie sie Schlick darstellt; 3) haben wir Schlick Recht gegeben in seiner These, dass Erkenntnis unmöglich Abbilden (der Wirklichkeit) bedeuten kann (die Idee, die in der Verwechslung des Begriffes mit der Vorstellung wurzelt). Wir haben aber auch gesehen, dass, nachdem man die Auffassung, Begriffe seien Vorstellungen, aber auch die Ansicht von Schlick, nach der sie bloße Zeichen sind, verworfen hat, Unklarheit darüber herrscht, wie die Begriffe aufzufassen sind. Wir haben in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass Schlick Freges wichtige Idee von einem „ dritten Reiche “ völlig unberücksichtigt lässt. Schließlich mussten wir im 9. Abschnitt feststellen, dass Schlicks These, der Wert der Erkenntnis bestehe ganz einfach darin, dass sie uns Lust bereitet, eindeutig zu kurz greift. Was wiederum ahnen lässt, dass das Wesen des Erkenntnisprozesses völlig anders verstanden werden muss, um den sehr 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 159 hohen Wert, der dem Erkenntnisstreben zugemessen wird, verständlich zu machen. Resümierend kann man wohl festhalten, dass es fast schon erstaunlich ist, wie ein Gedankengebäude, das auf solch wackligen Beinen steht, trotz des Eindrucks von Solidität, den es an der Oberfläche erweckt, zu seiner Zeit ein solch positives Echo finden konnte. Diskussion besonderer Punkte der Teile II und III Wie bereits erwähnt, möchte ich nur einige wenige und aus der Sicht der heutigen Wissenschaftstheorie besonders relevante Punkte aus dem zweiten und dritten Teil des Werkes aufgreifen: das Problem der logischen Gesetze (§ 18), das Problem der Verifikation (§ 21), das Problem der quantitativen und qualitativen Erkenntnis (§ 31), das Problem des Verhältnisses von Psychischem und Physischem (§ 32 f.) (inklusive der Behauptung, dass naturwissenschaftliche Erkenntnis die mögliche Erkenntnis erschöpfe (AE, S. 646f.), das Problem der Substanz (AE, S. 628 usw.) und schließlich das Problem der induktiven Erkenntnis (§ 41). Verifikation (§ 21) Schlicks Diskussion des Verifikationsprozesses ist überraschend modern: er greift Aspekte dieses Prozesses voraus, die erst viel später mit Popper und insbesondere mit Quine Einzug in die Diskussion gehalten haben. Er liefert eine klar konturierte Darstellung der allgemeinen Logik der Verifikation. Den Ausgangspunkt bildet eine Hypothese (Schlick nennt sie U: Urteil). Von dieser wird ein neues Urteil U 1 abgeleitet, indem man zu U ein anderes Urteil (U') hinzufügt, das so gewählt wird, dass U und U' die gemeinsamen Prämissen eines Syllogismus bilden, deren Konklusion U 1 ist. U' wird von Schlick als „ Hilfssatz “ bezeichnet (AE, S. 426; wir würden solche Sätze heute „ Hilfshypothesen “ nennen) und kann eine Realbehauptung, Definition oder begriffliche Wahrheit sein (AE, S. 425). Aus U 1 kann dann mittels eines weiteren Satzes U'' ein weiteres Urteil (U 2 ) abgeleitet werden und so weiter bis man schließlich zu einem Satz U n gelangt, der die folgende Form hat: „ Zu der und der Zeit, an dem und dem Orte wird unter den und den Umständen das und das beobachtet oder erlebt “ (ebd.) - eine Feststellung also, die direkt durch Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden kann. So weit ist seine Analyse unauffällig und folgt dem, was bereits damals gängige Praxis war. 118 Dann aber kommt eine unerwartete Wende, Schlick schreibt: Streng genommen ist dieser Schluss [U n ] nur dann einwandfrei, wenn die Wahrheit jener hinzugefügten Urteile (U', U''. . .) bereits für sich feststeht. Dies wiederum ist 118 „ Die Wissenschaften haben längst besondere Methoden entwickelt, um die Eindeutigkeit der Bezeichnung von Tatsachen durch Urteile zu kontrollieren; es sind die Methoden der Verifikation “ (AE, S. 424)). 160 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus von vornherein nur der Fall, wenn die U' Definitionen oder Begriffssätze sind [. . .]. Sind es dagegen Realbehauptungen, deren Wahrheit nicht über allen Zweifel erhaben ist, so beweist die Eindeutigkeit, wenn man am Ende des Verifikationsprozesses richtig zu ihr geführt wird (also die Wahrheit von U n ), streng genommen noch nicht die Wahrheit von U, denn durch Zufall kann es bekanntlich eintreten, dass ein Schlusssatz richtig ist, obgleich unter den Prämissen, aus denen er gewonnen wurde, sich eine oder mehrere falsche befinden. (AE, S. 425f.) Schlick vertritt jedoch die Ansicht, dass der Verifikationsprozess auch unter diesen Umständen nicht gänzlich an Wert verliert: Da aber eine rein zufällige Bestätigung im allgemeinen sehr unwahrscheinlich wäre, so verliert die Verifikation nicht ihren Wert. Sie bietet zwar keinen absolut strengen Beweis für die Wahrheit von U, sondern macht sie nur wahrscheinlich; dafür bedeutet sie aber zugleich eine Verifikation für die sämtlichen Hilfssätze U', U''. . . [. . .]. (AE, S. 426) 119 Schlick bemerkt ferner, dass jeder einzelne dieser Hilfssätze in der Praxis der Wissenschaft meist noch durch zahlreiche andere Urteilsketten verifiziert wird, so dass die einzelnen Ergebnisse sich gegenseitig stützen. Ich finde es bemerkenswert, dass die Idee, nach der die Bestätigung von der Wahrheit der Hilfshypothesen abhängig ist - die Idee, die in der Wissenschaftstheorie gemeinhin als Duhem-Quine-Unterdeterminationsthese bezeichnet wird, da sie bereits von Duhem formuliert und zu Beginn der 50er Jahre von Quine erneut aufgegriffen wurde in einer Art, die wesentlich zum Zerfall des Programms der logischen Positivismus beigetragen hat - , hier deutlich zum Ausdruck kommt. Ich finde es ebenfalls bemerkenswert, dass in dieser Passage bereits die Rechtfertigung der späteren Wissenschaftsphilosophie von Karl Popper (des kritischen Rationalismus) enthalten ist. Bekanntlich insistierte Popper darauf, dass Bestätigungen einer Vermutung erkenntnistheoretisch nutzlos sind, und zwar aus genau dem Grund, der hier von Schlick genannt wird: es ist logisch durchaus möglich, aus falschen Prämissen zu einer Wahrheit zu gelangen (das sog. Paradox der materialen Implikation). Es scheint, dass Schlick an dieser wichtigen Stelle die letzten Konsequenzen aus seiner eigenen Position wie auch aus der Wissenschaftsgeschichte nicht ziehen wollte. Streng logisch gesehen besagt die Bestätigung einer Hypothese, die auf dem oben geschilderten Wege erlangt worden ist, tatsächlich nichts über den Wahrheitsstatus der ursprünglichen Hypothese. Die (streng genommen) Widerlegung der Newton ’ schen Mechanik durch Einsteins Relativitätstheorie veranschaulicht dieses Problem ganz deutlich. Eine Theorie, die fast als unumstößlich gegolten hatte und die Tausende Male bestätigt worden war, hat sich letztendlich als falsch (nur bedingt anwendbar) erwiesen. Dieses logische Problem gilt für jeden Fall der Bestätigung. Schlick 119 Die Herausgeber zitieren an dieser Stelle Poincaré mit dem gleichem Gedanken (Poncaré 1906, S. 177). Interessanterweise beruft sich Schlick nicht explizit auf dieses ihm sicher bekannte Werk. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 161 meint hingegen offensichtlich, dass die Zufallsbestätigung im Allgemeinen unwahrscheinlich ist und eine Ausnahme bleiben wird. Möglicherweise ist seiner Aufmerksamkeit auch entgangen, dass die ptolemäische Theorie des Weltalls wie später die Newton ’ sche Mechanik jahrhundertelang, in der Tat viel länger noch als diese, empirisch wiederholt „ bestätigt “ wurde, was nichts daran ändert, dass sie sich letztendlich als falsch erwiesen hat. Das Problem der quantitativen und qualitativen Erkenntnis, primäre und sekundäre Qualitäten (§ 31) Befassen wir uns jetzt mit einem Problem, das für die richtige Einschätzung der Stellung der wissenschaftlichen Erkenntnis von zentraler Bedeutung ist: das Problem des Verhältnisses zwischen der qualitativen und der quantitativen Erkenntnis. Schlicks Ausführungen sind ein guter Ausgangspunkt für die entsprechende Reflexion, weil sie sehr klar und in einer kompakten Form Argumente liefern, die ansonsten bloß hier und da Erwähnung fanden, heute aber kaum noch finden, weil die Schlüsse, zu denen Schlick aufgrund seiner Argumentation gelangt, nicht wenigen als selbstverständlich und nicht mehr erklärungsbedürftig gelten. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet eine Reflexion über den ontologischen Status der sog. „ sekundären Qualitäten “ . 120 Er formuliert diese wichtigen Gedanken so prägnant, dass ich die Passage in ihrer ganzen Länge wiedergebe: Die Kritik der Immanenzgedanken zeigte uns, dass wir die transzendenten Dinge als reale Vermittler annehmen mussten zwischen den Erlebnissen, die des lückenlosen Zusammenhanges ermangeln - sowohl derjenigen, die demselben individuellen Bewusstsein angehören, als auch besonders solcher, die auf verschiedene Individuen verteilt sind. Die transzendenten Realitäten bilden die identischen Gegenstände, auf welche Worte und Begriffe der miteinander verkehrenden Menschen sich beziehen. Wir haben uns längst überzeugt, dass die Rolle solcher identischen Gegenstände nicht übernommen werden kann von den Elementenkomplexen, d. h. von den Verbänden der Sinnesqualitäten, weil diese für verschiedene Individuen eben niemals dieselben sind [. . .]. Das war eine durch Physiologie und Physik festgestellte Tatsache, und durch sie wird es schlechthin unmöglich gemacht, die Sinnesqualitäten (rot, warm, laut usw.) als Eigenschaften der Dinge an sich anzusehen. In unserer Terminologie: die (psychologischen) Begriffe, mit denen wir die Sinnesqualitäten bezeichnen, können wir nicht auch zur Bezeichnung der transzendenten Gegenstände benutzen. Der naive Realismus führt zu Widersprüchen, denn er muss von einem und demselben Dinge Bestimmungen aussagen, die miteinander unverträglich sind; er muss z. B. denselben Körper für rot und nichtrot, für kalt und nichtkalt erklären. So wird er als unhaltbar erkannt und muss der Einsicht in die „ Subjektivität “ der Sinnesqualitäten Platz machen. 120 AE, S. 450, 576, 643, 651, 657, 658, 668f. Vgl. den Ursprung dieser Idee in Locke 1997, II. viii.8 - 10 162 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Die sinnlichen Qualitäten sind Bewusstseinselemente, nicht Elemente der transzendenten, nicht gegebenen Wirklichkeit; sie gehören dem Subjekt an, nicht den Objekten. Bekanntlich stammt diese Einsicht bereits aus dem Altertum. Demokrit besaß sie in voller Klarheit; sie ging dann 600 aber der Philosophie verloren während langer Zeit, in welcher der naive Realismus des Aristoteles herrschte, und sie musste erste in neuerer Zeit (Galilei, Boyle, Locke) zu frischem Leben erweckt werden. (AE, S. 597 - 600) Das Hauptargument für den angeblich bloß subjektiven Charakter der „ sekundären “ Qualitäten ist also der Umstand, dass sie von verschiedenen Menschen verschieden wahrgenommen werden, dass, wenn man sich nach den Berichten verschiedener Menschen richten sollte, man denselben Körper „ für rot und nichtrot, für kalt und nichtkalt erklären “ müsste. Man kann dieses Argument noch um ein paar „ selbstverständliche “ Punkte ergänzen, um die (scheinbare) Richtigkeit der Schlussfolgerung weiter zu untermauern: besondere Zustände (wie z. B. Farbenblindheit) zeugten eindeutig davon, dass die subjektive Wahrnehmung weit von der Wirklichkeit abweichen könne; und überhaupt: ohne Augen gebe es keine Wahrnehmung der Farben (ohne Ohren keine der Töne), ohne eine verarbeitende Gehirnleistung sowieso nicht. Farben, Töne, Wärmeempfindungen usw. seien also bloß subjektive „ Konstrukte “ des Gehirns, „ sie gehören dem Subjekt an, nicht den Objekten “ , so die geläufige Argumentation. Die Argumente scheinen überzeugend und unwiderlegbar zu sein. 121 Nehmen wir sie jedoch genauer in den Blick. Zwei Menschen betrachten den gleichen Apfel (gleichzeitig, unter den gleichen Lichtbedingungen und beide stehen sie eng nebeneinander). Der eine sagt: Er ist rot. Der andere: Er ist blau. Ist das möglich? Sie werden hoffentlich mit mir einverstanden sein, wenn ich behaupte, dass ein solch krasser Widerspruch praktisch ausgeschlossen ist (außer, eine der beiden Personen ist farbenblind oder beide sind es). Was man sich vorstellen kann, ist, dass die Betrachter, wenn sie die Farbe eines, sagen wir, roten Apfels genauer bestimmen müssten (handelt es sich um Dunkelrot, Burgunderrot, Karmesinrot, Purpurrot, Weinrot, Florentiner Rot usw.), in Verlegenheit geraten könnten, weil sie mit diesen feinen Unterschieden überfordert wären. Doch wenn man ihnen entsprechende farbige Muster vorlegen würde und sie sich entscheiden sollten, welchem Muster die Farbe des Apfels am nächsten ist, würde man eine hohe Übereinstimmungsrate erhalten. Es besteht eine substanzielle empirische Evidenz für die Universalität der Farbbenennung in verschiedenen Kulturen, was wiederum darauf schließen lässt, dass Menschen unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund Farben ähnlich, vielleicht sogar identisch wahr- 121 Wir werden später ( „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ ) sehen, dass sie überraschenderweise doch nur bedingt richtig ist, denn in den sog. Nahtoderfahrungen scheint es möglich, sinnliche Wahrnehmungen der Welt anscheinend ohne jegliche Zuhilfenahme der Sinnesorganen zu haben. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 163 nehmen (Loreto at al. 2012). Im Alltagsleben herrscht zwischen den Menschen ein hoher Grad an Übereinstimmung in Bezug darauf, welche Farbe die Blumen im Blumenladen oder die Kleider im Kleiderladen haben, ob man einen hohen oder einen tiefen Ton gehört hat usw. Dank dieser Übereinstimmung ist die Kommunikation zwischen ihnen möglich. Im Übrigen zeugt die Tatsache, dass verbale Kommunikation möglich ist, indirekt davon, dass unsere Wahrnehmung von Tönen sehr genau und zuverlässig ist. Schließlich sind die absoluten Unterschiede der Wellenfrequenzen zwischen den einzelnen Sprachlauten relativ gering und Menschen sprechen oft recht schnell. Dieser Einheitlichkeit der Wahrnehmung der „ sekundären “ Qualitäten stehen jedoch Phänomene gegenüber, die zweifelsohne von großen individuellen oder situationsbedingten Unterschieden zeugen. Und hier meine ich die „ normalen “ Fälle, die mit Krankheitsphänomenen (wie z. B. Farbenblindheit, Taubheit usw.) nichts zu tun haben. Der rote Apfel erscheint uns bei völliger Dunkelheit farblos; was für den einen ein warmes Zimmer ist, ist für den anderen viel zu kalt; wenn ich meine Hand in ein Behältnis mit warmem Wasser tauche und danach in ein anderes mit lauwarmem, wird sich dieses Wasser kälter „ anfühlen “ , als es sich ohne den „ Erstkontakt “ mit dem warmen Wasser anfühlt, usw. Aber liegt der Fall mit den „ primären “ Qualitäten wesentlich anders? Ein Löffel, der teilweise in Tee eingetaucht ist, erscheint gebrochen; die lange gerade Straße scheint immer enger zu werden, je weiter sie sich von mir weg erstreckt; ein Stück Metall ist erwärmt länger als bei Zimmertemperatur; wenn ich es genügend beschleunige, wird es hingegen kürzer, als wenn es einfach auf dem Tisch liegt; ein Gewicht von 1 kg wiegt mehr oder weniger als 1000 g, abhängig davon, wo konkret auf der Erde ich es wiege, und in einer ausreichend großen Entfernung von der Erde wiegt es überhaupt nichts; die Leitungsfähigkeit der Metalle ändert sich mit ihrer Temperatur und wenn diese tief genug ist, wird sie praktisch unendlich groß, usw. Es ist unbestritten, dass die „ primären Qualitäten “ der Gegenstände nicht absolut bleiben, sondern sich der konkreten Situation entsprechend ändern können. Interessanterweise haben wir keine Schwierigkeit damit: niemand bezichtigt sie aus diesem Grund der Subjektivität. Man nimmt einfach Rücksicht auf solche Veränderungen, und so definierte man z. B. den Meter am Ende des 19. Jahrhunderts als eine Länge zwischen zwei Strichen auf dem Meterprototyp, der aus Platin und Iridium angefertigt worden war, bei einer Temperatur von 0°C, und man versucht nicht einmal Gegenstände auf der ISS zu wiegen. Warum erscheinen uns die entsprechenden „ Konzessionen “ im Falle der „ sekundären Qualitäten “ nicht ebenso berechtigt? Warum gilt es nicht als selbstverständlich, statt: „ Weil der Apfel einmal so erscheint und einmal so, hat er objektiv gesehen eigentlich gar keine Farbe “ , einfach zu sagen: „ Der Apfel ist rot, weil er normal sehenden Personen unter normalen Lichtverhältnissen rot erscheint “ ? Eine mögliche Erklärung für diese rätselhafte Ungleichbehandlung im philosophischen Diskurs über die primären und sekundären Qualitäten mag 164 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus in dem oben bereits erwähnten Argument liegen: Ohne Auge (und Gehirn) keine Farbe, ergo ist Farbwahrnehmung ein Konstrukt von Auge und Gehirn. Das Problem mit diesem Ansatz besteht natürlich darin, dass, wie bereits George Berkeley klar herausstellte (Berkeley 1999, S. 25, 27f.), sich das Gleiche auch über die „ primären “ Qualitäten sagen lässt: Ohne Auge oder zumindest den Tastsinn keine Ausdehnung, Form, Bewegung, Solidität oder Zahl. Man möchte argumentieren, dass ich mich von der Existenz und Ausdehnung der Körper um mich herum selbst dann überzeugen kann, wenn ich die Augen schließe oder gar blind wäre, indem ich nämlich diese Körper betaste, aber man muss doch zugeben, dass ich ohne den Tastsinn keine Möglichkeit dazu hätte. Es ist nicht nötig, aus dieser Beobachtung extreme idealistische Schlüsse zu ziehen, wie Berkeley es getan hat (die Welt existiere ausschließlich im Geiste des Beobachters oder Gottes), die Beobachtung ist jedoch ein eindeutiger Hinweis darauf, dass der Unterschied zwischen den primären und den sekundären Qualitäten nicht so groß ist, wie er gewöhnlich gemacht wird. Weiter wird argumentiert, dass die Qualität der Farb- oder Tonwahrnehmung wesentlich vom Aufbau des entsprechenden Sinnesorgans abhängt, dass ein Regenwurm oder eine Schnecke nicht über eine differenzierte Farbwahrnehmung verfügen, dass Hunde oder Fledermäuse besser als Menschen hören, dass Adler und Habichte besser sehen, dass Tiere allgemein besser riechen können usw. Aber niemand ist auf die Idee gekommen, die Objektivität der Zeit zu bezweifeln, weil sie sich einerseits mit einer primitiven Klepsydra, andererseits mit einer höchst raffinierten Atomuhr messen lässt. Das Gleiche gilt beispielsweise für die Temperatur oder sogar die Länge: die entsprechenden Messgeräte haben in der neusten Zeit eine fast an ein Wunder grenzende Präzision erlangt, die Unterschiede in der Messgenauigkeit zwischen den älteren und den modernen Messgeräten verleiten uns jedoch nicht zu der Behauptung, dass Länge oder Temperatur keine objektiven Eigenschaften der Welt seien. Wieso auch sollte die Tatsache, dass es im langen Verlauf der Evolution gelungen ist, „ Messgeräte “ zu konstruieren, die bestimmte Größen viel genauer abbilden können als ältere „ Messgeräte “ , davon zeugen, dass die durch sie abgebildeten Größen bloß subjektiv sind? Aber, so geht die Argumentation weiter, um Farben usw. wahrnehmen zu können, braucht es Menschen oder andere bewusste Wesen, die „ primären “ Qualitäten hingegen lassen sich mit bloß physikalischen Messgeräten ermitteln. Allerdings braucht es Menschen, um diese Messgeräte herzustellen. Worin sollte also der Vorzug dieser Qualitäten bestehen? Man könnte sogar argumentieren, dass sie subjektiver als die „ sekundären “ sind, da sie sich erst mit künstlichen Gegenständen genau bestimmen lassen. Diese Messgeräte aber seien bloß physischer Natur, sie brauchen kein Bewusstsein, kein empfindendes Wesen, um ihre Messungen zu registrieren. Das stimmt, doch wo liegt das Problem? Empfindende Wesen, Bewusstsein, 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 165 das sind Hervorbringungen der Natur und damit weniger „ künstlich “ als physikalische Messgeräte. Schlick selber schreibt: „ Natur ist alles, alles Wirkliche ist natürlich. Geist, Bewusstseinsleben, ist kein Gegensatz zur Natur, sondern ein Ausschnitt aus der Gesamtheit des Natürlichen “ (AE, S. 647). So gesehen sollte man wohl eher Temperatur, Zeit, Länge als „ subjektiv “ disqualifizieren. Warum sollte man das Bewusstsein und seine Leistungen aus der Sphäre des Natürlichen ausschließen wollen? Schließlich wird, quasi mit Leukipp und Demokrit (Mansfeld 1986, Bd. II, S. 247 - 249, 281 - 287, argumentiert, dass die Welt aus Atomen (oder anderen Elementarteilchen) besteht und da diese keine Farben, Töne, Gerüche usw. haben, können die „ sekundären Qualitäten “ unmöglich Teil der objektiven Welt sein. Diese Argumentation macht sich jedoch einer petitio principii schuldig: sie setzt voraus, was erst das Resultat der wissenschaftlichen Forschung sein kann: die Festlegung der Grundbausteine des Universums. Es ist ganz und gar unzulässig, die wissenschaftliche Forschung damit zu beginnen, dass man arbiträr festlegt, es gebe in der Welt nichts anderes als Atome (und die Leere). Es scheint also, dass die stichhaltigen Argumente fehlen, mit denen sich die These von der Subjektivität der „ sekundären Qualitäten “ begründen ließe. Dieses Ergebnis aber hat Folgen für die Beurteilung von Schlicks Diskussion des Verhältnisses zwischen dem Physischen und dem Psychischen, die, wie bereits gesagt, im § 32 folgt. Abgesehen von der ontologischen Frage der objektiven Existenz bzw. Nichtexistenz der „ sekundären Qualitäten “ behandelt Schlick die epistemologische Frage ihrer Erkennbarkeit. Er stellt fest, dass es eine Täuschung sei, dass uns die bewussten Qualitäten direkt, intim und absolut erkannt sind. Genauer gesagt zieht er eine scharfe Trennlinie zwischen dem Bekanntsein und dem Erkanntsein dieser Qualitäten (und anderer Phänomene). Die bewussten Phänomene sind uns zwar bekannt, können von uns aber nicht unmittelbar erkannt werden (AE, S. 630). Sie [die Qualitäten, welche den Inhalt unseres Bewusstseins bilden] sind uns absolut bekannt, wie aber ist es mit ihrer Erkenntnis bestellt? Im Vergleich mit der Erkenntnis der Außenweltsqualitäten offenbar schlecht genug; denn die Psychologie, welche die Erforschung der subjektiven, bekannten Qualitäten zum Gegenstande hat, kann sich in bezug auf Umfang und Erkenntniswert ihrer Resultate mit den Naturwissenschaften nicht wohl messen. (AE, S. 630. Vgl. S. 618) Obwohl man Schlick gerne beipflichten wird in seiner Behauptung, dass sich die Psychologie in Bezug auf den Erkenntniswert ihrer Resultate mit den Naturwissenschaft nicht messen kann, vermag die Behauptung, dass die bewussten Qualitäten von uns nicht erkannt werden, doch einigermaßen zu überraschen. Wie begründet Schlick diese These? 166 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Ein Teil der Begründung wurde bereits früher geliefert. Bereits im § 12 ( „ Was Erkenntnis nicht ist “ ) argumentierte Schlick im Zuge seiner Darlegungen mit der Idee, dass Intuition keine höhere Form der Erkenntnis sei, dass etwa das bloße Betrachten einer Farbe noch keine Erkenntnis dieser Farbe sei. Hätte ich das Rot durch Vergleich mit anderen Farben irgendwie eingeordnet, seine Nuance und seinen Sättigungsgrad dadurch richtig bezeichnet, [. . .] dann erst dürfte ich behaupten, das Wesen des erlebten Rot [. . .] bis zu einem Grad erkannt zu haben. Solange ein Gegenstand mit nichts verglichen, in kein Begriffssystem in irgendeiner Weise eingefügt ist, solange ist er nicht erkannt. (AE, S. 292f.) Um etwas in seinem Wesen erkennen zu können, muss man es mit anderen Dingen vergleichen. Daran ist sicher nichts auszusetzen. Um die Besonderheit und Eigenart eines Stuhls, einer Birke oder eines Hundes begreifen zu können, muss ich den entsprechenden Gegenstand mit anderen vergleichen. Für unser Problem folgt daraus, dass die bloße Tatsache, dass mir das Rot eines Gegenstandes oder das Gefühl der Freude unmittelbar gegeben ist, noch nicht hinreicht, um sagen zu können, dass ich die Eigenart des entsprechenden Phänomens begriffen habe. Daran aber schließt sich der zweite und wesentlichere Teil der Begründung der obigen These an. Wer nun erwartet hätte, dass Schlick das von ihm ganz richtig gesehene Problem angeht, indem er die Methode beschreibt, wie man die entsprechenden Phänomene mit anderen vergleichen solle (Rot mit Blau, Gelb usw., Freude mit Trauer, Dankbarkeit usw.), um eben ihre Eigenart feststellen zu können, sieht sich getäuscht. Denn dieser beschreitet einen völlig anderen Weg. In der Mitte des 31. Abschnitts kommt er zu dem Schluss, dass die quantitative Erkenntnis die höchste Form der Erkenntnis bilde und dass eine bewusste Qualität zu erkennen, folglich heiße, sie auf bestimmte Quantitäten zurückzuführen bzw. zu reduzieren. Der Weg, auf dem er zu diesem Resultat gelangt, ist auch heute aufschlussreich. Betrachten wir ihn genauer. Jeder Gegenstand des Raumes steht in bestimmten Relationen zu anderen Gegenständen. Diese Relationen lassen sich durch die Angabe einer Reihe von Größen (z. B. die Lage eines Punktes durch die drei Raumkoordinaten und die Zeit) ganz genau bestimmen, in letzter Linie durch die Angabe von Streckenlängen (AE, S. 617). Die Länge sei aber die Zahl der in ihr enthaltenen Einheiten. Eine und dieselbe Längeneinheit werde in allen Längen wiedergefunden, nur in verschiedener Anzahl. So werden sie quantitativ aufeinander zurückgeführt und es gibt, so Schlick, keine vollkommenere Art der Erkenntnis, „ [d]enn das Wiederfinden des einen Gegenstandes im anderen findet am vollkommensten da statt, wo der letztere eine bloße Summe von lauter gleichen Exemplaren des ersteren ist “ (AE, S. 618). Das Wesen der quantitativen Erkenntnis besteht ihm zufolge - wie wir oben gesehen haben - darin, dass sie den zu erkennenden Gegenstand in eine Summe von Einheiten auflöst, die unverändert und unter sich völlig gleich in ihm wiedergefunden 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 167 und gezählt werden können. Auf diese Weise werden alle räumlichen Größen, dann auch Zeitstrecken „ der Herrschaft der Zahl unterworfen “ . Im Verlauf der Argumentation diskutiert Schlick die seiner Auffassung nach erfolgreiche Reduktion der Farben auf die elektromagnetischen Strahlung (AE, S. 619 - 623) und der Wärme auf die Molekularbewegung (AE, S. 623f.) und stellt abschließend fest: Aus der Betrachtung dieser Verhältnisse ergibt sich mit Klarheit: Qualitäten sind nur dann vollständig erkannt, d. h. durch Kombinationen bereits vorhandener Begriffe vollkommen und eindeutig zu bezeichnen, wenn es gelingt, sie quantitativ auf andere zurückzuführen. Und dadurch werden sie in ihrer Eigenschaft als besondere Qualitäten aus dem Weltbilde gänzlich eliminiert. Möglichkeit der quantitativen Bestimmung ist also nicht nur eine willkommene, zur strengeren Fassung nötige Beigabe zur Erkenntnis, sondern sie ist die unumgängliche Bedingung der restlosen Erkenntnis überhaupt. Nur die quantitative, also letzten Endes additive Zurückführung von Größen aufeinander gestattet, die einen in den anderen unverändert vollständig wiederzufinden, nämlich als Teile im ganzen, als Summanden in der Summe. Der Eliminationsprozess der Qualitäten ist der Kern aller Erkenntnisfortschritte der erklärenden Wissenschaften. (AE, S. 624f.) Der Schluss ist höchst merkwürdig. Stand nicht am Anfang die Frage, ob und wie wir die bewussten Qualitäten erkennen können, verbunden mit der unstrittigen Feststellung, dass dies durch bloßes Anschauen nicht möglich ist. Am Ende lesen wir, dass man das Rot, um es vollständig erkennen zu können, eliminieren (durch etwas anderes ersetzen) muss! Das wäre in etwa so, als wollte man behaupten, man könne Greta Muschg nur dann erkennen, wenn man sie tötet und den Leichnam entsorgt. Wie gelangt man zu einer solchen Absurdität? Eine für Schlick notwendige argumentative Prämisse ist die Behauptung, dass alles Erkennen ein Widerfinden des einen im anderen ist (übrigens wiederholt er diese These auf S. 616 nochmals). Wir haben bereits gesehen, dass diese Annahme falsch ist, dass sie also den Schluss nicht stützen kann. Ich werde die Birke nicht dadurch erkennen können, dass ich sie auf die Eiche oder auf den Baum zurückführe, Greta Muschg nicht dadurch, dass ich ihren Ort innerhalb des Netzwerkes ihrer Familienbeziehungen präzise bestimme, sie somit auf ihre Vorfahren zurückführe. Schlick geht hier jedoch noch wesentlich weiter. Erkennen heißt nicht mehr einfach, etwas auf etwas anderes zurückzuführen (wie ursprünglich „ das braune Etwas “ auf „ meinen Hund Tyras “ ), sondern, wie wir bereits gesehen haben, konkret und ausschließlich auf Zahlenverhältnisse. Demnach werde ich die Kuh am vollkommensten erkennen, wenn ich sie als eine bloße Summe von gleichen Exemplaren von womöglich Katzen, Mäusen, Tieren, Zellen, letztlich aber vermutlich Zahlen begriffen habe. Eine erstaunliche Feststellung. Selbst für die geometrischen Figuren stimmt die Behauptung offensichtlich nicht (ich kann nicht einen Kreis auf eine Anzahl von Vierecken reduzieren oder umgekehrt; ist es ausreichend, einen Kreis dadurch zu definieren, dass man 168 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus seinen Radius angibt? Der Radius bestimmt zwar den Kreis, aber er ist nicht der Kreis), geschweige denn für komplexere Gegenstände: eine Gerade, einen Kreis und ein Dreieck kann man zwar als „ eine bloße Summe von lauter Exemplaren “ von Punkten definieren, man muss jedoch noch weitere Bestimmungen hinzufügen, um die drei Figuren eindeutig bestimmen zu können. Sie lassen sich zwar durch Angabe der drei räumlichen Koordinaten eindeutig bestimmen, und man kann eine Anzahl sich zusammen bewegender Punkte eindeutig bestimmen, indem man ihre räumlichen Koordinaten und überdies die zeitliche Koordinate angibt, wie es Schlick vorschlägt - damit aber kann man eben lediglich die sich bewegenden geometrischen Figuren „ erkennen “ , diese Angaben würden nicht einmal zur Bestimmung der Bewegungen von Elementarteilchen genügen, denn selbst diese sind nicht bloße eigenschaftslose Punkte im eigenschaftslosem Raum, sondern haben auch Qualitäten, die über die raumzeitlichen Bestimmungen hinausgehen (Ladung, Spin, Masse, Lebensdauer usw.). Noch weniger ergiebig wäre die bloße Angabe von raumzeitlichen Eigenschaften der Moleküle, z. B. der Proteine, wenn man ihre biologischen Eigenschaften bestimmen wollte. Wir können heute zwar die tertiäre Struktur der Proteine ziemlich genau angeben, aber dies hilft nur sehr wenig für die Bestimmung ihrer Eigenschaften. Und die Angabe der raumzeitlichen Koordinaten aller Punkte, die sich in einem menschlichen Körper befinden, sagt praktisch nichts über diesen Menschen, außer der Tatsache, dass er/ sie sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufgehalten hat. Die Vorstellung, dass man die vollkommene Erkenntnis dadurch erreicht, dass man alle Gegenstände auf ihre raumzeitlichen Koordinaten reduziert, bildet mithin eine Art reductio ad absurdum von Schlicks Erkenntnisprogramm. Und dennoch spricht Schlick an dieser Stelle eigentlich nichts anderes aus als die Überzeugung, die immer noch zum Kern des gegenwärtigen Verständnisses vom Wesen bzw. von der Essenz der Wissenschaft oder zumindest der Naturwissenschaft gehört. Es ist, wie ich hoffe, offensichtlich geworden, dass sich der Schluss, die objektive Welt sei Gegenstand der ausschließlich quantitativen Erkenntnis und die „ sekundären Qualitäten “ müssten aus dem Erkenntnisprozess, ja aus dem Weltbild, eliminiert werden, aus Schlicks Prämissen nicht ableiten lässt; allerdings wissen wir auch, dass der Schluss auch dann richtig sein kann, wenn seine Prämissen falsch sind. Da auch heute noch die Vorstellung dominiert, dass die höchste Form der Erkenntnis nur dann erreicht werden kann, wenn sie quantitativ ist, wenn die Gegenstände „ der Herrschaft der Zahl unterworfen “ sind oder, wie es bei Schlick weiter heißt, wenn „ die Dinge durch ein Zahlensystem beherrscht “ werden (AE, S. 619), ist es von zentraler Bedeutung, sich die Frage zu stellen, worin diese Überzeugung gründet und ob ihre Begründung berechtigt ist oder nicht. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 169 Das Verhältnis von Psychischem und Physischem (§ 32 f.) Im Folgenden wenden wir uns noch einem weiteren Punkt von Schlicks Überlegungen zu, dem Problem des Verhältnisses von Psychischem und Physischem. Bereits im § 31 konstatiert Schlick, dass die durch die introspektive Methode zu gewinnenden psychischen Gesetzmäßigkeiten unbefriedigend seien (AE, S. 631), und stellt eine zentrale Frage: „ Gibt es keinen Ausweg, um auch in der Psychologie die Stufe der quantitativen Erkenntnis zu erklimmen, auf der es, wie wir sahen, allein möglich wird, das Ziel der Erkenntnis vollständig zu erreichen? “ (AE, S. 631f.). Man vermutet, dass die Antwort positiv ausfällt, und wird nicht enttäuscht. Schlick nimmt Bezug auf seine früheren Ausführungen (AE, S. 618 - 625, s. oben) und stellt fest, dass man bereits mit einem Verfahren vertraut ist, das es ermöglicht, Qualitäten durch Quantitäten zu ersetzen (AE, S. 632). Er fragt, ob dieses Verfahren auch auf die subjektiven Qualitäten des Bewusstseins anwendbar sei. Das sei möglich unter der Voraussetzung, dass es räumliche Änderungen gebe, die in eindeutiger Weise mit den Qualitäten des Bewusstseins zusammenhängen. Diese findet er in den Gehirnprozessen. Es gibt, so Schlick, keine Bewusstseinsqualität, die nicht durch Einwirkung auf den Körper und insbesondere auf das Gehirn, beeinflusst werden könnte (ebd.), deshalb scheint es ihm klar, dass sich die Gehirnprozesse den Bewusstseinsqualitäten eindeutig zuordnen lassen. Zur Erforschung solcher Zusammenhänge müsse die Psychologie sich von der Methode der Introspektion lösen und zur „ physiologischen Psychologie “ wandeln. „ Sie allein kann zu einer prinzipiell vollständigen Erkenntnis des Psychischen gelangen “ (AE, S. 633). Wenn wir auch unabsehbar weit davon entfernt sind, genau zu wissen, welche [Gehirn]prozesse da im einzelnen in Frage kommen, so ist doch wenigstens der Weg gewiesen: es müssen zerebrale Prozesse für subjektive Qualitäten substituiert werden; nur so besteht Hoffnung, sie restlos zu erkennen. Der Weg zur Erkenntnis aller Qualitäten, mögen sie objektiv oder subjektiv sein, ist immer der gleiche: es wird das Zeichensystem der Naturwissenschaft für sie eingeführt, und sie werden dadurch aus dem Weltbilde der exakten Wissenschaft eliminiert; das heißt natürlich nicht: aus der Welt geschafft. Im Gegenteil: sie sind ja das allein Reale, und jenes Weltbild ist nur ein aus begrifflichen Zeichen konstruiertes Gebäude. 122 Endgültige Erkenntnis von Qualitäten, so können wir zusammenfassend sagen, ist nur durch die quantitative Methode möglich. Das Bewusstseinsleben ist also nur insofern vollkommen erkennbar, als es gelingt, die introspektive Psychologie in eine physiologische, naturwissenschaftliche, in letzter Linie in eine Physik der Gehirnvorgänge, überzuführen. (AE, S. 633f.) 122 Die Spannung zwischen dem naturwissenschaftlichen Weltbild und der Welt an sich ist in diesen Zeilen unverkennbar. Welche Bedeutung Schlick der Welt, im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Bild dieser Welt beimessen wollte, ist schwierig zu entscheiden. Ich werde dieses Thema hier nicht diskutieren. 170 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Diese Passage liest sich immer noch wie die Bibel der modernen Neurobiologie, genauer gesagt des Zweigs von ihr, der als „ eliminativer Materialismus “ bezeichnet wird (Beckermann 1999, S. 233 - 254). Wir haben bereits gesehen, dass das Programm der Reduktion der Qualitäten auf die Zahlenverhältnisse auf absurden Prämissen basiert, es ist aber auch wichtig, an dieser Stelle auf eine andere, nicht logische, sondern empirische Schwierigkeit des hier angedeuteten Programms hinzuweisen. Schlick geht von der Annahme aus, dass sich den Bewusstseinsprozessen eindeutig Gehirnprozesse zuschreiben lassen, dass sich also in meinem Gehirn, wenn ich einen bestimmten Baum sehe, ein bestimmtes Aktivierungsmuster von bestimmten Nervenzellen feststellen lasse, und wenn ich Freude am Anblick dieses Baumes erlebe, ein anderes, aber ebenso bestimmtes Aktivierungsmuster anderer Nervenzellen, und zwar bei gleicher bewusster Erfahrung das gleiche Aktivierungsmuster der gleichen Nervenzellen. Wir sind heute weiter. Wir wissen, dass eine eindeutige Zuordnung von Gehirnprozessen zu „ bewussten Qualitäten “ nicht möglich ist, dass der gleichen bewussten Erfahrung unterschiedliche Aktivierungsmuster des Gehirns zugeschrieben werden können 123 und dass es auch möglich ist (obwohl aufgrund der Komplexität der Gehirnprozesse praktisch unmöglich festzustellen), dass den gleichen Aktivierungsmustern unterschiedliche bewusste Erfahrungen entsprechen, was den eliminativen Materialismus als eine praktisch aussichtlose metaphysische Option erscheinen lässt; darum spricht man heute in materialistisch gesinnten Kreisen lieber vom Funktionalismus (Beckermann 1999, S. 141 - 180) oder der sog. Supervenienz (ebd., S. 203 - 233) als dem Modus der Verhältnisses zwischen dem Psychischen und dem Physischen: so wie eine Funktion (z. B. das Kühlhalten) durch physisch unterschiedliche Systeme realisiert werden kann, so stellt man sich vor, dass auch die gleichen psychischen oder bewussten Phänomene von unterschiedlichen physischen Aktivierungsmustern realisiert werden oder über sie „ supervenieren “ können. Diese Entwicklungen waren Schlick freilich nicht bekannt. Wie stellte er sich dann das Verhältnis von Physischem und Psychischem konkret vor? Aufgrund der oben zitierten Feststellung, dass die introspektive Psychologie in letzter Linie in eine Physik der Gehirnvorgänge zu überführen sei, kann man seine Antwort erahnen. Zentral für das Verstehen des Weges, auf dem Schlick dieses Problem anzugehen gedenkt, ist sein Begriff der physischen Wirklichkeit. Er stellt fest, dass damals nicht mehr der Begriff der ausgedehnten „ Substanz “ im Mittelpunkt stand, sondern der allgemeinere des räumlich-zeitlichen Prozesses. „‚ [P]hysisch ‘ heißt [jetzt] die Wirklichkeit, sofern sie durch das räumlich-zeitlich-quantitative Begriffssystem der Naturwissenschaften bezeichnet ist “ , schreibt Schlick (AE, S. 643, Hervorhebung im Original), wobei er betont, dass das naturwissenschaftliche Weltbild nur ein System von Zeichen 123 Vgl. z. B. Azouz und Gray 1999, Fiser et al. 2004, Shidara et al. 2005, Vogels et al. 1989. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 171 sei, die wir den Qualitäten und Qualitätskomplexen zuordnen, deren Gesamtheit und Zusammenhang das Universum bildet (AE, S. 644). Er spricht dann von drei gesonderten Reichen, die wir innerhalb der Wirklichkeit zu unterscheiden haben, und deren Verwechslung und Vermischung das psychophysische Problem eigentlich mitverschuldet hat: 1) die Wirklichkeit selbst (die Qualitätenkomplexe, die Dinge an sich); 2) die der Wirklichkeit zugeordneten quantitativen Begriffe der Naturwissenschaft, die in ihrer Gesamtheit den physikalischen Weltbegriff bilden; und 3) die anschaulichen Vorstellungen, durch welche die unter 2) genannten Größen in unserem Bewusstsein repräsentiert werden, wobei 3) natürlich Teil von 1) sei. Schlick stellt fest, dass es zunächst eine offene Frage sei, ob sämtliche Gegenstände des 1. Reiches durch das naturwissenschaftliche Begriffssystem des 2. bezeichnet werden können, d. h., ob die ganze Welt als etwas Physisches aufgefasst werden könne (AE, S. 646). Eine Hypothese, die durch empirische Befunde dringend nahegelegt wird, schreibt Schlick weiter, sei die, dass die raumzeitlichen Begriffe zur Beschreibung jeder beliebigen Wirklichkeit ausnahmslos geeignet seien, also auch zur Beschreibung der Bewusstseinswirklichkeit (AE, S. 646). Dass wir diese außerdem noch durch die sog. „ psychologischen “ Begriffe beschreiben, schafft keinerlei Gegensatz zwischen Physischem und Psychischem. „ Physisch “ bedeutet mithin nicht eine besondere Art des Wirklichen, sondern eine besondere Art der Bezeichnung des Wirklichen, nämlich die zur Wirklichkeitserkenntnis notwendige naturwissenschaftliche Begriffsbildung, lesen wir weiter (AE, S. 646). Schlicks Argumentation kulminiert in dem folgenden Mantra des reduktiven Materialismus: Die Physik ist das System exakter Begriffe, welches unsere Erkenntnis allem Wirklichen zuordnet. Die gesamte Welt ist der Bezeichnung durch jenes Begriffssystem zugänglich. Natur ist alles, alles Wirkliche ist natürlich. Geist, Bewusstseinsleben, ist kein Gegensatz zur Natur, sondern ein Ausschnitt aus der Gesamtheit des Natürlichen. (AE, S. 647) Welches sind nun aber die „ empirischen Befunde “ , die „ dringend nahe legen “ , dass „ tatsächlich die raumzeitlichen Begriffe zur Beschreibung jeder beliebigen Wirklichkeit ausnahmslos geeignet sind “ , das möchte der Leser doch nun gerne wissen. Ein paar Seiten weiter erfährt er es. Auf S. 651 heißt es nämlich: Wie schon mehrfach bemerkt, sprechen ganz bestimmte ausgedehnte Erfahrungen dafür, dass die physischen Begriffe auch zur Bezeichnung der unmittelbar erlebten Wirklichkeit, also des Psychischen, verwendbar sind [. . .]. Und ein paar Zeilen weiter: Wir wissen, dass der Ablauf unserer Bewusstseinsprozesse nur dann ungestört stattfindet, wenn bestimmte Teile des Gehirns intakt sind. Zerstörung des Hinterhauptlappens zerstört das Sehvermögen, Zerstörung des Schläfenhirns hebt die Fähigkeit zur Bildung von Wortvorstellungen auf usw. 172 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Das ist also Schlicks Hauptargument für die These, dass die psychischen/ bewussten Prozesse auf die physische Wirklichkeit des Gehirns reduzierbar sind. Das Argument ist sehr bekannt, ebenso bekannt ist jedoch, dass es eigentlich schwach ist. Auf einem beschädigten Klavier kann kein Pianist ein perfektes Konzert spielen, ohne Batterie kann kein Auto (mit Benzinantrieb) laufen, ohne Elektrizität bzw. Gas kann kein Mittagessen gekocht werden, doch das unbeschädigte Klavier, die Batterie, Elektrizität (bzw. Gas) sind nicht die Ursachen des Konzertes, des Funktionierens des Autos bzw. der Mahlzeit und diese können nicht auf jene reduziert werden. Das unbeschädigte Klavier, die funktionierende Batterie, die Elektrizitätsbzw. Gaszufuhr sind bloß die notwendigen Bedingungen der entsprechenden Ereignisse, nicht ihre Ursachen, und jedes Ereignis verlangt für gewöhnlich, dass sehr viele unterschiedliche (jeweils notwendige) Bedingungen erfüllt werden, damit es zustande kommen kann. 124 Interessanterweise ist sich Schlick dieser Schwierigkeit eigentlich bewusst und seine Art mit ihr Umzugehen ist äußerst aufschlussreich. Er stellt zu Recht fest, dass die Erfahrungen des Ausfalls der bewussten Funktionen infolge der Beschädigung oder Zerstörung des Gehirns mit Sicherheit eigentlich nur zeigen, dass zwischen dem physikalischen Objekt „ Gehirn “ und der erlebten Wirklichkeit „ Bewusstseinsinhalt “ eine innige Beziehung bestehe (AE, S. 651), und schreibt weiter: Wollte man diese Beziehung als gegenseitige Abhängigkeit, also als kausale Beziehung auffassen (wie es die dualistische Lehre von der Wechselwirkung zwischen Körper und Geist tat), dann wäre das Bewusstsein, das Ich, ein besonderes von den „ Gehirnvorgängen “ verschiedenes Objekt, das einer Bezeichnung durch physikalische Begriffe prinzipiell nicht zugänglich wäre. [. . .] Außerdem wäre es dann auch unmöglich, alle Hirnprozesse physikalisch verständlich zu machen, d. h. aus physikalischen Ursachen zu erklären, denn ihre Ursachen würden ja zum Teil in den psychischen Prozessen zu suchen sein, die eben durch physikalische Begriffe nicht darstellbar wären - die physikalische Kausalität hätte Lücken, und dies würde auf Begriff und Formulierung der Naturgesetze einen schlechthin umstürzenden Einfluss haben (AE, S. 651f.) Diese Formulierung glänzt durch Präzision und Ehrlichkeit: Würde man zulassen, dass nicht nur das Gehirn auf den „ Geist “ Einfluss hat, sondern auch umgekehrt, hätte die physikalische Kausalität Lücken, was „ auf Begriff und Formulierung der Naturgesetze einen schlechthin umstürzenden Einfluss “ hätte. Man muss an dieser Stelle bedenken, dass dieses Argument die Antwort auf die Frage liefern soll, ob sich die ganze Wirklichkeit tatsächlich rein physikalisch beschreiben lasse, eine These, die auf S. 646 als eine Hypothese eingeführt wurde. Diese Hypothese wird Schlick zufolge durch „ empirische Befunde “ gestützt, die „ dringend nahe legen “ , dass tatsächlich „ die 124 Wir werden auf dieses Problem ausführlich im Exkurs „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ eingehen. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 173 raum-zeitlichen Begriffe zur Beschreibung jeder beliebigen Wirklichkeit ausnahmslos geeignet sind, also auch der Bewusstseinswirklichkeit “ (AE, S. 646). Welche Befunde sind dies? Solche, von denen man sagen kann/ muss, dass, wenn man sie nicht im Sinne der Hypothese interpretieren würde, sie die Hypothese stürzen würden. Um also die Hypothese aufrechtzuerhalten, muss man die Befunde so auslegen, dass sie sie stützen. Aber dies ist wiederum ein klarer Fall einer petitio prinicipii! Man kann Schlick nur dankbar sein, dass er diese entscheidende Argumentationsschwäche seiner Position (und man darf wohl sagen jeder materialistischen Position bis heute) mit solcher Klarheit ans Licht bringt. Mit Blick auf die Entwicklung von Schlicks Argumentation sollte man an dieser Stelle unbedingt auf den Umstand hinweisen, dass das „ materialistische Mantra “ (s. oben) vor der Auseinandersetzung mit dem Problem des Verhältnisses der psychischen Phänomene zu den Gehirnprozessen formuliert wurde. Auf S. 646 stellt Schlick fest, dass „ [d]ie Physik das System exakter Begriffe [ist], welches unsere Erkenntnis allem Wirklichen zuordnet. Die gesamte Welt ist der Bezeichnung durch jenes Begriffssystem zugänglich “ , und erst auf S. 651 stellt er sich die Frage, wie man das Verhältnis Bewusstsein/ Gehirn auffassen soll. Er geht also eigentlich nicht offen und unvoreingenommen an sie heran. Seine Meinung ist bereits festgelegt: physikalische Begriffe können die ganze Wirklichkeit beschreiben. Die „ empirischen Befunde “ werden im Lichte dieser Grundüberzeugung interpretiert. Deshalb überrascht der Schluss, den er aus der Betrachtung dieser Befunde zieht, überhaupt nicht: Aber alle diese Komplikation des Weltbildes [die Möglichkeit, dass die physikalische Kausalität Lücken hat, mit umstürzender Wirkung auf die Naturgesetze] sind völlig unnötig und ganz leicht zu vermeiden, wenn wir an Stelle der dualistischen Annahme 125 die viel einfachere Hypothese einführen, dass die naturwissenschaftliche Begriffsbildung zur Bezeichnung jeder beliebigen Wirklichkeit, also auch der unmittelbar erlebten, geeignet ist. Dann ergibt sich als Beziehung zwischen dieser Wirklichkeit und den physischen Hirnprozessen nicht mehr eine solche der kausalen Abhängigkeit, sondern schlechthin der Identität. Es ist ein und dasselbe Wirkliche, nicht etwa „ von zwei verschiedenen Seiten betrachtet “ , oder „ in zwei verschiedenen Erscheinungsformen “ , sondern nur durch zwei verschiedene Begriffssysteme bezeichnet, nämlich das psychologische und das physikalische. (AE, S. 652) Wenn man annimmt, die ganze Wirklichkeit sei physikalische Wirklichkeit, liegt die These auf der Hand, dass zwischen psychischen Phänomenen und physischen Gehirnprozesse Identität herrscht. Die Frage ist, ob man hinrei- 125 Ich werde an einer späteren Stelle dieses Werkes zeigen, dass die Ablehnung des materialistischen Monismus, der hinter Schlicks Position steht und bis heute die Naturwissenschaft klar dominiert, keineswegs zur Annahme des kartesianischen Dualismus zwingt. 174 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus chende Gründe dafür hat, eine solche Hypothese aufzustellen. Schlick hat keine benannt, und auch heute gibt es keine stichhaltigen Gründe, die diese Hypothese hinreichend stützen würden. 126 Was man Schlick an dieser Stelle allerdings als wichtiges Verdienst anrechnen muss, ist seine Ehrlichkeit: Er sagt klar und deutlich, dass die These, wonach „ die naturwissenschaftliche Begriffsbildung zur Bezeichnung jeder beliebigen Wirklichkeit [. . .] geeignet ist “ , bloß eine Hypothese ist. Heute wird diese Hypothese von vielen als längst ausgemachte, selbstverständliche Tatsache behandelt. Außerdem ist ihm zugutezuhalten, dass er deutlich ausspricht, dass, sollte sich diese Hypothese als unzutreffend erweisen, dieser Befund „ einen schlechthin umstürzenden Einfluss “ auf das gängige wissenschaftliche System hätte, und zwar nicht nur auf die Psychologie und die verwandten Wissenschaften, sondern auch auf die exaktesten der exakten Naturwissenschaften: Physik, Chemie, Biologie usw. Im Übrigen: selbst wenn man Schlicks materialistischen Monismus ablehnt, kann man ihm gerne beipflichten, wenn er schreibt: „ Natur ist alles, alles Wirkliche ist natürlich. Geist, Bewusstseinsleben, ist kein Gegensatz zur Natur, sondern ein Ausschnitt aus der Gesamtheit des Natürlichen “ (AE, S. 647). Absolut richtig, der Geist ist genauso wirklich, wie die sichtbare Natur. Man müsste allerdings die Verhältnisse ein wenig geraderücken: Nicht der Geist ist „ ein Ausschnitt aus der Gesamtheit des Natürlichen “ , sondern das sinnlich wahrnehmbare Natürliche ist „ ein Ausschnitt “ aus der Gesamtheit des Geistes. Das Problem der Substanz Ich möchte mich jetzt einem weiteren Problem zuwenden, das Schlick im Zuge seiner Diskussion der quantitativen und qualitativen Erkenntnis und des Verhältnisses von Physischem und Psychischem behandelt. Wir sind bereits viel früher auf dieses Problem gestoßen, und zwar im § 5 (Erkennen durch Begriffe), als Schlick im Rahmen seiner Diskussion des Definierens von Begriffen gewisse Sonderbarkeiten feststellt. So schreibt er beispielsweise auf S. 192: Man kann im allgemeinen überhaupt nicht eine Eigenschaft von einem Dinge fortdenken und die übrigen ungeändert bestehen lassen. Ich kann z. B. nicht den Begriff der mathematischen Kugel bilden, indem ich mir eine wirkliche Kugel vorstelle und dann von allen ihren physischen Eigenschaften, wie Farbe usw. abstrahiere; denn ich kann mir wohl eine Kugel einer beliebigen Farbe, niemals aber eine Kugel von gar keiner Farbe visuell vorstellen. Und ein wenig weiter: Nicht dadurch gelangt man zu den Begriffen, dass man gewisse Merkmale der Dinge oder Vorstellungen fortließe, [. . .] sondern dadurch, dass man die Merkmale 126 Für eine Aufzählung und Diskussion solcher angeblichen Gründe vgl. Majorek 2012. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 175 voneinander unterscheidet und einzeln bezeichnet. Die Unterscheidung aber wird, wie bereits Hume eingesehen hat, 127 dadurch ermöglicht, dass die einzelnen Merkmale unabhängig voneinander veränderlich sind: so vermag ich bei der Kugel Gestalt und Farbe als besondere Merkmale voneinander zu trennen, weil ich mir einerseits beliebig gefärbte Körper in der gleichen Farbe, andererseits beliebig gefärbte Körper in der gleichen Gestalt vorstellen kann. (AE, S. 192 f, Hervorhebung im Original) Diese Feststellung mutet seltsam an. Denn es ist doch ziemlich offensichtlich, dass wir, wie ich früher am Beispiel einer Eiche dargelegt habe, nicht alle Eigenschaften des uns bekannten Gegenstands (Objekts) in seine Definition bzw. in seine Beschreibung einbeziehen. Es fragt sich also, was Schlick zu dieser seltsamen und stark kontraintuitiven Position geführt hat. Eine direkte Antwort auf diese Frage bekommt man in der Allgemeinen Erkenntnislehre nicht, ich vermute aber, dass es mit Schlicks Ablehnung des Substanzbegriffs zu tun hat. Bereits im § 9 sagt er über die Begriffe Substanz und Attribut: „ Das sind nun aber metaphysische Begriffe, die manche Schwierigkeit in sich bergen “ (AE, S. 240), und später kehrt er zu diesem Thema zurück um festzustellen (§ 31): Ein Atom, ein Elektron ist also aufzufassen als ein Verband von Qualitäten, die durch bestimmte Gesetze miteinander verknüpft sind - nicht als ein substantielles Ding, welches seine Qualitäten als Eigenschaften trüge und von ihnen, eben als ihr Träger, unterschieden werden könnte. Die Kritik, die Hume gegen diesen Substanzbegriff richtete, besteht noch immer völlig zu Recht. 128 (AE, S. 628) Ein wenig weiter stößt er in das gleiche Horn: Die Idee eines von den Eigenschaften unabhängigen und sie nur tragenden Kernes ist verfehlt, denn der Kern wäre dann etwas Eigenschaftsloses. Wir müssen uns mit dieser Idee nicht weiter befassen, denn wir sind bei unserer Analyse überhaupt nicht auf sie gestosßen und können den Prozess der Naturerkenntnis ohne sie verständlich machen. Dadurch ist ihre Entbehrlichkeit bewiesen. [. . .] Alle Erkenntnis geht also in letzter Linie auf Beziehungen, Abhängigkeiten, nicht auf Dinge, Substanzen. (AE, S. 629) 127 Vgl. Hume 1978, I. i.VII 128 Er meint Humes Treatise, I.iv.III, wo es heißt: „‘ This confest by the most judicious philosophers, that our ideas of bodies are nothing but collection form ’ d by the mind of the ideas of the several distinct sensible qualities, of which objects are compos ’ d, and which we find to have a constant union with each other. ’“ Und weiter, nachdem Hume das Problem schilderte, das für uns entsteht, wenn wir das gleiche Objekt zwei Mal beobachten, wobei es beim zweiten Mal, nach einem längeren Zeitabschnitt, andere Qualitäten aufweist und uns so vor ein Dilemma stellt, dass das gleiche Ding ein anderes Ding geworden ist: „ In order to reconcile [these] contradictions the mind is apt to feign something unknown and invisible, which it supposes to continue the same under all these variations; and this unintelligible something it calls a substance, or original and first matter. “ 176 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Einige Seiten später (§ 32) schreibt Schlick - wie wir gesehen haben - von seinem „ ersten Reich “ , dass es die „ Wirklichkeit selbst “ , also die „ Qualitätenkomplexe, die Dinge an sich “ umfasse (AE, S. 645). Schlick errichtet seine Erkenntnistheorie demnach auf dem Fundament einer Ontologie, welche die Existenz der Substanzen ablehnt und nur die Existenz der Eigenschaften zulässt. An sich überrascht diese Tatsache überhaupt nicht, denn es ist schon eine Binsenwahrheit, dass „ [e]mpiricists attacked metaphysics of essences and epistemology of rational intuition, innate ideas and infallible knowledge “ (Psillos 2007, S. 107). 129 Es ist vielleicht ebenfalls unbestritten, dass der Substanzbegriff gewisse philosophische Schwierigkeiten in sich birgt. Diese müssen wir aber an dieser Stelle nicht ausführlich diskutieren. Es genügt uns, der Frage nachzugehen, ob Schlicks Option eine plausible Lösung des Problems darbietet. Es ist unschwer festzustellen, dass seine Lösung offensichtliche Mängel aufweist: 130 wenn ein Gegenstand die Summe seiner Eigenschaften wäre ( „ Qualitätenkomplex “ ), dann würde er ein anderer, wenn sich eine dieser Eigenschaften ändert. Würden wir einen Holzzaun neu streichen, weil die alte Farbe abblättert, wäre das Resultat kein neu gestrichener alter Zaun, sondern wir hätten es jetzt mit einem völlig anderen Gegenstand zu tun, einem anderen Zaun. Schlimmer noch: wenn ein Schreibtisch einen Kratzer auf der Schreibfläche bekäme, würde er dadurch zu einem neuartigen Objekt, einem anderen, neuen Tisch. Es geht noch schlimmer: Würden wir in einem Zimmer bei einsetzender Dunkelheit das Licht anschalten, änderte sich die wahrgenommene Farbe des Tisches und somit würde der vertraute Tisch zu einem neuen Objekt, einem neuen Tisch. Alle diese Konsequenzen von Schlicks Position sind selbstverständlich stark kontraintuitiv, um nicht zu sagen absurd. Was treibt Schlick in diese ungemütliche Ecke? Er wird durch seine Überzeugung dort hineingedrängt, dass die Zulassung der Substanz ( „ Materie “ ) als der Träger der Eigenschaften ebenso unangenehme Folgen hätte: diese „ Materie “ an sich müsste nämlich eigenschaftslos sein, was ganz unmöglich erscheint. Ist diese Konsequenz aber zwingend? Es ist unbestritten, dass wir für gewöhnlich in solchen Kategorien über die Welt denken: der „ naive Realismus “ nimmt doch tatsächlich an, dass es einen Träger der Eigenschaften gibt. Ein Stuhl ist braun, er kann aber weiß übermalt werden und wird dennoch ein Stuhl bleiben. Die Farbe braun ist eine veränderliche Eigenschaft dieses Stuhls. Der Stuhl hat auch ein bestimmtes Gewicht. Wenn ich aber auf dem Sitz eine zusätzliche Sitzplatte montiere, wird sich das Gewicht des Stuhles zwar ändern, der Stuhl wird aber der Stuhl bleiben. Schlicks Befürchtung ist die, dass, wenn wir einen „ Träger “ der Eigenschaften zuließen, dieser „ eigenschaftslos “ sein müsste. Wir wissen aber sehr wohl, dass der Stuhl nicht eigenschaftslos ist, selbst dann, wenn wir 129 Vgl. auch Ladyman 2007, S. 304 - 307, 310 - 314. 130 Für eine klassische und umfangreiche Kritik des Nominalismus vgl. Armstrong 1978. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 177 meinen, dass die Farbe nicht zu den zentralen, definierenden Eigenschaften des Stuhls gehört. Ob er grün oder braun oder weiß ist, spielt keine Rolle, solange er eine gewisse Form hat, die seine Funktion gewährleistet. Der Stuhl hört auf, ein Stuhl zu sein, nicht wenn ich ihn übermale, sondern wenn ich ihn beispielsweise mit einer Säge zerteile. Wenn man jedoch nicht einräumen will, dass es „ Träger “ von Eigenschaften gibt, für die einige Eigenschaften „ lebenswichtig “ , andere hingegen verhältnismäßig unerheblich sind, dann landet man bei der stark kontraintuitiven Behauptung: „ Man kann im allgemeinen überhaupt nicht eine Eigenschaft von einem Dinge fortdenken und die übrigen ungeändert bestehen lassen “ (AE, S. 192). Aber wieso denn nicht? Selbstverständlich kann man das, wir haben es soeben mit dem Stuhl gemacht. Sicherlich kann ich nicht alle Eigenschaften von dem Stuhl fortdenken, ich kann auch nicht die Farbe allgemein von ihm fortdenken: der Stuhl wird immer irgendeine Farbe haben (auch wenn er aus Glas hergestellt wurde und somit „ farblos “ oder „ durchsichtig “ ist), wohl aber eine spezifische Farbe. Warum sieht Schlick diese offensichtliche Tatsache nicht? Die Schwierigkeit ergibt sich für ihn wahrscheinlich deshalb, weil er die Eigenschaft von dem spezifischen Wert dieser Eigenschaft nicht klar unterscheidet. Der Stuhl muss wohl eine Farbe haben (oder durchsichtig sein), welche Farbe aber, ist unerheblich. Ich kann also die Eigenschaft „ Farbe “ tatsächlich nicht vom Begriff des Stuhls „ fortlassen “ , wohl aber kann ich die spezifische Farbe (z. B. Rot) „ fortlassen “ . Das Gleiche gilt für Größe, Gewicht, Form usw. Das Problem mit dieser Lösung wird für Schlick aber wohl sein, dass ihm nicht klar ist, was eine Eigenschaft an sich sein soll, ohne dass sie einen spezifischen „ Wert “ annimmt: was Farbe allgemein ist, wenn sie nicht konkret Rot oder Blau oder Grün ist. Ich sage: „ Das Problem wird wohl sein “ , weil Schlick dieses Problem überhaupt nicht diskutiert. Seine Ablehnung der „ Substanz “ oder des „ Kernes “ ist, wie ich sie oben zitiert habe, äußerst knapp formuliert: „ Die Idee eines von den Eigenschaften unabhängigen und sie nur tragenden Kernes ist verfehlt, denn der Kern wäre dann etwas Eigenschaftsloses. Wir müssen uns mit dieser Idee nicht weiter befassen [. . .]. “ In Anbetracht der weitreichenden weltanschaulichen Konsequenzen dieser ontologischen Entscheidung muss Schlicks philosophische Unbekümmertheit erstaunen. Die Konturen der Begründung seiner Position lassen sich allerdings ganz gut rekonstruieren. Wir haben bereits gesehen, dass Schlick es ablehnt, die Universalien im klassischen, mittelalterlichen Sinne in seiner Ontologie zuzulassen: Begriffe haben für ihn keine Realität, sind nicht wirklich, sind bloße Zeichen. Die Inhalte der Begriffe werden entweder durch Definitionen festgelegt, also auf andere Begriffe zurückgeführt, oder letztendlich (um den unendlichen Regress zu vermeiden) durch das Hinweisen auf konkrete Gegenstände und in einem weiteren, aber auch letzten Schritt auf „ unmittelbares Erleben “ : „ Was ‚ Blau ‘ ist oder was ‚ Lust ‘ , kann man nicht durch Definition kennen lernen, sondern nur bei Gelegenheit des Anschauens von etwas Blauem oder des Erlebens von Lust “ (AE, S. 200). 178 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus In einem solchen „ unmittelbaren Erleben “ ist jedoch, so scheint es zumindest, nur ein konkretes Blau oder Rot oder eine konkrete Lust gegeben, nicht aber die abstrakte Eigenschaft „ Farbe “ . Es wäre für Schlick tatsächlich schwierig zu erklären, wie wir eigentlich zu diesem Begriff kommen, denn er will, wie wir gesehen haben, die Abstraktion als Möglichkeit der Begriffsbildung nicht zulassen (AE, S. 191; diese würde hier allerdings ohnehin „ nichts bringen “ , denn es ist nicht klar, was ich von Gelb, Rot usw. abstrahieren sollte, um auf den allgemeinen Begriff „ Farbe “ kommen zu können); der Farbbegriff lässt sich aber kaum durch andere Begriffe definieren 131 und das Hinweisen als Methode ist in seinem Fall auch ausgeschlossen, weil ich jeweils auf eine konkrete bemalte/ gefärbte Fläche hinweisen muss und nicht auf die „ Farbe “ allgemein hinweisen kann (wir haben die Schwächen der hinweisenden Methode bereits oben erläutert). Vielleicht wäre es ja möglich, auf verschiedenfarbige Flecken hinzuweisen und zu sagen: „ Die Farbe ist das, was diesen allen gemeinsam ist “ . Ist aber irgendetwas, was man sehen kann, allen diesen Flecken gemeinsam, außer eben, dass sie Flecken, vielleicht auf einem Blatt Papier, sind? Schlick tut so, als ob wir den Begriff der Farbe gar nicht hätten, sondern uns nur über konkrete Farben unterhalten könnten. Deshalb kann er oder will er nicht begrifflich unterscheiden zwischen der Eigenschaft (Farbe) und dem konkreten Wert dieser Eigenschaft (Blau), deshalb muss er kontraintuitiv behaupten, dass man die Eigenschaft von dem Gegenstand unmöglich „ fortlassen “ könne. Das Problem mit seiner Position besteht jedoch in der Tatsache, dass wir offensichtlich über den Begriff der Farbe (wie auch andere Eigenschaften allgemein) verfügen, und das ist eine Tatsache, die er nicht erklären kann. Mit seiner Position verbindet sich jedoch noch ein weiteres Problem: man muss in ihr (wie selbstverständlich auch in jeder anderen philosophischen Position) erklären können, was man unter einer konkreten Farbe versteht. Nehmen wir an, dass wir Gras vor dem Fenster, eine grüne Bank und einen grünen Ball betrachten und feststellen, dass sie alle die gleiche Qualität aufweisen: sie alle sind grün. Es ist nun davon auszugehen, dass das Grün dieser drei Gegenstände nicht absolut identisch ist: es ist im realen Leben kaum möglich, an zwei verschiedenen Stellen gleiche Farben mit absolut identischer Nuance wahrzunehmen. Warum behaupten wir, dass diese doch unterschiedlichen „ Dinge “ - man muss bedenken, dass sie sich sowohl in der Farbe als auch in ihrer Position im Raum unterscheiden - eine „ Sache “ sind, nämlich eben die grüne Farbe? Indem wir alle drei als grün bezeichnen, scheinen wir die Existenz eines universalen „ Grün “ anzunehmen, das sich an 131 Interessant ist in diesem Zusammenhang die lexikalische Definition der Farbe, die man im Duden findet: Farbe 1. a) mit dem Auge wahrnehmbare Erscheinungsweise der Dinge, die auf der verschiedenartigen Reflexion und Absorption von Licht beruht (Dudden 1996, S. 486). Auf diese Art kann ich bestimmt keinem Kind den Begriff der Farbe beibringen. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 179 verschiedenen Stellen und zu unterschiedlichen Zeiten „ manifestieren “ kann. Mit Blick auf Schlick und seinen Ansatz lässt sich also sagen, dass sich das Problem bloß verschoben hat: er wollte keine dinglichen Universalien zulassen, landet aber bei einer Position, die eine andere Art von Universalien zulassen muss, nämlich Eigenschaften. An der entsprechenden Stelle der Allgemeinen Erkenntnislehre hat man das Gefühl, dass Schlick sich dieser Schwierigkeit nur vage bewusst ist, dass ihm aber gleichsam halbbewusst unwohl dabei ist, und deshalb schreibt er unmittelbar nach der Passage, in welcher er die Existenz der Substanzen ( „ Dinge “ ) ablehnte, dass die Erkenntnis in letzter Linie auf Beziehungen, Abhängigkeiten, nicht auf Dinge, Substanzen gehe. Konsequenterweise hätte er an dieser Stelle aber sagen müssen, die Erkenntnis gehe auf Eigenschaften (Qualitäten), hatte er doch soeben das Atom und das Elektron als „ Verband von Qualitäten “ charakterisiert; Qualitäten sollten also mindestens neben „ Beziehungen und Abhängigkeiten “ aufgelistet, wenn nicht sogar vor diesen behandelt werden und stärker ins Gewicht fallen. Ich möchte diese kurze Diskussion mit dem Hinweis abschließen, dass an einer ontologischen Entscheidung kein Weg vorbeiführt: ob man sich für die Ontologie der Universalien, der Substanzen oder der Qualitäten entscheidet, für eine Ontologie muss man sich. Und indem man die Entscheidung getroffen hat, hat man zugleich eine metaphysische Entscheidung getroffen, eine Entscheidung, die keineswegs ein Ergebnis der empirischen Forschung ist. Ich habe versucht, Schlicks Gründe für seine Wahl genau wiederzugeben und mit entsprechenden Zitatstellen zu belegen. Wir haben, wie ich glaube, gesehen, wie dünn diese Gründe sind: Schlick bezieht sich auf Hume, erwähnt, dass die Ontologie der Substanzen „ manche Schwierigkeit in sich [birgt] “ (AE, S. 240), diskutiert diese Schwierigkeiten jedoch nicht und zeigt nicht, dass seine eigene Ontologie jener tatsächlich überlegen ist. Man hat stark den Eindruck, dass diese Wahl eher auf persönlichen Präferenzen beruht, als dass sie aufgrund unparteiischer Betrachtung der vorhandenen Optionen getroffen wurde. Und das ist etwas, das wir bereits bei Schlicks Zurückweisung der Realexistenz von Begriffen (Universalien) festgestellt haben. Schlicks Position steht außerdem unter dem Druck der Frage, wie er auf der Grundlage seiner Ontologie der Eigenschaften überhaupt zu seinen „ Gegenständen “ kommen kann. Man kann hier zunächst von den „ abstrakten Gegenständen “ (Zahl, Figur, Geschwindigkeit, Masse, Qualität, Beziehung, aber auch Lust, Liebe, Gerechtigkeit usw.) absehen und sich ganz konkreten dreidimensionalen Gegenständen (Stühle, Tische, Bäume) zuwenden. Nun ist es eine gut bekannte Tatsache, auf die bereits Hume hinwies, dass sich die wahrgenommen Eigenschaften der (dreidimensionalen) Gegenstände von Moment zu Moment verändern. Sie verändern sich aber auch mit unserer Position zu ihnen: der Tisch sieht anders aus, wenn ich neben ihm sitze, und anders, wenn ich ihn von der Tür des Arbeitszimmers aus beobachte. Wir (die „ naiven Realisten “ ) haben keine Schwierigkeit damit, 180 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus wir wissen, dass es sich in beiden Fällen um den gleichen Tisch handelt, wohingegen z. B. Computer komplexe Erkennungsprogramme brauchen, um den gleichen Gegenstand in unterschiedlicher Beleuchtung und aus unterschiedlichen Positionen dargestellt als eben den gleichen Gegenstand zu erkennen (sie benötigen noch komplexere Erkennungsprogramme, um den gleichen Menschen bzw. das gleiche Gesicht zu erkennen); Schlick braucht seinerseits auch etwas, was uns plausibel erklären kann, wie wir aufgrund des Wirrwarrs der sinnlichen Wahrnehmungen zu den konstanten Gegenständen kommen können. Schlick bedient sich diesbezüglich interessanterweise der Gestaltpsychologie. Er schreibt: [D]ie Erkenntnisgegenstände [sind] nicht von vornherein bestimmte fest abgegrenzte Einheiten [. . .]. Dass in unserem Bewusstsein dessen Inhalte zu gewissen Komplexen zusammentreten, die wir als „ Einheiten “ erleben, ist eine Tatsache, für welche die moderne Psychologie den von Chr. Ehrenfels geprägten Begriff der „ Gestaltqualität “ verwendet. Den Gestalten kommt bei der Beschreibung des unmittelbar Gegebenen eine schlechthin fundamentale Rolle zu. Mit jener Tatsache ist das gegeben, was wir als „ Zusammenhang “ bezeichnen: dasselbe Element kann verschiedenen Gegenständen angehören. Und schließlich gelingt es bei passender Wahl des Standpunktes, in allen Gegenständen eines Gebietes dieselben ganz wenigen Elemente in steter Wiederholung aufzufinden. (AE, S. 271; vgl. auch S. 170) Schlick denkt sich die Sache offensichtlich in etwa so: Wir sehen unterschiedliche Stühle. Wir sehen, dass sie alle aus Beinen, Sitzfläche, Lehne usw. bestehen (abgesehen von den Dutzenden anderer Eigenschaften). Diese sind dieselben ganz wenigen Elemente, die bei allen Stühlen in „ steter Wiederholung “ aufzufinden sind. Wir nennen also einen entsprechenden Gegenstand „ Stuhl “ , und wenn wir wieder einmal die gleichen Elemente zusammen erblicken, wissen wir, dass wir wiederum einen Stuhl vor uns haben. Diese Auffassung führt jedoch unmittelbar zu zwei Schwierigkeiten unterschiedlicher Art. Erstens, um die Zusammenfügung der „ wenigen Elemente “ zu einem konkreten Gegenstand vollziehen zu können, müssen wir diese Elemente erkannt haben. Wir müssen also konkret wissen, dass ein bestimmter „ Qualitätenkomplex “ ein Bein (Stuhlbein, nicht Elefantenbein) ist, ein anderer eine Sitzfläche, ein wieder anderer eine Lehne. Diese „ Gegenstände “ haben aber an sich sehr unterschiedliche Erscheinungsformen (man denke an die unterschiedlichen Modelle von Stühlen), die sich noch dazu unter sich verändernden Bedingungen in ihrem Erscheinungsbild stark verändern können. Wie kommen wir also dazu, ein Stück Holz als „ Stuhlbein “ zu bezeichnen, und ein anderes Stück Holz als die „ Sitzfläche “ ? Es droht also auch hier eine Art unendlicher Regress der Bestimmung der konkreten Gegenstände (ich habe auf dieses Problem bereits in der Diskussion des Anfangs der Allgemeinen Erkenntnislehre aufmerksam gemacht). Zweitens: selbst wenn wir irgendwie zur Identifizierung der „ wenigen Elemente “ gelangt sind, ist überhaupt nicht klar, wie wir diese Elemente zusammen- 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 181 fügen, und überhaupt nicht sicher, dass wir sie zu den bekannten Gegenständen zusammenfügen müssen. Die klassischen Beispiele der mehrdeutigen Bilder (Ente/ Hase; junge Frau/ alte Hexe; Necker-Würfel, Vase/ zwei Gesichter usw.) sind mittlerweile Gemeingut, es ist also allgemein bekannt, dass die gleichen Elemente unterschiedlich zu einer „ Gestalt “ zusammengefügt werden können. Folglich muss man davon ausgehen, dass, selbst wenn die Elemente festgelegt worden sind, aus ihnen nicht zwingend das gewünschte Bild des Stuhles entstehen muss. Schlick ist uns also weiterhin die Erklärung schuldig, wie auf der Grundlage seiner Ontologie der Eigenschaften das vertraute Weltbild des „ naiven Realismus “ , das schließlich unsere tägliche Erfahrung ist, entstehen kann. Es ist, wie ich glaube, nicht nötig, gesondert aufzuzeigen, dass sich bei der Konstruktion der „ abstrakten Gegenstände “ (oder in der üblichen Formulierung: der abstrakten Begriffe) von der Art, die ich oben aufgelistet habe, 132 nach Schlicks Methode noch größere Schwierigkeiten ergeben. Denn in diesem Fall sind die „ Elemente “ der „ Gestalt “ nicht in der Wahrnehmung gegeben und es ist folglich überhaupt nicht einsichtig, wie diese „ Gestalten “ aufgrund des Hokuspokus der Gestaltpsychologie entstehen können. Ich finde es übrigens eine interessante Ironie des Schicksals, dass sich Schlick an diesem wichtigen, ja „ fundamentalen “ Punkt gedrängt fühlt, von der Gestaltpsychologie Gebrauch zu machen, also gerade von der Auffassung, die vierzig Jahre später durch Thomas Kuhns Werk The Structure of Scientific Revolutions (Kuhn 1970, S. 111 - 115) wesentlich zum Niedergang des Schlick ’ schen Programms beigetragen hat. Das Problem der induktiven Erkenntnis (§ 41) Wir haben bereits gesehen, dass sich Schlick dem vertrackten Problem der Berechtigung der induktiven Schlüsse stellen will. Er formuliert drei Fragen: 1) Wie gelangen wir dazu, Sätze von wahrgenommenen Fällen auf nicht wahrgenommene zu übertragen? ; 2) Welcher Art ist die Geltung, die wir für dergleichen Sätze beanspruchen, da wir doch ihre absolute Gültigkeit nicht behaupten dürfen? ; 3) Mit welchem Recht erheben wir diesen Anspruch? (AE, S. 783). Wir haben auch bereits in der Zusammenfassung dieses Teils vom Schlicks Werk (s. oben) gesehen, wie er diese Fragen beantwortet. Schlick stellt fest, dass der Mensch im Leben stehe und es um des Lebens willen Erfahrung geben müsse (AE, S. 804). Überdies meint er, dass unser Bewusstsein an diese Welt angepasst sei: „ [S]eine [des Menschen] subjektive Erwartungen werden durch objektive Vorgänge erzeugt und treffen wieder mit ihnen zusammen, eben weil sie angepasst sind “ (AE, S. 805). Daraus ergibt sich anstelle der theoretischen, die nicht gegeben werden kann, eine prak- 132 Abschnitt: „ Ihre Natur besteht ja darin, Zeichen zu sein “ . 182 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus tische Rechtfertigung der Induktion. Die erste und die dritte Frage beantworten sich gemeinsam: [D]er praktische Glaube an den [Kausal]satz durch Assoziation, durch einen Instinkt, der das handelnde Leben in jedem Augenblick durchdringt, beherrscht und erhält. Die Resultate dieser fundamentalen Lebensfunktion sind für das Leben gültig, es gibt keine andere Art des Geltens für das Handeln. Und der Betrieb der Wissenschaft ist ja auch ein Handeln. Weil die Welt nach dem Kausalprinzip aufgebaut ist, muss alles Leben in dieser Welt jenem Instinkt unterworfen sein. (AE, S. 805) Dies ist eine sehr interessante Beobachtung. Wenn man über das Leben reflektiert, stellt man fest, dass die praktische Notwendigkeit, die Berechtigung der Induktion zu akzeptieren, eigentlich weit über die Bedürfnisse der Wissenschaft hinausgeht. Ich kann nicht aufstehen, mich nicht auf den Stuhl setzen, nicht ins Auto einsteigen, ohne zu glauben, dass die Welt konstant ist, dass der Boden unter meinen Füßen genauso solide wie gestern ist, dass der Stuhl mich genauso sicher wie gestern tragen wird, dass das Auto genau wie gestern nicht auseinanderbricht, sondern mich zum meinen Ziel bringen wird. Und die Welt erweist sich gütigerweise als konstant, berechenbar und - was vielleicht noch wichtiger ist - als für unsere Lebensführung im Grunde genommen erstaunlich zuträglich. Die Fälle, wo der Gehsteig oder der Boden unter einem plötzlich einsinkt, sind glücklicherweise äußerst selten (und auch im Nachhinein erklärlich), Stühle zerbrechen äußerst selten, Autos (sogar Flugzeuge) gehen selten kaputt. Ob man dieses grundsätzliche, spontane, unterbewusste Vertrauen, die wir der Welt entgegenbringen können und entgegenbringen, als Instinkt (wie Schlick) oder als tiefen, unterbewussten Glauben an die Konstanz der Welt bezeichnet, ist hier weniger wichtig. Ohne dieses instinktive oder spontane Vertrauen in die Berechenbarkeit der Welt wäre das geordnete Leben nicht möglich. Jede Minute wäre von der Angst begleitet, dass uns im nächsten Moment etwas Unerwartetes und unter Umständen Schreckliches zustoßen könnte. Dieses Vertrauen ist uns ebenso wichtig wie die Luft. Die Suche nach der Antwort auf die erste und die dritte von Schlicks Fragen führt uns also zu der Einsicht, dass eine geordnete, konstante Welt für unsere Lebensführung und für unsere Wissenschaft unerlässlich ist. Wie steht es jedoch mit der zweiten Frage? Auf diese gibt Schlick eine erwartbare Antwort: Man müsse zugeben, dass induktive gewonnene Erkenntnisse nicht den Charakter der Gewissheit tragen, sondern nur wahrscheinlich seien (AE, S. 791), alle unsere Wirklichkeitserkenntnisse sind also streng genommen Hypothesen (AE, S. 792). Keine wissenschaftliche Wahrheit, mag sie historischer Art sein oder der exaktesten Naturforschung angehören, macht davon eine Ausnahme, keine ist im Prinzip vor der Gefahr sicher, irgendwann einmal widerlegt und ungültig zu werden. (AE, S. 792) 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 183 Dies sind, wie Schlick schreibt, „ wohlvertraute Dinge “ (AE, S. 792). Dieser Schluss mag dennoch überraschen, denn wie wir gesehen haben, suchte Schlick in seinem Werk die Möglichkeit, sichere Erkenntnis zu erlangen. Zu diesem Zweck hat er auch die Idee der impliziten Definitionen eingeführt, die die eindeutige Bestimmung der Begriffe garantieren sollten, mit dem Netzwerk der Begriffe argumentiert, die dank der günstigen Art sie zu definieren, die perfekte Deckung mit den empirischen Tatsachen definieren könnten, und später auch die strenge Art der Schlussfolgerung gemäß dem Modus Barbara (s. oben) für die einzige in der Wissenschaft zulässige erklärt. Deshalb erscheint das Zugeständnis, dass jede empirische (nicht begriffliche) Erkenntnis doch nur wahrscheinlich ist, wie eine Art Kapitulation und schafft eine gewisse Spannung mit dem ersten Teil des Werkes, der eben die Hoffnung aufkommen ließ, dass absolut gültige Erkenntnis erreichbar ist. Zum Schluss seiner Ausführungen stellt Schlick eine wichtige Frage: Wie ist es möglich, die ganze Welt in ihrem unendlichen Formenreichtum durch ein einfaches, durchsichtiges, aus einigen wenigen Elementen aufgebautes Begriffssystem zu bezeichnen und sozusagen auf eine Formel zu bringen (AE, S. 808)? Seine Antwort lautet: [W]eil die Welt selber ein einheitliches Ganzen ist, weil sich überall Gleiches im Verschiedenen in ihr findet. In diesem Sinne ist die Wirklichkeit ganz und gar rational, das heißt, sie ist objektiv so beschaffen, dass eine kleine Zahl von Begriffen ausreicht, sie eindeutig zu bezeichnen; es ist also nicht etwa erst unser Bewusstsein, das sie erkennbar macht. Indem wir die Zahl der begrifflichen Zeichen auf ein Minimum reduzieren, folgen wir dem eigensten Wesen und Gesetz des Wirklichen; deshalb eben ist diese Reduktion Erkenntnis der Wirklichkeit. (AE, S. 808f.) Man könnte meinen, dass diese Behauptung ebenso selbstverständlich ist wie die früheren Feststellungen über die praktische Notwendigkeit des Vertrauens in die Induktion oder den bloß hypothetischen Charakter der empirischen Erkenntnis. Das wäre jedoch etwas vorschnell angenommen. Ich habe bereits früher (s. oben) darauf hingewiesen, dass sich die hier von Schlick anvisierte Reduktion ohne Weiteres in der Geometrie oder vielleicht auch in der Arithmetik durchführen lässt, dass es aber eigentlich höchst umstritten ist, ob sich die Eigenschaften des geometrischen bzw. arithmetischen Raumes auf andere Erfahrungsgebiete übertragen lassen. Die Geometrie kann man von einem Ausgangspunkt aus systematisch aufbauen. Das Gleiche lässt sich bestimmt nicht über die Naturwelt sagen. Schlicks Überzeugung ist sicher nicht grundlos. Sein Glaube ist getragen von den Erfolgen der Newton ’ schen Mechanik, die eine unendliche Fülle von Phänomenen auf einige wenige Prinzipien zurückzuführen vermochte: alle Körper überall auf der Erde befolgen die drei Hauptgesetze der Newton ’ schen Mechanik und das Gravitationsgesetz. Heute feiert die Quantenmechanik ähnliche Triumphe. Diese erwecken den Anschein, dass sich nicht nur die Welt der physikalischen Phänomene: ob makro oder mikro ist hier unbedeutend, sondern auch andere 184 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Bereiche der Erfahrungswelt (die Welt der Lebewesen und die Welt der Menschen) auf einige wenige Prinzipien werden reduzieren lassen. Wir wissen aber, dass sich bereits in der Sphäre der rein physikalischen Phänomene nicht alle Gesetzmäßigkeiten auf die Newton ’ sche Mechanik reduzieren lassen. Elektrizität, Magnetismus, Licht, schließlich Phänomene im atomaren und subatomaren Bereich verlangen andere Erklärungsprinzipien. Wir wissen auch, dass man zur Erklärung der Eigenschaften von Mineralien gezwungen ist, ihre chemische Zusammensetzung, die sich von Mineral zu Mineral ändert, zu berücksichtigen. Aber auch dies reicht offensichtlich nicht, um die spezifischen Eigenschaften einer bestimmten Substanz erklären zu können. Steinkohle, Graphit und Diamant sind chemisch gesehen der gleiche Stoff. Um ihre Eigenart erklären zu können, muss man nicht nur ihre chemische Zusammensetzung berücksichtigen, sondern auch die strukturelle Beschaffenheit dieser Substanzen und die Eigenschaften des Kristallnetzes. Die Zahl der Erklärungsprinzipien wächst zwangsläufig, abhängig davon, welche Art der Eigenschaften man erklären will. Wenn ein beliebiges Mineral in die Luft geworfen wird, unterliegt es dem Gravitationsgesetz und anderen Gesetzen der Newton ’ schen Mechanik, diese aber sind unzureichend, um seine (chemischen) Eigenschaften zu erklären. Es ist logisch nicht auszuschließen, dass zur vollständigen Erklärung der Welt der Lebewesen noch andere als bloße chemische und strukturelle Prinzipien nötig sind. Es ist logisch auch nicht auszuschließen, dass die Zahl dieser Prinzipien mit der Komplexität der Phänomene nicht nur linear, sondern sogar exponentiell zunimmt. Jede Pflanzenart hat ihre spezifischen Eigenschaften, die sich von denen einer anderen Pflanzenart nicht ableiten lassen. Bis vor kurzem noch ging man davon aus, dass diese Eigenschaften auf die Eigenschaften der DNS zurückgeführt werden können. Dies scheint zunehmend unwahrscheinlich 133 , in jedem Fall aber muss die Entscheidung, ob eine solche Reduktion durchführbar ist, Sache eines empirischen Forschungsprogramms bleiben und kann nicht einem philosophischen Postulat überlassen werden. Die Annahme, dass sich das geometrische Denkmuster auf die ganze Wirklichkeit ausdehnen lässt, dass die Menschen in ähnlicher Weise ähnliche Gesetze befolgen wie die Steine, und nur solche Gesetze, ist in den Forschungsresultaten nicht begründet. Die Überzeugung, dass die Wirklichkeit objektiv so beschaffen ist, „ dass eine kleine Zahl von Begriffen ausreicht, um sie eindeutig zu bezeichnen “ , kann man deshalb nicht als ein wissenschaftliches Forschungsergebnis, sondern nur als einen Glaubensartikel einstufen. Betrachtet man die oben zitierte Feststellung Schlicks genauer, findet man leicht seinen Denkfehler mit weitreichenden Konsequenzen (Aufstellung des reduktionistischen Erkenntnisprogramms). Schlick geht davon aus, dass sich die ganze reiche, vielfältige und komplexe Welt auf einige wenige Erklä- 133 Wir werden uns dieser Frage ausführlich im Exkurs „ Können Gene Morphogenese erklären? “ zuwenden. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 185 rungsprinzipien werde zurückführen (reduzieren) lassen, weil die Welt „ ein einheitliches Ganzes “ sei und weil sich in ihr überall „ Gleiches im Verschiedenen “ finde. Man darf wohl sagen, dass die Welt der geometrischen Figuren einheitlich ist und dass sich in ihnen überall „ Gleiches im Verschiedenen “ findet, nämlich abstrakte Punkte. Es wäre jedoch absurd zu behaupten, dass sich die Eigenschaften eines Dreiecks, eines Kreises, eines Würfels, einer Kugel usw. von den Eigenschaften eines einzigen Punktes ableiten lassen. Der Übergang von der wahren Behauptung „ Alle geometrischen Figuren kann man als aus einfachen Punkten bestehend betrachten “ zu der Behauptung „ Man kann die Eigenschaften der geometrischen Figuren von den Eigenschaften des Punktes ableiten “ ist völlig willkürlich und unzulässig. Man hat stark den Eindruck, dass das, was sich für Schlicks Gedankengebäude letztendlich als verheerend erwiesen hat, seine ursprüngliche, und wie wir gesehen haben, völlig falsche Annahme bzw. Prämisse war, dass alles Erkennen nichts anderes sei als Wiedererkennen des Alten im Neuen. Wir werden auf die Gründe dieser seltsamen Verblendung im Kapitel „ Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft “ zurückkommen. Zusammenfassung Unsere Betrachtung von Schlicks erkenntnistheoretischem Hauptwerk kommt also zu einem überraschenden Resultat: der Kern von Schlicks empiristischem Programm, das einige Jahre später das Rückgrat des Programms des logischen Positivismus bildete, erweist sich als alles andere als voraussetzungslos, objektiv und rein empirisch begründet. Er beinhaltet zahlreiche erkenntnistheoretische und/ oder ontologische Annahmen (Begriffe seien bloße Zeichen, Erkenntnis sei Rückführung auf das Bekannte, Erkenntnis gebe es nur in Urteilen, die Tatsache sei eine Beziehung zwischen zwei Gegenständen, das Urteil sei ein Zeichen für die Tatsache, Intuition sei keine Erkenntnis, es gebe keine Substanzen in der Welt, nur Qualitäten, diese seien auf die Quantitäten zurückführbar, der Glaube an die Berechenbarkeit der Welt und der Glaube an ihre Reduzierbarkeit auf einige wenige einfache Prinzipien usw.), die scheinbar durch strenge Begründung gestützt sind, die sich aber bei genauerer Betrachtung als bloße persönliche Präferenzen entpuppen. Was bedeutet diese Einsicht? Wir haben gesehen, dass Schlick dem Programm der streng empirischen Wissenschaft ein solides erkenntnistheoretisches Fundament geben wollte. Wenn Erkenntnis ein Zurückführen auf das bereits Bekannte, Begriffe bloße Zeichen, die durch implizite Definitionen eindeutig bestimmt werden können, und Wahrheit nichts anderes ist als Eindeutigkeit der Zuordnung: Gegenstand/ Zeichen, dann ist die reduktionistische wissenschaftliche Vorgehensweise berechtigt. Dann scheint es natürlich, ja sogar notwendig, die sekundären Qualitäten auf die primären zurückzuführen und sie aus dem wissenschaftlichen Weltbild zu 186 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus eliminieren, dann brauchen wir uns nicht um irgendwelche unergründliche Tiefen der Welt kümmern, da die Welt nur die Oberfläche ist, die sie uns zeigt. 134 Wir haben gesehen, dass die von Schlick angebotene erkenntnistheoretische Begründung des reduktionistischen Paradigmas einen Fehlschlag darstellt. Was sich zunächst wie ein solides, ja monumentales Gebäude ausnahm, „ zerschmilzt vor den Strahlen der Analyse “ (AE, S. 256), um Schlicks eigene Worte zu gebrauchen, und zerfällt zu einem traurigen Trümmerhaufen. Dass die zugunsten einer Position angeführten Argumente falsch sind, bedeutet aber bekanntlich nicht, dass die Position selbst falsch ist. Sie kann auch anders, besser begründet werden. Aber gibt es denn andere und bessere erkenntnistheoretische und/ oder epistemologische Argumente für das reduktionistische Wissenschaftsprogramm des logischen Empirismus? Im Nachfolgenden werden wir bei Rudolf Carnap und Ludwig Wittgenstein nach ihnen suchen. 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt Intellektuelle Biographie Die nachfolgende Biographie Rudolf Carnaps basiert auf seiner „ Intellectual Autobiography “ , die in dem 1963 erschienenen XI. Band der Library of Living Philosophers, 135 der Carnap gewidmet war, veröffentlicht wurde (Schilpp 1963, S. 3 - 85). Die Betonung liegt also eindeutig, wie von Carnap gewünscht, auf seiner intellektuellen Entwicklung, und nicht der persönlichen. Die aber ist in seinem Fall von entscheidender Bedeutung. Carnap wurde 1891 in dem kleinen Dorf Ronsdorf in der Nähe von Barmen, heute ein Stadtteil von Wuppertal, geboren. Er war das letzte von zwölf Kindern. Sein Vater, der starb, als Carnap erst sieben Jahre alt war, stammte aus einer Familie armer Weber, brachte es aber zu einem wohlhabenden Fabrikbesitzer. Carnaps Mutter stammte aus einer akademischen Familie. Ihr Vater war ein bekannter Bildungsreformer und ihr ältester Bruder Wilhelm ein bekannter Archäologe, der zusammen mit Heinrich Schliemann die Überreste von Troja entdeckte (Creath 1998, S. 208). Carnap schreibt ferner, dass sich unter der Vorfahren der Mutter auch Lehrer, Pfarrer und Bauern befanden (Carnap 1963, S. 3). Dies ist insofern von Bedeutung, als er betont, dass seine Eltern tief religiös waren, insbesondere die Mutter, deren Glaube „ ihr ganzes Leben durchtrank “ (ebd.). Sie schärfte den Kindern ein, dass das Wesentliche an der Religion nicht so sehr das Akzeptieren eines Glaubensbekenntnisses sei, sondern das moralisch gute Leben. Die Überzeugungen des ihrer Mitmenschen waren für sie 134 Vgl. das „ Manifest “ der logischen Positivisten: „ In der Wissenschaft gibt es keine ‚ Tiefen ‘ ; überall ist Oberfläche “ (Manifest 1929, S. 11). 135 Diese Serie wurde ursprünglich von der Northwestern University publiziert, ab 1960 jedoch von der Open Court Publishing Company (Chicago, La Salle, Illinois). 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 187 ethisch neutral, solange sie ernsthaft die Wahrheit suchten. Carnap schreibt, dass diese Haltung ihn sehr tolerant gegenüber Menschen mit anderen Überzeugungen gemacht hat (ebd.). Carnap studierte an der Universität in Jena, später in Freiburg i. B., zunächst Physik und Mathematik, später Physik und Philosophie, wobei er betont, dass er seinen Interessen folgte, ohne Rücksicht auf Examen oder die berufliche Karriere. Einen besonderen Einfluss übte Gottlob Frege auf ihn aus, bei dem er in Jena symbolische Logik und die Grundlagen der Mathematik studierte. Frege war zu dieser Zeit praktisch unbekannt in Deutschland und es war offensichtlich - schreibt Carnap - , dass er zutiefst enttäuscht, manchmal sogar verbittert war über diese „ Totenstille “ , die ihn umgab. Kein Verlagshaus war bereit, sein Hauptwerk, die zwei Bände der Grundgesetze der Arithmetik, herauszubringen, sodass Frege das Buch auf eigene Kosten veröffentlichen lassen musste (ebd., S. 4). Im Herbst 1910 besuchte Carnap Freges Vorlesung „ Begriffsschrift “ über begriffliche Notation. Die Vorlesung fand kaum Resonanz bei den Studenten, für Carnap aber war sie prägend (ebd., S. 5). Er beschreibt Frege als eine altmodische Erscheinung, kleingewachsen, eher schüchtern und extrem introvertiert. Er schaute selten auf die Zuhörer und es gab keine Fragen oder Diskussion zu dem Vorgetragenen (ebd.). Im Sommersemester 1913 besuchte Carnap eine weitere Vorlesung von Frege: „ Begriffsschrift II “ . Carnap und sein Freund waren dabei die einzigen Zuhörer (ebd.). In dieser Vorlesung griff Frege häufig die Formalisten an, die Zahlen als bloße Symbole betrachteten. Einen offensichtlich großen Eindruck auf Carnap machte Freges Darstellung seiner Entdeckung des logischen Fehlers im ontologischen Beweis der Existenz Gottes (ebd., S. 6). Carnap schreibt, dass, obwohl er sich sehr für Freges System der Logik interessierte und Frege selbst sich der allgemeinen philosophischen Tragweite seines Werkes offensichtlich bewusst war, er, Carnap, die Bedeutung dieses Werkes erst nach dem Ersten Weltkrieg erkannte, als er die Arbeiten von Frege und Russell mit großer Aufmerksamkeit studierte. Im Sommer 1914 besuchte Carnap eine weitere Vorlesung von Frege: „ Logik in der Mathematik “ . In ihr prangerte Frege den Mangel an Präzision in den herkömmlichen Formulierungen von Axiomen, Definitionen und Beweisen in der Mathematik an (ebd.). Carnap schreibt, dass ihn die Physik von all seinen Studienfächern am meisten anzog und er 1913 mit experimentellen Forschungen in der Physik begann, die zur Dissertation führen sollten. Er entdeckte aber bald, dass er kein guter Experimentator war, zudem wurde der Professor, bei dem er studierte, in den ersten Tagen des Krieges getötet (ebd., S. 7). Carnap interessierte sich auch für andere Bereiche des Wissens, störte sich jedoch an der mangelnden Klarheit der Begriffserläuterungen und Gesetzesformulierungen und der großen Zahl von nur unzureichend verbundenen Fakten in diesen Disziplinen. 188 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Bereits während der voruniversitären Jahre begann er allmählich, an den religiösen Lehren zu zweifeln (ebd.). Denn wenn sie wörtlich genommen werden, schreibt er, sind sie mit der modernen Wissenschaft und besonders mit der Evolutionstheorie in der Biologie und mit dem Determinismus in der Physik unvereinbar. Er studierte eifrig die Arbeiten der Führer des Monistenbundes (Haeckel und Ostwald). Carnap fand zwar, dass diese Arbeiten keine ernstzunehmenden philosophischen Werke darstellten, aus der Sicht der Erkenntnistheorie waren sie sogar oft ziemlich primitiv (ebd.), dennoch sympathisierte er mit ihrem Beharren darauf, dass die wissenschaftliche Methode die einzige Methode zur Gewinnung von fundiertem, systematischem und kohärentem Wissen sei, und mit ihrem humanistischen Ziel, das in der Verbesserung der Lebensqualität der Menschen durch rationale Mittel bestand. Die Wandlung seiner grundlegenden Überzeugungen sei ein allmählicher Prozess gewesen. Zuerst löste er sich von allem Übernatürlichen in den religiösen Lehren. Christus betrachtete er nicht mehr als göttlich, sondern sah in ihm einen Menschen unter anderen Menschen, wenngleich auch einen großen Führer; später gab Carnap die Idee des persönlichen Gottes auf und ersetzte sie durch einen Pantheismus im Stile von Spinoza, den er aus der Perspektive Goethes wahrnahm. (Carnap schreibt, dass er Goethes Lebensweisheit hoch schätzte.) Dieser Pantheismus hatte eher ethischen als theoretischen Charakter. Bald erkannte Carnap aber, dass sich der Pantheismus als Doktrin nicht wissenschaftlich begründen lasse, da die Ereignisse in der Natur, einschließlich jener unter den Menschen und in der Gesellschaft, ein Teil der Natur seien und durch die wissenschaftliche Methode erklärt werden könnten, ohne dass dafür irgendeine Gottesvorstellung nötig sei. Zusammen mit dem Glauben an den persönlichen Gott gab Carnap auch den Glauben an die Unsterblichkeit als das Überleben einer persönlichen, bewussten Seele auf. Der wichtigste Faktor in dieser Entwicklung war, wie er schreibt, ein starker Eindruck von der Kontinuität in der wissenschaftlichen Sicht der Welt. Der Mensch entwickele sich allmählich, alle mentalen Prozesse seien eng mit dem Gehirn verbunden, wie könnten sie dann weiterbestehen, wenn der Körper zerfällt? (ebd., S. 8). So gelangte er allmählich zu einer klaren naturalistischen Auffassung: alles, was geschieht, ist Teil der Natur. Zu erklären blieb die Tatsache der Existenz von religiösen Überzeugungen. Hier orientierte sich Carnap an der Anthropologie und später an der Theorie Freuds. Weil er jedoch die positive Wirkung der Religion im Leben seiner Eltern unmittelbar erlebt hatte, bewahrte er sich die Achtung vor gläubigen Menschen. Auf dem gegenwärtigen Stand unserer Kultur brauchen viele Menschen nach wie vor religiöse und mythologische Symbole und Bilder, stellt er fest, deshalb sei es falsch zu versuchen, sie der Unterstützung, die sie von diesen Ideen erhalten, zu berauben oder sie gar lächerlich zu machen. Was die Theologie betrifft, war Carnaps Haltung eine völlig andere. Sie sei völlig unvereinbar mit dem wissenschaftlichen Denken der Gegenwart. Kirchliche Dogmen seien durch die Ergebnisse der Wissenschaft widerlegt 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 189 worden, lesen wir. Doch selbst wenn man die kruden wörtlichen Interpretationen der religiösen Urkunden ablehne und stattdessen eine raffinierte Neuformulierung akzeptiere, welche die theologischen Fragen außerhalb des Geltungsbereichs der wissenschaftlichen Methode stelle, so zeige sich, dass religiöse Dogmen den gleichen Charakter wie Aussagen der traditionellen Metaphysik haben: sie seien ohne jeglichen kognitiven Inhalt. Seit dieser Zeit war Carnap davon überzeugt gewesen, dass das Gleiche auch für die meisten Aussagen der gegenwärtigen christlichen Theologie gelte (ebd., 9). Zu keiner Zeit jedoch war Carnap den moralischen Fragen gegenüber nihilistisch eingestellt. Die Hauptaufgabe des Individuums schien seiner Ansicht nach in der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und der Schaffung von fruchtbaren und gesunden Beziehungen mit den Mitmenschen zu bestehen, was zur Zusammenarbeit bei der gesellschaftlichen Entwicklung führen und letztlich die gesamte Menschheit zu einer Gemeinschaft formen würde, in der jeder Einzelne die Möglichkeit habe, ein befriedigendes Leben zu führen und an den kulturellen Gütern teilzuhaben. Die Tatsache des Todes sei dabei kein Problem. Jeder gebe seinem Leben seine Bedeutung selbst, stelle sich die Aufgaben und kämpfe dafür, sie zu erfüllen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam für Carnap völlig überraschend. Der Wehrdienst stand im Gegensatz zu seiner ganzen Haltung, er akzeptierte ihn aber als eine notwendige Pflicht zur Rettung des Vaterlandes. Die allgemeine Tendenz seines Denkens war pazifistisch, antimilitaristisch, antimonarchistisch, vielleicht auch sozialistisch, schreibt er (ebd.). Der Krieg zerstörte mit einem Schlag seine Illusionen und die seiner Freunde, dass alles schon auf dem richtigen Weg war, der dauernden Fortschritt verhieß. Carnap bekennt, dass er und seine Freunde zu dieser Zeit sozialistische Neigungen hatten. Für sie waren die Arbeiterparteien in verschiedenen Ländern die einzigen großen Gruppierungen, die wenigstens einen Rest der Ziele des Internationalismus und der Antikriegshaltung bewahrt hatten. Carnap begann zu dieser Zeit den Zusammenhang zwischen der internationalen Ordnung und der Wirtschaftsordnung zu studieren und auch die Ideen der sozialistischen Arbeiterbewegung. Er und seine Freunden begrüßten die Novemberrevolution, zumindest als Befreiung von den alten Mächten. Sie begrüßten auch die Revolution in Russland. In beiden Fällen stellte sich jedoch bereits nach ein paar Jahren bei ihnen Ernüchterung ein: sie erkannten, dass die versprochenen hohen Ideale nicht verwirklicht wurden. Carnap schreibt auch, wie begeistert er von Einsteins Relativitätstheorie war und wie er versuchte, seine große intellektuelle Freude an ihr mit seinen Freunden zu teilen. Carnaps Arbeit in Philosophie begann um 1919, wie wir in seiner Autobiographie lesen (ebd., S. 10). Zunächst wirkte er in relativer Isolation, dann im Kontakt mit Hans Reichenbach und anderen. Nach vier Jahren Wehrdienst musste sich Carnap entscheiden: sollte er sich der Philosophie oder der Physik widmen? Sein Interesse galt beiden, er sah jedoch deutlich, dass ihm 190 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus die experimentelle Arbeit in der Physik nicht behagte, ihn zog es von Natur zur Theorie. Gleichwohl versuchte er, seine Interessen an der theoretischen Physik mit denen an der Philosophie zu verbinden. Ungefähr 1919 studierte er Whiteheads und Russells Principia Mathematica und von da ab wendete er in seinem eigenen Denken über philosophische Probleme oder bei der Formulierung des Axiomensystems die symbolische Notation zunehmend in der Principia-Form an, und nicht mehr in der Form Freges. Dann lesen wir diese bemerkenswerten Sätze: When I considered a concept or a proposition occurring in a scientific or philosophical discussion, I thought that I understood it clearly only if I felt that I could express it, if I wanted to, in symbolic language. I performed the actual symbolization, of course, only in special cases where it seemed necessary or useful. (Ebd., S. 11) Carnap begann mit der Ausarbeitung eines Axiomensystem für eine physikalische Theorie von Raum und Zeit, wobei er als Primitive zwei Relationen: Koinzidenz von Weltpunkten von zwei physischen Elementen und die zeitliche Relation T zwischen den Weltpunkten der gleichen physikalischen Elemente annahm. Dieses System sollte seine Dissertation werden. Er wurde mit seinem Vorhaben jedoch von Professor zu Professor weitergereicht, vom Physikinstitut zum Philosophieinstitut und zurück geschoben und stellte ernüchtert fest, dass man nicht als Brückenbauer begrüßt wird, wenn man zwei Interessen verfolgt, die an zwei verschiedenen der üblichen akademischen Abteilungen angesiedelt sind, sondern von beiden Seiten eher als Außenseiter und lästiger Eindringling angesehen wird. Schließlich hat er seine Dissertation (Der Raum 1921) zu einem anderen Thema verfasst. In ihr versuchte er zu zeigen, dass die Vielfalt der widersprüchlichen Theorien über die Natur des Raumes, die von Mathematikern, Philosophen und Physikern entwickelt wurden, darauf zurückzuführen ist, dass sie ganz verschiedene Themen behandeln, die sie mit dem gleichen Begriff „ Raum “ belegen. Die Philosophen, die den stärksten Einfluss auf Carnap hatten, waren Frege und Russell. Von Frege lernte er Sorgfalt und Klarheit in der Analyse der Begriffe und sprachlichen Ausdrücke, die Unterscheidung zwischen dem Ausdruck und dem, wofür er steht, und innerhalb dieser zwischen „ Bedeutung “ und „ Sinn “ . Er lernte von Frege auch, dass das Wissen in der Mathematik analytisch, also von gleicher Art wie in der Logik sei. Der größte Teil von Carnaps eigener Arbeit war zwar der reinen Logik und den logischen Grundlagen der Mathematik gewidmet, er legte jedoch großes Gewicht auf die Anwendung der Logik auf die nicht-logische Erkenntnis. Während Frege in der Logik und Semantik den stärksten Einfluss auf Carnap hatte, fiel diese Rolle im Bereich des philosophischen Denkens im Allgemeinen Russell zu. 1922 las Carnap Russells Our Knowledge of the External World, as a Field For Scientific Method in Philosophy. Im Vorwort spricht Russell über „ die logisch- 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 191 analytische Methode der Philosophie “ ; das Buch schließt mit einigen Feststellungen, die Carnap wörtlich zitiert: The study of logic becomes the central study in philosophy: it gives the method of research in philosophy, just as mathematics gives the method in physics. [. . .] All this supposed knowledge in the traditional systems must be swept away, and a new beginning must be made. [. . .What is needed] is the creation of a school of men with scientific training and philosophical interests, unhampered by the traditions of the past, and not misled by the literary methods of those who copy the ancients in all except their merits. (Russell 1972, S. 243 - 246, zitiert nach Carnap 1963, S. 13) Carnap schreibt, dass er diese Herausforderung von da an als „ Aufgabe für ihn persönlich “ erlebte. Er setzte seine Beschäftigung mit der symbolischen Logik in der Absicht fort, ein einschlägiges Lehrbuch zu verfassen. Da er sich eine Ausgabe der Principia Mathematica nicht leisten konnte und auch die Unibibliothek in Freiburg keine besaß, wandte er sich direkt an Russell mit der Bitte um Hilfe. Dieser schickte ihm eine 35 Seiten starke handschriftliche Fassung der wichtigsten Seiten des Werks! (ebd., S. 13). Für Carnap war Hans Reichenbach die Person, die ihm in seinen Ansichten am nächsten stand. Beide hatten ihre wissenschaftlichen Wurzeln ursprünglich in der Physik. Zunächst standen sie in brieflichem Kontakt miteinander, und im März 1923 kam es zur ersten Begegnung während einer kleinen wissenschaftlichen Konferenz in Erlangen. Diese befasste sich mit dem neuen Symbolismus in der Logik, mit der Theorie der metaphysikfreien Erkenntnis und mit der axiomatischen Methode in der Physik. Die Debatten waren hitzig, in dem Ziel aber wussten sich alle einig: die Entwicklung einer gesunden und genauen Methode in der Philosophie. Diese Konferenz zeigte, dass zahlreiche Menschen in Deutschland an diesem gleichen Ziel arbeiteten. Die Erlanger Tagung kann, so Carnap, als kleiner, aber wichtiger erster Schritt in der Entwicklung der wissenschaftlichen Philosophie in Deutschland gelten (Carnap 1963, S. 14). Nach dieser Tagung trafen sich Carnap und Reichenbach häufig. Reichenbach blieb im engen Kontakt mit den neusten Entwicklungen in der Physik und konnte sie Carnap erklären. Dieser setzte seine Arbeit an den Grundlagen der Physik fort. In einem Artikel über die Aufgabe der Physik (veröffentlicht 1923) betrachtete er das ideale System der Physik als dreiteilige Struktur: 1) grundlegende physikalische Gesetze als ein formales Axiomensystem; 2) phänomenal-physikalisches Wörterbuch, d. h. die Regeln der Korrespondenz zwischen beobachtbaren Eigenschaften und physikalischen Größen; 3) Beschreibung des physikalischen Zustands des Universums für zwei beliebige Zeitpunkte (man erkennt hier sofort die Kernideen des späteren logischen Positivismus) (ebd., S. 15). Aus ihnen wäre der Zustand der Welt zu jedem anderen Zeitpunkt ableitbar, meinte Carnap damals und räumt ein, dass er der Laplace ’ schen Form des Determinismus anhing. 1926 dann ist seine Monographie Physikalische Begriffsbildung erschienen, in der er die Form der Regeln 192 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus behandelte, die zur Spezifikation der quantitativen physikalischen Größen formuliert werden müssen. Er beschrieb die Welt der Physik als ein abstraktes System geordneter Quadrupel reeller Zahlen, zu denen die Werte bestimmter Funktionen koordiniert sind (ebd., S. 15f.). Den Hauptteil seiner philosophischen Arbeit in der Zeit von 1922 bis 1925 widmete Carnap den Überlegungen, aus denen heraus Der logische Aufbau der Welt entstanden ist (ebd., S. 16). Inspiriert durch Russells Beschreibung von Ziel und Methode der zukünftigen Philosophie unternahm Carnap zahlreiche Versuche zur Analyse der alltagssprachlichen Begriffe (welche die Dinge und ihre beobachtbaren Eigenschaften beschreiben) und zur Ausarbeitung von Definitionen dieser Begriffe mit Hilfe der symbolischen Logik. Wie er schreibt, ließ er sich dabei von psychologischen Fakten leiten, die die Bildung von Begriffen materieller Dinge aus Wahrnehmungen betrafen, sein eigentliches Ziel aber sei nicht die Beschreibung dieser Prozesse gewesen, sondern eher ihre rationale Rekonstruktion. Zunächst betrieb er die Analyse in der üblichen Weise: ausgehend von Komplexen zu immer kleineren Bestandteilen, z. B. von materiellen Körper zu augenblicklichen visuellen Felder, dann zu Farbflecken und schließlich zu einzelnen Positionen im Gesichtsfeld (Machs Elemente). Carnap schreibt, dass seine Vorgehensweise „ wahrscheinlich “ von Mach und den phänomenalistischen Philosophen beeinflusst war, [b]ut it seemed to me that I was the first who took the doctrine of these philosophers seriously. I was not content with their customary general statements like: „ A material body is a complex of visual, tactile, and other sensations “ , but tried actually to construct these complexes in order to show their structure. (Ebd, S. 16) Dieser Ansatz erfuhr später eine Änderung unter dem Einfluss der Gestaltpsychologie, die zeigte, dass die angeblich einfachen Sinnesdaten ein Ergebnis des Abstraktionsprozesses sind. Unter dem Einfluss dieser Sichtweise nahm Carnap statt der einzelnen Sinnesdaten die Elementarerlebnisse als die eigentlichen Elemente an (ebd., S. 17). Carnap schreibt weiter, dass er bei den Arbeiten am Aufbau realisierte, dass er in den Gesprächen mit seinen Freunden unterschiedliche philosophische Sprachen benutzte, insofern als er sich den Denkweisen des jeweiligen Gesprächspartners anpasste: materialistische, idealistische, nominalistische oder Freges Sprache der abstrakten Einheiten von verschiedenen Arten (ebd., S. 18). Manche seiner Freunde konnten sich damit nicht anfreunden oder sahen darin eine Widersprüchlichkeit. Carnap hatte im Laufe der Jahre erkannt, wie er sagt, dass seine Art zu denken neutral war, was die traditionellen Kontroversen anging: Realismus versus Idealismus, Platonismus versus Nominalismus, Materialismus versus Spiritualismus usw. (ebd.). Für ihn stellten sie nur Formen der Sprache dar, keine Formulierungen von Positionen. Deshalb verwendet er im Aufbau zur Beschreibung der „ Konstitution “ die neutrale Sprache der symbolischen Logik und drei weitere Sprachen: 1) Wortsprache; 2) realistische Sprache, die in den 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 193 Naturwissenschaften üblich ist; 3) Umformulierung der Definition als die Regel für die Anwendung des Konstruktionsprozesses, die von jedermann angewendet werden könnte, sei es Kants transzendentales Subjekt oder eine Rechenmaschine. Carnap deutet in seinem Buch auch die Möglichkeit der Verwendung der physikalistischen Basis an. Seine Haltung in Bezug auf das Problem der Basis empfand Carnap als ontologisch neutral (ebd., S. 18). Im Sommer 1924 lernte Carnap durch Reichenbach Schlick kennen. Dieser teilte Carnap mit, dass er ihn gern als Dozent in Wien hätte (ebd., S. 20). 1925 ging Carnap für kurze Zeit nach Wien und hielt einige Vorträge in Schlicks philosophischem Kreis. Von Herbst 1926 bis Sommer 1931 war er Dozent für Philosophie an der Universität Wien. Carnap schreibt, dass die Zeit in Wien für seine philosophische Arbeit einer der anregendsten, angenehmsten und fruchtbarsten Lebensabschnitte war (ebd.). Mit seinen Interessen und grundlegenden philosophischen Ansichten fühlte er sich im Wiener Kreis besser aufgehoben, als bei jeder anderen Gruppe, mit der er später je in Kontakt stand. Carnap freute sich auch über das rege Interesse, das sein Aufbau in Schlicks Kreis fand. Der Mathematiker Hans Hahn, der sich lebhaft für die symbolische Logik interessierte, zeigte sich besonders angetan; er habe immer gehofft, dass jemand Russells Programm einer exakten Methode der Philosophie mit den Mitteln der formalen Logik durchführen werde, und er begrüßte Carnaps Werk als die Erfüllung dieser Hoffnungen (ebd.). Das Bemühen um fruchtbare Zusammenarbeit wurde in jenem Kreis dadurch erleichtert, so Carnap, dass alle Mitglieder mit einigen Bereichen der Wissenschaft Erfahrung aus erster Hand hatten (ebd., S. 21). Dieser Umstand habe es ermöglicht, dass Klarheit und Verantwortung der Diskussionen ein höheres Niveau erreichten, als dass gewöhnlich in philosophischen Gruppen der Fall gewesen sei. Die Mitglieder des Kreises waren auch mit der symbolischen Logik vertraut, was es möglich machte, die Analyse von Begriffen oder Propositionen, die zur Diskussion standen, symbolisch darzustellen, wodurch die Argumentation präziser wurde. Darüber hinaus bestand unter den meisten Mitgliedern Einigkeit über die Ablehnung der traditionellen Metaphysik. Sie versuchten, die Begriffe der traditionellen Philosophie zu vermeiden und stattdessen jene der Logik, der Mathematik und der empirischen Wissenschaft zu verwenden oder jene Ausdrücke der Alltagssprache, die sich dennoch grundsätzlich in eine wissenschaftliche Sprache übersetzen ließen. Charakteristisch für den Kreis war die offene und undogmatische Haltung, aus der heraus die Diskussionen Carnap zufolge geführt wurden (ebd., S. 22). Jeder sei bereit gewesen, seine Ansichten einer Überprüfung zu unterziehen und sich ihrer Beurteilung durch andere zu stellen oder auch sie selbst zu prüfen. Der gemeinsame Geist war einer der Kooperation und nicht der Konkurrenz. Das von allen geteilte Ziel war es, im Kampf um Klärung und Einsichten zusammenzuarbeiten. Die angenehme Atmosphäre bei den Treffen des Kreises war vor allem Schlicks Persönlichkeit zu ver- 194 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus danken, seiner unermüdlichen Freundlichkeit, Toleranz und Bescheidenheit, stellt Carnap fest (ebd., S. 21). Mit seiner klaren, nüchternen und realistischen Denkweise übte Schlick häufig einen förderlichen und mäßigenden Einfluss auf die Diskussionen des Kreises aus. Manchmal warnte er vor einer übertriebenen These oder einer Explikation, die zu künstlich erschien, und appellierte an den, wie man sagen könnte, wissenschaftlich verfeinerten gesunden Menschenverstand. Alle Mitglieder des Kreises waren lebhaft am sozialen und politischen Fortschritt interessiert, die meisten von ihnen, darunter Carnap, waren Sozialisten. Ihre philosophische Arbeit wollten sie jedoch von ihren politischen Zielen getrennt halten (lediglich Neurath kritisierte diese Haltung). Hahn und Carnap waren auch an parapsychologischen Untersuchungen interessiert, Hahn nahm sogar aktiv an Séancen teil, weil er die Absicht verfolgte, strengere wissenschaftliche Methoden des Experimentierens einzuführen (leider ohne Erfolg, wie Carnap schreibt; ebd., S. 23). Neurath opponierte stark gegen diese Haltung. Er argumentierte, dass Séancen lediglich dazu dienten, den Supernaturalismus zu stärken und damit den politischen Fortschritt zu schwächen. Aber Hahn und Carnap verteidigten ihr Recht, alle Prozesse oder angeblichen Prozesse objektiv und wissenschaftlich zu untersuchen, ohne Rücksicht auf die Frage, ob die Ergebnisse von anderen verwendet oder missbraucht wurden. Ein weiteres Problem, das im Zentrum des Interesses des Kreises stand, war das Ideal der Einheitswissenschaft (mehr dazu s. unten: LP und Folgen). Dieses richtete sich gegen die scharfe Trennung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, welche damals in Deutschland üblich war. Das Ideal der Einheitswissenschaft sei insbesondere ein Anliegen Neuraths gewesen, hält Carnap fest (ebd., S. 23). Carnap gibt in seiner Autobiographie auch interessante Einblicke in das Verhältnis des Wiener Kreises zu Ludwig Wittgenstein. Er schreibt, dass der Tractatus während der Treffen des Kreises in langen Passagen laut vorgelesen und Satz für Satz diskutiert wurde (ebd., S. 24). Oft waren lange Überlegungen nötig, um herauszufinden, was gemeint war. Und manchmal fand man auch dann keine eindeutige Interpretation. Die Inhalte des Tractatus gaben Anlass zu lebhaften Diskussionen. Bezeichnend ist, dass Wittgenstein sich trotz des klar geäußerten Wunsches der Mitglieder des Kreises, die Interpretationsprobleme direkt mit ihm zu diskutieren, weigerte, an den Treffen des ganzen Kreises teilzunehmen. Nach mehrfachen Versuchen seitens Schlicks willigte er 1927 endlich ein, sich mit drei Mitgliedern zu treffen: Schlick, Carnap und Waismann (ebd., S. 25). Später (Anfang 1929) brach er auch den Kontakt mit Carnap ab, was dieser bedauerte (ebd., S. 27). Carnap macht klar, dass Wittgenstein einen starken Einfluss auf den Kreis ausübte, betont jedoch, dass man nicht davon sprechen könne, dass die Philosophie des Wiener Kreises einfach Wittgensteins Philosophie war. Die einzelnen Mitglieder waren unterschiedlich stark von Wittgenstein beein- 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 195 flusst. Für Carnap war Wittgenstein der Philosoph, der neben Russell und Frege den größten Einfluss auf sein Denken hatte. Wittgensteins wichtigste Erkenntnisse waren aus Carnaps Sicht, dass die Wahrheit logischer Aussagen nur auf ihrer logischen Struktur und auf der Bedeutung der Begriffe beruhe; dass sie unter allen Umständen wahr sind, also unabhängig von den kontingenten Tatsachen der Welt, und folglich keinen sachlichen Inhalt haben (ebd., S. 25). Eine weitere Idee Wittgensteins, die großen Einfluss auf Carnap ausübte, war die, dass die Sätze der traditionellen Metaphysik frei von kognitiven Inhalten seien (ebd., S. 25). Carnap schreibt, dass vor allem Schlick sehr stark von Wittgenstein beeinflusst wurde, und zwar sowohl philosophisch als auch persönlich. Während der nachfolgenden Jahre hatte Carnap manchmal den Eindruck, dass Schlick seine meist kühle und kritische Haltung aufgab und bestimmte Ansichten und Positionen von Wittgenstein akzeptierte, ohne in der Lage zu sein, sie durch rationale Argumente in den Diskussionen im Kreis zu verteidigen. Obwohl der Kreis also im Allgemeinen stark von Wittgenstein beeinflusst war, gab es auch „ Abweichler “ . So sei etwa Neurath war von Anfang an sehr kritisch gegenüber Wittgensteins mystischer Haltung eingestellt gewesen, seiner Philosophie des „ Unaussprechlichen “ und der „ höheren Dinge “ , wie Carnap festhält (ebd., S. 28). Der Hauptpunkt, in dem Carnap von Wittgenstein abwich, war die Einschätzung der Bedeutung der Mathematik. Wittgenstein betrachtete sie mit Gleichgültigkeit oder gar Verachtung, sein diesbezüglicher indirekter Einfluss auf einige Studenten in Wien war so stark, dass diese ihr Mathematikstudium aufgaben. Carnap hingegen schätzte die Mathematik sehr hoch. Die andere Abweichung betraf die Frage der Überlegenheit der Ideal- oder der Normalsprache. Wittgenstein hatte eine deutliche Vorliebe für die natürliche Sprache und eine skeptische, sogar teilweise negative Sicht auf die symbolische Sprache hinsichtlich der Klärung philosophischer Probleme. Carnap nahm in diesem Punkt eine andere Position ein. Er schreibt, dass die Mehrheit der britischen analytischen Philosophen die Ansicht Wittgensteins teilte, die Mehrheit der analytischen Philosophen in den USA dagegen die Ansicht des Wiener Kreises (ebd., S. 29). Carnaps Autobiographie gibt auch interessanten Aufschluss über die Kontakte des Wiener Kreises mit anderen Denkern. Als die philosophischen Gruppen, die dem Wiener Kreis am nächsten standen, nennt Carnap einerseits den Reichenbach-Kreis in Berlin (zu dem Carl G. Hempel gehörte) und andererseits die Warschauer philosophische Gruppe. In Warschau pflegte Carnap besonders enge Kontakte zu Alfred Tarski. Beide einte die Überzeugung, dass die formale Theorie der Sprache für die Klärung philosophischer Probleme von großer Bedeutung war. Im November 1930 weilte Carnap auf Einladung der Warschauer Philosophischen Gesellschaft für eine Woche in Warschau. Er führte Gespräche mit Tarski, Stanislaw Lesniewski und Tadeusz Kotarbinski. Carnap stellte dabei fest, dass die polnischen Philosophen eine sehr viel gründlichere und fruchtbarere Arbeit auf dem Gebiet 196 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus der Logik und ihrer Anwendung auf Grundprobleme vor allem in der Mathematik, der Erkenntnistheorie und der allgemeinen Theorie der Sprache geleistet hatten und bedauerte, dass diese Arbeit aufgrund der Sprachbarriere außerhalb von Polen so wenig bekannt war. In Wien pflegte Carnap außerhalb des Kreises Kontakte mit Kurt Gödel, und er hatte auch vergnügliche Diskussionen mit Karl Popper. Dessen Manuskript Logik der Forschung las er mit Interesse. Carnap zufolge war Poppers philosophische Grundhaltung der des Kreises ganz ähnlich, Popper hätte allerdings zur Überbetonung der Unterschiede geneigt. Schon als ein junger Autor habe Popper viele interessante Ideen produziert, die im Kreis diskutiert wurden (ebd., S. 31). Carnap berichtet dann von einem außergewöhnlichen Ereignis, das sich am Ende seines Aufenthaltes in Wien zutrug. Im Zuge der Diskussionen innerhalb des Wiener Kreises hatte er die Idee der logischen Syntax einer Sprache als rein analytische Theorie von der Struktur ihrer Ausdrücke entwickelt. Seine Denkweise war von den metamathematischen Untersuchungen Hilberts und Tarskis beeinflusst. Er hatte auch oft mit Gödel über dieses Problem gesprochen. 1930 schilderte Gödel Carnap seine neue Methode, die Zahlen mit Zeichen und Ausdrücken zu korrelieren, und stellte ihm gegenüber fest, dass er mit Hilfe dieser Methode der Arithmetisierung beweisen konnte, dass jedes formale System der Arithmetik unvollständig und unabschließbar sei (Gödels berühmter Unvollständigkeitssatz); 1931 veröffentlichte er das Ergebnis. Gödels Mitteilung wurde zu einem Wendepunkt in Carnaps Denken: After thinking about these problems for several years, the whole theory of language structure and its possible application in philosophy came to me like a vision during a sleepless night in January 1931, when I was ill. On the following day, still in bed with a fever, I wrote down my ideal on forty-four pages under the title “ Attempt at a metalogic ” . These shorthand notes were the first version of my book Logical Syntax of Language. (Ebd., S. 53) Von 1931 bis 1935 lebte Carnap in Prag, wo er den Lehrstuhl für Naturphilosophie in der naturwissenschaften Abteilung der Deutschen Universität innehatte. Das Leben in Prag sei einsamer gewesen als in Wien. Im Herbst 1934 verbrachte er mehrere Wochen in England. Auf Einladung von Susan Stebbing hielt er Vorlesungen an der University of London; dort ist er dann auch Bertrand Russell zum ersten Mal begegnet. Carnap zeigt sich in seiner Autobiographie tief beeindruckt von Russells Persönlichkeit, dem weitem Horizont seiner Ideen, der von den technischen Feinheiten der Logik bis zum Schicksal der Menschheit reichte, von seiner undogmatischen Haltung in theoretischen wie praktischen Fragen und von der hehren Perspektive, aus der er die Welt und die Handlungen der Menschen betrachtete (ebd., S. 33). Carnap führte bei dieser Gelegenheit auch Gespräche mit jüngeren Philosophen, wie z. B. Alfred Ayer (später einer der Hauptvertreter des logischen Empirismus in England). 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 197 Mit Beginn des Hitler-Regimes im Jahr 1933 wurde die politische Atmosphäre auch in Österreich und der Tschechoslowakei zunehmend unerträglich, schreibt Carnap (ebd., S. 34). Die Nazi-Ideologie breitete sich unter der deutschsprachigen Bevölkerung immer mehr aus, aber auch unter den Studierenden und sogar den Professoren. In Anbetracht dieser Entwicklung leitete Carnap Bemühungen ein, um zumindest für eine gewisse Zeit nach Amerika zu gehen. Er verließ Prag im Dezember 1935 und kam in die Vereinigten Staaten. Bereits 1934 hatte Carnap zwei amerikanische Philosophen kennengelernt, die zuerst Mitglieder des Wiener Kreises in Wien und dann ihn in Prag besucht hatten: Charles W. Morris von der University of Chicago und Willard Van Orman Quine von der Harvard University (ebd., S. 34). Beide waren vom Denken des Wiener Kreises stark angezogen und trugen später dazu bei, dass es in Amerika Verbreitung fand. Beide bemühten sich auch darum, es Carnap zu ermöglichen, nach Amerika zu kommen. Die University of Chicago bot ihm eine Dozententätigkeit für das Winter-Quartal 1936 an und dann eine Festanstellung, in der Carnap vom Herbst 1936 bis 1952 wirkte. Er war sehr glücklich darüber, sich in Amerika niederzulassen, und im Jahr 1941 wurde er amerikanischer Bürger. Er war nicht nur erleichtert, der erstickenden politischen und kulturellen Atmosphäre und der Gefahr eines Krieges in Europa entkommen zu können, sondern auch erfreut über das große Interesse, das insbesondere die jüngeren Philosophen in den USA der wissenschaftlichen und auf der modernen Logik beruhenden Methode der Philosophie entgegenbrachten, die er dort praktizierte (ebd.). Im Jahre 1937 konnte mit finanzieller Unterstützung der Rockefeller-Stiftung auch Carl G. Hempel als wissenschaftlicher Mitarbeiter Carnaps hinzugewonnen werden. Im Winter 1939 weilte Russell an der University of Chicago. Er bot ein Seminar an über Fragen nach Sinn und Wahrheit (das die Grundlage für sein Buch Inquiry into Meaning and Truth bildete). Carnap bewunderte bei dieser Gelegenheit Russells Fähigkeit, eine Atmosphäre zu schaffen, in der jeder Teilnehmer sein Bestes tat, um zu der gemeinsamen Aufgabe etwas beizutragen. Im August 1939 fand der Fünfte Internationale Kongress für die Einheit der Wissenschaft in Harvard statt, den u. a. auch von Neurath besuchte, der damals bereits in Holland lebte (ebd., S. 35). 1940/ 41 weilte Carnap als Gastprofessor in Harvard (ebd.). Während des ersten Semesters seines Aufenthaltes war auch Russell da, der die William- James-Vorlesungen hielt. Auch Tarski verbrachte dieses Jahr in Harvard. Zusammen mit anderen bildeten sie eine Gruppe, die sich der Diskussion von logischen Problemen widmete. Russell, Tarski, Quine und Carnap waren ihrer aktivsten Mitglieder. Carnap konnte in dieser Zeit viele private Gespräche mit Tarski und Quine führen, die sich meistens um den Bau der Wissenschaftssprache drehten. An einigen dieser Diskussionen nahm auch Nelson Goodman teil. Dieser hatte gerade seine Promotion mit einer ausgezeichneten Dissertation abgeschlossen. 1942 bis 1944 war Carnap mit einem 198 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Forschungsstipendium der Rockefeller-Stiftung ausgestattet. Er verbrachte diese Zeit in der Umgebung von Santa Fe in New Mexico. Bis 1952 wirkte er dann wieder in Chicago (mit Ausnahme des Frühjahrssemester 1950, das er als Gastprofessor an der University of Illinois in Urbana verbrachte). In der Zeit von 1952 bis 1954 weilte er am Institute of Advanced Study in Princeton, wo er sich voll und ganz der Forschung widmen konnte. In dieser Zeit konnte er wichtige Gespräche mit John von Neumann, Wolfgang Pauli und einigen Spezialisten der statistischen Mechanik zu einigen Fragen der theoretischen Physik führen. Es ergaben sich auch einige interessante Gespräche mit Albert Einstein. Carnap schreibt, dass Einstein sich Sorgen um das Problem des Jetzt (engl.: „ Now “ ) machte (ebd., S. 37). Einstein meinte, dass die entsprechenden wissenschaftlichen (psychologischen) Beschreibungen unmöglich unsere menschlichen Bedürfnisse befriedigen können, dass dass das Hier und Jetzt etwas an sich habe, das außerhalb des Bereichs der Wissenschaft liege. Carnap war der Meinung, Einstein unterschied einfach nicht zwischen Erfahrung und Wissen (ebd., S. 38). Im Jahre 1954, nach dem frühen Tod Reichenbachs, übernahm Carnap den Lehrstuhl an der University of California in Los Angeles, den Reichenbach früher innehatte. „ I was happy to see how much the spirit of scientific philosophy was alive among the philosophers at this university ” , heißt es bei Carnap (ebd., S. 39). Er hielt diesen Lehrstuhl bis 1961. Am 14. September 1970 starb er in Los Angeles (Creath 1998, S. 213). Creath würdigte Carnaps philosophische Leistungen in folgenden Worten: Carnap left a legacy of clarity of thought, philosophic achievement and personal kindness that has rarely been equalled. After a period of eclipse, his work has been partially ‘ rediscovered ’ , and it seems likely to inform and inspire succeeding generations of philosophers much as it had done throughout the middle third of the twentieth century. (Ebd.) Fazit Die Betrachtung von Carnaps „ intellektueller Autobiographie “ trägt meines Erachtens wesentlich dazu bei, den Einfluss des logischen Positivismus auf das Denken zahlreicher Philosophen und Wissenschaftler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besser zu verstehen. Denn wie aus dem oben Dargestellten hervorgeht, pflegte Carnap in seinem intellektuell gesehen außergewöhnlich reichen Leben enge Kontakte mit den „ besten Köpfen “ seiner Zeit, wobei diese Kontakte sich weit über die Grenzen des Wiener Kreises hinaus erstreckten. Nicht nur die Mitglieder dieses Kreises, sondern auch solch prägende Denker jener Zeit wie (in alphabetischer Reihenfolge) Alfred Ayer, Albert Einstein, Nelson Goodman, Kurt Gödel, Carl G. Hempel, John von Neumann, Wolfgang Pauli, Alfred Tarski, Karl Popper, Bertrand Russell, W. V. Quine und Ludwig Wittgenstein gehörten zu seinen Bekannten und beeinflussten ihn, wie auch sie von ihm beeinflusst wurden. Es drängt sich einem der Eindruck auf, dass sich in jener Zeit ein einzigartiges Netz an 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 199 intellektuellen Kontakten zwischen Denkern in verschiedenen Ländern und an verschiedenen Zentren des intellektuellen Lebens entwickelte und dass diese verschiedenen Menschen tatsächlich wie von einem gemeinsamen Geist getragen und beseelt waren. Diese einzigartige Koinzidenz im Denken dieser prägenden Persönlichkeiten ist meiner Ansicht nach der Grund für die außergewöhnlich starke Ausstrahlung und den entsprechend großen Einfluss der Ideen des Wiener Kreises wie des logischen Positivismus. Damals entstand etwas, das sich als ein Paradebeispiel dessen bezeichnen lässt, was Ludwik Fleck 1935 in seinem oben bereits erwähnten Werk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache als Denkkollektiv bezeichnete. Ob aber ein starkes, einflussreiches Denkkollektiv ein Garant für die Richtigkeit seiner Ansichten ist, das ist, wie wir bereits andeutungsweise gesehen haben ( „ Aufkommen “ ), fraglich. Der logische Aufbau der Welt 136 Bereits das Vorwort des Buches enthält wichtige Hinweise auf die Absichten, die Carnap mit seinem Werk verfolgt. Am Anfang nimmt er Bezug auf die Errungenschaften innerhalb der Logik in den letzten Jahrzehnten, die durch die Krisis in der Mathematik notwendig geworden waren, da die alte Logik in dieser Krise „ vollständig versagte “ , wie er schreibt, weil sie zu Widersprüchen geführt hatte (LA, S. III). Die neue Logik habe verständlicherweise zunächst im engeren Fachkreis der Mathematiker und Logiker Beachtung gefunden. Ihre hervorragende Bedeutung für die gesamte Philosophie würde immer noch wenig geahnt. Das Buch sei ein Schritt auf dem Wege, ihre Vorzüge auch auf diesem breiteren Felde zu würdigen. Es folgt eine zentrale programmatische Feststellung: Es handelt sich hier hauptsächlich um die Frage der Erkenntnislehre, 137 also um die Frage der Zurückführung der Erkenntnisse auf einander. Die Fruchtbarkeit der neuen Methode erweist sich dadurch, dass die Antwort auf die Zurückführungsfrage zu einem einheitlichen, stammbaumartigen Zurückführungssystem der in der Wissenschaft behandelten Begriffe führt, das nur wenige Wurzelbegriffe benötigt. Man wird erwarten, dass durch solche Klärung des Verhältnisses der Wissenschaftsbegriffe zueinander auch manche allgemeinere Probleme der Philosophie in ein neues Licht rücken. Es wird sich zeigen, dass einige Probleme durch die gewonnenen erkenntnistheoretischen Einsichten erheblich vereinfacht werden; andere enthüllen sich als bloße Scheinprobleme. Auf solche weitergehenden Folgerungen wird dies Buch nur kurz eingehen. Hier liegt noch ein weites, in großen Teilen unbebautes Feld, das der Bearbeitung harrt. (LA, S. III f.) 136 Im Weiteren LA (s. Kürzelverzeichnis). 137 Hervorhebung im Original, aber im Original nicht kursiv, sondern gesperrt gedruckt: „ d i e F r a g e . . . “ . Diese Bemerkung bezieht sich auch auf alle nachfolgenden Fälle von Hervorhebungen im Original, die stets durch den gesperrten Druck erfolgten, hier aber mit Kursivdruck wiedergegeben werden. 200 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Carnaps Vorwort beinhaltet noch viele andere aufschlussreiche Behauptungen. Mit diesen wie auch mit der Interpretation der obigen Passage werde ich mich erst in der Diskussion des Werkes (s. unten) befassen. Das Werk ist in fünf Hauptteile gegliedert: I. Einleitung: Aufgabe und Plan der Untersuchungen; II. Vorbereitende Erörterungen; III. Die Formprobleme des Konstitutionssystems; IV. Entwurf eines Konstitutionssystems; und schließlich V. Klärung einiger philosophischer Probleme auf Grund der Konstitutionstheorie. Als Motto für den ersten Abschnitt des Buches (I. A.) wählte Carnap Russells Diktum: „ The supreme maxim in scientific philosophising is this: Wherever possible, logical constructions are to be substituted for inferred entities “ (§ 1). 138 In diesem Abschnitt wird die Aufgabe des Werkes erörtert. Sie bestehe in der Aufstellung des „ Konstitutionssystems “ der „ Gegenstände oder der Begriffe “ (§ 1). Was meint Carnap damit? Wir sind bereits mit Schlicks (irriger) Idee vertraut, dass Erkenntnis ein Widerfinden des Alten im Neuen ist. Im Einklang mit dieser Idee meint Carnap, dass sich die Begriffe (oder wie er sie auch nennt, die „ Gegenstände “ [§ 1]) auf andere Begriffe (Gegenstände) zurückführen lassen. Dies sei dann möglich, wenn alle Aussagen über einen bestimmten Begriff (Gegenstand) sich in Aussagen über diese anderen Gegenstände (Begriffe) umformen lassen (§ 1). Die allgemeine Regel der Aussagenumformung für einen Begriff nennt Carnap „ Konstitution “ dieses Begriffes (§ 2). Das Ziel einer solchen Konstitution oder genauer eines „ Konstitutionssystems “ sei jedoch nicht bloß eine Zurückführung von gewissen Begriffen auf andere Begriffe, sondern eine solche Zurückführung, innerhalb derer eine Hierarchie, eine Art Stammbaum der Begriffe (Gegenstände) erstellt würde, die/ der es ermöglicht, die Vielzahl der höherstufigen auf eine geringe Zahl primärer Begriffe zurückführen (zu reduzieren). In der Idee des „ Konstitutionssystems “ kann man den Ursprung der Unterscheidung zwischen zwei Arten der Sprache (L O und L T ) sehen, die den Kern der endgültigen Formulierung des Programms des logischen Empirismus bildete (s. oben: „ Das Aufkommen des logischen Positivismus “ ). Als methodisches Hilfsmittel zur Konstruktion des „ Konstitutionssystems “ nennt Carnap die „ Logistik “ (oder formale Logik) und insbesondere ihren „ wichtigsten Zweig “ , die Relationstheorie (§ 3). Im ersten Abschnitt ( „ Über die Form wissenschaftlicher Aussagen “ ) des zweiten Teils des Werkes ( „ Vorbereitende Erörterungen “ ) entwickelt Carnap seine Theorie des Charakters wissenschaftlicher Behauptungen. Zunächst unterscheidet er zwischen den „ Eigenschaftsbeschreibungen “ und den „ Beziehungsbeschreibungen “ der „ Gegenstände “ eines Wissensgebietes (§ 10). Es sind die Letzteren, die er in seiner „ Konstitutionstheorie “ als grund- 138 Carnap gibt die Quelle dieser Maxime nicht an. Sie befindet sich im Aufsatz „ The Relation of Sense-data to Physics “ in Russells Mysticism and Logic and Other Essays, 1949, S. 155. 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 201 legender erachtet. Beziehungen können „ isomorph “ sein, stellt Carnap weiter fest. Sie haben diese seiner Auffassung nach wichtige Eigenschaft, wenn sie „ von gleicher Struktur “ sind, d. h. in den formalen Eigenschaften übereinstimmen, oder genauer: wenn sie eindeutig aufeinander abbildbar sind. Die Klasse isomorpher Beziehungen heiße ihre „ Struktur “ (§ 11). Eine Strukturbeschreibung werde entweder durch eine Pfeilfigur (wie in den physikalischen Kräftediagrammen) oder durch eine Nummernpaarliste gegeben. Carnap zufolge bildet die Strukturbeschreibung eines Gebietes die höchste Stufe der Formalisierung und „ Entmaterialisierung “ der Darstellung dieses Gebietes (§ 12); in der Zusammenfassung dieses Abschnitts am Ende des Buches formuliert er eine wichtige These: „ Die Darstellung der Welt in der Wissenschaft ist im Grunde eine Strukturbeschreibung “ (LA, S. 262). Carnap führt dann einen weiteren wichtigen Begriff ein, nämlich die „ Kennzeichnung “ eines Gegenstandes. Unter dieser versteht er dessen „ eindeutige Umschreibung “ , d. h. die Angabe der Parameter, anhand derer der gemeinte Gegenstand innerhalb eines Gegenstandsgebietes eindeutig erkannt werden kann (§ 13). In der Zusammenfassung dieser Stelle formuliert Carnap seine zweite wichtige These: „ Jeder Gegenstand der Wissenschaft kann innerhalb seines Gebietes durch bloße Strukturangaben gekennzeichnet werden “ (LA, S. 263). Aus dieser These leitet er einen ersten zentralen Schluss seines Werks ab: Die Umformung aller wissenschaftlichen Aussagen in Strukturaussagen sei (zumindest prinzipiell) möglich, sie sei aber auch nötig, wenn die Wissenschaft vom Subjektiven zum Objektiven vordringen solle, denn „ echte Wissenschaft ist stets Strukturwissenschaft “ (LA, S. 263, Hervorhebung im Original). Im Abschnitt B des II. Teils (§ 17 - 25) diskutiert Carnap die „ Gegenstandsarten “ und ihre Beziehungen. Er unterscheidet physische, psychische und geistige „ Gegenstände “ , wobei er unter den Letzteren die Objekte der Geisteswissenschaften bzw. Kulturwissenschaften versteht. Interessant an diesem Abschnitt ist vor allem seine Feststellung, das psychophysische Problem (d. h. die Beziehung zwischen den psychischen und den physischen „ Gegenständen “ ) sei das Zentralproblem der Metaphysik (§ 22). Im ersten Abschnitt (A) des III. Teils des Buches formuliert Carnap den Kern der für den logischen Positivismus zentralen Idee der Reduktion der Wissenschaften auf - letztendlich - die Physik ( „ Theoriereduktion “ s. oben, „ Aufkommen “ ): Das Ziel der Konstitutionstheorie besteht in der Aufstellung eines Konstitutionssystems, d. h. eines in Stufen geordneten Systems der Gegenstände (oder Begriffe); die Stufenordnung ist dadurch bestimmt, dass die Gegenstände jeder Stufe auf Grund der Gegenstände der niederen Stufe „ konstituiert “ sind in einem später genauer anzugebenden Sinne. (§ 26, LA, S. 34) Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts formuliert Carnap vier „ Hautprobleme der Konstitutionstheorie “ (§ 26): 1) Eine geeignete Basis müsse gefunden werden, die erste Stufe des Systems, auf die sich alle anderen gründen; 2) Die 202 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Formen des Überganges von einer Stufe zu einer anderen müssten bestimmt werden, wobei diese Formen für alle Übergänge gleich bleiben sollen; 3) Man müsse für die Gegenstände verschiedener Arten untersuchen, wie sie durch die schrittweise Anwendung der oben erwähnten Stufenformen konstituiert [definiert] werden können; 4) Schließlich müsse die Gesamtform des Systems bestimmt werden. Im § 27 führt Carnap den wichtigen Begriff des „ Quasigegenstandes “ ein. Im strengsten Sinne haben nur Sätze eine selbständige Bedeutung, stellt er fest. Innerhalb der Teilzeichen eines Satzes sei es jedoch sinnvoll, zwischen den Eigennamen und anderen Zeichen zu unterscheiden. Die Eigennamen ( „ Napoleon “ , „ Mond “ ) bezeichnen bestimmte einzelne, konkrete Gegenstände. Die übrigen Zeichen will Carnap nach Frege „ ungesättigte Zeichen “ nennen. Bei der ursprünglichen Verwendung der Zeichen dürfe an der Subjektstelle eines Satzes nur ein Eigenname stehen, die Sprache sei jedoch dazu übergegangen, auch Zeichen für allgemeine Gegenstände und auch andere ungesättigte Zeichen an der Subjektstelle zuzulassen, heißt es bei ihm weiter (LA, S. 35). Bei der uneigentlichen Verwendungsart werden also ungesättigte Zeichen so gebraucht, als ob sie einen Gegenstand so gut bezeichneten, wie Eigennamen das tun, und das, obwohl sie (ungesättigten Zeichen) für sich nicht bezeichnen. Weil diese Fiktion zweckmäßig sei, wolle Carnap sie beibehalten. Um den Fiktionscharakter einer solchen Redeweise deutlich vor Augen zu haben, solle jedoch von einem ungesättigten Zeichen nicht gesagt werden, es bezeichne einen „ Gegenstand “ , sondern es bezeichne einen „ Quasigegenstand “ . „ Ein Hund “ oder „ Hunde “ seien also Quasigegenstände, stellt Carnap fest (LA, S. 36). In diesem Abschnitt formuliert Carnap auch den Begriff der „ Aussagefunktion “ (§ 28). Diese entstehe, wenn in einem Satz (den Carnap als ein Zeichen der Aussage versteht) gewisse Kernbegriffe durch Variablen ersetzt werden, so wie es in einer mathematischen Gleichung üblich ist (§ 28). Der Begriff der Aussagefunktion ermöglicht ihm nun den Prozess der „ Konstitution “ der Gegenstände (Begriffe) präziser zu definieren: Ein Begriff a werde aus b und c konstituiert, indem seine „ konstitutionale Definition “ angegeben werde, d. h. „ eine Übersetzungsregel, die allgemein angibt, wie jede Aussagefunktion über a umgeformt werden kann in eine umfangsgleiche Aussagefunktion über b, c. “ (LA, S. 264, Zusammenfassung von § 35) Wenn es eine solche Regel gebe, so heiße a „ zurückführbar “ auf b, c. (§ 35) Gibt es in b, c einen zu a gleichbedeutenden Ausdruck, so heiße eine solche konstitutionale Definition „ explizite Definition “ , müsse hingegen für die ganzen Satzformen (Aussagefunktionen) in denen a vorkomme, eine Übersetzungsregel mit b, c gegeben werden, so heiße sie „ Gebrauchsdefinition “ (§ 39). Im Abschnitt B des III. Teils ( „ Die Systemform “ ) stellt Carnap die Frage, wie das Konstitutionssystem aufzubauen sei, damit alle wissenschaftlichen Gegenstände in ihm Platz finden (§ 46). Er interpretiert dann die Feststellung 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 203 „ a ist zurückführbar auf b, c “ als gleichbedeutend mit der Behauptung: „ Für jeden Sachverhalt in Bezug auf a lässt sich eine notwendige und hinreichende Bedingung angeben, die nur von b, c abhängt “ oder: „ Es gibt für a ein zugleich untrügliches und nie fehlendes Kennzeichen, das ausdrückbar ist durch b, c “ (Zusammenfassung von § 47 auf S. 265 in LA). Carnap formuliert dann die folgende wichtige Behauptung: „ Da die Wissenschaft für jeden Begriff (grundsätzlich) ein solches Kennzeichen angeben kann, so ist jeder wissenschaftliche Gegenstand konstituierbar “ (Zusammenfassung von § 48 und § 49 auf S. 265). Im § 57 des Abschnitts B (des III. Teils) stellt Carnap fest, dass alle physischen Gegenstände auf Sinnesqualitäten zurückführbar seien, aber auch umgekehrt alle psychischen auf physische, weshalb die Wahl der Basis eigentlich entweder im Physischen oder im Psychischen liegen könne. Carnap entscheidet sich dann für die „ eigenpsychische “ Basis (direkte Wahrnehmungen), weil eigenpsychische Phänomene ihm als erkenntnismäßig primär gegenüber physischen erscheinen ( „ fremdpsychische “ hingegen als sekundär zu diesen) (§ 58). Im ersten Teil des Abschnitts C des III. Teils (§ 61 - 74) diskutiert Carnap dann die Grundelemente der so gewählten Basis. Als solche betrachtet er die Mach ’ schen Sinnesempfindungen, 139 die er als „ Elementarerlebnisse “ bezeichnet (§ 67) und für unzerlegbare Einheiten hält (§ 68). Wir müssen uns mit diesen Ausführungen nicht ausführlich befassen, da Carnap bereits 1931 in seinem Aufsatz Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft zu den physischen Gegenständen als den primären Bezugsobjekten übergegangen ist. Im zweiten Teil des Abschnitts C (§ 75 - 83) behandelt er die Grundrelationen und kommt zu dem Schluss, dass ein Konstitutionssystem auf eigenpsychischer Basis mit nur einer Grundrelation, und zwar der der Ähnlichkeitserinnerung auskommen könne (§ 82). (Zwischen x und y besteht Ähnlichkeitserinnerung, wenn x und y Elementarerlebnisse seien, die durch Vergleich einer Erinnerungsvorstellung von x und y als teilähnlich erkannt werden, d. h. sie in einem Bestandteil annährend übereinstimmen (§ 78)). Abschnitt D des III. Teils (§ 84 - 94) ist der Frage gewidmet, in welcher Form die einzelnen Gegenstände zu konstituieren seien. Carnap schlägt hier vor, die „ Gegenstände “ nach den Sinnesgebieten zu ordnen (§ 85). Da er diese Sichtweise bereits drei Jahre später aufgegeben hat, kann man die entsprechende Diskussion überschlagen. Viel wichtiger ist Abschnitt E: „ Die Darstellungsformen eines Konstitutionssystems “ (§ 95 - 105). In ihm unterscheidet Carnap zwischen vier Arten der Sprache: die Grundsprache des Konstitutionssystems sei die symbolische Sprache der „ Logistik “ (formalen Logik) gemäß dem System Russell-Whitehead (§ 95). Die anderen drei Sprachen: Wortsprache (also die Umschreibung 139 Vgl. Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen (2008/ 1886). 204 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus der logischen Symbolik in Worten, § 98), realistische Sachverhaltssprache (also die gewöhnliche Sprache, § 98) und die Sprache der fiktiven Konstruktion (in welcher jede konstitutionale Definition als eine Operationsvorschrift in einem konstruktiven Verfahren ausgedrückt werde (§ 99)) dienen nur als „ erleichternde Hilfssprachen “ (§ 95). In der Zusammenfassung dieses Abschnitts (LA, S. 267) fügt Carnap hinzu, dass das Konstitutionssystem in einem Aufbau von Kettendefinitionen bestehe, unter denen er die Ableitung von gewissen Begriffen ( „ Gegenständen “ ) aus anderen versteht. Der IV. Teil des Werkes (§ 106 - 156) ist dem Entwurf eines Konstitutionssystems gewidmet. Auf die relevanten Aspekte dieses Teils werden wir in der Diskussion (s. unten) eingehen. Schließlich behandelt er im V. Teil (§ 158 - 165) einige philosophische Probleme, die sich durch die Konstitutionstheorie ergeben. Im Abschnitt A „ Einige Wesensprobleme “ (§ 158 - 165) erfahren wir, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen Individual- und Allgemeinbegriffen hinfällig sei. Der Unterschied zwischen diesen beiden Klassen bestehe lediglich darin, dass einem Individualbegriff ein zusammenhängendes Gebiet in der Raum-Zeit Ordnung entspreche, einem Allgemeinbegriff hingegen ein solches Gebiet in Bezug auf eine andere qualitative Ordnung. Vom logischen Gesichtspunkt aus seien die ersteren nicht einfacher oder einheitlicher als die letzteren (§ 158). Im § 160 stellt Carnap die Frage, worin das Wesen des Physischen, des Psychischen und des Geistigen bestehe. Und er antwortet, dass es sich bei ihren Gegenständen um Quasigegenstände (im oben erläuterten Sinn) handelt, um „ sprachliche Hilfsmittel zur Darstellung gewisser Zusammenhänge zwischen Erlebnissen “ . Es folgt eine Feststellung, die den Kern der für den frühen logischen Positivismus so charakteristischen Verifikationstheorie der Bedeutung bildet: Eindeutig beurteilbar ist nur die Wahrheit oder Falschheit eines Satzes, nicht die Bedeutung eines Zeichens, auch nicht eines Gegenstandszeichens. Die Angabe des Wesen eines Gegenstandes oder, was dasselbe ist, die Angabe der Bedeutung des Zeichens eines Gegenstandes, besteht deshalb in der Angabe von Kriterien der Wahrheit derjenigen Sätze, in denen das Zeichen dieses Gegenstandes auftreten kann. (§ 161, LA, S. 222, Hervorhebung im Original) Auf die Frage, ob es zwei wesentlich getrennte Gegenstandsarten gebe: physische und psychische (Leib-Seele Dualismus) antwortet Carnap im § 162, dass Physisches und Psychisches bloß verschiedene Ordnungsformen von Grundelementen darstellen und wie verschiedene Sternbilder aus gleichen Elementen (Sternen) zusammengesetzt sind (LA, S. 224). Er stellt ferner fest, dass das Ich bloß eine Klasse der Erlebnisse (oder eigenpsychischen Zustände) sei (§ 163) und die Kausalität bloß eine funktionelle Abhängigkeit (§ 165). „ Daher verlieren die Begriffe ‚ Ursache ‘ und ‚ Wirkung ‘ , die schon in den unstrengen Gesetzen der Wahrnehmungswelt ihre anthropomorphe ‚ Wirkens ‘ -Bedeutung verloren haben, hier in der physikalischen Welt überhaupt jede Bedeutung “ (LA, S. 271, Zusammenfassung von § 165). 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 205 Im Abschnitt B des V. Teils befasst sich Carnap mit dem psychophysischen Problem (§ 166 - 169). Die sog. psychophysische Parallelität bestehe zwischen einer eigenpsychischen Erlebnisreihe und den beobachteten Vorgängen des eigenen Gehirns. Es handle sich also hier nicht um eine Parallelität zwischen grundsätzlich verschiedenen Phänomenen, sondern zwischen Reihen von Erlebnisbestandteilen. Eine solche sei nicht überraschend, sie komme häufig vor (§ 168). In der Wissenschaft könne diese Parallelität nur festgestellt werden, die Deutung dieses Befundes gehöre zur Metaphysik. In der Wissenschaft (d. h. mit wissenschaftlichen, konstituierbaren Begriffen) könne nicht einmal die Frage nach diesem metaphysischen Problem ausgesprochen werden. Dies bedeute jedoch keine Lücke in der Wissenschaft (§ 169). Die Abschnitte C und D des V. Teils befassen sich mit dem Wirklichkeitsproblem der Konstitutionstheorie (C: Das konstitutionale oder empirische Wirklichkeitsproblem; D: Das metaphysische Wirklichkeitsproblem) Die Unterscheidung zwischen einem „ wirklichen “ und einem „ unwirklichen “ d. h. bloß gedachten, erlogenen usw. Ding behalte ihre Gültigkeit auch innerhalb des Konstitutionssystems mit eigenpsychischer Basis (§ 170). Was das metaphysische Wirklichkeitsproblem betrifft (die Frage der Existenz der Wirklichkeit unabhängig vom erkennenden Bewusstsein), so argumentiert Carnap, dass die drei (damals vorherrschenden) erkenntnistheoretischen Richtungen: Realismus, Idealismus und Phänomenalismus innerhalb des Gebiets der Erkenntnistheorie übereinstimmen. Die Konstitutionstheorie stelle das gemeinsame, neutrale Fundament dieser drei Weltauffassungen dar. Die für Physiker typische Neigung zum Realismus solle durch einen „ Objektivismus “ ersetzt werden: die gesetzmäßigen Zusammenhänge seien objektiv in dem Sinne, dass sie dem Willen des Einzelnen enthoben seien. „ [D] agegen würde die Zuschreibung der Eigenschaft ‚ real ‘ an irgendeine Substanz (sei es nun Materie, Energie, elektromagnetisches Feld oder was immer) aus keiner Erfahrung herzuleiten, also metaphysisch sein “ (§ 178, LA, S. 250). Schließlich befasst sich Carnap in Abschnitt E des V. Teils (§ 179 - 183) mit den Aufgaben und Grenzen der Wissenschaft. Die Zusammenfassung seiner einschlägigen Überlegungen am Ende des Werks ist an Präzision und Kompaktheit kaum zu überbieten: Die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, die wahren Aussagen zu finden und zu ordnen; das geschieht erstens durch den Aufbau des Konstitutionssystems, d. h. die Einführung der Begriffe, und zweitens durch die Feststellung der empirischen Zusammenhänge zwischen diesen Begriffen (179). Es gibt in der Wissenschaft keine grundsätzlich unbeantwortbare Frage. Denn jede Frage besteht in der Aufstellung einer (als wahr oder falsch festzustellenden) Aussage. Jede Aussage ist aber grundsätzlich übersetzbar in eine Aussage über die Grundrelation. Und jede solche Aussage ist grundsätzlich am Gegebenen verifizierbar (180). Glaube und Intuition im irrationalen (z. B. religiösen) Sinne haben es nicht mit dem Unterschied wahr-falsch zu tun, gehören also nicht zum theoretischen Gebiet, zu dem der Erkenntnis (181). Verstehen wir (wie auch viele Metaphysiker) unter „ Metaphysik “ 206 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus nicht die Lehre von den logisch untersten oder von den höchsten wissenschaftlichen Erkenntnissen ( „ Grundwissenschaft “ bzw. „ Weltlehre “ ), sondern ein Gebiet reiner Intuition, so hat Metaphysik mit Wissenschaft, mit dem Gebiet des Rationalen, nichts mehr zu tun; es kann zwischen beiden weder Bestätigung noch Widerspruch geben (182). Die dargelegte Auffassung ist kein Rationalismus, dass sie reine Rationalität nur für die Wissenschaft fordert; für das praktische Leben dagegen werden Existenz und Bedeutsamkeit der übrigen, der irrationalen Sphären anerkannt (183). (LA, S. 272 f, Hervorhebung im Original) Diskussion Carnaps Werk ist äußerst präzise, dicht und kompakt geschrieben. Die allgemeine Ausrichtung seines Aufbaus ist klar: es handelt sich um die Erstellung einer Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis, die es ermöglichen sollte, eine vollkommen präzise und objektive Erkenntnis der Welt zu erlangen. Eine solche Erkenntnis soll auch streng empirisch sein. Selbst Begriffe wie „ Materie “ , „ Energie “ , „ Ursache “ sollten eliminiert werden. Dazu müsste die reiche Wirklichkeit der Sinneswelt umgeformt werden, an die Stelle der realen Gegenstände sollten abstrakte Symbole treten. Denn nur sie könnten Garanten der Präzision der Erkenntnis sein. Hat Carnap das von ihm anvisierte Ziel im Aufbau erreichen können? Im Nachfolgenden werde ich einige Kernpunkte seiner Ausführungen genauer unter die Lupe nehmen. Es wird sich bald zeigen, dass die genaue Analyse des ganzen kompakten Werks den Rahmen der vorliegenden Untersuchung völlig sprengen würde. Bereits im „ Vorwort “ zum Aufbau erkennt man, dass in dieses Werk die Ergebnisse von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre eingeflossen sind. Erkenntnis sei Zurückführung der Erkenntnisse aufeinander (bei Schlick hieß es: des Neuen auf das Alte), das Ideal sei ein „ Zurückführungssystem “ , das mit möglichst wenig „ Wurzelbegriffen “ operiere (Schlick sprach auch von möglichst wenigen Axiomen). Carnap ergänzt Schlick um die Vorstellung des „ stammbaumartigen “ Systems, die jedoch wohl bereits von Schlick impliziert wurde. In meiner Diskussion von Schlicks diesbezüglichen Ideen habe ich diese Art des Denkens als „ geometrisierend “ bezeichnet und habe in Frage gestellt, ob sie zum Begreifen des Reichtums der Phänomene der Naturwelt adäquat ist. Interessanterweise ergeben sich für Carnap an dieser Stelle bereits keine Zweifel. Dieses Ideal bedarf keiner Begründung mehr; es wird als selbstverständlich angenommen. Die Naturwelt wird als eine Welt vorgestellt, die der Welt der Geometrie entsprechend aufgebaut ist: so wie diese sich prinzipiell von einem Punkt im Raume aus allmählich aufbauen lasse, so wird auch mit Blick auf die Naturwelt angenommen, dass sie auf einige wenige „ Stammbegriffe “ zurückführbar sei. Bereits hier begegnen wir also stark kontraintuitiven ontologischen Vorstellungen, die als unhinterfragte Prämissen in das Gedankengebäude eingehen und es stützen. Nachdem wir gesehen haben, was mit Schlicks feinem Gedanken- 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 207 gebäude geschehen ist, als wir seine Grundprämissen in Frage stellten, wie es wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel, lässt sich bereits an dieser Stelle erahnen, dass Carnaps Ausgangspunkt zu ähnlichen grundsätzlichen Schwierigkeiten wird führen müssen. Im Weiteren betont Carnap, dass sich seine Gedanken von einer Schicht von „ tätig oder aufnehmend Mitarbeitenden “ getragen fühlen, denen eine gewisse „ wissenschaftliche Grundeinstellung “ gemeinsam ist (LA, S. IV). Diese besteht in der „ Abkehr von traditioneller Philosophie “ . Die neue Art des Philosophierens, heißt es weiter, ist entstanden in enger Berührung mit der Arbeit in den Fachwissenschaften, besonders in der Mathematik und Physik. (Und hier kommt eine weitere nicht nur epistemologische, sondern sogar ontologische Annahme zum Tragen: die Ergebnisse, Erfolge, vor allem aber die Methoden dieser Wissenschaften lassen sich ohne Weiteres auf die anderen Felder übertragen.) Folge der Anlehnung an die Mathematik und Physik sei es, dass die strenge und verantwortungsbewusste Grundhaltung des wissenschaftlichen Forschers auch als Grundhaltung des philosophisch Arbeitenden erstrebt wird, während die Haltung des Philosophen alter Art mehr der eines Dichtenden gleicht. (LA, S. IV) Diese Feststellung ist sehr bemerkenswert. Wir wissen, dass Aristoteles noch im Mittelalter als die höchste Autorität und als ein Paradigma des strengen Denkens galt. Wir wissen auch, dass Denker wie Descartes, Locke, Spinoza, Leibniz oder Kant sich bemüht haben, ihre Systeme in strengen Gedankengängen zu entwickeln, auch wenn ihnen das nicht unbedingt immer ganz gelang. Jetzt aber erfahren wir, dass alle diese Denker die reinsten „ Kindsköpfe “ waren, die sich bestenfalls aufs Dichtens, jedenfalls weniger auf richtiges, rationelles Denken verstanden, und dass endlich mit Carnap und seinen Freunden eine neue „ Welle “ von Denkern aufkomme, die endlich fähig sein würden, mit den „ Märchen “ der „ Kindsköpfe “ Schluss zu machen, den „ Stall des Augias “ der alten Philosophie auszumisten und dort, wo bis jetzt Dunkelheit und Schmutz herrschten, helles Licht einströmen zu lassen. Man hat den Eindruck, dass es den „ neuen Denkern “ zwar nicht an Selbstvertrauen und Glauben in die eigene messianische, ja prophetische Berufung fehlte, dass es ihnen aber doch vielleicht an Respekt für die Errungenschaften früherer Generationen mangelte. Die „ neue Art des Philosophierens “ beinhaltet also einen neuen Denkstil, aber auch eine neue Aufgabenstellung: der Einzelne übernimmt nicht mehr die Aufgabe, ein ganzes Gebäude der Philosophie zu errichten. Es wird eine Art „ Arbeitsteilung “ eingeführt: jeder arbeitet an seinem Teilbereich innerhalb einer Gesamtwissenschaft. Diese Feststellung ist ebenfalls bemerkenswert und zwar aus drei Gründen. Zum einen wird hier der Tatsache Rechnung getragen, dass sich die Wissenschaften so weit entwickelt haben, dass kein Mensch imstande ist, ihre Gesamtheit zu umfassen. Dies scheint 208 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus eine notwendige Folge des wissenschaftlichen Fortschritts zu sein: kein Universalgenies, sondern Spezialisten sind in der modernen Wissenschaft gefragt. Heute sind wir entsprechend weiter auf diesem Wege fortgeschritten und erleben ein ungeheuer weit fortgeschrittenes Spezialistentum, in dem es durchaus möglich, ja zunehmend notwendig ist, sich das ganze Forschungsleben lang einem kleinen Problem zu widmen. Heute wird offiziell anerkannt, dass „ [we] are increasingly specialists in very small fields ” (Nature 2012, S. 415). Es ist allerdings nicht schwer, sich die negativen langfristigen Konsequenzen dieses Prozesses auszumalen. Die Welt sei eine Einheit und müsse als eine Einheit oder Ganzheit verstanden werden: doch wenn die einzelnen Forscher sich auf die Erforschung der einzelnen Staubkörnchen spezialisiert haben, wer wird dann imstande sein zu sagen, welche Eigenschaften der Berg hat? Und wenn die einzelnen Forscher sich auf die Erforschung einzelner Organellen spezialisiert haben, wer wird dann imstande sein zu sagen, wie der ganze Körper funktioniert? Zweitens wird hier der Begriff der „ einen Gesamtwissenschaft “ eingeführt, der, wie wir bereits gesehen haben, eines der Kernanliegen des logischen Positivismus bildete. Dies ist die Überzeugung, welche als eine logische Folge des Diktums der Zurückführbarkeit der komplexeren Phänomene (und konsequenterweise auch der Begriffe) auf die einfacheren, angeblich grundlegenderen, erachtet werden kann. Ist diese These erst einmal gebilligt, scheint es unvermeidlich, dass die komplexeren Entitäten - wie wir es im Fall von Schlick mit den „ sekundären Qualitäten “ und etwa den psychischen Phänomenen gesehen haben - aus dem wissenschaftlichen Weltbild eliminiert werden und der Versuch unternommen wird, sie auf die Ebene der - letztendlich - Physik zu reduzieren (wir erinnern uns daran, dass Schlick es als Ideal betrachtete, langfristig „ die introspektive Psychologie in eine physiologische, naturwissenschaftliche, in letzter Linie in eine Physik der Gehirnvorgänge, überzuführen “ (Allgemeine Erkenntnislehre, S. 633f.)). In der Tat könnte man sagen, dass Carnaps diesbezügliche Überlegungen lediglich „ das Tüpfelchen auf dem i “ von Schlicks Ausführungen sind. Denn wenn die Rückführung einer höheren auf die jeweils elementarere Ebene für alle Phänomene leistbar scheint (sagen wir: Soziologie auf Psychologie, Psychologie auf Neurobiologie, Neurobiologie auf Chemie, diese schließlich auf Physik) dann folgt daraus zwingend, dass die Methoden der Physik für die Erforschung des ganzen Spektrums der Weltphänomene angemessen und ausreichend wären. Konsequent zu Ende gedacht, würde dies aber bedeuten, dass sich nicht nur Psychologie und Soziologie, sondern auch Geschichte, Archäologie, Ethnologie, Sprachwissenschaften, Pädagogik, Kunstwissenschaft, Nationalökonomie usw. usf. auf die Physik reduzieren lassen sollten. Es ist heute, mehr als 80 Jahre nach der Geburt dieses Ideals, wirklich schwer zu verstehen, wie eine dermaßen absurde Vorstellung sich in „ den Köpfen “ sehr intelligenter Wissenschaftler hatte einnisten können. 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 209 Und schließlich ist es drittens interessant festzustellen, dass Carnap hier von Philosophie spricht, von der neuen Art des Philosophierens, und nicht bloß der neuen Art Wissenschaft zu betreiben. Damit räumt er ein, dass der Philosophie auch in seiner „ neuen Welt “ eine gewisse Rolle zukommt. Diese Rolle muss zudem nicht als besonders kleine gedacht werden. Denn stellt man sich die Frage, ob Carnaps Ausführungen im Aufbau eine wissenschaftliche oder eine philosophische Tätigkeit darstellen, so muss man doch festhalten, dass sie der letzteren Kategorie angehören. Somit erweist sich Philosophie (im traditionellen Sinne) als auch im Carnap ’ schen System der Wissenschaft vorhanden, obschon er sie eigentlich durch die Wissenschaft ersetzen wollte (LA, S. III). Es ist nicht klar, ob sich Carnap dieser Konsequenz seines Systems bewusst war. Der Vorteil der oben erwähnten Arbeitsteilung ist es, so Carnap, dass durch die Kumulation der Anstrengungen der Einzelnen ein Gesamtbau errichtet wird, der sicher ist: „ So wird sorgsam Stein zu Stein gefügt und ein sicherer Bau errichtet, an dem jede folgende Generation weiterschaffen kann “ (LA, S. IVf). Auch diese Feststellung ist bemerkenswert, denn wie wir bereits gesehen haben, war die letzte Schlussfolgerung von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre die, dass in den „ Wirklichkeitswissenschaften “ keine absolut sichere Erkenntnis möglich sei. Schlicks Behauptung ist richtig, sie hat einen rein logischen Charakter (induktiv erreichte Sätze sind nur wahrscheinlich, nie aber „ apodiktisch “ richtig) und ist von der Zahl der mittuenden Wissenschaftler völlig unabhängig. Man könnte aufgrund der Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung sogar behaupten, dass, je mehr Sätze von nur beschränkter Wahrscheinlichkeit in einer Schlussfolgerungskette voneinander abhängig sind, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit der letzten auf sie gestützten Schlussfolgerung. Darum ist es bemerkenswert, dass das Ideal der sicheren Erkenntnis Carnap offensichtlich immer noch vor Augen schwebt. Er äußert sich jedoch nicht dazu, woher er seine Zuversicht nimmt. Aus der Forderung nach Rechtfertigung und „ zwingender Begründung “ (LA, S. V) einer jeden These ergibt sich Carnap zufolge die Ausschaltung des „ spekulativen, dichterischen Arbeitens der Philosophie. “ Man müsse „ die ganze Metaphysik aus der Philosophie [. . .] verbannen, weil sich ihre Thesen nicht rational rechtfertigen lassen. “ Auch diese Forderung ist sehr interessant. In der Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre haben wir festgestellt, dass sein Werk zahlreiche metaphysische Annahmen voraussetzt: Begriffe seien bloße Zeichen, eine Tatsache sei eine Beziehung zwischen zwei Gegenständen, ein Urteil sei ein Zeichen für die Tatsache, es gebe keine Substanzen in der Welt, nur Qualitäten usw.). Wir haben bereits gesehen, dass auch Carnap mit ontologischen Annahmen operiert: die Welt sei letztendlich einfach, die komplexeren Gebiete lassen sich auf die einfacheren, elementareren zurückführen. Wir werden bald auch Carnaps anderen ontologischen Annahmen begegnen. Es ist offensichtlich, dass die Mitglieder des „ Wiener 210 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Kreises “ sich dessen nicht bewusst waren, dass sie keineswegs die Metaphysik aus der Philosophie oder Wissenschaft erfolgreich eliminiert, sondern dass sie eine bestimmte Metaphysik durch eine andere (nominalistische, reduktionistische, letztendlich materialistische) ersetzt hatten. Diese Blindheit hat bis heute fatale Konsequenzen für den Dialog zwischen den Vertretern der „ orthodoxen “ oder „ Mainstream “ -Wissenschaft und den Vertretern anderer Erkenntnisrichtungen. Jene unterliegen bis heute unter der Illusion, dass die orthodoxe Wissenschaft auf rein rationalen Überlegungen aufgebaut sei, während sie in Tat und Wahrheit zahlreiche metaphysische Annahmen dogmatisch, unreflektiert akzeptiert, was zu wesentlichen Verzerrungen der Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung führen kann. Wir werden zu diesem wichtigen Thema an einer späteren Stelle dieses Buches zurückkehren. 140 Jede wissenschaftliche These müsse sich rational begründen lassen, das bedeute aber nicht, so Carnap weiter, dass sie auch rational gefunden werden müsse. Grundeinstellung und Interessenrichtung entstehen nicht durch Gedanken, sondern seien durch Gefühl, Trieb, Anlage und Lebensumstände bedingt. Das gelte auch für Physik und Mathematik. Entscheidend für die Wissenschaft sei jedoch, dass die Begründung ihrer Thesen nichts Irrationales an sich habe, sondern stets rein empirisch-rationalen Charakters sei. [D]as Finden neuer Lösungen muss nicht rein denkmäßig geschehen, sondern wird immer triebmäßig bestimmt sein, wird anschauungsmäßige, intuitive Mittel verwenden. Aber die Begründung hat vor dem Forum des Verstandes zu geschehen; da dürfen wir uns nicht auf eine erlebte Intuition oder auf Bedürfnisse des Gemütes berufen. (LA, S. V, Hervorhebung im Original) Diese These, wie bereits die Betonung des sozialen, kollektiven Charakters des Wissenschaftsbetriebs, muss heute als hellsichtig erscheinen. Denn es war erst in den 30er Jahren, dass Reichenbach und Popper unabhängig voneinander und ohne Bezug auf Carnap die Unterscheidung zwischen dem Entdeckungs- und dem Begründungszusammenhang eingeführt haben: also dem Schritt der Forschung, der sich einerseits auf die Entdeckung der neuen Zusammenhänge, Theorien, Gesetzmäßigkeiten richtet und der keineswegs den Regeln der Vernunft unterworfen zu sein braucht (man kann eine zündende Idee erträumen), und jenem, der sich auf die Überprüfung der im ersten Schritt gewonnenen Ideen oder Hypothesen richtet und der strengsten logischen und empirischen Regeln unterworfen werden muss. Man kann, was das betrifft, in Carnaps Werk sogar als eine Vorwegnahme von Thomas Kuhns berühmter Structure of Scientific Revolutions sehen. Denn wenn Carnap schreibt, dass „ Grundeinstellung und Interessenrichtung [. . .] nicht durch Gedanken [entstehen], sondern [. . .] durch Gefühl, Trieb, Anlage, Lebensumstände [bedingt sind] “ , so deutet er bereits auf die spätere Haupt- 140 Im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ , besonders der Abschnitt, der Sheldrakes Buch The Science Delusion gewidmet ist. 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 211 these Kuhns, dass das Weltbild, in dessen Rahmen die Wissenschaftler operieren, nicht nur rationale Grundlagen hat, sondern letztendlich durch „ Gefühl, Trieb, Anlage, Lebensumstände “ bedingt oder zumindest beeinflusst ist. Es überrascht deshalb nicht, dass Carnap positiv auf Kuhns Buch reagierte, das übrigens innerhalb des positivistischen Programms der „ International Encyclopedia of Unified Science “ erschien (Stadler 2007, S. 625). Es ist aber offensichtlich, dass Carnap seine Feststellung weder 1928 noch 1962 in ihrer ganzen Problematik erkannte. Er war der Ansicht, dass eine solche Voreingenommenheit am Anfang des Forschungsprozesses nicht weiter schade, da sie durch die nachfolgenden Untersuchungen allmählich eliminiert werden könne. Es war auch erst 1994, dass Kathleen Okruhlik den Finger auf den wunden Punkt der heute immer noch vorherrschenden Methode der Hypothesenüberprüfung gelegt hat. Sie wies darauf hin, dass, wenn gewisse Annahmen nur eine eingeschränkte Auswahl von Hypothesen zulassen, die alle durch eine bestimmte Voreingenommenheit oder Einseitigkeit belastet sind, das empirische Nachprüfungsverfahren, das auf die Selektion der besten aus den vorhandenen Hypothesen ausgerichtet ist, diese Einseitigkeit nicht eliminieren können wird (Okruhlik 1998). Carnap schließt sein Vorwort mit einer äußerst interessanten Bemerkung über den „ Zeitgeist “ . Viele würden sich heute gegen die von ihm skizzierte Einstellung wehren. Was gibt ihm dennoch die Zuversicht, dass der Ruf nach Klarheit, nach metaphysikfreier Wissenschaft ein günstiges Echo finden wird? Das ist die Einsicht, oder, um es vorsichtiger zu sagen, der Glaube, dass jene entgegenstehenden Mächte der Vergangenheit angehören. Wir spüren eine innere Verwandtschaft der Haltung, die unserer philosophischen Arbeit zugrunde liegt, mit der geistigen Haltung, die sich gegenwärtig auf ganz anderen Lebensgebieten auswirkt; wir spüren diese Haltung in Strömungen der Kunst, besonders der Architektur, und in den Bewegungen, die sich um eine sinnvolle Gestaltung des menschlichen Lebens bemühen [. . .]. Hier überall spüren wir dieselbe Grundhaltung, denselben Stil des Denkens und Schaffens. Es ist die Gesinnung, die überall auf Klarheit geht und doch dabei die nie ganz durchschaubare Verflechtung des Lebens anerkennt, die auf Sorgfalt in der Einzelgestaltung geht und zugleich auf Großlinigkeit im Ganzen, auf Verbundenheit der Menschen und zugleich auf freie Entfaltung des Einzelnen. Der Glaube, dass dieser Gesinnung die Zukunft gehört, trägt unsere Arbeit. (LA, S. Vf.) Man kann Carnap hier nur Recht geben: seine Wahrnehmung war durchaus korrekt. Es haben sich zu jener Zeit Kräfte im Kulturleben der europäischen oder sogar „ westlichen “ Menschheit manifestiert, die etwas Neues wollten. Der Erste Weltkrieg war vorüber und er bedeutete einen entschiedenen Bruch mit der Tradition des 19. Jahrhunderts. Man kann wohl sagen, dass sich dieser „ neue Geist “ nicht nur in der Kunst und Architektur, sondern wahrlich überall manifestierte. Die alte Klassengesellschaft, die sich auf die starren, ererbten Strukturen der Aristokratie stützte, war im Umbruch, man suchte 212 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus nach neuen Lebensformen, aber auch nach neuen Ausdruckformen in der Architektur, wie in der Malerei, der Musik (Jazz), sogar bei der Kleidung (äußerst bemerkenswert ist etwa der Umbruch bei den Damenkleidern zwischen der Vorkriegszeit, als immer noch bodenlange Kleider und Korsetts getragen wurden, und den 20er Jahren, als plötzlich knielange schlanke schlichte Kleider und Röcke in Mode kamen). Genauso richtig ist, dass das Programm des logischen Positivismus ein überraschend breites, internationales Echo unter vielen Intellektuellen in zahlreichen Ländern Europas (später selbstverständlich auch in Amerika) gefunden hat. Man kann durchaus von einer „ geistigen Welle “ sprechen, die sich in der damaligen Welt stark ausbreitete. Carnap spricht dieses Phänomen explizit an: Die Grundeinstellung und die Gedankengänge dieses Buches sind nicht Eigentum und Sache des Verfassers allein, sondern gehören einer bestimmten wissenschaftlichen Atmosphäre an, die ein Einzelner weder erzeugt hat, noch umfassen kann. Die hier niedergeschriebenen Gedanken fühlen sich getragen von einer Schicht von tätig oder aufnehmend Mitarbeitenden. Gemeinsam ist dieser Schicht vor allem eine gewisse wissenschaftliche Grundeinstellung. (LA, S. IV) Obgleich man Carnaps Freude, „ im Gleichschritt mit dem Zeitgeist “ zu laufen, verstehen kann, sieht man nüchtern betrachtet jedoch sofort, dass diese Freude auch eine Kehrseite hat. Denn die „ geistigen Wellen “ kommen und gehen. Nicht nur Kleidungs-, sondern auch Kunst- und Architekturmoden ändern sich. Was gestern als fortschrittlich galt, wird heute als rückständig, altmodisch taxiert. Lässt sich das Gleiche von intellektuellen Moden sagen? Dies scheint durchaus denkbar. Rückblickend ist man geneigt zu sagen, dass sich die „ geistige Welle “ , auf der der logische Positivismus geritten war, spätestens zu Beginn der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts erschöpft hatte, weshalb sein Programm zunächst erschlaffte und dann in sich zusammenfiel. Selbstverständlich lassen sich gute rationale Gründe für diesen Zerfall angeben - wir werden später auf sie ausführlicher eingehen - , zugleich aber kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das neupositivistische Programm zu einem erheblichen Teil einer bestimmten intellektuellen Mode entsprach. An dieser Stelle noch eine abschließende Bemerkung: Ich finde es äußerst bezeichnend, dass einer der Hauptpropheten des Rationalismus, der Vernunft und der rationalen Begründung sein Programm letztendlich auf den Glauben stützt. In der letzten Passage des Vorworts kommt dieser Begriff zweimal vor. Das Gebäude von Carnaps einheitlicher, rationaler, metaphysikfreier Wissenschaft ist auf dem Fels des Glaubens errichtet. Ich wiederum glaube, Carnap hat die Ironie dieser Situation nicht einmal bemerkt. Einleitung. Aufgabe und Plan der Untersuchungen Das Ziel von Carnaps Werk ist - wie wir gesehen haben - „ die Aufstellung eines erkenntnismäßig-logischen Systems der Gegenstände oder der Begriffe, 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 213 des ‚ Konstitutionssystems ‘“ (LA, S. 1) Dieser Feststellung folgt eine Passage, die das Konstitutionssystem in dem, was es ausmacht, schildert: Das Konstitutionssystem stellt sich nicht nur, wie andere Begriffssysteme, die Aufgabe, die Begriffe in verschiedene Arten einzuteilen und die Unterschiede und gegenseitigen Beziehungen dieser Arten zu untersuchen. Sondern die Begriffe sollen aus gewissen Grundbegriffen stufenweise abgeleitet, „ konstituiert “ werden, so dass sich ein Stammbaum der Begriffe ergibt, in dem jeder Begriff seinen bestimmten Platz findet. Dass eine solche Ableitung aller Begriffe aus einigen wenigen Grundbegriffen möglich ist, ist die Hauptthese der Konstitutionstheorie, durch die sie sich am meisten von anderen Gegenstandstheorien unterscheidet. (LA, S. 1, Hervorhebung im Original) Ich habe bereits bei der Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre darauf hingewiesen, dass sich die Idee der Ableitung „ höherer “ Begriffe aus „ elementaren “ bzw. Grund-Begriffen sehr wohl in der Geometrie oder Mathematik oder auch in der Logik verwirklichen lässt, dass es aber höchst fraglich ist, ob sie sich gleichermaßen auf die Objekte ( „ Gegenstände “ ) der „ Wirklichkeitswissenschaften “ anwenden lässt. Bezeichnenderweise bietet Carnap keine Argumente zur Unterstützung seiner kühnen Behauptung, dass eine solche „ Ableitung aller Begriffe aus einigen wenigen Grundbegriffen “ auch auf dem Feld der „ Realwissenschaften “ möglich ist. Seine „ Hauptthese “ gilt ihm als eine selbstverständliche und unumstößliche Wahrheit. Im nächsten Abschnitt (2. „ Was heißt „ konstituieren “ ? ) liefert Carnap ausführlichere Erläuterungen des zentralen Begriffs der oben zitierten Passage, nämlich des „ Konstituierens “ . Dazu muss zunächst der Begriff der „ Zurückführbarkeit “ erläutert werden: „ Ein Gegenstand (oder Begriff) heißt auf einen oder mehrere andere Gegenstände „ zurückführbar “ , wenn alle Aussagen über ihn sich umformen lassen in Aussagen über diese anderen Gegenstände “ (LA, S. 1, Hervorhebung im Original). Es folgt ein Beispiel (typisch, dass es der Mathematik entnommen ist): alle Brüche sind auf die natürlichen Zahlen zurückführbar, ein Versprechen, diese Definition später (§ 35) zu präzisieren, und eine Feststellung, dass es sich bei der Zurückführbarkeit um eine transitive Relation handelt. Bereits hier wird offensichtlich, dass die Operation der Zurückführung sehr wohl an Zahlen oder Brüchen durchgeführt werden kann, dass sie aber in Bezug auf z. B. Bäume oder Menschen fast sicher versagen muss. Man kann sich nicht vorstellen, dass sich alle Aussagen über Gerda Muschg in die Aussagen über einen oder mehrere andere „ Gegenstände “ umformen lassen. Lassen sich aber alle Aussagen über Giraffen in Aussagen über andere „ Gegenstände “ umformen? Lassen sich alle Aussagen über Lilien in Aussagen über andere „ Gegenstände “ umformen? Und wenn nicht, an welche Gegenstände außer Zahlen usw. denkt Carnap konkret, wenn er behauptet, dass sich die Aussagen über sie auf Aussagen über andere „ Gegenstände “ umformen lassen? 214 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Es folgen nun die folgenden Erläuterungen: „ a auf b, c zurückführen “ oder „ a aus b, c konstituieren “ soll bedeuten: eine allgemeine Regel aufstellen, die angibt, in welcher Weise man in jedem einzelnen Falle eine Aussage über a umformen muss, um eine Aussage über b, c zu erhalten. Diese Übersetzungsregel nennen wir „ Konstitutionsregel “ oder „ konstitutionale Definition “ [. . .]. (LA, S. 2, Hervorhebung im Original) Es wird sofort einsichtig, dass, obwohl das Programm der Reduktion des ganzen Reichtums der Naturphänomene auf einige wenige „ Gegenstände oder Begriffe “ wohl bald in der Entwicklung des logischen Positivismus aufgegeben worden ist, die Kernidee in den Versuchen, theoretische Terme auf beobachtbare Terme zurückzuführen, praktisch bis zum endgültigen Zerfall des Programms erhalten geblieben ist. Wenn man früh genug realisiert hätte, dass eine solche Reduktion prinzipiell nicht zu leisten ist, hätte man sich sehr viel Energie und Zeit gespart. Schließlich definiert Carnap, was er unter dem „ Konstitutionssystem “ versteht: Unter einem „ Konstitutionssystem “ verstehen wir eine stufenweise Ordnung der Gegenstände derart, dass die Gegenstände einer jeden Stufe aus denen der niederen Stufe konstituiert werden. Wegen der Transitivität der Zurückführbarkeit werden dadurch indirekt alle Gegenstände des Konstitutionssystems aus den Gegenständen der ersten Stufe konstituiert; diese „ Grundgegenstände “ bilden die „ Basis “ des Systems. (LA, S. 2, Hervorhebung im Original) Es folgt wiederum ein Beispiel, das, wie man bereits ahnt, der Mathematik entnommen ist: alle arithmetische Begriffe lassen sich aus den Grundbegriffen der natürlichen Zahlen „ konstituieren “ . Es folgen einige Bemerkungen zur Möglichkeit der Axiomatisierung einer Theorie. Diese bestünde darin, dass sämtliche Aussagen der Theorie in ein Deduktionssystem eingeordnet werden, dessen Basis die Axiome bilden, und dass sämtliche Begriffe der Theorie in ein Konstitutionssystem eingeordnet werden, dessen Basis die Grundbegriffe bilden. (LA, S. 2) Carnap merkt dazu an, dass die Aufgabe der systematischen Konstitution der Begriffe bisher weniger Beachtung gefunden habe als die erste Aufgabe (der Deduktion der Aussagen aus den Axiomen) und dass er sich ihr in seinem Werk widmen will: Sie soll hier behandelt und auf das Begriffssystem der Wissenschaft, der einen Gesamtwissenschaft angewendet werden. Nur wenn es gelingt, ein solches Einheitssystem aller Begriffe aufzubauen, ist es möglich, den Zerfall der Gesamtwissenschaft in die einzelnen, beziehungslos nebeneinander stehenden Teilwissenschaften zu überwinden. Obwohl der subjektive Ausgangspunkt aller Erkenntnis in den Erlebnisinhalten und ihren Verflechtungen liegt, ist es doch möglich, wie der Aufbau des Konstitutionssystems zeigen soll, zu einer intersubjektiven, objektiven Welt zu gelangen, 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 215 die begrifflich erfassbar ist und zwar als eine identische für alle Subjekte. (LA, S. 2f., Hervorhebung im Original) Hier haben wir im Kern Carnaps Programm, seine Hoffnung und auch die Gründe für das Programm offengelegt. Ich werde jetzt die ihn treibenden Ideen zu explizieren versuchen. Wissenschaft sei eigentlich, idealiter, als eine Gesamtwissenschaft zu verstehen. Momentan seien wir von diesem Ideal weit entfernt: es bestehen realiter zahlreiche Wissenschaften, von Carnap Teilwissenschaften genannt, die „ beziehungslos nebeneinander stehen “ . Diesen unbefriedigenden Zustand gelte es zu überwinden. Die einzige Methode, das Ziel der einen Gesamtwissenschaft zu erreichen, sei die Anwendung der systematischen Konstitution der Begriffe, das heißt die Rückführung der Begriffe der Wissenschaften der höheren Stufen auf die Begriffe der Wissenschaften der niederen Stufen und, weil die Rückführungsrelation transitiv sei, letztendlich auf die Begriffe der Basisstufe. Dies sei möglich, wie die Beispiele aus der Mathematik belegten. Die Welt sei logisch aufgebaut, und dieser logische Aufbau der Welt könne in unserer Erkenntnis nachgezeichnet werden. Nur so sei es möglich, zu einer intersubjektiven, objektiven Welt zu gelangen, die uns zunächst durch bloße subjektive Erlebnisinhalte gegeben sei, zu einer Welt, die begrifflich erfassbar und überdies für alle Subjekte identisch sei. Gelinge dies nicht, so drohe ein weiterer Zerfall der Gesamtwissenschaft in die zusammenhangslos nebeneinander stehenden Teilwissenschaften, was mit allen Mitteln zu verhindern sei. Es ist äußerst interessant, sich in die Hintergründe dieses Gedankenganges einzuleben bzw. einzudenken. Woher nimmt Carnap die Vorstellung der einen Gesamtwissenschaft, die zerfallen ist oder welcher der Zerfall droht? Carnap verliert quasi kein Wort, um diese Vorstellung zu begründen. Die einzige Begründung, die ich gefunden habe, ist ein knapper und kryptischer Satz auf S. 4: „ [D]ie Gegenstände zerfallen nicht in verschiedene, unzusammenhängende Gebiete, sondern es gibt nur ein Gebiet von Gegenständen und daher nur eine Wissenschaft. “ Mag sein, dass es nur eine Welt gibt, und mag sein, dass die Gebiete dieser Welt nicht unzusammenhängend sind. Folgt daraus aber, dass es nur eine Wissenschaft geben kann? Wenn ich ein Mehrfamilienhaus vor mir habe, dann weiß ich, dass es sich dabei um eine gewisse Einheit handelt, die aber aus verschiedenen Untereinheiten (Wohnungen) besteht. Sie sind sicher nicht unzusammenhängend, aber was in einer Wohnung vor sich geht, ist weitgehend unabhängig davon, was in einer anderen passiert. Ich weiß auch, dass ich unterschiedliche Methoden anwenden muss, um die „ Gegenstände “ , welche in diesen Wohnungen vorhanden sind, zu untersuchen: wenn ich etwas von den Menschen erfahren will, die dort wohnen, werde ich anders vorgehen, als wenn ich etwas von den Möbeln in Erfahrung bringen will, und wieder anders im Falle von Fernsehgeräten etc. Wieso die Einheit eines (komplexen) Erkenntnisgegenstandes die Einheit der Erforschungsmethode implizieren soll, ist völlig schleierhaft. Eine 216 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Gesamtwissenschaft war auch historisch nie gegeben. Es trifft zwar zu, dass sich im klassischen Griechenland eine Einzelperson (allen voran Aristoteles) praktisch mit der Gesamtheit der damals bekannten Forschungsfelder befassen konnte, man hat aber höchstens von Erkenntnis gesprochen, die ein Ziel hat: die Wahrheit, aber nicht von einer Wissenschaft. Als sich im 17. Jahrhundert die Wissenschaft (die immer noch nicht so genannt wurde) als ein besonderer Zweig des menschlichen Erkenntnisstrebens etabliert hatte, vereinte sie etwa in der Royal Society Forscher, die sich unterschiedlichen Phänomenbereichen widmeten (Physik, Optik, Physiologie) und die ein gemeinsames Ziel hatten: sichere Erkenntnis, aber nicht im Entferntesten die Vorstellung, dass ihre individuellen Bestrebungen aufeinander reduziert, zurückgeführt werden sollten. Man hat den Eindruck, dass es nicht die nüchterne Betrachtung der Geschichte der Entwicklung der Wissenschaft war, die Carnap an dieser Stelle trieb, sondern ein „ aus der Luft “ gegriffenes Ideal. Es ist ferner interessant festzustellen, dass Carnap davon ausgeht, dass die Welt, die uns in der Erfahrung gegeben ist, bloß subjektiv ist und erst zu einer intersubjektiven, objektiven Welt, die begrifflich erfassbar ist, geformt werden muss, und dass ferner eine solche objektive Welt für alle Subjekte identisch sein wird. Dieser Gedanke fußt auf einer unausgesprochenen, doch für selbstverständlich genommenen Prämisse, die wir bereits anlässlich der Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre hinterfragt haben, dass nämlich die Sinneswahrnehmungen, die „ sekundären Qualitäten “ , einen bloß subjektiven Charakter haben und aus dem wissenschaftlichen Weltbild eliminiert werden müssen. Ich habe hoffentlich zeigen können, dass diese Behauptung keineswegs so selbstverständlich ist, wie sie oft (auch heute noch) erscheint oder hingestellt wird, dass es bloß quantitative, aber keine qualitativen Unterschiede diesbezüglich zwischen den „ primären “ und „ sekundären “ Qualitäten gibt, dass also die Erscheinungsform der Erfahrungswelt keineswegs als bloß subjektiv abgetan werden darf. Es ist unbestritten, dass jeder von uns die Welt von einem bestimmten Standpunkt aus wahrnimmt und dass z. B. eine Eiche, die ich sehe, sich jemand anderem, der sie von einer anderen Seite betrachtet, anders darstellen wird, doch es wäre sicherlich völlig falsch, alle individuellen Wahrnehmungsbilder der Eiche eliminieren zu wollen, um zu einem „ objektiven “ Bild von ihr zu gelangen. Vielmehr scheint der hier angebrachte Weg darin zu bestehen, dass man die einzelnen, an einen bestimmten Standpunkt gebundenen Wahrnehmungsbilder um andere, von anderen Standpunkten aus gewonnene ergänzt, so dass man am Schluss ein reicheres, volleres und kein verarmtes, verstümmeltes Bild der Eiche erhält. 141 141 Wir werden uns mit dem Problem der Objektivität später ausführlich beschäftigen müssen: s. Kapitel „ Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals “ . 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 217 Interessant ist ebenfalls, dass Carnap sich nach einer nicht nur objektiven/ intersubjektiven, sondern so verfassten Welt sehnt, die „ identisch für alle Subjekte “ wäre. Nun, in bestimmter Hinsicht kann man - wie oben angedeutet - mit gutem Grund behaupten, dass die Welt unserer „ äußeren “ Erfahrung bereits für alle Subjekte identisch ist: Wir sehen die gleichen Bäume, Autos, Wolken usw. Carnap schwebt jedoch offensichtlich eine viel strengere Identität vor Augen, eine Identität vermutlich, die jegliche individuellen Unterschiede auslöschen würde. Es scheint, dass die ideale Welt für ihn eine Welt wäre, in der die „ Erlebnisinhalte “ aller Menschen sich völlig gleichen würden. Ist aber eine solche Welt erstrebenswert? Ich glaube, niemand würde in Frage stellen, dass das Erlangen zuverlässiger, sicherer Erkenntnisse erstrebenswert ist. Es wäre nicht gut um unsere Erkenntnis bestellt, wenn ein Mensch behaupten würde, dass 2+2=4 ist, ein zweiter dagegen, es sei 5, während ein dritter für 7,5 plädierte. So leicht und ohne Schwierigkeiten wir uns auf mathematische Tatsachen einigen können, so wünschenswert wäre es, dass wir bezüglich komplizierterer Erkenntnisse auf einen Nenner kämen: ob menschliche Aktivität tatsächlich die Klimaerwärmung verursacht hat, was die Ursachen unterschiedlicher Krebsarten sind und welches die geeignetsten Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung? Ist es sinnvoll, den Heroinsüchtigen Metadon anzubieten oder vielleicht sogar die Drogen zu legalisieren? Im Idealfall wollen wir in solchen Fragen zu Ergebnissen bzw. Antworten kommen, die für alle Menschen gültig (identisch) sind. Muss zu diesem Zweck aber auch die Welt für alle Menschen identisch werden? Können wir nicht dennoch zu identischen Erkenntnissen kommen, obwohl die individuellen Erfahrungen der Welt individuell und unterschiedlich bleiben? Meine Erlebnisse heute werden sicher andere sein, als Ihre Erlebnisse an dem Tag, an dem Sie diese Worte lesen, was uns freilich überhaupt nicht daran hindert anzuerkennen, dass 2+2=4 ist. Nun könnte man mir vorwerfen, dass ich Carnap falsch verstanden habe, dass es ihm eben darum gehe (gegangen sei), identische Erkenntnisse zu sichern. Dies scheint mir unwahrscheinlich. Er spricht eindeutig von einer „ intersubjektiven, objektiven Welt “ , die „ identisch für alle Subjekte “ sei und die sich nur anhand seines „ Konstitutionssystems “ errichten lasse. Der Eindruck entsteht, dass Carnap, statt die Welt unserer Erfahrung erkennen zu wollen, gottgleich eine neue Welt schaffen will, die dann die Objektivität der Erkenntnis sichern würde. Interessanterweise erscheint Carnap erst diese neue Welt als „ begrifflich erfassbar “ . Diese Feststellung erinnert an Carnaps Zugeständnis in seiner intellektuellen Autobiographie (s. oben), dass er bereits in seiner Jugend das Gefühl hatte, einen Begriff bzw. eine Proposition erst dann zu verstehen, wenn er ihn/ sie in symbolischer Sprache darstellte. Dies ist aber sicherlich keine allgemeine Erfahrung. Wir haben gewöhnlich doch den Eindruck, dass wir unsere Erfahrungswelt begrifflich erfassen können, ohne uns eine neue, zumal symbolische Welt konstruieren zu müssen. Wir gebrauchen Begriffe im 218 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Alltagsleben und unsere Erfahrung scheint uns zu lehren, dass diese Begriffe die Welt durchaus adäquat erfassen. Sie sind vielleicht nicht ideal, manchmal recht unscharf, manchmal müssen sie präzisiert werden, manchmal brauchen wir sogar neue Begriffe um gewisse, bis dato unbekannte Phänomene erfassen zu können, aber wir haben stets das Gefühl, dass sich unsere Begriffe auf unsere Erfahrungswelt beziehen, obschon diese Erfahrungswelt oft durch wissenschaftliche Instrumente erweitert wird, und dass wir keineswegs eine neue Welt konstruieren müssen, auf die wir dann erst Begriffe anwenden können. Es scheint also, dass sich hinter dieser knappen Formulierung seltsame Fantasien ihres Autors verbergen: eine fast göttliche Allmachtsfantasie, die Carnap und seinen Verbündeten eine neue Welt würde erschaffen lassen, gekoppelt an eine merkwürdige Verdrängung der Tatsache, dass bereits die ganz gewöhnliche Welt der gewöhnlichen Erfahrung durchaus erkennbar ist. Es ist aus dieser Sicht auch äußerst interessant, die von Carnap gewählte Bezeichnung zu reflektieren. Wie wir gesehen haben, spricht er von „ Rückführung “ (wie Schlick in der Allgemeinen Erkenntnislehre, S. 152, 157, 160, 166 und passim) oder „ Konstitution “ des Gegenstandes, mit eindeutiger Präferenz für „ Konstitution “ . (Heute wird übrigens in diesem Zusammenhang - meines Erachtens zu Recht - oft der Begriff der „ Reduktion “ verwendet.) Wieso „ Konstitution “ , wenn Schlicks Begriff der „ Rückführung “ den Sinn der von Carnap gemeinten Operation eigentlich sehr gut wiedergibt und Schlicks Verständnis des Erkenntnisprozesses (das jedes Erkennen immer ein Zurückführen des zu Erkennenden auf etwas bereits Erkanntes, ein Wiederentdecken des Gleichen im Verschiedenen ist [Allgemeine Erkenntnislehre S. 152, 157]) sehr gut entspricht? Nun, ein Grund für diese Wortwahl mag darin liegen, dass sich Carnap von Schlick absetzen, als eigenständiger Philosoph und nicht bloß als ein Schüler oder Epigone von Schlick erscheinen will. Es ist jedoch unübersehbar, dass der Begriff „ Konstitution “ Konnotationen von Schaffen, Erschaffen mit sich führt (Duden 1996, S. 874: konstituieren: 1. a) gründen, ins Leben rufen). Fühlt Carnap sich als Schaffender, als Schöpfer einer neuen, besseren Welt? Bevor wir Carnaps Einleitung verlassen, müssen wir uns noch kurz mit einem Problem beschäftigen. Am Ende der Einleitung, als eine Art Fußnote (weil kleiner gedruckt), ergänzt Carnap seine Ausführungen zum Thema Begriff und Gegenstand (auf die ich hier nicht ausführlich eingehen werde) mit einer bemerkenswerten Feststellung: Wir können aber (ohne das hier zu begründen) noch weiter gehen und geradezu sagen, dass der Begriff und sein Gegenstand dasselbe sind. Diese Identität bedeutet jedoch keine Substantialisierung des Begriffs, sondern eher umgekehrt eine „ Funktionalisierung “ des Gegenstandes. (LA, S. 6) Diese Feststellung erstaunt. Denn wenn man auch akzeptieren kann, dass die Grenze zwischen Allgemeinbegriffen und Individualbegriffen relativ ist (z. B. 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 219 kann der Begriff „ Klasse “ sowohl eine Schulklasse als auch einen Allgemeinbegriff einer beliebigen Klasse von Gegenständen bedeuten), so erscheint die Behauptung, dass der Begriff mit seinem Gegenstand identisch sei, doch zutiefst problematisch. Wie kann man behaupten, dass der Computer vor mir mit dem Begriff des Computers identisch ist, oder der Begriff des Baumes bzw. der Birke mit der Birke, die ich aus meinem Fenster sehe? Wenn dieser Begriff mit der Birke, die ich sehe, identisch ist, dann kann er nicht identisch mit der Buche sein, die auf dem Berghang hinter dem Haus steht, denn die Birke im Garten ist nicht identisch mit jener Buche auf dem Berghang. Aber ich kann doch problemlos den gleichen Begriff (Baum) in beiden Fällen anwenden. Das Fehlen jeglicher Reflexion über die Konsequenzen solcher Behauptungen zeugt meines Erachtens von der Oberflächlichkeit von Carnaps Denkart, von einer Tendenz, den tiefen Problemen auszuweichen. Teil II Der Unterabschnitt B der Einleitung ist dem Plan der Untersuchungen des Werkes gewidmet und hier weniger von Interesse. Hingegen begegnen wir bereits im Abschnitt A ( „ Über die Form wissenschaftlicher Aussagen “ ) des II. Teils ( „ Vorbereitende Erörterungen “ ) einer Reihe von bedeutenden und kontroversen Feststellungen. Bereits am Anfang dieses Unterabschnitts stellt Carnap im § 10 (Eigenschaftsbeschreibung und Beziehungsbeschreibung) fest, dass „ im Folgenden die These vertreten und in den weiteren Untersuchungen begründet werden [soll], dass die Wissenschaft nur die Struktureigenschaften der Gegenstände behandelt “ (LA, S. 11). Bereits auf S. 8 hatte er festgestellt: Die eigentlichen Grundbegriffe des Konstitutionssystems, also diejenigen Begriffe, auf die alle Begriffe der Wissenschaft zurückgeführt werden sollen, sind jedoch nicht die Grundelemente, sondern die Grundrelationen. Das entspricht einer grundsätzlichen Auffassung der Konstitutionstheorie, dass nämlich ein Beziehungsgefüge seinen Gliedern gegenüber primär ist. Der Leser wird sich daran erinnern, dass wir einem ähnlichen Gedanken bei Schlick begegnet sind. Er stellte nämlich im § 31 seiner Allgemeinen Erkenntnislehre fest, dass „ [a]lle Erkenntnis [. . .] in letzter Linie auf Beziehungen, Abhängigkeiten, nicht auf Dinge, Substanzen [geht]. “ (AE, S. 629). Wir erinnern uns auch, dass sich für Schlick alle Urteile auf die Beziehungen zwischen Gegenständen beziehen, Urteile sind „ Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegenständen “ (§ 8, LA, S. 220). Da nun alle Erkenntnis in der Form von Urteilen gefasst ist, folgt daraus fast zwingend, dass sie sich auf die Beziehungen zwischen „ Gegenständen “ und nicht auf die Gegenstände selbst bezieht. Bei der Diskussion von Schlicks Werk habe ich in Frage gestellt, 1) ob man Urteile tatsächlich als „ Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegenständen “ auffassen kann; 2) ob Erkenntnis der Beziehungen zwischen Gegenständen als primär zur Erkenntnis der Gegenstände aufgefasst werden kann. 220 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Ich habe damals argumentiert, dass man z. B. eine Person durch ihre Stellung in dem Geflecht der Familienbeziehungen präzise definieren kann, dass man aber dadurch überhaupt nichts über die Person selbst und ihre individuellen Eigenschaften aussagen kann. Carnap verspricht uns jetzt, die kontroverse These vom Primat der Beziehungen gegenüber den Gegenständen zu begründen. Wir sind gespannt, wie er das zu leisten gedenkt und ob ihm seine Begründung besser gelingt, als sie Schlick gelungen ist. 142 Zunächst vergleicht er in einem konkreten Beispiel die Eigenschaftsbeschreibung und die Beziehungsbeschreibung einiger Menschen. „ Eine Eigenschaftsbeschreibung sieht etwa so aus: zu dem Gebiet gehören die Gegenstände a, b, c; alle drei sind Menschen, a ist 20 Jahre alt und groß, b 21 Jahre alt, klein und dünn, c ist dick. Eine Beziehungsbeschreibung sieht etwa so aus: zu dem Gebiet gehören die Gegenstände a, b, c; a ist Vater von b, b Mutter von c, c Sohn von b, a ist 60 Jahre älter als c. “ Er hebt dann zu Recht hervor, dass sich die Beziehungen zwischen den „ Gegenständen “ nicht aus der Eigenschaftsbeschreibung nicht eruieren lassen, was die Beziehungsbeschreibung als vorteilhafter, reicher erscheinen lasse. (Wobei es durchaus möglich ist, von „ relationalen Eigenschaften “ zu sprechen, was später auch Carnap selber getan hat: „ [Der Begriff Eigenschaft] ist in einem sehr weiten Sinne zu verstehen, einschließlich dessen, was immer sinnvollerweise über irgendein Individuum gesagt werden kann, gleichgültig, ob wahr oder falsch. Er steht nicht nur für qualitative, sondern auch für quantitative, relationale, raumzeitliche und andere Eigenschaften. “ 143 Wenn man den Begriff der Eigenschaft so versteht, dann kann man durchaus die Tatsachen, dass a Vater von b, und b Mutter von c ist, als die Eigenschaften der entsprechenden „ Gegenstände “ bezeichnen, woraus sich eine reichere Eigenschaftsbeschreibung des „ Gebiets “ ergeben würde.) Was jedoch an diesem Beispiel sehr auffallend ist, ist die erstaunliche Armut der Eigenschaftsbeschreibung der drei Personen. Es ist bestimmt möglich, über eine Person mehr zu sagen, als dass sie dünn oder dick, 20- oder 21-jährig ist. Es ist bestimmt auch möglich, eine Person in ein viel komplexeres Geflecht der Eigenschaften einzuordnen, als nur von ihr zu sagen, dass sie Sohn von b und Enkel von a ist. Die Frage ist aber, welche Art der Beschreibung sich letztendlich als reicher erweist. Gibt uns Carnap die Antwort auf diese Frage? Es folgen einige Beispiele der beiden Arten der Beschreibung, die vor allem der Geometrie entnommen sind, wobei Carnap als ein weiteres Beispiel der Eigenschaftsbeschreibung eine Zeittafel historischer Personen mit Angabe von Geburts- und Todesjahr einer jeden anführt und als ein Beispiel für die Beziehungsbeschreibung - bezeichnenderweise - die „ Beschreibung einer Personenmenge durch einen Stammbaum, also durch Angabe der Verwandt- 142 Es ist übrigens interessant festzustellen, dass sich Carnap in seinen Ausführungen überhaupt nicht auf Schlick beruft. 143 Carnap, Rudolf: Bedeutung und Notwendigkeit. In: Meixner 2003, S. 201. 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 221 schaftsbeziehungen “ . Diesen Beispielen folgt die Feststellung, dass die Beziehungsbeschreibung am Beginn des ganzen Konstitutionssystems stehe und somit die Basis der Gesamtwissenschaft bilde und dass es das Ziel jeder wissenschaftlichen Theorie sei, „ ihrem Inhalt nach zu einer reinen Beziehungsbeschreibung zu werden “ (LA, S. 12), was das Gewicht dieser Art der Beschreibung in seinem System unterstreicht. Es folgt § 11 ( „ Der Begriff der Struktur “ , S. 13 f), in dem Carnap eine besondere Art von Beziehungsbeschreibungen erläutert, nämlich die Strukturbeschreibungen. Unter „ Struktur “ einer Beziehung versteht er die Summe aller formalen Eigenschaften der Beziehung, d. h. solcher Eigenschaften, die sich „ ohne Bezugnahme auf den inhaltlichen Sinn der Beziehung und auf die Art der Gegenstände, zwischen denen sie besteht, formulieren lassen “ (LA, S. 13). Beispiele solcher formaler Eigenschaften, die er nennt, sind etwa: Symmetrie, Reflexivität, Transitivität usw. Diese bilden den Gegenstand der Relationstheorie. Die formalen Eigenschaften einer Beziehung lassen sich ausschließlich mit Hilfe logischer Zeichen definieren, stellt er weiter fest. Carnap bittet uns dann, uns die Strukturbeschreibung in der Form einer „ Pfeilfigur “ vorzustellen: alle Beziehungsglieder werden durch Punkte dargestellt, von jedem Punkt geht ein Pfeil zu allen anderen Punkten, zu denen der erste in der darzustellenden Beziehung steht, wobei ein Doppelpfeil ein Gliederpaar bezeichnet, für das die Beziehung in beiden Richtungen verläuft usw. Es ist unmittelbar einsichtig, dass die Möglichkeit, alle „ Gegenstände “ auf ihre „ formalen Eigenschaften “ , die sich „ ohne Bezugnahme auf den inhaltlichen Sinn der Beziehung und auf die Art der Gegenstände, zwischen denen sie besteht, formulieren lassen “ , zu reduzieren, aus der Sicht von Carnaps Projekt: eine einheitliche Gesamtwissenschaft zu stiften, äußerst anziehend ist. Denn nur eine solche Möglichkeit würde sicherstellen, dass sich die diversen Phänomengebiete einzelner Wissenschaften unter einem Begriffssystem werden vereinheitlichen lassen. Die zentrale Frage ist jedoch, ob die Hoffnung darauf berechtigt ist. Bis jetzt hat uns Carnap keine Argumente dafür geliefert. Man kann sich sehr wohl eine „ Pfeilfigur “ , wie Carnap sie vorschlägt, vorstellen. Es ist jedoch völlig schleierhaft, wie man von diesen Punkten und Pfeilen aus die Kühe, die auf der Weide Gras fressen, die Wale, die sich in den Tiefen des Ozeans paaren, oder die Menschen, die eine Fussballmannschaft bejubeln, rekonstruieren könnte. Im12. Paragraph ( „ Die Strukturbeschreibung “ , LA, S. 14f.) stellt Carnap fest, dass zwei Beziehungen, wenn sie dieselbe Struktur haben, in allen formalen Eigenschaften übereinstimmen, wobei er auch zugibt, dass zwar, wenn die Struktur einer Beziehung angegeben wird, alle formalen Eigenschaften festgelegt sind, aber nicht umgekehrt: im Allgemeinen lässt sich nicht sagen, welche formalen Eigenschaften genügen, um die Struktur einer bestimmten Beziehung festzulegen (LA, S. 14). Ferner betont er, dass, während die Beziehungsbeschreibung im Allgemeinen noch Schlüsse auf individuelle Eigenschaften der Glieder möglich mache, dies bei einer Struktur- 222 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus beschreibung nicht mehr der Fall sei (LA, S. 14f.). Eine solche Beschreibung bilde also „ die höchste Stufe der Formalisierung und Entmaterialisierung “ , stellt er weiter fest (LA, S. 15, meine Hervorhebung, MBM). Dass eine Strukturbeschreibung im Sinne Carnaps „ die höchste Stufe der Formalisierung “ bildet, leuchtet unmittelbar ein. Wobei natürlich das Verständnis der Zielsetzung nicht unbedingt auch ein Einverständnis mit ihr bedeutet. Wir werden uns mit der Frage, ob diese Zielsetzung eine sinnvolle ist, weiter unten auseinandersetzen. Dagegen ist der Begriff der „ Entmaterialisierung “ als ein Ideal der Wissenschaftlichkeit nicht sofort verständlich. Carnap erläutert seine Intention an dieser Stelle nicht, und so ist der Leser gezwungen zu raten, welche Vorstellungen sich für ihn hinter dieser Formulierung verbergen. Man könnte meinen, dass bereits die Verwendung von Begriffen eine ausreichende „ Entmaterialisierung “ des Stoffes unserer Erkenntnis, der Erfahrung, bedeutet. Wir erinnern uns, dass Schlick die Vorteile der Begriffe als „ Platzhalter “ , als Katalogeinträge in einer Bibliothek gepriesen hat, die die Handhabung von Erfahrungsinhalten wesentlich erleichtern. Wir waren zwar mit dieser Auffassung des Wesens der Begriffe nicht einverstanden, aber es ist unbestritten, dass man in der Forschung gezwungen ist, seine Ergebnisse in begrifflicher Form darzustellen: in einem Lehrbuch der Biologie werden wir nicht Fröschen und Lilien begegnen, sondern Begriffen, die sich auf diese und andere Lebewesen beziehen. Nun scheint es, dass Carnap dieser Grad der „ Entmaterialisierung “ der Erfahrungsinhalte nicht ausreicht. Offenbar will er keine Inhalte mehr haben, sondern nur noch die Form, die Struktur. Die von ihm namhaft gemachte Pfeilfigur soll, wie er sich das vorstellt, ebenso auf die Verhältnisse zwischen abstrakten mechanischen Kräften, die von gewissen Punkten ausgehend auf andere Punkte wirken, wie auch für die Verhältnisse zwischen Fröschen in einem Teich anwendbar sein. Also wenn ich Carnap richtig verstehe, ist die „ Entmaterialisierung “ , was als eine Zielsetzung der Wissenschaft irgendwie großartig und erstrebenswert klingt, gleichbedeutend mit „ Befreiung vom Inhalt “ - und dies lässt das Ziel sofort bedenklich erscheinen. Hinter diesem Erkenntnisziel scheint sich ein merkwürdiges Ideal zu verbergen. Ich werde versuchen, dieses Ideal anhand eines konkreten Beispiels zu entfalten. Stellen wir uns vor, wir wollen einen Menschen kennen lernen. Der Mensch steht vor uns in seiner reichen, komplexen äußeren Erscheinung. Wir wissen aber, dass er nicht nur seine Oberfläche hat, sondern dass sich hinter dieser Oberfläche in jedem Moment ein reiches Innenleben verbirgt. Wir wissen aber auch, dass dieser Mensch in seinem Leben bereits recht viel erfahren hat und dass dieser Erfahrungsschatz genauso zu seiner Person gehört, auch wenn er sich vielleicht nicht unmittelbar in den gegenwärtigen seelischen Phänomenen manifestiert. Und wir wissen, dass dieser Mensch die vielfältigsten Keime zu zukünftigen Erlebnissen und Taten in sich trägt, einige von ihnen in der Form gewisser Dispositionen, die bereits jetzt erkennbar sind, während andere, wenn sie sich einmal manifestieren, uns völlig überraschen werden. Vielleicht 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 223 wird er ein großer Wissenschaftler? Vielleicht ist dieser Mensch eine Frau, die eine Künstlerin wird? Oder vielleicht eine große Wohltäterin der Menschheit? Nun scheint Carnap uns sagen zu wollen, dass all dieser Reichtum unwichtig, überflüssig ist, dass wir den vor uns stehenden Menschen nicht nur auf das Knochengerüst, sondern auf ein System von Pfeilen reduzieren können und sollen. Vielleicht lässt sich das machen. Man kann z. B. das Leben eines Menschen an einem bestimmten Tag als eine Abfolge von raumzeitlichen Punkten darstellen, die er jeweils „ durchlaufen “ hat. Auf diese Weise werden wir seine Bewegungen mit Pfeilen ganz genau abbilden können. Werden wir aber damit sein Leben, seine Erfahrungen an diesem Tag abgebildet haben? Die Frage, die sich hier stellt, ist also nicht nur die, ob das, was Carnap sich vorstellt, leistbar ist (was an sich bestimmt nicht gesichert ist), sondern vor allem, ob dieses Ideal überhaupt erstrebenswert ist. Diese Frage wird uns bei der weiteren Betrachtung von Carnaps Gedankengängen begleiten müssen. Der Feststellung von der höchsten Stufe der Formalisierung und Entmaterialisierung folgt eine weitere programmatische These von zentraler Bedeutung: Die Behauptung unserer These, dass wissenschaftliche Aussagen sich nur auf Struktureigenschaften beziehen, würde also bedeuten, dass wissenschaftliche Aussagen von bloßen Formen sprechen, ohne zu sagen, was die Glieder und die Beziehungen dieser Formen sind. (LA, S. 15) Wir sollen also eine Wissenschaft von Kühen oder Lilien oder Menschen entwickeln, ohne auf diese Rücksicht zu nehmen und ohne über sie Aufschluss zu bekommen? ! Carnap räumt ein, dass seine Behauptung „ zunächst “ paradox erscheint. Er stützt sie jedoch durch den Hinweis, dass Whitehead und Russell durch ihre Ableitung der mathematischen Disziplinen aus der Logik „ in aller Strenge nachgewiesen “ haben, dass die Mathematik nur ebensolche Strukturaussagen mache. Das mag stimmen, ich habe aber bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass, was für die Mathematik gilt, nicht zwingend für andere Erfahrungsbereiche gelten muss. Carnap vermutet diesen Einwand und fährt fort: Dagegen scheint es sich mit den Realwissenschaften völlig anders zu verhalten: eine Realwissenschaft muss doch wissen, ob sie von Personen oder Dörfern spricht. Hier ist ein entscheidender Punkt: die Realwissenschaft muss zwar solche verschiedenen Gebilde unterscheiden können, das tut sie zunächst meist durch Kennzeichnung mit Hilfe anderer Gebilde, schließlich aber geschieht die Kennzeichnung durch bloße Strukturbeschreibung. (Ebd., Hervorhebung im Original) An dieser Stelle lässt sich in Carnaps Überlegungen eine höchst interessante und folgenschwere Problemverschiebung ausmachen. Zunächst hatte man den Eindruck, dass der Verfasser mit der Frage ringt, wie die Erkenntnis am besten zustande kommen kann. Dies war sicherlich auch der Ausgangspunkt von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre: worin besteht wissenschaftliche Erkenntnis und was ist sie zu leisten imstande. Carnap scheint diese Fra- 224 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus gestellung samt den von Schlick erarbeiteten Ergebnissen am Beginn seines Buches übernommen zu haben: „ Es handelt sich hier hauptsächlich um die Frage der Erkenntnislehre, also um die Frage der Zurückführung der Erkenntnisse auf einander “ , schreibt er auf der ersten Seite des Vorworts. Sein Anliegen scheint zu sein, Schlicks Ergebnisse weiterzuführen, sie zu präzisieren. „ Die Fruchtbarkeit der neuen Methode erweist sich dadurch, dass die Antwort auf die Zurückführungsfrage zu einem einheitlichen, stammbaumartigen Zurückführungssystem der in der Wissenschaft behandelten Begriffe führt, das nur wenige Wurzelbegriffe benötigt “ , heißt es auf der folgenden Seite. An dieser Stelle hat der Leser noch den Eindruck, dass Carnap die Aufgabe der Welterkenntnis am effektivsten mittels eines stammbaumartigen Begriffssystems erfüllen zu können meint. Deshalb wirkte seine Behauptung, dass „ die wissenschaftlichen Aussagen sich nur auf Struktureigenschaften beziehen “ , befremdlich, weil man doch sehr bezweifeln muss, ob durch die Strukturen auch die Inhalte der Erfahrung adäquat wiedergegeben werden können. Jetzt verschiebt sich jedoch plötzlich und fast unmerklich die Problemstellung: Die Aufgabe ist nicht mehr, die Weltphänomene zu erkennen, sondern, die „ verschiedenen Gebilde unterscheiden [zu] können “ . Die Realwissenschaft muss wissen, „ ob sie von Personen oder Dörfern spricht “ , und diese Unterscheidung könne Carnap zufolge letztlich durch eine bloße Strukturbeschreibung geleistet werden. Das mag sein, obschon man das Gleiche einfach mit einem Begriff erledigen kann, was aber ist mit einem solchen Vorgehen für die Erkenntnis der Personen oder Dörfer gewonnen? Carnaps weitere Ausführungen bestätigen diese Interpretationen. Er stellt fest, dass eine wissenschaftliche Aussage nur dann Sinn habe, wenn die Bedeutung der in ihr vorkommenden Gegenstandsnamen angegeben werden könne. Dies ist selbstverständlich unbestritten. Dieses Ziel könne, so Carnap, auf zwei Weisen erreicht werden: durch „ Aufweisung “ , also durch eine hinweisende Gebärde, oder durch eine „ eindeutige Umschreibung “ , die er „ Kennzeichnung “ nennt (LA, S. 16). Carnap erläutert diesen Begriff folgendermaßen: Eine Kennzeichnung gibt nicht etwa alle Eigenschaften des Gegenstandes an, womit sie die konkrete Wahrnehmung ersetzen würde; sondern sie beruft sich gerade auf die Anschauung. Sie gibt auch nicht einmal die wesentlichen Merkmale an, sondern nur so viele kennzeichnende Eigenschaften, dass der gemeinte Gegenstand angesichts des Gegenstandsbereiches, von dem die Rede ist, eindeutig erkannt werden kann. (LA, S. 16) Die Lektüre dieser Zeilen versetzt den Leser in Staunen. Will Carnap das Rad neu erfinden? Es dürfte doch offensichtlich sein, dass wir im Alltagsleben den „ Gegenstand “ von welchem die Rede ist, ohne Weiteres mittels Begriffen bestimmen können, Begriffen, die etwa so funktionieren, wie Carnap es hier für die „ Kennzeichnung “ beschreibt. Ein Begriff umfasst nicht alle Merkmale eines Gegenstandes, sondern nur diejenigen, die es ermöglichen, den Gegen- 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 225 stand, von dem die Rede ist, eindeutig zu bestimmen. Man kann sich diese recht offensichtliche Tatsache anhand eines fiktiven Gesprächs vergegenwärtigen: „ Sieh mal die da! “ ; „ Was meinst du? “ , „ Diese Kuh. “ Und der Gegenstand, der gemeint war, wurde eindeutig bestimmt, ohne dass man auf ihn mit der Hand hinweisen musste. Gibt es mehrere Kühe auf dem Feld, so wird das Gespräch fortgesetzt: „ Welche Kuh meinst du? “ , „ Die braun-weiße “ , „ Ich sehe aber zwei braun-weiße Kühe, welche meinst du? “ , „ Die mit dem weißen Fleck zwischen den Augen “ (oder etwas Ähnliches). Durch solche Hinweise erreicht man bald vollständige Klarheit. Es ist mir völlig unverständlich, wozu Carnap ein neues System erfinden will, wenn das alte bereits bestens funktioniert? Die Sache wird ein wenig komplizierter, wenn sich der Gegenstand, von dem die Rede ist, nicht im Blickfeld der Gesprächspartner befindet und doch ein konkreter Gegenstand ist. Wenn z. B. die Rede von einer Kuh ist, die man zusammen mit seinem Gesprächspartner am vorigen Tag gesehen hat. Dann kann die Identifizierung aufgrund mangelhafter Erinnerungsfähigkeit von einem oder beiden Partner scheitern. Ich wage aber zu bezweifeln, dass man diese durch eine noch so präzise Strukturbeschreibung etwa der Kuhherde ersetzen kann. Im Übrigen fällt an dieser Passage auf, dass Carnap vom „ eindeutigen Erkennen “ des Gegenstandes spricht. Ich habe diese Redewendung durch „ eindeutiges Bestimmen “ ersetzt. Denn die Identifizierung des Gesprächsobjekts kann keineswegs bereits mit dem Erkennen dieses Objekts gleichgesetzt werden. Im Gegenteil: die Identifizierung des Erkenntnisobjekts ist lediglich der Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses. Ich finde es bedenklich, dass Carnap diese zwei völlig unterschiedlichen Ebenen vermischt. (Der Leser wird sich erinnern, dass wir bei Schlick auf ein ähnliches Problem gestoßen waren: er hat die Begriffe Wiedererkennen und Erkennen miteinander vermischt, was ihn zu der völlig irrigen Auffassung geführt hat, dass das Erkennen im Rückführen auf das bereits Bekannte bestehe. Wurde diese Auffassung des Erkenntnisprozesses von Carnap unkritisch übernommen? ) Carnap macht weiter darauf aufmerksam, dass eine derartige Kennzeichnung eines Gegenstands normalerweise doch auf andere Gegenstände zurückführt und schließlich in der Anweisung endet, was Carnap mangelhaft erscheint. Diese Feststellung erinnert stark an - Schlicks Beschreibung des Prozesses der Begriffsbildung: die Rückführung eines Begriffes auf andere, elementarere Begriffe und schließlich auf eine hinweisende Definition, die Berufung auf konkrete Wahrnehmungen. Auch für Schlick war die Notwendigkeit, sich auf konkrete Erfahrung zu beziehen, unerwünscht und er wies auf die Möglichkeit der „ impliziten Definitionen “ der Begriffe, also der Definitionen mittels Axiomen hin. Wir haben damals bemerkt, dass dieser Weg in der Geometrie oder - weiter gefasst - in der Mathematik durchaus gangbar sein kann, dass es aber höchst unwahrscheinlich ist, dass er auch in den „ Realwissenschaften “ angewendet werden könnte, da sie sich nicht auf 226 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Systeme von Axiomen stützen können. Interessanterweise weist jedoch Carnap an dieser Stelle auf eine Möglichkeit „ eines eindeutigen Systems von Kennzeichnungen innerhalb eines Gegenstandsgebietes auch ohne Hilfe von Aufweisungen “ hin (LA, S. 16) und es stellt sich alsbald heraus, dass er tatsächlich Schlicks (und Hilberts) „ implizite Definitionen “ meint (LA, S. 19). 144 Nun folgt im § 14 ein ausführliches Beispiel, wie man alle Gegenstände innerhalb eines Gegenstandsgebiets eindeutig kennzeichnen kann, ohne sie durch Hinweisen bezeichnen zu müssen und ohne irgendeinen Gegenstand außerhalb des gewählten Gegenstandsgebiets zu Hilfe zu nehmen. Carnap beschreibt eine Karte der Eisenbahnverbindungen auf einem Gebiet. Er meint, man könne auf dieser Karte alle Bahnhöfe eindeutig bestimmen, ohne sie mit den Ortschaftsnamen zu belegen, da es sehr unwahrscheinlich ist, dass sich zwei Bahnhöfe in genau der gleichen Entfernung von einem bestimmten Knotenpunkt des Netzes (einer Stadt mit den meisten eingehenden und ausgehenden Bahnverbindungen) und auf einer Linie mit genau der gleichen Anzahl von Station zwischen zwei Knotenpunkten befinden. Wenn es nun gelungen sei, ein solches Netzwerk festzulegen, dann nämlich, wenn man nur für einen Punkt des Netzes den Namen gefunden habe, „ so ergeben sich die übrigen leicht, da für die benachbarten Punkte immer nur wenige in Betracht kommen “ (LA, S. 18). Carnap schließt aus diesem Beispiel, dass „ die eindeutige Kennzeichnung durch bloße Strukturangaben allgemein möglich ist, soweit überhaupt wissenschaftliche Unterscheidung möglich ist “ (LA, S. 19). Eine gewagte Behauptung auf der Grundlage - wiederum - nur eines einzigen Beispiels. 145 Denn die Bahnstationen, obschon zahlreich, bleiben stationär (wenngleich eine Station geschlossen und eine andere eröffnet werden kann), was die Bestimmung der entsprechenden Verhältnisse überhaupt möglich macht. Wenn man sich jedoch vorstellt, dass man eine ähnliche Bestimmung eines Vogelschwarms im Flug, eines Fischschwarms in Bewegung, eines Bienenvolks bei der täglichen Arbeit des Nektarsammelns oder einer in vollem Gang befindlichen großen Technoparty unternehmen wollte, würde sich eine solche Aufgabe ungleich schwieriger gestalten. Man weiß, dass, wenn man Bewegungen eines Lebewesens registrieren will, man es mit einem Sendegerät ausstatten muss, das ein Signal emittiert, welches, wenn es durch mehrere Satelliten empfangen wird, die eindeutige Bestimmung der Position des Tiers und seiner Bewegungen erlaubt. Aber in einem solchen Fall wird nicht das Tier durch seinen Ort in einem Netzwerk bestimmt, sondern 144 „ Die beschriebene, rein strukturelle Kennzeichnung ist verwandt mit der impliziten Definition, wie sie von Hilbert für seine Axiomatik der Geometrie [. . .] angewandt und von Schlick [Allgemeine Erkenntnislehre, S. 29ff] in ihrer allgemeinen Methode und wissenschaftlichen Bedeutung dargestellt worden ist “ (LA, S. 19). 145 Interessanterweise hat Rudolf Steiner darauf hingewiesen, dass die meisten Irrtümer der Forschung durch Einseitigkeit entstehen (GA324, S. 15). 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 227 umgekehrt sein Ort durch das spezifische, identifizierbare Signal. Angenommen jedoch, dass es uns gelingt, eine solchermaßen abstrakte Repräsentation eines „ Gegenstandsgebiets “ zu erstellen. Was haben wir damit gewonnen? Um zu Carnaps Beispiel zurückzukehren: Wenn es uns gelungen ist, die Ortschaftsnamen den schwarzen Punkten auf der Karte der Eisenbahnverbindungen eindeutig zuzuordnen, was haben wir dann über diese Ortschaften und über die in ihnen lebenden Menschen gelernt? Wahrlich, herzlich wenig. Es zeigt sich also an dieser Stelle erneut die fast atemberaubende Armut von Carnaps Erkenntnisbegriffs. Aus Carnaps Sicht haben wir damit jedoch sehr viel gewonnen. Der Sinn dieser Übung wird am Ende vom Abschnitt A (des II. Teils) im § 16 offenbar. Dort stellt Carnap fest, dass aus den angestellten Untersuchungen hervorgeht, dass grundsätzlich jeder Gegenstandsname, der in einer wissenschaftlichen Aussage vorkomme, durch eine strukturelle Kennzeichnung des Gegenstands, verbunden mit der Angabe des Gegenstandsgebiets, auf welches sich die Kennzeichnung beziehe, ersetzt werden könne. Diese These gilt Carnap zufolge nicht nur für individuelle Gegenstände, sondern auch für allgemeine Begriffe, Klassen und Relationen. Daraus folgt, dass „ jede wissenschaftliche Aussage grundsätzlich so umgeformt werden kann, dass sie nur noch eine Strukturaussage ist “ (LA, S. 20, Hervorhebung im Original). Eine solche Umformung ist jedoch nach Carnap nicht nur möglich, sondern auch notwendig, denn die Wissenschaft will vom Objektiven sprechen; alles jedoch, was nicht zur Struktur, sondern zum Materialen gehört, alles, was konkret aufgewiesen wird, ist letzten Endes subjektiv. (LA, S. 20) Und weiter: Die Reihe der Erlebnisse ist für jedes Subjekt verschieden. Soll trotzdem Übereinstimmung in der Namengebung erzielt werden für die Gebilde, die auf Grund der Erlebnisse konstituiert werden, so kann das nicht durch Bezugnahme auf das gänzlich divergierende Materiale geschehen, sondern nur durch formale Kennzeichnung der Gebildestrukturen. [. . .] [F]ür die Wissenschaft [ist es] möglich und zugleich notwendig [. . .], sich auf Strukturaussagen zu beschränken. (LA, S. 21, Hervorhebung im Original) An dieser Stelle wird der Ursprung des Problems, das Carnap zu überwinden sucht, sichtbar. Carnap will in der Erkenntnisgewinnung streng empirisch im Sinne von Mach (und Schlick) vorgehen, er will aber letztlich auch zu einer zuverlässigen (objektiven und sicheren) Erkenntnis gelangen. Seiner Ansicht nach müssen die Mach ’ schen „ Empfindungen “ oder „ die Reihe der Erlebnisse “ eines jeden Subjekts zwangsläufig subjektiv sein. Da er die in der Vielfalt der sinnlichen Erfahrungen zum Tragen kommende einheitsstiftende Rolle der Begriffe nicht anerkennen kann, weil er dem Nominalismus huldigt und die Wirklichkeit der Begriffe nicht zugeben will, und weil er das, was wir gewöhnlich als „ Eigenschaften “ bezeichnen, nicht zulassen will, da diese 228 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus durch „ die Reihe der Erlebnisse “ des Subjekts erkannt werden, die ihm subjektiv und deshalb suspekt erscheinen, muss er für die begriffliche Einheit der an Eigenschaften reichen Erfahrung einen Ersatz finden, um überhaupt zur objektiven (und sicheren) Erkenntnis gelangen zu können. Den Ersatz für die Begriffe erblickt er in den Strukturaussagen. Diese sind für ihn von den subjektiven Sinnesdaten unabhängig, oder können zumindest von ihnen unabhängig gemacht werden, und zumindest im Prinzip für jedes Subjekt gleich, also objektiv. An diesem Punkt ergeben sich wenigstens drei Fragen: 1) Wie begründet Carnap die These, dass alles, was „ zum Materialen gehört “ , letztes Endes subjektiv ist; 2) Wie begründet er die These, dass die Struktur objektiv ist; 3) Kann die Strukturbeschreibung wirklich die uns von den Begriffen (auch Begriffe für Eigenschaften) geleisteten Dienste ersetzen? Betrachten wir diese Fragen nun genauer. Die einzige Begründung der ersten These, die ich in Carnaps Werk finde, beschränkt sich auf die oben zitierten Zeilen: Erlebnisse seien subjektiv, also müssen die Namen, die auf Grund dieser Erlebnisse (des divergierenden Materialen) konstituiert werden, auch subjektiv sein. So formuliert besteht dieser Gedanke aus einer Prämisse und einem Schluss. Die Prämisse lautet: „ Alle Erlebnisse sind subjektiv “ , der Schluss: „ Die Namen, die auf Grund dieser Erlebnisse konstituiert werden, sind auch subjektiv “ . Als eine Schlussfigur ist dieser Gedankengang offensichtlich ungültig. Er braucht eine „ obere Prämisse “ , um ihn zum einem gültigen Syllogismus umzuformen. Die könnte ungefähr so aussehen: „ Was auf Grund von subjektiven Daten konstituiert wird, ist auch subjektiv “ . Mit Hilfe dieser Prämisse erhalten wir einen gültigen Syllogismus: Alles, was auf Grund von subjektiven Daten konstituiert wird, ist auch subjektiv. Alle Erlebnisse sind subjektiv. \ Alle Namen, die auf Grund der Erlebnisse konstituiert werden, sind subjektiv. Jetzt stimmt die Schlussfigur (Modus Barbara), die Frage ist aber, ob die Prämissen wahr sind. Fangen wir mit der unteren Prämisse an, da wir sie schon paar Mal berührt haben. „ Alle Erlebnisse sind subjektiv “ . Carnap scheint sie als einen Schluss aus der Beobachtung abzuleiten, dass die Reihe der Erlebnisse für jedes Subjekt verschieden sei. Das ist sicher richtig, folgt jedoch daraus, dass alle Erlebnisse subjektiv sind? Dies würde nur dann folgen, wenn man verlangen würde, dass nur das objektiv ist, was für alle Subjekte identisch ist. Ist dies eine berechtigte Forderung? Es ist anzunehmen, dass mein Erlebnis des pythagoreischen Lehrsatzes nicht identisch ist mit dem Erlebnis des gleichen Lehrsatzes des werten Lesers oder der werten Leserin, was uns jedoch nicht daran hindert, darin einig zu sein, dass der Satz stimmt. Wenn man die Behauptung „ alle Erlebnisse sind subjektiv “ ganz streng auslegt, müsste man auch schließen, dass alle unsere Gedankenerlebnisse oder Erkenntniserlebnisse - die letztendlich zunächst nichts anderes sind als eben unsere Erlebnisse, wenn auch „ inneren “ , keine sinnlichen - bloß sub- 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 229 jektiv sind, und folglich auch die Gedankenerlebnisse Carnaps, die ihn zum Verfassen seines Buches geführt haben, und das wiederum würde bedeuten, dass auch sein Buch bloß subjektiv ist. Dies mag stimmen, ist aber sicher nichts, was Carnap behaupten wollte. Um also überhaupt begründete Hoffnung auf das Erlangen objektiver Erkenntnis haben zu können, muss es entweder so sein, dass nicht alle Erlebnisse bloß subjektiv sind, oder, dass wir aufgrund von subjektiven Erlebnissen zu objektiven Schlüssen kommen können, oder beides. In Bezug auf die angebliche Subjektivität jeglicher Erlebnisse scheint es angebracht, zwischen mindestens zwei sehr umfänglichen Klassen von Erlebnissen zu unterscheiden: die eine umfasst die Erlebnisse/ Erfahrungen der Art: „ Dies gefällt mir “ , „ Dies gefällt mir nicht “ . Die andere Erlebnisse/ Erfahrungen der Art: „ Dies ist eine Kuh “ , „ Dies ist blau “ . Auffallend ist, dass in den Sätzen, die Erlebnisse der ersten Klasse beschreiben, das Personalpronomen (im Dativ) auftaucht, was klarmacht, dass sich die Aussage auf eine bestimmte Person mit ihren individuellen, persönlichen, subjektiven Eigenschaften bezieht. Dies ist jedoch für die zweite Klasse der Erlebnisse eindeutig nicht der Fall: Diese Aussagen beschreiben - zumindest oberflächlich betrachtet - keine subjektiven Reaktionen auf Weltphänomene, sondern diese Weltphänomene selbst. Auffallend ist ferner, dass, während wir in Bezug auf die Aussagen der ersten Klasse keineswegs Übereinstimmung von anderen erwarten, wir das bei Aussagen der zweiten Klasse durchaus tun und dementsprechend recht erstaunt wären, wenn unser Gesprächspartner, nachdem wir ihm gegenüber festgestellt haben, „ Dies ist eine Kuh “ , erwidern würde, „ Nein, dies ist ein Kaninchen/ Kamel “ . Es scheint also durchaus möglich, dass man persönliche, individuelle Erfahrungen hat, die dennoch objektiv sind. Und da wir gewöhnlich im Alltagsleben von einer solchen Möglichkeit ausgehen (wir sagen nicht: „ Ich sehe den blauen Himmel, doch das ist sicher bloß ein subjektives Erlebnis “ ), scheint mir der Beweislast für die gegenteilige These bei ihren Befürwortern zu liegen. Betrachten wir jetzt die zweite Prämisse genauer: „ Alles, was aufgrund von subjektiven Daten konstituiert wird, ist auch subjektiv. “ Um sie adäquat untersuchen zu können, müssen wir uns zunächst die Bedeutung des Begriffs „ Konstituieren “ in Erinnerung rufen. Wir erinnern uns, dass Carnap auf S. 2 feststellte: „ ‚ a aus b, c konstituieren ‘ soll bedeuten: eine allgemeine Regel aufstellen, die angibt, in welcher Weise man in jedem einzelnen Falle eine Aussage über a umformen muss, um eine Aussage über b, c zu erhalten “ , und dass er den Begriff der „ Konstitution “ dem Begriff der „ Rückführung “ (von a auf b, c) gleichsetzte. Mir scheint nun, dass, wenn man nur mit subjektiven Daten als Ausgangspunkt zu tun hat (also Aussagen der Art: „ Dies gefällt mir “ , „ Ich mag ihn nicht “ usw.), es tatsächlich schwierig sein wird, auf dieser Basis zu objektiven Feststellungen zu kommen. Wenn man jedoch den Begriff des „ auf Grund “ erweitert, zeigt sich, dass auch die These, „ auf Grund subjektiver Erfahrungen gibt es keine objektive Erkenntnis “ , überhaupt nicht 230 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus so sicher ist, wie sie zunächst scheinen mag. Ich kann diese Behauptung wiederum anhand eines fiktiven Gesprächs belegen. Stellen wir uns vor, dass eine Grundschullehrerin ihren Schülern die Grundelemente der Geometrie beibringen will. Sie zeichnet ein großes, schönes Haus mit gelben Wänden und mit einem roten Satteldach an die Tafel. Die Schüler sind begeistert, es gefällt ihnen. Die Lehrerin erklärt dann: „ Seht ihr diese vordere gelbe Wand? Wie viele Seiten hat sie? „ Vier “ sagen die Kinder. „ Und welche Form hat sie “ , fragt die Lehrerin. Die Kinder wissen es nicht, sie kann ihnen aber erklären: „ Diese Form nennt man ‚ Rechteck ‘“ , und ihnen auch erläutern, was es damit auf sich hat. Demnach kann man auf Grund von teilweise subjektiven Erlebnissen ( „ Das Bild gefällt mir “ ) zu objektiven Erkenntnissen gelangen. Es ist vielleicht angebracht, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass praktisch jede wissenschaftliche Tätigkeit mit einem subjektiven Erlebnis anfängt. Ein Mensch entdeckt, dass er von Lilien magisch angezogen wird, und beschließt, sie zu studieren. Eine andere Person findet Ameisen faszinierend und widmet sich ihrer Erforschung. Eine dritte Person findet Erzählungen von vergangenen Zeiten und Menschen sehr bewegend und beschließt, Historiker zu werden. Es scheint also in gewissem Sinne berechtigt zu sagen, dass jede objektive Erkenntnis auf Grund von subjektiven Daten entsteht. Wir erinnern uns, dass Carnap diesen Punkt am Anfang seines Buches selbst einräumt, wo es heißt: Jede wissenschaftliche These muss sich rational begründen lassen; das bedeutet aber nicht, dass sie auch rational durch verstandesmäßige Überlegung, gefunden werden müsse. Grundeinstellung und Interessenrichtung entstehen nicht durch Gedanken, sondern sind bedingt durch Gefühl, Trieb, Anlage, Lebensumstände. (LA, S. V) Es scheint also, dass Carnaps Behauptung ( „ Alle Namen, die auf Grund der Erlebnisse konstituiert werden, sind subjektiv “ ) durch seine Argumente nicht ausreichend gestützt wird. Wie wir aber wissen, kann sie dennoch richtig sein. Schauen wir uns diese Behauptung nochmals an: Die Reihe der Erlebnisse ist für jedes Subjekt verschieden. Soll trotzdem Übereinstimmung in der Namengebung erzielt werden für die Gebilde, die auf Grund der Erlebnisse konstituiert werden, so kann das nicht durch Bezugnahme auf das gänzlich divergierende Materiale geschehen, sondern nur durch formale Kennzeichnung der Gebildestrukturen. Auch bei nochmaliger Betrachtung erscheint seine Behauptung sehr merkwürdig. Denn ist es nicht so, dass im Alltagsleben eine sehr hohe Übereinstimmung in der „ Namengebung “ herrscht? Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir für gewöhnlich Übereinstimmung unserer Mitmenschen erwarten, wenn wir einen Gegenstand als „ Baum “ und einen anderen als „ Maus “ bezeichnen. Es ist durchaus richtig, dass es auch Zweifelsfälle und Zwischenfälle gibt, wo die Zuordnung eines Gegenstands zu einer Klasse nicht eindeutig oder nicht einfach ist, im Großen und Ganzen aber herrscht im 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 231 Alltagsleben Übereinstimmung, nicht Chaos. Und merkwürdigerweise ist diese Übereinstimmung doch auf Grund unserer Erlebnisse entstanden. Wie dies konkret geschieht, wissen wir nicht, und der Weg dazu mag rätselhaft scheinen. Die Tatsache der überwiegenden Übereinstimmung in der Namengebung im Alltagsleben dürfte jedoch unbestritten sein. Warum also will Carnap das Rad neu erfinden? Die Antwort auf diese Frage habe ich eigentlich bereits gegeben. Er sieht nicht die Rolle der Begriffe in unserer unmittelbaren Erfahrung und landet dadurch bei seiner (eigentlich völlig künstlichen) Schwierigkeit. Wir haben anlässlich der Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre bereits gesehen, dass kein Geringerer als der große Logiker und Mathematiker Gottlob Frege schon 1918 darauf hingewiesen hatte, dass wir alle nicht unzählige Begriffe, sondern nur einen Begriff etwa des pythagoreischen Lehrsatzes haben. Doch für Carnap wie für alle Nominalisten sind Begriffe völlig künstliche, von den Menschen bloß zu ihrer Bequemlichkeit im täglichen Umgang mit der Erfahrungswelt erfundene Fiktionen, bloß eine Art von willkürlicher Signatur in Bibliothekskatalogen (Schlick), die unmöglich zur Erlangung der objektiven Erkenntnis beitragen können. Er wollte oder konnte nicht einsehen, dass Begriffe bereits Teil der elementarsten Erfahrungen sind. Man kann an dieser Stelle mit einen der einflussreichsten Philosophen der Gegenwart, John McDowell, sagen: [W]hen we enjoy experience conceptual capacities are drawn on in receptivity, not exercised on some supposedly prior deliverances of receptivity. And it is not that I want to say they are exercised on something else. It sounds off key in this connection to speak of exercising conceptual capacities at all. That would suit an activity, whereas experience is passive. In experience one finds oneself saddled with content. One ’ s conceptual capacities have already been brought into play, in the content ’ s being available to one, before one has any choice in the matter. (McDowell 1998, S. 10, Hervorhebung im Original) Wenden wir uns jetzt Carnaps Behauptung oder Annahme zu, dass die Strukturaussagen zwangsläufig objektiv sind. Bezeichnenderweise gibt er keine Begründung für diese Behauptung, sondern betrachtet sie offensichtlich als eine Selbstverständlichkeit. Ist sie das aber? Gibt es wirklich nur eine mögliche Strukturbeschreibung eines bestimmten Ausschnitts der Wirklichkeit? Betrachten wir nochmals Carnaps eigenes Beispiel der Karte der Bahnverbindungen. Gibt es tatsächlich nur eine einzige Möglichkeit die entsprechenden Verhältnisse auf einem bestimmten Gebiet strukturell abzubilden? Ist es nicht vielmehr so, dass wir, wenn wir eine solche Karte erstellen wollen, vor einigen mehr oder weniger arbiträren Entscheidungen stehen: Welcher Bahnhof ist wichtiger: Bern oder Zürich? ; Soll man den praktisch nicht mehr benutzten Bahnhof Ringoldingen auf der Karte immer noch aufführen oder soll er weggelassen werden? ; Soll man die Verbindung zwischen Interlaken und Thun, die sehr stark frequentiert ist, in gleicher Weise auf der Karte aufführen, wie die Verbindung Spiez-Zweisimmen, die sehr viel weniger befahren wird, oder nicht? Und was machen wir mit der 232 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus heute eigentlich nicht mehr benutzten Strecke Oey-Diemtigen: soll sie noch auf der Karte erscheinen (die Schienen sind noch da) oder nicht (es fahren keine Züge mehr dort) usw.? Betrachten wir jedoch auch eine etwas unübersichtlichere Situation: die einer großen Hühnerfarm mit Freilaufhaltung. Auf dieser Farm haben die Hühner keine festen „ Wohnplätze “ , sondern laufen frei und ziemlich chaotisch auf einer recht große Fläche herum. Wie sollen wir eine adäquate Strukturbeschreibung einer solchen Farm nach Carnaps Art liefern? Ich wüsste ehrlich nicht, wo ich überhaupt anfangen sollte . . . Übrigens dürfte Carnap gewusst haben, dass eine Strukturbeschreibung sicher nicht zwingend objektiv sein muss. Das vielleicht bekannteste Beispiel des Problems ist hier das ptolemäische Weltsystem mit der Erde im Zentrum, planetarischen Sphären, der Sphäre der Fixsternen, dem achtem Himmel, mit Epizykeln usw. Carnap könnte zwar argumentieren, dass diese Beschreibung keine Strukturbeschreibung in seinem Sinne sei, aber dann hätte er genau angeben müssen, welche Strukturbeschreibung seiner Vorstellung der Strukturbeschreibung entspricht. Dies hat er nicht getan. Er schreibt stets, als ob jegliche Strukturaussagen allein kraft der Tatsache, dass sie Strukturaussagen darstellen, wissenschaftlich und objektiv sind. Sobald man jedoch realisiert, dass selbst eine wohlgemeinte Strukturaussage nicht der Wirklichkeit entsprechen muss, muss man sich die Frage stellen, welche Bedingungen sie erfüllen muss, dass wir ihr Objektivität zuschreiben können. Sobald man dies jedoch macht, ist es schwer, sich der Konsequenz zu entziehen, dass die Kardinalbedingung der Objektivität einer Strukturaussage in ihrer Entsprechung mit der Wirklichkeit besteht. Das Problem, das sich für Carnap aus dieser recht offensichtlichen Feststellung ergibt, ist, dass die Strukturaussage zu einem bloßen Model der Wirklichkeit reduziert wird, einem Modell, das auf das jeweilige Gegenstandsgebiet ausgerichtet sein muss. Ein solches Zugeständnis würde jedoch Carnaps Hoffnung zunichtemachen, dass man alle Gegenstandsgebiete der einzelnen Wissenschaften via Strukturaussagen auf ein einziges Gebiet werde zurückführen können, um so die Einheitswissenschaft zu etablieren. Kommen wir jetzt zur dritten Frage: Können Strukturbeschreibungen Begriffe (einschließlich Begriffe für Eigenschaften) ersetzen? Wir haben bereits gesehen, dass sich Carnap aufgrund nur eines einzigen Beispiels (die Karte der Eisenbahnverbindungen) zu der Feststellung bemüßigt fühlt, dass „ die eindeutige Kennzeichnung durch bloße Strukturangaben allgemein möglich ist “ (meine Hervorhebung, MBM). Ist das wirklich so? Wir wissen, dass die klassische Art, ein Objekt einer Klasse zuzuordnen, grundsätzlich auf dem bereits in der Antike bekannten Vorgehen beruht, das die Bestimmung des „ genus proximum “ und dann die genauere Bestimmung des gegebenen Objekts mittels der „ differentia specifica “ vorsieht. Wenn wir also beispielsweise wissen, dass es sich in einem konkreten Fall um ein Tier, ein Säugetier, ein vierbeiniges Tier, ein Haustier handelt, dann werden wir unschwer darauf kommen, dass es sich entweder um einen Hund oder um 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 233 eine Katze handeln muss (es besteht hier sicherlich die Möglichkeit eines Irrtums, z. B. könnte es sein, dass jemand eine Ratte meinte und Ratten als „ Haustiere “ taxierte), und wenn wir weiter erfahren, dass das fragliche Tier „ miau “ und nicht „ wau wau “ macht, dann werden wir sicher sein, dass es sich um eine Katze handelt. Im Großen und Ganzen kommen wir mit diesem Vorgehen im Leben und auch in der Wissenschaft sehr gut klar. Carnap will jedoch keine Begriffe zulassen, weil sie ihm bloße arbiträre Namen sind, und er will auch keine Eigenschaften zulassen, weil sie ihm zu subjektiv sind. Wir dürfen also seiner Meinung nach nicht sagen, dass das Ding vor uns ein Tier ist, weil es sich bewegt und sich selber ernähren kann, und wir dürfen nicht sagen, dass es ein Säugetier ist, weil es seine Junge mit Muttermilch versorgt usw. - wir sollen diese ziemlich unbedenklichen Feststellungen durch „ Strukturaussagen “ ersetzen. Ich wäre Carnap sehr dankbar gewesen, wenn er geschildert hätte, wie wir nicht im Falle eines Bahnhofs auf der Strecke Bern-Zürich, sondern in einer solchen Situation (Säugetier) die unzweideutige, rein strukturelle Bestimmung des vor uns stehenden Dings leisten könnten, weil ich hier völlig ratlos bin. Und wenn ich darüber hinaus die Entscheidung treffen sollte, ob es sich bei dem fraglichen Tier um eine Katze namens Camilla (die schwarz-weiß ist) oder Damon (der ganz grau ist) handelt, ohne auf „ schwarz “ , „ weiß “ , „ grau “ usw. zurückgreifen zu dürfen, dann wäre ich ganz verzweifelt. Es ist also kaum vorstellbar, dass die bloßen Strukturbeschreibungen die Begriffe und Eigenschaftsbeschreibungen unserer Lebenswelt je werden ersetzen können. Demnach darf man wohl sagen, dass sowohl Carnaps Befürchtungen als auch seine Hoffnungen der kritischen Untersuchung nicht standhalten können. Die Befürchtung, dass aufgrund „ subjektiver Erlebnisreihen “ keine objektive Erkenntnis zustande kommen kann, ist ebenso aus der Luft gegriffen wie die Hoffnung, dass die Strukturbeschreibungen immer objektiv sein werden und dass sie die Begriffe (auch die Begriffe für Eigenschaften) werden ersetzten können. Carnaps Vorstellung, dass „ es für die Wissenschaft möglich und zugleich notwendig ist, sich auf Strukturaussagen zu beschränken “ (LA, S. 21), führt zu einer weiteren und gravierenden Schwierigkeit, auf die ich aber erst weiter unten werde eingehen können. Das Wesen der Zurückführbarkeit und der Konstitution Betrachten wir jetzt einen weiteren zentralen Punkt von Carnaps System: seine Vorstellungen bezüglich der „ Zurückführbarkeit “ der höherstufigen Begriffe auf Grundbegriffe und der „ Konstitution “ der „ Gegenstände “ der höheren aus jenen der tieferen Stufen. Wir haben bereits gesehen, was er im Allgemeinen damit meint: [D]ie Begriffe sollen aus gewissen Grundbegriffen stufenweise abgeleitet, „ konstituiert “ werden, so dass sich ein Stammbaum der Begriffe ergibt, in dem jeder Begriff seinen bestimmten Platz findet. “ (LA, S. 1, Hervorhebung im Original) 234 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Und weiter: „ a auf b, c zurückführen “ oder „ a aus b, c konstituieren “ soll bedeuten: eine allgemeine Regel aufstellen, die angibt, in welcher Weise man in jedem einzelnen Falle eine Aussage über a umformen muss, um eine Aussage über b, c zu erhalten. Diese Übersetzungsregel nennen wir „ Konstitutionsregel “ oder „ konstitutionale Definition. “ (LA, S. 2, Hervorhebung im Original) Schließlich: Unter einem „ Konstitutionssystem “ verstehen wir eine stufenweise Ordnung der Gegenstände derart, dass die Gegenstände einer jeden Stufe aus denen der niederen Stufe konstituiert werden. Wegen der Transitivität der Zurückführbarkeit werden dadurch indirekt alle Gegenstände des Konstitutionssystems aus den Gegenständen der ersten Stufe konstituiert; diese „ Grundgegenstände “ bilden die „ Basis “ des Systems. (LA, S. 2, Hervorhebung im Original) Im § 35 ( „ Zurückführbarkeit; Konstitution “ ) gibt Carnap eine - wie er meint - genauere Definition der Zurückführbarkeit und Konstitution der Gegenstände. Um diese genauere Definition verstehen zu können, braucht man einen Begriff, den Carnap im § 28 ( „ Die Aussagenfunktionen “ ) einführt. Streicht man in einem Satz die Gegenstandsnamen, so sagen wir von dem Zeichen (bzw. dem Satz), das dann übrigbleibt, es bezeichne eine „ Aussagefunktion “ (LA, S. 38). Nehmen wir einen einfachen Satz: „ Luchs ist ein Hund “ (vgl. S. 36; Luchs ist ein Hundename). Ich kann das Wort „ Luchs “ aus dem Satz streichen und erhalte dann die Form: „ . . . ist ein Hund “ . Diese bezeichnet Carnap als „ Aussagefunktion “ , denn es ist offensichtlich, dass an der Stelle von „ . . . “ nicht nur „ Luchs “ , sondern unzählige andere Namen eingesetzt werden können. Carnap bezeichnet dann den gestrichenen Name als „ Argument “ , die leeren Stellen als „ Argumentstellen “ und führt den Begriff des „ zulässigen Arguments “ ein, also eines Namens/ Wortes/ Begriffs, der die Argumentstelle einer Aussagefunktion besetzen kann. In unserer Aussagefunktion wäre „ Luchs “ ein zulässiges Argument, „ Paris “ aber nicht (wobei Carnap nicht klarmacht, wie man die zulässigen von den nicht zulässigen Argumenten unterscheiden kann. Schließlich kann ich meinen Hund „ Paris “ nennen). Schließlich schreibt er, dass es besser sei, die Argumentstelle, statt sie leer zu lassen, durch das Zeichen einer Variablen kenntlich zu machen, also anstelle von: „ . . . ist ein Hund “ , „ x ist ein Hund “ zu schreiben. Im § 32 ( „ Die Extension einer Aussagefunktion “ ) schreibt er weiter: Stehen zwei Aussagefunktionen in dem Verhältnis zueinander, dass jeder Gegenstand (bzw. Paar, Tripel usw.), der die eine befriedigt, auch die andere befriedigt (ein Gegenstand „ befriedigt “ die Aussagefunktion, falls wenn man diesen Gegenstand anstelle der Variablen in der Aussagefunktion einsetzt, ein wahrer Satz entsteht), so sagen wir: die erste „ impliziert generell “ die zweite. Stehen zwei Aussagefunktionen gegenseitig in diesem Verhältnis der generellen Implikation, so heißen sie „ generell äquivalent “ oder „ umfangsgleich “ . (LA, S. 42, Hervorhebung im Original) 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 235 Mit dem Verständnis des Begriffs Aussagefunktion ausgestattet, können wir jetzt Carnaps Erläuterungen zum Wesen der Zurückführung und der Konstitution verfolgen. Was den Begriff der Zurückführbarkeit betrifft, schreibt er: Gibt es zu jeder Aussagefunktion ausschließlich über die Gegenstände a, b, c,. . . (wobei b, c . . . auch nicht fehlen dürfen) eine umfangsgleiche Aussagefunktion ausschließlich über b, c . . .., so heißt a „ zurückführbar “ auf b, c,. . .. Kürzer, aber weniger genau, können wir demnach sagen: ein Gegenstand heißt auf andere „ zurückführbar “ , wenn alle Sätze über ihn übersetzt werden können in Sätze, die nur noch von den anderen Gegenständen sprechen “ . (LA, S. 47, Hervorhebung im Original) Es folgt ein Beispiel: Den Satz „ x ist eine Primzahl “ könne man auf den Satz „ x ist eine natürliche Zahl, die nur die Eins und sich selbst als Teiler hat “ zurückführen. Also ist der Begriff „ Primzahl “ auf die Begriffe „ natürliche Zahl “ und „ Teiler “ „ zurückführbar “ . Mit diesen Begriffen ausgestattet, kann man jetzt auch die Festlegung des Begriffs der Konstitution präzise angeben: Einen Begriff aus andere Begriffen „ konstituieren “ soll bedeuten: seine „ konstitutionale Definition “ auf Grund der anderen Begriffe angeben. Unter einer „ konstitutionalen Definition “ des Begriffes a auf Grund der Begriffe b, c verstehen wir eine Übersetzungsregel, die allgemein angibt, wie jede Aussage, in der a vorkommt, verwandelt werden kann in eine umfangsgleiche Aussagefunktion, in der nicht mehr a, sondern nur noch b, c vorkommen. Im einfachsten Falle besteht eine solche Übersetzungsregel in der Anweisung, a überall, wo es vorkommt, zu ersetzen durch einen bestimmten Ausdruck, in dem nur noch b, c vorkommen ( „ explizite “ Definition). (LA, S. 47) Es muss wiederum darauf hingewiesen werden, dass, auch wenn die mathematischen bzw. geometrischen Begriffe durchaus, wie Carnap es sich wünscht, aufeinander „ zurückgeführt “ und gegenseitig „ konstituiert “ werden können, es mindestens sehr fraglich ist, ob man auf die gleiche Art Katzen auf Hühner „ zurückführen “ bzw. jene aus diesen „ konstituieren “ kann. Es ist in dieser Hinsicht festzuhalten, dass Carnap kein Beispiel für eine solche „ lebensweltliche “ „ Zurückführung “ bzw. „ Konstitution “ liefert. Wir haben bis jetzt die Definition der Zurückführbarkeit aus dem § 35 diskutiert. Interessanterweise finden wir bei Carnap noch eine zweite Definition dieses Begriffs. Im § 47 schreibt er, dass die Konstitutionstheorie alle Gegenstände aller Wissenschaften „ nach ihrer Zurückführbarkeit aufeinander in ein System ordnen “ wolle (LA, S. 65) und stellt fest, dass das Kriterium der Zurückführbarkeit auch in „ realistischer Sprache “ formuliert werden könnte. Diese Formulierung lautet dann folgendermaßen: Wir nennen einen Gegenstand a „ zurückführbar auf die Gegenstände b, c,. . . “ , wenn sich für das Bestehen jedes beliebigen Sachverhaltes in Bezug auf Gegenstände a, b, c . . . eine notwendige und hinreichende Bedingung angeben lässt, die nur von den Gegenständen b, c,. . . abhängt. (LA, S. 65, Hervorhebung im Original) 236 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Carnap behauptet, dass es sich bei dieser Formulierung lediglich um eine „ andere Form “ des Kriteriums aus § 35 (LA, S. 47 f) handle, eine Form, die nicht bloß von Aussagenfunktionen und ihren logischen Beziehungen handelt, sondern von „ Sachverhalten und ihren sachlichen Beziehungen “ . Diese Feststellung erstaunt wiederum, denn es dürfte offensichtlich sein, dass es sich hier im Vergleich mit der Definition, die auf S. 47 gegeben worden ist, um eine völlig neue und viel strengere Bedingung der Zurückführbarkeit handelt. Jetzt geht es nicht bloß darum, dass „ alle Sätze “ über einen Gegenstand a in Sätze über andere Gegenstände überführt werden können, sondern darum, dass man - effektiv - zeigen kann, wie die „ Sachverhalte “ , in denen Gegenstand a vorkommt, von den anderen Gegenständen (b, c . . .) verursacht werden (wobei Carnap den Begriff der Verursachung an dieser Stelle tunlichst vermeidet). Denn „ eine notwendige und hinreichende Bedingung von a “ anzugeben, galt damals (heute hat sich das Bild verkompliziert) als äquivalent zu „ die Ursache von a “ anzugeben. Akzeptiert man dieses Kriterium der Zurückführbarkeit, wird die Konstitution der Gegenstände tatsächlich anspruchsvoll. Man muss nämlich eine allgemeine Regel finden, die aufzeigt, wie die Sachverhalte, in denen nur b, c, usw. vorkommen, die Sachverhalte verursachen, in denen auch a vorkommt. Man muss sich die ganze Tragweite dieser Modifikation vor Augen führen. Erstens dürfte offensichtlich sein, dass diese Definition nicht auf mathematische „ Gegenstände “ anwendbar ist. Wir haben aber gesehen, dass bis jetzt hauptsächlich diese als Beispiele für die „ Zurückführbarkeit “ oder „ Konstitution “ gedient haben. Schon der Umstand, dass sie nach dem neuen Kriterium der Zurückführbarkeit aus dem Umfang dieses Begriffs ausgeschlossen sind, zeigt, dass Carnap mit seiner scheinbar unbedeutenden Modifikation völlig neue Verhältnisse geschaffen hat. Zweitens dürfte ebenso offensichtlich sein, dass das neue Kriterium der Zurückführbarkeit kein logisches, sondern ein empirisches Kriterium ist. Die Annahme dieses Kriterium verpflichtet uns zu der empirischen Suche und Überprüfung, ob die Sachverhalte, in denen a vorkommt, tatsächlich durch Sachverhalte, in denen nur b, c, usw. vorkommen, verursacht werden. Eine solche Überprüfung kann sich als sehr komplex erweisen, denn es nicht immer einfach ist, die Kräfte/ Entitäten, die bei der Entstehung eines bestimmten „ Sachverhalts “ mitwirken, zu identifizieren. Es dauerte lange, bis die Menschen realisierten, dass z. B. die Luft eine notwendige Bedingung der Schallübertragung ist, der Sauerstoff eine notwendige Bedingung der Verbrennung, und noch länger, bis sie realisierten, dass die Schwerkraft eine notwendige Bedingung der normalen Entwicklung der Muskeln und Knochen darstellt. Drittens: weil Carnap vom Bestehen jedes beliebigen Sachverhaltes in Bezug auf a spricht, erweist sich diese empirische Suche als prinzipiell unabschließbar. Wenn man dieses Kriterium wörtlich nimmt, müsste man „ das Ende der Forschung “ abwarten, um mit Sicherheit feststellen zu können, ob der Gegenstand a auf Gegenstände b, c, usw. zurückführbar ist oder nicht. Denn selbst wenn uns 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 237 gelingen würde zu zeigen, dass in sehr vielen Fällen von Sachverhalten, in denen a vorkommt, diese als durch b, c, usw. verursacht betrachtet werden können, muss die Möglichkeit offen bleiben, dass sich später solche Sachverhalte mit a finden werden, die nicht als durch b, c usw. verursacht betrachtet werden können. Ein heute sehr gut bekanntes Beispiel dieser Situation sind Phänomene des Bewusstseins in ihrem Verhältnis zur Aktivität des Gehirns. Bis vor kurzem galt es als ein selbstverständliches Dogma, dass Bewusstseinsphänomene durch Gehirnaktivität verursacht werden (und deshalb auf diese reduziert werden können), doch das Bekanntwerden der sogenannten Nahtoderfahrungen, also von verschieden(st)en Bewusstseinsphänomenen, die auch dann zustande kommen, wenn das Gehirn klinisch tot und somit völlig inaktiv ist, hat dieses Dogma erschüttert. Die Gleichsetzung der Bedingung der Zurückführbarkeit „ von a auf b, c “ mit dem Nachweis, dass b und c notwendig und hinreichend für a sind, verwandelt also Carnaps Projekt von einer realistischen - wenn auch anspruchsvollen - wissenschaftlichen Aufgabe in eine bloß hypothetische, aber nie abschließbare Möglichkeit. Zurückfahrbarkeit, Konstitution, strukturelle Aussagen und Erkenntnis Ich habe bei der Diskussion der §§ 12 bis 16 darauf hingewiesen, dass Carnaps Behauptung, dass es „ für die Wissenschaft möglich und zugleich notwendig ist, sich auf Strukturaussagen zu beschränken “ (LA, S. 21), zu einer weiteren und gravierenden Schwierigkeit führt, die jedoch erst später betrachtet werden kann. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen, dies zu tun. Wir haben gesehen, dass Carnap einen „ Stammbaum “ der Begriffe errichten will, innerhalb dessen die höherstufigen Begriffe auf die Grundbegriffe „ zurückgeführt “ bzw. die höherstufigen aus den Grundbegriffen „ konstituiert “ werden können. Wir haben aber auch gesehen, dass Carnap ebenfalls hofft, die Begriffe durch „ Strukturbeschreibungen “ zu ersetzen, da nur diese die nötige Präzision und Stabilität wissenschaftlicher Aussagen garantieren könnten. Deshalb sei es für die Wissenschaft nicht nur möglich, sondern sogar notwendig, „ sich auf Strukturaussagen zu beschränken “ . In jedem Fall soll also zumindest die Grundlage, die Basis des Stammbaums der Begriffe von reinen Strukturaussagen gebildet werden. Nun stellen wir uns vor, dass es uns trotz der oben angedeuteten nicht unerheblichen Schwierigkeiten gelungen ist, dies zu leisten. Wir haben jetzt die Lebenswelt auf Strukturaussagen reduziert. Haben wir damit die Lebenswelt erkannt? Schließlich ist es die Aufgabe der Wissenschaft, die Erkenntnis der Lebenswelt zu liefern, und Carnap geht es darum, uns zu zeigen, wie eine solche gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis zustande kommen kann ( „ Es handelt sich hier hauptsächlich um die Frage der Erkenntnislehre [. . .] “ , S. III, Hervorhebung im Original). Haben wir also die Erkenntnis der Lebenswelt erlangt, indem wir diese Welt auf Strukturaussagen zurückgeführt haben? 238 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Zunächst ist festzuhalten, dass Carnap auch für die durchaus kontroverse These, dass es für die Wissenschaft möglich und zugleich notwendig ist, sich auf Strukturaussagen zu beschränken, praktisch keine Argumente gibt. Wir haben bereits gesehen, dass er sich aufgrund nur eines einzigen Beispiels (die Karte der Eisenbahnverbindungen) zu der Feststellung bemüßigt fühlt, dass „ die eindeutige Kennzeichnung durch bloße Strukturangaben allgemein möglich ist “ , was ihm scheinbar die Berechtigung gibt, die fragliche These zu formulieren. Abgesehen davon, dass es offensichtlich unzulässig ist, aufgrund nur eines Beispiels eine Verallgemeinerung mit einer uneingeschränkten Geltung zu treffen, müssen wir uns den Unterschied zwischen der Karte der Eisenbahnverbindungen und der Realität unserer Lebenswelt vor Augen führen. Denn der Sprung von Carnaps Beispiel zu dem realen Universum mit seinen äußerst komplexen Strukturen insbesondere im Bereich der Lebewesen ist wahrlich atemberaubend. Könnten wir eine in Carnaps Sinne adäquate Strukturbeschreibung einer Wiese oder sagen wir einer bloß 1000 km 2 großen Fläche des Regenwalds im Amazonasbecken (dessen Gesamtfläche etwa fünf Millionen Quadratkilometer umfasst) geben? Oder betrachten wir ein anderes, vielleicht näherliegendes Beispiel: Wir wissen heute genauer, wie schwierig es ist, die Struktur des menschlichen Gehirns zu erforschen, mit seinen ca. 100 Milliarden Nervenzellen, von denen jede über mehrere Tausend Verbindungen mit anderen Nervenzellen verfügt, noch dazu Verbindungen, die sich im ständigen Umbau befinden. Es ist gut möglich, dass sich diese Struktur nie zu Ende erforschen lassen wird. Wie ließe sich dann aber die Struktur des ganzen menschlichen Körpers genau bestimmen, von dem das Gehirn nur ein Organ unter vielen ist, wenn auch zugegebenermaßen das komplexeste? Ich habe oben auch auf die Schwierigkeit einer strukturellen Abbildung bzw. Rekonstruktion der sich bewegenden Systeme hingewiesen. Man muss bedenken, dass sich auch der menschliche Leib oder jede andere lebende Struktur in konstanter Bewegung und Veränderung befindet. Ist also Carnaps Hoffnung berechtigt, dass die Wissenschaft sich auf Strukturaussagen beschränken kann? Wie lässt sich der dicht gewebte Teppich der menschlichen Erfahrung in Strukturaussagen einfangen? Wie die komplexen geschichtlichen Ereignisse: die Französische Revolution, der Zweite Weltkrieg oder der Zerfall des kommunistischen Systems in Osteuropa? Wenn man natürlich vom Beispiel des Eisenbahnnetzes ausgeht, kann man leicht zu der Überzeugung gelangen, dass sich die Dinge in ihren wesentlichen Teilen und Eigenschaften durch eine bloße strukturelle Beschreibung abbilden lassen. Wir alle sind heute mit der „ strukturellen Beschreibung “ des U-Bahn-Systems in London vertraut, einer Beschreibung, die zwar nichts über einzelne Stationen aussagt, die aber in Verbindung mit den Informationen, die an jeder Station vorhanden sind, voll und ganz dazu ausreicht, um von einem Punkt des Systems zum anderen zu kommen. Ist dieses Beispiel jedoch adäquat als ein Paradigma der Situation, in der wir uns befinden, wenn wir das Universum im Großen und im Kleinen erkennen 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 239 wollen? Wäre eine, selbst adäquate „ Strukturbeschreibung “ des Londoner U- Bahn-Netzes wirklich mit der Erkenntnis dieses Netzes mit seinen vielen Stationen und ihrer jeweils komplexen, reichen individuellen Identität identisch? Ich glaube, dass sich an dieser Stelle deutlich zeigt, dass Carnaps Programm nicht die Erkenntnis der Lebenswelt liefert, wie versprochen, sondern die einer erbärmlichen Verkümmerung dieser Welt. Auf dem von ihm eingeschlagenen Weg werden wir des Reichtums, der Schönheit, der Herrlichkeit dieser Welt beraubt und im Namen von Präzision und Objektivität mit deren dürren Knochen „ beschenkt “ (und eigentlich nicht mal mit diesen! ). Die Aufgabe der Wissenschaft Wir haben bislang lediglich ein paar Kernpunkte von Carnaps System genauer diskutiert und diese Diskussion könnte fast beliebig fortgesetzt werden. Allein ihr Umfang würde dann allerdings den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen. Wenden wir uns darum jetzt nur noch einigen wichtigen von Carnaps Ausführungen zu, die sich am Ende seines Werks finden. Im § 179 (S. 252 f) behandelt er das Problem der Aufgabe der Wissenschaft. Er stellt diesbezüglich, wie wir bereits gesehen haben, Folgendes fest: Das Ziel der Wissenschaft [vom Gesichtspunkt der Konstitutionstheorie aus] besteht darin, die wahren Aussagen über die Erkenntnisgegenstände zu finden und zu ordnen. (Nicht alle wahren Aussagen, sondern eine nach bestimmten Prinzipien zu treffende Auswahl; das teleologische Problem dieser Prinzipien soll hier nicht erörtert werden.) Um die Aufgabe in Angriff nehmen zu können, um überhaupt Aussagen über Gegenstände machen zu können, müssen diese Gegenstände konstituiert sein. (Denn sonst haben ihre Namen ja keinen Sinn.) Der Aufbau des Konstitutionssystems ist daher die erste Aufgabe der Wissenschaft. Die erste nicht im zeitlichen, sondern im logischen Sinne. (LA, S. 252) Die Feststellung, dass die Aufgabe der Wissenschaft im Finden und Ordnen der wahren Aussagen über die Erkenntnisgegenstände besteht, bildet einen fast nicht nachvollziehbaren Rückfall hinter Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre. Hatte dieser doch bereits darauf hingewiesen, dass Wahrheiten sehr einfach zu haben seien. Die Gründe für diese seine Behauptung waren zwar falsch, die Behauptung ist aber, wie ich in der einschlägigen Diskussion gezeigt habe, durchaus richtig. „ Drei ist eine Zahl zwischen eins und vier “ , „ Eine Katze ist größer als eine Spinne “ , „ Wasser ist eine Flüssigkeit “ , „ Morgen wird es entweder gutes oder schlechtes oder mittelmäßiges Wetter geben “ und Milliarden anderer solcher Wahrheiten lassen sich jederzeit mühelos produzieren. Die Aufgabe der Wissenschaft muss sicherlich enger gefasst werden. Carnap sagt zwar, dass er nicht an allen wahren Aussagen interessiert ist, doch er erläutert nicht, welche für die Wissenschaft von Interesse sein sind. 240 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Auch die zweite Hälfte der oben zitierten Aussage erstaunt. Um überhaupt Aussagen über Gegenstände machen zu können, müssen diese Carnap zufolge konstituiert sein, denn sonst haben ihre Namen keinen Sinn. Carnap verwickelt sich hier offensichtlich in einen Selbstwiderspruch. Denn von den Begriffen, die er in der oben zitierten Passage gebraucht, hat er lediglich die der Konstitution und des Konstitutionssystems einigermaßen definiert. Alle anderen Begriffe (Ziel, Wissenschaft, Gesichtspunkt, Aussage, Erkenntnis, Gegenstand, Erkenntnisgegenstand, Prinzipien, Name, Sinn, Aufbau usw., ganz abgesehen von den Verben, Präpositionen usw.) werden von ihm gebraucht, ohne dass er sie je definiert oder konstituiert hätte. Damit hat seine Aussage seiner eigenen Darstellung nach zum größten Teil keinen Sinn. Für uns hat sie aber durchaus Sinn, was beweist, dass seine Hauptbehauptung in der zweiten Hälfte der obigen Passage falsch sein muss. Das Erstaunen ergibt sich nicht so sehr aufgrund des Inhalts der Behauptung, sondern aufgrund der Tatsache, dass Carnap diese recht offensichtliche Konsequenz seiner Feststellung entgangen ist. Interessanterweise wird die Behauptung, dass die Begriffe keinen Sinn haben, wenn sie nicht definiert, und/ oder nicht in ein Konstitutionssystem eingegliedert sind, ein paar Seiten weiter in leicht abgewandelter Form wiederholt. Nur dann können Worte als Zeichen von Begriffen angesehen werden, wenn sie entweder definiert sind, oder wenigstens definiert werden können; genauer: wenn sie in ein erkenntnismäßiges Konstitutionssystem entweder eingeordnet sind oder wenigstens eingeordnet werden können [. . .]. (LA, S. 259) Diese Formulierung macht die Sache nur noch schlimmer. Zum einen erweckt sie den Anschein, dass einen Begriff zu definieren, nach Carnap heißt, ihn in ein Konstitutionssystem einzuordnen. Man weiß aber, dass Begriffe auch dann schon definiert wurden, als man von einem Konstitutionssystem noch gar nicht zu träumen wagte. Zum anderen schafft diese Formulierung die Situation, in der man mit der Entscheidung, ob ein Wort Sinn hat (als Zeichen eines Begriffs angesehen werden kann) oder nicht, warten muss, bis man sich vergewissert hat, ob es definiert bzw. in ein Konstitutionssystem eingeordnet werden kann oder nicht, was selbstverständlich sehr lange dauern kann. Wie kann man jedoch überhaupt etwas, dessen Bedeutung man gar nicht versteht, in ein Konstitutionssystem einordnen? Man muss sich die Schwierigkeit konkret vor Augen führen: Wie kann man ein „ X “ , von dem man nicht weiß, was es ist, in ein solches System einordnen? ! Carnap spannt an dieser Stelle offensichtlich den Karren vor das Pferd. Ich habe übrigens am Anfang dieses Kapitels darauf aufmerksam gemacht, dass Carnap zwischen einem Begriff und einem Gegenstand kaum unterscheidet. Sein System soll „ ein erkenntnismäßig-logische[s] System der Gegenstände oder der Begriffe “ sein (S. 1). Wir wissen jedoch, dass zwischen diesen zwei Klassen von Objekten im Hinblick auf ihre jeweiligen 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 241 Eigenschaften ein Unterschied besteht, der so groß ist, dass Frege sie als in zwei völlig unterschiedlichen Welten angesiedelt sah. Wissenschaft hat keine Grenzen. Wissenschaft und Philosophie Gegen Ende seines Werks, im § 180 ( „ Über die Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis “ , LA, S. 253 - 256) stellt Carnap fest: „ Die Wissenschaft, das System begrifflicher Erkenntnis, hat keine Grenzen “ (LA, S. 253). Diese Feststellung mag zunächst als eine Polemik gegen Wittgenstein gewertet werden, der am Schluss seines Tractatus bekanntlich die These formulierte: „ Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen “ . 146 Es zeigt sich aber bald, dass Carnaps Formulierung nicht als Herausforderung an die Adresse Wittgensteins zu verstehen ist. Denn die nachfolgenden zwei Sätze des Logischen Aufbaus lauten: Das soll nicht heißen: es gibt nichts außerhalb der Wissenschaft, sie ist allumfassend. Das Gesamtgebiet des Lebens hat noch viele Dimensionen außer der Wissenschaft; aber die Wissenschaft stößt innerhalb ihrer Dimension an keine Schranke. (LA, S. 253) Das ist eine sehr optimistische Feststellung, die eigentlich zu begrüßen ist. Das Problem ist, dass wir nach der Lektüre von Carnaps Werk überhaupt nicht wissen, was wir unter dem Begriff der Wissenschaft verstehen sollen. Er hat ihn nämlich nirgends definiert, nirgends „ konstituiert “ und nirgends klar von anderen, verwandten Begriffen abgegrenzt. Es lässt sich folglich nicht beurteilen, ob diese Feststellung wahr oder falsch, wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist. Es ist vielleicht besonders auffallend, dass Carnap das Verhältnis der Philosophie zur Wissenschaft völlig unaufgeklärt lässt. Am Anfang dieses Kapitels habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass er von der „ neuen Philosophie “ bzw. der „ neuen Haltung des Philosophierens “ (LA, S. IV) spricht (die unter anderem darin bestehen solle, „ die ganze Metaphysik aus der Philosophie zu verbannen “ und jede These rational zu begründen (LA, S. V)). Das Vorwort seines Werks beginnt jedoch mit der Frage „ Was ist die Absicht eines wissenschaftlichen Buches? “ , wodurch der Eindruck entsteht, dass sein Buch ein wissenschaftliches und kein philosophisches sein will. Oder soll man das Verhältnis zwischen beiden als das der Identität vorstellen? Oder soll man die Philosophie als einen Teil der Wissenschaft betrachten oder vielleicht umgekehrt? Dass solche Fragen unbeantwortet bleiben, muss als ein wesentlicher Mangel von Carnaps Werk gewertet werden. Fazit Was sollen wir jetzt, am Ende dieser Betrachtungen von Carnaps Aufbau halten? Die Beurteilung fällt nicht leicht, zumal sie bereits in der Vergan- 146 Carnap zitiert diese Konklusion Wittgensteins am Ende seines Werks auf S. 261. 242 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus genheit äußerst kontrovers ausgefallen ist. So heimste Carnap einerseits das höchste Lob für sein Werk ein. W. V. O. Quine z. B. schrieb: „ Russell had talked of deriving the world from experience by logical construction [. . .] Carnap [. . .] set himself to the task in earnest. “ (Quine & Carnap 1990, S. 456; zitiert nach Misak 1995, S. 61), und er nannte den Aufbau „ a dazzling sequel to Russell ’ s project “ (Quine 1966, S. 667, zitiert nach Misak ebd., S. 62). Und Reichenbach meinte, dass dieses Werk der Erfüllung des Ziels des logischen Positivismus vielleicht am nächsten kam, das darin bestand, einen Empirismus zu entwickeln, der lediglich die Sinneswahrnehmung und die analytischen Prinzipien der Logik als die Quellen des Wissens anerkennt ( „ an empiricism which recognizes only sense perception and the analytic principles of logic as sources of our knowledge “ (Reichenbach 1949, S. 310, zitiert nach Misak ebd., S. 62). Dieser Ansicht schlossen sich z. B. Quine (1961) und Mohn (1978) an (beide zitiert in Moulines 1991, S. 264). Spätere Autoren fanden nicht weniger als sechs weitere unterschiedliche Hauptverdienste, die sie Carnap als dem Verfasser dieses Werks nachrühmten: So meinte etwa Kambartel (1968, zitiert in Moulines 1991, S. 264), dass der Aufbau den konsequentesten (wenn auch verfehlten) Versuch eines formalen Beweises der Erkenntnistheorie des klassischen britischen Empirismus sei; Hack (1977) und Sauer (1985) vertraten die Ansicht, das Werk bilde eine modernisierte und formalisierte Fassung der kantschen Formulierung der Grundlagen des wissenschaftlichen Wissens (Moulines ebd.); Runggaldier (1984) war er Überzeugung, dass es im besten Sinne die konventionalistische Philosophie repräsentiere (Moulines ebd.); für Vuillemin (1971) bestand das größte Verdienst des Werks darin, dass es die erste systematische Anwendung der modernen Logik in der Frege-Russell-Tradition auf ein Feld außerhalb der reinen Mathematik sei, und zwar auf die Welt der phänomenalen Erfahrung (Moulines ebd.); Goodman (1963) und Moulines (1973) argumentierten, dass der Aufbau die erste präzise Formulierung eines phänomenalistischen Systems darstelle, d. h. eines Systems, das die minimale begriffliche Basis setze, die notwendig sei, um die durch die Wahrnehmung gewonnene Erkenntnis zu rekonstruieren (Moulines ebd.); schließlich waren Moulines (1973) und Kese (1988) der Auffassung, dass es ein Model avant la lettre für ein System der künstlichen Intelligenz darstelle (Moulines ebd.). Auf der anderen Seite war der Aufbau auch Zielscheibe schärfster Kritik. Goodman hat diese folgendermaßen knapp zusammengefasst: The Aufbau is a crystallization of much that is widely regarded as worst in 20 th century philosophy. It is an anathema to anti-empirical metaphysicians and to alogical empiricists, to analytic Oxonians and to anti-analytic Bergsonians, to those who would exalt philosophy above the sciences and to those who would abolish philosophy in favor of the sciences. A good part of current polemical writings in philosophical journals is directed against views found in virulent form in the Aufbau. The Aufbau stands preeminent as a horrible example. (Goodman 1963, S. 545) 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 243 Wie können wir uns heute diesen weit divergierenden Aussagen gegenüber positionieren? Mir scheint, dass man die philosophische Hauptstoßrichtung des Aufbaus von den möglichen Anwendungen im Bereich der AI 147 abgesehen heute als radikal verfehlt betrachten muss. Das Ideal der Zurückführung der Wahrnehmungswelt oder der Wahrnehmungserfahrung bzw. des Wahrnehmungswissens auf die formale Logik muss heute als eine unverständliche Chimäre erscheinen. Es hätte Carnap klar sein müssen, dass die logischen Aussagen für die wichtigsten Elemente und Aspekte unserer Erfahrungswelt blind sind. Denn die Formulierung „9 x a(x) ( „ Es gibt ein x, dass a(x) “ ) ist formal identisch mit „9 x b(x) ( „ Es gibt ein x, dass b(x) “ ), und für die Logik spielt es keine Rolle, dass a(x) heißt, „ x ist ein Mörder “ , während b(x) heißt, „ x ist ein Heiliger “ . Für unsere Welt spielt dieser Unterschied aber eine entscheidende Rolle. Ähnliches lässt sich über Aussagen mit zweistelligen Relationen sagen: „9 x, 9 y xAy “ ( „ Es gibt ein x und es gibt ein y, so dass, xAy “ , ist formal identisch zu „9 x, 9 y xBy “ und zu „9 x, 9 y xCy “ , wobei A heißen kann „ auf der Matte “ , B „ auf dem Tisch “ , C „ auf dem Mars “ , so dass die entsprechenden logischen Formeln als „ Die Katze ist auf der Matte “ oder „ Die Maus ist auf dem Tisch “ oder „ Hans Müller ist auf dem Mars “ und auf unzählige andere Weisen expliziert werden können. Aus unserer Sicht ist viel weniger wichtig, dass es ein x und ein y gibt, die eine bestimmte Relation erfüllen bzw. in einer bestimmten Relation mit bestimmten formalen Eigenschaften (z. B. Reflexivität, Symmetrie, Transitivität) stehen, sondern welches x und welches y in welcher konkreten Relation zueinander stehen. Die Welt lässt sich nicht auf Logik und logische Verhältnisse reduzieren! ! Wie wir gesehen haben, illustrierte Carnap seine Ausführungen gerne mit Beispielen aus der Mathematik bzw. der Geometrie. Sein Programm war inspiriert durch die erfolgreiche Rückführung der Arithmetik auf Logik durch Russell und Whitehead. Seine Vorgehensweise basierte aber auf einer unausgesprochenen und unreflektierten, als selbstverständlich angenommenen Prämisse: So wie die Welt der Mathematik und Logik funktioniert, so muss auch die ganze Welt funktionieren. Wir haben bereits anlässlich der Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre gesehen, dass diese Prämisse bzw. Annahme völlig unbegründet ist, denn obschon es einfach einzusehen ist, dass sich die Geometrie aus einigen wenigen primitiven Elementen Schritt für Schritt aufbauen lässt, und es ebenso einsichtig ist, dass sich Ähnliches mit der Mathematik vollziehen lässt, folgt daraus keineswegs, dass das Gleiche für die Welt der phänomenalen Erfahrung gilt. Geometrie ist leicht auf Punkte und Linien zurückführbar. Es ist jedoch ein gewaltiger und unberechtigter Gedankensprung, aus dieser Tatsache zu schließen, dass die Welt der Bäume, Blumen, Bienen, Wolken, Berge, Bäche, Kühe, Katzen, Vögel 147 Diese hat Moulines 1991 ausführlich diskutiert, ich werde jedoch auf diese (mögliche) Anwendung von Carnaps Überlegungen hier nicht eingehen. 244 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus und Menschen ebenfalls auf irgendwelche primitiven, einfachen Elemente zurückführbar ist und aus diesen „ rekonstruiert “ werden könnte. Carnap versuchte die Welt der physischen Eigenschaften als ein System von geordneten Quadrupeln darzustellen (Carnap 1963, S. 19). Er vertrat die Ansicht, man könne den Raum als ein System von drei räumlichen und einer zeitlichen Dimension rekonstruieren und jedem solcher Punkte eine bestimmte Sinnesqualität (z. B. Farbe) und einen bestimmten Wert einer physikalischen Größe zuordnen. Bereits Goodman wies auf den völlig illusorischen Charakter dieser Vorstellung hin: Carnap gives [. . .] as examples of admissible atomic statements: ‘ This space-time point is warm ’ and ‘ at this space-time point, is a solid object ’ . Obviously no mathematical space-time point is warm, and at no such point is there any object that is solid or red or that has any other observable quality; observable qualities belong to objects of perceptible size. (Goodman 1963, S. 550) Schlimmer noch: kein raumzeitlicher Punkt hat Masse, Ladung, Spin, usw. Diese rein physischen Eigenschaften lassen sich erst Elementarteilchen zuschreiben. Die Eigenschaften der Elementarteilchen können also nicht als die Summe der Eigenschaften der von ihnen „ eingenommenen “ raumzeitlichen Punkte betrachtet werden. Umso weniger ist es möglich, die Eigenschaften eines Baumes, einer Kuh und schließlich eines Menschen als Summe/ Durchschnitt/ Kombination der Eigenschaften der von ihnen „ eingenommenen “ raumzeitlichen Punkte zu betrachten. Carnap nahm an, weil die Welt der Mathematik und Geometrie sich auf einfache Elemente zurückführen lässt, müsse sich die ganze Welt auf einfache Elemente zurückführen lassen. Ein anderer Schluss wäre in dieser Situation möglich und sogar zulässig: Die Welt der Mathematik und Geometrie funktioniert so, dass sie sich auf einige wenige primitive Elemente reduzieren, zurückführen lässt, die phänomenale Welt lässt sich nicht so reduzieren, also wird die Erkenntnis der phänomenalen Welt andere Prinzipien und Methoden verlangen als die, welche für die Erkenntnis der Welt der Mathematik und Geometrie ausreichend sind. Da er an diesem entscheidenden Punkt die falsche Richtung eingeschlagen hat, konstruiert er eine Welt, die letztendlich eine Gespensterwelt oder eine gespenstische Welt ist. Ähnliches lässt sich über eine weitere Annahme Carnaps sagen, die man als eine Konsequenz der obigen betrachten kann: dass die Strukturaussagen die einzig objektiven Aussagen sind und dass sich alle Aussagen der Wissenschaft auf Strukturaussagen zurückführen lassen müssen, dass „ alle wissenschaftlichen Aussagen [. . .] Strukturaussagen [sind] “ (§ 16, LA, S. 20, vgl. auch S. 15, 19, 21). Die Welt ist emphatisch mehr als eine bloße Struktur, und wenn die Wissenschaft die Welt beschreiben oder erkennen will, so muss sie emphatisch mehr liefern als bloße Strukturaussagen. Carnaps Beispiel der Eisenbahnkarte (§ 14, LA, S. 17f.) machte das Problem deutlich. Wie ich bereits oben auseinandergesetzt habe, können wir einer solchen Karte 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 245 höchsten entnehmen, wo sich bestimmte Bahnhöfe ungefähr befinden, in welcher Entfernung sie voneinander liegen und in welchen Verhältnissen sie zueinander stehen. Aber wir wissen noch nichts Wirkliches über die Städte, die auf der Karte mit bloßen Punkte markiert sind, wir wissen nichts über die Häuser und Straßen, die Läden, Restaurants, Kaffees und Parks und nichts über ihre Bewohner und deren Leben. Um diese Dinge kennen zu lernen, müssen wir die „ schwarzen Pünktchen “ , die Städte erst besuchen. Zu behaupten, Strukturaussagen sind die einzigen Aussagen, die zählen, ist ein wenig, als ob man behaupten wollte, das Knochengerüst des Menschen ist alles, was wir von ihm wissen können und sollen. Struktur ist zweifelsohne wichtig, aber Knochen allein sind recht unappetitlich. Man braucht auch Fleisch (Muskeln), innere Organe und sogar Haut usw., um das einigermaßen vollständige Bild des Menschen zu haben, und man muss etwas von seiner Biographie wissen, um sagen zu können, dass man diesen Menschen, diese Person, zumindest einigermaßen kennt. Carnap verrät die ihn antreibenden Motivationskräfte, indem er vom Ziel der Entmaterialisierung spricht: „ [Strukturbeschreibung] bildet die höchste Stufe der Formalisierung und Entmaterialisierung “ (§ 12, LA, S. 15, s. auch oben). Was sollen/ wollen wir „ entmaterialisieren “ und warum? Man hat den Eindruck, Carnap will sich der Substanz, des Inhalts entledigen und nur die Form, die Struktur zurückbehalten. Aber ist die Substanz, der Inhalt um der Form, der Struktur willen da oder die Form, die Struktur um des Inhalts, der Substanz willen? Im Übrigen widerspricht Carnap an dieser wie auch an mach anderer Stelle seinem wissenschaftlichen Credo: „ Jede wissenschaftliche These muss sich rational begründen lassen “ (LA, S. V). Die obigen Zielsetzungen erfahren keine solche rationale Begründung. Das Streben nach Formalisierung und nach Struktur anstelle des Inhalts führte im logischen Positivismus bzw. Empirismus später zum Ideal der Axiomatisierung jeglicher Theorie, dem Ideal, das zwar in Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre eine Rolle spielt, im Aufbau jedoch noch nicht. Dieses Ideal kann man aus heutiger Perspektive als ein Überbleibsel der newtonschen Mechanik betrachten, die tatsächlich auf einige wenige Axiome reduziert bzw. von ihnen abgeleitet werden kann. Für die Quantenmechanik lässt sich eine solche Reduktion allerdings nicht durchführen. Es ist deshalb sehr verständlich, dass bereits in den 50er Jahren ein Physiker Carnaps Vorhaben mit der Feststellung quittierte: „ Physics is not like geometry; in physics there are no definitions and no axioms ” (Carnap 1963, S. 37). 148 Die Ausrichtung auf die Form, die Tendenz zum Formalisieren (Moss betrachtet diese Tendenz sogar als eine Art persönliches Credo Carnaps (Moss 1965, S. 28)) findet, wie bereits vermerkt, im krassen Widerspruch zu Carnaps eigenen wissenschaftlichen Prinzipien keine rationale Begründung 148 Auf der anderen Seite schreibt Moulines noch 1991, dass, wenn etwas eine Theorie sei, man sie axiomatisieren können sollte (Moulines 1991, S. 271). 246 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus im Aufbau. Woher kommt sie dann? Einerseits muss sie einfach als Carnaps persönliche Präferenz oder sogar als persönliche Veranlagung betrachtet werden. Wir haben gesehen, dass Carnap in seiner Autobiographie einräumt, dass er das Gefühl hatte, einen Begriff oder eine Präposition erst dann klar verstanden zu haben, wenn er ihn oder sie in symbolischer Sprache ausdrücken konnte (Carnap 1963, S. 11). Das Gleiche lässt sich sicher nicht von jedem Menschen sagen. Auf der anderen Seite muss man diese Tendenz als als ein „ Zeitgeist “ -Phänomen sehen. Es ist sehr auffallend, dass das späte 19. Jahrhundert und das frühe 20. Jahrhundert große Triumphe der formalen Logik und ihrer Anwendung auf die Mathematik in den Werken der Protagonisten Frege, Russell und Whitehead erlebten. Wie wir in Carnaps Autobiographie gesehen haben, gab es damals zugleich eine große Gruppe von führenden Intellektuellen, die ähnlich wie Carnap dachten und die sich auf verschiedene Länder verteilten: neben Deutschland (vor allem) auf England, Polen und die Vereinigten Statten. Es ist auch äußerst interessant zu sehen, dass sich zwischen diesen Menschen, unter denen Carnap wohl im Zentrum stand, lebhafte persönliche Kontakte entwickelten. Mehr noch, man hat den Eindruck, dass Carnap völlig Recht hat mit seiner Einschätzung, dass das Denken seiner Zeit allgemein, d. h. abgesehen von der auserwählten Gruppe, die direkt zur Entwicklung des logischen Positivismus beigetragen hat, zum Nominalismus tendierte (vgl. LA § 27, S. 37). Ich habe aber bereits früher darauf hingewiesen, dass das Vorhandensein einer starken und stark „ vernetzten “ Gruppe von gleichgesinnten Spitzenintellektuellen keineswegs die Garantie dafür liefert, dass ihre Überzeugungen richtig bzw. wahr sind. Der Mangel an Einsicht in die Voraussetzungen seines eigenen Denkens manifestierte sich bei Carnap auch an mindestens zwei anderen Stellen. Zum einen geht es hier um seine Haltung gegenüber seinem Verfahren der „ Konstitution “ der phänomenalen Welt aus den „ eigenpsychischen Daten “ . Carnap schreibt: „ I was guided in my procedure by psychological facts concerning formation of concepts of material things out of perceptions “ (Carnap 1963, S. 16). Diese Feststellung ist vielleicht verständlich im Kontext des Stands des psychologischen Wissens seiner Zeit (1925 - 1930), heute wissen wir aber, dass die vermeintlichen „ Tatsachen “ , keine waren, sondern bloße Annahmen. Die Vorstellung, dass man die Gegenstände der phänomenalen Welt aus „ Farbflecken “ oder „ einzelnen Positionen im Sichtfeld “ aufbauen könnte, hat sich letztendlich als illusorisch erwiesen. Die Entdeckung von David Hubel und Torsten Wiesel aus den 60er Jahren, die auf den allmählichen Aufbau des Wahrnehmungsbildes aus einzelnen Elementen zu deuten schien, erwies sich als ein Holzweg. Die höheren Sehzentren in der Hirnrinde arbeiten nicht als Summationsflächen für niedrigere Zentren und es fehlt im Gehirn offensichtlich die Projektionsfläche, auf welcher das Wahrnehmungsbild aufgebaut und „ angeschaut “ werden könnte. Man kann zweifelsohne ein beliebig komplexes Bild auf einem Bildschirm aus einzelnen Pixeln entstehen lassen, man kann sogar 3-D-Gegenstände aus 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 247 einzelnen Pixeln „ drucken “ , es ist jedoch offensichtlich, dass der Computer, der das Bild auf dem Bildschirm produziert, oder der 3-D-Drucker, der den 3- D-Gegenstand druckt, das Bild/ den Gegenstand nicht wahrnimmt. Carnaps Fehleinschätzung bezüglich des Status des wissenschaftlichen Wissens seiner Zeit (als Tatsachen statt als Annahmen) mahnt auch heute zur Vorsicht: welche von den heute als wissenschaftliche Tatsachen geltenden Behauptungen werden die Probe der Zeit bestehen, welche werden in 70, 100 oder gar 500 Jahren noch zum Kanon der Wissenschaft gehören? Wir wissen das nicht und können es überhaupt nicht einschätzen. Der oben genannte Mangel an Einsicht ist noch eklatanter im Falle von Carnaps Behauptung, in seiner Theoriebildung ontologische Neutralität zu bewahren, metaphysikfrei zu denken, neutral in Bezug auf die traditionellen Kontroversen: Realismus versus Idealismus, Platonismus versus Nominalismus, Materialismus versus Spiritualismus zu sein (Carnap 1963, S. 18). Carnaps vermeintliche ontologische Neutralität muss als Ontologiebzw. Metaphysikblindheit betrachtet werden. Wenn Carnap davon spricht, dass das Denken seiner Zeitgenossen (und sein eigenes) zum Nominalismus neigte, dann sagt er damit auch, dass seine Zeitgenossen und er selbst zu einer spezifisch ontologischen, also auch metaphysischen Position neigten. Wenn er schreibt, dass „ [w]ith respect to the problem of the basis, my attitude was again ontologically neutral “ (ebd.), scheint er nicht zu merken, dass, unabhängig davon, ob er von „ eigenpsychischen Daten “ oder „ physikalistischen Daten “ als Basis ausgeht, er fest im nominalistischen, materialistischen Denkens verankert ist. Es kommt ihm überhaupt nicht ernsthaft in den Sinn, dass die Begriffe den Wahrnehmungen gegenüber primär sein könnten, insofern als sie diese strukturieren, und nicht erst als eine Art Abstraktion aus den Wahrnehmungen gewonnen werden. Dies ist für ihn keine Option, weil ihre bloße Erwägung verlangen würde, dass man sich der Frage stellt, ob die Welt der Materie primär und die Welt des „ Geistes “ ein Produkt derselben ist, oder ob es sich nicht eher umgekehrt verhält. Eine diesbezügliche ontologische, metaphysische Entscheidung hat Carnap bereits als Jugendlicher getroffen, indem er - wie er schreibt - den Glauben allmählich aufgegeben hatte. Aber nach dieser Wende ist er selbstverständlich keineswegs ontologisch neutral gesinnt. Im Gegenteil: er ist so stark in einer bestimmten ontologischen Position verfangen, dass er sie nicht mal mehr als eine solche wahrnimmt. So wie ein Fisch, der im Wasser schwimmt, nicht merkt, dass es etwas anderes in dieser Welt geben könnte. Deshalb kann Carnap auch ohne irgendwelches Unbehagen nach einem Bild der Wirklichkeit streben, das der laplaceschen Form des Determinismus nachgebildet ist (ebd., S. 15). Die Notwendigkeit, ein solches Bild (das sich übrigens, wie wir heute wissen, auch in der Physik als falsch erwiesen hat) zuzulassen, würde manch einem Philosoph Kopfzerbrechen, schlaflose Nächte und Gewissensbisse bereiten, für Carnap ist es völlig unproblematisch, weil er eben in einem bestimmten ontologischen Fahrwasser schwimmt und sich in ihm pudelwohl fühlt. 248 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Interessant in diesem Zusammenhang ist auch der Umstand, dass Carnap von seinem geliebten Frege nur das übernimmt, was ihm zu Passe kommt: die formale Sprache der Logik. Wo aber Frege auf die Notwendigkeit der Annahme einer nicht-nominalistischen, unter ontologischen Gesichtspunkten letztlich platonischen „ dritten Welt “ hinwies (Freges einschlägiger Aufsatz „ Der Gedanke “ erschien bereits 1918), hält es Carnap überhaupt nicht nötig, sich mit dem Problem ernsthaft auseinanderzusetzen. Der Mangel an Einsicht in die Voraussetzungen bzw. die Folgen des eigenen Denkens zeigt sich im Falle von Carnap mit aller Deutlichkeit auch dann, wenn man versucht, seine Prinzipien auf seine eigene Theorie anzuwenden. 149 Betrachten wir aus dieser Sicht nochmals eine der Kernaussagen in seinem LA: Er will ein „ Konstitutionssystem “ errichten, in dem gewisse Aussagen bzw. „ Gegenstände “ auf andere, niederstufige „ Gegenstände “ „ zurückführbar “ sind, wobei die „ Zurückführbarkeit “ von a auf b, c dann gegeben sei, wenn „ [f]ür jeden Sachverhalt in Bezug auf a [. . .] sich eine notwendige und hinreichende Bedingung angeben [lässt], die nur von b, c abhängt “ , oder „ [es] [. . .] für a ein zugleich untrügliches und nie fehlendes Kennzeichen [gibt], das ausdrückbar ist durch b, c “ (Zusammenfassung von § 47 auf S. 265 in LA). Lässt sich diese Prozedur auf Carnaps Theorie anwenden? Carnap selbst hat jedenfalls nicht einmal einen Versuch in diese Richtung unternommen und der Grund für diesen Mangel ist offensichtlich: man kann philosophische Sprache nicht aus irgendwelchen ursprünglichen ( „ primitiven “ ) Elementen aufbauen. Man kann so mit der Logik und mit der Mathematik verfahren, aber nicht mit der Philosophie. Darauf könnte Carnap erwidern, dass es ihm darum gegangen sei, den Charakter der wissenschaftlichen Aussagen zu beschreiben bzw. bestimmen und Philosophie keine Wissenschaft sei. Damit würde er sich jedoch unweigerlich ungemütliche Folgen einhandeln: Da er die Eigenschaften, den Charakter der Wissenschaft auf der Grundlage philosophischer Überlegungen zu bestimmen bestrebt ist, gibt er implizit zu, dass die Philosophie der Wissenschaft übergeordnet ist, dass also die Wissenschaft nicht die ganze Wirklichkeit zu umfassen vermag. Doch damit ergäbe sich ein ganzer Rattenschwanz von Problemen: Wie lässt sich in diesen anderen Bereichen das Geschäft der Erkenntnis überhaupt betreiben? Können diese anderen Gebiete und kann insbesondere die Philosophie überhaupt Erkenntnisse erlangen? Ist also dasjenige, was Carnap geleistet hat, überhaupt eine Erkenntnis? Gibt es höhere Formen der Erkenntnis als die wissenschaftliche Erkenntnis usw.? Carnap gibt uns in seinem Logischen Aufbau keinen Hinweis darauf, dass er sich dieser Probleme im Entferntesten bewusst war. Am Rande kann auch vermerkt werden, dass Carnaps Ausführungen im LA in ein ganz schiefes Licht geraten aus der Perspektive der später von den 149 Thomas Nagel hat bemerkt: „ It is usually a good strategy to ask whether a general claim about truth or meaning applies to itself “ (Nagel 1997, S. 15). 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 249 logischen Positivisten entwickelten Verifikationstheorie der Bedeutung, die grundsätzlich besagt, dass der Sinn eines Satzes mit der Methode der Verifikation der Aussage dieses Satzes identisch ist. 150 Da überhaupt nicht klar ist, mittels welcher Methode man den Wahrheitsgehalt der Sätze des LA verifizieren könnte, müsste man sie im Sinne des logischen Positivismus (auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung) eigentlich als lauter Unsinn bezeichnen! Wir haben im Manifest des logischen Positivismus, das Carnap zumindest als Koautor mitverfasst hat, die Behauptung zur Kenntnis genommen: „ In der Wissenschaft gibt es keine ‚ Tiefen ‘ ; überall ist Oberfläche “ (Manifest 1929, S. 11). Vielleicht gibt es in der Wissenschaft (und in der Welt) doch Tiefen, die man aber nicht sieht, weil man selber oberflächlich ist? Und weil man diese Tiefen nicht sehen will oder kann, erscheinen einem unterschiedliche ontologische Positionen, deren Annahme bzw. Nicht-Annahme tiefe existenzielle Konsequenzen mit sich bringt, bloß als „ Formen der Sprache “ (Carnap 1963, S. 17f.) oder in Wittgensteins Terminologie als „ Sprachspiele “ , die friedlich nebeneinander existieren können. Ich glaube, es lag mit an Carnaps „ ontologischer “ Oberflächlichkeit, dass er es nicht für nötig hielt, unter dem Eindruck der Entwicklungen, die sich zu seinen Lebzeiten z. B. in der Physik vollzogen (insbesondere die Entstehung der Quantenmechanik betreffend), seine Position zu revidieren, wie es z. B. Wittgenstein bekanntlich getan hat. J. M. B. Moss, der den eingangs bereits erwähnten XI. Band der Library of Living Philosophers, der 1963 erschien und Rudolf Carnap gewidmet war, für die Zeitschrift „ Analytic Philosophy “ rezensierte, fasste Carnaps philosophisches Schaffen folgendermaßen zusammen: The picture that emerges is one of an exceptionally clear thinker who, lacking what has traditionally been regarded as philosophical vision, has nevertheless been able to transform almost every field of the subject to which he has directed his activity. His work, whose motto might well be „ let us formalise “ is such that a substantial segment of contemporary philosophy consists of little more than footnotes to it. (Moss 1965, S. 25) Mit Blick auf seinen Aufbau 151 und ohne seine Verdienste schmälern zu wollen, ist mein Eindruck, dass diese letztendlich sehr positive Beurteilung heute deutlich negativer ausfallen würde. Mir scheint, dass Carnap nicht nur der „ philosophische Weitblick “ fehlte, sondern auch die philosophische Tiefe. (Ich habe auch meine großen Zweifel, ob man ihn als einen „ außergewöhnlich klaren Denker “ bezeichnen kann.) Carnap war ein „ Kind seiner Zeit “ : er traf auf eine Atmosphäre, die seiner Art des Philosophierens außerordentlich zuträglich war. Diese Atmosphäre ist einer anderen Atmosphäre gewichen und Carnap und seine Theorien sind heute, nur vierzig Jahre nach seinem 150 Vgl. unten Abschnitt „ Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus “ . 151 Man muss aber auch berücksichtigen, dass sich, wie eben erwähnt, die Hauptrichtung von Carnaps Denken Zeit seines Lebens nicht wesentlich verändert hat. 250 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Tod, praktisch kein Thema mehr. Selbst viele auf Logik spezialisierte Philosophieprofessoren wissen nahezu nichts mehr von seinem großen zentralen Werk. 152 Sein Aufbau, der auf den ersten Blick als ein Musterbeispiel der Präzision und gedanklichen Stringenz erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine künstliche Konstruktion, die auf den wackligen Beinen willkürlicher - paradoxerweise - metaphysischer Annahmen errichtet wurde und in sich zusammenfällt, sobald diese Annahmen in Frage gestellt werden. In Anbetracht dieser Tatsache kann es kaum verwundern, dass das grundsätzlich auf diesen Annahmen errichtete Programm des logischen Positivismus bzw. des (späteren) logischen Empirismus ebenfalls in sich zusammengefallen ist. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus Rudolf Carnap hat in seiner Autobiographie geschildert, mit welcher Intensität Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus im Wiener Kreis studiert wurde. Da dieses Werk einen großen Einfluss auf dessen Programm hatte und an sich zu den wichtigsten Klassikern der Philosophie des 20. Jahrhunderts gehört, scheint es angebracht, dass wir uns mit ihm befassen, obwohl Ludwig Wittgenstein selbst weder dem Kreis noch der philosophischen Strömung angehörte, die man als „ logischen Positivismus “ bezeichnet. Er wurde, wie wir uns erinnern, im Manifest des logischen Positivismus auch nicht als Mitglied des Kreises genannt, sondern als einer der drei „ führenden Vertreter der wissenschaftlichen Auffassung “ (neben Einstein und Russell; s. oben: „ Aufkommen “ ). Biographie Bevor wir uns mit den Inhalten des Tractatus auseinandersetzen, ist es angebracht, dass wir uns wie im Fall von Schlick und Carnap ausführlicher mit dem Leben des Denkers befassen. Die Kenntnis der Biographie ist in Wittgensteins Fall besonders wichtig, nicht nur aufgrund ihrer Außergewöhnlichkeit, sondern auch weil sie, wie wir noch sehen werden, ein wichtiges Licht auf das zu behandelnde Werk wirft. 153 152 Ich könnte die Namen von mindestens drei Philosophieprofessoren in der Schweiz nennen, die ich bezüglich des LA konsultieren wollte und die wirklich nicht imstande waren, mir eine Auskunft zu geben. 153 Meine Schilderung von Wittgensteins Leben basiert zum größten Teil auf seiner Biographie aus dem Oxford Dictionary of National Biography (Hacker 2004) als auch auf der englischen Wikipedia, die nicht nur außergewöhnlich umfangreich, sondern auch außergewöhnlich gut recherchiert und dokumentiert ist. Ich habe mich allerdings darum bemüht, die Originalquellen der in dieser enthaltenen Informationen, soweit es mir möglich war, zu überprüfen. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 251 Ludwig Wittgenstein wurde am 26. April 1889 in einer Familie mit jüdischen Wurzeln geboren; er war das jüngste Kind und der fünfte Sohn von Karl Wittgenstein (Karl Wittgenstein und seine Frau Leopoldine geb. Kalmus hatten insgesamt neun Kinder), der bereits in den 80er Jahren zu einem der reichsten Industriellen in Europa aufgestiegen war. Schätzungen zufolge waren die Wittgensteins nach den Rothschilds die zweitreichste Familie des Habsburger Reichs (Edmonds und Eidinow 2001, S. 63). Selbst nach der großen Depression 1938 besaß die Familie allein in Wien dreizehn Herrenhäuser (ebd., S. 102). Alle Kinder der Familie wurden katholisch getauft und wuchsen in einer ungewöhnlich seelisch reichen Umgebung auf, da die Familie Wittgenstein eines der kulturellen Zentren Wiens bildete. Bruno Walter beschrieb das Leben in dem Hauptsitz der Familie in Wien, dem sogenannten „ Wittgenstein Palast “ , als eine „ alles durchdringende Atmosphäre der Humanität und Kultur “ (Monk 1990, S. 8). Karl Wittgenstein war ein bekannter Kunstmäzen, der bei August Rodin Werke in Auftrag gab und den berühmten Ausstellungsort und die Kunstgalerie der Stadt, das Sezessionshaus, finanzierte. Gustav Klimt malte das Hochzeitsporträt von Wittgensteins Schwester Margarethe, und Johannes Brahms und Gustav Mahler gaben regelmäßige Konzerte in den zahlreichen Musikzimmern der Familie (ebd.). Karl Wittgenstein wollte, dass seine Söhne sein industrielles Imperium weiterführen. Sie wurden nicht in die Schule geschickt, sondern zu Hause unterrichtet, damit sie sich keine „ schlechte Gewohnheiten “ aneigneten. Drei der fünf Brüder verübten später Selbstmord. Karl Wittgenstein wird als ein strenger Perfektionist geschildert, dem es an Empathie mangelte, und seine Frau als eine ängstliche und unsichere Frau, die unfähig gewesen sei, sich ihrem Mann zu widersetzen. Ludwig Wittgenstein wurde von Heimlehrern unterrichtet bis er vierzehn war. Erst dann, und unter dem Einfluss des gewaltsamen Todes seiner zwei älteren Brüder, die dem Druck des Vaters, ihre künstlerischen Begabungen zugunsten der wirtschaftlichen Kariere zu opfern, nicht standhalten konnten bzw. wollten, gab Ludwigs Vater seine Erlaubnis, zwei von seinen verbleibenden Söhnen in die Schule zu schicken (Hacker 2004, S. 897). Es war aber für Ludwig bereits zu spät, um die Eintrittsprüfungen für das Gymnasium in der Wiener Neustadt bestehen zu können, so dass er die Realschule in Linz besuchen musste. Nebenbei: Adolf Hitler besuchte die gleiche Schule, war jedoch zwei Jahrgänge unter Wittgenstein und die beiden kannten sich sehr wahrscheinlich nicht (ebd.). Ludwig Wittgensteins Abschlusszeugnis war nicht glänzend. Seine einzige Bestnote (5) erhielt er in Religion, für Benehmen und Englisch bekam er lediglich eine 2, für Französisch, Geographie, Geschichte, Mathematik und Physik eine 3 und für Deutsch, Chemie, Geometrie und Freihandzeichnen eine 4. Er hatte große Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung und fiel aus diesem Grund in seiner schriftlichen Deutschprüfung durch. Wittgenstein war auch sehr musikalisch. Zwar lernte er in seiner Kindheit kein Instrument (später brachte er sich selbst das 252 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Klarinettespielen bei), war aber imstande, ganze komplexe Kompositionen mit großer Genauigkeit und sehr ausdrucksstark zu singen (ebd.). Es war während der Realschulzeit, dass Wittgenstein seinen Glauben an Gott verlor (ebd.). Nach der Realschule besuchte er die Technische Hochschule in Berlin- Charlottenburg, wo er 1908 auch seinen Diplomabschluss machte. Seine Interessen zu dieser Zeit konzentrierten sich auf die Luftfahrtkunde (Monk 1990, S. 27). Im gleichen Jahr begann er ein Doktorstudium an der Victoria University in Manchester. Er hatte allerlei kühne Pläne, wozu auch das Entwerfen und Fliegen eines eigenen Flugzeugs gehörte. Er forschte über das Flugverhalten von Drachen in der oberen Atmosphäre und arbeitete an einem Entwurf eines Propellers mit kleinen Düsentriebwerken an den Flügelenden, den er 1911 patentieren ließ und der ihm ein Forschungsstipendium an der Universität sicherte (Hacker ebd., S. 898). Gleichzeitig begann er sich jedoch auch für die Grundlagen der Mathematik zu interessieren, insbesondere nach der Lektüre von Russells Principles of Mathematics und Freges Grundgesetzen der Arithmetik (ebd.). Er wurde von diesen Studien so eingenommen, dass er sein Interesse für die Luftfahrtkunde völlig verlor und zur Überzeugung gelangte, dass er sich dem Studium der Logik und der Grundlagen der Mathematik widmen müsse. Wittgenstein beschrieb sich in dieser Zeit als jemand, der in einem Zustand „ permanenter unbeschreiblicher, fast pathologischer Erregung “ lebte (Monk 1990, S. 30 - 35). Im Sommer 1911 besuchte er Frege in Jena, um ihm seine ersten Schriften auf diesen Gebieten zu zeigen. Wittgenstein wollte bei Frege studieren, dieser aber schlug ihm vor, nach Cambridge zu gehen, um bei Russell zu studieren, und so erschien Wittgenstein am 18. Oktober 1911 ohne Voranmeldung in Russells Räumen am Trinity College, Cambridge (Hacker 2004, S. 898). Nach einer kurzen Phase der Unsicherheit in Bezug auf Wittgensteins Qualitäten, war Russell bereits im November dieses Jahres überzeugt, dass Wittgenstein ein Genie sei: „ [Wittgenstein] was perhaps the most perfect example I have known of genius as traditionally conceived, passionate, profound, intense and dominating “ (Russell 1998, S. 329). Drei Monate nach dessen Ankunft äußerte Russell seiner Liebhaberin Lady Ottoline Morrell gegenüber: „ I love him and feel he will solve the problems I am too old to solve. [. . .] He is the young man one hopes for “ (Monk 1990, S. 41), und 1916 schrieb er nach Wittgensteins Kritik an seinem Werk: „ His criticism, ‘ tho I don ’ t think he realized it at the time, was an event of first-rate importance in my life, and affected everything I have done since. I saw that he was right, and I saw that I could not hope ever again to do fundamental work in philosophy “ (Russell 1998, S. 282). Die beiden wurden Freunde. Schon am Ende des ersten akademischen Jahres in Cambridge hatte Wittgenstein das Gefühl, dass er von Russell nichts mehr lernen konnte (Hacker ebd., S. 898). Bereits 1912 wurde Wittgenstein Mitglied des exklusiven Cambridge Moral Sciences Club, einer einflussreichen Diskussionsgruppe für Philosophiedozenten und Stu- 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 253 denten. Bald dominierte er die Treffen des Klubs und in denen frühen 1930er Jahren hörte er auf, sie regelmäßig zu besuchen, nachdem sich andere beschwert hatten, dass er niemandem außer sich selbst eine Chance gab, sich in den Diskussionen zu äußern (Edmonds und Eidinow 2001, S. 22 - 28). Laut Fania Pascal, einem Mitglied diese Clubs, war Wittgenstein ein „ disturbing centre of the evenings [. . .] He would talk for long periods without interruption, using similes and allegories, stalking about the room and gesticulating. He cast a spell “ (Klagge und Nordmann 2003, S. 333f.) (Dessen ungeachtet kam es 1946 im Rahmen der Klubtreffen zu einer berühmten Begegnung zwischen Wittgenstein und Karl Popper, auf die ich weiter unten ausführlicher eingehen werde.) Wittgensteins Vater starb am 20. Januar 1913. Sein Erbe machte Ludwig zu einem der reichsten Menschen in Europa (Hacker ebd., S. 898, Monk 1990, S. 71), er spendete jedoch einen Großteil seines Vermögens für österreichische Künstler und Schriftsteller (u. a. für Rainer Maria Rilke, Georg Trakl und Oskar Kokoschka; Hacker ebd., S. 899). Wittgenstein kam dann zu der Überzeugung, dass er in der Umgebung anderer Akademiker nicht zum Kern der ihn beschäftigenden Fragen würde vordringen können und so reiste er 1913 nach Norwegen, wo er in dem kleinen Dorf Skjolden den zweiten Stock eines Hauses für den Winter mietete. Später betrachtete er diese Zeit als eine seiner produktivsten Lebensabschnitte. Während dieses Aufenthalts ist seine Logik, der Vorläufer des Tractatus, entstanden. 1914 wurde Wittgenstein in Norwegen auf eigenen Wunsch von George Edward Moore besucht, der sechzehn Jahre älter war und bereits damals ein international anerkannter Philosoph und Dozent (Don) an der Cambridge Universität (und der später zu einem der führenden Vertreter der analytischen Philosophie in England wurde) (Hacker ebd., S. 899). Moore trat diesen Besuch nur widerwillig an, denn wie er schrieb, erschöpfte ihn Wittgenstein. Dieser wiederum betrachtete Moore als ein Beispiel dafür, wie weit man im Leben kommen kann, mit „ absolutely no intelligence whatever “ (Monk, 1990, S. 262). Es wurde bald offensichtlich, dass Wittgenstein erwartete, dass Moore die Rolle seines Sekretärs übernahm und seine Gedanken niederschrieb. Dabei wurde Wittgenstein jedes Mal wütend, wenn Moore einen Fehler machte (Edmonds und Eidinow, 2001, S. 45f.). Zurück in Cambridge bat Moore die Universitätsbehörden, Wittgenstein für seine Logik den Bachelor zuzuerkennen, seine Bitte wurde jedoch mit der Begründung zurückgewiesen, dass das Werk den formalen Ansprüchen nicht genügte: es hatte keine Fußnoten und keine Einführung. Moore informierte Wittgenstein darüber, woraufhin dieser wütend wurde und im Mai 1914 an Moore schrieb: „ If I am not worth your making an exception for me even in some STUPID details then I may as well go to Hell directly; and if I am worth it and you don ’ t do it then - by God - you might go there “ (Monk 1990, S. 103). Moore war zutiefst verletzt. Seinem Tagebuch vertraute er an, dass er sich krank fühlte und den Brief nicht vergessen konnte. Die zwei sprachen bis 1929 nicht mehr miteinander (McGuinness 1988, S. 200). 254 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Wittgenstein freiwillig für die österreichisch-ungarische Armee. Er glaubte, seinen Wert nur in der Konfrontation mit dem Tode erfahren zu können (Hacker ebd., S. 899). Typisch für ihn meldete er sich für den nächtlichen Dienst an einer Artilleriebeobachtungsstelle: für die Zeit und den Ort mit dem höchsten Risiko (ebd.). Wittgenstein kämpfte an verschiedenen Fronten und wurde mehrmals mit hohen militärischen Ordnen ausgezeichnet, darunter der Militärorden für Tapferkeit am Band mit Schwertern für sein „ außergewöhnlich mutiges Verhalten, Ruhe und Heroismus, die die Bewunderung der Truppe gewonnen haben “ (Waugh 2008, S. 114). 1918 wurde er zum Oberleutnant befördert und zur italienischen Front abkommandiert. Für seine Verdienste in der letzten österreichischen Offensive im Juni 1918 wurde Wittgenstein für die Goldene Medaille für Heldenmut, damals eine der höchsten Auszeichnungen in der österreichischen Armee, empfohlen, die er jedoch nicht erhielt, sondern er wurde „ lediglich “ mit der Militär-Verdienstmedaille ausgezeichnet (Monk 1990, S. 154). Während des Krieges führte er systematisch Notizbücher, in denen er neben seinen philosophischen Reflexionen auch Persönliches festhielt, u. a. seine Verachtung für den Charakter anderer Soldaten (Klagge 2001, S. 68). Es war auch während des Krieges, dass er Leo Tolstois Kurze Darlegung des Evangelium kaufte; er trug das Buch überall mit sich herum und empfahl es jedem leidenden oder verzweifelten Menschen mit einer solchen Eindringlichkeit, dass er von seinen Mitsoldaten bald „ der Mann mit den Evangelien “ genannt wurde (Monk 1990, S. 116). 1916 las er Dostojewskis Die Brüder Karamasow, und das so oft, dass er ganze Passagen des Buches auswendig kannte, insbesondere die Reden des alten Sosima, der für ihn ein mächtiges christliches Ideal von einem Heiligen repräsentierte, der „ direkt in die Seele anderer Menschen sehen konnte “ (ebd., S. 136). Russell stellte fest, dass Wittgenstein „ wie verwandelt “ aus dem Krieg zurückgekehrt war, als ein Mensch mit einer tiefen mystischen und asketischen Haltung (ebd., S. 183). Einen Militärurlaub im Sommer 1918 verbrachte er in einem der Sommerhäuser seiner Familie in Wien, wo er im August seinen Tractatus vervollständigte. Er reichte das Buch unter dem Titel Der Satz dem Verlag Johada und Siegel ein. Kurz danach kam es zu einer Reihe von Ereignissen, die Wittgenstein zutiefst betrübten. Am 13. August 1918 starb sein Onkel, am 25. Oktober erfuhr er, dass Johada und Siegel sich entschieden hatten, das Buch nicht zu veröffentlichen, am 27. Oktober schied mit Kurt bereits der dritte seiner Brüder freiwillig aus dem Leben. Um diese Zeit erreichte ihn auch die Nachricht, dass sein bester Freund David Pinsent bei einem Flugzeugunglück im Mai gestorben war. In Wittgenstein wuchs die Verzweiflung und er trug sich mit Selbstmordgedanken. Nach dem Urlaub wurde er erneut an die italienische Front geschickt und dort infolge der Niederlage der österreichischen Armee von den alliierten Kräften gefangen genommen. Er verbrachte danach neun Monate in einem italienischen Kriegsgefangenenlager. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 255 Am 25. August 1919 kehrte er zu seiner Familie nach Wien zurück, wobei er Berichten zufolge physisch wie seelisch völlig verbraucht gewesen sei. Er redete ständig von Selbstmord und versetzte damit seine Schwestern und seinen einzigen noch verbliebenen Bruder in Schrecken. Er hatte zwei Entschlüsse gefasst: sich an einem Lehrerseminar zum Grundschullehrer ausbilden zu lassen und sich von seinem Vermögen zu trennen. Er verteilte es unter seinen Geschwistern. Sie betrachten ihn als gestört, willigten aber ein (Bartley 1994, S. 33 - 39, 45). Ab September 1919 besuchte Wittgenstein die Lehrerbildungsanstalt in Wien, im Sommer 1920 arbeitete er als Gärtner in einem Kloster. Er bewarb sich unter einem falschen Namen für eine Lehrerstelle in Reichenau und bekam sie, entschied sich jedoch, die Stelle nicht anzutreten, als seine wahre Identität bekannt geworden war. Bald danach bekam er seine erste Stelle unter seinem eigenen Namen im abgelegen, lediglich ein paar Hunderte Einwohner zählenden Dorf Trattenbach im Osten Österreichs. In seinen ersten Briefen bezeichnete er es als schönen Ort, aber bereits im Oktober 1921 schrieb er an Russell: „ I am still at Trattenbach, surrounded, as ever, by odiousness and baseness. I know that human beings on the average are not worth much anywhere, but here they are much more good-for-nothing and irresponsible than elsewhere “ (Klagge 2001, S. 185). Bald wurde er zum Objekt des Klatsches der Dorfbewohner, die ihn, milde gesprochen, exzentrisch fanden. Er hatte kein gutes Verhältnis zu seinen Lehrerkollegen, war aber selbst ein enthusiastischer Lehrer, der bereit war, einigen seiner Schüler auch spät am Abend Nachhilfestunden zu geben. Seine Schwester Hermine schaute ihm ab und an beim Unterrichten zu und stellte fest, dass seine Schüler „ literally crawled over each other in their desire to be chosen for answers or demonstrations “ (Malcolm 1981). Für die weniger begabten Schüler und Schülerinnen war er aber eher ein Tyrann. Die zwei ersten Unterrichtsstunden waren immer der Mathematik gewidmet und dies waren die Stunden, an die sich manche seiner Schüler später mit Grausen erinnerten (Monk 1990, S. 195). Sie berichteten, dass Wittgenstein die Jungen mit dem Stock traktierte und ihnen Ohrfeigen verpasste, während er die Mädchen an den Haaren zu ziehen pflegte (Bartley 1994, S. 107). In der Zeit seines Aufenthalts in Österreich wurde sein Tractatus 1921 in der Zeitschrift „ Annalen der Naturphilosophie “ zunächst auf Deutsch als Logisch-philosophische Abhandlung veröffentlicht. Wittgenstein war allerdings mit der Form dieser Veröffentlichung nicht glücklich und sah in ihr einen „ Raubdruck “ . Es sollte eine englische Übersetzung folgen und Russell hatte sich bereit erklärt, die Einführung zu schreiben, in der er die Wichtigkeit des Werks darlegen wollte, weil nicht sicher war, dass sich für die englische Fassung dieses schwer verständlichen Textes von einem als Philosoph noch unbekannten Verfasser überhaupt ein Verleger finden würde. Wittgenstein war jedoch nicht zufrieden mit Russells Leistung. Er verlor sein Vertrauen in ihn, fand ihn als Person aalglatt und seine Philosophie mechanistisch und meinte, Russell habe den Tractatus gründlich missverstanden (Edmonds und 256 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Eidinow 2001, S. 35ff.). Das Buch ist schließlich 1922 in einer zweisprachigen Ausgabe erschienen (Hacker ebd., S. 900). Im September 1923 besuchte Frank P. Ramsey (ein vielversprechender Mathematikstudent, Philosoph und der Übersetzer des Tractatus ins Englische, der 1930 gerade einmal dreißig Jahre alt starb) Wittgenstein in Österreich, um mit ihm über das Werk zu reden. Er wollte für die berühmte philosophische Zeitschrift „ Mind “ eine Besprechung des Tractatus schreiben (Monk 1990 S. 212). Er bemühte sich aber auch darum, Wittgenstein zur Rückkehr nach Cambridge zu bewegen. Ramsey berichtete in einem Brief an seine Eltern, dass Wittgenstein äußerst bescheiden in einem kleinen Zimmer lebte, das lediglich Raum bot für ein Bett, Waschtisch, einen kleinen Tisch und einen kleinen, harten Stuhl. Wittgenstein und Ramsey aßen ein schlichtes Abendessen bestehend aus grobkörnigem Brot, Butter und Kakao. Wittgenstein begnügte sich mit seinem mageren Lohn und akzeptierte keine Hilfe, auch von seiner Familie nicht. Ramsey schrieb an John Maynard Keynes: „ [Wittgenstein ’ s family] are very rich and extremely anxious to give him money or do anything for him in any way, and he rejects all their advances; even Christmas presents or presents of invalid ’ s food, when he is ill, he sends back. And this is not because they aren ’ t on good terms but because he won ’ t have any money he hasn ’ t earned [. . .]. It is an awful pity “ (Monk 1990 S. 220f.). Im April 1926, als Wittgenstein in Otterthal nahe Trattenbach unterrichtete, ist es zu einem Vorfall gekommen (der sogenannte Vorfall Haidbauer), der ihn zur Aufgabe seiner Lehrertätigkeit veranlasste und schwerwiegende Folgen für Wittgensteins Reputation hätte haben können. Einer seiner Schüler war der damals elf Jahre alte Josef Haidbauer, ein Junge, dessen Vater verstorben war und dessen Mutter in der Gegend als Magd arbeitete. Josef war ein langsamer Schüler und eines Tages schlug ihn Wittgenstein - offensichtlich am Ende seiner Geduld - zwei oder drei Mal so heftig auf den Kopf, dass der Junge zusammenbrach. Wittgenstein trug den bewusstlosen Josef ins Büro des Schuldirektors und verließ dann eilig das Schulgebäude. Auf dem Wege aber begegnete er einem gewissen Herrn Piribauer, dem Vater eines Mädchens namens Hermine, das Wittgenstein bereits früher so heftig an den Ohren gepackt hatte, dass sie blutete (Monk 1990, S. 224, 232f.). Piribauer war bereits durch andere Schüler aus Wittgensteins Klasse von dem Vorfall informiert. Er beschimpfte Wittgenstein, sagte ihm, er sei kein Lehrer, sondern ein Tierbändiger und wollte ihn von der Polizei festnehmen lassen. Am 28. April 1926 reichte Wittgenstein beim lokalen Schulinspektor seine Kündigung ein. Im Mai wurde eine offizielle Untersuchung des Vorfalls eingeleitet und der Richter ordnete ein psychiatrisches Gutachten über Wittgenstein an. Im August 1926 waren die Untersuchungen noch im Gange, später aber wurden sie nicht weiterverfolgt. Es wird vermutet, dass Wittgensteins Familie und ihr Geld eine Rolle dabei spielten und die Affäre vertuschen halfen (Waugh, 2008, S. 162; Monk ebd., S. 232). 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 257 Nach diesem Vorfall arbeitete Wittgenstein einige Monate lang wieder als Gärtner des Klosters Hütteldorf, wo er auch darüber nachdachte, der Klostergemeinschaft als Mönch beizutreten. Zur gleichen Zeit etwa bat ihn seine Schwester Margarethe (derer Hochzeitsbild Klimt gemalt hatte) darum, ihr mit dem Entwurf ihres neuen Stadthauses zu helfen. Wittgenstein willigte ein und widmete sich der Arbeit zusammen mit einem Team von Architekten mit ganzer Seele. Er ging mit dieser Aufgabe anscheinend recht pedantisch um. Er konzentrierte sich auf die Fenster, Türen und Heizkörper und verlangte, dass alles genau so ausgeführt wurde, wie er es sich wünschte. Er brachte ein Jahr damit zu, die Türklinken zu entwerfen, und ein weiteres Jahr mit dem Entwurf der Heizkörper. Als das Haus fast errichtet war, verlangte Wittgenstein, dass die Decke eines Zimmers um 30 mm erhöht wurde, damit es exakt die von ihm gewünschten Proportionen hatte (Jeffries 2002). Der Tractatus war nun Gegenstand vieler Debatten unter den Philosophen und Wittgenstein erlangte zunehmend internationalen Ruhm. Er übte auch, wie wir bereits gesehen haben, einen starken Einfluss auf die Mitglieder des Wiener Kreises aus. 1927 machte Schlick persönliche Bekanntschaft mit Wittgenstein (Carnap 1963, S. 25) und informierte ihn über das Interesse des Kreises an seinem Buch und den eindringlichen Wunsch der Mitglieder, den Autor zu treffen, um mit ihm einige Punkte des Buches klären zu können. Wittgenstein war jedoch nicht bereit, diesem Wunsch zu entsprechen. Schlick hatte mehrere Gespräche mit Wittgenstein und dieser willigte schließlich in ein Treffen mit Weismann und Carnap ein. Die drei Mitglieder des Kreises (Schlick, Carnap und Weismann) trafen sich im Sommer 1927 dann mehrfach mit Wittgenstein. Schlick warnte seine Kollegen eindringlich, keine Diskussionen der Art, wie sie im Wiener Kreis üblich waren, mit Wittgenstein anzufangen, denn dieser wünschte sich solche unter keinen Umständen. Man solle sogar vorsichtig sein, Fragen zu stellen, weil Wittgenstein sehr sensibel sei und durch direkte Fragen leicht gestört werden könne. Die beste Haltung wäre Schlick zufolge die, Wittgenstein sprechen zu lassen und dann sehr vorsichtig anzufragen, wenn Klärungen absolut notwendig seien (Carnap ebd.). Carnap schreibt weiter, dass er bei der Begegnung mit Wittgenstein sofort merkte, dass Schlicks Warnungen völlig berechtigt waren. Wittgensteins eigenartiges Verhalten sei jedoch nicht durch Arroganz verursacht gewesen. „ In general, he was of a sympathetic temperament and very kind; but he was hypersensitive and easily irritated “ , schreibt Carnap (ebd.). Im Laufe dieser Diskussionen wurde aber bald offensichtlich, dass Wittgenstein eine andere Einstellung gegenüber der Philosophie vertrat als die Mitglieder des Kreises: His point of view and his attitude toward people and problems, even theoretical problems, were much more similar to those of a creative artist than to those of a scientist; one might almost say, similar to those of a religious prophet or a seer. When he started to formulate his view on some specific philosophical problem, we often felt the internal struggle that occurred in him at that very moment, a struggle 258 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus by which he tried to penetrate from darkness to light under an intense and painful strain, which was even visible on his most expressive face. When finally, sometimes after a prolonged arduous effort, his answers came forth, his statement stood before us like a newly created piece of art or a divine revelation. [. . .] [T]he impression he made on us was as if insight came to him as through divine inspiration, so that we could not help feeling that any sober rational comment of analysis of it would be a profanation. (Ebd., S. 25f.) Carnap betont, dass es einen markanten Unterschied gab zwischen Wittgensteins Haltung philosophischen Problemen gegenüber und seiner eigenen wie auch der von Schlick. Die Einstellung der Mitglieder des Wiener Kreises zu philosophischen Problemen unterschied sich nicht sehr von der, die Wissenschaftler ihren Problemen gegenüber einnehmen. Ihrer Ansicht nach stellte eine Diskussion von Zweifeln und Einwänden den besten Weg zur Überprüfung einer neuen Idee dar. Wittgenstein hingegen tolerated no critical examination by others, once the insight had been gained by an act of inspiration. I sometimes had the impression that the deliberately rational and unemotional attitude of the scientist and likewise any ideas which had the flavor of “ enlightenment ” were repugnant to Wittgenstein. (Ebd., S. 26) In den Diskussionen im Rahmen des Wiener Kreises zeigte sich auch ein interessanter Unterschied zwischen Wittgenstein und insbesondere Schlick hinsichtlich der Religion. Beide waren sich darin einig, dass die religiösen Doktrinen keinen theoretischen Inhalt hatten. Wittgenstein lehnte allerdings Schlicks Ansicht ab, wonach Religion zur Kindheitsphase der Menschheit gehöre und im Laufe der Kulturentwicklung langsam verschwinden werde (ebd.) Carnap zufolge deuteten solche Reaktionen auf einen starken inneren Konflikt hin zwischen Wittgensteins Gefühlsleben und seinem intellektuellen Denken. Carnap interpretiert diesen Konflikt folgendermaßen: die Einsicht, dass die Sätze der Metaphysik und Religion bedeutungslos sind, die Wittgenstein voll akzeptierte, waren für ihn, der mit sich selbst absolut ehrlich war, äußerst schmerzhaft. Carnap meint auch erkannt zu haben, dass Wittgenstein unter diesem inneren Konflikt seiner Persönlichkeit tief und schmerzhaft litt (ebd., S. 27). Auf Drängen von Ramsey und anderer kehrte Wittgenstein 1929 nach Cambridge zurück. John Maynard Keynes (1883 - 1946), 154 der zu jener Zeit ebenfalls in Cambridge tätig war und in Wittgensteins Kreis verkehrte, schrieb in einem Brief an seine Frau: „ Well, God has arrived. I met him on the 5.15 train “ (Monk 1990, S. 255). Trotz seines Ruhmes konnte Wittgenstein zunächst nicht an der Universität arbeiten, weil er über keinen universitären Abschluss verfügte. So bewarb er sich als advanced student. Russell war der Ansicht, dass seine Referenzen für eine Promotion genügten und forderte ihn auf, den Tractatus als seine These einzureichen. Diese wurde 154 Der also wie Russell, Schlick und manche andere von Wittgensteins Bewunderern älter war als er. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 259 1929 von Russell und Moore überprüft und angenommen. Am Ende der Verteidigung seiner Dissertation klopfte Wittgenstein den beiden Prüfern auf die Schulter und sagte: „ Don ’ t worry, I know you ’ ll never understand it “ (Monk 1990, S. 271). Wittgenstein wurde als Dozent berufen und wurde Fellow des Trinity College. 1939, nachdem G. E. Moore seinen philosophischen Lehrstuhl geräumt hatte, wurde Wittgenstein zu seinem Nachfolger gewählt. Bald danach erwarb er die britische Staatsangehörigkeit. Norman Malcolm, damals ein Post-Graduate Research Fellow in Cambridge, später ein einflussreicher Vertreter der analytischen Philosophie in Amerika und Wittgensteins Freund, beschrieb dessen Vorlesungen folgendermaßen: It is hardly correct to speak of these meetings as „ lectures “ , although this is what Wittgenstein called them. For one thing, he was carrying on original research in these meetings [. . .] Often the meetings consisted mainly of dialogue. Sometimes, however, when he was trying to draw a thought out of himself, he would prohibit, with a peremptory motion of the hand, any questions or remarks. There were frequent and prolonged periods of silence, with only an occasional mutter from Wittgenstein, and the stillest attention from the others. During these silences, Wittgenstein was extremely tense and active. His gaze was concentrated; his face was alive; his hands made arresting movements; his expression was stern. One knew that one was in the presence of extreme seriousness, absorption, and force of intellect [. . .] Wittgenstein was a frightening person at these classes. (Malcolm 1958, S. 25) Nach der Arbeit ging Wittgenstein oft ins Kino, um sich Western anzusehen und dabei zu entspannen. Er bevorzugte die vorderen Sitze. Norman Malcolm zufolge eilte Wittgenstein ins Kino, wenn die Lehrveranstaltung beendet war (Malcolm ebd., S. 26). Er las auch gerne Kriminalromane zur Entspannung (Hoffmann 2003). Während der Dreißigerjahre, angesichts der steigenden Flut des Nationalsozialismus und der Massenarbeitslosigkeit, und überzeugt vom baldigen Niedergang der europäischen Zivilisation, sympathisierte Wittgenstein mit dem Sowjetkommunismus. Er betrachtete Russland als ein vielversprechendes Experiment auf dem Felde der menschlichen und sozialen Beziehungen. Er lernte Russisch und erwog 1935 die Möglichkeit, die Philosophie aufzugeben und eine medizinische Ausbildung zu absolvieren, um sich dann in Russland als Assistenzarzt niederzulassen oder aber als Arbeiter auf einer Kolchose. Im September dieses Jahres verbrachte er zwei Wochen in Leningrad und Moskau, wo ihm Philosophieprofessuren in Moskau und in Kazan angeboten wurden. Es wurde ihm aber auch klargemacht, dass man seine Dienste als Arbeiter oder Assistenzarzt nicht benötigte (Hacker ebd., S. 904). Es war auch bereits in den Dreißigerjahren, dass sich eine Wende in Wittgensteins Denken vollzog, die später in seinem zweiten großen Werk, den Philosophischen Untersuchungen, kulminierte (ebd., S. 904 ff). P. M. S. Hacker schreibt, dass das Material für den ersten Teil der Untersuchungen (bis § 421) 260 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus bereits Ende des Sommers 1944 fertig vorlag (Hacker ebd., S. 905); das Werk wurde jedoch erst 1953 posthum veröffentlicht. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fand Wittgenstein es unerträglich, dass ein Krieg im Gange war und er Philosophie lehrte. Es machte ihn wütend, wenn einer seiner Studenten ihm erzählte, dass er professioneller Philosoph werden wollte (Malcolm 1958, S. 28). Im September 1941 bat Wittgenstein John Ryle, den Bruder des berühmten Philosophen Gilbert Ryle, ihm eine Arbeit im Guy ’ s Hospital in London zu beschaffen. John Ryle war Professor der Medizin in Cambridge und an den Vorbereitungen von Guy ’ s Hospital für die Bombenangriffe der deutschen Luftwaffe beteiligt. Ihm gegenüber äußerte Wittgenstein, er würde langsam sterben, bliebe er in Cambridge, er wollte jedoch lieber schnell sterben. Kurze Zeit später begann er seine Arbeit im Krankenhaus als Apothekenportier, d. h., er lieferte die Medikamente aus der Apotheke an die entsprechenden Abteilungen, wo er den Patienten dann geraten haben soll, sie nicht zu nehmen (Monk 1990, S. 431ff.). Das Krankenhauspersonal war nicht darüber informiert worden, dass es sich bei ihm um einen der weltweit berühmtesten Philosophen handelte, obwohl ihn manche erkannten, diejenigen zumindest, die früher die Treffen des Moral Sciences Club besucht hatten, sie waren jedoch diskret. Eine dieser Personen bat Wittgenstein: „ Good God, don ’ t tell anybody who I am! “ (ebd., S. 432). Dennoch wurde er von manchen von ihnen Professor Wittgenstein genannt, und er durfte mit den Ärzten speisen. Am 1. April 1942 schrieb er: I no longer feel any hope for the future of my life. It is as though I had before me nothing more than a long stretch of living death. I cannot imagine any future for me other than a ghastly one. Friendless and joyless. (Ebd, S. 442) Während Wittgenstein im Guy ’ s Hospital arbeitete, ist er Basil Reeve, einem jungen Arzt mit Interesse an der Philosophie begegnet, der mit Dr. R. T. Grant die Schockwirkung auf die Opfer der Luftangriffe untersuchte. Als die Angriffe zu Ende gingen, gab es weniger Opfer zu studieren, und im November 1942 wechselten Grant und Reeve in die Royal Victoria Infirmary von Newcastle upon Tyne, um sich der Untersuchung der Opfer von Straßenverkehr und Industrie zu widmen. Grant bot Wittgenstein eine Laborantenstelle mit einem Wochenlohn von £ 4. Vom 29. April 1943 bis Februar 1944 lebte Wittgenstein dann in Newcastle (ebd., S. 447ff.). In diese Zeit fiel auch seine Erfindung eines verbesserten Geräts zum Aufzeichnen des Pulsdrucks und seiner Beziehung zu Atmungstiefe und -frequenz (Hacker ebd., S. 905). 1947 gab Wittgenstein seine Professur in Cambridge 1947 auf, um sich auf sein Schreiben zu konzentrieren, und reiste nach Irland. Er nahm auch die Einladung von Norman Malcolm an, der damals bereits Professor an der Cornell University war, ein paar Monate mit ihm und seiner Frau in Ithaca, New York, zu verbringen. Im April 1949 unternahm er die Reise, obwohl er, 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 261 wie er Malcolm erzählt hatte, zu krank sei, um philosophisch zu arbeiten. Ein Arzt in Dublin hatte bei ihm eine Anämie diagnostiziert und ihm Eisen- und Leber-Tabletten verschrieben. Nach London zurückgekehrt, wurde bei ihm Prostatakrebs entdeckt, der sich bereits ins Knochenmark ausgebreitet hatte und darum nicht mehr operiert werden konnte. Am 25. April 1951 begann er mit Arbeiten an seinem letzten Manuskript. Tags darauf war sein 62. Geburtstag. Am Nachmittag dieses 26. April machte er einen Spaziergang und schrieb seinen letzten Tagebucheintrag. Am Abend verschlechterte sich sein Zustand deutlich und als sein Arzt ihm sagte, er würde wahrscheinlich nur noch wenige Tage leben, antwortete Wittgenstein: „ Good! “ . Joan Bevan, die Frau seines Hausarztes Edward Bevan, in dessen Haus Wittgenstein zu der Zeit lebte, blieb bei ihm in jener Nacht, und kurz bevor er am 29. April zum letzten Mal das Bewusstsein verlor, sagte er ihr: „ Tell them I ’ ve had a wonderful life. “ Nach Ansicht Norman Malcolms eine „ strangely moving utterance “ (Malcolm 1958, S. 80 f). Fazit Es zeichnet sich also ein eher zwiespältiges Bild von Wittgensteins Persönlichkeit ab. Auf der einen Seite ein vielseitiges Genie mit außergewöhnlichen Begabungen nicht nur für Mathematik, Logik und Philosophie allgemein, sondern auch für Technik und sogar Musik, eine äußerst einfühlsame, vielleicht auch äußerst empfindliche Person (Hacker spricht von Wittgensteins „ morbid sensitivity and irritable disposition “ ; Hacker ebd., S. 898), zutiefst ehrlich und zutiefst idealistisch, mit überragender, sogar überwältigender persönlicher Ausstrahlung (eine in diesem Zusammenhang interessante Tatsache ist, dass Wittgenstein eher klein gebaut und von schlanker Statur war; Hacker ebd., S. 909). Auf der anderen Seite jemand, der eindeutig zur Überheblichkeit, ja sogar Verachtung denen gegenüber neigte, die anders dachten oder in seinen Augen nicht auf seinem Niveau standen, und der so ungeduldig mit den Schwächen der Mitmenschen war, dass diese bei ihm sogar Gewaltausbrüche provozieren konnten. Auf der einen Seite ein Mensch mit einer Vorliebe für anspruchsvolle klassische Musik (Haydn bis Brahms) und Literatur (Goethe, Schiller, Lichtenberg, Lessing, Tolstoi, Dostojewski, den hl. Augustinus, Kierkegaard) (Hacker ebd., S. 897), auf der anderen Seite jemand, der eine gewisse Vorliebe für Western und Krimis zeigte. Was ebenfalls stark auffällt, ist, dass Wittgenstein, wie Carnap auch, in einem außergewöhnlich großen Kreis von äußerst einflussreichen Denkern, man könnte sogar sagen, Spitzendenkern seiner Zeit verkehrte und auf sie einen ungemein starken, fast magischen Einfluss ausübte. Es ist doch eher selten, dass man einen Denker mit Gott vergleicht, wie es kein Geringerer als John Maynard Keynes im Fall von Wittgenstein getan hat. Was aber im gegenwärtigen Kontext von besonderer Bedeutung ist, sind Wittgensteins religiöse, ja mystische Neigungen. Wie erinnern uns, dass er seinen von der Familie 262 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus „ ererbten “ Glauben in seiner Schulzeit verloren hatte, ihn jedoch während des Ersten Weltkriegs offensichtlich wiedergewann und von anderen Soldaten als „ der Mann mit den Evangelien “ bezeichnet wurde. Hacker schreibt, dass Wittgensteins religiöse Inbrunst in seinem späteren Leben verblasste; was ihm von dieser Phase geblieben sei, war „ a religious view of life, craving perfection and purity, beset with religious angst and guilt, but without religious faith “ (Hacker ebd., S. 900). Wittgensteins religiöse Überzeugugnen spielten jedoch zur Zeit der Abfassung des Tractatus zweifellos eine wichtige Rolle in seinem Leben. Lässt sich diese Seite seiner Persönlichkeit in seinem zentralen Frühwerk wiederfinden? Tractatus Mit dieser vielleicht eher überraschenden Frage können wir uns jetzt der Analyse des Tractatus 155 zuwenden. Dieses Werk kann als eine Art Fortsetzung des Russell-Whitehead ’ schen Programms der Zurückführung der Mathematik auf die Logik in den Bereich der Sprache betrachtet werden. So wie diese zeigten, dass sich das Gesamtbau der Mathematik von einigen einfachen Grundprinzipien ableiten lässt, so versucht Wittgenstein festzulegen, was sich nicht nur in der Mathematik, sondern überhaupt sagen lässt und wie dieses Sagbare eigentlich aus einfachen Bausteinen ableitbar ist. Im Vorwort stellt Wittgenstein fest, dass er mit seinem Buch dem Ausdruck von Denken und Sprache eine Grenze ziehen will: „ Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen “ (Tlp, S. 9, kursiv im Original). 156 Der Tractatus gilt als ein schwieriges Buch, folglich darf es nicht überraschen, dass die Urteile über Sinn und Wert des Werks weit auseinander liegen. So äußerte sich z. B. Karl Popper folgendermaßen darüber: Wittgenstein tried to show that all so-called philosophical or metaphysical propositions were in fact non-propositions or pseudo-propositions: that they were senseless or meaningless. All genuine (or meaningful) propositions were truthfunctions of the elementary or atomic propositions which described “ atomic facts ” , i. e. facts which can in principle be ascertained by observation. In other words they were fully reducible to elementary or atomic propositions which were simple statements describing possible states of affairs, and which be in principle established or rejected by observation. If we call a statement an “ observation statement ” not only if it states an actual observation but also if it states anything that may be observed we shall have to say that every genuine proposition must be a truthfunction of and therefore deducible from, observation statements. All other apparent propositions will be, in fact, nonsense; they will be meaningless pseudo-propositions. (Popper 1957, S. 163f.) 155 Im Weiteren: Tlp (vgl. Kürzelverzeichnis). 156 Vgl. Ebd., S. 33: „ Alles, was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles, was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen “ , und S. 85: „ Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. “ 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 263 Elizabeth (G. E. M.) Anscombe, eine der engsten Schülerinnen Wittgensteins, schreibt in ihrem dem Tractatus gewidmeten Buch, Poppers Ansicht sei „ the most common view of the Tractatus “ (Anscombe 1971, S. 25), wobei es sich allerdings, wie sie behauptet, um ein Missverständnis von Wittgensteins Intentionen handle (ebd., S. 26). Aber nicht nur „ mainstream “ -Philosophen missverstanden Wittgenstein. Seine Gesinnungsgenossen und sogar seine engsten Mitarbeiter taten das auch. So hatten z. B. die Mitglieder des Wiener Kreises zwar eine sehr hohe Meinung vom Tractatus und widmeten seinem Studium mehrere Monate (Misak schreibt sogar: „ all of 1926 - 7 “ ; Misak 1995, S. 49), lasen und diskutierten es Satz für Satz (Stadler 1997, S. 232). Dennoch hatten sie Mühe mit den Schlusspassagen des Buches. Rudolf Carnap empfahl, die abschließenden Sätze des Buches zu ignorieren. Wittgenstein reagierte darauf mit der Bemerkung an Schlick: „ Ich kann es nicht glauben, dass Carnap die letzten Sätze des Buches und somit die fundamentale Konzeption des ganzen Buches so vollständig missverstanden haben sollte “ (Conant 1995, S. 286). Mehr noch, als Bertrand Russell das Manuskript des Tractatus von Wittgenstein erhalten hatte (der damals im italienischen Kriegsgefangenlager inhaftiert war), schrieb er ihm mit einigen Kommentaren und Fragen zurück. Sein Brief ist nicht erhalten geblieben, es ist jedoch zu vermuten, dass er insbesondere die logischen Aspekte des Tractatus betonte. Wittgenstein erwiderte darauf: Now I ’ m afraid you haven ’ t really got hold of my main contention, to which the whole business of logical propositions is only corollary. The main point is the theory of what can be expressed (gesagt) by propositions - i. e. by language (and, what comes to the same, what can be thought) and what cannot be expressed by propositions, but only shown (gezeigt); which, I believe, is the cardinal problem of philosophy [. . .]. (Anscombe 1971, S. 161) Es scheint, dass Wittgenstein sogar damit gerechnet hat, dass seine Intentionen missverstanden werden. Georg Henrik von Wright, der finnische Philosoph, der den Philosophielehrstuhl nach Wittgensteins Abgang in Cambridge übernommen hatte, schrieb: He was of the opinion [. . .] that his ideas were generally misunderstood and distorted even by those who professed to be his disciples. He doubted he would be better understood in the future. He once said he felt as though he were writing for people who would think in a different way, breathe a different air of life, from that of present-day men. (Malcolm 1958, S. 6) Die Hoffnung auf diese Andersdenkenden und gleichsam in anderen Sphären lebenden Menschen hat sich aber kaum verwirklicht. Holm Tetens unterscheidet in seiner 2009 erschienen Werkinterpretation drei Klassen von Tractatus-Sätzen: 1) Sätze, die der Leser versteht und auch für wahr erachtet; 2) solche, die er immanent aus bestimmten Voraussetzungen Wittgensteins nachvollziehen kann, die er aber nicht für wahr hält, weil er die 264 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus betreffenden Voraussetzungen nicht teilt; und schließlich 3) Sätze, die für ihn rätselhaft bleiben. Bei Tetens heißt es dann: „ Für jeden Interpreten verteilen sich die Sätze des Tractatus ein wenig anders auf die drei erwähnten Klassen. Niemand kann sich die richtige und vollständige Interpretation dieses ungewöhnlichen und teilweise ungewöhnlich dunklen Buches zu Gute halten “ (Tetens 2009, S. 5). Eine neuere Leseart des Tractatus wird von der sogenannten „ New Wittgenstein “ -Interpretionsfamilie angeboten (Crary und Read 2000). Dieses sogenannte „ resolute reading “ ist umstritten und wird viel diskutiert. Die Hauptthese dieser Leseart ist die, dass Wittgenstein im Tractatus keine theoretische Darstellung der Sprache bietet, welche Ethik und Philosophie in ein mystisches Reich des Unsagbaren verweist, sondern vielmehr eine mit therapeutischem Zweck. Durch die Arbeit an den Sätzen des Buches kommt der Leser dahin zu erkennen, dass die Sprache alle seine Bedürfnisse perfekt befriedigt und dass die Philosophie auf einem falschen Verständnis des Verhältnisses zur Logik unserer Sprache fußt. Ist diese Interpretation richtig? Im Folgenden möchte ich Wittgensteins Werk einer kritischen, vielleicht sogar einer unverschämt kritischen, einer frechen Analyse unterziehen. Wittgenstein mit seiner überragenden Persönlichkeit ist nicht mehr da, und das ermöglicht es uns heute, sein frühes Hauptwerk nüchtern anzugehen. Ein solcher besonders kritischer Blick auf den Tractatus ist umso berechtigter, als sich bekanntlich Wittgenstein selbst einige Jahre nach der Veröffentlichung seines Erstlings von ihm distanzierte. Ironischerweise begann dieser Prozess kurz nachdem er sein Werk 1929 der University of Cambridge als eine Art Dissertationsersatz einreichte (und auf Grund dieser Schrift seine Doktorwürde erlangte; Hacker ebd., S. 903). Nur einige Monate später begann die Philosophie des Tractatus unter seinen Händen zu zerbröseln (ebd.). Betrachten wir also einige der Behauptungen dieses Werkes genau und fragen wir uns, ob sie uns ebenso selbstverständlich sind, wie sie es damals Wittgenstein 157 und vielen seiner illustren Zeitgenossen waren. Im Gegensatz zu den in den vorigen Kapiteln behandelten Werken von Schlick und Carnap macht es im Falle des Tractatus keinen Sinn, die Ausführungen des Verfassers zunächst kommentarlos zusammenzufassen, um sie dann in einem zweiten Schritt einer kritischen Analyse zu unterziehen. Es macht keinen Sinn, man sollte wohl besser sagen: ein solches Vorgehen ist im Falle des Tractatus nicht möglich. Denn dieses Buch stellt keine Entfaltung einer philosophischen Argumentation dar. Es beinhaltet vielmehr eine lange Reihe von Feststellungen, die, wie es scheint, ihrem Autor ebenso selbstverständlich sind wie die Aussagen der elementaren Geometrie oder Arith- 157 Damals, weil Wittgenstein seine Ansichten bekanntlich später im Leben grundlegend revidierte. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 265 metik und folglich keiner Begründung bedürfen. Durch diese Form entsteht der Eindruck - wiederum im starken Kontrast zu Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre - , dass der Verfasser überhaupt nicht bereit ist, sich auf eine Diskussion seiner Thesen einzulassen. Entweder werden sie vom Leser, so wie sie sind, akzeptiert oder nicht. Und in letzterem Falle, hat man sich grundsätzlich nichts mehr zu sagen. Ein Vorgehen, das gut zu dem Eindruck von Wittgensteins Art passt, den Carnap bei ihren Begegnungen innerhalb des Wiener Kreises gewonnen hatte und den er, wie wir uns erinnern, folgendermaßen schilderte: „ [T]he impression he made on us was as if insight came to him as through divine inspiration, so that we could not help feeling that any sober rational comment of analysis of it would be a profanation “ (Carnap 1963, S. 25f.). Carnaps Schilderung von Wittgensteins Gebaren findet immerhin eine gewisse Bestätigung in dessen eigenen Worten im Vorwort zum Tractatus: „ [M]ir scheint [. . .] die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben “ (Tlp, S. 10, kursiv im Original, das ganze Vorwort ist kursiv gedruckt). Schon diese Selbstsicherheit des zur Zeit der Abfassung seines Werks erst 29 Jahre alten Wittgenstein ist bemerkenswert. Bereits aus dem Vorwort erfahren wir, dass es das Ziel des Buches ist, „ dem Denken eine Grenze zu ziehen “ (Tlp, S. 9), oder genauer, nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken, der Sprache. Es werden also der Sprache Grenzen gezogen, „ und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein “ , schreibt Wittgenstein. Bereits an diesem Punkt kann man stutzig werden. Wie kann man der Sprache Grenzen ziehen wollen? Die Sprache ist doch etwas Lebendiges, Sich-Entwickelndes, ihr Grenzen ziehen zu wollen gliche dem Vorhaben, einem Pferd oder einer Eiche vielleicht sogar einem Menschen Grenzen zu ziehen, zu bestimmen, wie sie sich verändern und entwickeln sollen. Wir wissen, dass wir das Wachstum der Pflanzen oder Tiere einigermaßen steuern können und dass wir einem unartigen Kind Grenzen setzen müssen. Im Allgemeinen aber freut man sich an dem ungehinderten Wachstum einer Eiche, an ihrer ungehinderten Entwicklung und an ihrem majestätischen Aussehen im „ hohen Alter “ . Man will ihr keine Grenzen setzen. Und was Kinder betrifft, so will man sie vor allem fördern und ihnen nur in Ausnahmefällen Grenzen setzen. Warum sollte man also der Sprache Grenzen setzen wollen? Wittgenstein gibt uns keine Antwort auf diese Frage. Wittgensteins Buch hat die Form einer streng mathematischen oder geometrischen Konstruktion, in der jeder Behauptung eine Nummer zugewiesen ist, wobei die einzelnen Behauptung nicht nur bezüglich ihrer Reihenfolge, sondern auch bezüglich ihrer Bedeutung bzw., wie Wittgenstein es formuliert, ihres „ logischen Gewichts “ angeordnet sind. Er schreibt in der Fußnote: 266 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Die Dezimalzahlen als Nummern der einzelnen Sätze deuten das logische Gewicht der Sätze an, den Nachdruck, der auf ihnen in meiner Darstellung liegt. Die Sätze n.1, n.2, n.3, etc. sind Bemerkungen zum Satze No. n; die Sätze n.m1, n.m2 etc. Bemerkungen zum Satze No. n.m; und so weiter. (Tlp, S. 11) 158 Das ganze schmale (ca. 80 Seiten umfassende) Werk beinhaltet lediglich sieben Hauptbehauptungen: 1 Die Welt ist alles, was der Fall ist. 2 Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten. 3 Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke. 4 Der Gedanke ist der sinnvolle Satz. 5 Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze. 6 Die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion ist: [ p , , N( )]. Dies ist die allgemeine Form des Satzes. 7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Betrachten wir die ersten zwei Sätze des Buches: 1 Die Welt ist alles, was der Fall ist. 1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. Wir sind bereits mit der ontologischen Position von Schlick vertraut und wissen, dass er es vermeiden wollte, von Substanzen zu sprechen, und der Ansicht war, man könne die Welt auf die Eigenschaften und Tatsachen, die er als in einer Beziehungen zwischen Gegenständen (sehr weit gefasst) bestehend verstand (AE, S. 222). Für Wittgenstein ist die Welt ebenfalls die Gesamtheit der Tatsachen, nicht Dinge, wobei das, was er unter einer Tatsache versteht, erst im 2. Satz expliziert wird: „ Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten “ , und ferner heißt es unter 2.01: „ Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen). “ (Ich werde auf diese Sätze weiter unten ausführlicher eingehen.) Die Übereinstimmung der beiden Positionen ist frappierend, wenn man bedenkt, dass beide Werke völlig unabhängig voneinander und praktisch zeitgleich entstanden sind (Schlick arbeitete an seiner AE in Rostock, Wittgenstein in Cambridge, es ist ferner davon auszugehen, dass beide nichts voneinander wussten: Wittgenstein war damals völlig unbekannt und nicht einmal promoviert). Wie oben erwähnt, brachte Schlick seine Allgemeine Erkenntnislehre sehr wahrscheinlich 1916 zu Ende, veröffentlicht wurde sie aber erst 1919 (datiert 1918); Wittgenstein vervollständigte den Tractatus bereits im August 1918, als er Kriegsgefangener in Como und später in Cassino war, erschienen ist das Werk 158 Aus diesem Grund werde ich im Folgenden auf die Angabe der Seitenzahl einer Äußerung grundsätzlich verzichten und es bei der Nennung der Nummer der Äußerung bewenden lassen. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 267 dann aber erst 1921. Diese inhaltlichen und zeitlichen Parallelen erklären auch das Interesse, mit dem der Tractatus im Wiener Kreis studiert wurde. Was an den oben angeführten ersten beiden Sätzen des Werks auffällt, ist erstens, dass Wittgenstein nicht nur Substanzen, sondern auch Eigenschaften aus seiner Metaphysik ausschließen zu wollen scheint - die Welt scheint für ihn ausschließlich aus den Verbindungen zwischen Gegenständen zu bestehen. Durch die Substitution der Grundbegriffe aus den Sätzen 1 und 1.1 durch ihre Definitionen aus den Sätzen 2 und 2.01 erhalten wir nämlich die Aussage: „ Die Welt ist die Gesamtheit der Verbindungen von Gegenständen “ oder genauer: „ Die Welt ist die Gesamtheit jener Verbindungen von Gegenständen, die bestehen “ . Und zweitens ist hier bemerkenswert, dass Wittgenstein den Begriff des Gegenstandes wie auch den der Verbindung zwischen Gegenständen völlig offen lässt. Wir rätseln also, ob man unter „ Gegenständen “ bloß Tische und Stühle usw. verstehen soll, oder ob auch Gerechtigkeit, Liebe und die Zahl zwei Gegenstände sind. Wir rätseln auch, ob zwischen einem Tisch und einem neben ihm stehenden Stuhl eine „ Verbindung “ besteht (wahrscheinlich schon) und ob zwischen der Gerechtigkeit und dem Tisch eine „ Verbindung “ besteht (wahrscheinlich nicht, aber wenn nicht, warum nicht? ). Wir erhalten keine Auskunft darüber, wie wir überhaupt feststellen können, ob zwischen „ zwei Gegenständen “ eine „ Verbindung “ besteht oder nicht. Wir erhalten ebenfalls keine Argumente dafür, dass die von Wittgenstein formulierten Behauptungen wahr sind. Lassen wir diese Fragen für einen Moment offen und überlegen wir, ob Wittgensteins erste Behauptung stimmt. Stimmt es, dass die Welt „ alles ist, was der Fall ist “ ? Wie sollen wir in dieser Sicht auf die Welt die Vergangenheit und vor allem die Zukunft einordnen? „ Der Zweite Weltkrieg brach am 1. September 1939 aus “ . Ist dies der Fall oder war dies der Fall? In der fraglichen Feststellung wurde die Vergangenheitsform des Verbs gebraucht, was darauf zu deuten scheint, dass dieser Sachverhalt nicht mehr existiert. Oder existiert er doch? Man kann versuchen, die Schwierigkeit zu umgehen, indem man sagt: „ Es ist der Fall, dass der Zweite Weltkrieg . . . “ . Aber wenn diese Feststellung ein (gegenwärtiger) Sachverhalt ist, dann muss er jetzt existieren. Wo aber existiert er? Eine für Wittgenstein schwierige Frage, die auch sofort offensichtlich macht, dass es wichtig wäre, die Begriffe „ Gegenstand “ und „ Verbindung zwischen Gegenständen “ genauer zu bestimmen, was Wittgenstein jedoch nicht tut. Wie verhält sich nun aber die Situation mit Zukunftsaussagen? Der Satz „ Dies ist ein Spross “ würde wahrscheinlich für Wittgenstein als eine Beschreibung einer Tatsache gelten. Was aber ist mit „ Dies (dieser Spross) wird eine Eiche werden “ ? Ist das auch eine Tatsache? Vielleicht, denn man kann wohl sagen „ Es ist der Fall, dass dieser Spross eine Eiche werden wird “ . Aber wie sollen wir die Lage betrachten, wenn morgen ein Hirsch den Spross frisst? Die angebliche Tatsache wird zur bloßen Hoffnung. Andererseits, wenn aus dem Spross irgendwann tatsächlich eine Eiche wird, dann verwandelt sich die ursprüngliche Tatsache ( „ Dies 268 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus ist ein Spross “ ) in eine Falschheit ( „ Dies ist kein Spross, dies ist ein Baum! “ ). Dieses Problem wird noch offenkundiger, wenn wir Menschen und ihre Entwicklung betrachten. „ Hans Müller wiegt 15 kg “ . Dies ist heute eine Tatsache. Aber in einem Jahr ist dies keine Tatsache mehr. Was also ist eine Tatsache in Bezug auf Hans Müller? Dass er 15 kg wiegt oder dass er 22 kg oder vielleicht 80 kg wiegt? Oder muss man Tatsachen an die Zeit koppeln? Oder betrachten wir eine andere alltägliche Situation. „ Dieses Auto fährt mit einer Geschwindigkeit von 100 km/ h “ . Dies ist ziemlich sicher eine Tatsache im Sinne von Wittgenstein. Diese Tatsache impliziert, dass sich viele Tatsachen recht schnell ändern, denn das Auto kann recht schnell seine Geschwindigkeit ändern. Ist die Welt die Gesamtheit aller dieser sich schnell verändernden und folglich auch eigentlich schnell verschwindenden Tatsachen? Vielleicht. Wie steht es aber mit der Feststellung „ Der Zug wird um 15 Uhr in Bern eintreffen “ ? Ist das auch eine Tatsache? Und wenn ja, in welchem Sinne? Denn es ist allen klar, dass es auch anders kommen kann, der Zug kann Verspätung haben. Sollten wir vielleicht nicht lieber sagen „ Der Zug soll um 15 Uhr in Bern eintreffen “ ? Vielleicht, aber ist dies eine Tatsache? Man kann noch lange in diesem Stil weiterdenken. Die Fragen finden keine Antworten im Tractatus. Schlimmer noch. Der Leser findet in diesem Werk kein Bewusstsein für die Existenz solcher Schwierigkeiten. Und langsam gewinnt man den Eindruck, dass das Bild der Welt, das Wittgenstein vor Augen stand, als er an seinem Werk arbeitete, ein merkwürdig statisches, gefrorenes Bild ist, eine fotografische Momentaufnahme, die die faktische Dynamik der Erfahrungswelt, ihre Veränderbarkeit, ihren Reichtum an Möglichkeiten, an Potenzialitäten völlig ausblendet. Satz 2 und 2.01 2 Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten. 2.01 Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen) scheinen zunächst eine allgemein akzeptierte Definition der Tatsache zu sein. Der Duden stellt fest: Tatsache: wirklicher, gegebener Umstand, Faktum (Duden 1996, S. 517). Satz 2.01 weist darüber hinaus eine frappierende Ähnlichkeit mit der Ansicht auf, die Schlick in seiner AE zum Ausdruck brachte, indem er eine Tatsache als das Bestehen der Beziehung zwischen Gegenständen bestimmte (AE, S. 222). Dennoch, reflektiert man kurz darüber, so stellt man fest, dass dieser Begriff interessante, tiefere Dimensionen besitzt. Auf einige dieser „ tieferen Dimensionen “ habe ich bereits in meiner Diskussion der entsprechenden Passagen der Allgemeinen Erkenntnislehre aufmerksam gemacht. Jetzt kann man diese Diskussion ein wenig vertiefen. Ich habe damals geschrieben, dass wir, wenn wir von „ Tatsachen “ sprechen, diese für gewöhnlich mit etwas bloß Erfundenem, Erdachtem kontrastieren. Wittgensteins Formulierung, „ Tatsache ist das Bestehen von Sachverhalten “ , wie auch Schlicks Formulierung, „ Tatsache ist ein Bestehen der Beziehung zwischen 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 269 Gegenständen “ machen den gleichen Punkt. Wenn wir diese Aussage aber akzeptieren, dann müssen wir einsehen, dass sie eine wichtige und schwerwiegende Folge hat. Wenn ich sage: „ Peter hat gelogen, und dies ist eine Tatsache “ , dann sage ich sinngemäß etwa: „ Ich weiß, dass es (leider) wahr ist, dass Peter gelogen hat “ . Diese Umschreibung eines Satzes, in dem der Begriff „ Tatsache “ vorkommt, bringt ans Licht, dass die Rede von „ Tatsachen “ eigentlich zwangsläufig bereits gewisse Erkenntnisprozesse voraussetzt: um etwas als eine Tatsache beschreiben zu können, muss ich mich nicht nur vergewissern (soweit es mir möglich ist), dass etwas „ der Fall ist “ , sondern auch, dass mein Verständnis der Situation, meine Einsicht in sie, meine Erkenntnis von ihr adäquat sind. Wenn diese Einsicht richtig ist, dann müsste man behaupten, dass die Rede von Tatsachen epistemologische Einsichten, Erkenntnis voraussetzt, dass also ein Versuch, die Welt zu verstehen, indem man mit den „ Tatsachen “ anfängt, grundsätzlich fehlgeht. Daraus ergeben sich für Wittgenstein fatale Folgen. Satz 1.13 des Tractatus lautet: „ Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt “ . Die Rede vom „ logischen Raum “ deutet darauf hin, dass Wittgenstein im Tractatus eine Art der Weltauffassung schaffen will, welche der Logik eine zentrale, prioritäre Stelle einräumt. Es zeigt sich aber bereits an dieser Stelle, dass diese Ausrichtung grundsätzlich irrig ist. Man kann wohl versuchen, logische Beziehungen zwischen den Tatsachen zu bestimmen. Um das tun zu können, muss man jedoch zunächst die Tatsachen selbst bestimmen. Dies ist aber eine erkenntnistheoretische, letztlich eine empirische Aufgabe, welche die Sphäre der bloßen Logik eindeutig sprengt. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man über den Begriff der „ Verbindung “ zwischen Gegenständen nachdenkt. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass es überhaupt nicht klar ist, was genau Wittgenstein unter diesem Begriff verstand. Sicher ist lediglich, dass er darunter viel mehr verstehen musste, als eine bloß physische, körperliche Verbindung. Wenn dies aber der Fall ist, dann folgt daraus zwingend, dass die Formen der „ Verbindungen “ zwischen Gegenständen nicht in der unmittelbaren Wahrnehmung „ gegeben “ sind. Bereits solche elementare Relationen wie „ Melinda ist die Mutter von Miranda “ sind nicht in der Wahrnehmung gegeben, sondern lediglich auf oft recht umständlichen Wegen feststellbar. Übrigens: das Bestehen bzw. Nicht-Bestehen der „ Verbindung “ zwischen den „ Gegenständen “ „ Klaus “ und „ Miranda “ , die durch den Satz „ Klaus ist der Vater von Miranda “ behauptet wird, ist bekanntlich noch schwieriger festzustellen. Dazu kommt der Umstand, dass in der heutigen Welt, der Welt der „ Patchworkfamilien “ , „ Leihmütter “ , Alleinerziehenden, gleichgeschlechtlichen Ehen usw. die Relation „ Mutter (bzw. Vater) von “ (bzw. selbstverständlich „ Sohn/ Tochter von . . . “ ) recht kompliziert zu bestimmen ist. In den meisten Fällen ist es am Ende eines langen und vielleicht auch langwierigen Prozesses normalerweise möglich zu sagen, was die diesbezüglichen Fakten sind. Es sollte jedoch recht offensichtlich sein, dass dieser Prozess wenig bis gar nichts 270 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus mit der Anwendung der Gesetze der Logik zu tun hat. Und es ist so, dass diese Gesetze erst an seinem Ende zum Tragen kommen können, indem sie uns z. B. zu behaupten erlauben, dass, wenn Melinda die Mutter von Miranda ist und David der Sohn von Miranda, Melinda die Großmutter von David ist und David der Enkel von Melinda. Satz 2.0123 behauptet: „ Wenn ich den Gegenstand kenne, so kenne ich auch sämtliche Möglichkeiten seines Vorkommens in Sachverhalten “ . Dies scheint zu implizieren, dass man von der Kenntnis des Gegenstands erst „ am Ende der Forschung “ sprechen kann, wenn nicht nur alle Eigenschaften dieses Gegenstands, sondern auch alle Eigenschaften aller anderen Gegenstände bekannt sind (denn ich muss wohl auch diese kennen, um bestimmen zu können, welche Verbindungen - und Sachverhalte sich doch Verbindungen zwischen Gegenständen - er eingehen kann). Doch bereits der nächste Satz (2.01231) besagt, dass man, um einen Gegenstand zu kennen, „ zwar nicht seine externen - aber [. . .] alle seine internen Eigenschaften kennen [muss] “ , was überrascht, denn 1) würde man gewöhnlich annehmen wollen, dass ein Gegenstand „ Verbindungen “ mit anderen Gegenständen auch kraft seiner externen Eigenschaften eingehen kann (z. B. eine spiegelnde Oberfläche - sei es die eines Spiegels oder eines Stücks Glases oder gut polierten Metalls oder sogar die eines Teichs - reflektiert Licht); 2) ist es nicht klar, wo die Trennlinie zwischen den inneren und den äußeren Eigenschaften verläuft; 3) ist es erst an dieser Stelle, dass wir erfahren, dass Wittgenstein in seiner Ontologie doch Eigenschaften zulässt. Ist dies eine Inkonsequenz vonseiten Wittgensteins, der die Welt (zumindest scheinbar) auf die Tatsachen reduzieren wollte, oder haben wir ihn am Anfang falsch verstanden? Oder sind Eigenschaften auch Tatsachen? Aber Tatsachen sind nach Wittgenstein letztendlich Verbindungen zwischen Gegenständen, damit würden Eigenschaften eher nicht unter die Tatsachen fallen. Also vielleicht doch eine Inkonsequenz? Antworten auf diese Frage fehlen in dem Buch. Satz 2.0141 beinhaltet eine erstaunliche Aussage: „ Die Möglichkeit seines Vorkommens in Sachverhalten ist die Form des Gegenstandes. “ Die Form eines Balls ist also nicht die einer Kugel, sondern die der Möglichkeit seines „ Vorkommens in Sachverhalten “ ! Man kann Wittgensteins Intention an dieser Stelle irgendwie verstehen: er will wahrscheinlich sagen, dass für den Gegenstand nicht sein äußeres dreidimensionales Aussehen entscheidend ist, sondern seine Fähigkeit, „ Verbindungen “ mit anderen Gegenständen einzugehen, doch als Leser wäre man sicherlich dankbar, Erläuterungen über diesen wichtigen Punkt zu erhalten. Die Ähnlichkeit dieses Punktes mit Carnaps Vorstellung, nach der alle wissenschaftlichen Aussagen auf Strukturaussagen reduzierbar sind (s. oben), ist aber offensichtlich. Wir haben jedoch anlässlich der Diskussion dieser Behauptung gesehen, dass die Forderung, die Welt auf Strukturaussagen zu reduzieren, nicht realisierbar ist. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 271 Betrachten wir jetzt Satz 2.02: 2.02 Der Gegenstand ist einfach. Auch hier wird der Leser gezwungen, über die Intentionen des Verfassers zu rätseln und erhält keine Unterstützung von ihm. Was sollen wir unter der Feststellung „ Der Gegenstand ist einfach “ verstehen? Ein Auto scheint ein Gegenstand zu sein, aber es wäre sicherlich unsinnig, behaupten zu wollen, es sei einfach. Vielleicht also ist ein Auto nach Wittgenstein kein Gegenstand? Aber was ist dann einer? Und was kann er im Sinn haben, wenn er meint, dass irgendein Gegenstand einfach ist oder sein kann? Selbst einfachste Gegenstände wie z. B. ein Stein oder sogar ein Sandkorn sind, wie wir wissen, zusammengesetzt, haben eine innere Struktur, können zerlegt werden. Das Gleiche lässt sich selbstverständlich auch von den Lebewesen sagen. Die einzigen Gegenstände, die mir in Sinn kommen, von denen man sagen könnte, dass sie einfach (im Sinne von: nicht zusammengesetzt) sind, sind Quarks und Elektronen, doch Wittgenstein verstand unter „ Gegenständen “ mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht diese (insbesondere nicht Quarks, die damals nicht bekannt waren). Was verstand er dann darunter? Im Satz 2.021 schreibt er als eine Art Erklärung seiner Behauptung: „ Die Gegenstände bilden die Substanz der Welt. Darum können sie nicht zusammengesetzt sein, “ was das Rätsel allerdings nur noch vertieft. Auf der einen Seite ist die Richtung von Wittgensteins Denken leicht nachvollziehbar: die Substanz ist ein philosophischer Begriff für etwas Dauerhaftes, Unzerstörbares, für die Grundbestanteile des Universums. In diesem Sinne könnte man sagen, dass - abhängig von den persönlichen Präferenzen - Gott oder die Atome (im klassischen griechischen Sinn der unteilbaren und unzerstörbaren Dinge) die Substanz der Welt bilden. Dieser Tradition folgend scheint es für Wittgenstein zwingend zu behaupten, dass der Gegenstand einfach sei. Wäre er nicht einfach, könnte er zerlegt werden, dann würde er aber aufhören zu existieren und somit quasi „ beweisen “ , dass er nicht die Substanz der Welt ist. Aber wenn wir diesen Gedanken akzeptieren, vertieft sich das Rätsel, was Wittgenstein unter einem „ Gegenstand “ versteht, fast ins Unermessliche. Wir finden im Tractatus keine Antwort auf diese Frage. Betrachten wir jetzt Satz 2.0201: 2.0201 Jede Aussage über Komplexe lässt sich in eine Aussage über deren Bestandteile und in diejenigen Sätze zerlegen, welche die Komplexe vollständig beschreiben. Dieser Satz scheint die Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, dass sich komplexe Gegenstände - in Schlicks Terminologie - vollständig und ohne Verlust aus einfacheren Elementen aufbauen lassen. Diese Überzeugung bildet das Fundament des Programms der Reduktion der phänomenalen Welt auf die ihr angeblich zugrunde liegende einfachere, aber auch grund- 272 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus legendere Ebene. Interessanterweise haben wir bereits bei Schlick und Carnap eine ähnliche Geste bzw. ein ähnliches Bestreben feststellen können. Schlick vertrat die Ansicht, man könne alle Begriffe auf immer einfachere, letztendlich auf unmittelbar beobachtbare „ Qualitäten “ zurückführen, Carnap wiederum behauptete, dass höherstufige Begriffe sich auf die Begriffe der Basisstufe „ rückführen “ lassen. Wir haben in beiden Fällen gesehen, dass dies kaum zu leisten ist. Wittgenstein setzt hier einen neuen Akzent: es geht nicht um die Zerlegung der Gegenstände (was ihm zufolge nicht möglich ist), auch nicht um die Zerlegung der Begriffe in einfachere, elementarere Begriffe, sondern um die Zerlegung der Aussagen über Komplexe in Aussagen über einfachere Elemente, die jedoch, zusammengenommen, die Komplexe vollständig beschreiben würden. Ist dies zu leisten? Stellen wir uns ein komplexes Bild eines alten Meisters vor, vielleicht ein Stillleben der holländischen Schule, z. B. von Cornelis de Heem. Man kann dieses Bild im Vokabular der alltäglichen Sprache beschreiben. Man kann sagen, welchen Eindruck das Bild auf einen macht durch die ungeheuer präzise, fast fotografisch genaue Wiedergabe der Einzelheiten, durch die Schönheit der dargestellten Blumen und anderen Objekten, durch eine sowohl farblich als auch formenhaft ausgewogene, symmetrische Komposition usw. Man kann aber versuchen, diese komplexe Aussage in eine Reihe von Aussagen über die Bestandteile des Bildes zu zerlegen. Man kann sagen: im Vordergrund auf der linken Seite befindet sich auf einem steinernen Sims ein roter Hummer, rechts von ihm ein Ast mit einigen roten Pfirsichen, rechts von diesem Ast eine teilweise geschälte Zitrone, im Hintergrund ein Behältnis aus Glas teilweise mit einer gelblichen Flüssigkeit ausgefüllt, und um das Behältnis herum gibt es viele farbige Blumen. Man kann diese Blumen: ihre Gattungen, Positionen, Farben usw. genauer beschreiben. Man kann aber noch weiter gehen: man kann dieses äußerst komplexe Bild in eine große Anzahl von Pixeln auflösen, so wie dies eine moderne Digitalkamera oder ein Drucker macht. Jedem Pixel kann man einen einfachen Satz zuschreiben, der Art: im Punkt soundso (definiert durch zwei Koordinaten) ist ein gelber Pixel, im Punkt soundso ein roter usw. Würde irgendeine Reihe von Sätzen über die Pixelbestände (und ihre Relationen) von de Heems Bild die globale, „ Gestalt “ -Beschreibung aber überhaupt ersetzen können? Wir haben dieses Problem bereits in unserer Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre gestreift: es ist heute dank der Gestaltpsychologie wohl bekannt, dass dieselben Elemente als völlig unterschiedliche Gestalten wahrgenommen werden können. Ist es dann eine berechtigte Hoffnung, dass sich jede Aussage über Komplexe in eine „ Aussage über deren Bestandteile und in diejenigen Sätze zerlegen lässt, welche die Komplexe vollständig beschreiben “ ? Nach der Behauptung über die Möglichkeit der Zerlegung von Aussagen über Komplexe in Aussagen über deren Bestandteile folgt der bereits zitierte 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 273 Satz 2.021: „ Die Gegenstände bilden die Substanz der Welt. Darum können sie nicht zusammengesetzt sein “ , und ihm folgen zwei äußerst rätselhafte Feststellungen: 2.0211 Hätte die Welt keine Substanz, so würde, ob ein Satz Sinn hat, davon abhängen, ob ein anderer Satz wahr ist. 2.0212 Es wäre dann unmöglich, ein Bild der Welt (wahr oder falsch) zu entwerfen. Hätte die Welt keine Substanz, so würde, ob ein Satz Sinn hat, davon abhängen, ob ein anderer Satz wahr ist. Was will Wittgenstein damit sagen? Er führt jetzt drei Begriffe ein: Substanz, Sinn und Wahrheit, die er nicht erläutert, die jedoch bekanntlich ganz unterschiedlich gedeutet oder interpretiert werden können. Spätestens an dieser Stelle merken wir, dass Wittgenstein ungewöhnlich frei, um nicht zu sagen schlampig mit Begriffen umgeht. Er spricht von Gegenständen, von (einer) Substanz, vom Sinn und von der Wahrheit, meint offensichtlich etwas Bestimmtes mit diesen Begriffen und kümmert sich überhaupt nicht darum, ob seine Vorstellungen bezüglich der Inhalte dieser Begriffe sich mit den Vorstellungen seiner Leser treffen oder nicht, gibt sich überhaupt keine Mühe, seine Intentionen zu erläutern. Der Leser muss raten, was der Verfasser sagen will. Der Effekt ist, wie ich bereits angedeutet habe, dass man entweder den Eindruck bekommt, „ Hier ist ein Genie, der tiefste Wahrheiten über das Universum offenbart, die mir jedoch schleierhaft sind. Wenn ich ihn aber nicht verstehe, dann selbstverständlich deshalb, weil ich kein Genie bin. “ Oder man kommt eben zu dem Schluss: „ Hier ist jemand, der Unsinn erzählt, und weil es Unsinn ist, ist es unverständlich. “ Es folgt eine Sequenz von Feststellungen, die Wittgensteins Auffassung der Sprache als Bild der Wirklichkeit einführen: 2.1 Wir machen uns Bilder der Tatsachen. . . . 2.12 Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit. 2.13 Den Gegenständen entsprechen im Bilde die Elemente des Bildes. 2.14 Das Bild besteht darin, dass sich seine Elemente in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten. . . . 3 Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke. . . . 3.01 Die Gesamtheit der wahren Gedanken sind ein Bild der Welt. . . . 3.1 Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus. . . . 274 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus 4 Der Gedanke ist der sinnvolle Satz. 4.001 Die Gesamtheit der Sätze ist die Sprache. . . . 4.01 Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken. Wir machen uns Bilder der Tatsachen, der Gedanke ist ein solches (logisches) Bild, da jedoch der Gedanke mit einem (sinnvollen) Satz identisch ist, ist auch der Satz ein Bild der Wirklichkeit, und da die Sprache die Gesamtheit der Sätze ist, ist also die Sprache (vermutlich) ein Bild der Wirklichkeit. Der Anfang dieser Sequenz scheint zunächst völlig unbedenklich. Es ist sicher richtig, dass wir uns Bilder der Tatsachen machen. Gewöhnlich spricht man in diesem Zusammenhang von „ Vorstellungen “ . Wenn man will, kann man das Bild oder die Vorstellung auch als ein Modell der Wirklichkeit bzw. der Tatsachen verstehen, in dem seine/ ihre Elemente den Gegenständen entsprechen: die Vorstellung des Baumes dem Baum „ da draußen “ , die Vorstellung der Katze der Katze „ da draußen “ auf dem Baum. Satz 2.14 scheint ein wenig unbeholfen formuliert zu sein. Ich glaube, was Wittgenstein sagen wollte, war nicht, dass das Bild darin bestehe, dass „ sich seine Elemente in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten “ , denn das Bild besteht unabhängig davon, wie sich seine Elemente zu einander verhalten, sondern dass das Bild dann ein gutes/ passendes/ angemessenes Bild der Tatsachen ist, wenn „ sich seine Elemente in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten “ , eben: die vorgestellte Katze auf dem Baum und nicht z. B. über dem Baum (vgl. unten, Satz 2.223). Diese einfache Auffassung der Sprache als ein Bild der Wirklichkeit fängt an zu bröckeln, sobald wir an abstraktere „ Gegenstände “ wie Katzen und Bäume denken. Der Leser erinnert sich, dass Wittgenstein uns nicht gesagt hat, was er unter einem „ Gegenstand “ versteht, vermutlich aber will er auch über abstraktere „ Gegenstände “ Aussagen treffen. „ Linda liebt Folkert “ . Inwiefern ist dieser Satz ein Bild der in ihm zum Ausdruck gebrachten Tatsachen? Ich kann sicherlich das Wort „ Linda “ mit einem Bild von Linda, einer Vorstellung von Linda verknüpfen, und das Gleiche kann ich sicher auch mit dem Wort „ Folkert “ machen. Welche Vorstellung soll jedoch die Relation der Liebe zwischen Linda und Folkert (nicht aber zwingend umgekehrt) „ illustrieren “ ? Eine Vorstellung von Linda, wie sie Folkert küsst? Oder traurig und ungeduldig auf ihn wartet? Oder sich riesig freut, als er an ihrer Wohnungstür steht? Oder mit Freude für ihn kocht? Oder mit ihm schläft? Das Problem ist, dass alle diese Vorstellungen zwar richtig sind und dennoch bloß - jede für sich - eine unvollständige Beschreibung bzw. ein unvollständiges Bild der genannten Tatsache bzw. des genannten Sachverhalts (wir erinnern uns: eine Tatsache ist nach Wittgenstein das Bestehen eines Sachverhalts) liefern. Der Sachverhalt umfasst alle diese Bilder und viel mehr, und kein einziges Bild kann eigentlich als ein befriedigendes Modell des fraglichen Sachverhalts gelten. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 275 Wie wäre es aber mit noch abstrakteren „ Gegenständen “ ? „ Freiheit ist das höchste Gut “ . Welche Bilder können diese Aussage adäquat abbilden? Oder: „ Es gibt unendlich viele Primzahlen “ oder: „ Die Gravitationskraft nimmt zum Quadrat der Entfernung ab “ . Ich überlasse es dem Leser, passende Bilder für diese (und unzählige andere) Aussagen zu finden. Ich kann dies nämlich nicht. Aber vielleicht habe ich Wittgenstein falsch verstanden, vielleicht meint er ein andersartiges Bild der Wirklichkeit, keine bloße Vorstellung, wenn er vom Gedanken als von einem Bild der Wirklichkeit spricht. Denn er sagt nicht: „ Der Gedanke ist ein Bild der Wirklichkeit “ , sondern: „ Der Gedanke ist ein logisches Bild der Tatsachen “ . Was mag er wohl unter einem „ logischen Bild “ verstehen? Das Problem ist, auch diese Frage lässt Wittgenstein offen, so dass der Leser gezwungen ist zu raten. Vermutlich meinte Wittgenstein damit den Umstand, dass das gedankliche Bild der Tatsachen vor allem die (logischen) Relationen zwischen den Elementen der Wirklichkeit (korrekt) abbildet: unsere Vorstellung von der Katze ist „ kleiner “ als die Vorstellung des Baumes, und die vorgestellte Katze sitzt eben auf dem vorgestellten Baum und schwebt nicht etwa über ihm. Wenn dies Wittgensteins Intention gewesen wäre, so müsste er uns z. B. erklären können, wie er solche Aspekte der Wirklichkeit wie die Tatsache, dass die Katze schwarz, die Baumrinde aber braun ist und die Blätter grün sind in einer relationalen Terminologie abbilden wollte. Auf solche und ähnliche Fragen finden wir im Tractatus keine Antworten. In dem auf Satz 3 unmittelbar folgenden Satz 3.001 schreibt Wittgenstein lediglich: „ Ein Sachverhalt ist denkbar “ , heißt: Wir können uns ein Bild von ihm machen. Was den Eindruck verstärkt, dass er gedankliche Bilder im Sinne gewöhnlicher Vorstellungen denkt. Satz 4: „ Der Gedanke ist der sinnvolle Satz “ , der oberflächlich betrachtet wiederum völlig unbedenklich zu sein scheint, führt zu interessanten Schwierigkeiten. Zusammen mit Satz 3.1 ( „ Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus “ ) scheint er eine offensichtliche Tatsache zum Ausdruck zu bringen, dass erst ein sinnvoller Satz (vermutlich entweder gesprochen oder geschrieben), nicht aber ein Bruchteil eines Satzes, einen Gedanken vollständig offenbart. So wie Satz 4 aber formuliert ist, erweckt er den Anschein, dass Wittgenstein den Gedanken mit dem Satz identifizieren will: Der Gedanke ist der (sinnvolle) Satz, er ist also mit dem Satz identisch. Und diese Sicht (bzw. diese Interpretation von Wittgensteins Intentionen) führt zu Schwierigkeiten. Betrachten wir den folgenden Satz: 3.032 Etwas „ der Logik Widersprechendes “ in der Sprache darstellen, kann man ebensowenig, wie in der Geometrie eine den Gesetzen des Raumes widersprechende Figur durch ihre Koordinaten darstellen; oder die Koordinaten eines Punktes angeben, welcher nicht existiert. 276 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Es interessiert jetzt nicht, dass der Satz offensichtlich falsch ist, denn ich kann durchaus sagen: „ a ist größer als b und b ist größer als c, also ist a kleiner als c “ , auch wenn diese Aussage den Gesetzen der Logik klar widerspricht. Was an dem Satz 3.032 im gegenwärtigen Kontext interessiert, ist bloß seine Länge. Selbst nur bis zu dem Semikolon ist der Satz recht lang. Nun überlegen wir uns konkret, wie ein solcher Satz (und man kann sich durchaus noch viel längere Sätze vorstellen) entsteht. Er wird entweder Wort für Wort geschrieben oder gesprochen, oder vielleicht auch nur innerlich „ gesprochen “ bzw. gedacht. Und dieser Prozess dauert jeweils eine bestimmte Zeit, die im Falle des „ innerlichen Sprechens “ recht kurz sein mag, aber doch einen gewissen „ Umfang “ hat. Nun, Wittgenstein sagt, der Gedanke sei ein sinnvoller Satz. Der ganze Satz, versteht sich. Dann aber muss man sich fragen, wo der Gedanke ist, der im Satz 3.032 „ sinnlich wahrnehmbar “ zum Ausdruck gebracht wurde, wenn ich anfange (oder wenn Wittgenstein oder wer auch immer anfängt), ihn zu sprechen bzw. schreiben bzw. „ innerlich “ zu sprechen? Denn irgendwie muss ich wissen, was ich am Ende des Satzes sagen will, auch dann, wenn ich erst „ Etwas ‚ der Logik . . . “ gesagt habe. Sonst könnte ich den Satz nicht sinnvoll gestalten. Wie kann ich aber wissen, was ich noch nicht gesagt habe? Wir begegnen hier einem Paradox: Wir wissen nicht, was wir denken, bevor wir unsere Gedanken formuliert haben, zugleich aber Zeit müssen wir irgendwie wissen, was wir denken, bevor wir den Gedanken formuliert haben, um ihn überhaupt formulieren zu können. Sonst wären wir in der Situation jenes Mädchens aus der Erzählung von Graham Wallas, das, gebeten, sich der Bedeutung seiner Aussage sicher zu sein, bevor sie sie zum Ausdruck brachte, erwiderte: „ How can I know what I think till I see what I say? “ (Wallas 1993, S. 341). 159 Diese Überlegung zeigt, dass der sinnvolle Gedanke da sein muss, bevor der ihn zum Ausdruck bringende vollständig gebildete Satz da ist. Was wiederum zwingend zu der Frage führt: Wo und in welcher Form ist dieser Gedanke da, bevor er zum Ausdruck gebracht wird? Muss man hier die Frege ’ sche „ dritte Welt “ postulieren? 160 Damit aber haben wir längst nicht das Ende der Schwierigkeiten erreicht, die sich aus der Auffassung der „ Sprache als Bild der Wirklichkeit “ ergeben. Man kann nämlich richtige und falsche Bilder der Wirklichkeit haben. Das meint auch Wittgenstein: 2.21 Das Bild stimmt mit der Wirklichkeit überein oder nicht; es ist richtig oder unrichtig, wahr oder falsch. . . . 2.222 In der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seines Sinnes mit der Wirklichkeit besteht seine Wahrheit oder Falschheit. 159 Vgl. auch W. Shakespeares Rosalind: „ Do you not know I am a woman? When I think I must speak “ (As You Like It, 3. 2. 233). 160 S. oben: „ Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre “ . 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 277 Nun, wenn die Wahrheit in der „ Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung “ des Sinns des Satzes mit der Wirklichkeit besteht, dann braucht man eine Methode haben, die uns es ermöglicht, diese Frage zu entscheiden, „ die Spreu vom Weizen “ zu trennen. Wittgenstein stellt sich diesen Prozess sehr einfach vor: 2.223 Um zu erkennen, ob das Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen. Es ist offensichtlich, dass Wittgenstein an dieser Stelle der einfachen Übereinstimmungstheorie der Wahrheit huldigt, der Theorie also, die Schlick in seiner Allgemeinen Erkenntnislehre (zu Recht) scharf kritisierte. Erinnern wir uns an die Argumente, die er gegen sie angeführt hat (AE, S. 255 ff). So sei es unsinnig, Wirklichkeit und Gedanken vergleichen (oder gar gleichsetzen) zu wollen, da sich nicht „ Birnen mit Äpfeln “ vergleichen lassen: Begriffe sind den Gegenständen, die sie (nach Schlick) repräsentieren, nicht einmal ähnlich, geschweige denn mit ihnen identisch. Wittgenstein lässt sich an dieser Stelle in die Irre führen, weil er Begriffe als Bilder der Wirklichkeit, also als Vorstellungen versteht. Wir haben aber gesehen, dass man nur in einem sehr eingeschränkten Maße von bildlichen Vorstellungen der Wirklichkeit sprechen kann, da viele unserer Begriffe überhaupt nicht bildlich darzustellen sind. Doch selbst wenn man tatsächlich bildhafte Vorstellungen bilden kann (wie von Bäumen und Katzen), ist es fraglich, ob die Begriffe, die sich hinter diesen Vorstellungen verbergen, überhaupt bildhaft sind. Ohne auf diese Frage hier ausführlicher eingehen zu wollen, möchte ich auf die folgende Schwierigkeit hinweisen. Es ist durchaus sinnvoll zu fragen, wie lang, breit und hoch ein bestimmter Tisch ist. Ist dies aber in Bezug auf den Begriff des Tisches ebenfalls sinnvoll? Das scheint nicht der Fall zu sein. Wenn der Begriff des Tisches aber keine räumlichen Dimensionen hat, können wir ihn dann adäquat bildlich vorstellen? Ähnliches gilt auch für die Form des Tisches. Ein konkreter Tisch ist entweder quadratisch, rechteckig, rund, oval oder was auch immer. Welche Form aber hat der Begriff des Tisches? Keine von diesen? Alle? Kann man überhaupt sinnvollerweise von der Form des Tischbegriffs sprechen? 161 Wir merken, dass die Vorstellung, man könne die Wahrheit einer Aussage dadurch prüfen, dass man die Aussage (deren Sinn) mit der Wirklichkeit vergleicht, sehr vereinfacht oder schlicht falsch ist. 162 161 Wir werden uns mit dem Problem des Fehlens der räumlichen (und auch zeitlichen) Dimensionen bei Begriffen ausführlicher im Kapitel „ Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals Begriff der Objektivität “ befassen. 162 Manche führende Gegenwartsphilosophen, einschließlich des „ späten Wittgenstein “ , sind zu der Überzeugung gelangt, dass Sprache unmöglich als Bild der Wirklichkeit begriffen werden kann. Richard Rorty schrieb diesbezüglich in seiner berühmten Studie Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie Folgendes: „ Putnam schließt sich heute Wittgenstein und Goodman an: eine Theorie, die sich die Sprache als ein Abbild der Welt 278 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Diese Vorstellung führt aber noch zu einer logischen Schwierigkeit. Angenommen, wir könnten einen solchen Vergleich durchführen. Wir stellten also fest, dass der Satz A mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Nun, diese Feststellung ( „ Satz A stimmt mit der Wirklichkeit überein “ ) ist ein neuer Sachverhalt in der Welt. (Wittgenstein stellt in Satz 2.141 fest: Das Bild ist eine Tatsache). Zugleich aber ist der Satz qua Satz ein Bild der Wirklichkeit. Somit entsteht die Frage, ob dieses Bild ein wahres oder ein falsches Bild ist. Also muss man dieses Bild mit der Wirklichkeit vergleichen. Man muss einen Metasatz bilden können: „‚ Satz A stimmt mit der Wirklichkeit überein ‘ stimmt mit der Wirklichkeit überein. “ Dieser Satz ist aber wieder nur ein Bild, dessen Adäquatheit in Frage gestellt werden kann, und so weiter ad infinitum. Die Prüfung der Wahrheit des Bildes anhand des Vergleichs mit der Wirklichkeit führt unweigerlich zu einem infiniten Regress. Wir überspringen mehrere Gedanken und kommen zum folgenden wichtigen Satz: 4.024 Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist. (Man kann ihn also verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist.) Man versteht ihn, wenn man seine Bestandteile versteht. Dieser Satz ist insofern sehr wichtig, als er die Grundüberlegung der später vom Wiener Kreis entwickelten Verifikationstheorie der Bedeutung liefert: in einer (extremen) Formulierung besagte diese Theorie bekanntlich, dass die Bedeutung eines Satzes mit der Methode der Überprüfung seines Wahrheitsgehaltes identisch ist. Wittgenstein geht in seiner Formulierung nicht so weit, aber man könnte vielleicht sagen, dass er für diese Formulierung den Weg ebnet. Wir werden uns mit der Verifikationstheorie der Bedeutung weiter unten beschäftigen, an dieser Stelle möchte ich lediglich darauf aufmerksam machen, dass der Untersatz: „ Man versteht ihn [den Satz], wenn man seine Bestandteile versteht “ , Wittgenstein in offensichtliche Schwierigkeiten verwickelt. Betrachten wir irgendeinen Bestandteil des Satzes 4.024: z. B. „ Einen Satz verstehen “ . Um zu wissen, was dieser Bestandteil bedeutet, muss ich Wittgenstein zufolge wissen, was der Fall ist, wenn er wahr ist. Kann ich das? Das scheint nicht der Fall zu sein: es scheint unmöglich zu sein, dem Ausdruck „ Einen Satz verstehen “ einen Wahrheitswert zuzuschreiben. denkt - ein System von Darstellungen, von dem die Philosophie zu zeigen hat, dass es zum Dargestellten in irgendeiner nichtintensionalen Beziehung steht - , ist für die Erklärung des Erwerbs und Verstehens der Sprache nicht brauchbar “ (Rorty 1987, S. 323f., Hervorhebung im Original). Ich glaube aber, dass man auch ohne komplexe Überlegungen merkt, dass Begriffe unmöglich Gegenstände spiegeln. Deshalb brauchte der „ frühe Wittgenstein “ nicht auf die Einsichten des „ späten Wittgensteins “ , Putnams, Goodmans, Rortys und anderer zu warten, um die Vorstellung der Sprache als Bild der Wirklichkeit verwerfen zu können. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 279 Und dennoch: wir verstehen ihn und wissen, dass er einen Teil eines vollständigen Satzes bzw. Gedankens bildet. Das Gleiche gilt selbstverständlich für die anderen Bestandteile des Satzes 4.024: so sind uns „ heißt “ , „ wissen was der Fall ist “ , „ wenn er wahr ist “ oder auch einfach „ einen “ , „ Satz “ , „ Fall “ usw. wie auch Kombinationen von diesen Bestandteilen einigermaßen verständlich, obwohl ihnen kein Wahrheitswert zugeschrieben werden kann. Wie verhält es sich aber mit dem Satz selbst? „ Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist. “ Weiß ich, was der Fall ist, wenn dieser Satz wahr ist? Interessanterweise merkt man sofort, dass überhaupt nicht klar ist, welche Folgen die Annahme dieses Satzes haben wird. Man müsste sich diese Folgen in aller Ruhe überlegen und das kann dauern. Aber wir verstehen den Satz sofort, ohne diese Überlegungen ausführen zu müssen. Bereits diese Tatsache zeigt, dass der in dem Satz zum Ausdruck gebrachte Gedanke falsch ist. Ein wenig weiter stellt Wittgenstein (apodiktisch) fest: 4.11 Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft (oder die Gesamtheit der Naturwissenschaften). Es ist auch an diesem Punkt sofort klar, dass er über das Ziel hinausschießt. Denn erstens hoffen wir, dass auch die Geisteswissenschaften zur Formulierung wahrer Sätze in der Lage sind; zweitens ist der Satz „ Heute haben wir (endlich) schönes Wetter “ wahr (glauben Sie mir! ), gehört aber zu keiner Naturwissenschaft; drittens ist der Satz „ 2+2=4 “ ebenfalls wahr und gehört ebenfalls zu keiner der Naturwissenschaften; und schließlich: wie verhält es sich mit dem Satz 4.11 selbst? Ist er wahr? Wenn ja, müsste er zu einer der Naturwissenschaften zugeschrieben werden, dies scheint aber unmöglich zu sein, insbesondere weil Wittgenstein im unmittelbar darauffolgenden Satz 4.111 wenig überraschend feststellt: „ Die Philosophie ist keine der Naturwissenschaften “ . Folgt aber nicht aus dem Satz 4.11, dass ein Satz, wenn er sich keiner der Naturwissenschaften zuschreiben lässt, nicht wahr sein kann? Das würde jedoch heißen, dass der Satz 4.11 nicht wahr ist. Und so entpuppt sich 4.11 als ein recht klassisches Beispiel des berühmten Lügnerparadoxes. Ich überspringe jetzt Wittgensteins interessante logische Überlegungen, inklusive seine überaus nützliche und heute klassische „ Erfindung “ der logischen Wahrheitstafeln (4.31) und gehe direkt zu Satz 5 über. 5 Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze. (Der Elementarsatz ist eine Wahrheitsfunktion seiner selbst.) (Bereits im Satz 4.21 hält Wittgenstein fest: „ Der einfachste Satz, der Elementarsatz, behauptet das Bestehen eines Sachverhaltes. “ ) Ich finde diesen Satz sehr aufschlussreich, denn er gibt uns einen besonders guten Einblick in Wittgensteins geistige Einstellung, die sich hinter seinen Überlegungen verbirgt und ihn zu gewissen Schlussfolgerungen (ver)leitet, die dann 280 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus formuliert sind in den Sätzen 5.61: „ Die Logik erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen “ , und insbesondere 6.13: „ Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt. Die Logik ist transzendental “ . Man hat festgestellt, dass Wittgenstein den Tractatus unter dem starkem Einfluss der damals noch jungen Errungenschaften Freges und Russells auf dem Feld der formalen Logik geschrieben hat, dass er von diesen Errungenschaften fasziniert war und „ sich geradezu enthusiastisch auf ihre Anwendung wie auf ihre noch ungelösten Probleme stürzt[e] “ (Tetens 2009, S. 14) und dass er besonders am Anfang des Tractatus in erster Linie als Logiker auftritt (ebd., S. 16). Dieser Zug, diese intellektuelle Einstellung kommt im Satz 5 besonders deutlich zum Vorschein. Doch nüchtern betrachtet (wörtlich genommen) ist das, was der Satz besagt, einfach Unsinn. Zunächst mag er als ein vielleicht bloß schwierig zu interpretierender Satz erscheinen. Wenn man aber bedenkt, dass Wittgenstein behauptet, dass der Gegenstand einfach sei (2.02) und dass jede Aussage über Komplexe sich in eine Aussage über deren Bestandteile zerlegen lasse (2.0201), dann kann man von diesen Prämissen aus schließen, dass der Wahrheitswert eines komplexen Satzes (seine Wahrheitsfunktion) von den Wahrheitswerten der ihn zusammen bildenden Elementarsätze abhängig ist. Ist z. B. ein bestimmter komplexer Satz als eine Konjunktion von Elementarsätzen aufzufassen, dann wird er nur dann wahr sein, wenn alle ihn konstituierenden Elementarsätze wahr sind. Das ist eigentlich recht offensichtlich. Wo liegt dann meiner Ansicht nach das Problem mit Satz 5? Nun, Wittgenstein schreibt nicht: „ Die Wahrheitsfunktion eines (komplexen) Satzes ist eine Funktion der Wahrheitsfunktionen (Wahrheitswerte) der [ihn konstituierenden] Elementarsätze, sondern er schreibt: „ Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion . . . “ . Dar Satz mit seinem Gehalt wird demnach auf seine Wahrheitsfunktion reduziert! Aber die Wahrheitsfunktion hat in Freges und Russells Logik immer noch nur zwei Werte, 0 oder 1 (falsch oder wahr) (mittlerweile gibt es Mehrwert-Logiken, aber auch in diesen ist der Spielraum der Wahrheitswerte - verständlicherweise - sehr eingeschränkt z. B.: 1, 0, ½). Es folgt also, dass alle Sätze auf 0 und 1 reduziert werden! Das ist absurd. Im Übrigen wissen wir heute, dass sich eine solche Reduktion bestens vollziehen lässt - aber nicht, indem ganze Sätze, sondern indem einzelne Elemente der Sätze, im Endeffekt einzelne Buchstaben, auf 0 und 1 reduziert werden. Die Computer verstehen keine andere Sprache als Nullen und Einsen. Aber sie verstehen nicht, was sie verarbeiten, und sie haben überhaupt kein Interesse an der Tatsache, dass die Sätze „ Miranda liebt Rudolf “ und „ Rudolf hasst Miranda “ , obschon (vielleicht) beide wahr sind, zusammen nicht bloß eine wahre Konjunktion bilden, sondern eine sehr traurige, vielleicht sogar erschütternde Mitteilung über das gegenseitige Verhältnis dieser zwei Personen darstellen. Man kann gegen diese Interpretation einwenden, dass ich Wittgensteins Absicht an dieser Stelle falsch interpretiere, dass er eigentlich sagen wollte, was ich eben angedeutet habe, dass der Wahrheitswert eines komplexen 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 281 Satzes von den Wahrheitswerten der Elementarsätze abhängig ist. Er hat es aber nicht gesagt. Er hat etwas anderes gesagt, und dieses „ Versehen “ ist äußerst aufschlussreich: es zeigt, dass sich für Wittgenstein die Welt tatsächlich auf die Gesetze der Logik, auf die Wahrheitswerte der Aussagen reduziert, dass die Inhalte der Sätze für ihn in den Hintergrund treten. Bereits im „ Satz “ (eigentlich Abschnitt) 5.3 begegnen wie einem weiteren Beispiel dieser Tendenz: 5.3 Alle Sätze sind Resultate von Wahrheitsoperationen mit den Elementarsätzen. Die Wahrheitsoperation ist die Art und Weise, wie aus den Elementarsätzen die Wahrheitsfunktion entsteht. Nach dem Wesen der Wahrheitsoperation wird auf die gleiche Weise, wie aus den Elementarsätzen ihre Wahrheitsfunktion, aus Wahrheitsfunktionen eine neue. Jede Wahrheitsoperation erzeugt aus Wahrheitsfunktionen von Elementarsätzen wieder eine Wahrheitsfunktion von Elementarsätzen, einen Satz. Das Resultat jeder Wahrheitsoperation mit den Resultaten von Wahrheitsoperationen mit Elementarsätzen ist wieder Resultat einer Wahrheitsoperation mit Elementarsätzen. Jeder Satz ist das Resultat von Wahrheitsoperationen mit Elementarsätzen. (52f., Hervorhebung im Original) Aus diesem verhältnismäßig langen Abschnitt greife ich nur ein paar Elemente heraus. Am Anfang der Passage stellt Wittgenstein fest: „ Alle Sätze sind Resultate von Wahrheitsoperationen mit den Elementarsätzen “ und an ihrem Ende: „ Jeder Satz ist das Resultat von Wahrheitsoperationen mit Elementarsätzen “ . Schon wieder: Angenommen, dass sich komplexe Sätze restlos in Elementarsätze auflösen lassen (ich lehne diese Behauptung entschieden ab, aber „ um des Arguments willen . . . “ ), kann man durchaus behaupten, dass sich die Wahrheitsfunktion jedes komplexen Satzes als eine Funktion der Wahrheitswerte seiner Elementarsätze definieren lässt. Aber sicher nicht die Aussage des Satzes! An dem komplexen Satz „ Miranda liebt Rudolf und Rudolf hasst Miranda “ interessiert uns nicht in erster Linie, dass der Satz wahr ist (wenn er wahr ist), sondern dass sich Miranda in einer äußerst unangenehmen, vielleicht sogar verzweifelten existenziellen Lage befindet. Die Zuschreibung der Wahrheitswerte zu den Elementen dieses Satzes und zum Satz als Ganzes ist aus unserer menschlichen Sicht eigentlich nebensächlich. Steht einmal diese Zuschreibung fest, fängt der Prozess der Verarbeitung der Aussage, der Reaktion auf sie erst an. Ähnliches lässt sich vielleicht auch von diesen Sätzen sagen: „ Vorgestern wurden in Syrien 100 Zivilisten umgebracht, gestern 80, heute wiederum 100; innerhalb von nur drei Tagen wurden in Syrien also bereits 280 Zivilisten getötet. “ Angenommen die ersten drei Elementarsätze sind alle wahr, so ist auch der letzte Elementarsatz wahr. Aber diese Feststellung ist nicht das Ende, sondern bloß der Anfang eines normalen menschlichen Umgangs mit diesen Sätzen. 282 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Satz 5.6 lautet: „ Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt “ (Hervorhebung im Original). Ist das wirklich so? Zunächst ist zu vermerken, dass in diesem Satz das Wort „ Sprache “ in Einzahl steht. Was aber ist, wenn jemand mehrere Sprachen beherrscht? Verdoppelt sich seine Welt mit jeder neu erworbenen Sprache? Und wenn nicht, wieso nicht? Viel wichtiger aber als dieser eher pedantische Einwand ist ein anderes Problem. Ich habe bereits oben angedeutet, dass im Leben nicht bloß die logischen Verhältnisse zwischen den Sätzen und oft auch nicht der begriffliche Inhalt der Sätze entscheidend sind. Der Satz „ Miranda liebt Rudolf und Rudolf hasst Miranda “ wie auch der Satz „ Vorgestern wurden in Syrien 100 Zivilisten umgebracht, gestern 80, heute wiederum 100; innerhalb von nur drei Tagen wurden in Syrien also bereits 280 Zivilisten getötet “ sind nicht bloß Informationsträger, sie rufen beim Hörer gewisse Reaktionen hervor. Müssen diese Reaktionen verbalisiert werden? Ich glaube, dies ist nicht nötig und wird oft auch nicht gemacht, und dennoch: Man hat diese Reaktionen. Oft braucht es lange, bis man sich klar darüber geworden ist, wie man auf ein Ereignis, in einer Situation emotional, gefühlsmäßig reagierte. Es kann auch vorkommen, dass man „ im Nachhinein “ merkt, dass man eigentlich anders reagierte, als man das zunächst bewusst verbalisierte, dass man z. B. eigentlich Wut und nicht Trauer in einer konkreten Situation empfand. Und dennoch, man erlebte etwas. Diese Situation kompliziert sich zusehends, wenn man von den Reaktionen von Kindern spricht. Oft fühlen sie in bestimmten Situationen sehr stark etwas, das sie nicht in Worte fassen können. Ihre Welt reicht also offensichtlich über die Grenzen ihrer Sprache hinaus. Ähnlich geht es einer Person, die sich plötzlich in einem fremden Land befindet, dessen Sprache sie nicht beherrscht. Plötzlich gibt es so viele Dinge, die man kommunizieren will und nicht kann, und man wird sich schmerzhaft bewusst, dass die eigenen Sprachfähigkeiten die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten extrem einengen. Dann kann man nur sagen: „ Meine Welt passt in meine Sprache nicht hinein! Sie ist viel reicher als meine Sprache “ . Ähnliches lässt sich selbstverständlich auch über Musik oder allgemeiner über Kunsterlebnisse sagen: auch hier gehen unsere Empfindungen oft weit über die Grenzen unserer Sprache hinaus. Schon deshalb, weil z. B. kaum jemand all die Farbnuancen benennen kann, die man doch unterscheiden kann, wenn man sie sieht, und die einen beeindrucken. Das Gleiche gilt für die Musik: kaum jemand kann alle Noten, die er in einer Symphonie hört, benennen, und dennoch hinterlassen sie in der Seele des Menschen einen gewissen Eindruck. Es ist ein Irrglaube, dass die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt bedeuten. Der nächste Satz ist noch extremer, 5.61: „ Die Logik erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen “ . Hier kommt die verengte Optik eines leidenschaftlichen Logik-Verehrers nochmals deutlich zum Ausdruck. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass es entgegen Wittgensteins Behauptung 3.032 ( „ Etwas ‚ der Logik Widersprechendes ‘ in der Sprache darstellen, kann man ebensowenig . . . “ ) durchaus möglich ist, unlogische Behauptungen 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 283 zu machen. Schon dieser Umstand macht klar, dass die Grenzen der Welt mit den Grenzen der Logik nicht identisch sind. Viel wichtiger aber ist, dass, wie ebenfalls bereits angedeutet, unsere wichtigsten menschlichen Reaktionen und Haltungen, unsere menschliche Existenz in der Welt sehr oft herzlich wenig mit der Logik zu tun haben. Schon die Tatsache, dass jemand wie Wittgenstein so tief von der formalen Logik fasziniert war, dass er sie beinahe vergöttlichte, ist keineswegs ein logisches Ergebnis irgendwelcher logischer Operationen an irgendwelchen Elementarsätzen, sondern ein existenzielles Faktum der Person Ludwig Wittgenstein, das allen seinen Überlegungen vorrangig ist und sie mit „ unsichtbarer Hand “ in eine bestimmte Richtung steuerte. Satz 6 ist eine weitere Frucht von Wittgensteins Vorliebe für formale Logik: 6 Die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion ist: [ p , , N( )]. Dies ist die allgemeine Form des Satzes. Es ist bezeichnend für Wittgensteins Vorgehensweise, dass der Satz in dieser Form im Tractatus erscheint. Denn es ist offensichtlich, dass er für die „ Nicht- Eingeweihten “ völlig unverständlich ist. Um ihn verstehen zu können, muss man mit der formalen Logik und der formallogischen Notation vertraut sein, und zwar mit derjenigen ihrer unterschiedlichen Varianten, die Wittgenstein an dieser Stelle zur Anwendung bringt. Er bietet keine Erklärung seiner Symbole, was man auf mindestens zwei Weisen deuten kann: 1) entweder schreibt er nur für die „ Eingeweihten “ (in die formale Logik und diese besondere Art, sie symbolisch darzustellen); oder 2) er schreibt für alle, mit der Haltung etwa „ Wenn du dies nicht verstehen kannst, dann bist du selber schuld, du bist ein Idiot und ich werde dir sicher nicht helfen, meine Gedanken zu verstehen. “ Der ganze Duktus des Tractatus ist, wie wir dies bereits gesehen haben, der einer apodiktischen Feststellung gewisser angeblicher Wahrheiten, die keine Diskussion zulässt und keine braucht, einer Feststellung, an deren Ende alle Probleme der Philosophie (angeblich) gelöst worden sind. Durch das ganze Buch zieht sich unterschwellig diese unausgesprochene Botschaft Wittgensteins an den Leser: „ Ich habe Recht, und wenn du das nicht einsiehst, dann bist du selber schuld. Ich lasse mich auf keine Diskussion über das Gesagte ein. Meine Einsichten, meine Wahrheiten brauchen auch keine Begründung. “ Was aber will er mit Satz 6 sagen? Unter p ist die Menge aller (möglichen) Elementarsätze zu verstehen, unter die Menge aller Untermengen dieser Sätze, unter N die sogenannte Scheffer ’ sche Funktion, also eine Operation an den Wahrheitswerten der Elementarsätze, die der Konjunktion der Negationen zweier beliebiger Sätze entspricht: [nicht-p und nicht-q oder [ : p ^ : q]. Für zwei Sätze in der gewöhnlichen Kombination ihrer Wahrheitswerte ergibt sich also die folgende (Wittgenstein ’ sche) Wahrheitstafel: 284 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus p q nicht-p und nicht-q W W F F W F W F F F F W Mit der Scheffer ’ schen Funktion lassen sich alle anderen Wahrheitsfunktionen (Negation, Konjunktion, Disjunktion, Implikation usw.) definieren (Tetens 2009, S. 57). Satz 6 besagt dann effektiv, dass jeder logische Satz aus allen Elementarsätzen durch die Anwendung der Scheffer ’ schen Funktion auf eine Untermenge dieser Sätze abgeleitet werden kann, oder einfacher gesagt, durch die Negation von allen Sätze dieser Untermenge. Macht das Sinn? Es mag sein, dass wir jeden beliebigen Satz durch die Negation aller anderen Sätze (mit der Ausnahme von dem, den wir formulieren wollen) erhalten haben, aber dies ist selbstverständlich eine völlig künstliche Konstruktion. Im Leben werden wir das niemals machen wollen und auch nicht können, denn indem wir einen bestimmten Satz formulieren, denken wir überhaupt nicht an alle anderen möglichen Sätze, die wir formulieren könnten. Wir denken nur an den Satz, den wir formulieren wollen. Es ist auch offensichtlich, dass Wittgenstein seine Perspektive auf die Aussagesätze verengt, mit denen sich die Logik für gewöhnlich befasst. Es gibt aber auch andere Satzformen: Fragen, Befehle usw., die sich der Wittgenstein ’ schen Analyse völlig entziehen. (Wie wir bald sehen werden, sah Wittgenstein diese Einseitigkeit später ein.) Es ist also eine grobe Vereinfachung, von der „ allgemeinen Form des Satzes “ zu sprechen, wenn man bloß Aussagesätze im Sinn hat, folglich geht die Wittgenstein ’ sche Formulierung dieser „ allgemeinen Form “ völlig am Leben und am realen Sprachgebrauch vorbei. Satz 6.13 lautet: „ Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt. Die Logik ist transzendental. “ Nach den obigen Überlegungen ist es nicht mehr nötig, sich länger mit diesem Satz aufzuhalten. Die Logik ist eine Disziplin (also ein Lehre), die uns darüber unterrichten kann, wie sich richtige Schlussfolgerungen ziehen lassen. Sie befasst sich also mit der Struktur von rationalen Argumenten. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Es gibt zahlreiche Phänomene in der Welt, die sich innerhalb der Logik und ihrer Gesetze nicht abbilden lassen. „ There are more things in heaven and earth, Horatio, Than are dreamt of in your philosophy. “ 163 Es mag sein, dass man die elementare Arithmetik von der Logik ableiten kann, sicher aber nicht die Welt. Satz 6.3 lautet: „ Die Erforschung der Logik bedeutet die Erforschung aller Gesetzmäßigkeiten. Und außerhalb der Logik ist alles Zufall. “ Gemeinhin wird diese extreme Formulierung folgendermaßen gedeutet: Wenn wir alle Sach- 163 Hamlet 1. 5. 165 - 6. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 285 verhalte der Welt kennen würden und alle Elementarsätze über sie bilden könnten, dann würden sich die Beziehungen und Kombinationen zwischen allen diesen Sätzen rein aufgrund der Gesetze der Logik ergeben. Auch die sogenannten Naturgesetze würden sich dann quasi „ automatisch “ aus der rein logischen Betrachtung der Beziehungen zwischen den Elementarsätzen ergeben (was Schlick und Carnap sehr freuen würde). Doch diese Behauptung ist sicher falsch. Angenommen, wir würden eine unendlich lange Reihe von Sätzen bilden wie: „ Die Anziehungskraft zwischen Erde und einem sie umkreisenden Körper nimmt zum Quadrat der Entfernung zwischen den beiden ab “ , „ Die Anziehungskraft zwischen der Sonne. . . “ , „ Die Anziehungskraft zwischen dem Stuhl und dem Tisch . . . “ usw., so könnten wir dennoch nicht logisch schließen, dass die Anziehungskraft zwischen zwei beliebigen Körpern zum Quadrat der Entfernung zwischen den beiden abnimmt, denn eine solche Behauptung eines Gesetzes ginge über jegliche mögliche Beobachtung hinaus und träfe Aussagen nicht nur über Gegenstände, die jetzt existieren, ob sie beobachtet werden können oder nicht, sondern auch über Gegenstände, die in der Vergangenheit existierten und nicht beobachtet wurden und heute nicht mehr existieren, wie auch über Gegenstände, die noch nicht existieren und vielleicht nie beobachtet werden. Kurz: eine solche Behauptung würde von der Induktion Gebrauch machen, die keineswegs eine logisch-deduktive Schlussmethode ist. Wir sind jedoch der Ansicht, dass die induktive Schlussmethode, obwohl sie sich logisch nicht begründen lässt, uns ermöglicht, die Naturgesetzmäßigkeiten zu erforschen. Darüber hinaus wurden wir in der modernen Physik und insbesondere in der Quantenmechanik mit Tatsachen konfrontiert, die der gewöhnlichen Logik widersprechen. Man muss also Phänomene und auch Gesetzmäßigkeiten erforschen, die nicht nur nicht innerhalb der Logik liegen, sondern ihr auch direkt widersprechen. Das Ende des Tractatus Bis jetzt habe ich einige wichtige Äußerungen des Tractatus kritisch beleuchtet, die, ob man mit ihnen einverstanden sein kann oder nicht, im Großen und Ganzen das Programm des logischen Positivismus unterstützen. Aus diesem Grund haben sie auch - wie ich zu Beginn andeutete - das Interesse, ja, sogar den Enthusiasmus der Mitglieder des Wiener Kreises geweckt. Am Ende des Buches jedoch ändert sich der Ton deutlich und wir begegnen dort Feststellungen, die sich nur schwer mit dem Programm des Wiener Kreises vereinbaren lassen. 6.371 Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien. 6.372 So bleiben sie bei den Naturgesetzen als bei etwas Unantastbarem stehen wie die Älteren bei Gott und dem Schicksal. 286 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Und sie haben ja beide Recht, und Unrecht. Die Alten sind allerdings insofern klarer, als sie einen klaren Abschluss anerkennen, während es bei dem neuen System scheinen soll, als sei alles erklärt. (Hervorhebung im Original) Es scheint an dieser Stelle, dass Wittgenstein den Wert der Naturgesetze für die Erklärung der Wirklichkeit in Frage stellt, und, ein wenig im Geiste des viel späteren Feyerabend, die moderne Naturwissenschaft auf der gleichen Stufe ansiedelt wie die mythischen Naturerklärungen der „ Alten “ oder sogar eine Ebene darunter. Meint er das wirklich so? 6.41 Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht: es gibt in ihr keinen Wert - und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muss er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig. Was es nichtzufällig macht, kann nicht in der Welt liegen, denn sonst wäre dies wieder zufällig. Es muss außerhalb der Welt liegen. Hier wiederum scheint es, dass er dem „ Sinn der Welt “ durchaus Existenz zubilligt, ihn nur als außerhalb der Welt liegenden versteht. Wenn er aber außerhalb der Welt besteht, wo besteht er dann? Wie soll man diese rätselhaften Formulierungen verstehen? 6.42 Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken. 6.421 Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt. Die Ethik ist transzendental. (Ethik und Ästhetik sind Eins.) Hier erstaunt uns Wittgenstein wieder: Er sagt ganz eindeutig, dass es die Ethik gibt, dass sie kein Unsinn ist, wie das oft ein wenig später von den Logischen Positivisten behauptet wurde. Mehr noch: Die Ethik (und mit ihr die Ästhetik) ist für Wittgenstein transzendental, wie die Logik. Wiederum eine erstaunliche Feststellung. 6.432 Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt. Wiederum eine verblüffende Feststellung. Es scheint, dass Wittgenstein an die Existenz Gottes glaubt, obschon er meint, dass sich Gott in der Welt nicht offenbart. 6.44 Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 287 Ist dies möglich? Das Mystische wird hier eindeutig nicht lächerlich gemacht, sondern durchaus ernst genommen. Kann es sein, dass Wittgenstein dies wirklich so meint? 6.52 Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Verstehen wir Wittgenstein richtig: ist es sein Ernst, dass die Wissenschaft unsere Lebensprobleme nicht berührt? Was meint er mit den Lebensproblemen? Was kann sie dann berühren? 6.522 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. Bis jetzt haben wir Wittgensteins Intention so verstanden, dass er zeigen wollte, dass „ alles, was sich sagen lässt, [. . .] sich klar sagen [lässt] “ , und dass er meint, dass dasjenige, was sich nicht klar sagen lässt, entweder gar nicht interessant ist oder vielleicht sogar einfach Unsinn. „ Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr - nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken [. . .]. Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein “ (S. 9). Jetzt scheint es, dass er sagen will, dass außerhalb der Grenze der Sprache etwas liegt, das möglicherweise sogar wertvoll ist: das Mystische. Meint er das wirklich? 6.54 Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. Was kann er wohl mit dieser Behauptung meinen? Das sein Buch ein Unsinn ist? Die ganze Zeit war er doch scheinbar darum bemüht, eben das Sinnvolle vom Unsinnigen zu trennen und die Grenzen des Sinnvollen aufzuzeigen. Sollen wir diese Bemühung als eine Zeitverschwendung betrachten? 7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Gemeinhin wird dieser Schlusssatz des Tractatus als ein Verbot der Rede über den „ Unsinn “ gedeutet, des Unsinns, der sich laut dem Vorwort des Verfassers außerhalb der Grenzen des Aussprechbaren befindet. Insbesondere wurde diese Aufforderung als ein Verbot der „ Metaphysik “ verstanden. Denn Wittgenstein stellte doch explizit fest - wie wir bereits gesehen haben - , dass sich alle wahren Sätze innerhalb der Grenzen der Naturwissenschaft(en) befinden. Daraus folgt, dass die Sätze außerhalb dieses Bereichs seiner Ansicht nach entweder falsch sind, oder dass sich ihnen keinen Wahrheits- 288 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus wert zuschreiben lässt, in welchem Fall man sich Diskussionen über solche Sätze sparen kann. Zu einem solchen Bereich außerhalb der Naturwissenschaft(en) gehört jedoch eindeutig die Metaphysik. Der Schlusssatz des Tractatus wirft jedoch Fragen auf. Er sagt nämlich nicht, dass, wovon man nicht sprechen kann, Unsinn sei (was man vielleicht erwarten könnte), sondern lediglich, dass man über dieses „ Etwas “ schweigen soll. Der Schluss des Werkes erweckt somit den Eindruck, dass Wittgenstein darauf hinweisen will, dass sich, wie bereits im Satz 6.522 deutlich und explizit festgehalten, außerhalb des Aussprechbaren ein Unaussprechliches befindet, das vielleicht eine Bedeutung hat (denn die Lösung aller wissenschaftlichen Fragen löst unsere Lebensprobleme noch keineswegs), über das man jedoch schweigen muss. Was kann Wittgenstein wohl damit meinen? Wir haben bereits gesehen, dass Carnap das Ende des Tractatus nicht gefiel und dass er meinte, man solle es ignorieren, was eine entrüstete Reaktion von Seiten Wittgensteins hervorrief. Es ist also offensichtlich, dass das, was Wittgenstein am Ende sagen wollte, ihm auch sehr wichtig war. Wir werden auf diese Frage demnächst zurückkommen. Fazit Ich habe am Anfang dieses Kapitels geschildert, was für einen großen Eindruck Wittgenstein und sein Tractatus auf seinen Zeitgenossen machten. Über Russells Bewunderung für Wittgenstein habe ich bereits berichtet. Ähnlich erging es Schlick nach seiner ersten Begegnung mit Wittgenstein. Er war danach fast außer sich vor Begeisterung für Wittgenstein. Seine Gattin beschrieb den Zustand ihres Mannes nach dieser Begegnung als die „ ehrerbietiger Haltung des Pilgers “ und bezeichnete ihn als „ hingerissen “ von dem Treffen (Stadler 1997, S. 470). Der Einfluss Wittgensteins auf Schlick war so stark, dass dieser seine Position des kritischen Realismus aus der Allgemeinen Erkenntnislehre preisgab und ab 1925 die „ linguistische Wende der Philosophie “ im Sinne Wittgensteins betrieb. Er schrieb sogar dem von ihm verehrten Wittgenstein gewisse Erkenntnisse zu, welche er selbst bereits in der Allgemeinen Erkenntnislehre vertreten hatte (ebd.). Ich habe bereits erwähnt, dass die Mitglieder des Wiener Kreises den Tractatus monatelang Satz für Satz lasen und diskutierten. Das Werk hatte einen bedeutenden Einfluss auf die Arbeiten des Kreises. Und dennoch meine ich, dass dieses Werk neunzig Jahre nach seinem Entstehen und aus der durch die dazwischen liegenden Erfahrungen und Überlegungen bereicherten Sicht von heute - vor allem aber auch unabhängig vom Einfluss der Persönlichkeit Wittgensteins und der hohen Meinung von Autoritäten wie Bertrand Russell, die Wittgenstein entschieden für einen Genie gehalten haben, und trotz des gebührenden Respekts für seinen Verfasser - als größtenteils verfehlt eingestuft werden muss. Abgesehen von den möglichen Verdiensten des Tractatus für die formale Logik (die ich 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 289 hier ausgeklammert habe), lassen sich keine seiner Hauptthesen (mit der möglichen Ausnahme der letzten Abschnitte, auf die wir gleich noch eingehen werden) heute aufrechterhalten, und wie ich es gezeigt habe, strotzt das Werk nur so von bombastischen Feststellungen, die sich bei genauerer Analyse als völlig unbegründet bzw. schlicht deplatziert erweisen. Es verwundert deshalb nicht, dass bereits Ende der 20er Jahre „ the central theses of the Tractatus collapsed like a row of dominoes “ (Hacker 2004, S. 903) und dass Wittgenstein die die frühen Dreißigerjahre damit verbrachte, seine vormaligen Behauptungen zu kritisieren und förmlich zu demontieren, in dem Versuch, die Grundlage für seine spätere Philosophie zu legen (Hacker ebd., S. 903 und 904). Ich habe in meiner Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre auf dessen Tendenz zum geometrisierenden Denken hingewiesen. Im Falle von Wittgenstein kann man von einer anderen Abirrung sprechen: von einer sehr starken Tendenz zum logisierenden Denken, einer Neigung, die Welt durch die verengte Optik der formalen Logik zu betrachten. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Gottlob Frege, dessen logische Arbeiten einen starken Einfluss auf Wittgenstein hatten, anscheinend ein Mensch war, der sich praktisch ausschließlich für Logik und Mathematik interessierte. Wittgenstein berichtete über seine Begegnungen mit Frege: „ Frege would never talk about anything but logic and mathematics. If I started on some other subject, he would say something polite and then plunge back into logic and mathematics “ (Kanterian 2007, S. 36). Ich habe jedoch am Ende des vorigen Kapitels argumentiert, dass der Reichtum der Welt sich nicht auf die bloßen logischen Verhältnisse und Relationen reduzieren lässt, in ihnen nicht zum Ausdruck gebracht werden kann. Dass Wittgenstein eine verengte Optik auf die Welt hatte (mindestens zur Zeit seiner Arbeit am Tractatus), ist aber nicht nur die Ansicht eines außenstehenden Kritikers, sondern paradoxerweise empfand Wittgenstein das selbst so. In seinen Philosophischen Untersuchungen geht er äußerst kritisch mit seinen einstigen Ansichten ins Gericht, vor allem mit der von ihm früher vertretenen engen und einseitigen Auffassung der Sprache: Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? - Es gibt unzählige solcher Arte: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir „ Zeichen “ , „ Worte “ , „ Sätze “ nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andere veralten und werden vergessen. (Ein ungefähres Bild davon können uns die Wandlungen der Mathematik geben.) Das Wort „ Sprachspiel “ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. Führe dir die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele an diesen Beispielen, und anderen, vor Augen: Befehlen, und nach Befehlen handeln - Beschreiben eines Gegenstandes nach dem Ansehen, oder nach Messungen - Herstellen eines Gegenstandes nach einer Beschreibung (Zeichnung) - 290 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Berichten eines Hergangs - . . . Theater spielen - Reigen singen - Rätsel raten - Einen Witz machen; erzählen - . . . Bitten, Danken, Fluchen, Grüssen, Beten. - Es ist interessant, die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihre Verwendungsweisen, die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satzarten, mit dem zu vergleichen, was Logiker über den Bau der Sprache gesagt haben. (Und auch der Verfasser der Logisch-Philosophischen Abhandlung [der Anfang des offiziellen Titels des Tractatus]). (Wittgenstein 1999, § 23, S. 250) Es ist in der Tat interessant zu sehen, dass sich Wittgenstein selbst in seiner späteren Phase, die, wie wir gesehen haben, bereits in den 30er Jahren anfing, der Einschränkungen, die ich in der obigen Diskussion moniert habe, völlig bewusst wurde. Er hat sich aber auch kritisch zu seiner früheren Sicht der Logik als einer transzendentalen, der Sprache und dem Leben übergeordneten Instanz geäußert: F. P. Ramsey hat einmal im Gespräch mit mir betont, die Logik sei eine „ normative Wissenschaft “ . Genau welche Idee ihm dabei vorschwebte, weiß ich nicht; sie war aber zweifellos eng verwandt mit der, die mir erst später aufgegangen ist: dass wir nämlich in der Philosophie den Gebrauch der Wörter oft mit Spielen, Kalkülen nach festen Regeln, vergleichen, aber nicht sagen können, wer die Sprache gebraucht, müsse ein solches Spiel spielen. - Sagt man nun aber, dass unser sprachlicher Ausdruck sich solchen Kalkülen nur nähert, so steht man damit unmittelbar am Rande eines Missverständnisses. Denn so kann es scheinen, als redeten wir in der Logik von einer idealen Sprache. Als wäre unsre Logik, eine Logik, gleichsam, für den luftleeren Raum. - Während die Logik doch nicht von der Sprache - bzw. vom Denken - handelt in dem Sinne, wie eine Naturwissenschaft von einer Naturerscheinung, und man höchstens sagen kann, wir konstruierten ideale Sprachen. Aber hier wäre das Wort „ ideal “ irreführend, denn das klingt, als wären diese Sprachen besser, vollkommener, als unsere Umgangssprache; und als brauchte es den Logiker, damit er den Menschen endlich zeigt, wie ein richtiger Satz ausschaut. All das kann aber erst dann im rechten Licht erscheinen, wenn man über die Begriffe des Verstehens, Meinens und Denkens größere Klarheit gewonnen hat. Denn dann wird es auch klar werden, was uns dazu verleiten kann (und mich verleitet hat) zu denken, dass, wer einen Satz ausspricht und ihn meint, oder versteht, damit einen Kalkül betreibt nach bestimmten Regeln. (Wittgenstein 1999, § 81, S. 286, Hervorhebung im Original) Dieser Abschnitt macht deutlich, dass Wittgenstein seine frühere Auffassung der Logik als einer den „ richtigen “ Gebrauch der Sprache regelnden, ihr Vorschriften machenden und somit der Sprache und dem Leben übergeordneten, transzendenten Disziplin zugunsten einer Sicht aufgab, in der die 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 291 Logik nur noch die Rolle einer Dienerin der Sprache und des Lebens innehat. Es ist aufschlussreich, dass Wittgenstein hier vom „ Verleitetsein “ zu der Ansicht schreibt, dass man, indem man spricht, einen Kalkül nach bestimmten Regeln betreibt. „ Was uns dazu verleiten kann (und mich verleitet hat) “ , heißt es bei ihm, d. h., dass nicht nur er, sondern auch andere zu dieser Ansicht „ verleitet “ wurden. Wer sind diese „ anderen “ ? Meinte er vielleicht die Mitglieder des Wiener Kreises? Denn dass sie verleitet wurden, steht heute außer Zweifel. Wenn aber Wittgenstein dies bereits in den 40er Jahren eingesehen hat, dann war er wohl einer der Ersten, die das Programm des logischen Positivismus in Frage stellten. Nur am Rande soll an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass der „ späte “ Wittgenstein in dem oben zitierten Abschnitt meinte, man müsse „ größere Klarheit “ in Bezug auf die Begriffe des Verstehens, Meinens und sogar Denkens gewinnen, um das Verhältnis der Sprache zur Logik und umgekehrt genauer bestimmen zu können. Interessant an diesem Hinweis aus den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts ist, dass wir bis heute nicht über eine solche größere Klarheit verfügen. Es wird immer noch oft angenommen, dass die Neurobiologie Aufschlüsse in Bezug auf die Prozesse des Verstehens, Meinens usw. bringen werde. Es sind jedoch zumindest einige zeitgenössischen Philosophen, unter ihnen solche prominente Figuren wie Richard Rorty und Jürgen Habermas, zu der Überzeugung gelangt, dass Gedanken ihrem Wesen nach nicht im Gehirn repräsentiert werden können (mehr dazu im Exkurs: „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ ). Es ist in der Tat unschwer einzusehen, dass wir eigentlich keinen unmittelbaren Zugang zu den Begriffen an sich haben, dass wir stets entweder in Bildern (Vorstellungen) oder Worten denken, die nicht die Begriffe selbst sind, sondern lediglich eine Art Wegweiser zu ihnen. Der einflussreiche britische Philosoph Crispin Wright hat diese Einsicht in einer schönen Formulierung zum Ausdruck gebracht: [W]e have no wordless contact with the thought that P. If we are to assess it, it has somehow to be given to us symbolically. (Wright 1992, S. 222f., Hervorhebung im Original) Betrachten wir einen konkreten einfachen Fall: Wenn mich jemand dazu anhält, über das „ Dreieck “ nachzudenken und in meinem Bewusstsein die Vorstellung eines konkreten Dreiecks erscheint, dann weiß ich doch, dass diese konkrete Vorstellung nur ein Repräsentant, bloß eine konkrete Realisierung dessen ist, was ich unter dem Allgemeinbegriff „ Dreieck “ verstehe, der viel umfangreicher, umfassender ist als jegliche mögliche konkrete Vorstellung eines bestimmten Dreiecks. Und wie wir bereits gesehen haben, machte Gottlob Frege (und vor ihm Rudolf Steiner) darauf aufmerksam, dass es nicht so viele Begriffe des Dreiecks gibt wie Menschen, die diese Begriffe oder eben genauer: diesen Begriff denken, sondern dass es bloß einen Begriff des Dreiecks gibt, der in der, wie Frege es nannte, „ dritten Welt “ beheimatet 292 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus ist. Einen Begriff denken, heißt also, auf irgendeine Weise Zugang zu dieser seltsamen Welt gewinnen zu können. Zugang zu dieser Welt zu gewinnen, heißt wiederum vermutlich, eine Aktivität zu entwickeln, die ihn zu sichern vermag. Wenn aber dem Bewusstsein der Zugang zu den Begriffen an sich versperrt ist, so ist einleuchtend, dass jene Aktivität, die überhaupt erst das ist, was die einzelnen Begriffe hervorruft, um sie dann gleichsam in einen Gedankenteppich zu verweben, uns möglicherweise noch tiefer verborgen ist, als die einzelnen Begriffe/ Gedanken an sich. Es überrascht deshalb nicht, was Wright nur einige Seiten weiter schreibt: „ [S]omething irreducibly human and subcognitive actively contributes to our engagement with any issue at all “ (ebd., S. 226, Hervorhebung im Original). Auf die Tatsache, dass sich der Denkprozess bzw. die Denktätigkeit unserem Bewusstsein zunächst radikal entzieht, hat Rudolf Steiner bereits 1916 mit aller Schärfe und seltener Klarheit hingewiesen: „ Im gewöhnlichen Bewusstsein wird nicht das Denken erlebt, sondern durch das Denken dasjenige, was gedacht wird “ (GA20, S. 161). Auf diese Überlegung werden wir an einer späteren Stelle dieses Buches ausführlicher eingehen müssen. 164 Kehren wir jedoch von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen zu seinem Tractatus zurück. Der Umstand, dass dieser den Test der Zeit nicht bestanden hat, ist meines Erachtens äußerst lehrreich. Denn wie anhand der biographischen Skizze vom Anfang dieses Kapitels meiner Hoffnung nach deutlich wurde, ist dieses Werk die Schöpfung eines Genies, das auf seine Zeitgenossen einen tiefen und bleibenden Eindruck machte. Wir haben gesehen, dass Wittgenstein philosophische Diskussionen unter Dozenten der Universität von Cambridge völlig dominierte, dass er zumindest von einigen beinahe wie ein Gott behandelt wurde (für die Mitglieder des Wiener Kreises war er, bevor sie ihm begegnet sind, das „ unbekannte Genie “ (Stadler 1997, S. 232)) und dass selbst namhafte Philosophen in seiner Gegenwart den Eindruck hatten, durch Wittgensteins Ausstrahlung zur Bedeutungslosigkeit degradiert zu werden. Wittgensteins „ Kariere “ an der Universität von Cambridge ist in dieser Hinsicht auch äußerst bezeichnend: es kommt sehr selten vor, dass jemand inständig darum gebeten wird, eine Professorenstelle in Cambridge anzunehmen. Und dennoch, seine Ansichten haben sich eindeutig als falsch erwiesen, was er selbst in der späteren Phase seines Denkens eingesehen und zugegeben hat. Ein Genie, das sich irrt? Offensichtlich braucht wahre Erkenntnis mehr als bloßes Genie, denn an Wittgensteins Fall wird offensichtlich, dass selbst ein Genie nicht gegen Erkenntnisfehler gefeilt ist. Es ist in dieser Hinsicht interessant, dass Wittgenstein seine Ansichten in den 30er Jahren häufiger änderte (Hacker 2004, S. 903). In einer Nebenbemerkung möchte ich darauf hinweisen, dass das 20. Jahrhundert außergewöhnlich reich an Ereignissen und Entwicklungen war, die 164 Vgl. Kapitel „ Übersinnliche Erkenntnismethoden der Imagination, Inspiration und Intuition und die Frage nach der Objektivität ihrer Forschungsresultate “ . 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 293 oft mit fast grausamer Unerbittlichkeit zeigten, dass sich Hoffnungen der Menschen als Illusionen entpuppen, auch wenn diese Hoffnungen von vielen geteilt werden. Millionen von Männern zogen begeistert in den Ersten Weltkrieg, getragen von der Überzeugung, dass er eine Art Katharsis für Europa bringen werde. Doch er brachte vor allem unsägliches Leid. Millionen von Menschen waren vom Kommunismus, vom Stalinismus, auch vom Nationalsozialismus, später von Mao Zedong begeistert. Wir wissen, wie diese Begeisterung endete. Im Falle von Wittgenstein waren es nicht Millionen, doch zumindest Duzende, und zwar oft die „ hellsten Köpfe “ jener Zeit, die in ihn die größten Hoffnungen gesetzt haben. Sie erfüllten sich nicht. Interessanterweise waren die oben erwähnten großen „ Führer “ der Menschheit absolut von ihrer Mission überzeugt. Mir scheint, dass sich das Gleiche auch von Wittgenstein sagen lässt. Ich habe bei der Besprechung der Allgemeinen Erkenntnislehre darauf hingewiesen, dass Schlicks Vorgehensweise in diesem Werk sehr systematisch, logisch und konsequent ist, dass er seine Ansichten sorgfältig Schritt für Schritt vor dem Leser entfaltet und sich darum bemüht, sie so gut wie möglich zu begründen. Man hat den Eindruck, dass er auf den Leser eingehen, ihn auf seine Gedankenreise mitnehmen will, und gewillt ist, ihm alles, was auf dieser Reise zu beobachten ist, liebevoll und geduldig zu erläutern. Dieser Eindruck deckt sich mit den uns erhaltenen Berichten über Schlicks Persönlichkeit. Darin heißt es, dass er eine freundliche, tolerante und bescheidene Persönlichkeit hatte und ein Talent, Menschen zusammenzuführen. Schlicks Bescheidenheit ging so weit, dass er durchaus fähig war, seine eigenen Verdienste (z. B. der Allgemeinen Erkenntnislehre) zum Nachteil von sich selbst und zugunsten seiner Mitarbeiter in den Hintergrund treten zu lassen (Stadler 1997, S. 231). Wittgensteins Stil im Tractatus ist dieser Haltung diametral entgegengesetzt: er ist in seiner Darstellung - wie wir gesehen haben - apodiktisch, rücksichtslos, dogmatisch, überheblich, letztendlich vielleicht doch auch arrogant. Bezeichnend für seine Vorgehensweise ist auch der Umstand, dass er sich praktisch nicht auf andere Denker und ihre Werke bezieht. Er erwähnt einige wenige hin und wieder (vor allem Russell, auch Frege und Whitehead (3.318, 4.0031, 5.02, 5.252, 5.4, 5.521, 5.525, 5.5303, 5.535, 5.541, 5.5422)) und ein paar andere Denker nur flüchtig (Moore: 5.541, Hertz: 6.361; Kant: 6.36111). Es entsteht so der Eindruck eines selbstgenügsamen Werks, das praktisch keinen Bezug zur Arbeit und zu den Leistungen anderer hat und das, weil es sich aus eigener Kraft im von intellektuellen Anregungen freien Raum zu entfalten vermag, gut auf solche Bezüge verzichten kann. Vielleicht war Wittgenstein ein Genie, aber ein Genie mit recht unangenehmen Persönlichkeitszügen. Hacker schreibt, dass Wittgenstein Liebe und Loyalität, aber auch Angst in seinen Mitmenschen evozierte. Stadler beschreibt ihn als einen „ heroischen Einzelgänger [. . .], der sich jeder Systematisierung und verbindlichen Rekonstruktion seiner Philosophie, aber auch jeder partnerschaftlichen intellektuellen Zusammenarbeit widersetzte “ (Stadler ebd., S. 473), und er attestiert ihm 294 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus „ egomanische Züge “ (ebd.). Zahlreiche Erzählungen über Wittgensteins Verhalten in sozialen Situationen bestätigen diesen Befund. So wird z. B. berichtet, dass sich Wittgenstein beim ersten Treffen mit Schlick, Waismann, Carnap, Feigl und dessen späterer Frau Maria Kaspar-Feigl geweigert hat, über die vorgeschlagene philosophische Thematik zu sprechen, und seinen Diskussionspartnern stattdessen Gedichte von Rabindranath Tagore vorlas: die meiste Zeit mit dem Rücken zu ihnen (ebd.). Von dem „ Vorfall Haidbauer “ , der die rücksichtslose Seite von Wittgensteins Persönlichkeit ans Licht brachte, habe ich bereits berichtet (s. oben). Noch Jahre später konnte ihn die Wut packen. Am 25. Oktober 1946 kam es im Moral Sciences Club in Cambridge zu einer Begegnung oder vielleicht genauer, zu einem Vorfall zwischen Wittgenstein und Karl Popper. Wittgenstein führte an diesem Abend den Vorsitz, Popper, damals Privatdozent für Logik und wissenschaftliche Methodik an der London School of Economics, war der Gastredner. Etwa 30 Philosophen, manche recht prominent, einer von ihnen Bertrand Russell, waren anwesend. Poppers Vortrag hatte das Thema „ Gibt es philosophische Probleme? “ . Es kam zum Streit: Popper verteidigte die Auffassung, dass philosophische Probleme durchaus real sind, während Wittgenstein argumentierte, dass es sich bei ihnen um bloße linguistische Scheinprobleme handeln würde. Die beiden Kontrahenten gerieten so heftig aneinander, dass sie fast aufeinander losgingen. Wittgenstein griff zum glühend heißen Feuerhaken, mit dem er Popper bedrohte und von ihm verlangte, er solle ihm ein Beispiel einer moralischen Regel nennen. Popper erwiderte: „ Not to threaten visiting speakers with pokers “ , worauf Wittgenstein beleidigt aus dem Zimmer stürmte (Edmonds und Eidinow 2001, S. 3). 165 Es scheint also, dass eine an Arroganz grenzende Überzeugung vom eigenen Wert, „ egomanische Züge “ , keine gute Voraussetzungen für die Wahrheitssuche bilden. Wir wissen aber auch, dass Wittgenstein noch eine völlig andere charakterliche Seite hatte: er war bereit, sein Vermögen zu verschenken, äußerst bescheiden zu leben und einer äußerst bescheidenen Beschäftigung nachzugehen (als Grundschullehrer in einem abgelegenen Dorf), sein Leben im Ersten Weltkrieg zu riskieren, eine prestigeträchtige und lukrative Stelle als Universitätsprofessor in Cambridge während des Zweiten Weltkriegs aus rein idealistischen Gründen aufzugeben (er könne nicht philosophieren, wenn andere sterben) usw. Wo finden wir diese andere Seite seiner Persönlichkeit? Vielleicht zeigt sie sich gar nicht in seinem philosophischen Schaffen, sondern „ lediglich “ in seinem Leben, in seiner Lebensführung, seinen Lebensentscheidungen? Oder ist diese andere Seite doch auch irgendwie im Tractatus sichtbar? Ich meine, dass die Antwort auf diese Frage „ Ja “ lauten muss. Wenn man die „ andere Seite “ Wittgensteins berücksichtigt, 165 Wobei zu erwähnen ist, dass diese Schilderung der Vorkommnisse von Popper stammt und umstritten ist (Edmonds und Eidinow ebd., S. 6 - 21). 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 295 dann scheint es möglich, ja notwendig, die oben bereits zitierte Feststellung, „ Gott offenbart sich nicht in der Welt “ , ernst zu nehmen und aus ihr zu schließen, dass Wittgenstein an die Existenz Gottes glaubte. Eines Gottes jedoch, der sich nicht in der Welt offenbart, eines Gottes, der dem Intellekt, den rationalen, auch sprachlichen Fähigkeiten des Menschen unzugänglich ist, der sich lediglich in einer nicht in Worte zu fassenden Form zeigen kann: „ Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische “ . Dieser Gott ist die Quelle des Sinns der Welt ( „ Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen “ ), Er ist aber auch die Quelle des Ethischen, das, wie Er, ebenfalls unaussprechlich ist, von dem nicht gesprochen, das getan werden sollte, so wie Wittgenstein es in seinem Leben zu tun versuchte: „ Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt. Die Ethik ist transzendental “ . Da dieser Gott auch (selbstverständlich) der Urgrund der Sein ist, ein die offenbare Wirklichkeit schaffender und unterhaltender Gott, ist es letztendlich unmöglich, die offenbare Wirklichkeit mittels der sogenannten Naturgesetze aus ihr selbst erklärlich zu machen: „ Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien. “ Was sich sagen lässt, und dass sind die Sätze der Naturwissenschaft ( „ 6.53 Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft [. . .] “ ), ist eigentlich für die wahre Wirklichkeit, für den göttlichen Urgrund des Seins unbedeutend, völlig irrelevant, sie berühren sie/ ihn gar nicht, deshalb muss derjenige, der die Welt richtig sehen will, solche Sätze hinter sich lassen ( „ Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig “ ). Über diese höchste göttliche Wirklichkeit lässt sich nichts aussagen, über sie kann man nur schweigen: „ Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen “ . Aus dieser Perspektive erweist sich Wittgensteins Tractatus als alles andere denn die Grundlage und Rechtfertigung des reduktionistischen Programms des logischen Positivismus, was Wittgensteins reservierte Haltung den Mitgliedern des Wiener Kreises gegenüber erklärlich macht. Der Grund für diese Haltung war nicht bloß und vielleicht sogar nicht in erster Linie seine Überheblichkeit, seine Arroganz, sondern seine den Ansichten der Vertreter des Wiener Kreises diametral entgegenstehende metaphysische Haltung: Während diese die Existenz der geistigen Welt, die Existenz Gottes leugnen wollten, war Wittgenstein in seinem Herzen zutiefst davon überzeugt, dass diese die einzige wahre Wirklichkeit bilden. Hacker schreibt, dass Wittgenstein in seinem Tractatus „ delimited the sphere of science in order to make room for ineffable mataphysics “ (Hacker 2004, S. 902), weil er der Ansicht war, dass das Wichtigste und Wertvollste im Leben der Menschen, das, was seinen wahren Wert ausmacht, nur „ gezeigt “ , nicht aber in Worten ausgedrückt werden kann (ebd., S. 899). Wittgensteins Tractatus zeigt sich in diesem Licht nicht als eines der vielen Werke des ausgehenden 19. und des 296 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus beginnenden 20. Jahrhunderts, die für die Abkehr von bzw. den Bruch mit der alten religiösen (christlichen) europäischen Tradition plädierten, sondern er erweist sich vielmehr als ein fast mystischer Traktat in der Tradition von Nikolaus von Kues ’ (1401 - 1464) De docta ignorantia: der gelehrten Unwissenheit. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, kann man auch sagen, dass Wittgenstein mit dem Tractatus keine andere Absicht verfolgte als eben die, die Kant zum Schreiben seiner Kritik der reinen Vernunft inspirierte. Im Vorwort zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft stellt Kant fest: „ Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen “ (Kant 1995, B XXXI, Hervorhebung im Original) - Wittgenstein tat mit seinem Tractatus eigentlich nichts anderes. „ Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen “ : das für den Menschen zentral Wichtige ist seiner Ansicht nach unaussprechbar, kann also vom Gesagten nicht berührt, nicht „ beschmutzt “ werden. Der Unterschied zwischen den beiden besteht in diesem Punkt lediglich darin, dass Kant meinte, man könne die transzendente Wertsphäre (Kant nannte sie „ eine moralische Welt “ (Kant ebd., B836)), durch den Glauben erkennen (ebd., B828), während Wittgenstein der Meinung war, dass sie sich lediglich dem „ Schauen “ erschließe bzw. ausschließlich „ gezeigt “ werden könne. Man kann also behaupten, dass die zentrale Errungenschaft des Tractatus nicht darin liegt, was in ihm geschrieben steht, sondern paradoxerweise in dem Hinweis darauf, dass sich das eigentlich Wichtige nicht darstellen lasse, dass es sich den Worten entziehe: Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. Und diese Errungenschaft, die bis jetzt praktisch völlig unerkannt geblieben ist, 166 bildet meines Erachtens den bleibenden Wert dieses Werks. Da jedoch dieser Aspekt der Tractatus in keinster Weise in die Entwicklung der Doktrin des logischen Positivismus eingeflossen ist, soll er hier nicht näher behandelt werden. Fazit: die Hauptwerke des logischen Positivismus Wir haben drei für das Programm des logischen Positivismus zentrale Werke einer einigermaßen gründlichen Analyse unterzogen und dabei feststellen müssen, dass sie - distanziert, aber unvoreingenommen philosophisch betrachtet - sehr viele Unzulänglichkeiten aufweisen. Ohne hier nochmals auf alle Einzelheiten dieser Kritik eingehen zu wollen, möchte ich daran erinnern, dass wir im Fall der Allgemeinen Erkenntnislehre feststellten, dass Schlick stark zu einer - wie ich es bezeichnet habe - geometrisierenden 166 Vor kurzem hat Tetens eine in diese Richtung gehende Interpretation des Tractatus veröffentlicht (Tetens, 2009) 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 297 Denkart neigte und die Tatsache ausblendete, dass sich die natürliche Welt nicht zwingend an die geometrischen Gesetzmäßigkeiten halten muss. Im Falle von Wittgenstein haben wir gesehen, dass er unter dem Bann der Logik stand und die Auffassung vertrat, dass sich das Sagbare in eine Art logisches Kalkül zwängen lasse. Carnap wiederum war davon zutiefst überzeugt, dass sich die reiche phänomenale Erfahrungswelt auf bloße strukturelle Verhältnisse reduzieren lasse. Alle drei teilten sie die Überzeugung, dass sich, wie es in der Geometrie oder Mathematik üblich ist, komplexe Phänomene auf einfachere oder gar ganz einfache, elementare, „ atomare “ Aussagen einer „ Basisstufe “ werden zurückführen lassen, denn „ der Gegenstand ist einfach “ (Tlp, 2.02). Und noch etwas war ihnen gemeinsam. Wir haben gesehen, dass sich alle drei sehr kritisch über die Metaphysik und „ metaphysische Aussagen “ geäußert haben. Metaphysische Aussagen seien im Grunde genommen Unsinn, da sie mit Begriffen operieren würden, denen keine Bedeutung zugeschrieben werden könne. Es muss deshalb als gewisse Ironie des Schicksals betrachtet werden, dass diese Werke aus heutiger Sicht selbst als zum großen Teil metaphysische Konstruktionen erscheinen müssen. Die zahlreichen unreflektierten Annahmen, die in diese Werke eingeflossen sind, sind fraglos keine Resultate wissenschaftlicher empirischer Forschung, sondern des dieser Forschung eigentümlichen Bildes von der Welt und ihrer Funktionsweise. Ein solches Bild ist allerdings nichts anderes als eben eine Form dessen, was man in der Philosophie als Metaphysik bezeichnet. Misak zitiert in seinem bereits mehrfach erwähnten Werk Williams ’ Feststellung über das zentrale Werk des Hauptexponenten des logischen Positivismus in England, A. J. Ayers: „ [I]t is ironic that, at a distance of 50 years, [Ayer ’ s] Language, Truth and Logic reads like a paradigm metaphysical tract “ (Misak 1995, S. 79), 167 und schreibt: The same might be said of Carnap ’ s Aufbau and of any other major logical positivist work. [. . .T]he great Logical Empiricists - the most famous example is Rudolf Carnap - produced ‘ rational reconstruction of the language of science ’ - which looked for all the world like elaborate systems of metaphysics - or at least that is how they looked to philosophers who did not join the movement. (Ebd., S. 62f.) Der gleichen Meinung war auch einer der einflussreichsten Philosophen der Gegenwart, Hilary Putnam: [The] attempts by Frege, Russell, Carnap, and the early Wittgenstein were called „ attacks on metaphysics, “ but in fact they were among the most ingenious, profound, and technically brilliant constructions of metaphysical systems ever achieved. (Putnam 1990, S. 52) Wir haben also gesehen, dass die grundlegenden Annahmen, auf denen die drei hier besprochenen Werke errichtet wurden, grundsätzlich verfehlt waren. Man muss folglich festhalten, dass das ganze Programm des logischen 167 Misak bezieht sich hier auf Williams 1986, S. 12. 298 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Positivismus von Anfang an auf sehr wackligen philosophischen Füßen stand. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass dieses Programm nach verhältnismäßig kurzer Zeit in sich zusammenbrach. Betrachten wir jetzt ein wenig genauer, wie es zu dazu kam. 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus Bis jetzt haben wir in diesem Kapitel vom Wiener Kreis als eine Art homogene Einheit gesprochen. Es wäre aber sicherlich falsch zu meinen, dass innerhalb des Kreises immer perfekte Einigkeit in Bezug auf alle Aspekte der in ihm ausgearbeiteten Doktrin herrschte. Im Gegenteil: der Kreis setzte sich aus sehr intelligenten und eigenständigen Denkern zusammen, die Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen nicht scheuten. Darauf haben vor kurzem Stöltzner und Uebel mit aller Deutlichkeit hingewiesen: Die philosophische und historische Forschung der letzten zwei Jahrzehnte hat zu einer weitgehenden Neubewertung des Wiener Kreises geführt. Statt als eine homogene Gruppe, die ein thematisch enges und inzwischen überwundenes Programm, den Logischen Empirismus bzw. Logischen Positivismus vertreten habe, erscheint der Wiener Kreis heute als eine heterogene Bewegung von eigenständigen Denkern, die sich zum gemeinsamen Projekt einer wissenschaftlichen Weltauffassung zusammenfanden und dabei lokale wie internationale Allianzen mit Gleichgesinnten knüpften. Sosehr sich durch das lange vernachlässigte Studium der Originaltexte nun interne Meinungsverschiedenheiten in der Sache erschließen, sich innerhalb des Kreises sogar wesentliche Argumente der späteren Kritik am Logischen Empirismus finden, so erweist sich der Wiener Kreis nichtsdestoweniger als ein kohärentes historisches Phänomen [. . .]. (Stöltzner und Uebel 2006, S. IX) Es sollte deshalb nicht überraschen, dass bereits in den ersten Jahren der Existenz des Wiener Kreises oder weiter gefasst: der Bewegung der „ wissenschaftlichen Weltauffassung “ manche Themen und Streitpunkte in den Schriften der Mitglieder des Kreises kontrovers diskutiert wurden. Später kamen dazu auch Auseinandersetzungen mit den Argumenten und Einwänden, die von den außerhalb des ursprünglichen Kreises stehenden Denkern gegen die Doktrin des logischen Positivismus bzw. des logischen Empirismus 168 erhoben wurden, und welche letztlich zum Zerfall des Programms führten. Es wäre sicherlich reizvoll, auf zumindest die wichtigsten der Kontroversen des logischen Positivismus ausführlich einzugehen (z. B. 168 Die Bezeichnung „ logischer Positivismus “ wird üblicherweise für die Entwicklungen innerhalb der Bewegung der „ wissenschaftlichen Weltauffassung “ in der Zeit zwischen 1925 und1935 verwendet, mit dem Ausdruck „ logischer Empirismus “ hingegen bezeichnet man üblicherweise die Entwicklungen innerhalb dieser breit gefassten Strömung nach 1935 (Beisbart 2008, S. 1). 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 299 die Debatte um die Protokollsätze, 169 die Kontroverse ideale versus normale Sprache, 170 die den Physikalismus und die Einheit der Wissenschaft betreffende Debatte, 171 die Erörterung der Frage, was wissenschaftliche Theorien sind und was sie ausmacht, usw.) - allein, dies würde uns hier viel zu weit führen und kaum Wesentliches zu unserer Betrachtung beitragen. Ich beschränke mich deshalb im Folgenden auf eine möglichst knappe Darstellung von lediglich ein paar der wichtigsten dieser Debatten. Verifikationstheorie der Bedeutung Eines der zentralen Ziele der logischen Positivisten neben der Gewährleistung von Präzision, Strenge, Sicherheit und Klarheit der Aussagen, war die Abgrenzung der ( „ gesunden “ ) Wissenschaft von der (ungesunden) „ Metaphysik “ (vgl. Manifest 1929). Es gebe, so meinten sie, grundsätzlich zwei Arten von Aussagen. Die eine umfasst die Aussagen, wie sie in der empirischen Wissenschaft gemacht werden. Deren Sinn lasse sich durch logische Analyse, genauer: durch Rückführung auf einfachste Aussagen über empirisch Gegebenes feststellen. Die anderen Aussagen, die „ metaphysischen “ , erweisen sich als völlig bedeutungsleer. Nun stellte Wittgenstein im Tractatus fest, dass man einen Satz nur dann verstehe, wenn man wisse, was „ der Fall sei “ , den dieser Satz beschreibt: „ Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist “ (Tlp 4.024). Wann weiß man aber, ob etwas der Fall ist? Wenn man weiß, dass eine Behauptung, die diesen Fall beschreibt, wahr ist. Wie kann man dies jedoch wissen? Indem man die fragliche Behauptung verifiziert. Ohne dass die Behauptung dem Verifikationsprozess unterzogen würde, könne man unmöglich sicher sein, ob sie stichhaltig sei oder nicht. Die Wahrheit des Satzes, der den Fall beschreibt, hänge also vom Ergebnis des 169 Begriff, den Carnap in seinem Aufsatz „ Die physikalische Sprache als universale Sprache der Wissenschaft “ 1931 einführte (Carnap 1931 a). 170 Bereits die frühen Schriften der logischen Positivisten beinhalten klare Formulierungen der Notwendigkeit einer Reform der Sprache. So schreibt etwa Carnap im Zuge seiner Diskussion der Protokollsätze und der damit verbundenen Protokollsprache Folgendes: „ [D]ie Verwendung der inhaltlichen Redeweise [ ‚ normalen Sprache ‘ ] [führt] uns zu Fragen [. . .], bei deren Behandlung wir in Widersprüche und unlösbare Schwierigkeiten geraten. Die Widersprüche verschwinden aber, sobald wir uns auf die korrekte formale Redeweise beschränken. [. . .] Durch die Anwendung der formalen Redeweise werden diese Scheinfragen automatisch ausgeschaltet. Wenn wir nicht mehr von ‚ Erlebnisinhalten ‘ , ‚ Farbempfindungen ‘ u. dgl. sprechen, sondern statt dessen vom ‚ Protokollsatz ‘ , ‚ Protokollsatz mit Farbwort ‘ usw., so gibt es keinen Widerspruch mehr bei der Aufstellung des Ableitungszusammenhanges zwischen Protokollsprache und physikalischer Sprache “ (Carnap 1931 a, S. 456, Hervorhebung im Original). 171 „ In our discussions, chiefly under the influence of Neurath, the principle of the unity of science became one of the main tenets of our general philosophical conception. This principle says that the different branches of empirical science are separated only for the practical reason of division of labor, but are fundamentally merely parts of one comprehensive unified science “ (Carnap 1963, S. 52). 300 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Verifikationsprozesses ab. Wenn man aber den Wahrheitsgehalt eines Satzes nur am Ende des erfolgreich abgeschlossenen Verifikationsprozesses feststellen könne, so müsse man bereits im Voraus wissen, wie dieser Verifikationsprozess gestaltet werden müsse, um ihn überhaupt einleiten zu können. Und dieses „ Wie “ beinhalte die Bedeutung des fraglichen Satzes - und das scheint auch der logische Schluss aus Wittgensteins obiger Feststellung zu sein. 172 Die Verifikationstheorie der Bedeutung war geboren. Ihre erste Formulierung findet sich im Aufsatz von Waismann, der in der ersten Nummer der Zeitschrift „ Erkenntnis “ veröffentlich wurde: „ Kann auf keine Weise angegeben werden, wann ein Satz wahr ist, so hat der Satz überhaupt keinen Sinn; denn der Sinn eines Satzes ist die Methode seiner Verifikation “ (Waismann 1930/ 31, S. 229). Etwa ein Jahr später schrieb Schlick: We know the meaning of a proposition when we are able to indicate exactly the circumstances under which it would be true (or, what amounts to the same, the circumstances which would make it false). The description of these circumstances is absolutely the only way in which the meaning of a sentence can be made clear. After it has been made clear we can proceed to look for the actual circumstances in the world and decide whether they make our proposition true or false. (Schlick 1992, S. 48) Im gleichen Atemzug erweiterte auch Schlick die Geltung dieses Prinzips von der Sphäre der Wissenschaft auf die des Alltagslebens: There is no vital difference between the ways we decide about truth and falsity in science and in every-day life. Science develops in the same ways in which does knowledge in daily life. The method of verification is essentially the same; only the facts by which scientific statements are verified are usually more difficult to observe. (Schlick ebd.) Das Verifikationsprinzip stand im Zentrum des Interesses des Wiener Kreises. 173 Es sollte deshalb nicht überraschen, dass es in den Schriften unterschiedlicher Mitglieder des Kreises wie auch anderer Verfechter des logischen Positivismus in unterschiedlichen Fassungen festgehalten ist: To understand a proposition means to know what is the case if the proposition is true. 172 Carnap schreibt in seiner „ intellektuellen Autobiographie “ Wittgenstein explizit die Verifikationstheorie der Bedeutung zu: „ The view that these sentences and questions [sentences of metaphysics] are non-cognitive was based on Wittgenstein ’ s principle of verifiability. This principle says first, that the meaning of a sentence is given by the conditions of its verification and, second, that a sentence is meaningful if and only if it is in principle verifiable “ (Carnap 1963, S. 45). Ob er damit den Tractatus oder mündliche Äußerungen Wittgensteins meint, ist nicht zu eruieren. Aus den Inhalten des Tractatus alleine scheint mir das, was Carnap mit „ Wittgenstein ’ s principle of verifiability “ meint, überhaupt nicht ableitbar. 173 Vgl. z. B. Hanfling: „ Verifiability [. . .] was one of the main concerns of the Logical Positivism “ (Hanfling 1981, S. 1, Fußnote 3, vgl. auch Misak 1995, S. 81). 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 301 One cannot understand it without knowing whether it is true. To become aware of the sense of a proposition one has to get clear about the procedure for establishing its truth. If one does not know this procedure, then one cannot understand the proposition either. [. . .] The sense of a proposition is the method of its verification. (Waismann 1965, S. 24, Hervorhebung im Original) Stating the meaning of a sentence amounts to stating the rules according to which the sentence is to be used, and this is the same as stating the way in which it can be verified (or falsified). The meaning of a proposition is the method of its verification. (Schlick 1936, S. 341) We say that a sentence is factually significant to any person if, and only if, he knows how to verify the proposition which it purports to express - that is, if he knows what observations would lead him, under certain conditions, to accept the proposition as being true, or reject it as being false. (Ayer 1962, S. 48) Diese Aufzählung könnte fortgesetzt werden. Das Verifikationsprinzip hat auch in der philosophischen Welt außerhalb des Kreises der Verfechter des logischen Positivismus hohe Wellen geschlagen. Noch 1954 schrieb Everett J. Nelson: During the last two decades probably no other topic in philosophy has received more consideration than has the verification theory of meaning. (Nelson 1954, S. 182) Was Anfang der 30er Jahre einigen Denkern als eine Selbstverständlichkeit erschien, stieß jedoch bald auf Kritik. So wies etwa Lewis bereits 1934 darauf hin, dass aus dem Verifikationsprinzip der Bedeutung folge, dass die Aussagen über die Rückseite des Mondes sinnlos seien, da es damals keine Methode gab, sie zu verifizieren (Lewis 1934 S. 138). Dieser Einwand ist jedoch nicht ganz berechtigt: das Verifikationsprinzip verlangt nicht, dass man den zu verstehenden Satz verifizieren müsse, sondern lediglich, dass man weiß, worin eine solche Verifikation bestehen würde. 174 Dies ist in den Aussagen über die Rückseite des Mondes durchaus gegeben. In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde jedoch eingesehen, dass das Verifikationsprinzip, egal in welcher Fassung, zwei große Probleme mit sich bringt: erstens lässt es die Naturgesetze als unsinnig erscheinen (Misak 1995, S. 82). Naturgesetze sind Aussagen, die unendlich viele Realisierungen haben (z. B. friert Wasser unter normalem Druck bei 0° C) und daher lassen sie sich nie endgültig verifizieren. Sie erscheinen uns jedoch als durchaus sinnvoll. Das Prinzip hat es auch schwer mit den sogenannten „ dispositionalen Begriffen “ , das sind Aussagen wie „ Zucker ist wasserlöslich “ (Misak ebd., S. 84). Zunächst könnte man meinen, dass sich solche Aussagen einfach verifizieren lassen. Zucker ist wasserlöslich bedeute doch nichts anderes, als dass sich Zucker, wenn wir in Wasser geben, darin auflöse. Das Problem liegt jedoch darin, dass aus rein logischer Sicht ein Satz der Form „ Wenn wir Zucker in 174 Wittgenstein stellte im Tractatus fest: „ Man kann [den Satz] verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist “ (Tlp 4.024). 302 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Wasser geben, löst er sich darin auf “ nur dann falsch ist, wenn das Antezedens wahr und die Konsequenz falsch ist. Wenn aber das Antezedens falsch ist, dann ist die Implikation wahr. Folglich muss, solange der Zucker nicht in Wasser ist und sich nicht darin auflöst, die Implikation als wahr gelten. Das hat aber zur Folge, dass auch der Satz „ Der Tisch wasserlöslich “ als wahr gelten muss, bis wir festgestellt haben, dass er sich in Wasser nicht auflöst. Das heißt jedoch, dass man die dispositionalen Eigenschaften auch da zuschreiben könnte, wo sie überhaupt nicht hingehören. Carnap versuchte das Problem mit dem Vorschlag zu lösen, dass die dispositionalen Eigenschaften nur partiell definiert seien. Sie können nur für jene Gegenstände voll definiert werden, welche die Tests bestanden haben. Diese Lösung überzeugt jedoch nicht, denn es macht keinen Sinn zu behaupten, dass ein Begriff dann Bedeutung habe, wenn gewisse Beobachtungen durchgeführt wurden, dass der gleiche Begriff aber bedeutungslos sei, wenn sie nicht durchgeführt wurden bzw. nicht durchgeführt werden können. Misak fasste dieses Problem wie folgt zusammen: If meaning is attributable only for decidable cases, so that we cannot attribute the disposition to an individual upon which the relevant experiment is not performed, we do not have an adequate account of the meaning of dispositional terms. As Ayer says, „ to say that such a statement is neither true nor false, under this condition, is no great improvement on having to say that it is true both that the table is soluble and that it is not “ . (Misak ebd., S. 85) Damit aber sind wir noch lange nicht am Ende der Betrachtung der Schwierigkeiten des Verifikationsprinzips. Eigentlich kommen wir erst jetzt zu den Problemen, die meines Erachtens die gravierendsten sind. Betrachten wir das Prinzip in seiner einfachen ursprünglichen Form: „ Die Bedeutung eines Satzes besteht in der Methode seiner Verifizierung. “ Es ist, glaube ich, unschwer einzusehen, dass dieses Prinzip „ den Karren vor das Pferd spannt “ . Es stellt uns vor die unmögliche Aufgabe, die Methode der Verifikation von etwas zu finden, was wir nicht verstehen! Denn es verlangt, dass man sich, bevor man einen Satz verstehen kann, Rechenschaft darüber geben muss, ob man über eine Methode verfügt, den Wahrheitswert der Aussage des Satzes zu verifizieren. Diese Aufgabe ist jedoch sicherlich unerfüllbar, wenn der Sinn der Aussage verborgen bleibt. Schon aus diesem Grund sollte das Verifikationsprinzip verworfen werden. Auf dieses Problem hat bereits 1938 Werkmeister aufmerksam gemacht: „ Propositions are not meaningful because they can be verified, but they can be verified (or disproved) because they are meaningful “ (Werkmeister 1938, S. 264). Er illustrierte die Schwierigkeit am Beispiel der Längenbestimmung: If we were to accept a strict identity of verifiability and meaning, we would be forced to accept Bridgman ’ s [operationalism], but his own defence of his thesis is his best refutation: he shows how to determine length of an object, but not the meaning of length as such. The meaning of length determines operations, not the 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 303 other way around. To argue that the meaning of a term is the same as its verifiability involves logical confusions which ultimately lead into a vicious circle. (Werkmeister ebd., S. 263) Gehen wir weiter. Was sollen wir zur Bedeutung der einzelnen Begriffe sagen, aus denen sich der Satz zusammensetzt? Soll diese Bedeutung ebenfalls über den Verifikationsprozess erschlossen werden oder über explizite und/ oder ostensive Definitionen? Schlick lässt solche Definitionen explizit zu: The ‚ grammatical ‘ rules will consist partly in ordinary definitions, i. e. explanations of words by means of other words, partly of what are called ‚ ostensive ‘ definitions [. . .]. The simplest form of an ostensive definition is a pointing gesture combined with the pronouncing of the word, as when we teach a child the significance of the sound ‚ blue ‘ by showing a blue object [. . .]. (Schlick 1936, S. 340) Wenn die Bedeutung einzelner Begriffe über Verifikation erlangt werden sollte, dann greift hier wieder der oben angedeutete Einwand: man kann nicht verifizieren, was man nicht versteht. Wenn man aber zulässt, dass die einzelnen Begriffe durch Definitionen und/ oder Ostension verständlich gemacht werden können, dann ist man die Erklärung schuldig, warum man die Möglichkeit nicht zulässt, dass man den ganzen Satz, der aus lauter verständlichen Wörtern besteht, kraft der (verständlichen) Bedeutungen der einzelnen Begriffe, verstehen kann. Ferner: wie kann die Bedeutung (eines Satzes) identisch mit einer Methode (welche auch immer) sein? Begehen die Schöpfer des Verifikationsprinzips hier nicht den logischen Fehler, der später von Ryle als „ Kategorienfehler “ bezeichnet wurde? (Ryle 1949, S. 16) Weiter: Das Verifikationsprinzip wurde von logischen Positivisten eingeführt, um die Metaphysik zu eliminieren, doch um es einführen zu können, mussten sie gewisse „ metaphysische “ Annahmen (in Bezug auf das Wesen der Bedeutung) machen. Diese Notwendigkeit widerspricht krass der ursprünglichen Intention und macht das ganze Programm zunichte. Misak schrieb dazu: „ The problem, of course, is that the logical positivists ’ account of meaninglessness seems to be a metaphysical theory and so, by their own standards, it seems that the verifiability principle must be abandoned “ (Misak 1995, S. 79). Und schließlich und zentral: Was sollen wir vom Verifikationsprinzip selbst halten? Einen Satz verstehen, heißt eine Methode seiner Verifikation angeben zu können. Welches ist die Verifikationsmethode für dieses Prinzip selbst? Kann es eine solche Methode geben? Wenn nicht - was ziemlich sicher scheint - , würde das jedoch bedeuten, dass das Prinzip selber dem Verifikationsprinzip zufolge sinnlos ist! Ein krasser Selbstwiderspruch! Es sollte offensichtlich sein, dass das Verifikationsprinzip, egal in welcher Fassung, kein empirischer Satz ist, der sich auf „ das Gegebene “ zurückführen oder aus ihm „ ableiten “ lässt. Wenn aber alle Sätze nur dann sinnvoll sind, wenn eine solche Rückführung bzw. Ableitung für sie möglich ist, so muss das Prinzip 304 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus als unsinnig gelten. Es ist erstaunlich, dass sich die Gründungsväter des logischen Positivismus dieses offensichtlichen Widerspruchs nicht sofort bewusst wurden! Popper und Falsifikationismus Die ursprüngliche Auffassung des Wiener Kreises, nach der die Theorien durch empirische Methoden überprüft und bestätigt bzw. widerlegt werden können und erst solche, die derartigen Überprüfungen standgehalten haben in den Korpus der Wissenschaft einbezogen werden können und dürfen, wurde schon in den 30er Jahren von Karl Popper angegriffen. 175 Popper behauptete, dass jeder induktive Schluss bloß eine Verallgemeinerung der bisherigen Erfahrung sei, weshalb man zugeben müsse, dass jegliche Verifikation empirischer Aussagen logisch gesehen unmöglich sei, da sich nicht ausschließen lasse, dass die empirisch festgestellten Regelmäßigkeiten (paradigmatisch: „ Alle Schwäne sind weiß “ ) von zukünftigen Erfahrungen widerlegt werden (Entdeckung schwarzer Schwäne) (Popper 2005, S. 3). 176 Nach Popper folgt daraus, dass die wissenschaftlichen Theorien niemals empirisch verifiziert werden können und dass das, was die Wissenschaft vernünftigerweise zu erreichen hoffen könne, lediglich die Falsifikation dieser Behauptungen durch „ strenge Überprüfungen “ sei (Popper ebd., S. 14f.). Theorien sind [. . .] niemals empirisch verifizierbar. [. . .] [W]ir [wollen] nur ein solches System als empirisch anerkennen, das einer Nachprüfung durch die „ Erfahrung “ fähig ist. Diese Überlegung legt den Gedanken nahe, als Abgrenzungskriterium nicht die Verifizierbarkeit, sondern die Falsifizierbarkeit des Systems vorzuschlagen; mit anderen Worten: Wir fordern zwar nicht, dass das System auf empirisch-methodischen Wege endgültig positiv ausgezeichnet werden kann, aber wir fordern, dass es die logische Form des Systems ermöglicht, dieses auf dem Wege der methodischen Nachprüfung negativ auszuzeichnen: Ein empirisch-wissenschaftliches System muss an der Erfahrung scheitern können. (Ebd., S. 16f.) Dadurch erlangt aber ein Aspekt der Wissenschaft zentrale Bedeutung: Popper zufolge geht es in der Wissenschaft nicht mehr um sicheres Wissen, weil das unmöglich zu erlangen sei (selbst wenn wir glücklicherweise auf wahre Feststellungen stoßen, werden wir es nie mit Sicherheit wissen), sondern um den Fortschritt der Wissenschaft, der durch „ kühne Vermutungen “ einerseits und „ strenge Widerlegungen “ andererseits erreicht werde, gepaart mit dem Ausscheiden all dessen aus dem Kanon der Wissenschaft, was sich als falsch erwiesen habe. 177 Trotz mancher Kritik (z. B. Lakatos 1974, 175 In seinem berühmten Werk Logik der Forschung, das 1934 erschienen ist (Popper 2005). 176 Die Idee der Unsicherheit jeglicher induktiver Schlüsse ist übrigens im Keim bereits in Rudolf Steiners Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung aus dem Jahre 1886 (GA2, S. 70) vorhanden. 177 Vgl. auch Popper 1979, S. 81, 164, 168 und passim sowie Popper 1989, S. 51. 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 305 S. 91 - 128 und Putnam 1973, S. 424 - 433), die allgemein darauf zielte, Poppers Behauptung, nach der sich Einzelaussagen isoliert prüfen ließen, in Frage zu stellen, blieb Popper seiner Auffassung bis zum Ende seines Lebens treu. Sein logischer Angelpunkt scheint tatsächlich unwiderlegbar: ein induktiver Beweis einer Aussage kann nie schlüssig sein, 178 eine Widerlegung aber kann diesen Status beanspruchen. Poppers Bestreben, Klarheit in die wissenschaftliche Methode zu bringen, war für viele Wissenschaftstheoretiker der Nachkriegszeit zweifellos prägend. 179 Trotz des entscheidenden Unterschieds, was das Kriterium der Wissenschaftlichkeit betrifft, waren Popper und Carnap hinsichtlich mancher anderer Aspekte ihrer Auffassung von der wissenschaftlichen Methode jedoch einer Meinung. Für beide war sie das Musterbeispiel menschlicher Rationalität; sie bringe tendenziell wahre Theorien des Universums hervor, weise eine deduktive Struktur auf, beruhe auf der Unterscheidung zwischen Beobachtung und Theorie und ermögliche es, Wissenschaft und damit Rationalität von Spekulation, Mythos und Unsinn zu trennen (Hacking 1996, S. 20 f). Quine, Sellars, Hanson, Kuhn Ein weiterer Stützpfeiler der Doktrin des logischen Empirismus, der Glaube an das Vorhandensein eines festen und letzten Fundaments der Wissenschaft in Form theoriefreier Erfahrung, kam erst in den 50er Jahren ins Wanken. 1951 publizierte W. V. O. Quine den einflussreichen Aufsatz „ Two Dogmas of Empiricism “ (Quine 1961), in dem er die Möglichkeit der Trennung zwischen empirischen und theoretischen Termini und somit der Reduktion von Theorie auf unmittelbare Erfahrung anhand rein sprachlich-logischer Überlegungen grundsätzlich in Frage stellte. 1956 erschien der ebenso einflussreiche Aufsatz von Wilfrid Sellars, in dem er die Relevanz nicht-epistemischer Tatsachen ( „ the Given “ ) für die Begründung der theoretischen Aussagen scharf angriff (Sellars 1968). Kurz darauf tat Norwood Russell Hanson das Gleiche in Bezug auf die Unterscheidung zwischen beobachtbaren und theoretischen Termini, indem er darauf hinwies, dass die Wahrnehmung von theoretischen Hintergrundannahmen geprägt sei, weshalb man von der Theoriegeladenheit (engl. „ theory-ladenness “ ) der Beobachtung sprechen müsse (Hanson 1961, S. 2, 19 usw.). Von einer anderen Seite argumentierte Stephen Toulmin, dass theoretische Überlegungen nicht rein empirisch begründet, sondern in den Idealen und Paradigmata des jeweiligen Forschers fundiert seien (Toulmin 1981). Diese Anregungen kulminierten schließlich 1962 in Kuhns berühmter Arbeit The Structure of Scientific Revolutions (Kuhn 1970). Die Hauptthesen des Buches, dass eine wissenschaftliche Disziplin sich als solche erst mit der Etablierung 178 Ausführlicher dazu im Kapitel „ Einige theoretischen Probleme des empirischen Forschungsparadigmas “ . 179 Vgl. Hacking 1996, S. 16 - 22, der Popper mit Carnap auf eine Stufe stellt. 306 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus eines Paradigmas konstituiere, das heißt eines allgemein geteilten, jedoch grundsätzlich kontingenten Verständnisses dessen, worin die Regeln und Standards der wissenschaftlichen Praxis bestehen (Kuhn ebd., S. 10f., 19), dass die Paradigmen „ quasi-metaphysische Annahmen “ (engl.: commitments) beinhalteten (ebd., S. 41) 180 und dass die Übergänge von einer wissenschaftlichen Theorie zu einer neuen von vor-theoretischen Überlegungen und Entscheidungen (Was sind die fundamentalen Entitäten, aus denen das Weltall besteht? Wie interagieren diese untereinander und mit unseren Sinnen? Welche Fragen können zu diesen Entitäten berechtigterweise gestellt werden und welche Methoden des Antwortsuchens sind legitim? usw.; ebd., S. 4f., 12f.) abhängig seien und Gestaltcharakter aufweisen, so dass man von wissenschaftlichen Revolutionen sprechen könne (ebd., S. 111 - 135), lösten eine Kontroverse aus, da sie als Unterminierung der Rationalität der Wissenschaft aufgefasst wurden (Kuhn sprach von der Inkommensurabilität des alten und des neuen Paradigmas; ebd., S. 103). 181 Wenn, wie Popper behauptete, der geregelte Fortschritt das Rückgrat der Wissenschaft bildet und wenn dieser Fortschritt sich als von außerwissenschaftlichen, gleichsam metaphysischen und unter Umständen irrationalen Faktoren geleitet erweist (rational bleibt die Wissenschaft unter Kuhn ’ schen Voraussetzungen lediglich auf der Stufe des puzzle solving der „ normalen “ Wissenschaft; ebd., S. 35 - 43), droht uns langfristig möglicherweise tatsächlich eher eine Zunahme der Irrationalität, statt dass wir mit ihrer Abnahme rechnen dürfen. Auch wenn Kuhn den an ihn gerichteten Vorwurf, die Wissenschaft als irrational darstellen zu wollen, weit von sich wies (Kuhn 1973) und er seine Thesen von 1962 in der Ausgabe seines Buches von 1970 einigermaßen verwässert hat, 182 blieben die Auswirkungen seines Werkes äußerst einschneidend und weitreichend. In der Tat behaupteten einige, dass Kuhns Buch das meistzitierte Werk der Geschichte sei, und der berühmte Wissenschaftstheoretiker Ian Hacking schrieb 2012 in seiner Einführung zur Sonderausgabe des Buches anlässlich des 50. Jahrestags seines erstens Erscheinens: „ [T]he book really did change ‚ the image of science by which we are now possessed ‘ . Forever. “ (Hacking 2012, S. xxxvii). Neben der Etablierung einer neuen, veränderten Sicht auf die Wissenschaft bestand die andere wichtige Leistung von Kuhn darin, dass er 180 Auf die Abhängigkeit der Theorie von vortheoretischen Entscheidungen hatte bereits Fleck in dem bereits oben erwähnten Werk hingewiesen. In der Einführung zu seinem Buch erwähnt Kuhn Fleck als einen seiner Hauptinspiratoren (Kuhn 1970, S. VI-VII). Interessanterweise kann man aber die Idee des Einflusses der Weltanschauung auf die wissenschaftlichen Theorien noch weiter zurückdatieren. Bereits 1909 machte Rudolf Steiner Bemerkungen, die auf dieses Problem hindeuten (vgl. GA108, S. 273). 181 Man kann es als Ironie des Schicksals betrachten, dass dieses Buch, das so viel zum Zerfall des Programms des logischen Empirismus beitrug, in der „ International Encyclopedia of Unified Science “ , dem „ Flagschiff “ des logischen Empirismus, erschienen ist. 182 Vgl. die Diskussion dieser Verschiebung in Newton-Smith 1996, S. 102 - 125. 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 307 mit seinem Buch die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft radikal veränderte. War der logische Empirismus bestrebt gewesen, die Antwort auf die Frage zu geben, was Wissenschaft sein und wie sie vorgehen soll, so richtete Kuhn den Blick der Forscher auf die Frage, wie die Wissenschaft konkret arbeitet und wie sich ihre Arbeitsweise im Laufe eines historischen Prozesses konkret entwickelte. Lehoux und Foster haben diesen Aspekt von Kuhns Leistung sehr klar formuliert: Before Kuhn, philosophers had been focused on trying to state what the scientific method should be. But he suggested that we should pay attention to how science is done - how scientists actually work - rather than to how philosophers think it ought to work. If you want to know how science is carried out, then in one way or another, you are going to have to look at the history of science. It ’ s this history that shows us how the sciences work in action. (Lehoux und Foster 2012, S. 885) Das Ende der „ Received View “ . Der Glaube im Herzen der Rationalität Etwa gegen das Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts hat sich schließlich die Einsicht durchgesetzt, dass die Vorstellungen des logischen Empirismus in Bezug auf den Charakter der wissenschaftlichen Theorien und der Wissenschaft allgemein grundsätzlich verfehlt waren. Frederick Suppe, der 1974 über diesen Wendepunkt schrieb, zählte die folgenden Fehleinschätzungen des logischen Empirismus auf: 1. The analytic-synthetic distinction must not be presumed. 2. No distinction between direct-observation and nondirect-observation terms may be assumed. 3. Theoretical terms must be construed as being antecedently meaningful, though their incorporation into a theory may alter their meaning to an extent. 4. The meaning of theoretical terms may incorporate, or be modified by, recourse to analogies and iconic models. 5. The procedures for correlating theories with phenomena must not all be viewed as integral components of theories; at least some of them must involve auxiliary hypotheses and theories. 6. The procedures for correlating theories with phenomena must allow for causal sequence correlations and for experimental ones; the experimental correlations must be spelled out in full methodological detail. 7. The analysis cannot view the entire content of theories as being axiomatizable or formalizable. 8. Whatever formalization is involved must be semantic, not syntactical. 9. The analysis of theories must include the evolutionary or developmental aspects of scientific theorizing, and not limit itself to providing canonical formulations of theories at fixed stages of development. (Suppe 1977, S. 117) 308 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus Wenn man diese Aufzählung mit den oben 183 dargestellten Kernbehauptungen der „ received view “ vergleicht, so lässt sich über das Programm des logischen Empirismus mit Ayer tatsächlich sagen: „ Nearly all of it was [wrong] “ (Ayer 1978, S. 1, s. oben „ Aufkommen “ ). 184 Der logische Positivismus ist also tot. 185 Aus heutiger Sicht ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass er sterben musste: er stand von Anfang an auf philosophisch betrachtet äußerst wackeligen Beinen. Worüber man sich heute wundern muss, ist eher, wie es überhaupt möglich war, dass so viele so intelligente Menschen so lange so vernebelt waren, um den Grundsätzen und Idealen des logischen Positivismus bzw. (später) des logischen Empirismus Glauben zu schenken. Man kann dieses Phänomen mit der Ludwig Fleck entlehnten Begrifflichkeit von Denkstil und Denkkollektiv zu erklären versuchen (Stadler 1997, S. 467 - 487). Zweifelsohne bildeten die Mitglieder des Wiener Kreises und die Denker, die unter ihrem Einfluss, man möchte fast sagen, unter ihrem Bann standen, ein Denkkollektiv, das einen gemeinsamen Denkstil pflegte. Die Frage aber bleibt, weshalb dieser Denkstil auf eine dermaßen breite Resonanz stieß? Die beste Antwort auf diese Frage geben meines Erachtens paradoxerweise die Mitglieder des Wiener Kreises selbst, genauer gesagt, einer von ihnen: Otto Neurath. Lange vor Kuhn wies Neurath am Anfang der Entwicklung des Wiener Kreises bereits darauf hin, dass die philosophischen Doktrinen nicht aufgrund ihrer Wahrheit, sondern aufgrund der soziologischen Situation in einer bestimmten Kultur beurteilt werden. Carnap schrieb dazu: [Neurath] criticized strongly the customary view, held among others by Schlick and Russell, that a widespread acceptance of a philosophical doctrine depends chiefly on its truth. He emphasized that the sociological situation of a given culture and in a given historical period is favorable to certain kinds of ideology or philosophical attitude and unfavorable to others. (Carnap 1963, S. 22) Neurath hat meiner Meinung nach den Nagel auf den Kopf getroffen. Der logische Positivismus hat sich in einer besonderen Zeit entwickelt: in der Zeit des Glaubens an die Macht der Logik und der Mathematik, des Glaubens auch an den technischen Fortschritt. 186 Wir haben gesehen, dass Ende des 19. 183 Vgl. das Unterkapitel „ Aufkommen “ . 184 Paul Feyerabend bezeichnete die Theorien des Wiener Kreises ein wenig unfreundlich als einen „ philosophischen Primitivismus “ (Feyerabend 1993, S. 9, 376). 185 Passmore in Routledge Encyclopedia of Philosophy (Passmore 1998, S. 529; s. oben „ Aufkommen “ ). Es ist aufschlussreich, dass Hilary Putnam, das Programm des logischen Empirismus mit dem „ materialistischen Programm “ schlechthin identifizierte und nach dem Zerfall des logischen Empirismus schrieb: „ materialistic project [is] in total shambles “ (Putnam 1997, S. 51). 186 Neurath war überzeugt davon, dass die fortschreitende Industrialisierung die Ausbreitung der „ wissenschaftlichen Weltauffassung “ bringen werde. Carnap schrieb dazu: „ He shared our hopeful belief that the scientific way of thinking in philosophy would grow stronger in our era. But he emphasized that this belief is to be based, not simply on 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 309 und Anfang des 20. Jahrhunderts tatsächlich bedeutende Fortschritte in diesen Bereichen erzielt worden sind, was das Aufkommen des Ideals der strengen, „ wissenschaftlichen Philosophie “ möglich machte. Es ist auch kein Zufall, dass diese Philosophie Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zerfiel, also genau zu der Zeit, als in den westlichen Länder der Glaube an Rationalität und technischen Fortschritt stark erschüttert wurde (Stichwort: 1968, mehr dazu s. unten: „ Qualitative-Forschung-Paradigma “ ). Diese Beobachtung führt uns auf die Spur einer interessanten Paradoxie des Programms des logischen Positivismus. Die logischen Positivisten wollten in ihrem Vorgehen streng rational und empirisch sein und jegliche „ metaphysische “ , irrationale Einflüsse daraus verbannen. Ihre Hoffnung, sich mit ihrem Programm durchsetzen zu können, ruhte jedoch nicht auf logischen, rationalen Argumenten, sondern letztendlich auf dem Glauben, also eben auf einem irrationalen oder vielleicht genauer, einem nicht-rationalen Fundament. John Dewey brachte dies in seinem Essay für den ersten Band der (geplanten) Encyplopedia of Unified Science präzise auf den Punkt. Im Zusammenhang seiner Äußerungen zur Wissenschaft und ihrer Natur stellte er fest: It [science] is essentially a co-operative movement, so that detailed specific common standpoints and ideas must emerge out of the very processes of cooperation. To try to formulate them in advance and insist upon their acceptance by all is both to obstruct co-operation and to be false to the scientific spirit. The only thing necessary in the form of agreement is faith in the scientific attitude and faith in the human and social importance of its maintenance and expansion. (Dewey 1971, S. 33f., meine Hervorhebung, MBM) Wir sind noch nicht so weit, wir haben das Ziel noch nicht erreicht, schrieb Dewey vor bald siebzig Jahren - doch worauf es ankomme, das sei der Glaube an die „ wissenschaftliche Haltung “ , der Glaube daran, dass man sie werde erreichen können und dass es für die Menschheit wichtig sei, dieses Ziel zu erreichen. Also selbst die puristischsten Verfechter der strengsten Rationalität konnten den Glauben nicht entbehren! Wenn auch nicht in ihrer Methode, so doch zumindest in ihrem Leben. Der Glaube erweist sich also auch für den Puristen der Rationalität als unentbehrlich! Die Wissenschaft hat tatsächlich seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts enorme Fortschritte gemacht: der Mensch ist auf dem Mond gelandet und da ich diese Worte schreibe, erkundet Curiosity, ein 900 kg the correctness of the scientific way of thinking, but rather on the historical fact that the Western world at the present time, and soon also the other parts of the world, will be compelled for economic reasons to industrialize more and more. Therefore, in his view, on the one hand the psychological need for theological or metaphysical ways of thinking will decrease, and on the other hand the cultivation of the natural sciences will be strongly increased because they are needed by the technology of industrialization. Consequently the general cultural atmosphere will become more favorable toward the scientific way of thinking. “ (Carnap 1963, S. 22) 310 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus schwerer Rover, die Marsoberfläche. Das Genom wurde entschlüsselt und das Higgs- oder „ Gottes “ -Teilchen gefunden, AIDS wurde fast besiegt. Und doch, das Ziel ist noch nicht erreicht: viele Rätsel bleiben und Wissenschaft und Technik haben die Menschheit nach wie vor nicht von ihren Sorgen erlöst. Im Gegenteil: die Arbeitslosigkeit steigt, viele Menschen hungern, viele haben keinen Zugang zu Wasser, das Klima erwärmt sich, die natürlichen Ressourcen werden immer knapper, Antibiotika drohen wirkungslos zu werden. Die allgemeine Einschätzung der künftigen wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen ist heute viel weniger optimistisch als zur Zeit des logischen Positivismus. Und dennoch stehen Millionen von Wissenschaftlern unserer Zeit 187 grundsätzlich am gleichen Ort, wie die logischen Positivisten in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts: ihr Glaube daran, dass die empirische, experimentierende Wissenschaft der einzige Weg zur Erforschung der Rätsel der Natur sei, ist weiterhin unerschütterlich. Der logische Positivismus ist tot, der Glaube an das empirische, experimentelle Forschungsprogramm lebt weiter. Der Zerfall des logischen Positivismus hat uns gelehrt, dass sich sehr viele sehr kluge Menschen unisono zutiefst täuschen können. Das 20. Jahrhundert hat uns gelehrt, dass sich Millionen von Menschen unisono zutiefst (sogar gefährlich) täuschen können. Kann es sein, dass sich Millionen von sehr klugen Wissenschaftlern am Anfang des neuen Millenniums unisono zutiefst täuschen? Die Verfechter der Vorzüge der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Methode wiederholen das Mantra, dass es eine Katastrophe wäre, in das „ finstere Zeitalter “ des mittelalterlichen oder noch älteren (Aber)Glaubens zurückzufallen. In der Tat, wir wollen nicht verlieren, was wir durch den wissenschaftlichen Fortschritt gewonnen haben, und wir wollen nicht in die Abhängigkeit von zweifelhaften Autoritäten wie der Kirche (den Kirchen), dem Papst, den Imamen oder anderen religiösen Führern zurückfallen. Die Verfechter der Überlegenheit der Wissenschaft verweisen (zu Recht) auf die Auswüchse der religiösen Haltungen in Form von Terror und Unterdrückung, die in der heutigen Welt in einem beängstigenden Tempo um sich greifen, und sie mahnen uns, bloß nicht die Standards und Kriterien der wissenschaftlichen Methode aufzugeben oder auch nur bei ihrer Bewahrung nachzulassen. Sie haben Recht: wir wollen nicht zurück und wir wollen nicht der Willkürherrschaft einer fremden Macht unterworfen sein. Was die Verfechter der wissenschaftlichen Methode aber offensichtlich nicht zu sehen vermögen, ist, dass man nicht zwingend zurückgehen muss, dass man auch vorwärtsgehen kann. Ihre Haltung basiert auf der unkritisch und unreflektiert akzeptierten Annahme, dass die heutige Form der wissenschaftlichen Methode Ausdruck der höchsten Form menschlicher Erkenntnisfähigkeiten sei. Sie kennen keine anderen, keine höheren Formen dieser Erkenntnisfähigkeiten 187 Genauer gesagt über 15 Millionen im Zeitraum von 1996 bis 2011 (Ioannidis et al. 2004, vgl. oben „ Kurzer Abriss der Geschichte der Wissenschaft “ . 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 311 und meinen, es könne keine geben. Dabei befinden sie sich eigentlich in der Lage der Menschheit vor Kolumbus, die meinte, dass es keine anderen Kontinente als Europa, Afrika und Asien geben könne. Wir wissen, dass diese Meinung völlig falsch war. Wir wissen auch, dass die Entdeckung anderer Kontinente die Menschheit der „ alten Welt “ ungeheuer bereichert hat. Vielleicht sollten wir auch heute den Mut haben, zu „ neuen Ufern “ aufzubrechen, anstatt darauf zu beharren, dass es keine solche geben könne? 312 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung Die wohl wichtigste Folge des Zerfalls des neopositivistischen Programms bzw. seiner Konzeption von Wissenschaft bestand darin, dass den sozialen Elementen der wissenschaftlichen Wissensgewinnung vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Wie wir bereits am Anfang dieses Werkes gesehen haben, fand spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Übergang von der Wissenschaft als einem individuellen Streben berufener (meist vermögender) Einzelgänger zur Wissenschaft als einem kollektiven und übernationalen Unternehmen statt: Die „ scientific community “ wurde geboren. Es dauerte auch nicht lange, bis diese Wirklichkeit zum Gegenstand philosophischer Reflexion avancierte. Dieser Schritt vollzog sich am Anfang des 20. Jahrhunderts. 188 Mit den Arbeiten von Max Weber 189 , Karl Mannheim (vgl. Twenhöfel 1991, S. 19 - 76) und kurz danach Robert K. Merton (vgl. Twenhöfel ebd., S. 77 - 132) liegen die ersten Versuche vor, Wissenschaft und wissenschaftliche Wissensgewinnung als sozialen Prozess zu verstehen. Der Einfluss der sozialen Kräfte auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung wurde jedoch nach dem Zerfall des logischen Empirismus von vielen Forschern als viel tiefgreifender erachtet als jemals zuvor. Als bahnbrechend auf diesem Gebiet muss die bereits oben erwähnte Schrift von Thomas Kuhn The Structure of Scientific Revolutions angesehen werden, die das Problem der sozialen Bedingtheiten der wissenschaftlichen Wissensgewinnung ins Zentrum der Aufmerksamkeit der scientific community rückte. Kuhns Buch setzte ein Umdenken in Gang, das schließlich zur Etablierung eines neuen Forschungsfeldes, der sog. Science Studies, führte, das wiederum in der Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts in Science, Technology, and Society Studies (STS) metamorphosierte. Twenhöfel bezeichnet diese Entwicklung als den Übergang von der „ Wissenschaftssoziologie “ bei Mannheim und Merton zur „ Wissenssoziologie “ bei Kuhn und der späteren Edinburgh- Schule (Twenhöfel ebd., S. 133f.). 188 Einige wollen diesen Schritt schon in der Soziologie von Émile Durkheim sehen (vgl. z. B. Bloor 1991, S. 7; Duran 1998, S. 10). 189 Vgl. z. B. Weber 1904, S. 15f., und Weber 1917, S. 250f. Ludwig Fleck: Denkstil und Denkkollektiv Die Kuhn ’ sche Revolution hatte jedoch einen wichtigen Vorläufer, dessen Beitrag zur Entstehung des neuen Feldes kaum Beachtung gefunden hat: den polnischen Arzt, Biologen und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck. Fleck (1896 - 1961) schloss sein Medizinstudium in Lvov (damals zu Polen gehörig) ab und arbeitete vor dem 2. Weltkrieg vor allem auf dem Feld der Bakteriologie. Er war während des Krieges aufgrund seiner jüdischen Abstammung zunächst in Auschwitz, dann in Buchenwald inhaftiert, überlebte aber und wurde nach dem Krieg Direktor der Abteilung für Mikrobiologie und Immunologie des staatlichen Instituts für Mutter und Kind in Warschau. Zwischen 1946 und 1957 publizierte er 87 medizinische und wissenschaftliche Artikel in polnischen, französischen, englischen und schweizerischen Zeitschriften. 1951 erhielt er den Nationalen Preis für wissenschaftliche Leistungen, 1954 wurde er in die Polnische Akademie der Wissenschaften gewählt, 1955 mit dem Orden der Polonia Restituta ausgezeichnet, der zweithöchsten zivilen Auszeichnung des Landes, die für herausragende Leistungen in den Bereichen Bildung, Wissenschaft, Sport, Kultur, Kunst, Wirtschaft, Landesverteidigung, Sozialarbeit und für die Förderung guter internationaler Beziehungen verliehen wird. Bereits 1935 hatte Fleck auf Deutsch das Buch Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache veröffentlicht, von dem seine Herausgeber in der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Lothar Schäfer und Thomas Schnelle schreiben, dass es „ alle Eigenschaften zu haben [schien], die es für den Erfolg geradezu prädestinierten “ (Fleck 1980, S. VIII). Kuhn stellte in der Einführung zu seinen Revolutions fest, dass dieses damals fast unbekannte Werk viele seiner eigenen Ideen vorwegnahm und ihn in vielerlei Hinsicht wesentlich inspirierte, aber bis zu seiner „ Wiederentdeckung “ praktisch unbekannt blieb (Kuhn 1970, S. vi f.). In seinem Buch entwickelt Fleck die Begriffe des Denkkollektivs, also der sozialen Einheit der Gemeinschaft der Wissenschaftler eines Faches, und des Denkstils, also der Denkgewohnheiten, auf denen ein bestimmtes Denkkollektiv sein Wissensgebäude aufbaut. In einem 1960 verfassten und zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten Manuskript definiert Fleck den Denkstil als „ gemeinschaftliche Tendenz zu selektiver Wahrnehmung und zu entsprechender geistiger und praktischer Verwendung des Wahrgenommenen “ (Fleck 1983, S. 178). Fleck widmet einen Abschnitt seiner Schrift von 1935 dem Thema der sozialen Bedingtheit „ jedes Erkennens “ (Fleck 1980, 53 - 70); darin schreibt er u. a.: Historische und stilgemäße Zusammenhänge innerhalb des Wissens beweisen eine Wechselwirkung zwischen Erkanntem und dem Erkennen: bereits Erkanntes beeinflusst die Art und Weise neuen Erkennens, das Erkennen erweitert, erneuert, gibt frischen Sinn dem Erkannten. 314 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Deshalb ist das Erkennen kein individueller Prozess eines theoretischen „ Bewusstseins überhaupt “ ; es ist Ergebnis sozialer Tätigkeit, da der jeweilige Erkenntnisbestand die einem Individuum gezogenen Grenzen überschreitet. (Ebd., S. 54) Einige Seiten weiter macht Fleck jedoch klar, dass er die soziale Bedingtheit des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses nicht für ein Übel hält, das es zu bekämpfen und überwinden gelte. Es gibt für ihn schlicht keine Möglichkeit, Erkenntnis außerhalb der menschlichen (oder im konkreten Falle wissenschaftlichen) Gemeinschaft zu betreiben: Jede Erkenntnistheorie, die diese soziologische Bedingtheit allen Erkennens nicht grundsätzlich und einzelhaft ins Kalkül stellt, ist Spielerei. Wer aber die soziale Bedingtheit für ein malum necessarium, für eine leider existierende menschliche Unzulänglichkeit ansieht, die zu bekämpfen Pflicht ist, verkennt, dass ohne soziale Bedingtheit überhaupt kein Erkennen möglich sei, ja, dass das Wort „ Erkennen “ nur im Zusammenhang mit einem Denkkollektiv Bedeutung erhalte. (Ebd., S. 59f.) Diese soziale Bedingtheit des Erkenntnisprozesses hat weitreichende Folgen. Im Widerspruch zu dem damals (1935) in neopositivistischen Kreisen weit verbreiteten Glauben an die durch die Sinne „ gegebenen “ Tatsachen stellt Fleck fest, dass das Gegebene nicht vorhanden sei ( „ Vom einfach Gegebenen kann hier überhaupt nicht gesprochen werden “ , ebd., S. 33) und die sog. Tatsache nicht unabhängig von anderen Tatsachen existieren könne, sondern von den bereits bekannten Tatsachen abhängig sei und ihrerseits auf sie zurückwirke. Er folgert daraus, dass jede neue Entdeckung, auch eine Entdeckung neuer Tatsachen, nicht Einzelleistung eines Wissenschaftlers, sondern eine Neuschöpfung des Denkkollektivs sei: Nie ist eine Tatsache von anderen vollkommen unabhängig: sie treten entweder als mehr oder weniger zusammenhängendes Gemenge der Einzelavisos auf oder auch als Wissenssystem, das eigenen Gesetzen gehorcht. Deshalb wirkt jede Tatsache auf viele andere zurück, und jede Veränderung, jede Entdeckung übt eine Wirkung auf ein eigentlich grenzenloses Gebiet: ein entwickeltes, zu harmonischem System ausgebautes Wissen besitzt die Eigenschaft, dass jede neue Tatsache harmonisch alle früheren Tatsachen - wenn auch noch so geringfügig - ändert. Jede Entdeckung ist in diesem Falle eigentlich eine Neuschöpfung der ganzen Welt eines Denkkollektivs. (Ebd., S. 134f.) Fleck nimmt ebenfalls die Kuhn ’ sche These vorweg, dass Wissenschaftler, die unterschiedliche Paradigmen repräsentieren, in „ unterschiedlichen Welten “ leben oder die Welt anders „ sehen “ und sie gemäß ihren Denkgewohnheiten (dem „ Denkstil “ ) interpretieren, wobei sie sich gegen jegliche Veränderungen wehren. Er schreibt: Ist ein ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem, das aus vielen Einzelheiten und Beziehungen besteht, einmal geformt, so beharrt er beständig gegenüber allem Widersprechen. [. . .] 1. Ein Widerspruch gegen das System erscheint undenkbar. 2. Was in das System nicht hineinpasst, bleibt ungesehen, oder 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 315 3. es wird verschwiegen, auch wenn es bekannt ist, oder 4. es wird mittels großer Kraftanstrengung dem Systeme nicht widersprechend erklärt. 5. Man sieht, beschreibt und bildet sogar Sachverhalte ab, die den herrschenden Anschauungen entsprechen, d. h. die sozusagen ihre Realisierung sind - trotz aller Rechte widersprechender Anschauungen. (Ebd., S. 40) In dem bereits erwähnten Manuskript von 1960 setzte Fleck seine Entlarvung der Rolle der sozialen Faktoren in der realen Praxis der Wissenschaft fort. Er schreibt dort von der Kluft, die sich zwischen der „ offiziellen “ , seiner Meinung nach bereits obsoleten, obschon immer noch vorherrschenden Ansicht von der Natur der Wissenschaft und deren Realität auftut. „ Wahrheit “ und „ Objektivität “ seien immer noch die „ geweihten Ideale “ der Wissenschaft, schreibt er, sie seien aber für den gewöhnlichen modernen Wissenschaftler zu kompliziert geworden (Fleck 1983, S. 175). Er beschreibt weiter mit großem Realismus, aber auch einer gewissen Ironie die konfuse soziale Wirklichkeit der Entdeckung der Naturgesetze, die dann als ewig geltend dargestellt bzw. verkauft werden: Wie kann eine [. . .] von einer Zunft geschaffene und in der Tat temporäre Wahrheit (gefunden oder geschaffen von XY, tatsächlich aber von seinen Assistenten, denn XY selbst ist dauernd auf Kongressen) mit den ewigen Gesetzen der Natur (wie sie guten Kindern gepredigt wird) vereinigt werden? Allerdings ist die beste Politik die, nicht zu viele Fragen zu stellen und mit jenen an der Macht auf gutem Fuße zu bleiben. (Fleck 1983, S. 176) Flecks Sicht der Realität der wissenschaftlichen Wissensgewinnung kulminiert in dieser prägnanten Formulierung: Zwischen dem Subjekt und dem Objekt gibt es ein Drittes, die Gemeinschaft. Es ist kreativ wie das Subjekt, widerspenstig wie das Objekt und gefährlich wie eine Elementargewalt. (Ebd., S. 178f., Hervorhebung im Original) Wie wir bald sehen werden, nahm Fleck, von der Öffentlichkeit praktisch unbemerkt, fast prophetisch jene Reflexionen über die Natur des wissenschaftlichen Unternehmens vorweg, die mit Kuhns Scientific Revolutions einsetzten. Paul Feyerabend: Anarchische Erkenntnistheorie Nach dem Schock von Kuhns Scientific Revolutions und dem Zerfall des Programms des logischen Empirismus gab es, so könnte man sagen, eine kurze Verschnaufpause in der Auseinandersetzung mit der „ orthodoxen “ Wissenschaft. 1975 erschien dann ein Werk, das eine neue Phase der Auseinandersetzung einläutete: Against Method: Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge. 190 Sein Autor, Paul Karl Feyerabend (1924 - 1994), ein in Österreich 190 Im Weiteren: AM mit dem jeweiligen Ausgabensjahr (vgl. Kürzelverzeichnis). Die Kernideen seiner Auffassung der Wissenschaft publizierte Feyerabend bereits 1970 im 316 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus geborenen Wissenschaftstheoretiker, war kein Neuling auf dem Feld, sondern Professor für Philosophie in Berkeley (1958 - 1989), der bereits früher ein Jahr mit Karl Popper zusammengearbeitet hatte. Sein Buch erlebte einen succès de scandale (Williams 1998, S. 641) und Feyerabend avancierte mit ihm zum Enfant terrible der Wissenschaftstheorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts, eine Rolle, die er übrigens genoss (Williams ebd.). 191 Feyerabends Sicht der Wissenschaft wird oft auf das Motto „ Anything goes “ (AM 2010, S. 12) reduziert: Es gebe keine „ wissenschaftliche Methode “ , jede Methode, die aus irgendeinem praktischen Gesichtspunkt nützlich ist, sei gut und könne als wissenschaftlich gelten. Diese Haltung könnte man als eine extreme Form des Pragmatismus einstufen. Feyerabends Denken ist jedoch eigentlich viel subtiler, als es der mit ihm assoziierte Slogan offenbart. Sein Ausgangspunkt ist die damals bereits nicht mehr neue Einsicht, dass sich wissenschaftliche Theorien nicht auf „ harte Fakten “ stützen. Eine neue Theorie zu postulieren heißt vielmehr, die bekannten „ Tatsachen “ völlig neu zu interpretieren. Denn die „ Tatsachen “ werden nur mit Hilfe von Theorien konstruiert: No theory ever agrees with all the facts in its domain, yet it is not always the theory that is to blame. Facts are constituted by older ideologies, and a clash between facts and theories may be proof of progress. (AM 2010, S. 33, Hervorhebung im Original) Feyerabend rechnet zu den „ alten Ideologien “ auch die Kosmologien. Da wir immer innerhalb einer bestimmten Kosmologie denken und Theorien formulieren, sei es schlicht gefährlich, die neuen Theorien anhand der „ Tatsachen “ zu bewerten, welche aufgrund solcher Kosmologien konstruiert wurden: Aufsatz „ Against Method: Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge “ . Schon in diesem Aufsatz stellte er z. B. fest, dass die neuartigen Theorien keineswegs im Einklang mit den bekannten Tatsachen stehen: „ [T]he Copernican view is not in accordance with ‘ the facts ’ . Seen from the point of view of these ‘ facts ’ , the idea of the motion of the earth appears to be outlandish, absurd, and obviously false, to mention only some of the expressions which were frequently used at the time, and which are still heard wherever professional squares confront a new and counterfactual theory “ (zitiert in Achinstein 2004, S. 383). Wie es aber oft mit Ideen geschieht, die in akademischen Publikationen erscheinen, so blieben auch diese Ausführungen zunächst wirkungslos. 191 Einen guten Einblick in seinen Lebensstil geben Feyerabends Äußerungen in seiner privaten Korrespondenz. Anbei ein paar Beispiele: „ Gegen die Vernunft habe ich nichts, ebenso wenig wie gegen Schweinebraten. Aber ich möchte nicht ein Leben, in dem es tagaus, tagein nichts anderes gibt als Schweinebraten “ (Brief an Hans Albert (1970), zitiert in Oberschelp 2002, S. 78.). Oder: „ Ich scheiße auf die Wahrheit, was immer das ist. Was wir brauchen, ist Gelächter “ (Brief an Imre Lakatos (1971), zitiert in Oberschelp ebd., S. 92). Oder: „ When in Rome, curse the Romans “ (Brief an Hans Peter Dürr (1981), zitiert in Oberschelp ebd., S. 64). Aber auch: „ Ich vertrete hier, wo man die Universität in eine neue Kirche verwandeln will, wo Seelen gebildet werden, die ganz andere Auffassung, dass die Universität ein intellektueller Supermarkt ist, wo der reife Student herumwandelt und aufgreift, was ihm gefällt “ (Brief an Hans Albert (1968), zitiert in Oberschelp ebd., S. 26). 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 317 It is this historico-physiological character of the evidence, the fact that it does not merely describe some objective state of affairs but also expresses subjective, mythical, and longforgotten views concerning this state of affairs, that forces us to take a fresh look at methodology. It shows that it would be extremely imprudent to let the evidence judge our theories directly and without any further ado. A straightforward and unqualified judgement of theories by ‘ facts ’ is bound to eliminate ideas simply because they do not fit into the framework of some older cosmology. (AM 2010, S. 47, Hervorhebung im Original) Es folgt daraus, dass die „ orthodoxe “ Vorstellung, dass Theorien an Tatsachen überprüft werden, oder aber auch ihre Popper ’ sche Variante, nach der die echten wissenschaftlichen Theorien an den Tatsachen scheitern und von ihnen widerlegt werden können sollen, hinfällig ist. Im Gegenteil: Die Kraft der „ Tatsachen “ , eine Theorie zu unterstützen oder sie zu widerlegen, könne nur mit der Hilfe einer (anderen) Theorie beurteilt werden. Feyerabend folgert daraus, dass das Aufstellen neuartiger Theorien die conditio sine qua non der Möglichkeit der Überprüfung der alten Theorie sei: Both the relevance and the refuting character of decisive facts can be established only with the help of other theories which, though factually adequate 192 , are not in agreement with the view to be tested. This being the case, the invention and articulation of alternatives may have to precede the production of refuting facts. Empiricism, at least in some of its more sophisticated versions, demands that the empirical content of whatever knowledge we possess be increased as much as possible. Hence the invention of alternatives to the view at the centre of discussion constitutes an essential part of the empirical method. (AM 2010, S. 22, Hervorhebung im Original) 193 Dieses völlig neuartige Prinzip der wissenschaftlichen Vorgehensweise bezeichnete Feyerabend in seinem oben erwähnten Aufsatz von 1970 als „ Principle of proliferation “ . 194 Um in der Wissenschaft weiterzukommen, sei es nicht ratsam, die bestehenden Hypothesen oder Theorien immer minuziöseren Tests zu unterziehen, um sich zu vergewissern, dass ihre Voraussagen bis zur zehnten Stelle nach dem Komma stimmen. Vielmehr solle man in einem kreativen Brainstorming immer neue Hypothesen und Theorien entwerfen, die nicht an den bestehenden geformt sind, sondern möglichst stark von ihnen abweichen. Denn nur wenn man über echte Alternativen zu den bestehenden Theorien verfügt, wird man imstande sein, die Stärken, aber auch die Schwächen diesen Theorien korrekt einschätzen zu können. Einheitliche Meinung ist für eine Kirche angebracht, für das Erlangen objektiven, wissenschaftlichen Wissens hingegen sind verschiedene Gesichtspunkte 192 Diese Bedingung wird von Feyerabend im 5. Kapitel seines Werkes aufgehoben. 193 Auch diese Idee war bereits im Aufsatz von 1970 vorhanden: „ I suggest introducing, elaborating, and propagating hypotheses which are inconsistent either with wellestablished theories or with well-established facts “ (Achinstein 2004, S. 376). 194 Vgl. Achinstein ebd., S. 376f. 318 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus unabdingbar. Nur eine solche Vielfalt kann auch die Menschenfreundlichkeit des kognitiven Unternehmens garantieren: Unanimity of opinion may be fitting for a rigid church, for the frightened or greedy victims of some (ancient or modern) myth, or for the weak and willing followers of some tyrant. Variety of opinion is necessary for objective knowledge. And a method that encourages variety is also the only method that is compatible with a humanitarian outlook. (AM 2010, S. 25, Hervorhebung im Original) Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass die drei Ausgaben von Against Method (1975 = AM 1978, 1983 195 , 1993 = AM 2010) eine Weiterentwicklung von Feyerabends Denken erkennen lassen, die eine gewisse Abschleifung der scharfen Kanten der ersten Ausgabe mit sich bringt. So findet sich in der Ausgabe von 1975 noch folgende radikale Formulierung: The one thing he [epistemological anarchist] opposes positively and absolutely are universal standards, universal laws, universal ideas such as “ Truth ” , “ Reason ” , “ Justice ” , “ Love ” , and the behaviour they bring along, though he does not deny that it is often a good policy to act as if such laws (such standards, such ideas) existed and as if he believed in them. (AM 1978, S. 189) Sie wird später durch eine Abgrenzung des eigenen Ansatzes von einem „ naiven Anarchismus “ ersetzt: A naive anarchist says (a) that both absolute rules and context-dependent rules have their limits and infers (b) that all rules and standards are worthless and should be given up. Most reviewers regard me as a naïve anarchist in this sense, overlooking the many passages where I show how certain procedures aided scientists in their research. [. . .] Thus while I agree with (a) I do not agree with (b) (AM 2010, S. 242). In der Ausgabe von 1988 findet sich die folgende, ebenfalls extreme Formulierung, welche die Wissenschaft mit dem Mythos gleichstellt: Es gibt also keinen klar formulierbaren Unterschied zwischen Mythen und wissenschaftlichen Theorien. Die Wissenschaft ist eine der vielen Lebensformen, die die Menschen entwickelt haben, und nicht unbedingt die beste. Sie ist laut, frech, teuer und fällt auf. Grundsätzlich überlegen ist sie aber nur in den Augen derer, die bereits eine gewisse Position bezogen haben oder die die Wissenschaften akzeptieren, ohne jemals ihre Vorzüge und Schwächen geprüft zu haben. Und da das Annehmen und Ablehnen von Positionen dem einzelnen oder, in einer Demokratie, demokratischen Ausschüssen überlassen werden sollte, so folgt, dass die Trennung von Staat und Kirche durch die Trennung von Staat und Wissenschaft zu ergänzen ist. (AM 1993, S. 385, Hervorhebung im Original) Sie ist in der Ausgabe 1993/ 2010 durch eine viel mildere ersetzt: Science is neither a single tradition, nor the best tradition there is, except for people who have become accustomed to its presence, its benefit and its disadvantages. In a democracy it 195 In deutscher Übersetzung: AM 1993. 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 319 should be separated from the state just as churches are now separated from the state. (AM 2010, S. 249, Hervorhebung im Original) Gewisse „ scharfe Kanten “ sind aber auch in der letzten Ausgabe des Werkes durchaus vorhanden. So äußert Feyerabend in allen drei Ausgaben die Vermutung, dass die wissenschaftliche Methode, so wie sie damals (und eigentlich heute immer noch) praktiziert wird, nicht nur nicht der Weisheit letzter Schluss sei, sondern reale Gefahren für die Menschen und ihr Zusammenleben berge: For is it not possible that science as we know it today, or a „ search for the truth “ in the style of traditional philosophy, will create a monster? Is it not possible that an objective approach that frowns upon personal connections between the entities examined will harm people, turn them into miserable, unfriendly, self-righteous mechanisms without charm or humor? „ Is it not possible, “ asks Kierkegaard, „ that my activity as an objective [or a critico-rational] observer of nature will weaken my strength as a human being? “ I suspect the answer to many of these questions is affirmative and I believe that a reform of the sciences that makes them more anarchic and more subjective (in Kierkegaard ’ s sense) is urgently needed (AM 2010, S. 156). Feyerabend legte einige Jahre später mit Farewell to Reason (1987) nach, einem Werk, in welchem er seine früheren Ansichten bekräftigte, aber auch ergänzte. So stellte er dort abermals fest, dass die Wissenschaft nur ein Teil der Kultur sein könne. Diesmal begründete er aber diese Auffassung nicht theoretisch, sondern mit menschlichen Grundanliegen: Das menschliche Leben sei reicher als die Wissenschaft und reicher als die Wissenschaft es begreifen könne. Wissenschaft könne unmöglich alle legitimen menschlichen Bedürfnisse stillen. Menschliches Gedeihen brauche mehr als Wissenschaft: Menschen brauchen eine Umgebung, die in gewissem Maße stabil ist und ihrer Existenz Sinn verleiht. Die rastlose Kritik, die angeblich das Leben der Wissenschaftler charakterisiert, kann Teil eines erfüllten Leben sein, aber nicht seine Grundlage. (Sie kann sicher nicht eine Grundlage sein für Liebe oder Freundschaft.) Die Wissenschaftler können daher einen Beitrag leisten zur Kultur, aber sie können und dürfen nicht verlangen, dass man eine Kultur zur Gänze auf ihre Ideen gründe. Das ergäbe eine komplizierte Barbarei, keine Kultur. (Feyerabend 1990, S. 376f., Hervorhebung im Original) Was Feyerabend an der gängigen wissenschaftlichen Vorgehensweise vor allem stört, ist das wissenschaftliche Ideal der Objektivität, denn Objektivität und Liebe schlössen sich gegenseitig aus, 196 und es sei einzig Liebe, nicht Objektivität, welche die menschliche Existenz sichern könne (ebd., S. 380). Wenn man eine Frau liebe, könne man dieses Leben nicht untersuchen, sondern müsse an ihm teilnehmen, man könne nicht ein „ objektiver Beobach- 196 Ob das tatsächlich so ist, werden wir später genauer untersuchen müssen (vgl. Kapitel „ Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals “ ). 320 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus ter “ sein, man müsse ein von der Liebe und dem Beisammensein veränderter Mensch werden (Feyerabend ebd., S. 443). Indem die Wissenschaften Objektivität förderten, aber auch forderten, verminderten sie die Fähigkeit zur Liebe. Deshalb müsse ein Mensch, der Liebe verbreiten will, gegen gewisse wissenschaftliche Einstellungen ankämpfen (ebd., S. 380). Tatsächlich würden (wissenschaftliche) Verfahren, die auf Objektivität abzielen und deren Hauptziel es sei, aus der Erkenntnis alle menschlichen Elemente zu entfernen, zu unmenschlichen Verhaltensweisen führen (ebd., S. 434). Viel Elend unserer Welt, Kriege und die sonstigen Verwüstungen des menschlichen Leibes und der menschlichen Seele seien nicht das Werk von schlechten Menschen, sondern von Menschen, „ die ihre ganz persönlichen Wünsche und Neigungen objektiviert und dadurch unmenschlich gemacht haben “ (ebd., S. 449). „ [K]eine objektiven Werte werden für unsere Sache plädieren, wenn es sich herausstellt, dass unsere Handlungen ins Verderben geführt haben “ (ebd., S. 448, Hervorhebung im Original). Letztendlich brauche man „ eine Traumwelt, um die wirkliche Welt zu entdecken, in der wir zu leben glauben “ (ebd., S. 471). Feyerabends Kritik an der (gängigen) Wissenschaft mündet somit in einem Plädoyer für Liebe und „ human flourishing “ (Putnam 1990, S. lxxiv, 141). Der Wissenschaft gesteht er dabei lediglich eine eng umgrenzte, untergeordnete Rolle zu. Die Liebe ist ihr klar übergeordnet. Damit entsteht aber der Eindruck, dass nicht nur die (gängige) Wissenschaft, sondern die Erkenntnis überhaupt mit Liebe nichts zu tun hat. Diese Schlussfolgerung ist kontrovers. Denn bekanntlich hat das (antike) Erkenntnisstreben der Menschheit mit der Liebe, und zwar mit der Liebe zur Weisheit ( φιλο-σοφία ) angefangen. War die Ansicht, dass Liebe eine Bedingung der Erkenntnis sei, falsch, oder ist vielleicht unsere Auffassung der Erkenntnis korrumpiert worden? Diese Frage wird uns noch beschäftigen. David Bloor und das „ strong programme “ Wir haben unsere kurze Auseinandersetzung mit Flecks Ansichten mit seinem Diktum abgeschlossen: „ Zwischen dem Subjekt und dem Objekt gibt es ein Drittes, die Gemeinschaft. Es ist kreativ wie das Subjekt, widerspenstig wie das Objekt und gefährlich wie eine Elementargewalt. “ Von dieser Feststellung führt ein direkter, obschon wahrscheinlich nur imaginärer 197 Weg zum locus classicus der bereits oben erwähnten Strömung, die „ Science Studies “ bzw. heute Science, Technology and Society Studies genannt wird, 198 näherhin zum 1976 veröffentlichten Werk des damals an der Universität von Edinburgh lehrenden britischen Philosophen, Psychologen und Soziologen David Bloor (1942 - ) Knowledge and Social Imagery 199 . Es formuliert das vieldiskutierte „ strong programme “ , welches versucht, die 197 Es ist unwahrscheinlich, dass Bloor Flecks Werk kannte. 198 Vgl. Duran 1998, S. 75. 199 Im Weiteren KSI (s. Kürzelverzeichnis). 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 321 ganze wissenschaftliche Tätigkeit auf allgemeingültige soziologische Gesetzmäßigkeiten zu reduzieren und somit ihren Anspruch auf den Sonderstatus einer reinen und von persönlichen oder auch einfach menschlichen Bedingtheiten abgehobenen Tätigkeit zu diskreditieren. Die Abhängigkeit der Wissensgewinnung einschließlich der wissenschaftlichen Formen der Wissensgewinnung von sozialen Faktoren ist nach Bloor in groben Zügen bereits von anderen Forschern nachgewiesen wurde. Er fasst deren Ergebnisse folgendermaßen zusammen: 1) Es besteht ein Zusammenhang zwischen den groben sozialen Strukturen bestimmter Gesellschaften und der Form der Kosmologien dieser Gesellschaften. 2) Es besteht eine Zusammenhang zwischen den ökonomischen, technischen und industriellen Entwicklungen gewisser Gesellschaften und den Gegenständen ihrer wissenschaftlichen Theorien. 3) Es gibt viele Hinweise darauf, dass die Eigenschaften bestimmter Kulturen, die als nichtwissenschaftlich gelten, die Entwicklung und Beurteilung der wissenschaftlichen Theorien und Entdeckungen in diesen Kulturen wesentlich beeinflussen. 4) Der Einfluss der wissenschaftlichen Ausbildung und Sozialisation auf die Art, wie Wissenschaft praktiziert wird, und insbesondere auf die Meinungen darüber, was wissenschaftlich ist und was nicht, wird immer genauer dokumentiert (KSI, 5f.). Folglich erscheint es Bloor angebracht, eine Form der soziologischen Untersuchung der wissenschaftlichen Wissensgewinnung einzuleiten (das „ strong programme “ ), die sich durch die folgenden vier Grundsätze auszeichnet: 1. It would be causal, that is, concerned with the conditions which bring about belief or states of knowledge. Naturally there will be other types of causes apart from social ones which will cooperate in bringing about belief. 2. It would be impartial with respect to truth and falsity, rationality and irrationality, success or failure. Both sides of these dichotomies will require explanation. 3. It would be symmetrical in its style of explanation. The same types of cause would explain, say, true and false beliefs. 4. It would be reflexive. In principle its patterns of explanation would have to be applicable to sociology itself. [. . .] (KSI, S. 7) Der Kern des Programms kommt in der ersten These zum Ausdruck, nach der alle Überzeugungen - ob wahr oder falsch, rational oder irrational - , also auch wissenschaftliche, verursacht sind, was impliziert, dass ihre Entstehung u. a. soziologischen Gesetzen unterliegt und sie somit soziologisch untersucht und erklärt werden können und sollen (KSI, S. 7). Bloor stellt mit dieser These die tief verwurzelte Ansicht in Frage, wonach wahre Überzeugungen keine Erklärung ihres Zustandekommens brauchen, weil ihre Rationalität Erklärung genug sei und lediglich die Abweichungen von der Rationalität erklärt werden müssen (KSI, S. 8 - 13). Bloor ist sich bewusst, dass sein Programm eine Form des Relativismus in Bezug auf die Beurteilung wissenschaftlicher 322 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Erzeugnisse impliziert (KSI, S. 158), was als Vorwurf an die Adresse seiner eigenen Theorie erhoben werden kann (das bekannte Problem des performativen Selbstwiderspruchs jeglichen Skeptizismus 200 . Bloor begegnet diesem Vorwurf, indem er einerseits betont, dass aus der Sicht eines Soziologen „ all knowledge [. . .] is conjectural and theoretical. Nothing is absolute and final “ (KSI, S. 159), und andererseits darauf hinweist, dass die Soziologie der Wissenschaft weder mehr noch weniger relativistisch als jegliche andere Auffassung der Natur des wissenschaftlichen Wissens sei, obschon diese anderen Auffassungen gewöhnlich nicht direkt des Relativismus bezichtigt werden (KSI, S. 158f.). Bloor wurde zum wichtigsten Repräsentanten der sog. Edinburgh-Schule der Soziologie der Wissenschaft und spielte eine entscheidende Rolle in der Entwicklung jenes Forschungsfeldes, das später als Science, Technology and Society Studies bekannt wurde (s. oben). Die soziologische Kritik der deklarierten Unvoreingenommenheit der Wissenschaft entwickelte sich aber in den darauffolgenden Jahren auch außerhalb dieser Schule und findet heute noch ihre überzeugten Vertreter. 201 Diese Kritik zielt hauptsächlich darauf ab, mittels genauer Beobachtung der Realitäten des alltäglichen wissenschaftlichen „ Geschäfts “ zwei Hauptthesen zu untermauern: erstens, dass die Wissenschaft keineswegs auf dem soliden Fundament absoluter Wahrheiten steht, sondern im Gegenteil eine Art Konstruktion aufgrund kontingenter soziokultureller Gegebenheiten ist, und zweitens, dass sich hinter der Fassade der „ sauberen “ , rein objektiv arbeitenden Wissenschaft Praktiken verbergen, die durch persönliche Interessen, zufällige Gegebenheiten und Druck seitens der Wirtschaft geprägt sind. Latour und Woolgar: Laboratory Life Bloor bot in seinem Buch von 1976 den theoretischen Rahmen einer soziologischen Untersuchung der wissenschaftlichen Wissensgewinnung. 1979 erschien dann ein Werk, das als paradigmatisch für die praktische Anwendung des von Bloor formulierten „ starken Programms “ erachtet werden kann: Bruno Latour und Steve Woolgars Schrift Laboratory Life. The Social 200 Vgl. Nagel: „ To put it schematically, the claim ‘ Everything is subjective ’ must be nonsense, for it would itself have to be either subjective or objective. But it can ’ t be objective, since in that case it would be false if true. And it can ’ t be subjective, because then it would not rule out any objective claim, including the claim that it is objectively false. [. . .] The familiar point that relativism is self-refuting remains valid in spite of its familiarity: We cannot criticize some of our own claims of reason without employing reason at some other point to formulate and support those criticisms “ (Nagel 1997, S. 15). 201 Als besonders einflussreich werden Bruno Latour und Steve Woolgar erachtet (vgl. Duran 1998, S. 75; s. unten). Andere prominente Vertreter dieser Richtung sind Knorr- Cetina (1991) sowie Collins und Pinch (1996). Einen guten Überblick über einige Aspekte der gegenwärtigen Diskussion auf diesem Feld bieten Barnes, Bloor und Henry (1996). 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 323 Construction of Scientific Facts 202 (die zweite Ausgabe 1986 verzichtet auf das Wort „ Social “ im Untertitel [LL, S. 7]). Latour, ein französischer Soziologe der Wissenschaft und Anthropologe, und Woolgar, ein britischer Soziologe, schildern darin einerseits, wie die Arbeit eines wissenschaftlichen Labors aus der Perspektive eines „ naiven Beobachters “ aussieht, und andererseits, wie die wissenschaftlichen Tatsachen ihrer Meinung nach nicht entdeckt, sondern eigentlich konstruiert werden. Sie betrachten die Arbeit eines wissenschaftlichen Labors als einen legitimen Gegenstand einer streng wissenschaftlichen, anthropologischen Untersuchung. Diese Sichtweise findet ihren Niederschlag im Titel eines der ersten Abschnitte des Buches, „ Materials and Methods “ (LL, S. 39f.), der sich offensichtlich an den Konventionen einer wissenschaftlichen Publikation in einer Peer-Review-Zeitschrift orientiert. Die Methodik ihrer Untersuchung setzt eine „ anthropologische Fremdheit “ ( „ anthropological strangeness “ [LL, S. 40]) voraus, indem das Labor und sein Treiben als Aktivität eines exotischen Stammes betrachtet und ohne Rückgriff auf die Begrifflichkeit und Erklärungsmodalitäten der beteiligten Wissenschaftler selbst dargestellt werden. In ihrem Bericht klammern Latour und Woolgar auch ihre bisherigen Kenntnisse der wissenschaftlichen Praxis bewusst aus (oder zumindest sind sie bestrebt, es zu tun) (LL, S. 44). Ein naiver Betrachter wird feststellen, dass alle Wissenschaftler und Techniker im Labor im Grunde permanent dabei sind, etwas niederzuschreiben, und dass nur wenige Aktivitäten im Labor nicht auf eine Art der Inskription oder Transkription zurückzuführen sind. Er beschreibt folglich das Labor als einen „ seltsamen Stamm “ ( „ strange tribe “ ), „ who spend the greatest part of their day coding, marking, altering, correcting, reading, and writing “ (LL, S. 49). Große und teure Laborgeräte (z. B. ein Massenspektrometer) erscheinen ihm als „ Beschriftungsgeräte “ ( „ inscription devices “ ), deren einziger Zweck darin bestehe, „ [to] transform pieces of matter into written documents “ (LL, S. 51). Der Beobachter zieht bald den Schluss, dass der primäre Fokus der Arbeit des Labs die „ Herstellung von Artikeln “ zur Veröffentlichung in einer wissenschaftlichen Zeitschrift sei. Das nächste Ziel des Beobachters ist folglich, die unterschiedlichen Prozesse zur Abfassung des Artikels zu untersuchen, wobei seine Methode darin besteht, „ [to] consider the papers much the same way as manufactured goods “ (LL, S. 71). Dazu gehört die Frage, wie die Artikel produziert werden, was ihre Bestandteile (oder Rohstoffe) sind und warum diese Artikel für das Labor wichtig sind. In dem zentralen Abschnitt „ Statement Types “ (LL, S. 75 - 81) unterscheiden die Autoren dann verschiedene Klassen der Aussagen eines wissenschaftlichen Artikels in Bezug auf ihren Tatsachengehalt. Sie konstruieren daraus ein Fünf-Elemente-Kontinuum der Faktizität, das von Typ-1-Aussagen (Vermutungen, Spe- 202 Im Weiteren: LL (s. Kürzelverzeichnis). 324 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus kulationen) bis zu Typ-5-Aussagen (selbstverständliche Sätze) reicht. Latour und Woolgar schlussfolgern, dass die Aussagen in diesem Kontinuum routinemäßig nach oben und nach unten wandern und es der der Hauptzweck eines Labors sei, Aussagen einer bestimmten Ebene der Faktizität in solche einer anderen Ebene umzuwandeln: A laboratory is constantly performing operations on statements; adding modalities, citing, enhancing, diminishing, borrowing, and proposing new combinations. Each of these operations can result in a statement which is either different or merely qualified. Each statement, in turn, provides the focus for similar operations in other laboratories. Thus members of our laboratory regularly notices how their own assertions were rejected, borrowed, quoted, ignored, confirmed, or dissolved by others. (LL, S. 86f.) Es ist ziemlich offensichtlich, dass mit einer solchen Methode der streng behavioralen Beobachtung der Sinn der Aktivitäten der Wissenschaftler nicht eruiert werden kann bzw. völlig entstellt wird. Man könnte die Vorgehensweise von Latour und Woolgar vielleicht mit der eines Sexologen vergleichen, der einem Liebespaar beim Geschlechtsverkehr zuschaut und anschließend konstatiert, dass der Mann seltsame Auf-und-ab-Bewegungen mit seinen Hüften ausführte und beide Partner dabei grunzende Geräusche ausstoßen. Die Autoren des Buches scheinen selbst von einer dermaßen reduktionistischen Betrachtungsweise nicht völlig überzeugt. 203 Sie schreiben zwar, dass das Ziel der Labormitarbeiter war, die Leser der Artikel davon zu überzeugen, dass die darin dargestellten Befunde Tatsachen seien, dass sich aber der Beobachter der Versuchung, sie so zu betrachten, erfolgreich widersetzte ( „ By remaining steadfastly obstinate, our anthropological observer resisted the temptation to be convinced by the facts “ [LL, S. 88]). Unmittelbar danach relativieren sie jedoch ihre Aussage, indem sie eingestehen, dass ihr Bericht nicht der Weisheit letzter Schluss sein müsse: Has the anthropologist himself been convincing? Has he used sufficient photographs, diagrams, and figures to persuade his readers not to qualify his statements with modalities, and to adopt his assertions that a laboratory is a system of literary inscription? Unfortunately, for reasons which will later become clear [. . .], the answer has to be no. He cannot claim to have set forth an account which is immune for all possibility of future qualification. [. . .] The possibility of future reevaluation of his statements remains. (LL, S. 88) Im nächsten Kapitel, „ The Construction of a Fact: The Case of TRF (H) “ (LL, S. 105 - 150), versuchen die Autoren - in Flecks Tradition schreibend, obwohl sie ihn nicht einmal erwähnen - aufzuzeigen, wie eine wissenschaftliche „ Tatsache “ konstruiert wird. Sie verfolgen hier die Geschichte der Ent- 203 Am Rande sei erwähnt, dass diese Art der Beschreibung der wissenschaftlichen Tätigkeiten paradoxerweise eine Art Verwirklichung des Programms des logischen Empirismus und insbesondere der Idee, die „ Fakten “ in sog. Protokollsätzen festzuhalten, im Bereich der Soziologie darstellt! 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 325 deckung des Thyreotropin-Releasing-Faktors (TRF) bzw. -Hormons (TRH) (eines Peptidhormons, das als Freisetzungshormon im Hypothalamus gebildet wird), wobei sie zugeben, dass ihre Darstellung des Entdeckungsprozesses, wie jegliche historische Beschreibung, eigentlich nichts weiter als eine literarische Fiktion ( „ literary fiction “ ) sei (LL, S. 107). Ihr ausdrückliches Ziel ist es, zu zeigen, wie „ a hard fact can be sociologically deconstructed “ (ebd.), und sie meinen es durch den Nachweis erreicht zu haben, dass TRF in einem „ Netzwerk “ entstanden sei (wir erinnern uns an Flecks Feststellung, dass „ jede Entdeckung [. . .] eigentlich eine Neuschöpfung der ganzen Welt eines Denkkollektivs “ sei). Unter einem Netzwerk verstehen sie „ a set of positions within which an object such as TRF has meaning “ (ebd.), und sie behaupten, dass TRF seinen Sinn nur innerhalb gewisser Netzwerke habe. Außerhalb des Netzwerkes der Endokrinologie nach 1960 sei TRF nichts weiter als „ an unremarkable white powder “ (LL, S. 108). Was sie zu der Feststellung führt, dass selbst die am besten erschlossenen Tatsachen ohne Bezug auf den Kontext ihre Bedeutung verlieren 204 (LL, S. 110). Latour und Woolgar betonen aber, dass die Behauptung, dass TRF konstruiert wurde, nicht gleichbedeutend mit der Behauptung sei, dass diese Substanz eine „ Tatsache “ sei. Vielmehr gehe es bei der Rede von Konstruktion darum, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie, wo und warum diese Tatsache geschaffen wurde 205 (LL, S. 127). In dem vorletzten Kapitel ( „ Cycles of Credit “ ) beschäftigen sich die Autoren mit dem Stellenwert der Autorität und vor allem der Anerkennung ( „ credit “ ) in der Wissenschaft. Das Verlangen nach Anerkennung scheint ihnen das treibende Motiv in der Wissenschaft zu sein. In der Fallstudie eines Wissenschaftlers, den sie „ Dietrich “ nennen, zeigen sie auf, wie die Wahl einer Hochschule, eines Professors, eines Forschungsgebietes und eines künftigen Forschungsinstituts durch Maximierung der (erwarteten) Anerkennung geleitet ist (LL, S. 194 - 198). Latour und Woolgar vergleichen Anerkennung mit Geld: Wie in der Finanzwelt das vorhandene Geld, geschickt investiert, mehr Geld bringen kann, so führt auch die Anhäufung von Anerkennung zu mehr Anerkennung: In this respect, scientists ’ behaviour is remarkably similar to that of an investor of capital. An accumulation of credibility is prerequisite to investment. The greater this stockpile, the more able the investor to reap substantial returns and thus add further to his growing capital. (LL, S. 197) Sie betonen aber auch, dass die finanzielle Entlohnung nicht das Hauptinteresse der wissenschaftlichen Tätigkeit sei. Vielmehr gehe es um Anerkennung: 204 Im Original: „ Even a well-established fact loses its meaning when divorced from its context. “ 205 Im Original: „ [T]o say that TRF is constructed is not to deny its solidity as a fact. Rather, it is to emphasize how, where, and why it was created. “ 326 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus To repeat, it would be wrong to regard the receipt of reward as the ultimate objective of scientific activity. In fact, the receipt of reward is just one small portion of a larger cycle of credibility investment. The essential feature of this cycle is the gain of credibility which enables reinvestment and the further gain of credibility. (LL, S. 197 f) 206 Im abschließenden Kapitel ( „ The Creation of Order out of Disorder “ ) fassen die Autoren die Hauptelemente ihrer Argumentation zusammen. Das erste Glied ihres Argumentes ist der Begriff der Konstruktion (236; sie berufen sich dabei auf das Werk von Karin Knorr-Cetina The Manufacture of Knowledge. An Essay on the Constructivist and Contextual Nature of Science, s. unten). In diesem Begriff ist ihre zentrale These enthalten, dass am Anfang der wissenschaftlichen Aktivität keineswegs Fakten stehen; diese werden vielmehr erst im wissenschaftlichen Prozess erschaffen: The difference between object and subject or the difference between facts and artefacts should not be the starting point of the study of scientific activity; rather it is through practical operations that a statement can be transformed into an object of a fact into an artefact. (LL, S. 236) Den zweiten Schritt ihrer Argumentation fassen sie im Begriff agonistic zusammen. 207 Wenn die sog. Fakten konstruiert seien und wenn „ die Wirklichkeit “ eher eine Folge als die Ursache dieser Konstruktionen ist, dann folgt, dass die Aktivität der Wissenschaftler nicht auf die „ Wirklichkeit “ gerichtet ist, sondern vielmehr auf die Operationen der Aussagen. Die Summe solcher Operationen nennen die Autoren „ agonistic field “ (LL, S. 237). Dabei betonen sie, dass sich Wissenschaftler nicht mit der Natur, sondern vielmehr mit eigenen Erzeugnissen befassen: The notion of agonistic contrasts significantly with the view that scientists are somehow concerned with “ nature ” . Indeed, we have avoided using nature throughout our argument, except in showing that one of its current components, namely the structure of TRF, has been created and incorporated in our view of the body. (LL, S. 237) Der dritte Schritt ihres Argumentes kann mit den Begriffen Materialisation oder Reifikation zusammengefasst werden (LL, S. 238). Sobald eine Behauptung ( „ statement “ ) im „ agonistischen Feld “ stabilisiert werde, werde sie reifiziert und zum Bestandteil der unausgesprochenen ( „ tacit “ ) Fertigkeiten oder der materiellen Ausrüstung eines anderes Labors. Der nächste Schritt konzentriert sich auf den Begriff der Glaubwürdigkeit ( „ credibility “ ). Dieser Begriff ermöglicht es laut Latour und Woolgar, die eigentlich ökonomischen 206 Es ist nicht ganz einsichtig, warum Latour und Woolgar die finanzielle Seite dieses Prozesses nicht berücksichtigen. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass Anerkennung, Prestige in der Wissenschaft mit finanziellen Anreizen im Sinne einer besseren und besser bezahlten Anstellung einhergehen. 207 Von altgriechisch ἀγωνιστής , „ Kämpfer/ Krieger “ . 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 327 Aspekte (Geld, Budget, Lohn) mit den epistemischen Dimensionen (Sicherheit, Zweifel, Beweis) zu kombinieren (ebd.). Der fünfte wichtige Begriff ist der der Bedingungen ( „ circumstances “ ). Bedingungen wurden bis jetzt als irrelevant betrachtet, schreiben die Autoren (LL, S. 239), ihre These sei dagegen, dass die Bedingungen die zentrale Rolle in der Produktion des Wissens bilden: Our claim is not just that TRF is surrounded, influenced by, in part depends on, or is also caused by circumstances; rather, we argue that science is entirely fabricated out of circumstance [. . .]. (LL, S. 239) Im Abschnitt „ Order from Disorder “ des letzten Kapitels formulieren Latour und Woolgar die Hauptaussage ihrer Studie: Das Ziel der wissenschaftlichen Aktivitäten eines Labors bestehe darin, Ordnung in die Unordnung zu bringen (LL, S. 244). Diese Ordnung werde hergestellt und gehe keineswegs den Aktivitäten der Wissenschaftlers voraus (LL, S. 246). In dem der zweiten Auflage ihres Buches (1986) hinzugefügten „ Postscript “ relativieren die Autoren ihre Behauptungen allerdings abermals. Sie schreiben, dass sie am Ende der ersten Auflage feststellen wollten, dass ihre Analyse letztlich nicht überzeugend sei (LL, S. 284). Sie mussten jedoch diesen Satz auf Druck der Herausgeber streichen, denn diese waren nicht bereit, etwas zu veröffentlichen, was seine eigene Wertlosigkeit proklamiere (ebd.). Latour und Woolgar beteuern jedoch, dass sie nie behauptet haben, ihre Darstellungen seien gegenüber anderen privilegiert, insbesondere denen der direkt beteiligten Personen (Naturwissenschaftler), oder immun gegenüber Kritik. Am Schluss zeigen sie, dass sie sich des schillernden, ja sich selbst unterminierenden Charakters ihrer Behauptungen zumindest teilweise bewusst sind. Indem sie behaupten, dass die wissenschaftliche Aktivität nichts anderes als eine Konstruktion von Wirklichkeit sei, behaupten sie selbstverständlich gleichzeitig, dass ihre eigene Aktivität, insofern sie als eine wissenschaftliche gelten will, ebenfalls eine Konstruktion sei: Each text, laboratory, author and discipline strives to establish a world in which its own interpretation is made more likely by virtue of the increasing number of people from whom it extracts compliance. In other words, interpretations do not so much inform as perform. From this perspective, our scientists are obviously better equipped at performing the world we live in than we are at deconstructing it. The recognition of this vast difference is in no way self-defeating. It merely acknowledges the present balance of forces. How much further research, investment, redefinition of the field, and transformation of what counts as an acceptable argument are necessary to make this account more plausible than its alternatives? (LL, S. 285) Dieser Schlusssatz bringt die Hoffnung der Autoren zum Ausdruck, dass weitere Forschung die in ihrem Buch eingenommene Perspektive auf den wissenschaftlichen Prozess als überzeugender denn jene der an ihm beteiligten Wissenschaftler erweisen werde (LL, S. 285). In den 80er Jahren des 328 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus 20. Jahrhunderts schien diese Hoffnung tatsächlich noch durchaus berechtigt zu sein. Ich habe Latours und Woolgars Werk einigermaßen ausführlich dargestellt, um dem Leser einen Einblick in das Vorgehen der Verfechter der Social Studies der Wissenschaft zu geben. Ich hoffe, es ist dadurch ersichtlich geworden, dass diese Studien oft, wenn auch nicht immer, eher eine Karikatur als eine wirklich unvoreingenommene Untersuchung des wissenschaftlichen Prozesses waren, was nicht zu der Meinung verleiten sollte, dass ihre Schlussfolgerungen allesamt falsch seien. Bekanntlich ist es möglich, aufgrund falscher Prämissen zu richtigen Schlüssen zu gelangen. Reaktion: Higher Superstition Nach den bahnbrechenden Werken von Bloor sowie Latour und Woolgar folgte eine wahre Lawine ähnlicher Publikationen (in chronologischer Reihenfolge): Karin Knorr-Cetinas The Manufacture of Knowledge. An Essay on the Constructivist and Contextual Nature of Science (1981), Michael Lynchs Art and Artifact in Laboratory Science: A Study of Shop Work and Shop Talk in a Research Laboratory (1985), Bruno Latours Science in Action (1987), Steve Fullers Social Epistemology (1988), Helen Longinos Science as Social Knowledge (1990), Harry Collins und Trevor Pinchs The Golem. What Everyone Should Know About Science (1993), Barry Barnes, David Bloor und John Henrys Scientific Knowledge: A Sociological Analysis (1996), um nur einige der prägendsten Publikationen zu nennen. Sie alle kamen zu ähnlichen Ergebnissen in Bezug auf den Charakter der Wissenschaft. Ein neues Forschungsfeld und eine neue wissenschaftliche Disziplin waren geboren: Science, Technology and Society bzw. Science and Technology Studies (STS). Bereits 1975 wurde in den Vereinigten Staaten die Society for Social Studies of Science gegründet, die über eigene Zeitschrift (Science, Technology, and Human Values) verfügt. In Europa wurde 1981 eine ähnliche Institution ins Leben gerufen, die European Association for the Study of Science and Technology (EASST), deren Ziel es war „ to stimulate communication, exchange and collaboration in the field of studies of science and technology “ . Die European Inter-University Association on Society, Science and Technology verfolgt vergleichbare Absichten, Schwesterinstitute wurden auch in Asien gegründet. Es kann nicht überraschen, dass die oben zitierten Behauptungen der Befürworter des „ starken Programms “ wie auch allgemeiner der Soziologen der Wissenschaft in den Kreisen der „ orthodoxen “ (Natur-)Wissenschaftler auf Unverständnis, wenn nicht auf Ablehnung oder sogar Hohn stießen. Wenn sie sie überhaupt wahrnahmen: Es ist kein Geheimnis, dass ein Naturwissenschaftler kaum die Zeit hat, neben seinen Tätigkeiten als Forscher und Lehrer philosophische oder soziologische Bücher zu lesen, die für seine professionelle Tätigkeit irrelevant scheinen. Man kann sie getrost ignorieren. Diese Situation veränderte sich jedoch Anfang der 90er Jahre. 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 329 Im Jahr 1990 initiierte der konservative amerikanische Politiker, Kolumnist und Autor Pat Buchanan seine Kampagne für die republikanische Nominierung für die Präsidentschaftskandidatur der Vereinigten Staaten gegen Bill Clinton/ Al Gore von der Demokratischen Partei (und gegen den amtierenden republikanischen Präsidenten George Bush). Während der Republican National Convention 1992 erhielt er die Gelegenheit, die sog. prime-time speech zu halten, die oft „ culture war speech “ genannt wird. In seiner Rede griff Buchanan Bill Clinton und Al Gore scharf an, indem er u. a. behauptete, dass die beiden die größte Plattform für die Pro-Lesbian- und Pro-Homosexuellen-Bewegung in der Geschichte der Vereinigten Staaten bildeten, und stellte fest: „ There is a religious war going on in our country for the soul of America. It is a cultural war, as critical to the kind of nation we will one day be as was the Cold War itself. “ Neben seiner Kritik an „ Umweltextremisten “ und „ radikalem Feminismus “ , stellte er fest, dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Moral (was immer er unter diesem Begriff verstand) die zentrale Aufgabe des künftigen Amerika sei: The agenda [Bill] Clinton and [Hillary] Clinton would impose on America - abortion on demand, a litmus test for the Supreme Court, homosexual rights, discrimination against religious schools, women in combat - that ’ s change, all right. But it is not the kind of change America wants. It is not the kind of change America needs. And it is not the kind of change we can tolerate in a nation that we still call God ’ s country. 208 Dies war eine Art Ruf zu den Waffen im Kampf gegen die - vermeintliche oder reale - Zunahme der Kräfte des linken Lagers. In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass die soziologische, anthropologische und auch feministische Kritik der orthodoxen Wissenschaft 209 als ein wichtiges Element dieses Lagers betrachtet wurde. Nur ein Jahr später, 1993, kam es dann zu dem epochalen Beschluss des amerikanischen Kongresses, die Finanzierung des Supercolider-Projekts (das amerikanische Äquivalent des heutigen LHC in Genf) zu stoppen. Dieser Beschluss wurde als Zeichen gewertet, dass der seit dem Kalten Krieg geltende ungeschriebene Kontrakt zwischen amerikanischer Regierung und Wissenschaft seine Gültigkeit verloren hat (Ross 1996, S. 7). Dies beunruhigte verständlicherweise die amerikanische scientific community, welche zum großen Teil auf die öffentliche Finanzierung angewiesen ist. Sie fühlte sich dazu gedrängt, ihren Ruf zu verteidigen. 1994 veröffentlichten deshalb der Biologe Paul R. Gross, emeritierter Professor für Life Sciences an der Universität von Virginia, und Norman Levitt (1943 - 2009), Professor für Mathematik an der Rutgers- Universität (NJ), das Buch Higher Superstition. The Academic Left and its Quarrels With Science (Gross und Levitt 1994), das als Schlachtruf im Kampf gegen die linke Kritik der Wissenschaft 208 Rede gehalten am 17. 8. 1992 (http: / / web.archive.org/ web/ 20071018035401/ http: / / www.buchanan.org/ pa-92-0817-rnc.html heruntergeladen am 29. 1. 2014) 209 Wir werden auf diese Kritik ausführlicher im nächsten Abschnitt eingehen. 330 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus gelten kann. Die Zielsetzung des Buches war es, vermeintliche postmoderne und andere Torheiten in Kultur- und Wissenschaftsforschung sowie die zunehmende Politisierung der Wissenschaft bloßzustellen. Gross und Levitt taten dies eher unzimperlich als „ distanziert, objektiv-wissenschaftlich “ . So prangerten sie z. B. summarisch „ [t]he relativism of the social constructionists, the sophomoric skepticism of the postmodernists, the incipient Lyssenkoism of the feminist critics, the millennialism of the radical environmentalists, the racial chauvinism of the Afrocentrics “ usw. an (Gross und Levitt 1994, S. 252). Die Hauptargumente von Gross und Levitt lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1) Es gibt eine Gruppe von Kritikern der Wissenschaft, welche man als die „ akademische Linke “ bezeichnen kann und die direkten Nachkommen der Marxisten und marxistischen Neulinken der 60er Jahre sind. Ihr Programm der Entwertung der Wissenschaft ist nichts anderes als eine Verlängerung und Erweiterung der Versuche, die bürgerliche Gesellschaft zu destabilisieren; diese Versuche sind politisch gescheitert, bestünden aber im intellektuellen Leben fort. 2) Viel Unsinn ist von der „ akademischen Linken “ über Wissenschaft geschrieben worden. Ihre Kritik, dass die Inhalte und Methoden der Wissenschaft kulturell voreingenommen sind, sich z. B. gegen feministische Werte oder gegen Nichteuropäer richten und ein Werkzeug der Unterdrückung von Randgruppen sind, entspringt im Grunde einem Hass gegenüber der Wissenschaft. Überdies behaupten diese Kritiker, dass Wissenschaft nichts anderes als eine Sprache ist und wissenschaftliche Texte wie andere auch unterschiedliche Dinge zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten bedeuten können. Somit bestreiten solche Kritiker die objektive Realität der materiellen Welt, welche von der Wissenschaft beschrieben wird. 3) Wissenschaft ist ein primär durch die Wirklichkeit, nicht durch die Kultur, Politik, Wirtschaft usw. gesteuertes Unternehmen. Sie funktioniert nicht so, wie es die Kritiker der Wissenschaft unterstellen. 4) Wissenschaft ist eine Ansammlung von Praktiken, welche entwickelt wurden, um ein objektives Bild der Naturwelt zu entwerfen. Wissenschaftler können selbstverständlich wie alle anderen Fehler machen, aber wissenschaftliche Ergebnisse, die die Probe der Zeit bestanden haben, sind tatsächlich „ der Natur eingeschrieben “ . Überdies ist Wissenschaft gut für die Menschen. Sie ist die einzige Methodologie, um Erkenntnis zu produzieren, und sie der einzige Weg, die Probleme der Welt zu lösen. Die Unterdrückten dieser Welt wollten Wissenschaft und profitierten von ihr. Deshalb raten die Autoren des Buches den Wissenschaftlern dringend, sich dem Druck zu widersetzen, an den Universitäten Kurse einzuführen, welche den Vorstellungen der „ akademischen Linken “ entsprechen ( „ feministische “ Kurse in Biologie, „ afrozentrische “ Kurse in Mathematik usw.), obwohl solche Bestrebungen oft von ranghohen Mitgliedern des akademischen Establishments enthusiastisch unterstützt werden. Die Autoren bringen ihre Kritik auf folgenden Nenner: „ Science does not work the way the critics 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 331 say it works, and the program of reforms mooted by the critics will turn it into something other, and less than, science “ (Gross und Levitt 1994, S. 251). Der Publikation von Higher Superstition folgte eine Reihe von in den Medien stark beachteten Konferenzen, hinter denen sich die Absicht verbarg, eine breite Koalition von Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften für den Kampf gegen die Bedrohung zu schmieden. Die größte Aufmerksamkeit gewann eine Tagung, die im Juni 1995 von der New Yorker Academy of Sciences unter dem Titel „ The Flight from Science and Reason “ veranstaltet wurde und sich gegen eine lange Reihe von - in den Augen der Veranstalter - gefährlichen Bedrohungen der Vernunft richtete: den wissenschaftlichen Kreationismus, New-Age-Alternativen und -Kulte, Astrologie, Ufologie, radikale Wissenschaftsbewegung, Postmodernismus, Science Studies. Diese Bewegungen wurden sogar in die Nähe der „ arischen Wissenschaft “ und des Lyssenkoismus gebracht (Ross 1996, S. 8). Einer der Koorganisatoren dieser Konferenz, der Harvard-Physiker Gerald Holton, warnte in seinem 1993 veröffentlichten Buch Science and Anti-Science, die antiwissenschaftlichen Ressentiments erinnerten an das „ Beast that slumbers below “ 210 (zitiert in Ross 1996, S. 9). Und auch in den Opposite Editorials der Zeitungen in den Vereinigten Staaten kam es zu einer spürbaren Zunahme von Horrorgeschichten über die antiwissenschaftliche Bewegung. Science Wars Die Kritiker der orthodoxen Wissenschaft ließen sich jedoch nicht einschüchtern. Sie waren nicht bereit, als Sündenböcke für den Rückgang der staatlichen Finanzierung der Wissenschaft und die Erosion des öffentlichen Vertrauens in die Forschung herzuhalten. Naturwissenschaftler, Soziologen, Anthropologen, Historiker wie auch Vertreter der Kultur- und Literaturwissenschaften vereinigten ihre Kräfte, um der Herausforderung der Konservativen Stirn zu bieten. So entstand 1996 der Sammelband Science Wars (Ross 1996), in welchem 19 Akademiker, fast ausschließlich Professoren an verschiedenen amerikanischen wie auch englischen Universitäten, ihre Kritik der Wissenschaft wie auch ihr Recht, diese Kritik zu äußern, verteidigten. Andrew Ross, Professor und Direktor des American Studies Program an der New York University und Herausgeber des Bandes, beharrt in seiner Einführung auf der Berechtigung der Kritik an der orthodoxen Wissenschaft. Diese stelle sich dar als eine belagerte und isolierte Minderheit von Wahrheitssuchern, welche lediglich mit objektiven Denken bewaffnet der Flut des Aberglaubens Einhalt gebiete. Die Kluft zwischen diesem Bild und der Wirklichkeit sei atemberaubend, schreibt Ross. Seit über einem Jahrhundert verwandle sich Wissenschaft in eine kommerzielle Produktionsstätte, die durch die zunehmende Proletarisierung ihrer „ Arbeitskräfte “ gekennzeich- 210 Ross entlehnt den Ausdruck aus Holtons Science and Anti-Science (Holton 1993, S. 184). 332 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus net sei. Die überwältigende Mehrheit der heutigen professionellen Wissenschaftler sei nichts anderes als Industriearbeiter, die technisches Wissen und nicht veröffentlichte Forschungsresultate hervorbrächten (Ross 1996, S. 9). Die Forschungs- und Produktionswissenschaft sei durch die führenden Waffen-, Chemie-, Biotechnologie-, Energie- und Mikroelektronikindustrie dominiert. Und im Gegensatz zu allen schönen Reden vom Streben nach Volksaufklärung seien Geheimhaltung und Wettbewerb die treibenden Kräfte der Forschung, sei es im Namen der nationalen Sicherheit, des Unternehmensgewinns oder der beruflichen Anerkennung (Ross 1996, S. 10). Selbst an den amerikanischen Forschungsuniversitäten, wo der Mythos der „ wertfreien “ Wissenschaft am lebendigsten sei, schreibt Ross weiter, entscheide nicht die reine Wahrheitssuche, sondern die Regeln des Patentschutzes zunehmend darüber, wo der öffentliche Austausch der wissenschaftlichen Informationen ende und wo das Prinzip der Produktentwicklung und Monopolkontrolle über Gewinne das Steuer übernehme. Während der Ära des Kalten Krieges sei es der nationale Sicherheitsstaat gewesen, der vom Lippenbekenntnis zur wertfreien Objektivität profitierte. Heute sei es eher eine Biochemie-Firma, die die Hosentaschen der Molekularbiologen mit Geld füllt. Ross war ziemlich kompromisslos in seinen Ausführungen, er prangerte die merkantile Orientierung mancher Wissenschaftler direkt an. Seine Worte haben nach zwanzig Jahren nichts an Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil: Heute haben wir Kenntnis von vielen Privatfirmen, die von Forschern der Biowissenschaften nicht in der Absicht gegründet wurden, Wissen zu mehren, sondern um aus ihren Forschungen Geld zu schlagen. Es klingt deshalb fast prophetisch, wenn man bei Ross liest: It is no coincidence that this is the same field where the Holy Grail myth of a unified theory of knowledge is thriving, as the search for a genetic „ code of codes “ in the Human Genome Project feeds the old alchemists ’ romance of unlocking the secrets of the natural world. With late-twentieth-century science so compromised, industrialized, and commodified, the militant resurgence of belief in its pristine truth claims is not hard to understand. But the crusaders behind the Science Wars are not about to throw the moneylenders out of the temple. Their wrath is aimed, above all, at those who show how the temple was built, and how its rituals are maintained - the constructionist academic left. [. . .] (Ross 1996, S. 10) Die Ziele der verschiedenen Gruppierungen, die der orthodoxen Wissenschaft kritisch gegenüberstehen, waren jedoch recht unterschiedlich (Ross 1996, S. 11). Einigen ging es einfach um eine angemessene wissenschaftliche Beschreibung der empirischen Praxis. Andere stellen sich ambitioniertere Ziele: Sie wollten, dass die Wissenschaft ihr ramponiertes Image aufpoliere, indem sie sich vom internen Missbrauch und externen Unreinheiten befreit. Wieder andere wollten die Wissenschaftler davon überzeugen, dass sie selbstkritischer in Bezug auf die politischen Dimensionen und sozialen 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 333 Quellen ihrer Forschung werden und sich für die Bekämpfung von Risiken und Ungerechtigkeiten, die die Nebenprodukte der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung seien, einsetzen. Noch radikalere Kritiker wollten neue wissenschaftliche Methoden entwickeln, die in den sozialen Bedürfnissen der konkreten Gemeinschaften verwurzelt und den sozialen Interessen gegenüber rechenschaftspflichtig sind - nicht den Managereliten, der Regierung und dem Militärsektor, sondern breiten Schichten der Gesellschaft (ebd.). Das Resultat der Überprüfung der wissenschaftlichen Wissensproduktion durch die verschiedenen kritischen Gruppierungen war nach Ross eine wissenschaftlichere Beschreibung der „ science in action “ , eine Beschreibung, die den Mythos von der Wertfreiheit der Wissenschaft destruiert. Als die zentrale Errungenschaft dieser Kritik erachtet Ross die Einsicht, dass es im Gegensatz zu den Behauptungen des logischen Empirismus (Ross gebraucht an dieser Stelle den unscharfen Begriff „ positivism “ ) eigentlich keine entscheidenden Unterschiede zwischen der Wissenschaft und einer beliebigen anderen sozialen Tätigkeit gebe: „ [T]here [is] nothing distinctive to differentiate science form any other social activity “ (ebd., S. 13). Die Sokal-Affäre Der Band Science Wars ist eine erweiterte Fassung der Sondernummer der Zeitschrift Social Text (Ross 1996, S. 14), einer von der Duke University Press herausgegebenen akademischen Zeitschrift, die sich seit ihrer Gründung im Jahr 1979 mit einem breiten Spektrum sozialer und kultureller Phänomene befasst. Die von ihr behandelten Themen umfassen u. a. Gender, Sexualität, Rasse, Umwelt, Feminismus, Marxismus, Neoliberalismus und Postmodernismus. In derselben Sondernummer veröffentlichten die Herausgeber von Social Text einen ihnen von Alan Sokal, Physikprofessor an der Universität New York, zugespielten Artikel mit dem Titel Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity, der ohne inhaltliche Verbindung mit dem Hauptthema des Heftes war. Sie haben diesen Schritt bereut. Der Anfang von Sokals Artikels ist es wert, wörtlich zitiert zu werden: There are many natural scientists, and especially physicists, who continue to reject the notion that the disciplines concerned with social and cultural criticism can have anything to contribute, except perhaps peripherally, to their research. Still less are they receptive to the idea that the very foundations of their worldview must be revised or rebuilt in the light of such criticism. Rather, they cling to the dogma imposed by the long post-Enlightenment hegemony over the Western intellectual outlook, which can be summarized briefly as follows: that there exists an external world, whose properties are independent of any individual human being and indeed of humanity as a whole; that these properties are encoded in “ eternal ” physical laws; and that human beings can obtain reliable, albeit imperfect and tentative, knowledge of these laws by hewing to the “ objective ” procedures and epistemological strictures prescribed by the (so-called) scientific method. 334 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus But deep conceptual shifts within twentieth-century science have undermined this Cartesian-Newtonian metaphysics; revisionist studies in the history and philosophy of science have cast further doubt on its credibility; and, most recently, feminist and poststructuralist critiques have demystified the substantive content of mainstream Western scientific practice, revealing the ideology of domination concealed behind the façade of “ objectivity ” . It has thus become increasingly apparent that physical “ reality ” , no less than social “ reality ” , is at bottom a social and linguistic construct; that scientific “ knowledge ” , far from being objective, reflects and encodes the dominant ideologies and power relations of the culture that produced it; that the truth claims of science are inherently theory-laden and self-referential; and consequently, that the discourse of the scientific community, for all its undeniable value, cannot assert a privileged epistemological status with respect to counter-hegemonic narratives emanating from dissident or marginalized communities. (Sokal 1996, S. 1f.) Wie sich später herausstellte, wurde der Artikel für die Publikation akzeptiert, ohne einen Peer-Review-Prozess durchlaufen zu müssen (die Zeitschrift verwendete ein solches Verfahren damals nicht). Kurz nach der Veröffentlichung seines Artikels gab Sokal in einer anderen Zeitschrift (Lingua Franca) bekannt, dass sein Text eine Ente war, „ a pastiche of left-wing cant, fawning references, grandiose quotations, and outright nonsense . . . structured around the silliest quotations [by postmodernist academics] he could find about mathematics and physics “ (Sokal 1996 a). In der Tat finden sich schon auf der ersten paar Seiten des Artikels absurde Behauptungen, die jedoch ihre Absurdität durch Hinweise auf oft völlig fiktive Literaturquellen kaschieren, oder aber die Quelle war authentisch und die Aussage, die ihr zugeschrieben wurde, war völlig aus der Luft gegriffen. Dabei war der Artikel um die „ dümmsten Zitate “ ( „ silliest quotes “ ) strukturiert, womit Sokal jene Aussagen meinte, welche 1) sinnlose oder absurde Behauptungen enthielten; 2) durch (vermeintlichen) Bezug auf anerkannte Autoritäten zu beeindrucken versuchten; 3) falsche Belesenheit zur Schau stellten und 4) sonst einfach schlampiges Denken aufwiesen (Sokal 2001, S. 17). Sokal stellt in Lingua Franca heraus, dass seine Methode zwar die der Satire gewesen sei, er aber ein durchaus ernstes Anliegen verfolgt habe. Der Artikel ist der Sorge angesichts des Umsichgreifens von schlampigem Denken in gewissen Segmenten der amerikanischen Akademia entsprungen, eines Denkens, unter welchem er vor allem Positionen versteht, die die Existenz einer objektiven Realität leugnen. Sokal schreibt: In short, my concern over the spread of subjectivist thinking is both intellectual and political. Intellectually, the problem with such doctrines is that they are false (when not simply meaningless). There is a real world; its properties are not merely social constructions; facts and evidence do matter. What sane person would contend otherwise? And yet, much contemporary academic theorizing consists precisely of attempts to blur these obvious truths - the utter absurdity of it all being concealed through obscure and pretentious language. (Sokal 1996 a) 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 335 Einige Jahre später hält er fest, dass sein freches Experiment Gutes bewirkt habe, indem es aufgezeigt habe, dass zumindest Teile der akademischen Linken intellektuell faul geworden seien: The results of my little experiment demonstrate, at the very least, that some fashionable sectors of the American academic Left have been getting intellectually lazy. The editors of Social Text liked my article because they liked its conclusion: that „ the content and methodology of postmodern science provide powerful intellectual support for the progressive political project “ [. . .]. They apparently felt no need to analyze the quality of the evidence, the cogency of the arguments, or even the relevance of the arguments to the purported conclusion. (Sokal 2000, S. 50) After the Science Wars Die Sokal-Affäre schlug hohe Wellen und weckte ein großes mediales Interesse, das ziemlich schädlich für die Kritiker der Wissenschaft war. Ross schreibt hingegen in seiner Einführung zu Science Wars (veröffentlicht 1996! ), dass sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf marginale Schwächen lenkte und von den berechtigten Anliegen der Kritiker der Wissenschaft ablenkte (Ross 1996, S. 14). Bereits einige Jahre später hatte sich der Staub gelegt und die beiden Lager standen sich viel versöhnlicher gegenüber. 2001 ist das Sammelwerk After the Science Wars (Ashman und Baringer 2001) erschienen, das die Vertreter der beiden Fraktionen unter einem Hut vereinigt mit der Absicht, „ to move the debate from its stalemate to a more fruitful dialogue “ (Umschlag). Als ein Zeichen der Annäherung mag gelten, dass die Hauptanliegen beider Lager eine gemeinsame Plattform finden. Auf der einen Seite schreibt Sokal, dass es als selbstverständlich gelten muss, dass es objektive wissenschaftliche Erkenntnis gibt: „ After all, the only reason why nuclear weapons are a danger to anyone is that the theories of nuclear physics on which their design is based are, at least to a very high degree of approximation, objectively true “ (Ashman und Baringer 2001, S. 25). Auf der anderen Seite plädiert im gleichen Band der einflussreiche amerikanische Soziologe und Philosoph Steve Fuller, der gegenwärtig an der Universität von Warwick (England) lehrt, für die Wiederverzauberung ( „ reenchantment “ ) der Wissenschaft (Fuller 2001, S. 183 - 208), und der berühmte amerikanische Gelehrte und Science-Fiction-Autor James Gunn, emeritierter Professor für Englische Literatur an der Universität von Kansas und dort Gründungsdirektor des Gunn Center for the Study of Science Fiction, schreibt in einem fiktionalen Beitrag, der die Konversion eines orthodoxen materialistischen Arztes zu einem Befürworter des geistigen Heilens darstellt, dass die Wissenschaft am Ende sei und die Zeit der Magie beginne: [I]t means that medicine and science are finished. All science can offer is justice. Science has much to answer for, including its neglect of mercy [. . .]. Science created democracy and affluence and individual choice. Now the magic has come back and the world is going to be changed beyond recognition [. . .]. (Gunn 2001, S. 220) 336 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Das interessanteste Zeichen der Annäherung der beiden Lager, die After the Science Wars dokumentiert, ist wohl die Feststellung Sokals, es gebe keine substanziellen Unterschiede zwischen der Wissensgewinnung der institutionellen Wissenschaft und jener des Alltags: The bottom line, it seems to me, is that there is no fundamental “ metaphysical ” difference between the epistemology of science and the epistemology of everyday life. Historians, detectives, and plumbers - indeed, all human beings - use the same basic methods of induction, deduction, and assessment of evidence as do physicists or biochemists. Modern science tries to carry out these operations in a more careful and systematic way - using controls and statistical tests, insisting on replication, and so forth - but nothing more. (Sokal 2001, S. 24) Diese Feststellung entspricht genau dem, was Ross als die zentrale Errungenschaft der soziologischen (und anderer) Kritik der herrschenden Wissenschaft betrachtete: „ [T]here [is] nothing distinctive to differentiate science form any other social activity “ (Ross 1996, S. 13, vgl. oben). Der Stand heute Heute ist die Sokal-Affäre fast vergessen. Nicht allein, dass die Erinnerung an sie mit den Jahren verblasst ist: Sie wurde auch von vielen anderen Skandalen um Unehrlichkeit und Betrug im Wissenschaftsbetrieb überschattet. Wir werden auf diese Probleme weiter unter ausführlicher eingehen. An diese Stelle wollen wir nur darauf hinweisen, dass manche der jüngsten Affären gezeigt haben, dass nicht nur Social Text, sondern auch die renommierten, ja die renommiertesten Peer-Review-Zeitschriften (Nature, Science) nicht immun gegen Manipulation und Betrug sind. Der Staub der Kämpfe hat sich also gelegt, aber das Problem ist nicht verschwunden. Im Gegenteil: Das Feld der Science und Technology Studies scheint eher zu wachsen, als vom Verschwinden bedroht zu sein. Diese Disziplin verfügt heute über eine Anzahl von Peer-Review-Zeitschriften: Social Studies of Science; Science, Technology and Human Values; Science & Technology Studies; Technology in Society; Research Policy; Minerva: A Review of Science, Learning and Policy; Science, Technology and Society; Science as Culture; Technology and Culture; and Science and Public Policy. 2011 wurden insgesamt 111 STS-Programme in der ganzen Welt gezählt. 211 Mehr noch, die Pioniere dieser Bewegung können behaupten, dass sie einen wichtigen Sieg errungen haben: Der Einfluss der sozialen Komponenten auf die Produktion des wissenschaftlichen Wissens ist heute unbestritten. Dies wird gegenwärtig sogar von den Verfechtern der These von der Objektivität der Wissenschaft zugegeben. So stellen z. B. Curd und Cover fest, dass die sog. kognitiven Werte (Wahrheit, ungefähre Wahrheit, die Nähe zur Wahrheit, die Vorhersagegenauigkeit, Übereinstimmung mit Daten, Einfachheit, Einheit- 211 Vgl. den Artikel Science, technology and society in Wikipedia http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Science_technology_and_society (heruntergeladen am 31. 1. 2014). 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 337 lichkeit, Erklärungskraft usw.) Einfluss auf die Wissenschaft nehmen (Curd und Cover 1998, S. 210), wobei es als unbestritten gilt, dass diese Werte zumindest zum Teil sozial situiert sind (vgl. z. B. Longino 1996). Und die Autoren von Higher Superstition geben uneingeschränkt zu, dass zumindest die Fragen, die sich die Wissenschaft stellt, die Interessen der Gesellschaft widerspiegeln (Gross und Levitt 1994, S. 43). Wir werden im letzten Abschnitt dieses Kapitels die Auffassung von Philip Kitcher, einem Vertreter des konservativen Lagers in dieser Diskussion, kennen lernen, die man einerseits als eine reife Frucht der Schlachten der „ science wars “ und andererseits als typisch für die heutige - „ orthodoxe “ - Betrachtungsweise einstufen kann. Kitcher zeigt, dass sich die soziologische Bedingtheit der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung durchaus in eine Theorie der Wissenschaft einbauen lässt, ohne dass diese Bedingtheit zwingend zur Unterminierung des Wertes der Wissenschaft führen muss. Auf der anderen Seite scheint es berechtigt zu sagen, dass die extremsten Behauptungen der Verfechter der Social Studies - wissenschaftliche Erkenntnis habe mit der Erforschung der Natur nichts zu tun, sie sei bloß eine menschliche Konstruktion usw. - in den Hintergrund des Diskurses gerieten und in der Mainstream-Wissenschaft so gut wie keine Rolle spielen. Und obwohl es nicht zu bestreiten ist, dass in manchen Fällen die wissenschaftlichen Resultate weniger „ sauber “ sind, als sie es behaupten, hat sich der pauschale Vorwurf als unbegründet erwiesen, dass die Wissenschaft ihre Macht bloßer Täuschung und geschickter Manipulation verdankt. Die Gegner der Wissenschaft begingen in dieser Hinsicht einen gravierenden methodologischen Fehler: Sie versuchten gewöhnlich, anhand konkreter Beispiele „ unsauberer “ wissenschaftlicher Praktiken die Verallgemeinerung zu untermauern, dass die Wissenschaft als solche unsauber sei. Doch selbst wenn die ausgewählten Beispiele durchaus überzeugend sind, reichen sie nicht aus. Man müsste zeigen, dass es keine Forschung gibt, welche „ sauber “ (nach anerkannten Regeln) verläuft, oder zumindest, dass „ saubere “ Forschung lediglich eine Ausnahme von der realen wissenschaftlichen Praxis ist. Eine solche Behauptung zu begründen, ist jedoch bedeutend schwieriger, als einzelne Fälle der Unsauberkeit zu dokumentieren. Darüber hinaus verwickeln sich die Soziologen der Wissenschaft, wenn sie die Zuverlässigkeit der wissenschaftlichen Methode unterminieren und gleichzeitig als ihre Intention angeben, die Wissenschaft wissenschaftlich studieren zu wollen (KSI, S. 4), in den bekannten performativen Selbstwiderspruch des Skeptizismus: Die Behauptung, es gebe keine (sichere) Erkenntnis, widerlegt sich selbst. 212 Ein Ausweg aus diesem Problem der Befürworter des soziologischen Relativismus wäre zu behaupten, dass zwar die konventionelle Wissenschaft keine sicheren Resultate zu liefern vermag, ihr Ansatz aber 212 Ich habe darauf bereits in der Diskussion von Bloors „ strong programme “ wie auch von Latours und Woolgars Laboratory Life hingewiesen. 338 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus genau dieses leistet. Um einer solchen Behauptung Plausibilität zu verleihen, würden sie aber zeigen müssen, worin die unterstellte Überlegenheit ihrer Methoden besteht, und eine solche Demonstration der Vorteile ihrer Methode fehlt, soweit mir bekannt ist, bis heute völlig. 213 Dennoch: Selbst wenn die extremen Behauptungen in Bloors „ starkem Programm “ (z. B. die angestrebte Symmetrie der Erklärung der wahren bzw. rationalen und unwahren bzw. irrationalen Überzeugungen oder seine Annahme, dass jegliches Wissen ein Naturphänomen sei 214 ) heute nicht mehr glaubwürdig erscheinen, führt die Einbeziehung der unbestreitbaren Tatsache der sozialen Situiertheit der gängigen Erkenntnisgewinnungsmethoden zusammen mit der weiteren unbestreitbaren Tatsache ihres tiefgreifenden geschichtlichen Wandels zum Schluss, dass der Einfluss der sozialen Faktoren auf die Ergebnisse der erkenntnisgewinnenden Tätigkeiten nicht vernachlässigt werden darf. Die Faktizität dieses Einflusses scheint jedoch zwingend zur Relativierung des Wertes der gegenwärtigen Wissenschaft zu führen und fatale Folgen für die Möglichkeit der Erlangung von Objektivität - wenn diese stärker als bloße Intersubjektivität verstanden wird - zu haben: Soziale Umstände und Bedingtheiten verändern sich mit der Zeit, mit ihnen aber auch die Formen und die Inhalte des Wissens. Folglich erweist sich die Frage, welche Latour und Woolgar am Ende ihres Buches formulieren, als weiterhin berechtigt: „ How much further research, investment, redefinition of the field, and transformation of what counts as an acceptable argument are necessary to make this account more plausible than its alternatives? “ (LL, S. 285). Es kann nicht ausgeschlossen werden - besonders nachdem wir uns mit Kuhns bahnbrechenden Einsichten in Bezug auf den vergänglichen Charakter dessen, was als Wissenschaft gilt, abfinden mussten - , dass das, was heute für ein „ acceptable argument “ gehalten wird, in der Zukunft nicht als solches gelten wird und dass umgekehrt etwas, was heute als wissenschaftlich unzulässig gilt, in der Zukunft wissenschaftlich salonfähig sein wird. Wir werden demnächst eine Auffassung von Wissenschaft kennen lernen, 215 die diese Möglichkeit explizit zulässt. Eins ist indessen unumstritten: Nach allen Auseinandersetzung um den Einfluss der sozialen Komponenten auf den wissenschaftlichen Wissensgewinnungsprozess ist es bedeutend schwieriger geworden, die Wissenschaft als solche zu definieren und sie von der „ Pseudowissenschaft “ abzugrenzen. Wir werden uns diesem Thema demnächst widmen. Zunächst müssen wir aber noch andere Entwicklungen innerhalb des weiten Feldes der Wissenschaft anschauen, die aus dem Kollaps des logischen Empirismus hervorgegangen sind. 213 Vgl. Gross und Levitt 1994, S. 49, wie auch allgemein ihre Argumente gegen die soziologische Kritik der Wissenschaft, ebd., S. 42 - 70. 214 Bloor KSI, S. 5. 215 Vgl. das Kapitel „ Was ist Wissenschaft? Die Debatte um die Abgrenzung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft “ , dort Nicholas Reschers Auffassung der Wissenschaft. 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 339 3 b Feministische Wissenschaftstheorie 216 Sahen die Soziologen der Wissenschaft bzw. die Vertreter der Science-and- Technology-Studies-Bewegung den Haupteinwand gegen die Objektivität der wissenschaftlichen Forschung im Einfluss der sozialen Kräfte auf diesen Prozess, erhob eine andere Gruppe von Denkern oder genauer Denkerinnen einen anderen Vorwurf an die Adresse der Wissenschaft: Was als reine wissenschaftliche Objektivität und reine wissenschaftliche Rationalität gepriesen wird, sei im Grunde nichts anderes als eine Manifestation der Vorurteile der männlichen und weißen Minderheit der Menschheit, aber Mehrheit der Wissenschaftler, die über die Macht innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft verfüge. [Feminists] have shown that, in late-twentieth-century western philosophy, the circumstances of mature white men continue to generate prevailing ideal and norms of “ human nature ” , while the ideals of reason, objectivity and valueneutrality around which most mainstream theories of knowledge are constructed, like the knowledge they legitimate, tacitly validate affluent male experience and values. (Code 1998, S. 597) Simone de Beauvoir und Das andere Geschlecht Wollen wir das Anliegen der feministischen Kritik der Wissenschaft in einen Kontext stellen, so ist nicht nur darauf hinzuweisen, dass diese Kritik ein Teil der post-Kuhn ’ schen Welle der Problematisierung der etablierten Wissenschaft war, sondern auch daran zu erinnern, dass sie keineswegs die erste Infragestellung der Grundüberzeugungen der westlichen Kultur durch Frauen darstellte. Die Geschichte der feministischen Bewegung reicht viel weiter zurück als bis zu den 60er oder 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Sie wird oft in drei „ Wellen “ unterteilt (James 1998, S. 580 - 582): Die erste umfasst die zweite Hälfte des 19. und die erste des 20. Jahrhunderts und kann als primär auf die Erlangung von Stimmrecht für die Frauen ausgerichtet verstanden werden (Suffragetten). Diese Welle ebbte in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts ab, als die Frauen in den meisten westlichen Ländern, meistens nach dem ersten Weltkrieg und in Anerkennung der Rolle, die sie während des Krieges gespielt haben, das Stimmrecht erhielten (Russland 1917, Deutschland 1918, USA 1920, Großbritannien 1928; in der Schweiz aber erst 1971 und im Fürstentum Liechtenstein sogar erst 1984). Die zweite Welle setzte in den frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ein und dauerte bis in die späten 80er Jahre. In dieser Zeit erweiterte sich die Debatte von der Frage der politischen Rechte der Frauen zu einer Palette von Themen: die Stellung der Frau in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Sphäre der Reproduktion u. a. Die zweite Welle des Feminismus lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf 216 Dieser Abschnitt ist eine umgearbeitete und erweiterte Fassung der entsprechenden Passagen meiner Dissertation (vgl. Majorek 2002). 340 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus die Probleme der häuslichen Gewalt und der Vergewaltigung in der Ehe und bewirkte die Einrichtung von Frauenhäusern und der Vergewaltigungsberatung wie auch Veränderungen im Haft- und Scheidungsrecht, aber auch auf die Frage der Stellung der Frauen und ihrer Sicht auf die Wissensgewinnung und ihre Rolle in der wissenschaftlichen Forschungstätigkeit. Die dritte Welle setzte schließlich Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts ein und dauert bis heute. Der Übergang von der zweiten zur dritten Welle des Feminismus erfolgte, nachdem viele der Forderungen der zweiten Welle in Bezug auf die Gleichheit der Behandlung in der rechtlichen und institutionellen Umwelt erfüllt waren. Trotz dieser Errungenschaften meinen die Feministinnen der dritten Welle, dass weitere Veränderungen im Hinblick auf Geschlechterstereotypen, die Darstellung von Frauen in den Medien und in der Sprache nötig seien. Prägend für die zweite Welle des Feminismus, die sich von der Frage der politischen Rechte der Frau ab- und dem Problem der Stellung der beiden Geschlechter in der Gesellschaft zuwandte, war das 1949 veröffentlichte Werk Das andere Geschlecht (de Beauvoir 1968) von Simone de Beauvoir (1908 - 1986). Das andere Geschlecht stellte das bisherige Verständnis der Natur und der Rolle der Frau grundsätzlich in Frage und prägte die späteren Diskussionen um das Problem der Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern. Am Datum der Veröffentlichung von de Beauvoirs Werk ist abzulesen, dass wichtig für seine Entstehung die Erfahrung des 2. Weltkrieges war. Dieser Krieg war in einem viel stärkerem Maße als der 1. Weltkrieg dadurch gekennzeichnet, dass die an beiden Seiten kämpfenden Armeen sehr groß und die Verluste sowohl unter den Soldaten wie auch unter der zivilen Bevölkerung viel höher als im vorigen Krieg waren. Es wurde deshalb in einem im Vergleich mit dem 1. Weltkrieg wesentlich höherem Ausmaß während des Krieges wie auch nach seinem Ende notwendig, die männlichen Arbeitskräfte durch Frauen zu ersetzen, was noch deutlicher als während des 1. Weltkrieges augenscheinlich machte, dass Frauen durchaus andere Aufgaben erfolgreich wahrzunehmen fähig sind als diejenigen, welche ihnen bisher gewöhnlich zugewiesen wurden. Diese Lehre wurde nicht vergessen, auch als sich die demographische Lage nach dem Kriege wieder normalisierte. Sie erzeugte einen Druck auf die sozialen Strukturen und das Verständnis der Geschlechterrollen in der Gesellschaft, der seine volle Wirkung in den 60er und 70er Jahren entfaltete. Ein anderer Faktor, der bei der Verschiebung der Frauenrolle eine wesentliche, wenn auch m. E. bisher eher unterschätzte Rolle spielte, war der Umstand, dass die Frauen an den Grausamkeiten des Krieges keine Schuld trugen: Sie waren Opfer, nicht Täter der Gräuel. Diese Tatsache verlieh den Frauen eine gewisse moralische Überlegenheit. Das „ schwache “ Geschlecht im naturgemäßen Zusammenspiel und in der Balance zwischen den Kräften der Vernunft, der inneren Befindlichkeit, des Gewissens und der Reaktion auf die Bedürfnisse der Umwelt wies somit Stärken auf, die bis dahin nicht gebührend wahrgenom- 3 b Feministische Wissenschaftstheorie 341 men wurden und denen die alten gesellschaftlichen Strukturen keine Rechnung trugen. Im Lichte dieser Tatsachen verwundert es nicht, dass de Beauvoir ihre sehr umfangreiche und sehr gut dokumentierte Analyse der Lage der Frau kurz nach dem Ende des Krieges verfasste. De Beauvoir beschreibt darin die Entwicklung der Frauenrolle und der mit ihr verwobenen Mythen seit der Zeit der primitiven Gesellschaften bis in die Gegenwart sowie die Missdeutungen, welche den Frauen sowohl seitens der Psychoanalyse wie auch des Marxismus widerfahren sind. Im Laufe ihrer Analyse stellt sie die damals revolutionär klingende, seitdem mehrmals von den feministischen Autorinnen wiederholte Behauptung auf, dass dem vermeintlichen Charakter der Frau nicht durch eine leibliche Vorprägung zustande komme, sondern eine soziale Konstruktion sei: „ Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt. Die Gesamtheit der Zivilisation gestaltet dieses Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten, das man als Weib bezeichnet “ (de Beauvoir 1968, S. 547). 217 De Beauvoir macht eindringlich auf die Zerrissenheit der Frauenexistenz aufmerksam. Die Frau hat zwiespältige Empfindungen gegenüber dem Mann: Einerseits anerkennt sie seine Überlegenheit und bejaht sie, dass „ das Universum in seiner Gesamtheit dem Mann zugehört “ (ebd., S. 568). Deshalb sei der Mann für sie der Held und die Gottheit, dessen sexuelle Kraft und Erfolg sie bewundere. Auf der andern Seite sei er für sie auch „ ein Kind, ein zufälliger und verwundbarer Körper, er ist naiv, eine lästige Drohne, ein boshafter Tyrann, ein Egoist, ein Protz “ (ebd., S. 584). Den gleichen Zwiespalt erlebe aber die Frau auch ihrem Leib gegenüber: Auf der einen Seite sei dieser Leib etwas, was ihr eine Wirkungskraft, sogar Macht über die Männer verleihe, etwas, was sie auch verzückt im Spiegel betrachte, auf was sie stolz sei, was sie modelliere, schmücke, gerne zur Schau stelle. Auf der anderen Seite sei er ihr eine Last: „ Von der Gattung in Anspruch genommen, jeden Monat blutend, rein passiv sich fortpflanzend, bedeutet er ihr kein reines Werkzeug des Zugriffs auf die Welt, sondern eine undurchsichtige Gegenwart “ (ebd., S. 585). De Beauvoir macht aber auch auf gewisse seelische Eigenarten der Frau aufmerksam: Sie habe keinen Sinn für das Universelle, die Welt sei für sie ein „ Gewirr von Einzelheiten. Deshalb glaubt sie eher dem Gewäsch einer Nachbarin als einer wissenschaftlichen Feststellung “ (ebd., S. 583). Sie habe auch eine natürliche Affinität zur Magie, was de Beauvoir durch den Charakter der weiblichen Sexualität verständlich machen will, 218 217 In dieser Feststellung kann man die Wurzel der erst in den 70er Jahren popularisierten sog. Gender Studies erblicken. 218 „ Ihre passive Erotik enthüllt ihr das Begehren nicht als Wille und Drang, sondern als eine Anziehungskraft gleich jener, welche die Wünschelrute des Quellensuchers aus- 342 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus eine tiefe Naturverbundenheit, welche mit dem offensichtlich in Harmonie mit den Naturrhythmen fluktuierenden Charakter ihrer Fruchtbarkeit zusammenhängt (ebd., S. 569), schließlich ein tiefes religiöses Bedürfnis (ebd., S. 587). Wie ihr Verhältnis zu den Männern und zum eigenen Leib sei auch die Sphäre des religiösen Lebens für die Frau durch eine gewisse Doppeldeutigkeit gekennzeichnet: Einerseits ist diese Sphäre voll von Symbolen und der Realität der männlichen Macht (Gott als Vater, ausschließlich männliches Priestertum der katholischen Kirche), auf der anderen sei sie ein Ort, wo die Frau dem Manne ebenbürtig oder sogar überlegen sein kann: Ein aufrichtiger Glaube befreit das Mädchen von seinem Minderwertigkeitskomplex. Es ist nicht Mann und nicht Weib, sondern ein Geschöpf Gottes. „ Wenn [die Frau] im warmen Ofenwinkel ihren Rosenkranz betet, weiß sie sich dem Himmel näher als ihr Mann, der politischen Versammlungen nachläuft “ (ebd., S. 588). De Beauvoirs Analyse mündet in der Feststellung, dass, weil der Mann sich wesentlich mehr in der vorgefundenen Welt zu verwirklichen fähig sei als die Frau, die Frauen sich gegen ihre Situation, ihre Unfreiheit, ihre Unterdrückung auflehnen müssen: „ Das ist der einzige Weg, der denen offen steht [. . .]. Sie müssen die Grenzen ihrer Situation ablehnen und sich die Wege in die Zukunft zu eröffnen suchen. Resignation ist nur Abdankung und Flucht. Es gibt für die Frau keinen anderen Ausweg, als an ihrer Befreiung zu arbeiten. Diese Befreiung kann nur kollektiv sein und sie verlangt vor allen Dingen, dass die wirtschaftliche Lage der Frau sich zu Ende entwickelt “ (ebd., S. 592). Das Ideal der Beziehung zwischen Mann und Frau ist für de Beauvoir jedoch keine Umkehrung der vorgefundenen Lage und die Unterdrückung des männlichen Geschlechtes durch die Frauen. Es gehe darum, dass „ Mann und Frau jenseits ihrer natürlichen Differenzierungen rückhaltlos geschwisterlich zueinander finden “ (ebd., S. 681). De Beauvoirs Beobachtungen und Reflexionen wie auch ihre Forderungen haben die moderne feministische Philosophie maßgeblich beeinflusst (vgl. Craig 1998, S. 580). Feministische Kritik der Wissenschaft Die feministische Kritik der Wissenschaft kann, wie bereits erwähnt, als ein wichtiges Element der zweiten Welle des Feminismus betrachtet werden. Feministisch orientierte Philosophinnen wiesen damals auf Phänomene in der Wissenschaft hin, die bis dahin völlig vernachlässigt bzw. unsichtbar waren, und hinterfragten die Form, in welcher Wissenschaft praktiziert wurde. Als ein zentrales Problem bzw. eine zentrale Verzerrung des wissenschaftlichen Diskurses erachteten viele Philosophinnen, dass Wissenschaft schlagen lässt. Die bloße Gegenwart ihres Körpers lässt das männliche Geschlechtsteil anschwellen und sich hochrichten. Warum sollte nicht eine verborgene Quelle die Rute des Wünschelrutengängers zum Schwingen bringen? Sie fühlt sich von Wellen, Strahlungen, von einem Fluidum umgeben “ (ebd., S. 569). 3 b Feministische Wissenschaftstheorie 343 grundsätzlich androzentrisch sei (Haslanger 1993, S. 92, Nagl-Docekal 2000, S. 160 - 166). Ein anderer Vorwurf der feministischen Autorinnen an die Adresse der Wissenschaft lautete, dass sie sich der Geschlechtsblindheit schuldig mache, d. h., dass Auffassungen oder Eigenschaften, welche lediglich für Männer typisch sind, allgemeine Gültigkeit bekommen (Betzler 1998, S. 783, Nagl-Docekal ebd., S. 125 - 152). Eine Variante dieses Vorwurfs besagt, dass Frauen und ihre besonderen Probleme, Einstellungen, Bedürfnisse und Sichtweisen in den wissenschaftlichen Untersuchungen unsichtbar seien oder gemacht worden seien (Nagl-Docekal ebd., S. 128). Während also die Mainstream-Wissenschaft darum bemüht ist, die Sicherheit und Objektivität der Forschungsresultate dadurch zu gewährleisten, dass sie den Forscher bzw. die Forscherin mit seinen bzw. ihrer persönlichen Eigentümlichkeiten aus dem Fertigprodukt der Forschung, d. h. dem wissenschaftlichen Wissen, eliminiert, ihn bzw. sie gleichsam unsichtbar macht, will die feministische Erkenntnistheorie die Person des Forschenden gerade in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt damit die Frage „ Von wessen Erkenntnis sprechen wir? “ ( „ Whose knowledge are we talking about? “ , Code 1998, S. 597). Eine weitere oft vertretene These besagt, dass wissenschaftliche Rationalität Ausdruck des männlichen Herrschaftsdenkens sei (Keller 1986, S. 102, Nagl-Docekal 1996, S. 177 - 185) und dass das Ideal der Objektivität durch diese Ausrichtung auf Herrschaft „ vergiftet “ werde (Keller ebd., S. 122). Ein dieser These verwandter Vorwurf belastet die gängige Wissenschaft mit ihrer unberechtigten Forderung nach Ausschaltung und/ oder Abspaltung der Gefühle, der Emotionalität des Forschers/ der Forscherin (Nagl-Docekal 2000, S. 171; Meier-Seethaler, 1997, S. 303 - 310), was zur Objektivierung und/ oder Instrumentalisierung des Erkenntnisgegenstandes führe (Betzler 1998, S. 785; Keller ebd., S. 93). Es gelte, das Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaft zu hinterfragen (Betzler ebd. S. 792; Longino 1990, S. 62 - 102 und passim; Meier-Seethaler 1997, S. 313; Nagl-Docekal 1982, S. 234; Nagl-Docekal 1996, S. 170, 176; Nagl-Docekal 2000, S. 131, 146; Nelson 1990, S. 9 - 16 und passim; Scheman 1993, S. 205 - 206). Ferner wird moniert, dass man die Wichtigkeit der Fragestellung, auf der die Forschung basiert, vernachlässige, was zur Verkürzung der Legitimationsfrage führe (Fausto- Sterling 1988, S. 10; Keller 1986, S. 171; Lloyd 1996, S. 238; Nagl-Docekal 1982, S. 228, 237; Nagl-Docekal, 2000, S. 130 - 131), und dass die Kategorien der wissenschaftlichen Welterfassung nicht absolut seien, sondern sozial situiert (Betzler 1998, S. 785, 793; Nagl-Docekal 2000, S. 173; Weir 1997, S. 58 - 61). Einige Autorinnen machen darauf aufmerksam, dass die reale Komplexität und Multidimensionalität der Welt in der wissenschaftlichen Forschung verkürzt und verflacht werde, und stellen heraus, dass die scharfe Subjekt- Objekt-Trennung uneinlösbar sei (Betzler 1998, S. 790; Meier-Seethaler 1997, S. 313). Ebenfalls beanstandet wird, dass die gängige Wissenschaft eine Reihe wichtiger Einflüsse auf epistemische Prozesse ausblende oder unterschätze, so z. B. den Umstand, dass das Denken immer leiblich situiert sei (Nagl-Docekal 344 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus 2000, S. 176), weshalb das Geschlecht Wissensbildung und Wissensbegründung beeinflusse (Betzler 1998, S. 783; Code 1991, S. 27; Haraway 1991, S. 199 - 210; Lloyd 1995, S. 372f., 376), und dass sich Erkenntnisgewinn immer in einem sozialen (Betzler 1998, S. 789, 792f.; Nagl-Docekal 2000, S. 132) und zeitlichen/ kulturellen Kontext vollziehe, Lloyd 1996, S. 242), 219 dass er stets aus einem bestimmten Interesse (Code 1991, S. 142), von einer bestimmten Konzeption dessen, was wissenswert sei, ausgehe (Keller 1986, S. 178 - 180). Ein weiterer wichtiger Vorwurf ist, dass die Wissenschaft mit ihren Methoden in der männlichen Aggressivität verwurzelt sei (Nagl-Docekal 2000, S. 152 - 160). In diesem Zusammenhang wird oft Bezug auf Francis Bacon genommen, der das Verhältnis zwischen dem Wissenschaftler und der Natur als Herrschaftsverhältnis dargestellt habe. 220 Es ist kein Geheimnis, dass wir auch heute noch oft in der Begrifflichkeit der Herrschaft über die Natur denken. Feministische Kritik am Objektivitätsideal der Wissenschaft Es wäre naiv zu denken, dass unter den feministischen Philosophinnen Einstimmigkeit herrscht, weswegen die vorangehende Zusammenfassung wie auch die nachfolgende Diskussion nicht den Anspruch erheben können, die feministische Philosophie oder auch nur die feministische Erkenntnistheorie schlechthin darzustellen. Sie geben lediglich einige Gesichtspunkte wieder, welche von feministischen Autorinnen hervorgehoben wurden und welche für die vorliegende Untersuchung relevant sind. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Infragestellung des Begriffs der Objektivität bzw. ihrer gängigen Auffassung in der Mainstream-Wissenschaft durch die feministisch orientierten Philosophinnen (Nagl-Docekal 2000, S. 130). Im Folgenden werde ich mich diesem Aspekt der feministischen Erkenntnistheorie ausführlicher zuwenden. Das Ideal der Objektivität der Erkenntnis wird gewöhnlich so verstanden, dass es verlangt, dass der Forscher das Persönliche seines Wesens abstreift, sich von jeglicher emotionalen Beziehung zum Erkenntnisgegenstand befreit und seine Werte, für welche er in anderen Zusammenhängen vielleicht sogar zu sterben bereit wäre, ausklammert, um die Erkenntnisobjekte quasi wie ein Erkenntnisautomat kühl und distanziert zu betrachten. 221 In Anbetracht dieser Konnotationen ist es nicht überraschend, dass es in der Wissenschaft 219 Diese Sichtweisen kann man unter dem Begriff der „ sozialen Situiertheit des Wissens “ subsumieren. Vgl. Harding 1991, S. 138 - 163. 220 Ob diese Interpretation von Bacons Schriften, obschon weit verbreitet (vgl. Pesic 1999 für die lange Liste der Autoren und Autorinnen, die ihr huldigen), zutreffend ist, ist nicht unumstritten. So argumentiert Pesic, dass es Bacon nicht um die Folterung der Natur, sondern um eine Art Kampf des Wissenschaftlers mit ihr um die Wahrheit ginge (Pesic ebd.). 221 Ob man dieses Ideal tatsächlich so verstehen soll, werden wir im Kapitel „ Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals “ genauer untersuchen. 3 b Feministische Wissenschaftstheorie 345 und Philosophie oft Frauen sind, die zu den Vorkämpfern jener Gedankenrichtung gehören, welche Widerstand gegen diese Konzeption der Objektivität signalisieren und in ihr eine androzentrische Verzerrung erblicken. Es ist wohl unbestritten, dass Frauen die emotionale Dimension der Wirklichkeit allgemein für wesentlicher halten als Männer. Wenn aber Objektivität tatsächlich emotionale, gefühls- und beziehungsorientierte Aspekte der Weltauffassung ex definitione ausschließt und nur objektives Wissen als echtes Wissen gelten darf, droht jeglichem Ansatz, der die Welt aus der Perspektive der „ zur Emotionalität neigenden “ Frauen zu beschreiben sucht, dass er als „ Produktion des Nicht-Wissens “ disqualifiziert wird (Code 1991, S. 10). 222 Der Verdacht der Willkürlichkeit der gängigen Objektivitätsauffassung verdichtete sich, als sich schon bald nach der Geburt des feministischen Ansatzes in den 60er Jahren herausgestellte, dass die angeblich objektiven wissenschaftlichen Studien, welche die Problematik der Geschlechtsunterschiede tangierten, oft eklatante methodologische und logische Fehler und Einseitigkeiten zuungunsten der Frauen aufwiesen. 223 Diese Befunde führten ihrerseits zur Geburt der These vom prinzipiell männlichen Charakter der Vernunft (z. B. Nagl-Docekal 2000, S. 124 - 177; Nagl-Docekal 1996, S. 167 und passim; Bordo 1987, S. 97 - 117; Keller 1986, S. 101 und passim), weshalb die Philosophinnen manchmal vom „ malestream “ statt „ mainstream “ der Forschung sprechen (vgl. z. B. Code 1991, S. 12). Der Begriff der Objektivität mit seinen gewöhnlichen Konnotationen avancierte bald zum Brennpunkt der kritischen Aufmerksamkeit feministisch orientierter Philosophinnen (Betzler 1998, S. 784; Code 1991, S. 28; Keller 1986, S. 101; Nagl-Docekal 2000, S. 130). Die feministische Herausforderung an die Adresse der gängigen Auffassung der Objektivität (und allgemeiner: der objektiven Wissenschaft) kann man in zwei Schritte oder Stufen gliedern: Erstens geht es darum, die Quellen der (angeblich) androzentrischen Verzerrung des Begriffs offenzulegen; zweitens darum, Wege zur Überwindung der Misere darzustellen oder mindestens zu skizzieren. Den ersten dieser Schritte werde ich hier nicht behandeln 224 , ich wende mich direkt dem zweiten zu. Denn die von den feministischen Philosophinnen vorgeschlagenen Wege aus der Sackgasse der männlich dominierten Wissenschaft werden sich an einer späteren Stelle der vorliegenden Studie als relevant erweisen. 222 Eine andere Variante dieser Argumentation diskutiert Lloyd: Feministinnen verfolgen eine Ideologie, und zwar die Ideologie der Aufwertung der Frauen und ihrer Sicht der Welt in der Wissenschaft. Sich von einer Ideologie leiten zu lassen, widerspricht jedoch den Prinzipien der Objektivität, ergo können die Befunde der feministischen Forschung nicht (objektives) Wissen sein (Lloyd 1996, S. 244f.). 223 Vgl. Auswahl der relevanten Literatur in Nagl-Docekal 2000, S. 126, Anm. 4. 224 Der interessierte Leser kann diesen in Majorek 2002, S. 151 - 166 verfolgen. 346 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Auswege aus der Misere In der Situation der monierten androzentrischen und sonstigen Verzerrungen der Objektivität der Wissenschaft bzw. der Vernunft sehen sich die feministischen Philosophinnen nach Nagl-Docekal grundsätzlich vor drei alternative Handlungsstrategien gestellt. Man kann erstens davon ausgehen, dass die Verzerrung unausweichlich ist, und daraus den Schluss ziehen, dass die Wissenschaft oder allgemeiner die Vernunft als objektive Erkenntnisgewinnungsart zu verabschieden ist (Nagl-Docekal, S. 133f.). Wie jedoch Nagl- Docekal im Einklang mit Keller (Keller 1986, S. 189 - 191) m. E. zu Recht hervorhebt, liegt in dieser Strategie ein performativer Widerspruch: Die globale Infragestellung der argumentativen Strategien unterminiert die argumentative Kraft derer, welche eine solche Verzerrung festzustellen vermeinen. Eine zweite mögliche Strategie besteht darin, die für Frauen typischen Arten der Wissensgewinnung zur Geltung zu bringen (Harding 1991; Harding 1995; Nagl-Docekal 2000, S. 137 - 145). Diese Option hat mindestens zwei Varianten. Zum einen könnte behauptet werden, dass die weibliche Erkenntnisweise besser als die männliche sei. Verzichtet man darauf, resultierte daraus ein gefährlicher relativistischer Zug: In der gegenwärtigen Situation anerkannter Pluralität verschiedener Kulturen und Lebensformen könnte jede von diesen Gruppierungen eine eigene Erkenntnisweise beanspruchen und der Begriff „ Wissen “ müsste als nicht mehr von dem der „ Meinung “ unterscheidbar verabschiedet werden (Nagl-Docekal 2000, S. 141). Die Behauptung der Überlegenheit weiblicher Erkenntnisart müsste aber begründet werden, was möglicherweise zu der Paradoxie führen würde, dass man sich entweder minderwertiger (männlicher) Begründungsstrategien bedienen müsste oder zu den zunächst unbegründeten weiblichen Strategien greift. Ein Beweis oder nur eine Begründung der vermeintlichen Überlegenheit des weiblichen Wissens liegt jedenfalls bis jetzt nicht vor. Anders stellt sich die Lage dar, wenn man nicht die Ersetzung der einen Form des Wissens durch eine andere fordert, sondern ihre Ergänzung. Das ist die dritte feministische Option, welche „ in der Forderung [liegt], der Begriff ‚ Objektivität ‘ müsse so reformuliert werden, dass er nicht länger der Verschleierung maskulinen Denkens dienen kann “ (Nagl-Docekal 2000, S. 143). Und Nagl-Docekal fügt unmittelbar hinzu: „ Auch in diesem Fall kommt es darauf an, wie die Forderung im einzelnen ausbuchstabiert wird “ (ebd.). Diesen Weg befürworten z. B. Harding (Harding 1995, S. 338f., 347f.), Keller (Keller 1986, S. 190f.) und Lloyd (Lloyd 1996, S. 251 - 253). Im Folgenden möchte ich einige dieser Entwürfe (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) neuartiger Wissensgewinnungsmethoden näher betrachten, welche die monierte Borniertheit der gängigen Vorstellungen überwinden sollen. Ich werde diesen Überblick mit gewissen gemäßigten, sich stark an die bisherigen Gepflogenheiten anlehnenden Vorschlägen beginnen, um später auch radikalere zu analysieren. 3 b Feministische Wissenschaftstheorie 347 Helen Longino und „ contextual empiricism “ Der Ausgangspunkt von Longinos Konzeption des „ kontextuellen Empirismus “ liegt in der Überzeugung, dass Wissensgewinnung ein unhintergehbar sozial situierter Prozess sei, dass aber im Gegensatz zur verbreiteten Auffassung, die in dieser Tatsache eine Bedrohung für die Objektivität erblickt, gerade der soziale Charakter der wissenschaftlichen Forschung die Garantie für ihre Zuverlässigkeit und somit Objektivität bilde (Longino 1990, S. 62). Denn die entscheidende Konnotation dieses Begriffs in Bezug auf die Wissenschaft besteht für Longino darin, dass „ the view provided by science is one achieved by reliance upon nonarbitrary and nonsubjective criteria for developing, accepting, and rejecting the hypotheses and theories that make up the view “ (ebd.). Der Kernpunkt ihrer Konzeption liegt in der Unterscheidung zwischen der auf individuelle Forscher bezogenen Objektivität - die nach Longino schwer zu erreichen ist - und der auf die wissenschaftliche Methode als solche bezogenen Objektivität - die ihrer Ansicht nach realisierbar ist - , eine Unterscheidung, welche ihrer Meinung nach nicht gebührend beachtet wird (ebd., S. 66). Denn wenn man die Faktizität der sozialen Produktion des wissenschaftlichen Wissens im Fokus behält (ebd., S. 69), kann man leicht in den Produktionsweisen gewisse Mechanismen entdecken, die eine Korrektur der auf der Ebene der einzelnen Forscher zwangsläufig vorhandenen Verzerrungen der Objektivität ermöglichen. Wissenschaft ist öffentlich, und zwar auf mindestens zwei Ebenen: Die theoretischen Annahmen, Hypothesen, aber auch die Hintergrundannahmen sind (zumindest im Prinzip) für jedermann mit entsprechender Bildung und entsprechendem Interesse zugänglich; die Tatsachen, welche die Theorien stützen, sind auch öffentlich in dem Sinne, dass sie intersubjektiv feststellbar sind (ebd., S. 70). Daraus folgt, dass sowohl die Annahmen und Theorien wie auch die sie stützenden Fakten einem Prozess der intersubjektiven Kritik unterzogen werden können und dass gerade diese Kritik dafür bürgt, dass die subjektiven Eigentümlichkeiten der individuellen Forscher wie auch ihre sozialen und kontextualen Bedingtheiten aus den Produkten der wissenschaftlichen Wissensgewinnung ausgeschaltet werden können: „ It is the possibility of intersubjective criticism [. . .] that permits objectivity in spite of the context dependence of evidential reasoning “ (ebd., S. 71). 225 Die Erhöhung der Objektivität der wissenschaftlichen Aussagen (und Objektivität ist für Longino ein Kontinuum, keine Dichotomie) besteht somit in der Gewährleistung der Effizienz binnenwissenschaftlicher Mechanismen der Kritik (ebd., S. 73f.). 226 Die wissenschaftliche Gemeinschaft wird nach Longino einen 225 Vgl. S. 74: „ Objectivity, then, is a characteristic of a community ’ s practice of science rather than of an individual ’ s, and the practice of science is understood in a much broader sense than most discussions of the logic of scientific method suggest. ” 226 Longino nennt diese Form der Kritik „ peer criticism “ (ebd.). Interessanterweise sieht sie neben der Kritik, welche sich auf die empirischen Folgen der Theorien richtet, auch die 348 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Gewinn an Objektivität verzeichnen können, wenn sie vier Kriterien erfüllt: Sie müsse erstens über anerkannte Kanäle der Kritik verfügen (Zeitschriften, Konferenzen usw.) (ebd., S. 76); sie müsse zweitens gemeinsame Standards aufweisen, unter anderem gemeinsame kognitive und soziale Werte (ebd., S. 77) 227 ; sie müsse drittens fähig sein, ihre Überzeugungen aufgrund der Kritik zu ändern (ebd., S. 78); und schließlich müsse sie viertens zum Prinzip der Gleichheit der intellektuellen Autorität stehen (ebd.). Es ist zu betonen, dass nach Longino erst diejenige Form der Kritik, welche sie „ transformative criticism “ nennt - also eine solche, welche imstande ist, die Behebung der monierten Defizite zu bewirken - , die Leistungsfähigkeit der Kritik in puncto Objektivität sichern kann (ebd., S. 76). Nach Longinos Überzeugung stellen unter diesen Bedingungen sowohl individuelle als auch kontextuelle, gemeinschaftliche Werte, obwohl sie tatsächlich in die Theorieproduktion eingehen, keine Bedrohung für die Objektivität der Resultate dar (ebd., S. 8f.). Abschließend hält sie fest: [T]he social account of objectivity and scientific knowledge to which the contextualist account of evidence leads seems more true to the fact that scientific inquiry is not always as free from subjective preference as we would wish it to be. And even though the resulting picture of objectivity differs from what we are used to, our intuition that scientific inquiry at its best is objective is kept intact by appealing to the spirit of criticism that is its traditional hallmark. (Ebd., S. 82) Sandra Harding und die „ strenge Objektivität “ Eine weit radikalere Variante des Umdenkens in der wissenschaftlichen Methode hat Harding vorgeschlagen (Harding 1991, vgl. auch Harding 1995). Ähnlich wie Longino geht sie davon aus, dass Wissenschaft eine sozial, kulturell und geschichtlich situierte Praxis ist (Harding 1991, S. 58, 115), was mit sich bringt, dass in ihre Produkte notwendigerweise soziale Werte einfließen (ebd., S. 31, 81). Sie betont jedoch stärker die androzentrische Verzerrung der gängigen Wissenschaft (ebd., S. 39f.), welche schon daraus resultieren müsse, dass „ conventionally, what it means to be scientific is to be dispassionate, disinterested, impartial, concerned with abstract principles and rules; but what it means to be a woman is to be emotional, interested in and partial to the welfare of family and friends, concerned with concrete practices and contextual relations “ (ebd., S. 47). Diese Beobachtung führt Harding zu der Feststellung, dass die allgemein akzeptierte Definition der Relevanz einer rein begrifflichen Auseinandersetzung (engl.: conceptual criticism) mit den Hypothesen und Theorien (ebd., S. 72). 227 Die kognitiven Werte sind nach Longino „ empirical adequacy, truth, generation of specifiable interactions with the natural or experienced world, the expansion of existing knowledge frameworks, consistency with accepted theories in other domains, comprehensiveness, reliability as a guide to action, relevance to or satisfaction of particular social needs “ , wobei sie ihre Nähe zu Kuhn betont (vgl. Kuhn 1998, S. 103). 3 b Feministische Wissenschaftstheorie 349 Objektivität nichts anderes als ein Ausdruck besonderer (männlicher) Vorurteile ist: „ [W]e have no conception of objectivity that enables us to distinguish the scientifically best descriptions and explanations from those that fit most closely (intentionally or not) with the assumptions that elites in the West do not want critically examined “ (ebd., S. 97). Und sie formuliert die Forderung einer „ strengen Objektivität “ (engl.: strong objectivity), welche verlangt, dass man die Hintergrundannahmen der wissenschaftlichen Theorie einer eingehenden Prüfung unterzieht: „ Theoretically unmediated experience, that aspect of a group ’ s or an individual ’ s experience in which cultural influences cannot be detected, functions as part of the evidence for scientific claims. Cultural agendas and assumptions are part of the background assumptions and auxiliary hypotheses that philosophers have identified. [. . . W]e can think of strong objectivity as extending the notion of scientific research to include systematic examination of such powerful background beliefs “ (ebd., S. 149). Diese Forderung eröffnet nach Harding die Möglichkeit, für Frauen und andere marginalisierte Gruppen eine besondere und konstruktive Rolle im Wissensgewinnungsprozess zu finden. Die alltägliche psychologische Wahrheit vorausgesetzt, dass uns oft erst die Konfrontation mit fremden Gesichtspunkten und Überzeugungen unsere eigenen bewusst werden lässt, wird leicht einsehbar, dass die Öffnung der Wissenschaft für die Einsichten von Minderheiten oder, wie Harding sie nennt, „ valuable strangers “ (ebd., S. 124), uns befähigen kann, die unsichtbar gewordenen Annahmen zu fokussieren und dadurch der kritischen Untersuchung zugänglich zu machen. Denn strenge Objektivität bedeutet für Harding auch eine strenge Reflexivität: Das Subjekt der Erkenntnis müsse sich der gleichen kritischen Überprüfung unterziehen, die es dem Erkenntnisobjekt auferlegt (ebd., S. 161 - 163). Gerade aus diesem Grund solle man das Leben von Frauen ( „ women ’ s lives “ ) zum Ausgangspunkt der Wissenschaft machen (ebd., S. 123), wobei Harding betont, dass es sich um das Leben in seiner ganzen Konkretheit und nicht bloß um Erlebnisse von Frauen handle (ebd.). Von besonderem Wert könnten dabei die Perspektiven der Frauen der Dritten Welt (ebd., S. 212) wie auch der lesbischen Frauen werden, weil „ [l]istening carefully to different voices and attending thoughtfully to others ’ values and interests can enlarge our vision and begin to correct for inevitable ethnocentrisms “ (ebd., S. 152). Erst unter Einbeziehung dieser Perspektiven kann nach Harding eine Wissenschaft entstehen, die wahrhaft von Objektivität getragen wird. Und eine solche Wissenschaft brauchen die Feministinnen: „ Feminism needs sciences that are more objective than the knowledge-seeking practices of androcentric, bourgeois groups in the West which have been passed off as objective, dispassionate, disinterested, universal science “ (ebd., S. 307). 350 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus McClintock, Brito, Carson: „ Ein anderer Stil “ Noch radikalere Varianten der Umwandlung der gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnungsmethode mit dem Ziel, die Erkenntnisfähigkeit zu steigern, werden von Goodfield (Goodfield 1991), Keller (Keller 1995, Keller 1986), Norwood (Norwood 1987) und Martin (Martin1988) skizziert. Goodfield, Keller und Norwood beschreiben drei Frauen: Anna Brito 228 , Barbara McClintock und Rachel Carson, die ungewöhnliche Erkenntniswege gegangen sind, Wege, die Martin als „ einen anderen Stil “ (Martin 1988, S. 130) bezeichnet. Dieser Stil gründe in „ a cluster of attitudes, assumptions, and experiences that the prevailing metatheories of natural science do not capture “ (ebd.). Den Kern jener Dispositionen bilde eine besondere persönliche, intime, affektive Beziehung der Forscherin zu ihrem Erkenntnisgegenstand. Diese Haltung äußere sich auf verschiedenen Ebenen und auf verschiedene Weisen: Sie manifestiere sich z. B. in der Bereitschaft, auf die Komplexität des untersuchten Phänomens zu achten, statt es vereinfachen zu wollen (Keller 1986, 130), Ausnahmen und Unterschiede zwischen individuellen Exemplaren zuzulassen, statt sie wegrationalisieren zu wollen, eine besondere Achtung dem Erkenntnisobjekt gegenüber zu entwickeln ( „ zu hören, was das ‚ Material ‘ zu sagen hat “ 229 ), so dass man nicht nur ein allgemeines „ Gespür für den Organismus “ (ebd.; vgl. auch 1987, S. 759), sondern allmählich ein besonderes Gefühl für jedes Exemplar entwickele ( „ Wir [die einzelnen Maispflanzen und McClintock, MBM] sind wie enge Bekannte, und dieses Gefühl der Intimität schätze ich sehr “ (Keller 1995, S. 202 230 ). Diese Beziehung verstärkte sich im Falle von McClintock im Laufe der Jahre so, dass sich nicht nur ein „ einfühlsames Verständnis “ für das Forschungsobjekt entwickelte (Keller 1995, S. 204), welches die Wahrnehmungsfähigkeit der Forscherin erhöhte (ebd.), sondern schließlich die passiven Beobachtungsobjekte „ als Lebewesen mit eigener, subjektiver Persönlichkeit “ ansah (ebd.). Diese Intimität kann sich so weit steigern, dass man sich mit dem Forschungsobjekt identifiziert: Most importantly [. . .] you must identify with what you ’ re doing. You must identify totally. If you really want to understand a tumor, you ’ ve got to be a tumor. (Brito in Goodfield 1991, S. 226) When I find that a lymphocyte has something on its surface, momentarily I am that lymphocyte. I am not finding out anything about the external world. (Ebd., S. 231) 228 Dieser Name ist fiktiv. Vgl. Goodfield 1991, S. 243. 229 Barbara McClintock zitiert von Keller in: Keller 1995, S. 210. 230 Man darf hier auf eine interessante Parallele zwischen dieser Einstellung und Hardings Idee der Zulassung der „ valuable strangers “ im Erkenntnisprozess hinweisen: Beide Ansätze erhoffen sich offensichtlich, zur Bereicherung der Erkenntnis durch Achtung und Aufwertung der Unterschiede zu kommen. 3 b Feministische Wissenschaftstheorie 351 Wenn du diese Dinge betrachtest, werden sie Teil deiner selbst, und du beginnst, dich selbst zu vergessen. Und genau das ist der entscheidende Punkt - du vergisst dich selbst.(McClintock in Keller 1995, S. 126f.) 231 So sagte McClintock in ihrer offiziellen Erklärung nach der Bekanntgabe der Entscheidung des Nobelpreiskomitees, das ihr den Nobelpreis für Medizin und Physiologie für 1983 zusprach: „ Es mag nichtsdestotrotz unfair erscheinen, jemanden zu belohnen, der über die Jahre hinweg so viel Freude daran gehabt hat, die Maispflanze zu bitten, spezielle Probleme zu lösen, und dann ihre Antworten zu beobachten “ (Keller 1995, S. 213, Hervorhebung von mir, MBM). In der Tat versteht McClintock die Erfahrung des Einswerdens mit dem Gegenstand als Auflösung des bewussten Ichs ( „ Ich bin einfach nicht mehr da “ [ebd., S. 127]) und betont, dass man nur auf diese Weise wirklich lernen kann: „ Wir lernen, indem wir uns mit einer Sache identifizieren “ (ebd., S. 208). Keller vergleicht McClintocks Haltung mit jenen Erlebnissen des Verlusts eigener Identität und des Einswerdens mit dem Gegenstand des Interesses, welche aus den Schriften der „ Künstler, Dichter, Liebenden und Mystiker “ bekannt sind (ebd., S. 127). Sie meint, es handle sich hier um die höchste Form der Liebe, „ einer Liebe, die Intimität gestattet, ohne die Unterschiedlichkeit zunichte zu machen “ (ebd.). Martin stellt fest, dass die Faktizität des „ anderen Stils “ revolutionäre Implikationen für die Philosophie der Wissenschaft habe (Martin 1988, S. 137), indem sie auf die Möglichkeit der „ badly needed “ Wiedervereinigung von Vernunft und Gefühl, Subjekt und Objekt, Tatsache und Wert hindeute (ebd., S. 138). McClintock selbst scheint sich des revolutionären Potentials ihrer Erkenntnismethode bewusst zu sein, wenn sie die herkömmliche Wissenschaft als „ Kinderspiel “ bezeichnet (Keller 1995. S. 207), welches zwar manches Wertvolle, Nützliche und technisch Bewundernswerte, aber nicht die Wirklichkeit liefere (ebd., S. 205), und die Überzeugung zum Ausdruck bringt, dass es andere als wissenschaftliche Erkenntniswege gebe, welche die von der herkömmlichen Wissenschaft ignorierten Erfahrungen auszuwerten vermögen (ebd.). Sie ist sich auch über die Andersartigkeit ihrer Erkenntnismethode im Klaren: Sie nennt sie eine „ ganz unkonventionelle Form der Kreativität “ und stellt fest, dass sie ihr Wissen in die konventionelle Begrifflichkeit ihrer Kollegen übersetzen musste, um es ihnen zugänglich zu machen (ebd.). Martin behauptet, dass in Anbetracht der Existenz des „ anderen Stils “ eine wichtige Aufgabe der Philosophie der Wissenschaft darin bestehen solle, „ to provide an adequate understanding of the love and 231 Vgl. die folgende Beschreibung von McClintocks Erfahrung während ihrer Arbeit mit Mais-Chromosomen: „ Ich hatte das Gefühl, dass sie größer wurden, je länger ich mit ihnen arbeitete. Plötzlich stand ich nicht mehr außerhalb, sondern befand mich mitten in diesem System; ich war ein Teil der Zelle geworden. Ich konnte sogar die inneren Strukturen der Chromosomen erkennen - ich konnte jedes Detail erkennen. Das alles überraschte mich, weil ich wirklich das Gefühl hatte, ich wäre mitten unter ihnen und sie wären meine Freunde “ (Keller 1995, S. 126). 352 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus friendship, intimacy and affection that enter into the different style “ (Martin 1988, S. 138) und dass wir daraus lernen sollen, dass die Wissenschaft als „ humane Unternehmung “ unausweichlich eine ethische Dimension habe (ebd.). Martin ist überzeugt, dass der „ andere Stil “ eine weibliche Zugangsweise zur Erkenntnis darstellt. Indem er auf Intimität, Beziehung zum Objekt, sogar Einswerden mit ihm baut, verstoße er gegen die Norm der individuellen Autonomie, welche in unserer Kultur als ein Zeichen der Männlichkeit gilt. Dieser Punkt ist kontrovers. McClintock selbst wollte sich keinesfalls als feministische Wissenschaftlerin verstanden wissen (Keller 1986, S. 185). Martin konzediert überdies, dass ihr nicht bekannt ist, wie weit der „ andere Stil “ eigentlich verbreitet ist und welche Wissenschaftlerinnen und vielleicht auch Wissenschaftler von ihm Gebrauch machen (Martin 1988, S. 137). Sie zitiert aber immerhin Stephen Gould, der in seiner Rezension von Kellers Buch über McClintock behauptete, er gebrauche grundsätzlich gleiche Methoden bei seiner Arbeit (ebd., S. 134) und halte die Klassifizierung der intuitiven Vorgehensmethode von McClintock als „ weiblich “ für eine „ vulgäre Verdrehung “ (ebd., S. 136). Keller ihrerseits zitiert an einigen Stellen Einstein, der sich der Notwendigkeit der Intuition (Keller 1995, S. 205), liebevoller Einstellung (Keller ebd., S. 127) und sogar einer Art kosmischer Religiosität (Keller ebd., S. 205) bei der wissenschaftlichen Arbeit bewusst gewesen sei. Unabhängig davon, ob man eine solche Vorgehensweise als typisch weiblich oder den beiden Geschlechtern gleichermaßen zugänglich beschreibt, scheint „ der andere Stil “ , zumindest insofern er von Barbara McClintock verfolgt wurde, als Erkenntnisgewinnungsmethode durchaus effektiv zu sein: McClintocks Entdeckung des „ springenden Gens “ wurde - wiewohl mit über 30-jähriger Verspätung - anerkannt und mit dem Nobelpreis belohnt. Schon früher aber erfreute sie sich unter ihren Kollegen einer ungemein hohen Achtung. Alan Campbell, der sie 1951 kennenlernte, schrieb: „ Zu dieser Zeit grenzte ihre Reputation unter den Genetikern, die ich kannte, an das Legendäre. Die allgemeine Meinung war, dass sie immer recht hatte und alles besser tat, als irgendein anderer es tun könnte “ (Keller ebd., S. 216). Einige ihrer Fachkollegen meinten sogar, dass sie in Zukunft als zentrale Figur der Biologie des 20. Jahrhunderts angesehen werden wird (ebd., S. 220). Evelyn Fox Keller und die „ dynamische Objektivität “ Sehr wahrscheinlich inspiriert durch ihre Auseinandersetzung mit Barbara McClintock 232 entwickelt Keller das Konzept der „ dynamischen Objektivität “ (Keller 1986, S. 121 - 134). Sie baut dabei auf einen ihrer Ansicht nach 232 Kellers Buch über McClintock wurde auf Englisch 1983, ihre Reflections on Gender and Science (deutsch: Liebe, Macht und Erkenntnis [Keller 1986]), welche die Theorie der „ dynamischen Objektivität “ darstellt, 1985 veröffentlicht. 3 b Feministische Wissenschaftstheorie 353 bereinigten Begriff der Autonomie auf. Während sie die gängige, männlich konnotierte Auffassung mit einer radikalen Unabhängigkeit von anderen (ebd., S. 102), mit Abtrennung von ihnen (ebd., S. 103) identifiziert, was in einer Konfliktsituation fast unvermeidlich zum Versuch führt, die Kontrolle über den anderen zu erlangen (ebd., S. 106), hat sie nach Keller ihrem Wesen nach weder mit Trennung noch mit Kontrolle zu tun: Die wahre Autonomie besteht darin, „ nach seinem eigenen Willen zu handeln und nicht unter äußerer Kontrolle “ (ebd., S. 103). Keller hebt hervor, dass die Erfahrung der Autonomie niemals emotional neutral ist: „ Da das Ich-Gefühl auf der Erfahrung von Kompetenz aufgebaut ist, stellt es als autonomes Gefühl eine tiefliegende Quelle der Lust dar “ (ebd.). Aufgrund der vorhergehenden Analyse der Entstehung der Autonomie (ebd., S. 80 - 100), welche sich einerseits in der Abtrennung von der Mutter, andererseits gerade in der Beziehung zu ihr entfaltet, formuliert Keller dann den Begriff der „ dynamischen Autonomie “ (ebd., S. 101, 105), welche darin bestehe, dass sie zwar einen Raum, eine Distanz zwischen Selbst und dem anderen anerkenne, jedoch die zeitweilige Aufhebung der Grenzen zwischen ‚ Ich ‘ und ‚ Nicht-Ich ‘ erlaube, was wiederum den für den Erkenntnisprozess notwendigen kreativen Sprung zwischen Wissendem und Gewusstem zulasse (ebd., S. 105). Von diesem Verständnis der „ dynamischen Autonomie “ führt ein direkter Weg zum Begriff der „ dynamischen Objektivität “ . „ Objektivität “ ist für Keller ein Streben nach im höchsten Maße zuverlässiger Einsicht in die Welt. Sie fährt fort: Ein solches Streben ist in dem Grade dynamisch, als es aktiv auf die Gemeinsamkeit zwischen Geist und Natur als Quelle für das Verstehen abhebt. Dynamische Objektivität hat eine Form des Wissens zum Ziel, die der uns umgebenden Welt ihre unabhängige Integrität garantiert, doch tut sie das in einer Weise, die an dem Wissen um unsere Verbundenheit mit dieser Welt festhält, ja sie beruht auf diesem Wissen. Insofern ist dynamische Objektivität der Empathie nicht unähnlich, sie ist eine Form des Wissens von anderen Personen, die ausdrücklich auf die Gemeinsamkeit von Empfindungen und Erfahrungen abhebt, um das eigene Verständnis für den anderen in seiner Eigenständigkeit zu bereichern. (Ebd., S. 122f.) Diese Auffassung vom Wesen der Objektivität, die Emotionalität, sogar Liebe (ebd., S. 123, 125) als Erkenntnismittel zulässt, ja fördert und die auf die Anerkennung und Respektierung der Eigenständigkeit des Forschungsobjekts baut, sich jedoch gleichzeitig der grundsätzlichen Verbundenheit des Forschers mit dem Erkenntnisobjekt bewusst ist, soll uns nach Keller ermöglichen, die der gängigen Wissenschaft inhärierende Tendenz zu einem feindseligen Verhältnis gegenüber der natürlichen Umgebung sowie zur Ausübung von Macht und Herrschaft über die Natur zu überwinden (ebd., S. 131). 354 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Lorraine Code und Erkenntnis als (Menschen-)Kenntnis In der Definition der „ dynamischen Objektivität “ ist Keller eine interessante Verengung unterlaufen: Sie stellt fest, dass die dynamische Objektivität der Empathie nicht unähnlich sei, und setzt fort: „ [S]ie ist eine Form des Wissens von anderen Personen, die ausdrücklich auf die Gemeinsamkeit von Empfindungen und Erfahrungen abhebt “ (Keller 1986, S. 123 Hervorhebung von mir, MBM). Nimmt man diese Definition wörtlich, so ist der Begriff der „ dynamischen Objektivität “ nur auf die Erkenntnis im Bereich von zwischenmenschlichen Beziehungen anwendbar, was Keller sicherlich nicht intendierte. Gerade diese Schwäche versucht nun Code in eine Tugend umzumünzen. Sie setzt voraus, dass die Kenntnis des anderen Menschen, wie sie sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen allmählich entwickelt, ein Modell für jede objektive Erkenntnis bildet (Code 1991, S. 36 - 41, 160 - 172). 233 Ausgehend von den oben beschriebenen Erfahrungen von Forscherinnen wie McClintock, Brito und Carson postuliert Code, dass das Paradigma des Wissens, wie es in guten zwischenmenschlichen Beziehungen realisiert wird, als Grundmuster des Wissens über die Naturwelt dienen soll: The work of Carson, Brito, and McClintock gives a glimpse of the difference it could make to knowledge of physical, natural ‚ reality ‘ if the line of reasoning were drawn in the opposite [to the positivist/ empirical one] direction, from the knowledge integral to good personal relationships to the natural world. (Code 1991, S. 163) Sie relativiert diese Aussage umgehend, wenn sie vermutet, dass dieses Paradigma vielleicht nicht auf alle Gebiete der Wissenschaft, auch nicht auf die Soziologie, anwendbar sein könne und diese Gedankenrichtung noch weitere Sicherheitsmaßnahmen brauche, um die Objektivität des so erzeugten Wissens zu gewährleisten. Dennoch meint sie, dass diese Art des Wissens weit über das ihr gewöhnlich zugestandene „ persönliche “ Feld epistemisch signifikant werden könne (ebd.). Die Vorteile einer solchen Erkenntnisweise sieht sie darin, dass das Kennenlernen anderer Menschen ein fortwährender kommunikativer und interpretativer Prozess sei (ebd., S. 38) und ein „ perfektes “ Kennen unerreichbar sei, was vor Missbrauch des Wissens (Machtausübung, Herrschaft) schützen solle (ebd., S. 39), aber wiederum nicht bedeute, dass andere Menschen unserer Erkenntnis völlig entzogen seien. Es gebe gleichsam Schichten des Wissens über den anderen Menschen: von ganz äußerlichen, intersubjektiv zugänglichen Tatsachen (Geschlecht, Größe, Gewicht, Alter) bis zu intimsten und persönlichsten Einzelheiten. Das Entscheidende am Kennen anderer Menschen sei - und diese Eigenschaft ist nach Code direkt relevant für andere Arten des Wissens - , dass „ even if one could know all the facts about someone, one would not know her as the person she is. No more can knowing all the facts about oneself, past and present, 233 Was übrigens an Hardings Idee, dass die Naturwissenschaften als bloßer Sonderfall der Sozialwissenschaften konzeptualisiert werden sollten, erinnert (Harding 1991, S. 309). 3 b Feministische Wissenschaftstheorie 355 guarantee self-knowledge “ (ebd., S. 40). Code gibt zu, dass sich auf diesem Weg zum objektiven Wissen gewisse Schwierigkeiten ergeben können. So sei es z. B. schwierig, Kriterien anzugeben, wann genau von jemandem ausgesagt werden kann, dass sie/ er eine Person kennt (ebd.), man sei manchmal sogar mit der Paradoxie konfrontiert, dass man eigene Erfahrungen missdeute (ebd., S. 169). Dennoch meint Code, dass das Modell des „ Personenkennens “ für die Zukunft der Wissenschaft hilfreich sein könne. Codes Ansatz stellt einen durchaus interessanten Denkanstoß dar, denn er legt den Finger auf den wunden Punkt der geläufigen wissenschaftlichen Erkenntnismethode. Heute wird das höchste, komplexeste Erkenntnisobjekt, der Mensch (es gilt allgemein, dass das menschliche Gehirn die komplexeste Struktur des Universums bildet, und der Mensch ist selbstverständlich viel mehr als nur sein Gehirn), nach dem Muster der möglichst einfachen Annäherungen untersucht. Wie wir bereits gesehen haben (s. oben, „ Geschichte der Wissenschaft “ ) folgt die heutige wissenschaftliche Methodologie grundsätzlich dem Descartes ’ schen Postulat, das Komplexe (Problem) in so viele möglichst einfache Teile zu zerlegen, bis diese kleinsten Einheiten völlig verständlich sind. In der Erforschung der anorganischen Welt und in der praktischen Anwendung der so gewonnenen Erkenntnisse, der Technik, hat sich dieses Prinzip bestens bewährt: Wir können nicht nur Supercomputer, LHCs, riesige Schiffe oder Flugzeuge bauen, sondern auch Menschen zum Mond oder sogar zum Mars fliegen oder zumindest die Oberflächen dieser Planeten mittels menschengebauter Apparate erkunden. Spätestens aber seit der verblüffenden Entdeckung, dass das menschliche Erbgut nicht viel mehr Gene enthält als das eines Regenwurms und deutlich weniger als das von Reis, hat sich gezeigt, dass sich die Komplexität der Form nicht unbedingt auf die Komplexität dessen, was für die „ kleinsten Bausteine “ dieser Form gehalten wird, stützt (für Einzelheiten s. unten: „ Empirische Rätsel der Naturwissenschaft “ ). Und man muss bedenken, dass der Mensch nicht nur ein unvergleichbar komplexeres Gehirn als ein Regenwurm besitzt, sondern auch über eine Persönlichkeit, ein Verhaltensrepertoire, eine Sprache und eine Lebensgeschichte verfügt, welche exponentiell komplexer sind als alles ist, was ein Regenwurm aufweist. Wo dieses verhältnismäßig einfache menschliche Genom kodiert wird, ist völlig rätselhaft. Die Entdeckung und Erforschung des sog. Epigenoms (das ENCODE-Programm, für die Einzelheiten s. unten, „ Können die Gene die Morphogenese erklären? “ ), also der chemischen Steuerungsmechanismen, die sich außerhalb der Sequenz der Nukleinbasen der Chromosome befinden, weckte zwar die Hoffnung, dass sich die Komplexität des Organismus doch aus den rein chemischen Bestandteile des Erbguts wird ableiten lassen, doch haben die Ergebnisse des Human- Genome-Projekts eher die Grenzen der Anwendbarkeit des reduktionistischen Erklärungsparadigmas aufgezeigt. Sobald man aber die Von-denkleinsten-Bestandteilen-aufwärts-Erklärungsstrategie verabschiedet, ist es plausibel, Stufen der Erklärung anzunehmen und die Art der Erklärung 356 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus mit der Komplexität der zu erklärenden Phänomene grundlegend zu ändern, weil man es auf der jeweils höheren Erklärungsstufe mit einer neuen „ Gestalt “ zu tun hat, die nach eigenen Gesetzmäßigkeiten agiert. Es liegt also nahe, dass unterschiedliche Erklärungsstrategien für die anorganischen und organischen Phänomene und nochmals andere für den Menschen angewendet werden müssen. Es ist dann sehr wahrscheinlich, dass die Erkenntnis des Menschen als der höchsten uns unmittelbar gegebenen Wirklichkeit die komplexeste sein muss, was wiederum der Idee Plausibilität verleiht, dass die Erkenntnisarten anderer Wesensbereiche bloße Sonderfälle und Vereinfachungen der Menschenkenntnis sind. Codes Ansatz hat also einen gewissen Reiz, er bleibt aber bis jetzt nur eine Skizze, schon deshalb, weil sie uns die Antwort schuldig geblieben ist, wie sich die Menschen(er)kenntnis ( „ knowledge integral to good personal relationships “ ) von derjenigen, die in der Physiologie, Neurobiologie oder Psychologie angewendet wird, konkret unterscheidet. Luce Irigaray: Der Abschied von der Vernunft Es ist unumgänglich, in diese Übersicht auch Luce Irigaray, eine der Klassikerinnen des radikalen Feminismus, einzubeziehen. Sie repräsentiert jene Richtung, welche für den Abschied von Vernunft und Logik plädiert, weil sie unausweichlich männlich und somit unheilbar verzerrt seien. Irigaray sieht die radikal unterschiedlichen Erkenntnis- und Lebensweisen von Mann und Frau in den anatomischen geschlechtlichen Unterschieden fundiert: Der Mann, durch die Einheitlichkeit seines Phallus vorgeprägt, tendiere zum „ Einheitsdenken “ , das durch drei Prinzipien gekennzeichnet sei: „ identity with, expressed by property and quantity; non-contradiction, with ambiguity, ambivalence, polyvalence minimized; binary oppositions: nature/ reason, subject/ object, matter/ energy, inertia/ movement “ (Irigaray 1987, S. 74). Die Frau dagegen sei, da ihr Geschlecht „ aus zwei Lippen besteht, die sich unaufhörlich aneinander schmiegen [. . .], die einander berühren, die jedoch nicht in eins (einen) und eins (eine) trennbar sind “ (Irigaray 1979, S. 23), dazu prädestiniert, die Welt in Gegensätzen, Paradoxien, in fließenden Übergängen zu begreifen. Deshalb sei es unnütz, die Frauen in der exakten Definition dessen, was sie sagen wollen, einzufangen, es (sich) wiederholen zu lassen, damit es klar wird: sie sind immer schon woanders in dieser diskursiven Maschinerie, in der Ihr sie zu ertappen vorgebt. Sie sind in sich selbst zurückgekehrt. [. . .] Sie haben nicht die Innerlichkeit, die Ihr habt, die Ihr ihnen vielleicht unterstellt. Sie in sich selbst, das will heißen, in der Intimität dieses schweigsamen, vielfältigen, diffusen Tastens. Und wenn Ihr sie insistierend danach fragt, woran sie denken, können sie nur antworten: an nichts. An alles. (Irigaray 1979, S. 28f.) 234 234 Vgl. ebd. S. 155f. zum angeblich grundsätzlichen Unvermögen der Frauen qua Frauen, vernünftig zu sprechen. 3 b Feministische Wissenschaftstheorie 357 Diese Eigentümlichkeit der Frauen sei jedoch keineswegs (nur) eine Schwäche. Im Gegenteil, sie hätten dadurch Zugang zu Aspekten der Wirklichkeit, die den Männern verschlossen blieben. Sie seien zwar aus dem Vernunftdiskurs ausgeschlossen, aber diese Tatsache solle sie wenig berühren, weil die Vernunft etwas Minderwertiges sei. Es ist an dieser Stelle unmöglich, den Ansatz von Irigaray ausführlich zu bewerten (eine einsichtsvolle Diskussion bietet Nagl-Docekal (Nagl-Docekal 2000, S. 161 - 166). Ich möchte nur auf den Aspekt der Öffnung des Diskurses für Paradoxien, Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten eingehen, weil die Aufweichung von Grenzen und die Öffnung für Unklares und Uneindeutiges ein durchgehendes Motiv feministischer Ansätze ist. Es ist nicht zu leugnen, dass wir es überall dort, wo wir mit den Prozessen des Lebens, des Wachstums, der Entwicklung konfrontiert sind, mit „ fließenden Übergängen “ und somit Ambiguitäten und Vieldeutigkeiten zu tun haben. Wann wird ein Sprössling zum Baum, wann wird ein Kind zum „ Teenager “ , wann wird es Nacht oder Tag? Es lässt sich nicht genau bestimmen. Unser Erkenntnisapparat scheint auf die Mitte der Prozesse eingestellt zu sein, deren Anfang und Ende verschwimmen hingegen stets in Unklarheit und Uneindeutigkeit. Menschen haben Lebensgeschichten und sie können sie erzählen. Aber alle Lebewesen, in einem bestimmten Sinne sogar unbelebte Gegenstände, haben ebenfalls ihre Lebensgeschichten, die sie zu erzählen nicht fähig sind. Wir entdecken jedoch überall gefrorene Spuren dieser Geschichten: Tiere werden älter, Bäume größer, Jahresringe unterscheiden sich gewaltig voneinander. Es scheint uns jedoch das Wahrnehmungsvermögen für das Dynamische dieser Geschichten zu fehlen. Wir können den Prozess erst dann wahrnehmen, wenn er zu einem mindestens vorläufigen Abschluss gekommen ist. Eine fliegende Biene ist kaum ein geeigneter Gegenstand der Erkenntnis, fließendes, pulsierendes Blut ebenso wenig. Sie müssen zum Stillstand gebracht werden, damit wir sie untersuchen können. Das Lebendige, das Bewegliche dieser Prozesse entzieht sich unserer Aufmerksamkeit. Deshalb war es nicht zufällig, dass die drei Beispiele des „ anderen Stils “ drei Beispiele von Wissenschaftlerinnen des (weit gefassten) Lebendigen waren. In diesem Bereich sind Forscher stets besonders akut mit den Grenzen der kategorisierenden Vernunft und ihrem Unvermögen konfrontiert. In diesem Sinne ist Irigarays Wunsch, die Grenzen dieser Vernunft zu sprengen, nicht das, was er zunächst zu sein scheint. Dass Irigaray den Ausweg aus dieser Schwierigkeit mit dem Begriff „ Irrationalität “ belegt (Nagl-Docekal 2000, S. 165), kann als Befangenheit in dem von ihr kritisierten dualistischen Denkmuster gedeutet werden. Man könnte oder sollte vielleicht z. B. von Überrationalität sprechen. 235 Solche Überlegungen gehören übrigens im eminentesten Sinne zur Problematik der Wissenschaftlichkeit. Denn falls es tatsächlich Phänomene gibt - was zuerst noch zu prüfen wäre, was aber auch a priori nicht 235 R. Steiner z. B. hat den Begriff „ Überintellektualität “ gebraucht. Vgl. GA266/ 3, S. 458. 358 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus ausgeschlossen werden kann - , welche sich der Behandlung durch die konventionelle dichotomisierende und „ fixierende “ szientistische Vernunft entziehen, dann müsste man um der Objektivität der Erkenntnis willen nach Wegen und Methoden suchen, sie in den Bereich des Erkennbaren zu rücken, ohne sie dem Reduktionismus zu unterwerfen. Zum Schluss der Betrachtung von Irigarays Ansatz möchte ich auf einen weiteren, ebenfalls unzureichend gewürdigten Aspekt der Lebenserfahrung von Frauen aufmerksam machen, der m. E. wesentlich dazu beiträgt, dass gerade sie sich kritisch zu den Forderungen der Ratio stellen: den Umgang der Frauen mit Kindern (Code 1991, S. 68). Es ist in der Biologie der Geschlechter veranlagt, dass Frauen - in der Schwangerschaft, in der Zeit des Stillens, auch in der Zeit der Frühentwicklung des Kindes - mit ihren Kindern viel intimer verbunden und viel intensiver beschäftigt sind als Männer. Kinder können jedoch bekanntlich nicht vom abstrakten Intellekt leben, tatsächlich können sie mit ihm nichts anfangen. Auf abstrakte Verhaltensregeln reagieren sie nicht, für ihr seelisches Gedeihen brauchen sie keine moralischen Predigten, sondern Liebe, Zuwendung, Wärme, Emotionalität, Phantasie, Empathie und anderes, was dem kalten, abstrakten Intellekt fremd ist. Die emotionalen und sonstigen außerintellektuellen Qualitäten sind also für unser Menschentum unerlässlich. Sie bilden mithin die Grundlage der Möglichkeit der Ratio und sind ihr in diesem Sinne überlegen. 236 Niemand kennt diese Wahrheit direkter und intimer als Frauen. Deswegen überrascht es nicht, wenn sie es sind, die die usurpatorische Eingebildetheit der Ratio auf ihre vermeintliche Alleinherrschaft als schmerzlich und unberechtigt empfinden. Zusammenfassung Zum Schluss dieser kurzen Betrachtung möchte ich die wichtigsten Behauptungen bzw. Anliegen der feministischen Erkenntnistheorie mit den Worten von Carola Meier-Seethaler aus ihrer Studie Gefühl und Urteilskraft (Meier- Seethaler 1997) zusammenfassen: 1. Die Behauptung eines wissenschaftlich-technologischen Sachzwangs verschleiert anthropologische (androzentrische) Setzungen. Die Ziele naturwissenschaftlich-technischer Forschung sollten sich in erster Linie an den realen Bedürfnissen der Menschen in allen Teilen der Welt und an der Umweltverträglichkeit von Technologien orientieren. 2. Es gibt keinen Anspruch auf letztverbindliche, „ objektive “ Erkenntnis. Sowohl die Formulierung wissenschaftlicher Ziele als auch die Interpretation von Experimenten sind an die Sprache und deren soziokulturelle Raster gebunden. Der Mythos von der wertfreien Wissenschaft ist aufzulösen. 236 Man wollte fast in dem alten Jargon sagen: Sie sind ihr „ Zugrundeliegendes “ , also ihr Subjekt. 3 b Feministische Wissenschaftstheorie 359 3. Ein möglichst authentisches Erfassen der Wirklichkeit gelingt nicht durch das (utopische) Ausschalten des Subjekts, sondern durch eine dynamische Wechselwirkung zwischen erkennendem Subjekt und dem zu Erkennenden, was die Fähigkeit zur Empathie einschließt. 4. Der naturwissenschaftliche Erkenntnisprozess führt nicht zu starren Natur- „ Gesetzen “ , sondern zur Einsicht in eine „ Natur-Ordnung “ , welche die Beziehungen aller Dinge in ihrem Fließgleichgewicht verstehen lernt bzw. die Fähigkeit der Natur, solche Gleichgewichte immer wieder herzustellen. 5. Der lineare Kausalitätsbegriff ist zu ergänzen durch die Begriffe von Interdependenz, Vernetzung, „ Drehpunkt “ . 6. Der Antagonismus bzw. das Herrschaftsverhältnis zwischen Mensch und Natur wird ersetzt durch geeignete Zusammenarbeit mit der Natur. 7. Das Ideal wissenschaftlicher Erkenntnis besteht nicht in der Formulierung möglichst einfacher reduktionistischer und zugleich allumfassender Erklärungsmuster, sondern respektiert die Komplexität und die Variabilität ihrer Einzelerscheinungen. 8. Die künstliche Laborsituation allein kann nie maßgebend sein. Das reale Leben mit seinen Verbundenheiten und Widersprüchen soll nicht durch künstliche Disjunktionen simplifiziert werden. Stattdessen ist Kontextualität gefordert. 9. Die hierarchischen Strukturen innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft und das Konkurrenzverhältnis zwischen ihren Mitgliedern werden abgelöst durch Kooperation. 10. Der Eurozentrismus tritt zugunsten einer nachkolonialen Wissenschaft zurück. Dies beinhaltet sowohl die Akzeptanz außereuropäischer Leistungen und Methoden als auch den Verzicht auf imperialistische Anwendungen westlicher Wissenschaft in der sogenannten Dritten Welt (Meier- Seethaler 1997, S. 312 - 314). Die Nähe zur Natur, zu den realen Bedürfnissen des Menschen, das Miteinbeziehen des Subjekts der Erkenntnis mit seinem Einfühlungsvermögen, seinen Werten, seinen Empfindlichkeiten, die Kooperation mit der Natur und anderen Menschen statt der Konkurrenzhaltung, die Überwindung des Eurozentrismus unseres wissenschaftlich-philosophischen Blickwinkels bilden also die leitenden Ideen dieses Programms. Der Kontrast zu den Vorstellungen des logischen Empirismus könnte kaum stärker sein: Das Wesen des Erkennens fordert schlechthin, dass derjenige, der es ausüben will, sich in eine Ferne und eine Höhe über die Dinge begebe, von der aus er ihre Beziehungen zu allen anderen Dingen überblicken kann. Wer sich ihnen nähert, teilnimmt an ihrem Weben und Wirken, der steht im Leben, nicht im Erkennen; ihm zeigen die Dinge das Antlitz ihres Wertes, nicht ihres Wesens. (Schlick AE, S. 101) 360 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Dies schrieb Moritz Schlick in seinem oben analysierten Werk Allgemeine Erkenntnislehre. Schlick differenziert an dieser Stelle stark zwischen der Erkenntnis eines Dinges, seinem Wesen und seinem Wert. Er betrachtet beide Facetten der Wirklichkeit (und er erkennt die Realität der beiden an) als inkommensurabel. Die feministischen Erkenntnistheoretikerinnen behaupten indessen, dass eine solche Erkenntnishaltung schlicht unrealistisch sei, denn die Erkenntnis sei sowohl geistals auch leibabhängig, erfordere hochentwickelte Vernunftfähigkeiten ebenso wie hochentwickelte emotionalen Fähigkeiten ( „ emotionale Intelligenz “ ) und die wissenschaftlichen Verallgemeinerungen taugten eigentlich nur so viel, wie dies ihre konkreten, partikularen Anwendungen zulassen. Die feministischen Philosophinnen meinen also, dass die gängigen Dichotomien Verstand/ Gefühl, Geist/ Leib, abstrakt/ konkret, objektiv/ subjektiv, Theorie/ Praxis, allgemein/ konkret und insbesondere männlich/ weiblich mit der gegenwärtig immer noch weit verbreiteten Hochachtung des ersten und der Abwertung des zweiten Gliedes in ihrer Schärfe und besonders in ihrer Wertungsrichtung nicht aufrechtzuerhalten sind. Code betont allerdings in ihrem Artikel für die Routledge Encyclopedia of Philosophy über feministische Epistemologie, dass die meisten Feministinnen des Endes des 20. Jahrhunderts eher moderate Positionen im Diskurs um die geeignete wissenschaftliche Methodologie einnehmen: Few would endorse a wholesale science-bashing that smacks more of ideological excess than of a genuine quest for knowledge. Even feminists who are wary of the oppressive effects of scientific and other authoritative knowledge rely upon its (intermittent) successes. (Code 1998, S. 601) Die Aufwertung der (positiven, nicht nur störenden) Rolle der Gefühle und der Beziehungen in der Erkenntnis und Erkenntnisgewinnung wie auch die Feststellung, dass Werte aus dem Erkenntnisprozess nicht zu eliminieren sind, sind m. E. eigentlich innerhalb der Erkenntnistheorie längst überfällig. 237 Gleichwohl müssen die Konsequenzen einer von den feministischen Philosophinnen angeregten Erweiterung der wissenschaftlichen Methodologie sorgfältig eingeschätzt werden. Denn es ist schlicht nicht zu leugnen, dass nicht nur die männlichen, sondern auch die feministischen Philosophen/ innen bzw. Wissenschaftler/ innen damit einverstanden sein werden, dass 2 + 2 = 4 und dass die Summe der Winkel eines Dreiecks (auf einer ebenen Fläche) 180° beträgt, während eine Einigkeit in Bezug auf gefühlsmäßige oder wertende Urteile selbst über alltäglichste Phänomene ( „ Ist diese Rose schön? “ ) nicht so einfach zu haben ist. Zusätzlich führt eine der zentralen Behauptungen der feministischen Erkenntnistheorie (die von Carola Meier- Seethaler in ihrer Zusammenfassung leider nicht erwähnt wurde), dass 237 Vgl. dazu die interessante Studie von Meyer-Abich Praktische Naturphilosophie. Erinnerung an einen vergessenen Traum (Meyer-Abich 1997. Vgl. dazu auch Majorek 2002, S. 245 - 274). 3 b Feministische Wissenschaftstheorie 361 jegliches Denken und folglich jegliche Erkenntnis leibabhängig sei (vgl. Nagl- Docekal 2000, S. 176, Code 1998, S. 601, vgl. auch oben), zu ernsthaften Schwierigkeiten. Denn bekanntlich sind weibliche und männliche Leiber recht unterschiedlich. Diese Unterschiede scheinen sich wenig auf die Wahrnehmungsseite der Erkenntnisprozesses auszuwirken (mir sind keine Forschungsergebnisse bekannt, welche darauf hindeuten würden, dass Frauen die Welt wesentlich anders wahrnehmen als Männer). Was aber die gedankliche Verarbeitung des Wahrgenommenen betrifft, so kann man nicht ausschließen, dass wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern vorhanden sind. Schließlich zeigt die moderne Neurobiologie unzweifelhaft, dass männliche und weibliche Gehirne unterschiedlich „ verdrahtet “ sind (Ingalhalikar et al. 2013). Wenn aber jegliche Erkenntnis leibabhängig ist und die männlichen und weiblichen Leiber und insbesondere ihre jeweiligen Gehirne wesentlich unterschiedlich sind, dann muss der Gedanke zugelassen werden, dass auf einer subtilen Ebene der Informationsverarbeitung weibliche und männliche Erkenntnisstrategien und folglich auch ihre Resultate wesentlich voneinander abweichen. Wäre dies tatsächlich der Fall, so führte das zu der Feststellung, die in Punkt 2 der obigen Zusammenfassung zum Ausdruck gebracht wurde: Es gibt keinen Anspruch auf letztverbindliche, „ objektive “ Erkenntnis, weil eine solche schlicht nicht zu haben ist. Dieser Feststellung scheint aber die Tatsache zu widersprechen, dass sowohl Frauen als auch Männer bezüglich der mathematischen Wahrheiten u. a. völlig einig sind, als auch z. B. der Tatsache, dass wir uns recht sicher in einem Flugzeug fühlen, das mit einer Geschwindigkeit von über 900 km/ h in einer Höhe von 10.000 m fliegt, und zwar deshalb, weil wir das Vertrauen haben, dass es nach sorgfältig erforschten objektiven Gesetzmäßigkeiten erbaut wurde. Darüber hinaus macht sich jeder, der behauptet, dass objektive Erkenntnis unerreichbar sei, eines performativen Selbstwiderspruchs schuldig, denn er oder sie behauptet damit, dass seine/ ihre Behauptung nicht objektiv, folglich zumindest möglicherweise falsch ist. 238 Diese Probleme und Paradoxien werden uns im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch beschäftigen. 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung Eine weitere Gedankenströmung, die infolge des Zerfalls des logischen Empirismus Platz auf der Bühne der intellektuellen Auseinandersetzungen mit der Wissenschaft gefunden hat, ist die der sog. qualitativen Forschung. Im Gegensatz zur Soziologie der Wissenschaft (STS) und der feministischen Erkenntnistheorie ist es aber im Falle dieser breiten Bewegung schwierig, von einer einheitlichen Theorie bzw. von einer einheitlichen Familie von Wissenschaftstheorien zu sprechen. Denn der wichtigste gemeinsame Nenner der 238 Vgl. oben das Kapitel „ Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung “ . 362 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Vertreter dieser Gedanken- und Forschungsrichtung besteht darin, dass sie sich weigern, eine übergreifende, gemeinsame Theorie zu akzeptieren, und meinen, dass man hinsichtlich des theoretischen Hintergrundes eigener Forschungstätigkeit am besten beraten ist, Feyerabends Motto „ Anything goes “ zu folgen. Geschichte 239 Die Geschichte des Paradigmas der qualitativen Forschung kann man in fünf „ Entwicklungsmomente “ unterteilen (Denzin und Lincoln 1994 a, S. 7 - 11). Den ersten von ihnen bezeichnen Denzin und Lincoln als die „ traditionelle Periode “ , die am Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt und bis zum 2. Weltkrieg dauert. In dieser Phase produzierten die qualitativen Forscher „ orthodoxe “ , objektive Berichte über ihre Felderfahrungen, deren Methodologie die (neo-)positivistischen Werte der wissenschaftlichen Forschung widerspiegelten. Sie waren bedacht, gültige, zuverlässige und objektive Interpretationen ihrer Erfahrungen anzubieten. Der „ Andere “ , das Subjekt der Untersuchung, wurde als fremd und seltsam empfunden. Der klassische Vertreter dieser Phase ist Bronislaw Malinowski (ebd., S. 7). Die zweite, „ modernistische “ Phase reichte vom Ende des 2. Weltkrieges bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Die qualitativen Forscher bemühten sich nun darum, stringente qualitative Studien wichtiger sozialer Phänomene, u. a. der Devianz und der sozialen Kontrolle im Klassenzimmer und allgemeiner in der Gesellschaft, zu liefern. Zur gleichen Zeit wurden neue interpretative Theorien zugänglich bzw. entdeckt (z. B. Ethnomethodologie, Phänomenologie, kritische Theorie und Feminismus), welche die Palette der qualitativen Forschung erweiterten. Viele Forscher wandten sich dem qualitativen Paradigma in der Hoffnung zu, dass es ihnen ermöglichen würde, der sozialen Unterschicht eine Stimme zu geben. Als den kanonischen Text dieser Periode nennen Denzin und Lincoln Boys in White (Becker et al., 1961). Sie bezeichnen diesen Abschnitt als „ the golden age of rigorous qualitative analysis “ (Denzin und Lincoln 1994 a, S. 8). Diese „ goldene Ära “ war auch eine Zeit der Kulturromantik: Imbued with Promethean human powers, they [qualitative researchers] valorized villains and outsiders as heroes to mainstream society. They embodied a belief in the contingency of self and society, and held to emancipatory ideals for which “ one lives and dies. ” They put in place a tragic and often ironic view of society and self, and joined a long lien of leftist cultural romantics that included Emerson, Marx, James, Dewey, Gramsci, and Martin Luther King, Jr. (Denzin und Lincoln 1994 a, S. 9) 239 Ich stütze mich im Folgenden auf die Schilderung dieser Entwicklung im Handbook of Qualitative Research (Denzin und Lincoln 1994). 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 363 Die dritte Periode der Entwicklung der qualitativen Forschung (1970 - 1986) bezeichnen Denzin und Lincoln als die Phase der „ unscharfen Gattungen “ ( „ blurred genres “ ) (ebd., S. 9). In dieser Periode stand den Forschern bereits die vollständige Palette an Forschungsparadigmen, -methoden und -strategien zur Verfügung. Die Spannbreite der interpretativen Theorien reichte vom symbolischen Interaktionismus und Konstruktivismus über naturalistische Forschung, Positivismus, Postpositivismus, Phänomenologie, Ethnomethodologie, kritischen Marxismus zu Semiotik, Strukturalismus, Feminismus und verschiedenen ethnischen Paradigmen. Auch die Datensammlungen und -analysen wurden erweitert. Angewandte qualitative Forschung gewann an Bedeutung und ihre politischen und ethischen Dimensionen genossen breite Aufmerksamkeit. Weit verbreitet war damals die Haltung, dass die alten positivistischen, behavioristischen und totalitären Auffassungen der Geisteswissenschaften allmählich zugunsten von pluralistischen, interpretierenden, ergebnisoffenen Perspektiven in den Hintergrund treten sollten. Der Beobachter wurde nicht mehr als privilegiert betrachtet; der konkreten Situation Sinn zu verleihen wurde als die zentrale Aufgabe der Theorie betrachtetet. Zur selben Zeit wurden die Grenzen zwischen den Sozialwissenschaften und den Geisteswissenschaften (humanities) unscharf. Die Sozialwissenschaftler wandten sich auf der Suche nach Modellen, Theorien und Methoden der Analyse (Semiotik, Hermeneutik) an die Geisteswissenschaftler. Es kam zu Gattungsstreuung ( „ genre dispersion “ ): Dokumentarberichte entstanden, die sich wie Romane lasen, Ethnographien ähnelten Gleichnissen und theoretische Abhandlungen nahmen die Form von Reiseberichten an. Das Essay als literarische Gattung verdrängte die klassische Form des wissenschaftlichen Artikels. Zentral wurde die Frage nach der Präsenz des Autors im interpretierenden Text und die Frage, wie der Forscher mit Autorität sprechen kann in einer Zeit, da keine feste Regeln bezüglich des Textes, seiner Standards und seiner Beurteilung mehr vorhanden waren (ebd.). Die vierte Phase ist nach Denzin und Lincoln eine der doppelten Krise: der Repräsentationen und der Legitimation (ebd., 9f.). Sie fing in den 80er Jahren an und dauerte ungefähr bis zum Anfang der letzten Dekade des letzten Jahrhunderts. Die erste der beiden Krisen ergab sich aus der Einsicht, dass die Erosion der klassischen Normen der Anthropologie (Objektivität, Annahme der westlichen Perspektive als Grundlage der Interpretation der Daten, die Annahme, dass das soziale Leben durch feste Rituale und Bräuche strukturiert wird usw.) weitgehende Folgen für den Charakter und Beurteilung der Feldberichte hatte. Bis dahin konnte der Feldforscher von der Annahme ausgehen, dass er mit seinem westlich-liberalen Hintergrund (Denzin und Lincoln sprechen in diesem Zusammenhang von der Komplizenschaft mit dem Erbe des Kolonialismus [ebd., S. 10)]) eine wissenschaftliche und moralische Autorität war. Mit dem Verlust dieser Legitimität änderten sich die Darstellungsformen. Was früher als wissenschaftliche Beschreibung einer 364 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus vom Forscher unabhängigen Wirklichkeit betrachtet wurde, wurde durch Memoire, fiktive Experimente und dramatische Berichte ersetzt. Zugleich verwischte sich die Grenze zwischen Feldarbeit und ihrer Beschreibung. Selbst die qualitative Forschung, so die These, sei nicht imstande, die reale Erfahrung der Menschen aufzufangen. Solche Erfahrung werde vielmehr erst in dem vom Forscher geschriebenen sozialen Text erschaffen (ebd., S. 11). Die zentralen Fragen waren jetzt: „ Wer ist der Andere? “ „ Können wir je darauf hoffen, die Erfahrung des Anderen authentisch zu beschreiben? “ (Denzin und Lincoln 1994 b, S. 577). So ging mit der Erosion der Autorität des Forschers eine Krise der Repräsentation einher (Denzin und Lincoln 1994 a, S. 11): Kernbegriffe wie Validität, Reliabilität, Verallgemeinerbarkeit wurden noch radikaler als in den früheren Phasen in Frage gestellt, und die Frage, wie qualitative Studien beurteilt werden sollen, wurde zunehmend dringlich (ebd., S. 11). Gegenwärtig befindet sich das Feld der qualitativen Forschung in seiner fünften Phase, 240 die durch sechs Kernthemen charakterisiert ist (Denzin und Lincoln 1994 b, S. 576). Zum einen setzt sich die Kritik des Positivismus und Postpositivismus fort, hinzu kommt nun aber auch eine Selbstreflexion und Selbstkritik der Bewegung. Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit den Krisen der Repräsentation und Legitimation. Das vierte Thema ergibt sich aus der „ Kakophonie von Stimmen “ : den unterschiedlichen Perspektiven der Geschlechter, Rassen, Klassen, Ethnien und Völker (insbesondere der sog. Dritten Welt). Die Herausforderung liegt darin, diese unterschiedlichen „ Stimmen “ bzw. Perspektiven gebührend abzubilden bzw. ihnen eine angemessene Bühne zu verschaffen. Das fünfte Thema erwächst aus dem Umstand, dass die Verhältnisse zwischen dem rein wissenschaftlichen, moralischen, sakralen und religiösen Diskurs in Bewegung geraten sind. Seit der Aufklärung gingen Wissenschaft und Religion separate Wege, dies jedoch bloß auf der ideologischen Ebene, denn die religiöse Praxis beeinflusst das wissenschaftliche Projekt noch immer. Die Grenzen zwischen diesen zwei Sphären sind jedoch zunehmend verschwommen. Einige Gelehrte betrachten die Wissenschaft zunehmend aus der Perspektive eines magischen, schamanistischen Bezugssystems, andere entfernen sich von den empirischen Fundamenten und bemühen sich darum, die Wissenschaft Diskursen anzunähern, welche einen großen Wert auf moralischen Bewertungsstandards legen (ebd., S. 576). Das sechste Thema schließlich ist der zunehmende Einfluss der Technik auf die Forschungspraktiken. 240 In der Ausgabe des Handbook von 2000 sprechen Denzin und Lincoln auch von der sechsten, post-postmodernistischen und sogar von der siebten Phase, der Phase des Verlustes jeglicher Sicherheiten in der Entwicklung der qualitativen Forschung (Denzin und Lincoln 2000 b, S. 1047 - 1065). Man kann jedoch diese zwei letzten Phasen hier vernachlässigen. 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 365 Philosophische Hintergründe der qualitativen Forschung 241 Es ist sicher absolut berechtigt, die Geschichte der Entwicklung des Paradigmas der qualitativen Forschung so darzustellen, wie es Denzin und Lincoln tun. Mir scheint es aber angebracht, ihre Wurzeln aus einer umfassenderen Perspektive zu betrachten und zumindest einen kursorischen Ausblick auf einen Strang der europäischen Erkenntnissuche im 20. Jahrhundert zu geben, der bis jetzt völlig unerwähnt geblieben ist. Wir haben uns bereits ausführlich mit den Entwicklungen in der Wissenschaft und der Wissenschaftstheorie am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt, die zur Entstehung der neopositivistischen Schule geführt haben. Aufgrund meiner Schilderung dieser Prozesse konnte der Eindruck entstehen, dass das europäische Geistesleben jener Zeit durch diese Philosophie oder durch Philosophie allgemein dominiert wurde. Das Gegenteil ist der Fall. Die intellektuell prägenden Erscheinungen jener Zeit waren nicht die philosophischen Schulen, sondern wissenschaftliche Errungenschaften. Neben der bereits erwähnten neueren Physik mit ihren aufsehenerregenden und erfolgreichen Theorien ist hier insbesondere die Psychoanalyse mit ihrer epochalen Entdeckung des Unbewussten und seines Einflusses auf das menschliche Verhalten zu nennen. Auf dem sozialen Feld kam der (besonders in Osteuropa zunehmend einflussreiche) Marxismus hinzu, also eine praktisch und aktiv gewordene Philosophie, 242 die sich aber als eine Art vertiefte wissenschaftliche Soziologie und Geschichte ausgab und sich ihre Popularität unter den Fabrikarbeitern durch eine einfache Auslegung der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft in der Begrifflichkeit von Unterdrückung und Ausbeutung und durch den Aufruf zur gewaltsamen Abrechnung mit der postulierten Unterdrückung sicherte. Die Verschiebung des Schwerpunktes des geistigen Lebens am Anfang des 20. Jahrhunderts von der Philosophie zur Wissenschaft 243 ist im Lichte zweier wichtiger Tatsachen leicht verständlich. Erstens wurde nach dem Scheitern des Hegelianismus für alle denkenden Menschen schmerzlich offensichtlich, dass selbst die höchsten und feinsten philosophischen Gedanken keine Wahrheit verbürgen. Zweitens zeugten im Kontrast zu dem traurigen Spektakel von Unsicherheit, Veränderbarkeit, Unzuverlässigkeit und letztendlich Unglaubwürdigkeit der seit fast 2500 Jahren immer wieder neu errichteten und zu Fall gebrachten philosophischen Systeme die sich rapide vermehrenden Errungenschaften der Wissenschaft und ihrer Tochter, der 241 Dieser Abschnitt ist mit kleinen Veränderungen Majorek 2004 entnommen. 242 Vgl. Karl Marx ’ berühmte Parole: „ Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern “ (Marx 1962, S. 316). 243 Die Popularität des Marxismus, besonders unter den Arbeitern, ist auch aus anderen Gründen leicht nachvollziehbar. Das starke Echo, das durch die Psychoanalyse im Kulturleben evoziert wurde, ist hingegen schwieriger zu erklären, hat aber sicher nicht nur mit ihrer angeblichen Wissenschaftlichkeit zu tun. 366 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Technik, (Eisenbahnen, Autos, Telefone, Radios, Flugzeuge, Wolkenkratzer usw.) von Zuverlässigkeit und Sicherheit des empirischen Denkens. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die auf die Sicherung der Zuverlässigkeit der Erkenntnis abzielenden Ideen des logischen Positivismus zu jener Zeit relativ schnell großen Einfluss in der wissenschaftlichen wie auch in der philosophischen Gemeinschaft erlangen konnten. Phänomenologie Trotz der Erfolge und des Optimismus der positiven Wissenschaft gab es jedoch - besonders nach der Erschütterung des 1. Weltkrieges - zahlreiche Menschen, die das Vertrauen in das Projekt der modernen Vernunft überhaupt verloren haben und einen neuen Anfang suchten. Viele von ihnen haben den Weg nach Freiburg i. B. gefunden, wo Edmund Husserl (1859 - 1938) ein neues philosophisches System und eine neue Forschungsmethode lehrte, die er als Phänomenologie bezeichnete. Husserl gab in seinen Freiburger Vorträgen seiner Sorge um das europäisches Geistesleben Ausdruck und meinte, die Philosophie als eine strenge Wissenschaft könne nur auf der Grundlage seiner Phänomenologie, welche er als eine Art kartesianische Erneuerung der Philosophie verstand, entwickelt werden (Moran 2000, S. 62 und 82). Unter Phänomenologie wird heute gewöhnlich das Bestreben einer genauen Beschreibung der sinnlich gegebenen Erscheinungen verstanden. Husserl war allerdings weitergehend der Ansicht, dass man die gewöhnliche Beobachtung so vertiefen kann, dass man von der Oberfläche der Dinge zu ihrem Wesen vordringt. Er nannte diese Forschungsmethode „ Wesensschau “ : „ Zunächst bezeichnete ‚ Wesen ‘ das im selbsteigenen Sein eines Individuum als sein Was Vorfindliche. Jedes solche Was kann aber ‚ in Idee gesetzt ‘ werden. Erfahrende oder individuelle Anschauung kann in Wesensschauung (Ideation) umgewandelt werden. [. . .] Das Erschaute ist dann das entsprechende reine Wesen oder Eidos, sei es die oberste Kategorie, sei es eine Besonderung derselben, bis herab zur vollen Konkretion “ (Husserl 1976, S. 13). Eine solche Wesensschau setzt eine phänomenologische „ Epoché “ voraus, eine besondere Einstellung des Bewusstseins, welche darin besteht, dass man die im Laufe der Sozialisation und Bildung erworbenen Überzeugungen, Haltungen und Erkenntnisse gleichsam suspendiert und dadurch den Weg zu den reinen Phänomenen frei macht (ebd., S. 65). 244 Nicht Theorienbildung und Hypothesenprüfung, sondern ein direkter, intuitiver Einblick in die unvergängliche Natur der Phänomene war für Husserl der Weg zur sicheren Erkenntnis. Seine Lehre kann man deshalb als eine durch tiefen Erkenntnis- 244 Interessanterweise bezeichnet Husserl seine Forschungsmethode manchmal als „ Meditation “ (vgl. z. B. Husserl 1950, S. 49ff., bes. 64f.) 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 367 optimismus gekennzeichnete und im Geiste der platonischen Ideenschau 245 gehaltene Überwindung des Erkenntnisskeptizismus des zeitgenössischen Neukantianismus bezeichnen. Gleichzeitig sind gewisse Elemente des Kant ’ schen Erbes, wie z. B. die Idee des transzendentalen Selbst und der Konstitution der Erscheinung durch dieses Selbst, in Husserls Phänomenologie erhalten geblieben bzw. im Laufe ihrer Entwicklung in sie aufgenommen worden. Von besonderer Relevanz in unserem Kontext ist Husserls kritische Haltung gegenüber der positivistisch-empirizistischen Wissenschaft. 1935 hielt er in Wien und in Prag einige Vorträge zum Thema „ Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit “ , welche auf sehr lebhaftes Interesse stießen. In der aus ihnen hervorgegangenen Schrift Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie 246 warnte Husserl eindringlich vor der Gefahr des Zerfalls einer echten Rationalität durch den Einfluss des reduktionistischen Szientismus und des naiven Empirismus. Der Ausgangspunkt der Schrift ist eine provokative Frage: „ Gibt es angesichts der ständigen Erfolge wirklich eine Krisis der Wissenschaften? “ (Husserl 1954, S. 1). Die Antwort auf diese Frage fällt positiv aus, wobei Husserl den Grund für die Krise in der für die positivistisch und empiristisch orientierten Wissenschaften charakteristischen Ausrichtung der Forschung sieht: „ Wissenschaftliche, objektive Wahrheit ist ausschließlich Feststellung dessen, was die Welt, wie die physische so die geistige Welt, tatsächlich ist. Kann aber die Welt und menschliches Dasein in ihr in Wahrheit einen Sinn haben, wenn die Wissenschaften nur in dieser Art objektiv Feststellbares als wahr gelten lassen [. . .]? “ (ebd., S. 2). Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden vernunftfeindlichen Tendenzen könnte Husserls Infragestellung der Zweckmäßigkeit der herrschenden wissenschaftlichen Methode als eine Attacke auf die ganze rationalistische Tradition gedeutet werden. Dies war aber ausdrücklich nicht Husserls Haltung: „ Der Grund des Versagens einer rationalen Kultur liegt aber [. . .] nicht im Wesen des Rationalismus selbst, sondern allein in seiner Veräußerlichung, in seiner Versponnenheit in ‚ Naturalismus ‘ und ‚ Objektivismus ‘“ (Husserl 1954 a, S. 347f.). 247 Der Ausweg aus der Krise gelingt seiner Überzeugung nach nicht durch den Abschied vom Rationalismus, sondern gerade durch einen „ Heroismus der Vernunft “ (ebd., S. 348), der sich in der rigorosen Verfolgung seiner Methode manifestieren sollte. 245 Husserl wehrte sich allerdings gegen die Bezeichnung seiner Methode als eines Platonismus (vgl. Moran ebd., S. 135). 246 Husserl arbeitete an Veränderungen dieser Publikation bis zum Ende seines Lebens, sie blieb aber unvollständig. 247 Es handelt sich um den sog. Wiener Vortrag, der unter dem Titel „ Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie “ veröffentlicht wurde. 368 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Husserls Einfluss war enorm. Seine Vorträge in Freiburg wurden von später so prominenten Philosophen wie Hans-Georg Gadamer, Günther Stern, Herbert Marcuse und Rudolf Carnap besucht, und seine Vorträge in Paris im Jahr 1929 zogen Lucien Lévy-Bruhl, Alexandre Koyré, Emmanuel Levinas, Gabriel Marcel und Maurice Merleau-Ponty an. Husserl wurde zudem eingeladen, Vorträge in England zu halten; in Freiburg besuchte ihn Gilbert Ryle, ein späterer Begründer der sog. Oxford Philosophy oder Ordinary Language Philosophy (Moran 2000, S. 84 - 87). Existenzphilosophie Der wohl bekannteste Schüler von Husserl war Martin Heidegger (1889 - 1976). Vor seinem Ruf nach Marburg 1923 war Heidegger Assistent Husserls. Trotz dieser engen Beziehung zwischen den beiden hielt sich Heidegger jedoch von Beginn seiner Lehrtätigkeit an nicht mit Kritik an Husserl zurück. Er beanstandete u. a. dessen Idee vom transzendentalen Selbst, die Präferenz, welche Husserl für das theoretische Wissen statt für die praktische Lebenserfahrung zeigte, seinen Glauben an Evidenz und Sicherheit und sein mangelndes Bewusstsein für die geschichtliche Bedingtheit der Existenz (Moran 2000, S. 85). 248 Heideggers eigene Position hatte einen radikal anderen Schwerpunkt als Husserls. Während dieser trotz seiner Bedenken gegenüber der szientistischen Wissenschaft weiterhin dem kartesianischen Projekt der rationalen und sicheren Erkenntnis der Welt durch ein isoliertes Selbst verpflichtet war, entwickelte jener ein völlig neues kategoriales Raster, um die Existenz des Menschen zu erfassen. Der Mensch wird nicht als primär Geist oder primär Leib oder als eine Verbindung der beiden begriffen, also als eine Substanz (wie es in der bisherigen metaphysischen Tradition der Fall war). Vielmehr ist „ das Dasein “ dadurch ausgezeichnet, dass es ihm „ in seinem Sein um dieses Sein selbst geht “ (Heidegger 1993, S. 12) und das sein Wesen seine Existenz ist (ebd., S. 117). Der Mensch existiert nie allein und ohne die Welt: Die Anderen sind für das Ich konstituierend (ebd., S. 116), und die Welt ist der Raum, den der Mensch mit den Anderen teilt: „ Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen “ (ebd., S. 118). Konstitutiv für die menschliche Existenz sind Verstehen (ebd., S. 142ff.) und Sprache (oder genauer die Rede). Das Dasein ist ferner durch Befindlichkeit ausgezeichnet, die (düstere) Stimmung der Sorge, welche sich aus dem Umstand, dass die Antwort auf die Frage des Woher und Wohin des Daseins stets im Dunkel bleibt, und aus seiner Geworfenheit ergibt (ebd., S. 134ff.). Ein weiteres Existential ist das Gewissen, welches sich in seinem Ruf ankündigt. Dieser Ruf, in dem sich das Dasein selbst ruft, ist der Ruf der Sorge: „ Der Rufer ist das Dasein, sich ängstigend in der Geworfenheit (Schon-sein-in . . .) um sein Sein-können “ (ebd., S. 277). Die Mensch ist ein geschichtliches 248 Einige von Heidegger monierte Schwächen der phänomenologischen Lehre hat Husserl, insbesondere mit der Idee der Lebenswelt, selbst korrigiert. 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 369 Subjekt (ebd., S. 382ff.) und ein „ Sein zum Tode “ (ebd., S. 235), das sich vor seinem und um sein In-der-Welt-Sein ängstigt (ebd., S. 266). Ich hoffe, dass bereits diese „ Stichwörter “ aus Sein und Zeit deutlich machen, wie weit sich Heideggers Philosophie schon in ihrem frühen Stadium von der seiner Vorgänger entfernt hat. Zweifelsohne gab es Vorläufer dieser Weltauffassung: Die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz wurde bereits von Hegel thematisiert, die Bedeutung des Verstehens wurde - ebenfalls schon im 19. Jahrhundert - zum Fokus der Hermeneutik von Friedrich Schleiermacher. Wilhelm Dilthey, der die einflussreiche Aufteilung der Wissenschaften in erklärende Naturwissenschaften und verstehende Geisteswissenschaften einführte, die sog. Lebensphilosophie, zu deren Vertretern in Deutschland u. a. Friedrich Schelling (mit seiner Spätphilosophie), Arthur Schopenhauer, Wilhelm Dilthey und Friedrich Nietzsche und Henri Bergson in Frankreich zählten, hatte lange vor Heidegger die Bedeutung des Organischen, Emotionalen und Intuitiven bei der Erfassung der Welt, dem „ Erleben “ , erkannt. Søren Kierkegaard hatte ebenfalls lange vor Heidegger die Frage, wie der Mensch sein Dasein verstehen und leben soll, ins Zentrum seines Denkens gerückt. Jedoch war die von Heidegger vollzogene Synthese dieser Elemente, ihre Entwicklung und Vertiefung sowie auch Erweiterung um neue Themen einmalig. Sie war zumal durch ein tiefes und ergreifendes Charisma (und eine eigenartige, schwer verständliche, mit Neologismen gespickte Sprache) gekennzeichnet, das sicher dazu beigetragen hat, dass Sein und Zeit eine folgenschwere Verschiebung der Stoßrichtung der Philosophie einleitete: Das Buch wurde zum Quell der Existenzphilosophie. Die Daseinsanalyse, die Frage nach dem Verstehen und nach der Ausrichtung der menschlichen Existenz in der konkreten Welt, 249 rückte ins Zentrum der Betrachtung. Die Frage nach objektiver und sicherer Erkenntnis, welche seit Descartes leitend war, wurde innerhalb dieses Stromes irrelevant. 250 Der Einfluss Heideggers auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts war 249 Hannah Arendt bezeichnete Heideggers Philosophie als „ die erste und ohne alle Kompromisse weltliche Philosophie “ (Arendt 1990, S. 34). 250 Vgl. Heideggers abschätzige Bemerkungen zur Objektivität (Heidegger 1993, z. B. S. 106, 156). Es ist wichtig an dieser Stelle auf einen bedeutenden Unterschied zwischen der Haltung Husserls und der Heideggers hinzuweisen, der mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs „ objektiv “ zu tun hat. Dieser Begriff kann einerseits gebraucht werden, um die Gegenstände außerhalb des Betrachters (objektive Welt) zu bezeichnen in Abhebung von jenen, welche ihm in seinem Bewusstsein zugänglich sind (subjektive Welt), andererseits aber, um die „ richtige “ von „ falschen “ Erkenntnissen zu unterscheiden (objektives/ subjektives Urteil). Vgl. dazu z. B. Bell, der die erste Bedeutung des Begriffs als „ ontologisch “ , die zweite als „ epistemologisch “ bezeichnet (Bell 1992, S. 310 - 313). Für Husserl war die Frage nach der objektiven Erkenntnis im zweiten Sinne von zentraler Bedeutung, und wenn er sich entschieden gegen den „ Objektivismus “ der Wissenschaft äußerte, so meinte er die Versuche, die Bewusstseinsphänomene aus der Wissenschaft auszuschließen und die ganze Wissenschaft einschließlich der Psychologie und anderen Humanwissenschaften nach dem Muster der Physik zu betreiben, eine 370 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus enorm. Zu seinen direkten Schülern zählten Hans-Georg Gadamer, Herbert Marcuse, Hannah Arendt, Karl Löwith und Ernst Tugendhat. Darüber hinaus hatte er mittelbaren, aber wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Philosophie in Deutschland und Frankreich. Lediglich die Philosophen mit positivistischer Prägung fanden wenig Verständnis für sein Anliegen (vgl. Moran 2000, S. 245 - 247). Fast zeitgleich mit Heidegger entwickelte Karl Jaspers (1883 - 1969) in seinem 1932 erschienenen ersten philosophischen Werk Philosophie (Jaspers 1956) seine Version der Existenzphilosophie. Bereits in einer früheren Veröffentlichung 251 hatte er den Bruch mit der überlieferten Philosophie vollzogen, indem er alle philosophischen Systeme als mythologisierende Schutzgebäude darstellte, in welche der Mensch vor den eigentlichen Fragen seiner Existenz flüchtet. Das Denken ist nicht dazu da, Erkenntnisse zu liefern, sondern dient dem Heranführen des Menschen an bestimmte Grenzerfahrungen, an denen es scheitert, wodurch es dem Menschen die Möglichkeit eröffnet, die „ Chiffre der Transzendenz “ zu erfahren, ein sprachlich nicht kommunizierbares Absolutes, das weder rational gewonnen noch definitiv ist (vgl. z. B. Jaspers 1956, Bd. I, S. 33ff.). Die Aufgabe der Philosophie ist es deshalb nicht, dem suchenden Menschen Antworten auf seine Fragen zu geben, sondern ihn „ aus der Scheinwelt des nur Denkbaren “ zu befreien und ihn „ zur Wirklichkeit heimfinden zu lassen “ (vgl. Arendt 1990, S. 45). Dabei spielen für Jaspers die Mitmenschen eine noch zentralere Rolle, als dies bei Heidegger der Fall ist. Existenz ist nie isoliert, sie ist nur in Kommunikation mit anderer Existenz möglich. Mit Hannah Arendt trägt Jaspers ’ Begriff der Kommunikation daher der Einsicht Rechnung, dass die Menschheit die Bedingung der Existenz des Menschen bildet (ebd., S. 47). Hermeneutik Parallel zur Entstehung der besonders nach dem 2. Weltkrieg einflussreich gewordenen Existenzphilosophie entwickelt ein anderer Schüler von Husserl, Hans-Georg Gadamer (1900 - 2002), eine Weltauffassung, die den Begriff Tendenz, welche insbesondere durch Watsons Behaviorismus (der menschliche Organismus als „ black box “ ) in den Vereinigten Staaten seit der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts zunehmend an Einfluss gewonnen hatte. In diesem Sinne verteidigte Husserl etwas, was sich 50 Jahre später auch Thomas Nagel in seinem berühmten Buch The View from Nowhere (Nagel 1986) zum Anliegen machte: die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Bewusstseinsphänomene in der Wissenschaft. Es war aber für Husserl (wie auch für Nagel) klar, dass man diese Phänomene wissenschaftlich, d. h. objektiv im zweiten Sinne des Wortes, untersuchen kann. Nur eine solche Untersuchung mit den für diesen Zweck von Husserl bereitgestellten Mitteln der Epoché und der Wesensschau war für ihn auch erstrebenswert. Erst für Heidegger wurde das Streben nach epistemologischer Objektivität irrelevant, weil er an die Stelle der Erkenntnis den Primat des praxisleitenden Verstehens setzte. 251 Psychologie der Weltanschauungen (Jaspers 1971), veröffentlicht 1919. 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 371 der Hermeneutik bekannt machen sollte. Sein Hauptwerk, Wahrheit und Methode (Gadamer 1965), ist zwar erst 1960 erschienen, aber es ist angebracht, Gadamers Philosophie schon an diesem Ort unserer Darstellung zu erwähnen, da er bereits seit dem Anfang der 30er Jahre lehrte, so dass seine Ideen lange vor dieser Publikation reiften. Gadamer besuchte zwar Husserls Vorträge, habilitierte jedoch bei Heidegger. Die Einflüsse beider Denker sowie der frühen Hermeneutiker Schleiermacher und Dilthey sind in seinem System spürbar. Ein zentrales Thema Heideggers aufgreifend, geht Gadamer davon aus, dass das Verstehen eine Schlüsselrolle in der menschlichen Existenz spielt und die Sprache das Medium ist, in welchem es sich vollzieht. Verstehen wird von Gadamer (wie auch bereits von Dilthey) bewusst im Gegensatz zum Erklären begriffen. In der Tradition der Husserl ’ schen Krisis denkend, stellt Gadamer am Anfang von Wahrheit und Methode fest, dass das Problem der Geisteswissenschaften darin bestehe, dass ein Denken in sie Einlass gefunden habe, das dem Wesen des Problembereichs dieser Wissenschaften nicht gerecht werden könne: Die Erfahrung der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt lässt sich nicht mit dem induktiven Verfahren der Naturwissenschaften zur Wissenschaft erheben. [. . .] Das Einzelne dient [in den Geisteswissenschaften] nicht einfach zur Bestätigung einer Gesetzmäßigkeit, von der aus in praktischer Umwendung Voraussagen möglich werden. Ihr Ideal ist vielmehr, die Erscheinung selber in ihrer einmaligen und geschichtlichen Konkretion zu verstehen. Dabei mag noch so viel allgemeine Erfahrung wirksam werden: das Ziel ist nicht, diese allgemeinen Erfahrungen zu bestätigen und zu erweitern, um zur Erkenntnis eines Gesetzes zu gelangen [. . .], sondern zu verstehen, wie dieser Mensch, dieses Volk, dieser Staat ist [. . .]. (Gadamer 1965, S. 2) Dieses Ziel kann nur erreicht werden, indem man ein zu untersuchenden Phänomen in seinem Eingebettetsein in bereits vorgefundene Strukturen versteht, was zu dem berühmten „ hermeneutischen Zirkel “ führt (dessen „ Entdecker “ eigentlich Heidegger war, was Gadamer ausdrücklich anerkennt; vgl. Heidegger 1993, S. 153), der aber nicht als ein Circulus vitiosus, sondern als Spirale eines sich ständig selbst revidierenden und in immer neuen Entwürfen genauer an das Objekt anschmiegenden Verstehens zu begreifen ist. Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht. (Gadamer 1960, S. 251) 252 252 Gadamer schreibt an dieser Stelle vom Verstehen des Textes. Er sollte jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass er seine Methode auf die Textanalyse 372 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Neben Gadamers Betonung des verstehenden Zugangs zu den Phänomenen als für die Geisteswissenschaften einzig relevanter Vorgehensweise sind auch einige andere Aspekte seines Gedankengebäudes im gegenwärtigen Kontext erwähnenswert. Wie bereits für Heidegger war die Frage der Objektivität der Erkenntnis für Gadamer irrelevant (vgl. z. B. Gadamer ebd., S. 230ff., S. 250 und S. 429). Im Gegensatz zu der späteren Position von Derrida aber (die wir noch diskutieren werden) war es für ihn eine Selbstverständlichkeit, dass man einen Text richtig oder falsch verstehen könne (ebd., S. 282). Gleichzeitig hatte er auch wenig Verständnis für die Behauptung Foucaults, dass Verstehen Machtausübung oder den Versuch der Beherrschung bedeute. Seine Methode war vielmehr eine „ Hermeneutik des Vertrauens “ (vgl. Moran 2000, S. 253). Gadamer betonte ferner die Sprachlichkeit jeglicher Welterfahrung und damit die Unmöglichkeit, einen Standort außerhalb der Spracherfahrung zu finden, von welchem aus man diese Erfahrung beurteilen könnte. „ Wer Sprache hat, ‚ hat ‘ die Welt “ , schreibt er (Gadamer ebd., S. 429). Gadamers Philosophie des Verstehens und des Dialoges beeinflussten Generationen von Denkern. Der französische Existentialismus Es ist offensichtlich und schon aufgrund der engen persönlichen Verflechtungen nachvollziehbar, dass die drei bis jetzt behandelten philosophischen Schulen Gemeinsamkeiten aufweisen. Die wichtigste ist wohl die Verschiebung der Stoßrichtung des geistigen Strebens von der Erkundung der äußeren Wirklichkeit zur Erforschung der Phänomene des menschlichen Bewusstseins und seiner Hervorbringungen oder gar der Erhellung der menschlichen Existenz, in die die herkömmliche epistemologische Problematik keinen Eingang fand. Alle drei Schulen entwickelten dementsprechend spezifische Forschungsbzw. Vorgehensmethoden, welche keine Gemeinsamkeiten mit den empirischen Methoden der positivistischen Wissenschaften aufwiesen: Für Husserl war dies die Wesensschau, für Heidegger die Analytik des Daseins, für Jaspers die Existenzerhellung, für Gadamer der hermeneutische Zirkel des Verstehens. Alle drei Schulen kennzeichnet auch eine kritische Haltung gegenüber den Standardwissenschaften, insbesondere gegenüber ihrer Anwendung auf die Phänomene menschlicher Existenz. Alle drei Schulen haben - direkt oder indirekt - Vertreter oder Nachfolger innerhalb der Gegenwartsphilosophie, diese können jedoch für die jetzige Betrachtung weitgehend ausgeklammert werden. Was hier interessiert, ist vor allem die indirekte Befruchtung der weiteren Entwicklung durch Impulse, die von diesen Bewegungen ausgingen. Die direkte Fortsetzung einer dieser philosophischen Strömungen, nämlich des Heidegger ’ schen Existentialismus, muss dennoch erwähnt werden, und zwar aufgrund der großen einschränken wollte. Hermeneutik ist von ihm stets als Forschungsmethode der Geisteswissenschaften im Allgemeinen verstanden worden. 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 373 sozialen Resonanz, die sie im Frankreich der Nachkriegszeit fand. Zwei Personen haben diese Entwicklung maßgeblich geprägt: Jean-Paul Sartre (1905 - 1980) und Maurice Merleau-Ponty (1908 - 1961). Jean-Paul Sartres zentrales philosophisches Werk Das Sein und das Nichts ist 1943 erschienen. Sartre rezipierte in den 30er Jahren die Phänomenologie Husserls; seine ersten philosophischen Schriften standen unter diesem Einfluss. Ende der 30er Jahre wandte er sich jedoch Heidegger zu, und Das Sein und das Nichts stand dann deutlich im Kraftfeld von Heideggers Weltauffassung. Die Veröffentlichung dieses Buches kann als die Geburtsstunde des französischen Existentialismus bezeichnet werden, und Sartre selbst wurde zur leitenden Figur der existentialistischen Bewegung. Sein Hauptbeitrag zur Entwicklung der Existenzphilosophie lag in der Betonung der Freiheit des Menschen, der sein Wesen selbst erschafft (Sartre war ein entschiedener Atheist) und mithin absolut verantwortlich ist. Um Sartres Einfluss verstehen zu können, muss man aber noch ein wesentliches Element einbeziehen: seine Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Nach dem Krieg kam er zu der Überzeugung, dass nur ein genuin kommunistisches System Antwort auf die gesellschaftliche Probleme geben kann. Er unterstützte daher zunächst das stalinistische System in Russland, wobei er bisweilen sogar Stalins Arbeitslager und sein Regime des Terrors rechtfertigte. Die Niederschlagung des ungarischen Aufstandes durch die russischen Truppen 1956 führte zu einem Bruch mit dem sowjetischen Kommunismus (1968 verurteilte er die sowjetische Invasion in der Tschechoslowakei). Er unterstützte aber weiterhin revolutionäre Bestrebungen in aller Welt und hatte persönliche Begegnungen mit solch charismatischen Führern wie Fidel Castro oder Che Guevara. Erst 1977 gab er seine Unterstützung des Marxismus endgültig auf. Der Einfluss, welchen er durch seine philosophischen wie auch literarischen Werke, sein politisches Engagement und nicht zuletzt durch seinen rebellischen, den Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft trotzenden Lebensstil auf die französische Jugend ausübte, war sehr groß: Er galt als die Inkarnation des politischmoralischen Gewissens Frankreichs. Trotz seiner Betonung der Freiheit des Menschen in Akten der bewussten Selbstschaffung anerkannte Sartre aber auch die Einschränkungen dieser Freiheit durch solche unhintergehbare Bedingtheiten der menschlichen Existenz wie seine Leiblichkeit oder seine Situiertheit in einem partikularen sozialen und geschichtlichen Kontext. Das Thema der leiblichen Bedingtheit des Menschen wurde zum zentralen Topos von Sartres Freund und Mitarbeiter Merleau-Ponty (die beiden haben sich bereits in den 20er Jahren an der berühmten École Normale Supérieure kennen gelernt). In seinem Hauptwerk Phänomenologie der Wahrnehmung (Merleau-Ponty 1966), 1945 erschienen, rückt der Leib ins Zentrum der Betrachtung: „ Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus: er ist es, der alles sichtbare Schauspiel unaufhörlich am Leben erhält, es innerlich ernährt und beseelt, mit ihm ein einziges System bildend “ (Merleau-Ponty 1966, S. 239). Dies könnte als eine 374 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus recht banale Feststellung der offensichtlichen Tatsache gewertet werden, dass wir ohne den Leib (gewöhnlich) kein Bewusstsein entwickeln können. Für Merleau-Ponty spielt der Leib darüber hinaus jedoch eine wesentliche Rolle in der Welterfahrung. Er enthüllt die Welt (und das Subjekt), weshalb die Welt von diesem Leib ausgehend verstanden werden muss. Den Leib zu vernachlässigen hieße, die Welt zu verfälschen. Merleau-Pontys Philosophie ist insofern eine Philosophie der verkörperten menschlichen Existenz (Moran 2000, S. 391). Die Betonung der Leiblichkeit bedeutet die Würdigung einer wichtigen existentiellen Dimension des menschlichen Lebens, eine Anerkennung, die sich später indirekt in der Diskussion der menschlichen Identität oder des Selbstbewusstseins niederschlug. 253 Sie hat zumal epistemologische Folgen, die auch in unserem Kontext relevant sind. Wir sehen die Welt immer von einem bestimmten Gesichtspunkt aus: „ Immer sehen wir nur von irgendwoher, ohne aber dass das Sehen in seine Perspektive sich einschlösse “ (Merleau-Ponty 1966, S. 91). Wenn man Erkenntnis derart als notwendigerweise durch einen individuellen Leib vermittelt versteht, gelangt man zu einer Position, welche die Relativität und Kontingenz jeglicher Erkenntnis behauptet (vgl. Moran 2000, S. 427). Die Bedeutung dieses Argumentes wird an einer späteren Stelle unserer Betrachtung deutlich. Die Kritische Theorie und die Kritik der positivistischen Wissenschaft Ich habe bereits darauf aufmerksam gemacht, dass alle drei philosophischen Schulen, die hier als die geistigen Väter oder Mütter der qualitativen Forschung betrachtet werden, die Phänomenologie, die Existenzphilosophie und die Hermeneutik, eindeutig eine kritische Haltung zur positivistischen Wissenschaft artikulierten. Unterdessen wurde eine ähnlich geartete Kritik unmittelbar nach dem Krieg mit Nachdruck von einer Seite geäußert, von der sie eher unerwartet kam: von den von der marxistischen Ideologie ausgehenden Vertretern der sog. Kritischen Theorie. Der Marxismus war in seiner ursprünglichen Gestalt nämlich keineswegs wissenschaftsfeindlich, sondern hat sich im Gegenteil stets als eine Auffassung der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit präsentiert, dessen Kategorien aus einer wissenschaftlichen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse hervorgegangen sind. Die offensichtlichen Missstände, die sowohl in der sowjetischen Form der Verwirklichung der Marx ’ schen Ideen wie generell innerhalb der kommunistischen und sozialistischen Bewegung in Europa zum Vorschein kamen, führten u. a. dazu, dass bereits Ende der 20er Jahre in Frankfurt das „ Institut für Sozialforschung “ gegründet wurde, das sich zum Ziel setzte, eine Analyse der bürgerlichen Gesellschaft im Lichte der Marx ’ schen Theorie und der Vernunftideale der Aufklärung zu leisten, woraus sich grundsätzlich eine Position ergab, welche kritisch gegenüber den kapitalistisch struktu- 253 Vgl. z. B. Gareth Evans ’ Auffassung des Wesens des Selbstbewusstseins als leiblich situiert (Evans 1982). 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 375 rierten bürgerlichen Demokratien, aber auch gegenüber den totalitären, bürokratischen Scheinformen des Sozialismus bzw. Kommunismus war. Der Kreis der Intellektuellen, Sozialwissenschaftler und Philosophen, welche mit dem „ Institut “ verbunden waren, wurde bald als „ Frankfurter Schule “ bekannt. Zwei der führenden Persönlichkeiten dieser Schule waren Max Horkheimer (1895 - 1973), der 1930 zum Leiter des Instituts berufen wurde, und Theodor W. Adorno (1903 - 1969) (der im Übrigen mit einer Arbeit über Husserl promovierte und sich über Kierkegaard habilitierte). Bereits 1933 musste das Institut aufgrund der Judenverfolgung der Nationalsozialisten schließen, es wurde aber bald darauf in den Vereinigten Staaten reaktiviert. 1950 kehrte es nach Frankfurt mit Horkheimer und Adorno als leitenden Persönlichkeiten zurück. Kurz zuvor, 1947, war eine der wichtigsten Publikationen der beiden Denker, die Dialektik der Aufklärung, erschienen (Horkheimer und Adorno 1996). Dieses programmatische Werk gab die Denkrichtung vor, die das Institut nach seiner Neugründung einschlagen sollte. Unter dem Eindruck der Ereignisse des 2. Weltkrieges machten die Autoren darin auf die rätselhafte Paradoxie des Projekts Aufklärung aufmerksam. 254 Auf der einen Seite bescherte dieser Höhenflug der Vernunft den Menschen Befreiung von den Götzen des Aberglaubens, auf der anderen Seite trug gerade diese Form des Denkens, eingegossen in gesellschaftliche Formen und Institutionen, Keime der Selbstzerstörung in sich, wie sie in dem sich in der nationalsozialistischen Ideologie offenbarenden Rückfall in die Mythologie zum Vorschein kam. Aufklärung bedeutete die Entzauberung der Welt (Horkheimer und Adorno 1996, S. 9), aber die Vernunft, welche den Aberglauben besiegte, tat es, um der entzauberten Natur zu gebieten: „ Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. [. . .] Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts anderes gilt “ (ebd., S. 10). Auf dem Wege zur wissenschaftlichen Erfassung der Welt verzichten die Menschen auf Sinn. „ Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit “ (ebd., S. 11). Nüchternheit und Tatsachensinn sind auf diesem Wege Gebot, „ [d]er Wunsch darf nicht der Vater des Gedankens sein “ (ebd., S. 64), „ die Zahl wird zum Kanon und Pflicht, was sich der Berechenbarkeit und Nützlichkeit entzieht, gilt als verdächtigt. In diesem Sinne ist Aufklärung totalitär “ (ebd., S. 12). Diese Haltung hat vernichtende Konsequenzen für die Vernunft selbst: „ Der subjektive Geist, der die Beseelung der Natur auflöst, bewältigt die entseelte nur, indem er ihre Starrheit imitiert und als animistisch sich selber auflöst “ (ebd., S. 64). Die durch die 254 „ Aufklärung “ ist ein schillernder Begriff in der Dialektik. Die Autoren gebrauchen ihn in einer Weise, die ihn einerseits mit der bestimmten geschichtlichen Entwicklung, welche diesen Namen trug, identifizieren lässt, andererseits aber die Identifikation mit dem Vernunftbegriff selbst zulässt. 376 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Entzauberung der Natur korrumpierte Ratio wird somit zur Mimesis ans Tote (ebd.). Der Aufklärung (der Vernunft) obliegt es, diese Dialektik, dieses Zerstörerische des Fortschritts zu reflektieren. Tut sie es nicht, so besiegelt sie ihr Schicksal, denn ihre Schwächen haben praktische Folgen, welche sich gegen sie zu wenden drohen: „ An der rätselhaften Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen, in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten, an ihrer selbstzerstörerischen Affinität zur völkischen Paranoia, an all dem unbegriffenen Widersinn wird die Schwäche des gegenwärtigen theoretischen Verständnisses offenbar “ (ebd., S. 3). Die mit der Dialektik der Aufklärung angebotene Diagnose der zwiespältigen Rolle der Vernunft verschiebt das Marx ’ sche Begriffsraster der Unterdrückung, Versklavung, Ausbeutung, Entfremdung usw. von den gesellschaftlichen Verhältnissen auf die Beziehungen von Mensch und Natur. Sie wurde zum Grundstein der „ Kritischen Theorie “ , die das positivistisch ausgerichtete Wissenschaftsverständnis mit seinen Annahmen von Objektivität und Wertfreiheit der wissenschaftlichen Erkenntnis und seiner Reduktion von Vernunft auf ihre praktisch-technische Anwendung als Missdeutung betrachtet und einen Gegenbegriff der wissenschaftlichen Tätigkeit aufstellt, der in einem reicheren Verständnis der Vernunft gründet und den Anspruch erhebt, praktisch wissenschaftsleitend zu sein. Zu einer wichtigen Konfrontation zwischen den beiden Traditionen, dem sog. Positivismusstreit, kam es auf einer Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Oktober 1961. Im Rahmen dieser Tagung hielten Karl Popper und Theodore Adorno Referate, die diametral entgegengesetzte Positionen bezüglich der Rolle der Werte in der wissenschaftlichen (insbesondere soziologischen) Forschung vertraten. Während sich Popper an die traditionelle Auffassung der Wertfreiheit hielt und andere Vertreter der positivistischen Seite die grundsätzliche Kontingenz der Werturteile behaupteten, bestanden Adorno und die Vertreter der Kritischen Theorie auf der Möglichkeit der normativen Strenge als Forschungsbasis. Diese Kontroverse, die auch heute nicht endgültig zugunsten der einen oder der anderen Seite entschieden ist, deckte mit aller Deutlichkeit den tiefen Graben auf, der die beiden Traditionen trennt, und stellte eine wichtige Herausforderung für die bis dahin dominierende positivistische Wissenschaftsauffassung dar. Der Strukturalismus: das Streben, auf den Grund der Wirklichkeit zu gelangen Wir haben bereits ausführlich über die kurz nach dem Ausbruch des Positivismusstreites erfolgte Auflösung des postpositivistischen Paradigmas (des logischen Empirismus) gesprochen. Unterdessen gab es innerhalb der „ kontinentalen “ und insbesondere der französischen Philosophie eine Strömung, die sich den Tendenzen zur Relativierung der Erkenntnis widersetzte und im Frankreich der 60er Jahre den Existentialismus als die „ öffentliche “ 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 377 Philosophie ersetzte: den Strukturalismus. Ausgehend von Theorien des französischen Linguisten Ferdinand de Saussure (1857 - 1913), welcher die Sprache als ein System von Zeichen verstand, deren Bedeutung sich aufgrund ihrer Beziehungen innerhalb des gesamten Systems und insbesondere aufgrund ihrer Differenzen und Oppositionen zu den übrigen Elementen ermitteln lässt, wurde der Strukturalismus zu einer Methodologie der Linguistik, Semiotik, Ethnologie, Anthropologie, Soziologie, Psychoanalyse, Literaturwissenschaft u. a., die unter der Oberfläche der untersuchten Phänomene der Kulturwelt tiefere Strukturen und Regelsysteme entdecken wollte (für de Saussure war dies der Übergang von der Oberfläche der Signifikanten zur Tiefenstruktur der Signifikate). Diese sollten einerseits für diese Phänomene konstitutiv, andererseits im Gegensatz zu ihnen konstant und universell sein. Eine der leitenden Figuren, der Anthropologe und Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908 - 2009), hegte gar die Hoffnung, die ethnographische Untersuchung unterschiedlicher Kulturen möge die universalen menschlichen Denkstrukturen offenlegen. Gemeinsam mit den in der angelsächsischen Welt beheimateten Theorien der Sprache betonte der Strukturalismus den holistischen Charakter der Phänomene der Kulturwelt. Im Gegensatz zu diesen sah er es aber als möglich an, von der wandelbaren, unberechenbaren und in ihrer Komplexität verwirrenden Oberfläche zu einer stabilen Tiefenstruktur vorzudringen, was die Wissenschaftlichkeit der Forschungsergebnisse im Sinne ihrer Objektivität garantieren sollte. Der Strukturalismus erreichte den Höhepunkt seines Einflusses in Frankreich in den 60er Jahren, aber schon am Ende dieser Dekade wurden Zeichen des Verfalls sichtbar. 1966 veröffentlichte der bereits damals einflussreiche französische Philosoph Michel Foucault (1926 - 1984) seine Studie Die Ordnung der Dinge (Foucault 2003), welche äußerlich gesehen eine Frontalangriff auf die Kant ’ sche Annahme von unvergänglichen, jegliche Erkenntnis prägenden und stabilisierenden Kategorien der Vernunft war und stattdessen die Historizität aller Wissensformen behauptete. Auf einer tieferen Ebene war dieses Werk, das ursprünglich den Untertitel „ Eine Archäologie des Strukturalismus “ tragen sollte, aber auch eine Abrechnung mit dem Strukturalismus, dem Foucault vorwirft, dass er nach anthropologischen Konstanten suche und damit in den Wissensformen des 18. Jahrhunderts verfangen bleibe. An die Stelle einer Analyse der Strukturen, welche den Menschen bestimmen, setzt Foucault die Transformation. 1967 erschienen gleich drei Werke von Jacques Derridas (1930 - 2004), der durch sie zum Begründer der Dekonstruktion wurde: Die Stimme und das Phänomen (Derrida 2003), Grammatologie (Derrida 1974) und Die Schrift und die Differenz (Derrida 1972). Sie markieren den Ausgangspunkt seiner einflussreichen und folgenschweren Attacke auf den Strukturalismus, den er der Befangenheit in der Vorstellung einer stabilen, gottgeschaffenen Welt bezichtigt, die er als „ Onto-Theo-Teleologie “ bezeichnet (Derrida 1974, S. 128). Es könne, so Derrida, nicht darum gehen, (in de Saussures Terminologie) feste 378 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Signifikate unterhalb der Ebene der Signifikanten zu suchen, denn solche Signifikate gebe es nicht. Das Signifikat sei ursprünglich und wesensmäßig nur eine Spur, die sich immer in der Position des Signifikanten befinde. Es gehe daher darum, „ die Idee des Zeichens durch eine Betrachtung der Schrift zu dekonstruieren “ (ebd.). 255 Der Strukturalismus war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben dem logischen Positivismus und der Phänomenologie die einzige einflussreiche philosophische Position, die in kartesianischer Tradition an die Möglichkeit eines stabilen, sicheren Wissens glaubte. Die Arbeiten von Foucault und Derrida stellen den Anfang vom Ende des Einflusses dieser Schule und den Übergang zum sog. Poststrukturalismus dar. Damit ist jene Schwelle des geistigen Lebens erreicht, die 1979 ihren Namen fand: die Postmoderne. 1968 Bevor wir uns aber dem Phänomen der Postmoderne und seiner Bedeutung für die Entstehung des Paradigmas der qualitativen Forschung widmen können, müssen wir noch einige weitere wichtige Entwicklungen betrachten. Am Ende der 60er Jahre kam es zu einer sozialen Erschütterung, die bleibende Spuren sowohl in den gesellschaftlichen Strukturen wie auch im intellektuellen Klima in Europa und in den Vereinigten Staaten hinterlassen sollte. Es ist hier nicht der Ort, die Hintergründe und die Entwicklung dieser Bewegung ausführlich zu analysieren. Dennoch soll auf einige Elemente der Bewegung, welche im gegenwärtigen Kontext unmittelbar relevant sind, aufmerksam gemacht werden. Die sog. 68er-Bewegung war bekanntlich zunächst ein Protest der Studenten in den USA, Frankreich, Deutschland und Italien, 256 der sich an der Rolle der USA im Vietnam-Krieg entzündete, sich aber schnell zu einem allgemeinen Protest gegen die Unterdrückung von ethnischen Minderheiten (am 4. April wurde Martin Luther King erschossen, was zu Rassenunruhen in den Vereinigten Staaten führte) ausweitete und zu Befreiungsbewegungen bzw. sozialen Revolutionen in aller Welt und schließlich zur Kritik an den als veraltet erachteten sozialen Strukturen in den eigenen Ländern führte. Den ideologischen Unterbau der Bewegung lieferte das marxistisch-leninistisch und maoistische Gedankengut mit seinem Begriffsraster der Unterdrückung, Ausbeutung und Befreiung durch Revolution, wobei neben den Schriften der Klassiker und revolutionärer Helden wie Che Guevara 257 auch die Werke gemäßigter Denker, insbesondere der 255 Es deutet sich somit bereits zu dieser Zeit die für Derridas spätere Position so charakteristische anti-essentialistische Haltung an, welche grundsätzlich keine ontologischen Konstanten dulden will. 256 Wobei in Frankreich die Proteste binnen einigen Tagen zu einer Streikwelle führten, an welcher sich schätzungsweise 7,5 bis 9 Millionen Arbeiter beteiligten. 257 Er hat für die Schaffung von „ zwei, drei, viele Vietnams “ appelliert (vgl. Gilcher-Holtey 2001, S. 78). 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 379 Frankfurter Schule, die Meinungen prägten. (Das Buch Der eindimensionale Mensch von Herbert Marcuse, einem der wichtigsten Repräsentanten der Kritischen Theorie, das die wissenschaftskritischen Ideen von Husserl und Heideggers Technikkritik aufgriff, wurde zu einer der Programmschriften der Bewegung. 258 ) Ein nicht zu vernachlässigender Faktor der Dynamik der Bewegung war die nach dem 2. Weltkrieg in den Vereinigten Staaten wie auch in vielen europäischen Ländern vollzogene Öffnung der Universitäten für die Kinder der Arbeiterschicht und des Kleinbürgertums, was einerseits zu einem rapiden Zuwachs der Studentenzahl, andererseits zu stark veränderten Haltungen der Studierenden führte. 259 Wichtiger aber als die Frage nach den politischen oder ideologischen Hintergründen der 1968er-Bewegung sind die gesellschaftlichen Folgen der Proteste. Es herrschte damals das Gefühl, dass eine neue Gesellschaft, eine neue Kultur, eine neue Welt mit neuen Werten, einem neuen Bewusstsein und neuen Institutionen im Entstehen begriffen ist. Durch den Einfluss, den die Bewegung auf ihre Teilnehmer und Beobachter ausübte, veränderte sie Erziehungsweisen und Verhaltens- und Umgangsformen, und obschon sie es nicht vermochte, die Macht- und Herrschaftsstrukturen dauerhaft zu beeinflussen, bewirkte sie doch (vielleicht besonders in Deutschland) einen tiefgreifenden Mentalitätswandel, eine Überwindung der alten obrigkeitsstaatlich orientierten, autoritären Verhaltensdispositionen (Gilcher-Holtey 2001, S. 124 - 127). Die Auswirkungen der Bewegung für Frankreich fassen Best und Kellner folgendermaßen zusammen: „ One cannot exaggerate the role of May ’ 68 in France in producing a sense of rupture with the past, a sense that an irreversible turning point had occurred, that a new world was being born “ (Best und Kellner 1997, S. 5). 258 Engl. Original: One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, erschienen 1964. 259 Für die Situation in Frankreich vgl. Gilcher-Holtey 2001, S. 81. In den Vereinigten Staaten wurde 1944 das sog. „ G. I. Bill “ verabschiedet, um den heimkehrenden Veteranen die Integration ins zivile Leben zu erleichtern. Das Gesetz sah u. a. vor, dass die heimkehrenden Soldaten jede Bildungsanstalt, die sie aufzunehmen bereit war, unentgeltlich besuchen durften. Dank diesem Gesetz haben in den folgenden 7 Jahren fast 2,5 Millionen ehemalige Soldaten eine Universität oder ein College besucht. Cowley and Williams beschreiben den Einfluss dieser Öffnung für die amerikanische Gesellschaft folgendermaßen: „ These two G. I. bills [gemeint sind das Gesetz vom 1944 und ein vergleichbares Gesetz, welches in den 50er Jahren nach dem Korea-Krieg verabschiedet wurde] produced an enormous change in American higher education. Before World War II American colleges and universities attracted primarily the sons and daughters of the middle and upper classes. The G. I. bills made it possible for an entirely new sector of American society to pursue higher education, and once the members of that generation had gone to college they most certainly wanted their daughters and sons to follow. The massive enrollment build-ups of the 1960 s and 1970 s are a direct outcome of the increase in enrollment generated by post-World War II G. I. bills “ (Cowley 1991, S. 188). 380 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Ich möchte auf drei weitere Punkte hinweisen, welchen in den Analysen der 1968-Bewegung gewöhnlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird, die aber für die gegenwärtige Betrachtung wesentlich sind. 1) Die 68er-Bewegung schaffte einen neuen Sinn für die transatlantische Gemeinsamkeit der Interessen der neuen Generation, der sich auch in der Verschmelzung von „ kontinentaler “ und „ angelsächsischer “ philosophischer Tradition und in der Expansion der qualitativen Forschung in den 80er Jahren ausdrückt. 2) Die Institution der Wissenschaft wurde als ein Element der alten Machtstrukturen wahrgenommen, was die Kritik an ihr in den 70er Jahren begünstigte. 3) Die Infragestellung und Aufweichung der alten sozialen Strukturen trug wesentlich zur Entstehung der zweiten Welle des Feminismus bei (vgl. James 1998, S. 581). Die feministische Bewegung war und ist selbstverständlich vor allem auf die Überwindung der Ungleichheit gerichtet, die den Umgang mit dem „ anderen Geschlecht “ trotz der politischen Emanzipation der Frauen noch immer prägte. Es ist jedoch unschwer, im Aufruf zur Befreiung von der Männerdominanz das Echo der 1968er-Bewegung zu hören. Die Begrifflichkeit der Unterdrückung, Ausbeutung und Revolution, welche sich übrigens bereits in de Beauvoirs richtungweisendem Buch Das zweite Geschlecht findet, spielte zusammen mit der ebenfalls in diesem Buch zum ersten Mal aufgestellten These von der sozialen Konstruktion des Geschlechtes zweifelsohne eine wichtige Rolle für das Entstehen der „ zweiten Welle “ der feministischen Bewegung. Die soziale Komponente des Feminismus ist jedoch kein Thema der gegenwärtigen Betrachtung. In unserem Kontext interessiert vielmehr der Umstand, dass die feministisch orientierten Denkerinnen bald eigene (wenn auch nicht ganz originelle) Ideen in Bezug auf die Ausrichtung der wissenschaftlichen Forschung, an welcher viele von ihnen als Akademikerinnen selbst beteiligt waren, entwickelten, Ideen, die man als feministische Epistemologie bezeichnen kann. Wenn man die Kerngedanken dieser Epistemologie betrachtet (s. oben), so gewinnt man den Eindruck, dass sie eine Übertragung der Anliegen der 68er-Bewegung auf das Gebiet der Wissenschaft darstellt: Die herkömmliche Wissenschaft wird als eine unterdrückende Machtstruktur identifiziert, wobei die Unterdrückten nicht mehr die Arbeiterklasse oder ethnischen Minderheiten, ja nicht einmal nur die Frauen sind, sondern der wissenschaftliche Gegenstand, die Natur selbst. Die Postmoderne Parallel zum Aufkommen der feministischen Erkenntnistheorie entwickelte sich in der angelsächsischen Welt eine soziologisch fundierte Kritik der Wissenschaft, welche ich ebenfalls bereits ausführlicher behandelt habe. Diese Strömung fand ihrerseits ein entferntes Echo in der französischen Philosophie jener Zeit. In diesem Zusammenhang müssen vor allem die späteren Publikationen von Derrida, insbesondere seine 1972 erschienenen 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 381 Bücher Dissemination (Derrida 1995), das die Unmöglichkeit einer einheitsstiftenden Interpretation des Textes illustriert, und Randgänge der Philosophie (Derrida 1988) mit der klassischen Studie über die „ différance “ und einer Analyse der Folgen von 1968 für die französische Philosophie genannt werden. Wichtig sind ferner Foucaults definitiv poststrukturalistische Werke: Überwachen und Strafen (Foucault 1989), das anhand des Strafsystems die innige Beziehung zwischen Wissen und Macht illustriert (ein Thema, dem wir bereits in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno begegnet sind), Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit (Foucault 1978), eine Sammlung von Interviews und Vorträgen, die das Thema der Verflechtung des Wissens und der Macht weiterverfolgt, und Sexualität und Wahrheit (Foucault 1987), das u. a. die Selbstkonstruktion des Subjektes darstellt. Als Jean-François Lyotard (1924 - 1998) 1979 sein kleines, aber bahnbrechendes Werk Das postmoderne Wissen (Lyotard 1999) 260 veröffentlichte, das einer neuen Epoche des Geisteslebens den Namen geben sollte, standen vor seinem geistigen Auge gedankliche Umwälzungen, wie sie der kursorische Überblick darzustellen versuchte. Innerhalb von nur knapp achtzig Jahren sind so viele philosophische Schulen und Richtungen entstanden, aufgeblüht und verschwunden wie wohl nie zuvor. 261 Es verwundert deshalb nicht, dass Lyotard, auf diese Entwicklung zurückschauend, von der „ Krise der (großen) Erzählungen “ sprach (Lyotard 1999, S. 13), seien es philosophische Weltanschauungen, seien es wissenschaftliche Theorien 262 - Erzählungen, die man auf Wittgenstein zurückgreifend auch als „ Sprachspiele “ bezeichnen (ebd., S. 55ff.) oder mit Fabeln, Mythen und Legenden vergleichen kann (ebd., S. 85). Das Panorama des geistigen Lebens seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts, ja seit dem Anfang des modernen Denkens im 16. oder 17. Jahrhundert betrachtend, kann man angesichts des Scheiterns aller Hoffnungen, welche mit jeder neuen philosophischen Schule aufgeblüht sind, nicht umhin festzustellen, dass die großen Erzählungen ihre Glaubwürdigkeit verloren haben (ebd., S. 112). Das wissenschaftliche Wissen fährt jedoch nicht viel besser: Die Wissensproduktion ist zwar quantitativ gestiegen, aber einerseits wurde das Wissen in der modernen Gesellschaft zur Ware, andererseits wurde es durch das erhöhte Produktionstempo instabil. Deshalb 260 Franz. Original: La condition postmoderne. Der Begriff der Postmoderne wurde innerhalb der Kultur- und Kunsttheorie bereits Ende der fünfziger Jahre geprägt. Hier geht es um seine philosophische Verwendung, welche erst mit Lyotards Publikation vollzogen wurde. 261 Ich habe hier nur diejenigen philosophischen Strömungen der ersten sieben Dekaden des 20. Jahrhunderts behandelt, welche mir für unser Thema unmittelbar relevant schienen, also bei weitem nicht alle! Lyotard hatte aber selbstverständlich auch Kenntnis derer, welche hier unerwähnt blieben. 262 Lyotard macht nicht klar, ob er diese, jene, beides oder aber vielleicht auch etwas ganz anderes unter dem Begriff der „ Erzählung “ versteht. 382 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus beschreibt die postmoderne Wissenschaftstheorie - laut Lyotard - die Evolution der Wissenschaft nicht mehr mit den Kategorien der Kontinuität und Konvergenz, sondern betrachtet sie als diskontinuierlich, katastrophisch und paradoxal (ebd., S. 173). Lyotard plädiert für die Akzeptanz dieser Realität. Die postmoderne Wissenschaft müsse Erforschung der Instabilitäten sein und ein offenes System bilden, in welchem der Wert der Aussagen nicht darin bestehe, gültige Voraussagen zu ermöglichen, sondern vielmehr „ Ideen zu veranlassen “ - neue Aussagen, andere Spielregeln zu initiieren (ebd., S. 185). Für die gedankliche Aneignung der Wirklichkeit bedeutet das: Statt eine neue philosophische Schule aufzubauen oder eine neue wissenschaftliche Theorie zu konstruieren, solle man sich lieber nach Belieben der Trümmer und Bruchstücke der alten bedienen, um aus ihnen ein den Gegebenheiten und Bedürfnissen einer bestimmten Situation angepasstes Mosaik, eine kreative Collage zusammenzustellen. Qualitative Forschung Aber nicht nur hinsichtlich der Theoriebildung, auch hinsichtlich der Forschungsmethode (welche Lyotard in seinem Buch allerdings praktisch gar nicht diskutiert) stand man am Ende der 70er Jahre vor einem Scherbenhaufen. Nachdem der neopositivistische Szientismus durch Husserl, Gadamer, Horkheimer und Adorno, Kuhn, die Soziologie der Wissenschaft und zuletzt auch die feministische Epistemologie wiederholt kritisiert worden war, schien für viele der Bann dieser Methodologie - zumindest innerhalb der Humanwissenschaften - endgültig gebrochen. Das Feld für neue Versuche war offen. Auch stand - wie bereits erwähnt - den Wissenschaftlern ein Instrumentarium von „ qualitativen “ Forschungsmethoden zur Verfügung, die sich bereits seit dem 19. Jahrhundert vor allem innerhalb der Anthropologie und der Ethnographie entwickelt hatte. Es handelt sich dabei um Disziplinen, die verhältnismäßig wenig von der experimentellen Methodologie der „ Standardwissenschaften “ profitieren und auf den direkten Kontakt mit dem „ Forschungsobjekt “ in der Feldarbeit angewiesen sind. Durch das Zusammenkommen dieser verschiedenen Momente - die postmoderne Öffnung auf dem Feld der Theorien ( „ Erzählungen “ ) und der Methodologie (endgültiger Vertrauensverlust gegenüber der positivistischen Doktrin) und die „ Entdeckung “ der seit langem praktizierten qualitativen Methoden - wurde Anfang der 80er Jahre eine neue Form der Wissenschaftsgewinnung geboren, die heute gewöhnlich als Qualitative-Research-Methodologie bezeichnet wird. Ihre zentralen Eigenschaften werden in der zweiten Auflage des von Norman Denzins und Yvonna Lincolns herausgegebenen 263 Standardlehrbuchs Handbook of Qualitative Research folgendermaßen definiert: 263 Es ist für die qualitative Forschung bezeichnend, dass dieses Werk gemeinsam von einem Mann und einer Frau herausgegeben wurde. 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 383 Qualitative research is a situated activity that locates the observer in the world. It consists of a set of interpretative, material practices that make the world visible. These practices transform the world. They turn the world into a series of representations, including field notes, interviews, conversations, photographs, recordings, and memos to the self. At this level, qualitative research involves an interpretative, naturalistic approach to the world. This means that qualitative researchers study things in their natural settings, attempting to make sense of, or to interpret, phenomena in terms of the meanings people bring to them. (Denzin und Lincoln 2000 a, S. 3). Auffällig an dieser Definition ist die Radikalität, mit welcher sie sich von praktisch allen Axiomen des (noch) dominierenden wissenschaftlichen Paradigmas verabschiedet und den Empfehlungen der postmodernen wie auch der feministischen Denkschulen folgt. Forschung ist keine absolute, transzendente Aktivität, sondern sie ist in der realen und kontingenten Welt situiert; der Forscher verschwindet nicht aus dem Bild, er versteckt sich nicht hinter seinen Instrumenten und Theorien, noch wird er von ihnen verdeckt, sondern er ist Teil dieser kontingenten Welt, gehört existentiell zu ihr. Die Welt existiert nicht unabhängig von den Forschern, sie wird von ihnen nicht einfach nur passiv in ihrem kognitiven Apparat gespiegelt, sondern sie wird durch die Forscher im Prozess ihrer Untersuchungen sichtbar gemacht, sie wird durch sie, könnte man sagen, zur Existenz erweckt. Die Forschungstätigkeit lässt die Welt nicht unverändert, im Gegenteil, sie verwandelt die Welt, die sie vorfindet; die Forschung produziert nicht das eine objektive und absolute Bild von der Welt, das angemessen widerspiegelt, wie diese Welt ohne und vor der Intervention des Forschers ist, sondern gibt sie in einer Reihe von abwechslungsreichen Darstellungen wider, die explizit nicht den Anspruch erheben, als objektive Erkenntnis zu gelten. Bei diesen Darstellungen handelt es sich um unterschiedliche Repräsentationen der Wirklichkeit, welche offen dazu stehen, bloß kontingente, unvollständige und vorübergehende Interpretationen der Wirklichkeit zu sein. Schließlich sucht der Forscher nicht nach absoluten Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten, sondern interessiert sich in erster Linie für die Bedeutung der Phänomene, denen er begegnet, eine Bedeutung allerdings, die den Phänomenen nicht mehr oder weniger willkürlich vom Forscher beigelegt, ja aufoktroyiert wird, sondern die ihnen von den beteiligten Personen selbst zugeschrieben wird. Der Kontrast zwischen dem neopositivistischen (oder dem zeitgenössischen post-positivistischen) Ideal der objektiven, absoluten Wissenschaft, die vorgibt, völlig frei von den Verzerrungen durch die Subjektivität des Forschers sein zu können, und dem Programm der qualitativen Forschung kann wohl nicht radikaler sein. Ebenso auffällig ist der Reichtum und die Vielfalt der Forschungsmethoden, die den Praktikern dieses Forschungsparadigmas zur Verfügung stehen: Feldnotizen, Interviews, Gespräche, Fotos, Aufnahmen, Memos, Fallstudien, persönliche Erfahrung, Introspektion, Lebensgeschichte, Artefakte, kulturelle 384 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Texte und Produktionen, beobachtende, historische, Interaktions- und visuelle Texte (welche die routinemäßigen wie auch prägenden Momente im Leben des Einzelnen festhalten), wissenschaftliche Berichte, interpretative Fallstudien, ethnografische Fiktion, Essays, Erzählungen, experimentelles Schreiben, teilnehmende Beobachtung, phänomenologische Studien, symbolischer Interaktionismus, Aktionsforschung, Erzählforschung, Geschichtsschreibung, Literaturkritik usw. (vgl. Denzin und Lincoln 2000 a, S. 4f. und 34; ebenso Janesick 1998, S. 35 - 55). Es gibt auch eine praktisch unbegrenzte Auswahl an theoretischen Systemen, innerhalb welcher die gewonnenen Daten interpretiert werden können: positivistische, postpositivistische, konstruktivistische, feministische, ethnische, marxistische, „ Cultural-Studies “ - Theorien usw. Einzeln oder in beliebiger Kombination bieten sie dem Forscher eine Kulisse für seine Interpretation der Daten (vgl. Denzin und Lincoln 2000 a, S. 33 - 36). Hier scheint also in der Tat zu gelten: „ Anything goes. “ Der qualitative Forscher ist daher ein Bricoleur (Denzin und Lincoln 1998 a, S. xi, xv; ders. 1998 b, S. 3 - 5; ders. 2000, S. 1061; die Autoren gebrauchen diesen Begriff stets in seiner französischen Originalform). Ein Bricoleur produziert eine Bricolage (Bastelarbeit): ein recht spontan zusammengefügtes Mosaik von Verfahren, die die Lösung eines konkreten Problems in einer konkreten Situation ermöglichen. Diese Lösung verändert sich und nimmt neue Formen an, sobald neue Werkzeuge, Methoden und Techniken dem Puzzle bzw. der Situation hinzugefügt werden. Die Wahl der „ geeigneten “ Werkzeuge und Methoden erfolgt ausschließlich nach pragmatischen Kriterien, d. h., der qualitative Forscher verwendet die Strategien, Methoden und das empirische Material, welche gerade zugänglich sind und sich für die Lösung des Problems unmittelbar anbieten. Wenn neue Werkzeuge erfunden bzw. zusammengebastelt werden müssen, so wird der qualitative Forscher dies tun. Welche Werkzeuge in welcher Situation zu gebrauchen sind, wird nicht im Voraus festgelegt. Qualitative Forschung ist also ein Multimethoden- Unternehmen (Denzin und Lincoln 1994 a, S. 2). Aus den zentralen Eigenschaften der qualitativen Forschung - ihre theoretische und methodische Pluralität, verbunden mit der Freiheit des Gebrauchs des Instrumentariums gemäß den momentanen Bedürfnissen des Forschers und der Betonung der sozialen Relativität der so gewonnenen Ergebnisse - ergibt sich: 1. The qualitative researcher is not an objective, authoritative, politically neutral observer standing outside and above the text. 2. The qualitative researcher is „ historically positioned and locally situated [as] an all-too-human [observer] of the human condition “ . 3. Meaning is „ radically plural, always open, and [. . .] there is politics in every account “ . (Denzin und Lincoln 1994 b, S. 576) 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 385 Auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert geht es hier um „ the commitment to study human experience from the ground up, from the point of interacting individuals who, together and alone, make and live histories that have been handed down from the ghosts of the past “ (Denzin und Lincoln 1994 b, S. 584). Die qualitative Forschung erlebte eine sprunghafte Ausbreitung auf Forschungsfelder wie Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie, Soziologie und Teile der Medizin. Als Zeichen der zunehmenden Bedeutung ihrer Methodologie kann die schnell wachsende Zahl der ihr gewidmeten akademischen Zentren gewertet werden. In Nordamerika sind das z. B. The Qualitative Research Centre, Boulder, Colorado; Center for Interpretive and Qualitative Research, Duquesne University, Pittsburgh, Pennsylvania, International Institute for Qualitative Methodology (IIQM), University of Alberta, Canada; in England z. B. das Centre for Qualitative Research sowie die University of Bornemouth und in Deutschland das Institut für Qualitative Forschung in Berlin sowie das Zentrum für Qualitative Psychologie an der Universität Tübingen. Von der Bedeutung dieses Forschungsprogramms zeugen ferner die zahlreichen wissenschaftliche Tagungen, die der qualitativen Forschung gewidmet sind (z. B. das jährlich stattfindende Berlin Meeting on Qualitative Research Methods) wie auch die wachsende Zahl der wissenschaftlichen Zeitschriften, die auf qualitative Forschung basierende Artikel veröffentlichen. Die Website der Saint Louis University listet Dutzende Journale auf, die entweder ausschließlich Veröffentlichungen zur qualitativen Forschung gewidmet oder zumindest bereit sind, auf der Methodologie der qualitativen Forschung basierende Artikel zu veröffentlichen. 264 Man kann daher von der Entstehung eines neuen Forschungsparadigmas sprechen. Bewertung Eine abschließende Beurteilung des Paradigmas der qualitativen Forschung ist in Anbetracht des Reichtums und der Vielfalt der unter diesem Namen praktizierten Forschungs- und Interpretationsformen noch schwieriger als bei der feministischen Erkenntnistheorie. Die Forschungsresultate, welche im Rahmen dieses Paradigmas produziert werden, sind ebenso vielfältig wie die Forschungsresultate der quantitativen Wissenschaft. Es ist einsichtig, dass man sie unmöglich auf ein paar Seiten darstellen kann. Ich werde dennoch versuchen, einige vorsichtige und vorläufige Urteile über diese Forschungsrichtung zu formulieren. Zweifelsohne bedeutet die Ausbreitung des Qualitative-Forschung-Paradigmas wie auch seine wachsende wissenschaftliche Akzeptanz eine Chance für die Humanwissenschaften im Allgemeinen und für die mit ihr verwandten Wissenschaften. Die Befreiung von der Zwangs- 264 http: / / www.slu.edu/ organizations/ Qualitative Forschung/ QRjournals.html 386 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus jacke der Hypothesenbildung und Hypothesentests, der Erhebung numerischer Daten und ihrer statistischen Verarbeitung ist ein ungemein kostbares Verdienst dieses Paradigmas. Auch wird man bei der Begegnung mit einem qualitativen Forscher feststellen, dass einem eine Offenheit, eine Menschlichkeit, auch eine besondere Lebendigkeit entgegentritt, die in einem konventionellen wissenschaftlichen Milieu zu erleben eher unwahrscheinlich ist. Man hat das Gefühl, dass diese Menschen weit davon entfernt sind, nach einfachen, reduktionistischen Antworten zu suchen, die in statische, abstrakte Formeln eingefroren werden könnten, dass sie ein spontanes, intuitives Verständnis für die Dynamik des Lebens, für seine Komplexität, seine Verworrenheit, seine Fluidität haben. Man hat in der Tat manchmal das Gefühl, dass sie fixe Theorien vehement ablehnen, weil sie eine dunkle Ahnung von der Realität der hinter der starren Oberfläche der sinnlichen Welt verborgenen lebendigen, fließenden, unruhigen und ätherischen Wirklichkeit haben. Es besteht kein Zweifel, dass die Forscher/ innen des Qualitative-Forschung-Paradigmas Wertvolles insbesondere auf dem Felde der Beschreibung sozialer Phänomene geleistet haben, indem sie sich von dem engen Korsett der Quantifizierung der Beobachtung befreiten, von Methoden, welche den Horizont unserer normalen menschlichen Erfahrung zwangsläufig einschränken. Aber es kann ebenso kein Zweifel darüber bestehen, dass einige ihrer Produktionen äußerst fragwürdig sind. Ein instruktives Beispiel ist das 35 Seiten lange Kapitel des Handbook of Qualitative Research, das der sogenannten Autoethnografie oder persönlichen Erzählforschung gewidmet ist. Es enthält ungefähr 10 Seiten Theorie, die restlichen 25 hingegen sind eine Aneinanderreihung von Schnappschüssen zu Lebensereignissen und Gespräche der beiden Autoren, deren Relevanz für das Thema weitgehend im Dunkeln bleibt. “ High, glad it ’ s you, ” I say, relieved to hear Art ’ s voice on the other end of the line. “ You sound upset. What ’ s the matter? ” Art asks. “ Oh, it ’ s been a zoo in the office today - long distance calls, forms to fill out, a barrage of e-mail, one student after another. I ’ m feeling the end-of-the-semester panic. [. . .] How ’ s everything at home? Are the dogs okay? ” (Ellis und Bochner 2000, S. 733). Solche Erzeugnisse möchte ich als intellektuelle „ Exzesse “ des Qualitative- Forschung-Paradigmas bezeichnen. Sie sind an sich nicht verwunderlich, denn es ist nicht zu leugnen, dass jeder Mensch recht viel mit sich herumträgt, was ein echtes und ernsthaftes Hindernis für den wahrheitsgetreuen, ungetrübten, unvoreingenommenen Blick auf die Welt darstellt und was berechtigterweise als „ subjektiv “ mit all den negativen Konnotationen dieses Begriffs bezeichnet werden kann und nach Möglichkeit aus der wissenschaftlichen Untersuchung eliminiert werden sollte. Es gibt Vorurteile, Sympathien und Antipathien; es gibt Ignoranz, Angst, Stolz, Dummheit, Oberflächlichkeit, Enge des Interesses, Faulheit und eine Legion von anderen 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 387 Feinden der Erkenntnis. Der Mensch, so wie er vor uns im alltäglichen Leben steht, ist wahrlich kein perfekt polierter Spiegel, der die Welt rein widerspiegelt, und auch kein ungetrübtes Glas, das die Welt unverzerrt durchscheinen lässt. Es ist auch unbestritten, dass es viel einfacher ist, eine Qualitative- Forschung-Studie durchzuführen und zu veröffentlichen, als dies mit einer „ quantitativen “ Studie der Fall ist. Und zwar nicht nur dann, wenn, wie es bei der „ Jagd “ auf das „ Gottesteilchen “ (Higgs-Boson) der Fall war, Tausende von Forschern eine höchst komplexe Apparatur (LHC in Genf) benötigen, um zu Ergebnissen zu kommen. Paradigmatisch ist für mich in dieser Hinsicht die Studie von Paul Mäder et al., welche die Auswirkung von drei Formen der Landwirtschaft (konventionelle, also chemische, biologische und biodynamische) auf die Ackerbodenqualität untersuchte (Maeder et al. 2002). Die Autoren der Studie haben 21 Jahre lang Bodenproben gesammelt und ausgewertet und ihre Erkenntnisse auf nicht ganz vier Seiten in Science veröffentlicht (knapp zusammengefasst: Die Bodenqualität ist bei der organischen Formen der Landwirtschaft höher als bei der konventionellen Landwirtschaft und diese ist deutlich energieintensiver als jene). Der Hauptautor erzählte mir, dass das Interesse an diesen Ergebnissen riesig war: Die Forschungsanstalt habe zahlreiche Besucher aus aller Welt empfangen und die Forscher wurden eingeladen, in vielen Ländern ihre Ergebnisse persönlich darzustellen. Im Gegensatz zu diesem großen Echo auf vier Seiten blieb die Resonanz auf die 35 Seiten des Ellis-und-Bochner-Kapitels des Handbook of Qualitative Research wahrscheinlich bescheiden. Diese Beobachtung lässt sich verallgemeinern: Die Forschungsergebnisse der qualitative Forschung sind nicht so präsent in der Öffentlichkeit wie die der quantitativen Wissenschaft. Wieso eigentlich? Die Antwort auf diese Frage wird möglicherweise von den Vertretern des Paradigmas selbst geliefert. Laurel Richardson, der im Lehrbuch der Qualitativen Forschung über Schreiben schreibt, gesteht am selben Ort ein, dass er selbst von den Schöpfungen der Vertreter des Qualitative-Forschung-Paradigmas oft gelangweilt sei: For 30 years, I have yawned my way through numerous supposedly exemplary qualitative studies. Countless numbers of texts have I abandoned half read, half scanned. I ’ ll order a new book with great anticipation - the topic is one I ’ m interested in, the author is someone I want to read - only to find the text boring. Recently, I have been “ coming out ” to colleagues and students about my secret displeasure with much of qualitative writing, only to find a community of likeminded discontents. Undergraduates are disappointed that sociology is not more interesting; graduate students confess that they do not finish reading what has been assigned because it is boring; and colleagues express relief to be at long last discussing qualitative research ’ s own dirty little secret: Our empire is (partially) unclothed. (Richardson 1994, S. 516f.) 388 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Und er formuliert die Frage nach dem Ausweg aus der Misere folgendermaßen: „ How do we create texts that are vital? That are attended to? That make a difference (in people ’ s lives, not only to the author ’ s career)? “ (ebd., S. 516). Nun, es fragt sich, ob eine andere Form von Texten eine angemessene Antwort auf das Problem ist. Ist es nicht eher so, dass gerade die methodologische Freiheit des Qualitative-Forschung-Paradigmas zu der (relativen) Bedeutungslosigkeit seiner Forschungsresultate führt? Ist es nicht eher so, dass man mit dem „ Bade “ der methodologischen Strenge gleichzeitig auch das „ Kind “ der bedeutungsvollen Forschungsergebnisse ausgeschüttet hat? Man hat den Eindruck, dass die Befreiung von den alten „ positivistischen “ Zwängen innerhalb der qualitative Forschung die Tendenz hat, in Beliebigkeit auszuarten. Anstatt kontrollierter Beobachtung episodische, punktuelle Beschreibungen, welche überdies manchmal solipsistische Züge annehmen; anstatt strenger (womöglich mathematisch formulierter) Theorie ein beliebiges und unverbindliches Sammelsurium von Ideen; anstatt einer auf die Möglichkeit der Verallgemeinerung der Resultate zielenden Datenverarbeitung episodische Schlüsse oder gar fast „ bewusstseinsstromartige “ Wiedergabe des Geschehens; anstatt der Auseinandersetzung mit dem Forschungsobjekt Auseinandersetzung mit sich selbst (Autoethnographie, narrative Forschung). Wie ich versucht habe nachzuweisen, wurzelt das Paradigma der qualitativen Forschung in philosophischen Tendenzen, welche mehr oder weniger bewusst die Ausrichtung auf sichere, zuverlässige Erkenntnis zugunsten anderer Prioritäten aufgegeben haben oder gar die Auffassung vertreten, dass eine sichere, zuverlässige Erkenntnis prinzipiell unzugänglich ist, weil jedes Wissen zwangsläufig in kontingente Strukturen eingebettet ist (Sprache, Leib, soziale, ethnische, kulturelle Faktoren, Machtansprüche der Mäzene usw.), denen es nicht entgehen kann. Daher sieht sich die qualitative Forschung langfristig mit der unüberwindbaren Paradoxie jeglichen Relativismus konfrontiert: Wer behauptet, dass objektive Erkenntnis unmöglich oder zumindest unerreichbar ist, gerät in einen Selbstwiderspruch, weil seine Behauptung als nicht objektiv und deshalb zumindest als unsicher, möglicherweise als ganz falsch beurteilt werden muss. 265 Die Aspekte der Wirklichkeit, die durch die „ positivistische “ Wissenschaft ausgegrenzt wurden, müssen selbstverständlich in einer wirklich menschenwürdigen Forschung zugelassen und integriert werden. Dies bedeutet aber nicht, dass die Strenge der Erkenntnis aufgegeben werden muss. Wissenschaft und das Heilige (the sacred) Bevor wir diese kurze Diskussion des Qualitative-Forschung-Paradigmas abschließen, möchte ich auf einen weiteren Aspekt aufmerksam machen, die bis jetzt fast unerwähnt geblieben ist: die Forderung, das Heilige in die 265 Vgl. z. B. Nagel 1997, S. 15f., Putnam 1997, S. 103 - 126, und Rescher 1997, S. 42. 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 389 Forschung einzubeziehen. Das abschließende Kapitel der 1994er-Ausgabe des Handbook (Lincoln und Denzin 1994 b, S. 575 - 586) enthält einen bemerkenswerten Abschnitt mit dem Titel „ The Sacred, the Humanistic, and the Technological “ (ebd., S. 582f.). Darin bringen die Herausgeber des Handbook die innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft eher ungewöhnliche Hoffnung zum Ausdruck, dass die künftige Entwicklung des Qualitative- Forschung-Paradigmas eine Annäherung an die Religion und die „ sakrale Erfahrung “ des Menschen bringen wird: The West has become increasingly aware of the ecological disasters that massive industrialization and consumption have wrought. We have slowly begun to reconnect with the sense of conjoined destiny with Planet Earth. As these understandings increase, we are likely to see a reconsideration of whether science and religion are truly separate entities. The modernist era of separation of religion and science overturned centuries of marriage between the two. The modernist project ignored the deeply spiritual search for meaning and prophecy thought to be hidden in the whole of the universe. It read through the stars (astrology), or the search for the „ philosopher ’ s stone “ , an element thought to have the power to bring spiritual wisdom and riches to the alchemist who discovered it. No one would argue that we need to return to the days of astrologers or alchemists. But it is true that many, including scientists, are searching to find some spiritual core in themselves, a way of reconnecting to meaning, purpose, and the sense of wholeness and holiness that once, in another age, permeated the everyday lives of ordinary men and women. Peter Reason (1993) 266 writes about the return of spirituality to science. He talks about „ sacred experience and sacred science “ . He - and perhaps others - is beginning to think deeply about how we use science, and what kinds of science we might have. Can there be a sacred science? [. . .] And so we will likely see a reemergence of deliberation about how science and the sacred fit together. [. . .] All of these happenings and rituals point to the tingling, edgy mindfulness that science and technology have not provided the answers we expected or hoped for. And they suggest that concerns of the spirit are already returning to the human disciplines, and will be more important in the future. A sacred science is certain to make its effects felt within the emerging discourses of qualitative research (Lincoln und Denzin 1994 b, S. 582f.). Diese bemerkenswerte Passage ist in der zweiten Ausgabe des Handbook nicht mehr enthalten. Dafür findet sich dort unter dem Titel „ A Bridge Into the Future: Toward a Sacred Discourse “ ein langer Abschnitt (1052 - 1055), in dem es u. a. heißt: We imagine a form of qualitative inquiry in the 21 st century that is simultaneously minimal, existential, autoethnographic, vulnerable, performative, and critical. This form of enquiry erases traditional distinctions among epistemology, ethics, and 266 Reason, P. (1993): „ Sacred experience and sacred science “ . Journal of Management Inquiry, 2, S. 10 - 27. 390 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus aesthetics; nothing is value-free. It seeks to ground the self in a sense of the sacred, to connect the ethical, respectful self dialogically to nature and the worldly environment [. . .]. It seeks to embed this self in deeply storied histories of sacred spaces and local places, to illuminate the unity of the self in its relationship to the reconstructed, moral, and sacred natural world. [. . .] This model of enquiry seeks a sacred epistemology that recognizes the essential ethical unity of mind and nature [. . .]. A sacred, existential epistemology places us in a noncompetitive, nonhierarchical relationship to the earth, to nature, and to the larger world [. . .]. This sacred epistemology is political, presuming a feminist, communitarian moral ethic stressing the values of empowerment, shared governance, care, solidarity, love, community, covenant, morally involved observers, and civic transformation. [. . .]. This epistemology recovers the moral values that were excluded by the Enlightenment science project. [. . .] (Lincoln und Denzin 2000 b, S. 1052) Dieser Auszug scheint mit sehr bedeutungsvoll und richtungweisend zu sein. Denn wenn es berechtigt ist, von „ intellektuellen Exzessen “ des Qualitative- Forschung-Paradigmas zu sprechen, so ist es nicht minder berechtigt, von den „ existentiellen Exzessen “ des quantitativen ( „ positivistischen “ ) Wissensgewinnungsparadigmas zu sprechen. Am Anfang des 21. Jahrhunderts braucht fast niemand daran erinnert zu werden, dass dieses Paradigma zur Entwicklung von Giftgas und Nuklear- und Wasserstoffwaffen geführt hat und für die Zerstörung der Umwelt und für die Klimaveränderungen, für den überbordenden Konsum und für die bedingungslose Unterwerfung der Natur, die wir heute beobachten und erleben, zumindest mitverantwortlich ist. Ich glaube, dass sich die wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts zum großen Teil der Haltung verdanken, es gebe nichts Heiliges in dieser Welt und der Mensch habe das Recht, sie nach seinem Gutdünken zu gestalten und umzugestalten. Was machbar ist, darf auch gemacht werden. Wir haben gesehen, dass die feministischen Philosophinnen darauf hingewiesen haben, dass das für die Wissenschaft so zentrale Streben nach Objektivität oft zur Verdinglichung der Forschungsobjekte führt. Diese Verdinglichung der Wirklichkeit im Erkenntnisprozess wird übrigens nicht nur von den feministischen Philosophinnen beanstandet. Schon Jürgen Habermas hat einen Zusammenhang zwischen Subjektwerdung und Objektivierung erkannt, was sich für ihn mit einer „ tiefgreifenden Selbstillusionierung “ der Aufklärung verknüpft (Habermas 1988, S. 70): „ Das sich auf sich beziehende Subjekt erkauft nämlich Selbstbewusstsein nur um den Preis der Objektivierung der äußeren wie der eigenen inneren Natur. Weil sich das Subjekt im Erkennen und Handeln, nach außen wie nach innen, stets auf Objekte beziehen muss, macht es sich noch in den Akten, die Selbsterkenntnis und Autonomie sichern sollen, zugleich undurchsichtig und abhängig “ (ebd.). 267 267 Es sei erwähnt, dass Rudolf Steiner auf dieses Phänomen bereits 1913 mit aller Deutlichkeit hingewiesen hat (GA18, S. 601f.). 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung 391 Noch früher und bis heute einflussreich hatten Horkheimer und Adorno die Objektivierung als eine paradigmatische Leistung (oder besser Nichtleistung) des aufklärerischen Verstandes mit dem Ergebnis der „ Entzauberung der Welt “ bloßzulegen versucht (Horkheimer und Adorno 1996, S. 9). „ [D]er Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Natur gebieten. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt “ (ebd., S. 10); „ Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann “ (ebd., S. 15); und schließlich: „ Die Ratio, welche die Mimesis verdrängt, ist nicht bloß deren Gegenteil. Sie ist selber Mimesis: die ans Tote “ (ebd., S. 64). 268 Ein Erkenntnisobjekt zu verobjektivieren bedeutet demnach, es dem toten Gegenstand gleichzumachen. 269 Einen solchen kann man aber - und dies ist hier entscheidend - völlig beliebig behandeln. Wir werden doch keine Gewissensbisse haben, wenn wir Felsen sprengen, um z. B. Bahn- oder Straßentunnel zu bauen. Wir müssen nicht befürchten, dass die Felsen oder Berge durch die Sprengung leiden werden. Können wir auch sicher sein, dass es den Pflanzen ebenso egal ist, ob man sie für die Mikroskopie präpariert? Wir wissen, dass es den Tieren nicht egal ist, ob man sie für die Zwecke der wissenschaftlichen Untersuchung tötet oder verletzt. Wir tun dies trotzdem, weil die Erkenntnis, die durch solche Behandlung gewonnen werden kann, allgemein als ein höheres Gut erachtet wird. Ist diese Einschätzung richtig? Sollte man vielleicht doch das Lebende nicht wie das Tote behandeln? Wenn man jedoch das Ziel der Wiederkehr des Sakralen in die Wissenschaft, der erneuten „ Verzauberung “ der Welt als durchaus erstrebenswert 268 Vgl. auch ebd., S. 19, 21f. Vgl. auch Oliver Garbrecht zu dieser Stelle: „ Was Odysseus unternimmt, um den mythologischen Naturgewalten auf die Schliche zu kommen, sie in ihrem Wesen (das aber heißt hier bereits gewissermaßen: in der Weise ihres ‚ Funktionierens ‘ ) zu begreifen, wird später die Wissenschaft fortsetzen. Dieses wissenschaftliche Begreifen ist aber nicht mehr jenes der einfühlenden Angleichung, der Mimesis also, sondern - mit Heidegger gesagt - ein ‚ Stellen ‘ und ‚ Fest-Stellen ‘ der Wirklichkeit, ihre Einrichtung im Sinne der Handhabbarkeit. Um dasselbe noch einmal eher an Nietzsche angelehnt zu sagen: Der Wirklichkeit werden jene Vernunftvorurteile aufoktroyiert, jene ‚ überlebensnotwendige Wahrheiten ‘ wie Subjekt, Vernunft, Zahl, Logik, die aus dem Willen zur Macht erwachsen und an denen dieser ansetzt “ (Garbrecht 2002, S. 109). Vgl. auch Rudolf Steiner: „ [I]n der zunächst hinter uns liegenden Phase naturwissenschaftlichen Denkens [ist] eine Hinwegwendung vom Lebendigen zum Toten, daher auch vom Kontinuismus zum Atomismus [geschehen] “ (GA326, S. 83; vgl. ebd. S. 66, 67, 69, 139). 269 Für die Darstellung der tieferen Gründe dieses Phänomens vgl. Majorek 2002, S. 407 - 409. 392 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus begrüßen kann und will, heißt das zwingend, dass das Erreichen dieses Zieles mit der Verlust der epistemischen Disziplin, wie er für das Qualitative- Forschung-Paradigma charakteristisch ist, erkauft werden muss? Bedeutet, in der Erkenntnis objektiv sein zu wollen, zwingend, die Erkenntnisobjekte zu objektivieren? Oder muss (darf) man nicht vielmehr hoffen, dass dieses Dilemma ein künstliches ist und dass die beiden Ideale: die sakrale Epistemologie, welche der „ einfühlenden Angleichung “ , der Mimesis an ihren Erkenntnisgegenstand fähig ist, und die epistemische Disziplin, welche (allein) die Objektivität der Erkenntnisresultate sichert, vereinbart werden können? Aber wenn dies möglich sein sollte, dann ist dieses Ziel nicht mittels der Methodologie der qualitativen Forschung zu erreichen. Deshalb kann für jene, welche die Hoffnung haben, die respekt- und würdevolle Behandlung der Natur, die sie nicht mehr bloß als einen „ Erkenntnisgegenstand “ versteht, mit epistemischer Strenge vereinbaren zu können, das Qualitative-Forschung-Paradigma nicht die endgültige Antwort auf die Schwächen der quantitativen Wissenschaft, der „ positivistischen “ Wissenschaftsauffassung sein. 3 d Ein neues Verständnis der Natur der Wissenschaft: Philip Kitcher: The Advancement of Science 270 Wir haben in diesem Kapitel bisher die Folgen betrachtet, die der Zerfall des logischen Empirismus außerhalb der Mainstream-Wissenschaft zeitigte. Sie liegen einerseits in der Entstehung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, der soziologischen Untersuchung der Wissenschaft, später Science and Technology Studies (STS) genannt, andererseits in der Anregung neuer Formen der wissenschaftlichen Forschung, nämlich der feministischen Erkenntnistheorie und des Paradigmas der qualitativen Forschung. Aber auch orthodoxere Wissenschaftsphilosophen haben Lehren aus den Entwicklungen der 70er und 80er Jahre und insbesondere aus dem Aufkommen der soziologischen Betrachtungsweise des wissenschaftlichen Unternehmens gezogen. Ein herausragendes Beispiel der Rezeption von Ansichten, die vor allem in der STS-Bewegung ihren Ursprung hatten, bildet die Theorie der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Fortschritts, die Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts von dem einflussreichen britischen Wissenschaftstheoretiker Philip Kitcher (1947 - ) formuliert wurde (Kitcher 1993) 271 , der in den 70er Jahren an der Princeton University eng mit Carl Hempel und Thomas Kuhn zusammenarbeitete und gegenwärtig Inhaber der John-Dewey-Professur an der Columbia University ist. Kitchers Theorie kann 270 Dieser Abschnitt ist eine umgearbeitete und wesentlich ergänzte Fassung des entsprechenden Abschnitts in Majorek 2002 (S. 44 - 49). 271 Im Folgenden: AS, s. Kürzelverzeichnis. 3 d Philip Kitcher: The Advancement of Science 393 als eine Synthese der Diskussionen der Jahrzehnte nach dem Zerfall des Programms des logischen Empirismus betrachtet werden. Sie versucht drei bis dahin ziemlich unabhängig voneinander verlaufende Diskursstränge zu kombinieren: 1. die Ergebnisse der geschichtlichen Erforschung der Wissenschaft; 2. die Ergebnisse der soziologischen Untersuchung des wissenschaftlichen Prozesses und 3. (und das ist besonders bemerkenswert) die Resultate der Kognitionspsychologie, wodurch das Subjekt des Wissens einbezogen wird. Schon der Titel des Buches ist vielsagend (und vielversprechend): Wissenschaft ohne Legende, Objektivität ohne Illusionen. Mit „ Legende “ meint Kitcher das, was Suppes „ received view “ nannte 272 : die Auffassung, dass es das Ziel der Wissenschaft ist, wahre Erkenntnis der Welt bzw. der Natur zu erlangen, und die Überzeugung, dass die uns bekannte Wissenschaft ziemlich erfolgreich in der Bewerkstelligung dieser Aufgabe war und ist. Die „ Legende “ setzte ferner als selbstverständlich voraus, dass es objektive Grundregeln der Beurteilung wissenschaftlicher Behauptungen gibt, dass sich die Wissenschaftler dieser Regeln zumindest mehr oder weniger bewusst sind und dass sie sie bei der Beurteilung von neuen, auch kontroversen Ideen befolgen. Mit „ Illusionen “ meint Kitcher dagegen den Umstand, dass zumindest ein Teil dieser Annahmen der Wirklichkeit nicht entspricht und dass der innerhalb der „ Legende “ verbreitete Glaube an die „ Reinheit “ der wissenschaftlichen Forschung im Sinne ihrer Unabhängigkeit von sozialen und individuellen Faktoren und Kräften unter dem Druck der soziologischen Untersuchungen Schiffbruch erlitten hat. Kitchers Theorie ist ein Versuch, die Entwicklung der Wissenschaft realistisch, also in ihrem sozialen und menschlichen Kontext, zu begreifen und darzustellen: Instead of thinking of science as a sequence of theories and of theories as sets of statements, I shall offer a multi-faceted description of the state of a science at a time. Moreover, I shall be concerned to treat the growth of science as a process in which cognitively limited biological entities combine their efforts in a social context. Placing the knowing subject firmly back into the discussion of epistemological problems seems to me to be the hallmark of naturalistic epistemology. (AS, S. 9, Hervorhebung von mir; MBM.) Die Abhängigkeit einer realistischen (im Sinne von „ mit den Realitäten, Gegebenheiten rechnenden “ ) Theorie des wissenschaftlichen Fortschritts vom Verständnis der kognitiven Prozesse der individuellen Wissenschaftler und deren Zusammenarbeit wird im Laufe des Buches mehrmals hervorgehoben. So heißt es z. B. auf S. 59: „ Science is not done by logically omniscient lone knowers but by biological systems with certain kinds of capacities and limitations. “ Auf S. 84 wird die Rolle der Autorität und - was damit zusammenhängt - des Vertrauens im wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnungsprozess hervorgehoben: „ Human knowers are not lone knowers: we can and do assign authority to others and base our judgments on what the authorities 272 Vgl. den Abschnitt „ Aufkommen “ . 394 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus say. “ Dieses Zugeständnis signalisiert aber eine bedeutende Abweichung von den üblichen rationalistisch orientierten Modellen, die die wissenschaftliche Tätigkeit und insbesondere ihre Resultate ausschließlich in der Autorität der „ Tatsachen “ fundiert glauben. Die „ individuelle Praxis “ und die „ Konsensuspraxis “ Kitcher stellt das Eingebundensein der Wissenschaftler in ein Netz sozialer Beziehungen, ihr Angewiesensein auf die Autorität ausgewählter Kollegen und ihre menschliche Beschränktheit in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Der Eckpfeiler seiner Theorie ist der Begriff der „ individuellen Praxis “ . Sie ist eine „ multidimensional “ und weist die folgenden Komponenten auf: 1. The language that the scientist uses in his professional work. 2. The questions that he identifies as the significant problems of the field. 3. The statements (pictures, diagrams) he accepts about the subject matter of the field. 4. The set of patterns (or schemata) that underlie those texts that the scientist would count as explanatory. 5. The standard examples of credible informants plus the criteria of credibility that the scientist uses in appraising the contributions of potential sources of information relevant to the subject matter of the field. 6. The paradigms of experimentation and observation, together with the instruments and tools which the scientist takes to be reliable, as well as his criteria for experimentation, observation, and reliability of instruments. 7. Exemplars of good and faulty scientific reasoning, coupled with the criteria for assessing proposed statements (the scientists ’ ‚ methodology ‘ ). (AS, S. 74) Unter Berufung auf Ergebnisse der Kognitions- und Motivationsforschung macht Kitcher auf zwei weitere Aspekte aufmerksam, die für die Erkenntnistätigkeit von Wissenschaftlern relevant sind (AS, S. 65 - 74). Er unterscheidet 1. vier Arten von kognitiven Unterschieden zwischen den Wissenschaftlern: a) verschiedene Ausgangsinformationen; b) Verschiedenheiten in der Art und Weise, in welcher diese Informationen im sog. deklarativen Gedächtnis, etwa dem Langzeitgedächtnis, gespeichert werden, was auf die Leichtigkeit/ Schwierigkeit ihres Gebrauchs Einfluss hat; c) Unterschiede im Zugang zu den „ inferential propensities “ 273 (AS, S. 65): Verschiedene Wissenschaftler haben zwar gleiche Schließensdispositionen in ihrem prozeduralen Gedächtnis gespeichert, infolge unterschiedlicher intellektueller Entwicklungsgeschichten werden aber jeweils bestimmte Dispositionen leichter als andere aktiviert; d) Unterschiede in den Schließensdispositionen der einzelnen Wissenschaftler; 2. verschiedene epistemische oder außerepistemische, per- 273 Ich werde diesen Begriff mit dem Wort „ Schließensdispositionen “ übersetzen. 3 d Philip Kitcher: The Advancement of Science 395 sönliche oder unpersönliche Ziele, welche die Arbeit der Forscher motivieren (AS, S. 72f.). Vor diesem Hintergrund konstruiert Kitcher den Begriff der „ Konsensuspraxis “ . Auch hier sind mehrere Aspekte zu unterscheiden: The consensus practice of a community at a given time is thus represented by (i) the core consensus, the elements of individual practice common to the individual practices of all members of the community, (ii) the acknowledgments of authority (themselves parts of individual practice) shared by all membe rs of the community (including, perhaps, criteria for granting deferred authority); (iii) an organization of the community into subcommunities, resulting from (ii), with particular subcommunities recognized as responsible for and authoritative over particular types of issues, (iv) a virtual consensus, generated from (i) by the incorporation of parts of the consensus practice of subcommunities in accordance with the relations delineated in (ii) and (iii). At the widest level of all, the community itself may be constituted by the recognition of it as authoritative with respect to a certain range of issues. (AS, S. 88) Veränderungen in der Konsensuspraxis, die aus den Veränderungen in der individuellen Praxis der Wissenschaftler resultieren, sind nach Kitcher auf zwei Einflüsse zurückzuführen: auf den Austausch mit anderen Wissenschaftlern und Begegnungen mit der Natur ( „ encounters with nature “ ) (AS, S. 163). Er setzt sich damit von den extremen Kritikern der Wissenschaft ab (er bezieht sich in diesem Zusammenhang besonders oft auf Latours und Woolgars oben diskutiertes Buch [AS, S. 165 - 167]), die behaupten, dass der Einfluss der sozialen Kräfte im wissenschaftlichen Prozess so mächtig sei, dass die Begegnung mit der Natur vernachlässigbar sei. Dies ist nach Kitcher eindeutig nicht der Fall (AS, S. 162ff.): In some instances there are theoretical reasons for worrying that encounters with nature have no power to constrain consensus practice. Sociologists of science have been much influenced by the thesis of the theory-ladenness of observation and by the thesis of the underdetermination of theory by evidence. [. . .] But to recognize the methodological usefulness of ignoring scientists ’ encounters with nature in certain types of analysis, should not lead us to the far more ambitious claim that the world never has an impact on our beliefs. (AS, S. 168) Das rationalistische, das antirationalistische und das Kompromissmodell der Wissenschaft Kitcher beschreibt im Weiteren drei Modelle der Wissenschaft, das rationalistische, das antirationalistische und sein eigenes „ Kompromissmodell “ . Das rationalistische Modell der Wissenschaft nimmt an, dass 1) eine Entscheidung der wissenschaftlichen Gemeinschaft in einer bestimmten Debatte erst dann getroffen wird, wenn alle Wissenschaftler innerhalb der Gemeinschaft unabhängig voneinander die gleichen Anpassungen ihrer 396 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Praxis vorgenommen haben; 2) jedes Mitglied der Gemeinschaft ausschließlich durch die epistemische Zielsetzung motiviert ist, seine Praxis so progressiv wie nur möglich zu modifizieren; 3) alle Mitglieder der Gemeinschaft sich im gleichen epistemischen Kontext befinden, d. h. jeder mit der gleichen Praxis beginnt und jeder die gleichen Stimuli erhält; 4) obschon Debatten innerhalb der Gemeinschaft stattfinden, diejenigen, die aus ihnen siegreich hervorgehen, den Sieg ausschließlich dank ihrer überlegenen kognitiven Prozesse erlangen; 5) die Debatten abgeschlossen werden, sobald diejenigen, die ihre minderwertigen kognitiven Prozesse dahingehend modifizieren, dass diese den überlegenen Prozessen entsprechen. In einigen Fällen schafft eine kleine Minderheit diese Aufwertung nicht. In einem solchen Fall wird diese Minderheit aus der fraglichen wissenschaftlichen Gemeinschaft ausgeschlossen (AS, S. 196f.). 274 Im Gegensatz zum rationalistischen Modell der Wissenschaft behauptet das antirationalistische, dass 1) die Entscheidungen der Gemeinschaft getroffen werden, wenn ausreichend viele ausreichend einflussreiche Mitglieder der Gemeinschaft die Entscheidung getroffen haben (entweder unabhängig voneinander oder auch nach Absprache), ihre Praxis in einer bestimmten Art und Weise zu modifizieren; 2) Wissenschaftler typischerweise durch epistemische wie nichtepistemische Zielsetzungen motiviert sind; 3) innerhalb der Gemeinschaft bedeutende Unterschiede in Bezug auf die individuellen Praxen, Schließensdispositionen und den Zugang zu den Stimuli bestehen; 4) während aller Phasen der wissenschaftlichen Debatte die kognitiven Prozesse der späteren Gewinner nicht besser als diejenigen der Verlierer sind; 5) wissenschaftliche Debatten abgeschlossen werden, wenn eine Gruppe genügend Macht erlangt, um ihre Rivalen aus der Gemeinschaft auszuschließen. Die nachfolgende Modifikation der Praxis nimmt alle Kräfte in Anspruch, so dass die Verlierer keine Gelegenheit haben, ihre Praxis zu verbessern. Folglich ist jeder künftige Vergleich ein Vergleich zwischen der entwickelten Praxis der Gewinner und der unterentwickelten Praxis der Verlierer (AS, S. 198). 275 Diesen beiden Extremen setzt Kitcher seinen eigenen Kompromissvorschlag entgegen, der folgende Elemente enthält: 1) Die Entscheidungen der Gemeinschaft werden getroffen, wenn ausreichend viele ausreichend einflussreiche Gruppen innerhalb der Gemeinschaft den Beschluss gefasst haben (entweder unabhängig voneinander oder in einem koordinierten Prozess), ihre Praxen in einer bestimmten Art und Weise zu modifizieren; 2) Wissenschaftler sind typischerweise durch epistemische wie auch durch nichtepistemische Zielsetzungen motiviert; 3) Es gibt bedeutende Unterschiede innerhalb 274 Kitcher zählt u. a. Popper, Lakatos, Laudan, Levi, Glymour und Worrall zu den Vertretern dieses Models. (AS, S. 197). 275 Als Vertreter dieses Modells sieht Kitcher u. a. Feyerabend, Barnes, Bloor, Shapin, Schaffer, Collins und Latour (AS, S. 198). 3 d Philip Kitcher: The Advancement of Science 397 der Gemeinschaft in Bezug auf die individuellen Praxen und Schließensdispositionen und den Zugang zu den Stimuli; 4) Während der frühen Phasen der wissenschaftlichen Debatten sind die Strategien der späteren Gewinner nicht besser für die Förderung des kognitiven Fortschritts als die Strategien der Verlierer; 5) Wissenschaftlichen Debatten werden abgeschlossen, wenn sich im Zuge der Diskussionen unter den Mitgliedern der Gemeinschaft und der Begegnungen mit der Natur ein breit unterstützter Konsens ergibt, der nach dem Maßstab des ES [ „ External Standard “ , s. unten] (und anderen Kriterien) den kognitiven Fortschritt besser fördert als andere Prozesse (bzw. Methoden), die von den Protagonisten der Debatte initiiert (eingesetzt) wurden. Die siegreiche Gruppe erlangt die Macht innerhalb der Gemeinschaft prinzipiell durch die Integration dieses Konsenses in die Überzeugungen der Mitglieder der Gemeinschaft aufgrund der Anerkennung seiner Vorzüge (AS, S. 201). Kitcher unterstreicht, dass es durchaus möglich sei, dass sich die Auseinandersetzungen um eine neue Praxis in die Länge ziehen (Abschnitt „ Scientists at War “ (AS, S. 203 - 205): „ Scientific debates are rarely resolved in an instant “ ) und dass Autorität (AS, S. 306 - 308) und Tradition (AS, S. 367 - 371) eine bedeutende Rolle in diesen Auseinandersetzungen spielen. Der Fortschritt der Wissenschaft Für die „ Legende “ der Wissenschaft ist laut Kitcher die Behauptung kennzeichnend, dass sich wissenschaftliche Erkenntnis letztendlich direkt auf Beobachtung und Experiment stützt. Dieses Ansicht blende die Komplexität der Prozesse der Überzeugungsbildung aus. Sie setze einen idealisierten Erkenntnissucher voraus, der über eine Anzahl von „ harten Fakten “ verfüge, welche die Welt eins zu eins abbilden. Die Aufgabe des Wissenschaftlers reduziere sich dementsprechend darauf, unterschiedliche aus der direkten Erfahrung gewonnene Aussagen miteinander in Einklang zu bringen. Dadurch könne gezeigt werden, wie empirische Evidenz allgemeine Theoreme und Postulate der theoretischen Wissenschaft stütze, die u. U. Entitäten beträfen, die der sinnlichen Erfahrung entzogen seien. Dies sei ein statisches Bild der Wissenschaft, das ihre Geschichte ausblende (AS, S. 219). Dieser Ansicht stellt Kitcher eine dynamische Auffassung des menschlichen Erkenntnisstrebens entgegen. Deren Frage sei nicht, wie Behauptungen durch empirische Evidenz gestützt würden, sondern die nach dem gerechtfertigten Übergang von einem Überzeugungssystem zu einem anderen ( „ justifiable change of belief “ ). Kitcher erinnert daran, dass bereits Popper die Frage des Wissenszuwachses als zentral für seine Behandlung der Wissenschaft erachtete, und stellt fest, dass seit den 60er Jahren die dynamischen Modellen der menschlichen Erkenntnis an Popularität gewinnen (AS, S. 220). Im Zentrum von Kitchers Werk steht, wie bereits sein Titel (The Advancement of Science) verrät, ein neues Modell des Fortschritts der Wissenschaft. Dieses stützt sich auf die vom Autor früher entwickelten Begriffe der individuellen und der 398 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus „ Konsensuspraxis “ (s. oben). Kitcher definiert den Fortschritt der Wissenschaft folgendermaßen: In conceiving of science as progressive we envisage it as a sequence of consensus practices that get better with time. Improvement need not be constant. Like the fortunes of a firm, the qualities of consensus practices may fluctuate. But, if a scientific field is making progress, there should be a general upward trend, comparable to the generally rising graph of profits that the firm ’ s president proudly displays at board meetings. (AS, S. 90) Kitcher unterscheidet im Einzelnen (AS, S. 91f.) „ strengen “ (engl.: strict) Fortschritt, bei dem jede nachfolgende Praxis in Bezug auf die vorangehende fortschrittlich ist, von „ schwachem “ Fortschritt, bei dem die letzte Praxis fortschrittlich in Bezug auf die erste ist, sowie von „ breitem “ Fortschritt, wenn für eine Sequenz von Praxen (P 1 ,.., P n ) „ for every pair of adjacent members there is a component of practice with respect to which the change from the earlier to the later is progressive and the change from P 1 to P n is progressive with respect to every component of practice “ (AS, S. 92). 276 Bekanntlich erwuchs aus Kuhns bahnbrechendem Werk und der nachfolgenden soziologischen Kritik der Wissenschaft der Vorwurf, dass entgegen der (früher) landläufigen Meinung die Wissenschaft nicht rational sei und sich der Übergang von einer Form der Wissenschaft zu einer anderen (von einem Paradigma zu einem anderen) nicht nach rationalen Kriterien vollziehe. Kitcher ist sich dieses Vorwurfs sehr bewusst und auch dessen, dass die Formulierung „ In conceiving of science as progressive we envisage it as a sequence of consensus practices that get better with time “ das Problem nicht erledigen kann und nach leerer Rhetorik und bloßer Beschwörung klingt. Deshalb bietet er eine Definition der Umstände an, unter welchen der Übergang von einer Praxis zu einer neuen als rational bezeichnet werden kann. Das entsprechende Kriterium der Rationalität des Überganges nennt er „ externen Standard “ ( „ external standard “ , kurz ES): (ES) The shift from one individual practice to another was rational if and only if the process through which the shift was made has a success ratio at least as high as that of any other process used by human beings (past, present, and future) across the set of epistemic contexts that includes all possible combinations of possible initial 276 Kitcher unterscheidet auch verschiedene Arten des Fortschritts, insrbesondere den praktischen Fortschritt oder Fortschritt hinsichtlich der Kontrolle der Natur und der Lebensqualität (diese Art des Fortschritts möchte er aus seinen Überlegungen ausklammern, weil nach ihm die genaue Bestimmung dessen, worin ein solcher Fortschritt bestehe, schwierig sei, vgl. AS, S. 93) und den kognitiven Fortschritt, den er weiter in begrifflichen (conceptual), und Erklärungsfortschritt (explanatory progress) unterteilt. Der erste wird erreicht, wenn „ we adjust the boundaries of our categories to conform to natural kinds and when we are able to provide more adequate specifications of our referents “ (AS, S. 95f.). Der zweite besteht in „ improving our view of the dependencies of phenomena “ (AS, S. 105). 3 d Philip Kitcher: The Advancement of Science 399 practices (for human beings) and possible stimuli (given the world as it is and the characteristics of the human recipient). (AS, S. 189) 277 Die Anhänger der „ Legende “ nahmen als selbstverständlich an, dass soziale Kräfte und Einflüsse keinen Einfluss auf die kognitiven Prozesse der Wissenschaftler ausüben. Diese Vision des Wissenschaftlers als eines reinen Wahrheitssuchers ist für Kitcher ein Mythos. Dennoch sei der Pessimismus der Soziologen der Wissenschaft unbegründet, denn die sozialen Kräfte können so in die komplexen Entscheidungsprozesse einer wissenschaftlichen Gemeinschaft einfließen, dass sie letztendlich zur Verwirklichung der kognitiven Absichten dieser Gemeinschaft beitragen. Trotz aller sozialen Bedingtheit der wissenschaftlichen Entscheidungsfindung sei der Übergang von einer Praxis zu einer anderen daher ein rationaler Prozess: The worry that Legend ’ s heroes have feet of clay and that, in consequence, science cannot have the progressive character often attributed to it, turns to rest on a fallacy. (AS, S. 388, Hervorhebung im Original) Fazit: Verlust der Objektivität und Isolation der Forschungsgemeinschaft Eine genaue Untersuchung dieser Theorie im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit bezüglich der von Kitcher gesetzten Ziele würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ich habe sie jedoch aus zwei Gründen ausführlicher betrachtet: Erstens wollte ich damit illustrieren, wie weit sich gegenwärtige Auffassungen von der Wissenschaft und ihrem Fortschritt von ihren Urvätern entfernt haben. Vergleicht man Kitchers Auffassung mit dem orthodoxen Modell des logischen Empirismus (Theorie gleich Agglomeration von Sätzen mit beobachtbaren und theoretischen Termen, die durch Korrespondenzregeln verknüpft sind, plus logisches Kalkül), das den Wissenschaftler, das Subjekt, ausklammert, oder mit dem Popper ’ schen Ansatz, der sich vom „ orthodoxen “ hauptsächlich durch Ersetzung von Bestätigung durch Widerlegung unterscheidet, oder mit dem Lakatos ’ schen Forschungsprogramm mit seinem „ Schutzgürtel “ von Hilfshypothesen (Lakatos 1974, S. 131 - 134), so wird der Reichtum von Kitchers Konzeption offensichtlich. Sie ist die reife Frucht der Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte und integriert manche ihrer konstruktiven Anregungen: das Subjekt mit seinen individuellen kognitiven und motivationalen Eigenschaften, die soziale Umwelt und auch die Interaktion zwischen den Wissenschaftlern. Die Verknüpfung beider Seiten der Kontroverse ist Kitchers ausdrückliches Ziel: „ I have endeavored to provide a philosophical framework for the study of science which combines the insights of Legend with the insights of its critics “ (AS, S. 390). Kitchers Theorie exemplifiziert aber auch einen wichtigen Trend, der sich in der Wissenschaftstheorie der jüngsten Zeit abzeichnet. Ich habe im Kapitel 277 Kitcher stellt übrigens unumwunden fest, dass dieses Kriterium äußerst anspruchsvoll sei (AS, S. 189). 400 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus „ Kurzer Abriss der Geschichte der Wissenschaft “ darauf aufmerksam gemacht, dass im Zentrum des wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens seit seinem Anfang im 16./ 17. Jahrhundert bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts die Sicherheit der Erkenntnis stand. Dieses Ideal nicht nur bei Carnap noch explizit vorhanden, sondern bildete auch bei Popper, wenn auch im negativen Sinne, das zentrale Merkmal der Wissenschaftlichkeit. Popper meinte, dass wir, obschon wir nie mit Sicherheit werden wissen können, welche wissenschaftliche Theorie wahr ist, doch mindestens mit Sicherheit wissen können, welche Theorie bzw. Aussagen der Theorien falsch sind, nämlich dann, wenn sie durch Experimente oder sonstige empirische Daten widerlegt werden. Bereits bei Lakatos ist dieses Ziel jedoch in den Hintergrund getreten: Die zentrale Absicht der Wissenschaft ist bei ihm nicht mehr das Erlangen sicherer Erkenntnis, sondern Fortschritt, gemessen an gewissen Eigenschaften der konkreten Forschungsprogramme. Kitchers Theorie setzt diesen Trend fort: Auf der Ebene der Deklaration bleibt das Ziel der Wissenschaft die Suche nach substantiellen Wahrheiten (AS, S. 94, 157) und objektiver Erkenntnis (der Titel des Buches: „ Objectivity without Illusions “ ). Analysiert man jedoch die Mittel, welche sein Modell dem Erreichen dieses Ziels zur Verfügung stellt (individuelle Praxis, Konsensuspraxis), zeigt sich, dass es wenig anzubieten hat. Auch Kitcher geht es, wie früher bereits Lakatos, vor allem um den Fortschritt der Wissenschaft und nicht um die Wahrheit oder zumindest Objektivität (im Sinne von „ conceiver independent “ 278 ) der wissenschaftlichen Aussagen. Bereits die Wahl der Praxis als der zentralen konzeptuellen Einheit seines Modells ist hier äußerst aufschlussreich. Innerhalb des Programms des logischen Empirismus und noch im Popper ’ schen kritischen Rationalismus stand die Theorie im Zentrum des Interesses, eine Theorie, die es zu beweisen oder zu widerlegen galt. Rückt man aber das Forschungsprogramm, wie es Lakatos getan hat, oder die Praxis, wie es bei Kitcher der Fall ist, in den Vordergrund der Diskussion, so dynamisiert man zwar die Diskussion der wissenschaftlichen Vorgehensweise, aber zu gleicher Zeit schneidet man diese Diskussion von der Kontrolle durch die „ reale Welt “ ab. Während man zumindest theoretisch die Hoffnung haben kann, dass eine Hypothese oder eine Theorie an der Erfahrung überprüft werden kann und eventuell an ihr scheitert, ist dies bei einem Forschungsprogramm oder bei einer (wissenschaftlichen) Praxis aus prinzipiellen Gründen nicht mehr möglich. Prüft man die Elemente dieser Praxis bzw. jene der individuellen Praxis, welche für die Konsensuspraxis konstitutiv sind, im Hinblick auf ihre Berührungsflächen mit der Welt außerhalb der forschenden Gemeinschaft (Quines „ impinging on experience “ 279 ), zeigt sich, dass diese Berührungspunkte äußerst klein sind. Die Liste der Elemente der individuellen Praxis enthält vor allem eine 278 Vgl. Moser 1997, S. 234. 279 Quine 1961, S. 42. 3 d Philip Kitcher: The Advancement of Science 401 Ansammlung von Werkzeugen, welche innerhalb einer bestehenden (Forscher-)Gemeinschaft als effizient erachtet werden. Selbst die Aussagekraft der Resultate von Experimenten und Beobachtungen (direkte Berührung mit der „ Außenwelt “ ) werden dadurch relativiert, dass es sich um Experimente und Beobachtungen (auch Messgeräte usw.) handelt, von deren Zuverlässigkeit der Forscher überzeugt ist (AS, S. 74), wobei Gründe, die seine Überzeugung untermauern könnten, in Kitchers Konzeption vollständig fehlen. Eine saubere Trennung der wissenschaftlichen Methode von der wissenschaftlichen Theorie sucht man vergebens. Kitcher konzentriert sich auf die Beschreibung der Wege, welche seines Erachtens die wissenschaftliche Methode verfeinern können. Er schuldet uns jedoch Rechenschaft darüber, weshalb wir annehmen sollten, dass eine verfeinerte Methode zu besserer, wahrer Erkenntnis führen wird. Dass die Anwendung einer vermeintlich verfeinerten Methode nicht zwingend zu besseren Forschungsresultaten führen muss, verdeutlichen zwei Beispiele aus der Landwirtschaft: Die Anwendung von DDT, das in der Mitte des 20. Jahrhunderts als ein großer Fortschritt gefeiert wurde, hat sich langfristig als eine Katastrophe für die Umwelt erwiesen, und die Anwendung von Pestiziden (ebenfalls „ Fortschritt “ ) hat vermutlich das Bienensterben mit seinen verheerenden Folgen für die Pflanzenwelt hervorgerufen (Stokstad 2012, Nufer 2013). Aufschlussreich ist ebenfalls, welche Stellung der Autorität oder Tradition innerhalb der scientific community im Vergleich zur „ Autorität “ der Erfahrung eingeräumt wird. Alle sieben Elemente der individuellen Praxis sind eindeutig in einer bestimmten Tradition (in bestimmten Traditionen) situiert, und die Konsensuspraxis ist ein Resultat der Kombination dieser Tradition (dieser Traditionen) mit den aus ihr (ihnen) resultierenden Autoritätsverhältnissen. Plakativ gesagt, reduziert sich die Begründungskraft der Kitcher ’ schen Wissenschaft auf das Motto: „ Es gilt, wovon die (etablierte) wissenschaftliche Gemeinschaft sagt, dass es gilt. “ Im Hinblick auf die heute verbreitete Kritik an den Ansprüchen der Wissenschaft wirkt eine solche Aussage nicht besonders überzeugend. Letztendlich scheint Kitchers Gemeinschaft eine Versammlung von sich gegenseitig anerkennenden Peers zu sein, die einen selbstgenügsamen Diskurs führen und prinzipiell unfähig sind, die Leistungsfähigkeit ihrer Erkenntnisgewinnungsmethoden zu hinterfragen. Kitcher baut seinem Modell eine Komponente ein, welche dafür sorgen soll, dass der Übergang zu einer neuen Praxis nicht nur subjektiv als Fortschritt empfunden wird, sondern einen objektiven, rational geleiteten Fortschritt der Wissenschaft bildet. Wir erinnern uns an sein Kriterium der Rationalität des Überganges von einer Praxis zur anderen, das er „ externen Standard “ nennt. Kitcher schreibt: „ The shift from one individual practice to another was rational if and only if the process through which the shift was made has a success ratio at least as high as that of any other process used by human beings (past, present, and future) “ (AS, S. 189). Die offensichtliche 402 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus Abhängigkeit dieses Kriteriums von den künftigen Entwicklungen der Wissenschaft (wie auch der Menschheit überhaupt) macht es allerdings völlig unbrauchbar für die Beurteilung der konkreten Entwicklungen in der heutigen Wissenschaft. Denn wie können wir wissen, ob der Prozess, durch den der Übergang von einer Praxis zur nächsten erfolgt, eine mindestens ebenso hohe Erfolgsquote hat wie die Verfahren, die von den Menschen in 5000 Jahre benutzt werden? Diese Frage ist offensichtlich heute nicht entscheidbar, 280 Folglich kann erst am Peirce ’ schen „ Ende der Forschung “ beurteilt werden, ob der heute erfolgte Übergang rational ist oder nicht. Diese Relativierung oder Abschwächung des Erkenntnisanspruches ist nicht überraschend. Wenn man nämlich den absolutistischen Rahmen einer (positivistischen) Letztbegründung der epistemischen Aussagen verlässt und sowohl individuelle kognitive Eigenschaften wie auch die unberechenbaren Einflüsse der sozialen Umwelt und der zwischenmenschlichen Interaktion, die beide offensichtlich kontingente Elemente aufweisen, als konstitutiv für den Erkenntnisprozess ansieht, dann kann man sich leicht an der Konsistenz der so gewonnenen Erkenntnisse orientieren, die objektive, unbeschränkt gültige Wahrheit rückt aber notwendigerweise in weite Ferne. Wenn man die im Labor existierende Welt als auf verkörperte soziale Interaktionen basierend betrachtet, ist man dazu gezwungen, auch die sog. Objektwelt der Wissenschaft als eine soziale Konstruktion anzuerkennen, was zur Aufgabe der Trennlinie zwischen Natur- und technologischen Wissenschaften einerseits und Sozialbzw. Humanwissenschaften andererseits führen muss (vgl. dazu Knorr-Cetina, S. 245f.). Es ist deswegen auch kein Zufall, dass der Begriff der Objektivität, der im Titel von Kitchers Arbeit auftritt ( „ Objectivity without Illusions “ ), lediglich ein paar Mal in der Einführung (AS, S. 4, 7) und sonst nirgendwo im Buch auftaucht. Der Preis des Realismus der Wissenschaftstheorie im Sinne ihrer Öffnung gegenüber menschlichen Bedingtheiten und dem sozialen Rahmen des Erkenntnisprozesses scheint sehr hoch zu sein: Er kommt einem Verzicht auf (sichere) Erkenntnis nahe. Symptomatisch in dieser Hinsicht sind die Beobachtungen, die Kitcher am Ende seines Buches macht. Bis vor kurzem galt es fast als Selbstverständlichkeit, dass der Zuwachs des wissenschaftlichen Wissens etwas grundsätzlich Erstrebenswertes und dem Menschen Zuträgliches sei. Bekanntlich wurde dieser Glaube spätestens mit dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima zutiefst erschüttert und durch die Zerstörung der Umwelt infolge der wissenschaftlich gesteuerten industriellen Fortschritts weiter unterminiert. Es ist deshalb nicht überraschend, aber doch bezeichnend, wenn Kitcher dem (epistemischen) Fortschritt der Wissenschaft das menschliche Gedeihen ( „ human flourishing “ ) entgegensetzt und warnt, dass die wissenschaftliche Praxis für die Menschen auch schädlich sein könne: 280 Wir werden uns demnächst mit einer Auffassung auseinandersetzen, nach der die Zukunft der Wissenschaft völlig unvorhersagbar ist. 3 d Philip Kitcher: The Advancement of Science 403 To claim, as I have done, that the sciences achieve certain epistemic goals that we rightly prize is not enough - for the practice of science might be disadvantageous to human well-being in more direct, practical ways. A convincing account of practical progress will depend ultimately on articulating an ideal of human flourishing against which we can appraise various strategies for doing science. The extreme positions are clear. At one pole, it is suggested that science, as practiced, is a terrible thing, and that human beings should want none of it; at the other, that science, as we have fashioned it, is already perfect. Neither extreme is likely to be right. (AS, S. 391) Dieses Zugeständnis wirft Fragen auf. Wir haben gesehen, dass sich mit der Entstehung der Wissenschaft die Hoffnung verband, dass sie im Gegensatz zu den unproduktiven Disputen der „ ancient sects “ , welche „ only yielded hard indigestible arguments, or sharp contentions instead of food: which when the minds of men required bread, gave them only a stone, and for fish a serpent “ , „ peaceable, the fruitful, the nourishing Knowledge “ bringen werde. 281 Was ist passiert, dass aus dem „ friedlichen, fruchtbaren, nahrhaften Wissen “ etwas geworden ist, was - zumindest teilweise - dem menschlichen Gedeihen bedrohlich sein kann? Muss man akzeptieren, dass die Erkenntnis - entgegen den vielleicht naiven Hoffnungen eines Thomas Sprat und seiner Mitstreiter aus der Royal Society - ein zweischneidiges Schwert ist, das sowohl Heil als auch Unheil bringen kann? Oder muss man vermuten, dass die Wissenschaft, wie wir sie kennen, uns wenn nicht falsche, so zumindest radikal unvollständige Erkenntnis gebracht hat, eine Erkenntnis, die ihrer Ergänzung dringend harrt? Ist sie vielleicht eine Art DDT der Erkenntnis, das die (kognitive) Ernte zwar bedeutend steigert (und beschleunigt), aber unerwünschte, schädliche Nebenwirkungen zeitigt und deshalb nur eingeschränkt eingesetzt werden sollte? Und ist jemand, der eingesteht, dass die heutige Wissenschaft dem Menschen nicht nur förderlich ist, sondern ihm auch schaden kann, nicht zu der Auffassung verpflichtet, dass nicht nur die Ergebnisse, sondern auch die Methoden der Wissenschaft, ihre Praktiken nicht nur verbesserungsfähig, sondern auch verbesserungsbedürftig sind? 281 S. das Kapitel „ Kurzer Abriss der Geschichte der Wissenschaft “ . 404 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Wir haben gesehen, dass der Kollaps des logischen Empirismus große Umwälzungen auf dem Felde der Wissenschaftstheorie nach sich zog. Überraschenderweise hat er aber kein Echo innerhalb der „ orthodoxen “ wissenschaftlichen, und insbesondere der naturwissenschaftlichen Forschung gefunden. Die Selbstverständlichkeit, mit der die orthodoxe Wissenschaft die alten Forschungs- und Erklärungsmuster weiterverfolgt, steht in einem eklatanten Widerspruch zu zur Größe der Risse, die am logischen Gebäude der gegenwärtigen Wissenschaft entstanden sind. Das lange währende Schweigen der Fachwissenschaftler ist verständlich: Man will sich auf das Positive konzentrieren, man will und muss Resultate, Erfolge erzielen, und man hat im wissenschaftlichen Alltag wenig Zeit, über unklare und uneindeutige Probleme zu grübeln. Ich werde also im vorliegenden Kapitel die Rolle der lästigen Mücke spielen, die sich in die Risse setzt und sie so zur Schau stellt. Das Kapitel ist in fünf Abschnitte unterteilt: Im ersten Teil werde ich auf die empirischen Rätsel der Naturwissenschaft eingehen, im zweiten möchte ich zumindest kurz das große und m. E. immer noch nicht ausreichend gewürdigte Rätsel der Quantenmechanik diskutieren, im dritten werde ich einige anerkannte theoretischen Probleme der heutigen Naturwissenschaft behandeln, im vierten einige tiefere Rätsel des gängigen wissenschaftlichen Paradigmas, und schließlich werde ich mich im fünften den gegenwärtigen „ Image “ -Problemen der Wissenschaft (allem voran dem Problem des Betrugs in der Wissenschaft) zuwenden. 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft Anerkannte Rätsel der Naturwissenschaft Thomas Kuhn wies darauf hin, dass dem Übergang von einem wissenschaftlichen Paradigma zum nächsten eine Anhäufung von (empirischen) Problemen vorausgeht, welche innerhalb des bestehenden Paradigmas unlösbar sind. Er nannte solche Probleme „ Anomalien “ und meinte, dass man sie eine Zeitlang „ unter den Teppich kehren “ könne. Wenn ihre Zahl eine gewisse kritische Masse erreicht hat, wird der Übergang zu einem neuen Erklärungsparadigma allerdings unausweichlich und es folgt eine „ wissenschaftliche Revolution “ , die nach Kuhn vor allem darin besteht, dass zunächst einige wenige, dann aber zunehmend viele Wissenschaftler die Welt anders „ sehen “ . Ihr Bild von der Welt ähnelt einem zweideutigen bzw. Kippbild: Anstatt einer Hexe sehen sie plötzlich eine schöne Frau (oder umgekehrt). Diese Veränderung der Sichtweise hat zur Folge, dass sich die Erklärungsmuster ändern, dass völlig neuartige Theorien vorgeschlagen werden und mit ihnen neue Forschungsinstrumente und -methoden sowie Standards der „ guten Wissenschaft “ Anerkennung finden. Aus diesem Modell ergeben sich zwei Fragenkomplexe: Welche Probleme sind innerhalb eines bestimmten Paradigmas wirklich unlösbar und müssen folglich als echte Anomalien gelten, und welche wurden nur zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung der Wissenschaft noch nicht gelöst bzw. bezüglich welcher besteht durchaus Hoffnung, dass sie zu einer späteren Zeit innerhalb des bestehenden Paradigmas gelöst werden können? Ferner: Wann wird die „ kritische Masse “ der Anomalien erreicht? Wie können wir wissen, dass die Aufgabe des Paradigmas angebracht/ berechtigt/ rational ist, und wie lang sollte auf dem alten Paradigma beharren, obschon es bereits anerkannt ist, dass es mangelhaft ist? Ich glaube, niemand hat gute Antworten auf diese beiden Fragen, und so ist es möglicherweise erst in der Rückschau möglich, die Ereignisse und Entwicklungen, welche zum Übergang zu einem neuen Paradigma geführt haben, richtig zu beurteilen und einzuordnen. Im Folgenden werde ich einige empirische Probleme der heutigen Wissenschaft schildern, ohne Anspruch darauf zu erheben, zu wissen, welche von ihnen echte Anomalien und welche vorübergehende und in absehbarer Zeit durchaus überwindbare Schwierigkeiten sind. Ich werde mit den Schwierigkeiten und Rätseln anfangen, welche von den Wissenschaftlern selbst als solche anerkannt sind, und dann zu solchen übergehen, welche als Phänomene bzw. Fragen in den wissenschaftlichen Publikationen aufgetaucht sind, welche aber m. W. von den Wissenschaftlern nicht als schwierige bzw. unlösbare Rätseln betrachtet werden, obschon sie als solche betrachtet werden sollten. Abschließen werde ich mit einigen Fragen, die quasi meine privaten Fragen sind, in Bezug auf Phänomene, welche allgemein bekannt sind, jedoch generell - m. E. unberechtigterweise - überhaupt nicht als rätselhaft behandelt werden. Noch zwei Punkte im Voraus: Rupert Sheldrake hat in seinem kürzlich erschienenen Buch The Scientific Delusion (Sheldrake 2012) zehn große Fragen an die Adresse der heutigen Wissenschaft gestellt. Da ich dieses Buch im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ ausführlich behandeln werde, werde ich auf seine Fragen hier nicht eingehen, es wird sich aber im Laufe dieses Kapitel zeigen, dass die Zahl der naturwissenschaftlichen Rätsel wesentlich größer als zehn ist. Und zweitens: Jede Woche und jeden Monat erscheinen neue Ausgaben wichtiger wissenschaftlichen Zeitschriften (allen voran Nature, Science, und PNAS), und praktisch jede Woche oder jeden Monat findet man in ihnen neue interessante und bedeutsame empirische Rätsel. Die Auswahl solcher Rätsel, die ich hier getroffen habe, entspricht also in etwa dem momentanen Stand der wissenschaftlichen Forschung (15. 9. 2014), und wird höchstwahrscheinlich bis zum 406 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Erscheinen dieses Buches bereits überholt sein. Aber man muss irgendwo den Schlusspunkt setzen. Am 1. Juli 2005, zum 125 Jahrestag des Erscheinens der ersten Nummer, veröffentlichte die Zeitschrift Science eine Sonderausgabe mit dem Titel „ 125 Questions. What Don ’ t We Know? “ . Anstatt wie jede Woche über die neusten Forschungsergebnisse zu berichten, entschlossen sich die Herausgeber, darüber zu reflektieren, wo noch wichtige Wissenslücken vorhanden sind. Dazu schreiben sie: At Science, we tend to get excited about new discoveries that lift the veil a little on how things work, from cells to the universe. That puts our focus firmly on what has been added to our stock of knowledge. For this anniversary issue, we decided to shift our frame of reference, to look instead at what we don ’ t know: the scientific puzzles that are driving basic scientific research. (Kennedy und Norman 2005, S. 75) Die Mitglieder des Senior Editorial Board der Zeitschrift wie auch des Board of Reviewing Editors sowie Journalisten der Zeitschrift wurden darum gebeten, die ihres Erachtens kritischsten Wissenslücken zu nennen. Aus ihren Vorschlägen wurden 25 Hauptprobleme aussortiert, sozusagen als Fragen für die Forschung der nächsten 25 Jahre, und zusätzlich 100 weitere Fragen. So ergab sich eine Gesamtzahl, die sich mit dem Alter der Zeitschrift (offensichtlich absichtlich) deckte, wobei die damaligen Herausgeber Donald Kennedy und Colin Norman jedoch ausdrücklich feststellten, dass sie nicht für alle vorhandenen Lücken des wissenschaftlichen Wissens aufkommt (ebd.). Es muss deutlich festgehalten werden, dass es sich bei diesen Lücken aus der Sicht der Herausgeber der Zeitschrift explizit nicht um Anomalien im Sinne von Kuhn handelt. Im Gegenteil: Sie erachten alle aufgeworfenen Fragen als wissenschaftlich lösbar, ja sogar als in der nächsten Zeit lösbar. Sie sehen in ihnen also keinen Anlass zum Paradigmawechsel, sondern vielmehr nützliche Wegweiser für künftige Forschung. Denn die Kardinalregel für die Auswahl der Fragen lautete: „ Scientists should have a good shot at answering the questions over the next 25 years, or they should at least know how to go about answering them “ (ebd.). Im Weiteren werde ich die so ausgewählten 25 „ hard questions “ und eine Auswahl aus den weiteren 100 wichtigen Fragen mehr oder weniger kommentarlos wiedergeben. Ich überlasse es dem Leser, sich eine Meinung darüber zu bilden, ob sich unter diesen Fragen vielleicht doch einige Anomalien des Paradigmas finden lassen. What is the Universe made of? (Seife 2005, S. 78); What is the biological basis of consciousness? (Miller 2005, S. 79); Why do humans have so few genes? (Pennisi 2005, S. 80); To what extent are genetic variation and personal health linked? (Couzin 2005, S. 81); Can the laws of Physics be unified? (Seife 2005 a, S. 82); How much can human life span be extended? (Couzin 2005 a, S. 83); What controls organ regeneration? (Davenport 2005, S. 84); How can a skin cell become a nerve cell? (Vogel 2005, S. 85); How does a single somatic cell become a whole plant? (Vogel 2005 a, S. 86); How does Earth ’ s interior work? (Kerr 2005, S. 87); Are we alone in 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft 407 the Universe? (Kerr 2005 a, S. 88); How and where does life on earth arise? (Zimmer 2005, S. 89); What determines species diversity? (Pennisi 2005 a, S. 90); What genetic changes made us uniquely human? (Culotta 2005, S. 91); How are memories storied and retrieved? (Miller 2005 a, S. 92); How did cooperative behavior evolve? (Pennisi 2005 b, S. 93); How will Big Pictures emerge for a sea of biological data? (Pennisi 2005 c, S. 94); How far can we push chemical self-assembly? (Service 2005, S. 95); What are the limits of conventional computing? (Seife 2005 b, S. 96); Can we selectively shut off immune response? (Cohen 2005, S. 97); Do deeper principles underlie quantum uncertainty and nonlocality? (Seife 2005 c, S. 98); Is an effective HIV vaccine feasible? (Cohen 2005 a, S. 99); How hot will the Greenhouse World be? (Kerr 2005 b, S. 100); What can replace cheap oil - and when? (Service 2005 a, S. 101); Will Malthus continue to be wrong? (Stokstad 2005, S. 102). Und im Folgenden einige der verbleibenden 100 Fragen, die ich nach den Themen der 25 Hauptfragen zu ordnen versucht habe: When and how did the first stars and galaxies form? Where do ultra-high-energy cosmic rays come from? What powers quasars? What is the nature of black holes? Is ours the only universe? What drove cosmic inflation? How do planets form? Why is there more matter than antimatter? Does the proton decay? Are there smaller building blocks than quarks? What is the nature of gravity? Why is time different from other dimensions? What is the structure of water? Why do we sleep? Why do we dream? How do general anesthetics work? What is all “ junk ” doing in our genomes? Why are some genomes really big and others compact? How did flowers evolve? How do limbs, fins, and faces develop & evolve? How do plants make cell walls? How is plant growth controlled? What enables cellular components to copy themselves independent of DNA? Can we predict how proteins will fold? What keeps intracellular traffic running smoothly? How can genome changes other than mutations be inherited? How do organs and whole organisms know when to stop growing? How is asymmetry determined in the embryo? What synchronizes an organism ’ s circadian clocks? How do migrating organisms find their way? Why were some dinosaurs so large? Why doesn ’ t a pregnant woman reject her foetus? Why are there critical periods for language learning? What triggers puberty? What causes schizophrenia? What causes autism? What are the evolutionary roots of language and music? What are human races, and how did they develop? What are the roots of human culture? Why do some countries grow and others stagnate? (Science 1. 7. 2005). Wie Sie sehen, war die Liste der unbeantworteten Fragen der Wissenschaft 2005 beeindruckend lang. Sie ist aber seither keineswegs kürzer geworden. Im Gegenteil. Inzwischen haben sich, wie Kennedy und Norman vermuteten, weitere wissenschaftlich anerkannte Rätsel hinzugesellt. Am 1. Juni 2012 veröffentlichte Science einen Sonderteil, der dem Thema „ Mysteries of Astronomy “ gewidmet war. Die Herausgeber haben dieses Mal nur acht wichtige Rätsel ausgewählt. Auch in diesem Fall gehen sie davon aus, dass die Rätsel (durch astronomische Beobachtung) aufzuklären sind. Eine Ausnahme bildet das erste Rätsel: die dunkle Energie: 408 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Fourteen years ago, the discovery of dark energy rocked astronomy. Two teams of astronomers and astrophysicists studied distant stellar explosions called type Ia supernovae to measure how the universe has expanded over its 13.7-billion-year lifetime. They expected that the expansion would be slowing as galaxies pull toward one another with their gravity. To their shock, they found that the expansion is accelerating as if some bizarre „ dark energy “ is stretching space. The nature of dark energy is now perhaps the most profound mystery in cosmology and astrophysics. And it may remain forever so. „ Part of the mystery is that we have no clue whether we will be able to find an answer, “ says Simon White, an astrophysicist at the Max Planck Institute for Astrophysics in Garching, Germany (Cho 2012, S. 1090). Die zweite zentrale Frage lautet: How hot is dark matter? (Cho 2012 a, S. 1091). 282 Wissenschaftler wissen immer noch nicht, was genau die dunkle Materie eigentlich ist, aber manche Theoretiker gehen davon aus, dass sie „ kalt “ sei, das heißt, dass sie aus verhältnismäßig langsam sich bewegenden schweren Teilchen besteht (sie sind zwischen zweimal und tausendmal schwerer als das Proton). Die Modelle, die auf dieser Annahme basieren, führen jedoch zu Voraussagen, die mit den tatsächlichen Beobachtungen nicht übereinstimmen. Deshalb die Frage: Wie heiß ist die dunkle Materie? Oder anders formuliert: Wie schnell bewegen sich die Teilchen (was immer sie sind), aus denen sie besteht? Die dritte Frage lautet: „ Where are the missing baryons? “ (Bhattacharjee 2012, S. 1093). Das Problem besteht darin, dass von den ungefähr 5 % der gewöhnlichen Materie des Universums, aus welcher Sterne, Planeten, interstellare Staub und Gas bestehen (die verbleibenden 95 % entfallen auf die dunkle Materie und Energie) nur weniger als die Hälfte lokalisiert werden kann. Diese gewöhnliche Materie wird als „ baryonische Materie “ bezeichnet, denn sie besteht aus gewöhnlichen Teilchen, vor allem aus Protonen und Neutronen (die eben zu den Baryonen, also den schweren Teilchen zählen) sowie aus Elektronen (die Leptonen, also leichte Teilchen sind). Die Frage „ Wo sind die fehlenden Baryonen? “ fragt also letzlich nach der fehlenden gewöhnlichen Materie. Das hier vorliegende Problem kann man folgendermaßen verdeutlichen: Kosmologen haben die Dichte der Baryonen im Ur- Universum anhand der Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung, des schwachen Nachleuchtens des Urknalls, geschätzt. Das Universum hat sich zwar in den 13,7 Milliarden Jahren seit dem Urknall wesentlich verändert, aber die Anzahl der damals entstandenen Baryonen sollte auch heute noch vorhanden sein. Die Astronomen stellten bei ihren Berechnungen jedoch einen sukzessiven „ Schwund “ der Baryonen seit dem frühen Universum fest. Wenn sie nämlich die Masse der Sterne, des Gases und aller anderen Komponenten addieren, kommen sie auf lediglich die Hälfte der anzunehmenden Masse. Die Analyse des Lichts entfernter Quasare, die zur 282 Die dunkle Materie wurde bereits 1933 vom Schweizer Astronomen Fritz Zwicky entdeckt, ihre Natur konnte aber bis heute nicht geklärt werden. 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft 409 Messung der Menge des Wasserstoff-Isotops Deuterium in alten baryonischen Wolken vorgenommen wurde, ergab hingegen, dass fast alle Ursprungs-Baryonen von vor etwa 10 Milliarden Jahre immer noch da waren. Die vierte Frage lautet: How do stars explode? (Bhattacharjee 2012 a, S. 1094f.) Sterne leben nach heutigen Vorstellungen ein glamouröses, glänzendes Leben Millionen oder sogar Milliarden Jahren lang. Ihr Tod ist aber noch weit spektakulärer. Wenn ihr Brennstoff aufgebraucht ist, explodieren sie in einem riesigen Feuerball, der als Supernova bekannt ist und heller ist als mehrere Sonnen und manchmal sogar ganze Galaxien überstrahlt. Wie diese Explosionen zustande kommen, war jahrzehntelang Gegenstand von Beobachtungen und theoretischen Studien. Fortschritte im Supercomputing haben den Astronomen ermöglicht, die internen Bedingungen der Sterne mit zunehmender Raffinesse zu simulieren und die Mechanik der Sternexplosionen besser zu verstehen. Doch viele Details bezüglich dessen, was sich im Inneren eines Sterns im Vorfeld einer Explosion ereignet und wie die Explosion sich entfaltet, sind immer noch ein Geheimnis. Die fünfte Frage lautet: What reionized the Universe? (Cartlidge 2012, S. 1095). Das sog. kosmologische Standardmodell besagt, dass das Universum vor 13,7 Milliarden Jahren mit dem Urknall begonnen hat und dann anfing, rapide zu expandieren und abzukühlen. Damals zogen die winzigen Anfangsunregelmäßigkeiten in der Dichte des Kosmos vermittels der Schwerkraft die Materie zusammen, so dass sich Sterne, Galaxien und Galaxienhaufen bilden konnten. Aber eine große Lücke in unserem Wissen bleibt. Etwa 400.000 Jahre nach dem Urknall hatten sich Protonen und Elektronen genug abgekühlt, so dass ihre gegenseitige Anziehung wirksam wurde und sie sich zu neutralen Wasserstoffatomen vereinten. Nun konnten Photonen, die zuvor von den Elektronen zerstreut wurden, frei durch das Universum reisen. Ein paar hundert Millionen Jahre später lösten sich die Elektronen jedoch wieder aus dem Atomverbund. Dieses Mal war aber die Expansion des Universums so weit fortgeschritten, dass die Protonen und Elektronen daran gehindert waren, sich erneut zu neutralen Atomen zu vereinen. Die Folge davon war, dass die „ Teilchensuppe “ ausreichend verdünnt war, so dass die meisten Photonen ungehindert durch sie hindurch passieren konnten. Folglich besteht der Hauptteil der Materie des heutigen Universums aus dem lichtdurchlässigen ionisierten Plasma. Was verursachte aber die kosmische Reionisation einige Hundert Millionen Jahren nach dem Urknall? Niemand weiß es. Das sechste Frage ist: What is the source of most energetic cosmis rays? (Clery 2012, S. 1096). Dieses Problem geht auf eine Beobachtung zurück, die vor 50 Jahren in New Mexico gemacht wurde. Wissenschaftler haben damals ein Teilchen beobachtet, das es nicht geben sollte. Ein kosmischer Strahl - d. h. ein durch den Raum rasender Atomkern - traf auf einen Detektor in einem Volcano-Ranch-Experiment genannten Array mit einer Energie von 10 20 Elektronenvolt oder 100 Exaelektronenvolt (EeV), einer Energie also, die 410 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft so hoch war, dass kein bekannter Prozess sie erzeugt haben konnte. Zum Vergleich: Im größten Teilchenbeschleuniger der Welt, im LCH in Genf, werden die Teilchen auf die Energie von 8 TeV, also 8 x 10 12 Elektronenvolt beschleunigt, also 10 8 . Sie besitzen damit 100 Millionen Mal weniger Energie als jenes Teilchen. Fast 30 Jahre später wurde ein weiteres Teilchen von einem Fly Auge genannten Kosmische-Strahlen-Detektor in Utah registriert. Die Energie dieses Teilchens - wahrscheinlich ein Proton - wurde auf 300 EeV geschätzt. Es bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die nur 0,0000000000000000000005 % unter der Lichtgeschwindigkeit lag, und schlug auf den Detektor mit einer kinetischen Energie auf, die der Energie eines auf 100 Kilometer pro Stunde beschleunigten Baseballs entspricht. Die Physiker nannten es wegen dieser verblüffenden Eigenschaften Oh-my-God-Teilchen. Woher kamen diese Teilchen? Astrophysiker waren und sind ratlos. 283 Die siebte Frage mag die meisten Leser überraschen: Why is the solar system so bizarre? (Kerr 2012, S. 1098) Wir haben uns daran gewöhnt, unser Sonnensystem mit seinen Planeten als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten. Je mehr wir indessen darüber wissen, desto rätselhafter scheint es. Von den 1960er Jahren bis zu den 1980er Jahren, als die Raumsonden die ersten Nahaufnahmen der acht der damals neun bekannten Planeten zur Erde schickten, erwarteten die Forscher einen einfachen, recht einförmigen Bau der Planeten, der sich mit einer verhältnismäßigen einfachen Darstellung der Geschichte des Sonnensystems erklären lassen sollte. Die Beobachtungen waren jedoch ernüchternd: Es gibt keine einfache Geschichte. Jeder Planet ist einzigartig und unterscheidet sich wesentlich von jedem anderen. (Wir können hier aus Platzgründen auf die Einzelheiten dieser Unterschiede nicht eingehen. Aber jedes moderne Astronomiebuch liefert diesbezügliche Erkenntnisse.) Was sind die Gründe für diese Vielfalt? Niemand weiß es. Schließlich das achte Rätsel: Why is the sun ’ s corona so hot? (Kerr 2012 a, S. 1099). Die Sonne ist bekanntlich heiß. In ihrem Kern herrscht eine Temperatur von 16 Millionen K. Sie kühlt sich aber im Einklang mit dem zweiten Gesetz der Thermodynamik mit wachsender Entfernung vom Kern ab, um an ihrer sichtbaren Oberfläche eine immer noch stattliche Temperatur von 5780 K zu erreichen. Was aber die Solar-Physiker seit ca. 1940 verblüfft, ist die Tatsache, dass in der Sonnenkorona, eine Art Plasma, das die Sonne in einer Ausdehnung von 1 bis 3 Sonnenradien (ein Sonnenradius beträgt ca. 700 000 km) umgibt, die Temperatur wieder steigt, und zwar auf 1 bis sogar 2 Millionen K. Es ist bis heute unverständlich, warum die Wärme, welche sich auf ihrem Weg vom Kern der Sonne zu der Oberfläche auf bloss ca. 6000 K abgekühlt hat, in der Region über der Sonnenoberfläche wieder ansteigt, und das um das 200-Fache (oder mehr). 283 Dies setzt selbstverständlich voraus, dass keine Messfehler vorliegen. 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft 411 Die Liste der von der Wissenschaft anerkannten Rätsel der Astronomie könnte man noch wesentlich verlängern. Dazu zählen die Frage nach der Natur und Funktion der „ schwarzen Löcher “ , die heute in der Mitte jeder Galaxie vermutet werden (Capellari 2012, McConnell et al. 2012), die Frage nach der Natur und Funktion der Quasare, die Frage nach der chemischen Zusammensetzung der Sonne, welche den Erwartungen nicht entspricht (Bhattacharjee 2010), die Frage nach der verschwundenen Masse in der Galaxien (Bournard et al. 2011), nach der Natur der Pulsare (Antonucci 2013) und insbesondere der Millisekunden-Pulsare (Ransom at al. 2014) und nach der Natur (nicht nur nach der Temperatur) der „ dunklen Materie “ . Ich möchte aber nur noch auf ein Rätsel ausführlicher aufmerksam machen: die Entstehung des Mondes, und zwar deshalb, weil wir darauf später nochmals zurückkommen werden. Die gängige Theorie der Entstehung des Mondes, die „ Giant-impact “ -Theorie, vermutet, dass er eine Abspaltung der Erde infolge einer Kollision der Erde mit einem anderen Himmelskörper von der Größe eines Planeten sei (Canup 2013, S. 27). Die Analyse der Zusammensetzung der Mondoberfläche zeigt jedoch, dass diese überraschend ähnlich der Zusammensetzung der Erde ist, was einer solchen „ Giant impact “ - Theorie widersprechen würde: Analyses of samples brought back by the Apollo missions in the 1970 s have shown that the silicate mantles of the Moon and Earth share identical oxygen isotope compositions (to within measurement precision) [. . .], distinct from those of meteorites from Mars and from most of the asteroid belt. In recent years the similarities have mounted. The chromium, titanium, tungsten and silicon isotope compositions of the Moon and Earth now also seem to be indistinguishable [. . .]. Gravity observations of the Moon from NASA ’ s Gravity Recovery and Interior Laboratory (GRAIL) spacecraft, combined with topography data from NASA ’ s Lunar Reconnaissance Orbiter, have reduced estimates for the thickness of the Moon ’ s crust and its aluminium abundance. These measurements suggest that refractory elements (metals with high condensation temperatures) are similarly abundant in both bodies, rather than more prevalent in the Moon, as previously thought. Collectively, these data imply that either the Moon formed from material originating directly from Earth ’ s mantle, or that the Moon and the silicate portion of Earth each formed from an identical mix of material. Special circumstances seem to be required in either case. (Canup 2013, S. 28. Vgl. Halliday 2007, und Wieczorek et al. 2013) Die Frage ist also offen: Wie ist der Mond eigentlich entstanden? Bevor wir zu den anerkannten Rätseln außerhalb der Astronomie übergehen, möchte ich noch kurz zu den am Anfang dieses Abschnitts erwähnten Problemen der dunklen Energie und der dunklen Materie zurückkehren. Denn diese greifen viel tiefer, als dies aus den anfangs zitierten Formulierungen ersichtlich ist: Sie bergen in sich das Potential, unser Weltbild radikal zu verändern. Heute ist man zu der Überzeugung gelangt, dass das Vorhandensein dieser zwei Rätsel möglicherweise darauf hindeutet, dass unsere 412 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft gegenwärtigen physikalischen und astronomischen Theorien unvollständig sind. Im Sonderheft der Zeitschrift Science, das anlässlich des hundertsten Jahrestages der Veröffentlichung von Einsteins bahnbrechenden Artikeln, in denen er die Umrisse der allgemeinen Relativitätstheorie skizzierte (Einstein 1915), herausgegeben wurde (6. März 2015), schildert David N. Spergel, Professor für Astrophysik an der Princeton-Universität, den gegenwärtigen Stand der Theorie folgendermaßen: Although general relativity is now a hundred year-old theory, it remains a powerful, and controversial, idea in cosmology. It is one of the basic assumptions behind our current cosmological model: a model that is both very successful in matching observations, but implies the existence of both dark matter and dark energy. These signify that our understanding of physics is incomplete. We will likely need a new idea as profound as general relativity to explain these mysteries and require more powerful observations and experiments to light the path toward our new insights. (Spergel 2015, S. 1102) 284 Den physikalischen und astrophysikalischen Theorien steht also eine turbulente Zukunft bevor. Oder könnte es sein, dass die Lösung der Rätsel der dunklen Materie und der dunklen Energie nicht nur theoretische, sondern auch praktisch greifbare Konsequenzen haben wird? Am 7. Juni 2013 erschien wiederum in Science ein „ Newsfocus “ , der den Rätseln der Entwicklung ( „ Mysteries of development “ ) gewidmet war (Travis 2013). In seiner Einführung schrieb John Travis, Deputy News Editor, der für die Koordination der Biologie-Berichterstattung der Zeitschrift verantwortlich ist, Folgendes: Development is, literally, the journey of a lifetime, and it is a trip still as mysterious as it is remarkable. Despite new methods to probe how an animal or plant forms from a single cell, biologists have much to learn about the unimaginably complex process. To identify some of the field ’ s persistent riddles, Senior Editors Beverly Purnell and Stella Hurtley and the news staff of Science have consulted with developmental biologists on our Board of Reviewing Editors and elsewhere. The mysteries offered here are a humbling reminder that our knowledge of development remains to a great extent embryonic. (Travis ebd., S. 1156) Die folgenden Fragen wurden in dieser Abteilung behandelt: 1) How do organs know they reached right size? (Vogel 2013) (Diese Frage wurde bereits 2015 als wichtig eingestuft (s. oben); 2) Why so many neurons commit suicide during brain development? (Underwood 2013); 3) How do microbes shape animal development? (Pennisi 2013) (Diese Problem ergibt sich aus der Beobachtung, dass Mikroorganismen, welche in jedem Tier, jeder Pflanze und auch selbstverständlich im Körper jedes Menschen leben, eine positive und nicht nur - wie bis vor kurzem angenommen - primär pathologische 284 Vgl. auch diese Aussage Spergels: „ Both dark matter and dark energy require extensions to our current understanding of particle physics or point toward a breakdown of general relativity on cosmological scales “ (Spergel 2015, S. 1100). 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft 413 Rolle spielen. Die Rolle der Mikroorganismen im Verdauungssystem war schon längst bekannt. Es zeigte sich jedoch zuletzt, dass ihr Beitrag zu der Entwicklung der Organismen weit darüber hinausgeht, so dass man solche Mikroorganismen als „ Partners in development “ (Pennisi ebd., S. 1159) bezeichnen kann); und 4) How does fetal environment influence later health? (Couzin-Frankel 2013). In einer kleinen Zugabe zu diesem Abschnitt (Vogel 2013) weist Gretchen Vogel kurz auf fünf weitere Rätsel der Entwicklung: 1) Es bleibt ein Rätsel, wie die Zellen ihre genetische Information für die Bildung vollständiger Organe verwenden: „ The shape of your nose? That ’ s all written very precisely somewhere in some form [. . .]. We have no idea where “ ; 2) Obwohl identische (eineiige) Zwillinge über identische genetische Information verfügen, sind sie nicht identisch, sondern unterscheiden sich voneinander, manchmal subtil, manchmal dramatisch. Die heutige Vermutung ist, dass solche Unterschiede Folge von zufälligen Veränderungen im Ablesen des genetischen Programms sind, vieles bleibt aber im Dunkeln: „ They [identical twins] show how chance events can influence developing organisms, but many questions remain about just how much of development is due to chance. “ ; 3) Es ist in der letzten Zeit mehrmals gelungen, Samen, die in der Tundra Jahrtausende in gefrorenem Zustand überlebten, zum Keimen zu bringen. Aus dieser Beobachtung ergibt sich die Frage, wie es möglich ist, dass Samen so lange ihre Lebensfähigkeit aufrechterhalten können: „ How do seeds remain in a state of suspended animation, waiting for the right moment to start putting down roots and pushing up shoots? “ ; 4) Wir haben bereits gesehen, dass es unklar ist, wie aus Zellen von einer bestimmten Sorte (oder auch von vielen verschiedenen Sorten, wie dies z. B. beim Gehirn der Fall ist) im Organismus vollständige Organe gebildet werden. Es ist aber auch unklar, wie die undifferenzierten Stammzellen „ wissen “ , wann sie sich in eine bestimmte Zellart umzubilden haben, so dass dann ein bestimmtes Organ entstehen kann: „ How do stem cells - which can both replicate themselves and give rise to other cell types - know when to switch from one kind of daughter cell to another? “ ; schließlich 5) Es ist bekannt, dass im Laufe der Evolution gewisse Strukturen wie z. B. Schildkrötenpanzer oder Fledermausflügel aus anderen Organen umgebildet wurden. Wie dieser Prozess genau ablief, ist aber weiterhin unklar: „ During evolution, new structures such as turtle shells or bat wings arise through a process that repurposes existing parts. Tracing the genetic changes that lead to new structures as species evolve is a passion of evolutionary developmental biologists; advances in genomics may help solve such mysteries. “ Interessanterweise erschien in der gleichen Nummer von Science (7. 6. 2013) ein Sonderteil, der dem Thema Morphogenese gewidmet war. In ihrer Einführung zu diesem Teil weist Beverly A. Purnell, Senior Editor bei Science, verantwortlich u. a. für Entwicklungsbiologie, Genregulierung usw., auf gewisse Aspekte dieses Prozesses hin, die heute immer noch kaum verstanden werden, und zwar auf die erstaunlich koordinierte Art - sowohl 414 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft zeitlich als auch räumlich - , in der neu entstandene Zellen verschiedener Formen und Funktionen den ihnen angemessenen Platz im sich entwickelnden Organismus finden: As development progresses from a single fertilized egg to 2, 4, 6, 8, 16 cells, and so on, the early apparent homogeneity soon transitions to cells displaying varied sizes and shapes. Cell adhesion and cortical tension, with their associated forces, contribute to such changes. Crowded cells are pushed and pulled, but some make their own way via cell-autonomous migration or chemotaxis. These events proceed in an amazingly precise, choreographed manner, both temporally and spatially. Distinct germ layers and ultimately the stereotypic body form result, with amazing robustness. (Purnell 2013) Das quasi choreographierte Verhalten der neuentstanden Zellen in einem Embryo wurde übrigens meines Wissens erst 2008 in einem Zebrafisch- Embryo beobachtet (Keller et al. 2008). Es lohnt sich immer noch, diesen Vorgang mit eigenen Augen zu verfolgen, 285 die Erklärung für diesen wundersamen, präzise abgestimmten „ Tanz der Zellen “ fehlt jedoch vollständig. Und zum Abschluss der Aufzählung einiger anerkannter Rätsel der empirischen Wissenschaft noch zwei anderen Themen: das Rätsel des Schlafes und das Rätsel des Wassers. Am 23. Mai 2013 veröffentliche Nature eine Sonderbeilage zum Thema Schlaf. Der Wissenschaftsredakteur, der für die thematischen Beilagen „ Nature Outlook “ verantwortlich ist, Tony Scully, wies in seiner Einführung darauf hin, dass die zentralen Fragen in Bezug auf den Schlaf - Warum brauchen wir ihn? Warum brauchen wir so viel von ihm? Was ist die Natur der Wirklichkeit, welche wir im Schlafe erfahren? - von der Wissenschaft immer noch nicht beantwortet werden können: It was probably not long after humans first questioned the meaning of life that someone turned to the significance of sleep. Why do we need it? Why do we spend so much of our life doing it? And what is this strange alternative reality we experience while we sleep? These big questions still loom large, but researchers have been focusing on more practical matters. (Scully 2013) Es zeigt sich also, dass nicht nur die Höhen des Universums und die Tiefen der Zellen, sondern auch ein solch unspektakuläres Phänomen wie der tägliche Schlaf für die Wissenschaft rätselhaft bleibt. Und schließlich das Rätsel des Wassers. Man würde meinen, dass so etwas Gewöhnliches, fast Banales wie Wasser eines der besterforschten und -verstandenen Phänomene der Natur ist. Die Wirklichkeit ist weit von dieser Vorstellung entfernt: Wasser bleibt für die Wissenschaftler eine Überraschung, ein Rätsel und eine Herausforderung. Vor einigen Jahren schrieb Ball in Nature darüber Folgendes: 285 Der interessierte Leser kann dies auf der folgenden Internetseiten tun: www.emblheidelberg.de/ digitalembryo, und http: / / www.youtube.com/ watch? v=RQ6vkDr_ Dec. 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft 415 No one really understands water. It ’ s embarrassing to admit it, but the stuff that covers two-thirds of our planet is still a mystery. Worse, the more we look, the more the problems accumulate: new techniques probing deeper into the molecular architecture of liquid water are throwing up more puzzles. (Ball 2008, S. 291) Um nur einige überraschende Eigenschaften des Wassers zu erwähnen: Im Gegensatz zu „ normalen “ Flüssigkeiten dehnt es sich aus, wenn es gefriert, und es ist am dichtesten im flüssigen Zustand bei einer Temperatur von 4°C, wird also nicht immer dichter, je kühler es wird. Diese Eigenschaft hat zur Folge, dass Eis auf dem flüssigen Wasser schwimmt und nicht zum Grund der Flüsse, Seen und Meere absinkt. Diese wiederum hat zur Folge, dass es in wärmeren Jahreszeiten schmelzen kann. Würde Eis jeden Winter zum Grund der Wasserreservoire absinken, würde die Menge des Eises mit jedem Winter zunehmen, so dass nach einer gewissen Zeit sehr wenig flüssiges Wasser auf unserem Planet übrig geblieben wäre! Darüber hinaus hat das Wasser eine ungewöhnlich hohe Wärmekapazität, was bedeutet, dass es viel Energie braucht, um es in Dampf umzuwandeln. Das wiederum bedeutet, dass Wasser doch gerne flüssig bleibt, was für uns Menschen und für andere Organismen sehr nützlich ist, denn bekanntlich gibt es kein Leben ohne Wasser in seiner flüssigen Form. Es zeigte sich übrigens, dass chemische Moleküle die für ihre Funktion notwendige Form nur im Wasser aufrechterhalten können. Besonders prägnante Folgen hat ein „ Wasserentzug “ für die Doppelhelix der DNS: The iconic view of DNA ’ s double helix, for example, is disingenuous: it is only the molecule ’ s structure in water. In the gas phase, the helix looks as though a child has stamped on it. Hydration changes, such as removing water from the surface of the molecule, can induce switches in DNA conformation. Recent experiments show that the double helix spontaneously unzips when dragged into a non-aqueous solvent, suggesting that the same might happen in a low-water environment. (Ball ebd., S. 292) Wasser hat auch eine ungewöhnliche Viskosität und viele andere „ abnormale “ und unerwartete Eigenschaften. Die Folge ist, dass es als ein undankbares Forschungsobjekt gilt und von vielen Wissenschaftlern regelrecht gemieden wird: „ [E]ven many of those who work on general theories of the liquid state of matter won ’ t go near water: it is too anomalous, too strange “ (Ball ebd.). Erwähnenswert ist ferner, dass die Konzentrationen von wertvollen Metallen, von denen unsere Gesellschaft so abhängig ist, durch komplexe natürliche Reaktionen zustande gekommen sind, die im Wesentlichen durch Wasser vermittelt werden. In der Tat hätten wir ohne Wasser, das sich in den Tiefen der Erde befindet, möglicherweise gar keine Kontinente, und der „ Motor “ der Platentektonik, welche den äußeren Teil unseres Planeten steuert, würde wahrscheinlich ganz anders funktionieren (Manning 2013, S. 6616). Wir sind also viel abhängiger vom Wasser, als wir es ahnen. Und 416 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft dennoch: Auch der Ursprung des Wassers auf unserem Planeten bleibt ein Rätsel. Wenn sich die Erde einst von der Sonne (oder genauer vom Sonnennebel) abgespaltet hat, fragt sich ja doch, warum es auf der Erde Wasser gibt, nicht aber auf der Sonne. Ein wenig wissenschaftlicher ausgedrückt, kann man den Gedanken so fassen: „ The protosolar nebula is believed to have had a homogeneous isotopic composition. Yet the isotopic composition of water on Earth differs widely from that of the primitive Sun “ (Robert 2001, S. 1056). Deshalb vermuten heute viele Wissenschaftler, dass unser Wasser noch vor der Sonne im interstellaren Raum oder genauer gesagt in der interstellaren (sehr kalten) Materie (ISM), entstanden ist (Clery 2014). Die Frage ist allerdings, ob dieses Wasser überhaupt die gewaltige Hitze, welche die Entstehung der Sonne unseres Planetensystems begleitet hat, überstehen konnte. Am 27. September 2014 ist nun in Science ein Artikel erschienen, dessen Autoren berichten, dass es gemäß der Modelle, die sie entwickelt haben, doch höchst wahrscheinlich ist, dass der Großteil unseres Wasser aus der Zeit vor der Entstehung unseres Sonnensystems stamme und dass das in der fernen Vergangenheit entstandene Wasser auch anderen Sonnensystemen zur Verfügung stehen könnte (Cleeves at al. 2014). Wenn man jedoch annimmt, das unser Wasser irgendwo im interstellaren Raum gebildet wurde, dann muss man auch die Wege nachzeichnen können, auf welchen dieses Wasser auf die Erde gelangt ist, nachdem sie sich genügend abgekühlt hatte. Wissenschaftler nehmen heute an, dass der Transport durch Meteoriten, Kometen und Asteroiden geschah (Morbidelli et al. 2000, Robert 2001). Damit entstehen jedoch weitere Probleme: Es gibt bekanntlich recht viel Wasser auf der Erde, hies müssten also sehr viele solcher Himmelskörper auf die Erde einschlagen sein, damit das ganze heute vorhandene Wasser hierher gelangte. Es wird geschätzt, dass man dafür ca. 10 Millionen Kometen der Größe eines Halley- Komets braucht. 286 Das ist aber eine recht beträchtliche Menge. Professor Altwegg schreibt dazu: Das tönt definitiv nach viel, erwartet man ja momentan ca. alle 60 Millionen Jahren einen größeren Einschlag. Allerdings hat ein Team von Nizza [. . .] das frühe Sonnensystem modelliert und festgestellt, dass ca. 700 - 800 Mio. Jahre nach der Entstehung vor 4.6 Milliarden Jahren ein grösseres Bombardement stattgefunden haben könnte (late heavy bombardment). Dies ist kompatibel mit dem Krateralter auf dem Mond. Die Krater haben dort alle ein sehr ähnliches Alter. Nach diesen Theorien wäre eine geraume Zeit fast alle 20 Jahre ein Komet oder Asteroid auf die Erde gestürzt, ausgelöst durch eine Resonanz zwischen Jupiter und Saturn. 287 Es könnte also tatsächlich so gewesen sein, dass Kometen, Meteoriten und Asteroiden „ kosmisches “ Wasser auf die Erde verfrachteten. War es aber wirklich so? Das wissen wir eigentlich nicht. 286 Persönliche Mitteilung von Prof. Kathrin Altwegg, Physikalisches Institut, Weltraumforschung und Planetologie, Universität Bern (E-Mail vom 5. 2. 2014). 287 Ebd. 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft 417 Halboffizielle Rätsel So weit zu der Auswahl von Rätseln und offenen Fragen der heutigen Wissenschaft, die als solche in den wissenschaftlichen Zeitschriften behandelt werden. Ich möchte jetzt zu der zweiten Gruppe von Problemen übergehen: zu Rätseln und Fragen, die sich aus den Forschungsresultaten ergeben. Sie wurden zwar in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht, wurden jedoch nicht explizit als wichtige Rätsel taxiert (wobei festgehalten werden muss, dass der Übergang von der ersten zu der zweiten Gruppe der Probleme unscharf ist). Ich werde diese zweite Gruppe von Fragen in der Reihenfolge der physischen Größe bzw. der Komplexität der betreffenden Prozesse darstellen, zunächst die Fragen, die sich auf die intra- und interzellulare Prozesse beziehen, dann die Fragen, welche sich auf den Menschen beziehen. Auch hier muss ausdrücklich betont werden, dass es sich lediglich um eine Auswahl aus einer viel längeren Liste handelt. Ich konzentriere mich hauptsächlich auf die jüngst aufgetauchten Fragen und Rätseln. Apoptose, also das Phänomen des programmierten Zelltodes (Programmed Cell Death oder PCD), ist seit der 70er Jahren des letzten Jahrhunderts bekannt und seit der 90er Jahren zunehmend gut erforscht (Green 2011). Es wird geschätzt, dass im Körper einer durchschnittlichen erwachsenen Person jeden Tag 50 bis 70 Milliarden Zellen infolge der Apoptose sterben. Die Fehlentwicklungen in diesem Mechanismus führen zur unkontrollierten Zellproliferation, also z. B. zum Krebs. Apoptose kann durch unterschiedliche Ursachen ausgelöst werden. So können z. B. die Schädigung der DNA durch Strahlung oder Chemikalien, aber auch der Entzug von Überlebens-, Wachstumsfaktoren usw. Apoptose einleiten. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang ergibt und auf welche es keine gute Antworten gibt, ist: Wie weiß die Zelle, dass sie so beschädigt oder bedroht ist, dass der „ Selbstmord “ nötig ist? Am 22. Februar 2013 veröffentlichte (wiederum) Science einen Artikel unter dem Titel How cells know where they are? (Lander 2013). Die Entwicklung, Regeneration und sogar die alltäglichen physiologischen Funktionen der Zellen setzen voraus, dass die „ Entscheidungen “ , die die Zellen bezüglich ihrer weiteren Entwicklung „ treffen “ , dem Ort, an dem sie sich befinden, entsprechen. Daraus ergibt sich die Frage, wie die Zellen wissen, wo sie sich in einem bestimmten Zeitpunkt im Organismus befinden. Diese Frage ist für die Zellen nicht leicht zu beantworten, insbesondere dann nicht, wenn die Antwort zuverlässig und genau sein soll. Der Autor des Artikels, Arthur D. Lander, stellt am Ende fest, dass es noch viel zu tun gebe, um Klarheit in diesem Bereich zu gewinnen, und dass dieses „ viel “ sogar die Verfolgung völlig neuer Forschungsrichtungen nötig machen könne (Lander ebd., S. 927). Es ist seit längerem bekannt, dass Pflanzen nicht schutzlos den Angriffen von Schädlingen ausgesetzt sind, sondern sich dagegen durchaus wehren können, z. B. dadurch, dass sie chemische Substanzen ausschütten, die für die 418 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Schädlinge irritierend sind oder sie immobilisieren. Die Pflanzen können aber auch um Hilfe „ bitten “ : Sie können z. B. leichtflüchtige chemischen Substanzen ausschütten, die räuberische Insekten (z. B. Libellen) anziehen, welche die Schädlinge vernichten können (Angier 2009). Die Pflanzen können aber noch mehr: Sie können sich gegenseitig warnen, wenn sie von Schädlingen oder herbivoren Tieren angegriffen werden. Das vielleicht am besten bekannte Verteidigungssystem dieser Art wurde von der afrikanischen Akazie entwickelt: The African acacias, well-protected though they may be by their thorns, use distasteful chemicals in their leaves as a second line of defence. Furthermore, and most remarkably, they warn one another that they are doing so. At the same time as they fill their leaves with poison, they release ethylene gas which drifts out of the pores of their leaves. Other acacias within fifty yards are able to detect this and as soon as they do so, they themselves begin to manufacture poison and distribute it to their leaves. (Attenborough 1995, S. 70) Die Frage, welche sich in diesem Zusammenhang ergibt, ist: Wie haben sich solche Mechanismen im Laufe der Evolution entwickelt? Und insbesondere: Wie konnten sich kooperative Formen der Reaktion auf die Gefahr entwickeln? Die Antwort auf diese Fragen ist bis heute völlig offen. Am 13. Februar 2013 ist in der Zeitschrift Current Biology ein Artikel erschienen (Dacke et al. 2013), deren Autoren berichten, dass die afrikanischen Dungkäfer nicht nur die Position der Sonne und des Mondes, sondern auch der Milchstraße für ihre Orientierung nutzen. Die Autoren haben gezeigt, dass diese Insekten imstande waren, ihre Dungbälle zielgerichtet zu rollen, wenn auf dem Nachthimmel die Milchstraße sichtbar war, dass sie aber die Orientierung verloren, wenn der Nachthimmel mit Wolken bedeckt war. Wie ist eine solche Fähigkeit in einem so kleinen Tier überhaupt möglich? Wie kann ein Käfer die Milchstraße wahrnehmen und sich nach ihr orientieren? (Ich kann dies nicht! ). Und wie hat sich ein solches Verhalten im Laufe der Evolution entwickeln können? Ähnliche Fragen ergeben sich aus der Beobachtung des Verhaltens der Amerikanischen Monarchfalters. Diese Insekten sind für ihre massive Migration nach Süden bekannt, die sie jedes Jahr unternehmen. Während dieser Migration fliegt ein einzelner Schmetterling über 3500 Kilometer zum Überwinterungsort, wo er in die Diapause, einen winterschlaf-ähnlichen Zustand, eintritt. Derselbe Schmetterling fliegt dann im Frühling nach Norden, wo er sich vor dem Sterben reproduziert. Der Rest des Rückfluges wird von seinem Nachkommen bewältigt. Es wird postuliert, dass Monarchen ihre Flüge mittels eines Sonnenkompasses koordinieren, der sich in ihren Antennen befindet (Guerra und Reppert 2013). Angenommen, dass diese kleine Insekten tatsächlich über einen Kompass verfügen, wie können sie sich nach ihm orientieren? Wir wissen doch, dass der Mensch lernen muss, vom Kompass Gebrauch zu machen, wie können dann die Schmetterlinge diese Fähigkeit 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft 419 erwerben? Und wie ist es möglich, dass eine neue Schmetterlingsgeneration weiß, wo sie fliegen soll? Ist das genetisch programmiert? Und schließlich fragt sich auch hier: Wie konnten sich solche Verhaltensweise im Laufe der Evolution entwickeln? Ähnliche Fragen ergeben sich auch in Bezug auf die bekannte Fähigkeit vieler Vögel und Tiere, den Weg „ nach Hause “ zu finden (Gould und Gould 2012). Über die längste bekannte (und wohl mögliche) Vogelmigration wurde übrigens 2010 in der Zeitschrift PNAS berichtet (Egevang et al. 2012). Es hat sich herausgestellt, dass die Arktische Seeschwalben (Sterna paradisaea), kleine Vögel, die weniger als 125 Gramm wiegen, jedes Jahr von ihren Brutstätten in der Arktis zum Südlichen Ozean und zurück migrieren. Das heißt, dass die einzelnen Exemplare dieser Gattung mehr als 80.000 km im Jahr zurücklegen (ebd., S. 2078). Wie schaffen sie das? Aber nicht nur das: auf dem Weg von Süden nach Norden fliegen sie ungefähr auf der Höhe des Äquators quer von Osten nach Westen über den Atlantik, um - wie die Wissenschaftler herausgefunden haben - auf dem weiteren Weg nach Norden von den günstigen Winden zu profitieren. Wie wissen sie, dass sich der Umweg von ca. 3000 km lohnen wird? ! Ein weiteres Rätsel ergibt sich aus der Entdeckung des überaus intelligenten Verhaltens gewisser Vögel (Krähen u. a.), die gleichwohl nur über ein kleines Gehirn verfügen. Da ich aber dieses Problem im Exkurs „ Kann das Gehirn das Bewusstsein hervorbringen? “ ausführlicher behandeln werde, werde ich hier nicht darauf eingehen. Vögel können ihr Verhalten sehr präzis aneinander anpassen. Wissenschaftler haben das Flugverhalten von Waldrappen genau beobachtet (Portugal et al. 2014). Es hat sich herausgestellt, dass diese Vögel nicht nur in der V-Formation fliegen, was aus aerodynamischer Sicht am vorteilhaftesten ist, sondern auch die bemerkenswerte Fähigkeit zeigen, Wirbelzonen wahrzunehmen oder sogar vorherzusehen. Sie nutzen Auf- und Abwinde ihrer Nachbarn und sparen damit Kräfte. Die Vögel wechseln auch oft ihre Position und verändern den Takt ihres Flügelschlages, um den größten aerodynamischen Vorteil zu erlangen. Dabei synchronisierten sie in V-Formation ihren Flügelschlag mit dem ihres „ Vordermanns “ , um Aufwinde optimal zu nutzen. Wie haben diese Vögel die Fähigkeit erlangt, Wirbelzonen wahrzunehmen und sogar vorherzusehen und ihren Flügelschlag mit dem ihres „ Vordermanns “ zu koordinieren? Das äußerst effiziente Verhalten dieser Zugvögel bringt uns zu dem nächsten Rätsel, dem Gruppenverhalten der Tiere. Es ist wohl bekannt, dass sowohl Zugvögel als auch Fischschwärme, aber auch Bienen, Ameisen, Termiten usw. Gruppenverhalten an den Tag legen, das äußerst effizient ist. Die Zugvögel oder Fischschwärme können innerhalb des Bruchteils einer Sekunde ihre Richtung ändern, einfach aus Lust am Fliegen (Zugvögel) oder auch um einem Raubtier zu entkommen: „ From bird flocks to fish schools, animal groups often seem to react to environmental perturbations as if of one 420 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft mind “ (Cavagna et al. 2010, S. 11865). Die Bienen bauen ihre Waben, Ameisen ihre komplexen Haufen und Termiten ihre Hügel. Wie schaffen es diese Tiere oder Insekten, ihr komplexes Verhalten so genau aufeinander abzustimmen? Man sucht heute Antworten auf diese Frage (vgl. z. B. Fisher 2009), vieles bleibt aber weiterhin im Dunkeln. Oder betrachten wir die interessanten Fähigkeiten des Schützenfisches. Dieser Fisch kann seine Beute mit einem scharfen, gezielten Wasserstrahl von den Blättern oder Halmen umstehender Uferpflanzen herunterschießen. Er kann aber noch mehr: Bereits vor einigen Jahren wurde gezeigt, dass der Schützenfisch auch eine Beute treffen kann, welche sich mit großer Geschwindigkeit recht hoch über dem Wasserspiegel bewegt (Schuster et al. 2006), und vor kurzem wurde gezeigt, dass sich diese Fische quasi vorausahnend bzw. vorausberechnend verhalten: Nachdem sie ihren Wasserstrahl „ abgeschossen “ haben, schwimmen sie genau zu dem Punkt und mit genau der richtigen Geschwindigkeit, um die ins Wasser fallende Beute zu schlucken (Reimel und Schuster 2014). Wie haben sie das alles gelernt? In der letzten Zeit sind noch zwei weitere interessante Probleme aufgetaucht. Zum einen wurde 2013 in Science eine Studie veröffentlicht, die wohl zum ersten Mal ans Licht brachte, dass nicht nur, wie bisher angenommen, die höheren Tiere, allen voran Menschenaffen, sondern auch weit bescheidenere Tiere einschließlich zumindest einiger Insekten über die Fähigkeit verfügen, in ihrer Umgebung Heilmittel für ihre Beschwerden zu finden und sie effektiv zu nutzen (de Roode et al. 2013). The concept of antiparasite self-medication in animals typically evokes images of chimpanzees seeking out medicinal herbs to treat their diseases [. . .]. These images stem partly from the belief that animals can medicate themselves only when they have high cognitive abilities that allow them to observe, learn, and make conscious decisions [. . .]. However, any concept of self-medication based solely on learning is inadequate. Many animals can use medication through innate rather than learned responses. The growing list of animal pharmacists includes moths [. . .], ants [. . .], and fruit flies [. . .]. The fact that these animals self-medicate has profound implications for the ecology and evolution of animal hosts and their parasites. (de Roode et al., ebd., S. 150) Auch diese Beobachtung gibt Anlass zu Fragen. Bedenkt man, mit welcher Mühe wir Menschen die heilenden Kräfte bestimmter Pflanzen entdecken (wenn überhaupt), ist völlig unverständlich, wie die „ dummen Viecher “ dies überhaupt leisten können. Bei den höheren Säugetieren könnte man noch davon ausgehen, dass gewisse Entdeckungen von einer Generation auf die nächste über Lernen und „ Tradition “ weitergegeben werden. Dies kommt aber bei Nachtfaltern, Ameisen und Fruchtfliegen überhaupt nicht in Betracht, was das Rätsel, das bereits im Falle der Selbstmedikation von Schimpansen rätselhaft genug war, nur noch einmal vergrößert. Am 22. Januar 2014 wurde berichtet, dass fast 25 Jahre nach dem Abbau der Absperrungen an der deutsch-tschechischen Grenze die Hirsche auf der 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft 421 tschechischen Seite des Böhmerwalds immer noch genau bis zu der Stelle wandern, wo früher Stacheldraht den Sperrbereich vor der Staatsgrenze markierte. Ähnlich verhielten sich die Hirsche auf der deutschen Seite der deutsch-tschechischen Grenze. Die Forscher vermuten, dass Hirschkühe über Generationen die Kenntnis der Grenzen ihres Territoriums an ihre Nachkommen weitergeben. 288 Die völlig offene Frage aber ist, wie ein „ Vererben “ der geographischen Informationen überhaupt möglich ist. Gehen wir jetzt zu den Rätseln, welche sich direkt auf den Menschen beziehen, über. Am 7. Februar 2012 wurde in der Zeitschrift PNAS eine äußerst interessante Studie veröffentlicht, die sich mit den neurobiologischen Korrelaten der psychedelischen Zustände (also u. a. Halluzinationen) befasste (Carhart-Harris et al. 2012). Die Autoren der Studie stellten zu ihrem Erstaunen fest, dass die Einnahme von Psolocybin, also der klassischen psychedelischen Substanz, die z. B. in den sog. magischen Pilzen (magic mashrooms) gefunden wird, zwar tatsächlich zu verschiedenen Bewusstseinsveränderungen bei den Versuchspersonen führte (Veränderungen in der Wahrnehmung der Umwelt, subjektive Wahrnehmung von geometrischen Mustern, seltsame Körperempfindungen, lebhafte Phantasie usw.), diese aber nicht - wie erwartet - von der Zunahme, sondern von der Abnahme des Blutflusses in den relevanten Gehirnpartien begleitet waren: As predicted, profound changes in consciousness were observed after psilocybin, but surprisingly, only decreases in cerebral blood flow and BOLD signal were seen, and these were maximal in hub regions, such as the thalamus and anterior and posterior cingulate cortex (ACC and PCC). Decreased activity in the ACC/ medial prefrontal cortex (mPFC) was a consistent finding and the magnitude of this decrease predicted the intensity of the subjective effects. (Carhart-Harris et al. 2012, S. 2138) Wie kann man sich diese Resultate erklären, wenn man annimmt, wie es heute allgemein getan wird, dass die Gehirnaktivität - und nicht die Gehirnpassivität - für die Erzeugung des Bewusstseins allgemein und verschiedener spezifischer Bewusstseinszustände verantwortlich ist und dass diese Aktivität mit dem erhöhten Blutfluss durch die relevanten Gehirnpartien zusammenhängt? Vom alltäglichen und zugleich außergewöhnlichen Phänomen des Schlafes haben wir bereits gesprochen. Dessen Rätselhaftigkeit ist in der letzten Zeit zumal noch bedeutend größer geworden. Am 1. März 2014 wurden in der Zeitschrift Sleep Ergebnisse einer großen Studie (6800 Versuchspersonen) veröffentlicht, die sich mit der Korrelation zwischen Albträumen und anderen Schlafstörungen (Schreien, Schlagen mit den Armen im Schlaf usw.) und psychotischen Erfahrungen (Halluzinationen, Wahnvorstellungen, das Gefühl, dass eigene Gedanken von Fremden kontrolliert werden) unter Kindern und Jugendlichen (bis 12) befasste (Fisher 2014). Die Studie hat 288 http: / / www.bbc.com/ news/ world-europe-27129727 (heruntergeladen am 24. 4. 2014). 422 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft ergeben, dass regelmäßig auftretende Albträume eine hohe Korrelation mit erhöhtem Risiko des Auftretens von psychischen Probleme später zeigten. Diese Studie liefert quasi empirische Bestätigung der seit der Antike bekannten Tatsache, dass Träume oft die Wahrheit und Lösungen von Problemen offenbaren. So entdeckte August Kekulé die Ringstruktur des Benzols durch einen Traum. In seiner Rede zum 25-jährigen Jubiläum des Ereignisses 1890 erzählte er, dass er von einer Schlange träumte, die sich selbst in den Schwanz biss. Abraham Lincoln träumte bekanntlich einige Tage vor seiner Ermordung, dass er umgebracht werden würde. Die Doppelhelix-Struktur der DNS erschien James Watson in einem Traum. 289 Und die heutigen Psychologen sagen, dass absichtliches Träumen über bestimmte Probleme zum Erscheinen von Lösungen dieser Probleme im Traum führen könne (Shapiro 2011). Wie kann es sein, dass der Traum Gesundheitsprobleme „ diagnostizieren “ oder Lösungen selbst komplexer Probleme hervorbringen kann? Ein weiteres, von der orthodoxen Wissenschaft kaum anerkanntes, aber m. E. ernsthaftes Problem des gängigen Erklärungsparadigmas ist der Placebo-Effekt. Es mehren sich in der letzten Zeiten Berichte, dass dieser Effekt objektiv feststellbar sei und Placebos tatsächlich wirken. So berichtete z. B. Science Translational Medicine am 16. Februar 2011, dass Gehirnscans von Versuchspersonen zeigten, dass die Einnahme von Placebos messbare Veränderungen der Gehirnaktivität auslöst (Bingel et al. 2011). Und im Juni desselben Jahres wurde im Journal of Developmental and Behavioral Pediatrics eine Studie veröffentlicht, welche zeigte, dass die Einnahme von Placebos zusammen mit konventionellen Medikamenten gegen ADHS es ermöglichte, die den behandelten Kindern (99 Kinder im Alter von 6 bis 12) verabreichte Dosis des ADHS Medikaments Methylphenidat um 50 % zu reduzieren, ohne dass sich ein negativer Effekt auf den Zustand der Kinder einstellte (Sanler et al. 2011). Ferner zeigte eine kürzlich erschienene Studie von John Kelly, dass ein Placebo z. B. auch dann Migräneschmerzen linderte, wenn es als solches deklariert wurde (Kam-Hansen et al. 2014). Diese Befunde zeigen, dass die Erwartungen des Menschen konkrete Auswirkungen auf sein Befinden und seinen Körper haben können. Wie ist dies jedoch möglich, wenn diese Erwartungen, wie heute allgemein angenommen, bloß ein Produkt der Gehirnaktivität und ein Epiphänomen sind? In der letzten Zeit haben die Forscher vermehrt ihre Aufmerksamkeit einem Phänomen gewidmet, das früher kaum Beachtung fand: dem „ weit überlegenen autobiographischen Gedächtnis “ (Highly Superior Autobiographical Memory oder HSAM). Dabei handelt es sich um die bei einigen Menschen vorhandene Fähigkeit, alle Ereignisse ihres Lebens minuziös, mit größter, photographischen Genauigkeit erinnern zu können, unabhängig davon, wie weit zurück die Ereignisse liegen (vgl. z. B. Aurora et al. 2012). Man kann diese Fähigkeit als eine Art des sog. eidetischen Gedächtnisses 289 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_dreams. 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft 423 betrachten (vgl. z. B. Searleman 2007), das in letzter Zeit, im Gegensatz zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der Öffentlichkeit weniger präsent ist. Beide Phänomene sind jedoch höchst erklärungsbedürftig. Denn das Gehirn scheint prinzipiell nicht imstande zu sein, beliebig viele Fakten und Bilder zu „ speichern “ . Wie sind also das eidetische Gedächtnis und HSAM überhaupt möglich? Zum Schluss noch ein Phänomen, das eigentlich nicht neu ist, das aber kürzlich neue Beachtung gefunden hat. Es handelt sich um die Fähigkeit gewöhnlicher Menschen, quasi im Nu die Eigenschaften ihnen unbekannter Personen einzuschätzen oder auch komplexe Entscheidungen, ohne zu überlegen, richtig zu treffen. Dieses Phänomen wurde 2005 von Malcolm Gladwell in seinem Buch Blink. The Power of Thinking without Thinking (Gladwell 2005) der breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Kürzlich wurden zwei neue wissenschaftliche Studien veröffentlicht, die dieses Phänomen bestätigen. Am 29. November 2013 veröffentlichte Science eine Studie, die zeigte, dass Menschen besser wissen, als sie bewusst wissen, wie sich ihre Ehe entwickeln wird (McNulty et al. 2013).135 frisch verheiratete Paare (270 Personen) gaben Antworten in Bezug auf ihre bewusste Haltung gegenüber ihrer Beziehung und wurden zu gleicher Zeit in Bezug auf ihre unbewusste Einstellung zu ihrem Partner getestet. Sie berichteten dann über ihre eheliche Zufriedenheit alle sechs Monate während der nächsten vier Jahre. Die Forscher fanden keinen Zusammenhang zwischen der automatischen und der bewussten Haltung gegenüber dem Ehepartner, was darauf hindeutete, dass die Ehepartner sich ihrer unbewusste Einstellungen eben nicht bewusst waren. Zugleich zeigte sich, dass die automatische, unbewusste Einstellung der Ehegatten, nicht aber ihre bewusste Meinung die Veränderungen der Ehezufriedenheit korrekt prognostizierte, so dass die Wahrscheinlichkeit bei Ehegatten mit positiverer unbewussten Einstellung geringer war, dass sie einen Rückgang der Ehezufriedenheit erleben. Schließlich veröffentlichte am 12. März 2014 die Zeitschrift PLoS ONE eine Studie, die zeigte, dass Menschen fähig sind, die Persönlichkeitseigenschaften ihnen unbekannter Personen allein aufgrund eines gesprochenen Wortes - „ hello “ - mehr oder weniger richtig einzuschätzen (McAleer et al. 2014). Wie sind solche - sagen wir - spontane, intuitive Leistungen möglich? Persönliche Rätsel In diesem Abschnitt möchte ich mir noch die Freiheit erlauben, einige persönliche Fragen an die Adresse der Wissenschaft zu stellen, Fragen, die sich mir aus der Beobachtung der Welt ergeben und die nicht unbedingt ein Echo in der wissenschaftlichen Literatur finden. Bevor ich diese Liste präsentiere, noch eine kleine Vorbemerkung: Am 29. Januar 2014 veröffentlichte Joel Achenbach, ständiger Mitarbeiter der Washington Post und Autor von sieben Büchern, einen Artikel unter dem Titel: „ 5 Big Unanswered 424 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Science Questions “ (Achenbach 2014). Er schrieb, dass er diese fünf Fragen bereits fast zwanzig Jahre zuvor zum ersten Mal formulierte, dass sie aber weiterhin Gültigkeit besitzen. Seine Fragen lauten: 1. Why does the universe exist? 2. What is matter made of? 3. How did life originate? 4. How does consciousness emerge from the human brain? 5. Is there intelligent life on other worlds? Er schrieb weiter, dass es sicher Dutzende weitere Fragen gebe, dass aber die einfachen Fragen die schwierigsten seien ( „ The simplest questions are the hardest “ ). Meine private Frageliste ist wesentlich länger, aber sie besteht aus ganz einfachen Fragen, viel einfacheren als jene von Achenbach. Vielleicht sind deshalb meine Fragen noch schwieriger als seine? 1. Warum gibt es Biodiversität? Darwins Evolutionstheorie sieht vor, dass langfristig, nur die bestangepassten Organismen den „ Kampf ums Überleben “ überstehen. Aber wie viele solche Organismen darf es geben? Es leben immer noch Millionen von verschiedenen Gattungen von Lebewesen auf der Erde. Sind sie alle „ bestangepasst “ ? Ist der Mensch besser an die Umwelt angepasst oder die Bakterien in seinem Darm? Oder sind es beide? Wenn Letzteres, dann ergibt die Idee des „ survival of the fittest “ keinen Sinn, denn jeder Organismus ist dann „ fittest “ auf seine Art! 2. Die Darwin ’ sche Evolutionstheorie sieht vor, dass sich die Organismen unter dem Druck der sich wandelnden Umwelt verändern und an neue Verhältnisse anpassen (und nur die bestangepassten überleben). Aber die Affen haben sich, im Gegensatz zum Menschen, innerhalb der letzten paar Millionen Jahren wenig verändert. Wieso? Die einfache Antwort auf diese Frage lautet: Ihre Umgebung hat sich wenig verändert. Aber warum hat sich die Umgebung des Menschen verändert, wenn sie ursprünglich dieselbe wie die der Affen war? Die Antwort auf diese Frage lautet wahrscheinlich: Der Mensch hat seine Umgebung verändert, die Affen nicht. Aber dann drehen wir uns im Kreise: Man müsste die Gründe angeben, warum der Mensch seine Umgebung verändert hat und die Affen die ihre nicht. Und die Gründe sollten, gemäß der Theorie, in der Umgebung (und spontanen Mutationen) liegen . . . 3. Warum gibt es Kooperation auf dieser Welt? Und zwar offensichtlich nicht nur unter Menschen, sondern auch unter Tieren? Die Darwin ’ sche Theorie behauptet, dass in der Natur vor allem Kampf ums Überleben herrscht. Wenn ich die Natur beobachte, sehe ich wenig Kampf und viel Kooperation zwischen unterschiedlichsten Organismen. Den Kampf gibt es auch, aber er ist in etwa ebenso selten wir der Krieg unter Menschen. Die Natur ist eigentlich überwiegend friedlich. Und der Kampf, wenn von einem solchen überhaupt sachgemäß geredet werden kann, findet meistens nicht innerhalb einer Gattung, sondern zwischen den Gattungen statt (Löwen fressen Antilopen usw., aber Antilopen fressen sich nicht gegenseitig, Löwen auch nicht). Wieso? (Dieses Problem ist übrigens - wie wir gesehen haben - als ein solches auch von der Wissenschaft anerkannt.) 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft 425 4. Wieso gibt es seltsame Tiere wie Fledermäuse, Wale, giftige Schlangen. Giraffen usw.? Wozu sind sie gut? Kann jemand auf die Umweltfaktoren hinweisen, welche die Entstehung der Fledermäuse usw. notwendig machen würden? Durch zufällige Mutationen allein sind sie wohl nicht entstanden. 5. Wie sind die giftigen Schlangen entstanden? Sie müssen gegen ihr Gift immun sein. Aber eine solche Immunität muss sich erst im Laufe der Evolution entwickeln. Nur, bevor sie sich entwickelt, ist das Gift für die Schlange giftig. Also muss sie sterben. Oder war die Immunität gegen Gift zunächst da (infolge einer Zufallsmutation) und erst dann entwickelte sich das Gift? In diesem Fall müsste eine solche Immunität lange Zeit nutzlos gewesen sein, und als solche sollte sie eliminiert worden sein. (Dies ist selbstverständlich eine Variante des bekannten Ei/ Huhn-Problems.) 6. Woher kommen die Vögel? Welcher Umweltdruck hätte ihre Entstehung initiieren können? Auch in diesem Fall ist einfach nicht vorstellbar, dass ein paar zufällige Mutationen aus einer Eidechse einen Vogel gemacht haben. Und die nicht lebensfähigen Zwischenformen mussten wohl ohne Nachkommen aussterben. 7. Wie konnte eine Venusfalle entstehen? Sie ernährt sich von den Insekten, die sie fängt. Aber um diese fangen und verdauen zu können, mussten sich die entsprechenden höchst komplexen Einrichtungen der Pflanze entwickeln. Wie ernährte sich dann die Pflanze, bis sich diese Einrichtungen entwickelt haben? Vermutlich durch die gewöhnliche Photosynthese. Aber warum hat sie angefangen, an etwas anderem zu „ tüfteln “ , wenn sie überlebensfähig war? Insbesondere, da unvollständige Fang- oder Verdauungsmechanismen lange (Evolutions-)Zeit nutzlos gewesen sein mussten und doch im Sinne von Energieaufwand kostspielig waren. 8. Eine ähnliche Ei/ Huhn-Frage ergibt sich in Bezug auf die Entstehung der Säugetiere. Man stelle sich vor, welch komplexe Umformungen nötig sind, um aus einer Eidechse ein Kaninchen, oder sagen wir, um das Problem ein wenig zu vereinfachen, aus dem Hai einen Delfin zu machen. Anstatt Eiern, die außerhalb des Organismus reifen, muss man komplexe Einrichtungen erstellen, welche die Befruchtung der Eizellen, die Reifung der Eizellen bzw. des Embryos im Mutterleib, die Geburt und schließlich die Ernährung der frisch geborenen „ Säuglinge “ , und zwar auf Seiten der Mutter (milchproduzierende Drüsen und entsprechende Sekretionsorgane) und des Nachwuchses (Saugreflex), ermöglichen. Die Einschiebung der Zwischenstufe der Beuteltiere ist hier übrigens wenig hilfreich, weil bereits bei ihnen alle diese Elemente schon vorhanden sein müssen, nur die Geburt ist - aufgrund der Kleinheit des Nachwuchs - unproblematisch. Man stelle sich vor, wie viel sich im Organismus eines Reptils in einer koordinierten Weise verändern muss, um die embryonale Entwicklung eines Säugetieres im Mutterleib und dann die Milchernährung des 426 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft völlig hilflosen Nachwuchses zu ermöglichen. Ich kann mir leider nicht vorstellen, wie dieses ganze komplexe System sich in kleinen Schritten durch zufällige Mutationen hätte entwickeln können. 9. Warum menstruieren die Frauen jeden Monat? Dies ist doch eine wahnsinnige Energieverschwendung! (Abgesehen davon, dass es für viele Frauen unangenehm ist.) Die Tiere haben es viel effizienter eingerichtet: Sie sind grundsätzlich einmal oder höchstens zweimal im Jahr fruchtbar (obschon es auch polyöstrische Tiere gibt: z. B. Hausrind, Hausschwein, Kaninchen, Ratte). 10. Warum läuft das Menschenkind nicht bereits kurz nach der Geburt auf „ allen vieren “ ? Die Tiere können das. Warum braucht es so lang, bis es aufrecht gehen kann? Warum reift es überhaupt so langsam? Die extreme Schutzbedürftigkeit des Menschenkindes musste doch - nach den gängigen Vorstellungen - einen deutlichen Nachteil im Überlebenskampf mit anderen Organismen in den frühen Stadien der Entwicklung der Menschheit bilden. 11. Warum lernt das Kind ausgerechnet dann sprechen, wenn es physisch noch nicht voll entwickelt ist, und später, wenn die Entwicklung seines Gehirns viel weiter fortgeschritten und das Kind viel intelligenter als am Anfang des Lebens ist, nimmt die Fähigkeit, eine (neue) Sprache fließend sprechen zu lernen, deutlich ab? 12. Warum ist die Natur schön? Warum gibt es so viele schöne, farbige Blumen, Vögel, Fische usw.? Normalerweise sagt man, dass dies einen Überlebensvorteil bietet: Die schönsten Blumen ziehen die meisten Bienen an, und der prächtigste Pfau kann seiner Gene am besten weiterreichen. Aber Bienen und andere Insekten bestäuben auch ganz bescheidene Blumen. Überdies gibt es auch viele Pflanzen, die anemophil (windblütig) sind. Ihre Blüten sind zwar meistens tatsächlich ganz unscheinbar, aber erstens kann man z. B. den männlichen Blütenkätzchen von Birken, Haseln oder Pappeln nicht eine gewisse Schönheit absprechen, und zweitens gibt auch es unter den windblütigen Pflanzen einige, die recht schöne Blüten haben (z. B. Thalictrum tuberosum oder Thalictrum delavayi aus der Gattung der Wiesenrauten). Die Blätter vieler Pflanzen, insbesondere der Bäume, sind ebenfalls oft sehr schön and formenreich. Und diese haben mit der Fortpflanzung nichts zu tun. Ferner setzt die Annahme, dass das farbige Prachtkleid der Pfauenhähne die Weibchen beeindruckt und anzieht, nur dann Sinn, wenn Pfauenweibchen etwa den gleichen ästhetischen Geschmack haben wie wir Menschen. Nehmen sie die Farbenpracht des Pfauenschwanzes überhaupt als schön wahr? Oder ist unsere Vorstellung, dass sie dies tun, bloß eine anthropomorphistische Projektion? Abgesehen davon kann man sich auch paaren ohne Farbenpracht, wie dies z. B. bei Tauben der Fall ist. Also: Wieso ist die Natur eigentlich so schön? 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft 427 13. Wie ist es möglich, dass sich aus der gleichen Zellart ein Blatt einer Pflanze, aber auch die Blume mit ihren komplexen Organen entwickelt? Das gängige Erklärungsmuster dieses rätselhaften Phänomens geht in die Richtung, dass sich die für die Entwicklung verschiedener Organe zuständigen Gene im geeigneten Moment koordiniert „ anschalten “ , die nicht mehr nötigen hingegen zur gleichen Zeit koordiniert „ abschalten “ . Aber wie weiß die Pflanze erstens, wann die richtige Zeit für die Abschaltung/ Anschaltung der richtigen Gene gekommen ist, und wie schafft sie es, diesen Prozess koordiniert (es müssen bestimmt sehr viele Gene gleichzeitig involviert sein) auszuführen? Diese Frage stellt sich in grundsätzlich der gleichen Form auch hinsichtlich der Entwicklung der Tiere und des Menschen. Auch diese komplexen Organismen entstehen aus einer (befruchteten) Zelle, die sich koordiniert differenzieren muss, damit sich die Hunderte unterschiedlichen Zellarten z. B. des menschlichen Organismus entwickeln und aus ihnen komplexe Organe aufgebaut werden können. Wir werden dieser Frage im Exkurs „ Können Gene die Morphogenese erklären? “ genauer unter die Lupe nehmen. 14. Eine Variation auf das obige Thema bildet das Rätsel der Metamorphose der Insekten. Das Phänomen ist so bekannt, dass es heute nicht mehr als rätselhaft wahrgenommen wird. Es entzieht sich aber immer noch, und zwar aus den soeben genannten Gründen, der wissenschaftlichen Erklärung. 15. Nahtod-Erfahrungen sind heute sehr bekannt und die große Aufregung, welche ihre „ Entdeckung “ in dem berühmten Buch von Raymond Moody Life after Life (Moody 1975) verursachte, ist verflogen. Das Phänomen bleibt aber völlig rätselhaft. Wenn das Bewusstsein tatsächlich ein Produkt der Gehirnaktivität ist, wie ist es im Komazustand, wenn das EEG flach ist, möglich? Wie sind Sinneswahrnehmungen möglich, von denen Personen mit Nahtod-Erfahrungen berichten, wenn ihre Sinnesorgane nachweislich völlig untätig waren? Auch zu diesen Fragen werden wir ausführlicher zurückkommen: im Exkurs „ Kann das Gehirn das Bewusstsein hervorbringen? “ und im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ . 16. Und die dümmste Frage zuletzt: Wieso wächst das Gras nach oben? Der Grashalm ist ganz weich und biegsam, und dennoch strebt er offensichtlich nach oben. Man könnte sagen, dass er sich in Richtung auf die Sonne entwickeln muss, um möglichst viel Licht zu haben. Aber er will nach oben wachsen, auch wenn kein Gras um ihn herum vorhanden ist und er keinen Konkurrenzkampf um das Licht gewinnen muss. Bei den Bäumen oder sonstigen Pflanzen mit verholzten Ästen und Stämmen ist das Phänomen einfacher zu verstehen: Sie wachsen nach oben, indem sie ihre Zellen Schicht um Schicht lagern, wie Ziegelsteine. Eine solche harte Säule steht wie selbstverständlich (mehr oder weniger) aufrecht. Aber Gras ist sehr biegsam, und es hat es viel schwerer, diese aufrechte Haltung 428 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft beizubehalten. Und schließlich gibt es auch kriechende Pflanzen, Aufwärtsstreben gegen die Sonne ist somit nicht zwingend. Also: Wieso wächst das Gras nach oben? Fazit Ein berühmter österreichisch-schweizerischer Biochemiker, Gottfried Schatz, der sich einen Namen durch die Erforschung der Mitochondrien machte, mehr als 200 wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichte und noch nach seiner Emeritierung 2000 vier Jahre lang Präsident des Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierats (SWTR) war, stellte unlängst in einem Radiointerview fest: „ Das Allermeiste verstehen wir nicht! “ 290 Das ist ein beachtenswertes Eingeständnis nach ungefähr 400 Jahren wissenschaftlicher Erforschung der Natur. Ein Eingeständnis, das übrigens in einem markanten Gegensatz zum Erkenntnisoptimismus am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts steht. 291 Es ist vielleicht an sich gar nicht schlecht, offen auszusprechen, dass wir von der endgültigen Lösung aller Rätsel der Natur immer noch weit entfernt sind. Damit stellt sich allerdings zugleich die Frage: Sind die oben genannten (und viele weitere, nicht aufgeführte) Rätsel wirklich innerhalb des bestehenden Paradigmas lösbar? Oder muss man sagen, dass sich bereits genügend Anomalien angesammelt haben, um ernsthaft über den Übergang zu einem anderen Erklärungsparadigma nachzudenken? 4 b Die Rätsel der Quantenmechanik Die Quantenmechanik bildet die Spitze und den Stolz der heutigen Wissenschaft. Sie gilt als die am besten bestätigte Theorie der Menschengeschichte. In unzähligen Experimenten wurden ihre Voraussagen mit der Genauigkeit von bis zu mehreren Stellen nach dem Komma bestätigt. Auch bildet sie die Grundlage von zahllosen praktischen Anwendungen von Atomkraftwerken bis zu Lasertechnologie, Computer und Magnetresonanztomographie sowie die Grundlage anderer Wissenszweige (z. B. der Quantenchemie). Und dennoch wirft sie bis heute bedeutende Rätsel auf. Im Folgenden werde ich einige von ihnen zumindest kursorisch behandeln. a) Das Atom ist hauptsächlich leerer Raum Zum einen wirft die Quantenmechanik große Fragen in Bezug auf unser alltägliches Verständnis des Stoffes auf, aus dem das Universum besteht und der gemeinhin als „ Materie “ bezeichnet wird. Denn gewöhnlicherweise wird mit dem Begriff „ Materie “ auch die Vorstellung der Solidität, Greifbarkeit 290 Am 28. 10. 2012 in der Sendung „ Musik für einen Gast “ des Schweizer Radios SRF2. 291 Vgl. dazu das Kapitel „ Kurzer Abriss der Geschichte der Wissenschaft “ . 4 b Die Rätsel der Quantenmechanik 429 assoziiert. Die real existierenden Dinge können nicht nur gesehen (oder gehört), sondern auch berührt, betastet werden. Der wirkliche Stuhl kann von einem bloß vorgestellten bzw. von einem dreidimensionalen holographischen Bild eines Stuhles dadurch unterschieden werden, dass man auf dem realen, nicht aber auf dem vorgestellten Stuhl sitzen kann. Seit den ersten Anfängen der Atomtheorie im antiken Griechenland musste man diese vertraute Vorstellung ein wenig modifizieren: Die Grundelemente der Wirklichkeit, die Atome, seien so klein, dass sie nicht berührt, betastet werden können. Diese ursprüngliche Fassung der Atomtheorie hielt jedoch an der vertrauten Solidität des Urstoffes fest: Die Atome seien zwar winzig klein, sie seien aber doch noch „ fest “ (und unteilbar), weshalb sie in großen Anhäufungen Stoffe ergäben, die selbst solide und dazu auch greifbar, betastbar seien. Ein Salz- oder Mehlkörnchen mag winzig klein sein, aber in großen Mengen können Salzkörnchen solide Statuen und Mehlkörnchen Brotleibe bilden. So können auch winzig kleine, aber solide Atome in großen Mengen nicht nur Statuen oder Brotleibe, sondern auch Bäume, Felsen oder sogar Berge, ja die ganze Erde bilden. So die herkömmliche Vorstellung, die eigentlich bis zur Geburt der Quantentheorie Bestand hatte: Noch 1903 entwickelte der berühmte britische Physiker und Nobelpreisträger für Physik Joseph John Thomson (1856 - 1940) das sog. Plumpudding- oder Rosinenkuchenmodell des Atoms, nach dem ein Atom aus gleichmäßig verteilter, positiv geladener und einigermaßen solider, (außer für die Elektronen) undurchdringlicher Masse bestehe, in welcher sich negativ geladene Elektronen bewegen. Erst 1911 schlug der neuseeländische Physiker Ernest Rutherford (1871 - 1937) (der nach dem Erhalt des Nobelpreises für Chemie 1908 in England lehrte und arbeitete) vor, dass das Atom eigentlich aus einem kleinen, positiv geladenen Kern bestehe, um welchen sich in einer verhältnismäßig großen Entfernung davon noch kleinere, negativ geladene Elektronen bewegen. Das Bohr ’ sche Atommodell (so genannt nach seinem Entdecker, dem dänischen Physiker Niels Bohr [1885 - 1962], der für seine Arbeiten in diesem Bereich 1922 den Nobelpreis für Physik erhielt), auch als „ planetarisches “ Modell bezeichnet, das man als eine wesentliche Verfeinerung des Rutherford-Modells betrachten kann und das zum ersten Mal die Existenz von „ zulässigen “ Elektronenbahnen und „ Quantensprünge “ der Elektronen zwischen diesen postulierte, sah vor, dass die Atome wesentlich größere (aber selbstverständlich weiterhin winzig kleine) Dimensionen besitzen. Das Verhältnis des Kerns zur Dimension des ganzen Atoms ließe sich mit dem Verhältnis des Durchmessers unserer Sonne (ca. 1,393 x 10 6 km) zu dem Durchmesser unseres ganzen Planetensystems (bis zum sog. Kuipergürtel ca. 1,4 x 10 10 km) vergleichen, die Gesamtdimension sei ca. 10.000 größer als der Kern. Der britische Physiker Peter Russell hat folgenden Vergleich gezogen, um diese Verhältnisse zu veranschaulichen: 430 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Early in the twentieth century, physicists realized that atoms are composed of even smaller “ subatomic ” particles. An atom may be small, a mere billionth of an inch across, but these subatomic particles are a hundred-thousand times smaller still. Imagine the nucleus of an atom magnified to the size of a tennis ball. The electrons would be spinning around it in orbits several miles across, making the atom itself the size of London or Manhattan. As the early twentieth-century British physicist Sir Arthur Eddington put it, matter is mostly ghostly empty space. 99.9999999999999 % empty space, to be a little more exact. If you could take away the empty space then all the subatomic particles in all the six billion people on planet earth would pack into a volume only a little larger than a grain of rice. 292 Man muss ergänzen, dass dieser Vergleich auf der Annahme basiert, dass die Atome dicht beieinander liegen, was eigentlich nicht der Fall ist, denn oft befinden sie sich in einem beträchtlichen Abstand voneinander. Wenn man diesen Umstand berücksichtigt, ist der Anteil des „ soliden Stoffes “ an unserer Wahrnehmungswelt eigentlich noch wesentlich kleiner (Carter 2012, S. 313). Die Quantenmechanik hat uns also ein Bild der Wirklichkeit beschert, das in der breiten Öffentlichkeit kaum in seiner ganzen Prägnanz wahrgenommen wird: Das Universum erweist sich gemäß den quantenmechanischen Vorstellungen als hauptsächlich leerer Raum, die solide Materie als eine Art Illusion. Noch konkreter: Wenn man meint, dass man auf einem soliden Stuhl sitzt, so irrt man sich gewaltig. In (der quantenmechanischen) Wirklichkeit sitzt man eigentlich auf mehr oder weniger nichts, und der schwere Leib, der auf diesem Nichts sitzt, ist eigentlich auch mehr oder weniger nichts! Ich glaube, wir sind heute immer noch weit davon, die Konsequenzen dieses Weltbildes für unsere Weltanschauung gebührend verdaut zu haben. Mit den Folgen des Bohr ’ schen Atommodells und seiner Nachfolger oder allgemeiner gesagt mit den Folgen der Quantenmechanik für die materialistische Auffassung der Wirklichkeit werde ich mich ausführlicher weiter unten befassen (im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ , Abschnitt „ Potsdamer Manifest 2005 “ ). Hier möchte ich die Aufmerksamkeit auf andere Probleme lenken, die sich aus dieser Theorie für die Wissenschaft ergeben. Und diese sind zahlreich. b) Teilchen-Welle-Dualität Einer der wichtigsten Anstöße zur Entwicklung der Quantenmechanik war die Entdeckung der Teilchen-Welle-Dualität des Lichtes. Früher konkurrierten zwei Theorien des Lichtes miteinander: die Teilchen-Theorie von Gassendi und Newton und die Wellentheorie von Christiaan Huygens, später verfeinert durch Thomas Young. 1909 gelang in dem sog. Doppelspaltexperiment der Nachweis, dass sich das Licht sowohl wie Teilchen (Photonen) als auch wie Wellen verhält, und 1927 konnte beim Elektron das gleiche Verhalten nachgewiesen werden (Ford 2004, S. 185). Richard Feynman 292 http: / / www.peterrussell.com/ pete.php (heruntergeladen am 26. 4. 2014). 4 b Die Rätsel der Quantenmechanik 431 bezeichnete dieses Phänomen als „ a phenomenon which is impossible [. . .] to explain in any classical way, and which has in it the heart of quantum mechanics. In reality, it contains the only mystery [of quantum mechanics] “ (Feynman et al. 1965, S. 8). Ford schreibt, dass die Welle-Teilchen-Dualität der Materie 293 weiterhin den Kern der Quantenphysik bilde (Ford ebd., S. 184). Er schreibt aber auch, dass sie so rätselhaft sei, dass sie bis heute manche Physiker beunruhige und bei ihnen die Erwartung wecke, dass sich das heutige quantenmechanische Bild der Wirklichkeit nicht als das letzte erweisen werde: Some physicists find the two-slit experiment so unsettling (the more you think about it, the more your head swims, to paraphrase Niels Bohr) that they consider quantum mechanics, despite its myriad successes and its absence of failures, incomplete. They believe that sometime in the twenty-first century - whether it be next year or fifty years from now - a new theory will come along, one that encompasses quantum theory and accounts for its successes but that makes more “ sense ” . (Ford ebd., S. 198) Die Beunruhigung der Physiker durch das Phänomen der Teilchen-Welle- Dualität ist sehr wohl nachvollziehbar, denn die Behauptung, dass ein Photon quasi zugleich das eine wie auch das andere sein könne, scheint zumindest eines der elementarsten Gesetze unserer Logik, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, zu verletzen. c) Heisenbergs Unschärferelation 1927 formulierte der deutsche Physiker Werner Heisenberg (1901 - 1976, Nobelpreis für Physik 1932, also mit nur 31 Jahren) die nach ihm genannte Unschärferelation, die eines der zentralsten und fundamentalsten Elemente der Quantenmechanik darstellt (Camejo S. 86). Dieses Prinzip besagt, dass der Ort und der Impuls eines Teilchens unmöglich zu gleicher Zeit mit beliebiger Präzision festgestellt werden kann. Vielmehr gilt: Je genauer einer der Parameter bestimmt wird, desto weniger genau der andere ( Δ x · Δ p ≈ h, wobei Δ x = Ortsunschärfe, Δ p = Impulsunschärfe, und h = Planck ’ sche Wirkungsquantum). Heisenbergs Prinzip hat ein für allemal die Hoffnung von Laplace zunichte gemacht, dass man zumindest im Prinzip die Zukunft (wie auch die Vergangenheit) des Universums genau berechnen können wird (vgl. unten, Kapitel „ Einzug des Materialismus in die Wissenschaft “ ). Eine solche Berechnung ist laut Heisenberg nicht nur aus praktischen, sondern auch aus prinzipiellen Gründen unmöglich: Es ist unmöglich, die Position und den Impuls eines Teilchens genau zu bestimmen, was für den 293 Niels Bohr sprach in diesem Zusammenhang von der Komplementarität des Wellen- und Teilchenbildes des Mikrokosmos (Camejo 2010, S. 184; Kallio-Tamminen 2004, S. 204). 432 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Laplace ’ schen Dämon eine notwendige Bedingung für die Berechnung des Zukunftszustands des Universums wäre. Es wäre falsch, dieses Prinzip dahingehend zu interpretieren, dass es besage, die Naturereignisse bzw. -prozesse seien nicht determiniert. Der Indeterminismus folgt aus der Heisenberg ’ schen Unschärferelation keineswegs. Was aus diesem Prinzip allerdings folgt, ist die grundsätzliche Unvorhersagbarkeit des Universums, wobei man berücksichtigen muss, dass wir hier von Unvorhersagbarkeit auf der Ebene der Quantenphänomene, also in der Mikrowelt, sprechen, nicht aber von der Ebene der alltäglichen Ereignisse. Von einem Auto lässt sich durchaus ganz genau angeben, wo es sich zu einer bestimmten Zeit befindet und mit welcher Geschwindigkeit und in welche Richtung es sich bewegt. Dennoch ist es berechtigt zu behaupten, dass die Folgen der Heisenberg ’ schen Unschärferelation für die Mikrowelt mit jenen von Kants Kritik der reinen Vernunft verglichen werden können (Wyler 2010, S. 46). So wie Kant die Grenzen der Erkennbarkeit der Welt formuliert hatte oder es zumindest vermeinte zu tun, so formulierte Heisenberg die Grenzen der Erkennbarkeit des Mikrokosmos. Und dies muss doch als ein grundsätzliches Problem der Quantenmechanik betrachtet werden: Sie macht die Welt, die sie zu erklären sucht, letztendlich zu etwas, was prinzipiell unerkennbar ist. Bekanntlich konnte sich Albert Einstein nie mit dem bloß probabilistischen Charakter der Quantenmechanik anfreunden. In einem Brief an Max Born vom 4. Dezember 1926 schreibt er: Die Quantenmechanik ist sehr achtunggebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass das noch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten [des Gottes] bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass der nicht würfelt. (Einstein und Born 1972, S. 97f.) d) Schrödingers Wellenfunktion Zentral für die Quantenmechanik ist, wie bereits erwähnt, die Vorstellung, dass sich Elektronen nur auf bestimmten „ Bahnen “ um den Atomkern bewegen und von einer Bahn auf die andere „ überspringen “ können, wobei sie entweder Energie in Form von „ Quanten “ , diskreten Energieeinheiten, absorbieren, wenn sie sich vom Atomkern entfernen, oder Energie abgeben, wenn sie sich in Richtung des Kerns bewegen. Die Postulierung des Quantencharakters der Energieabgabe durch Atome erlaubte es, früher unverständliche und paradoxe Phänomene zu erklären, insbesondere die sog. Strahlung der schwarzen Körper (was Max Planck [1858 - 1947, Nobelpreis für Physik 1918] 1900 leistete [Ford ebd., S. 93 - 95]). Bohr lieferte allerdings keine Begründung, wieso die Elektronen nur bestimmte Umlaufbahnen um den Atomkern einnehmen können. Dieses Problem ließ sich erst mithilfe einer zündenden Idee Erwin Schrödingers (1887 - 1961, Nobelpreis für Physik 1933) lösen. 1926 schlug Schrödinger vor, man solle sich die Elektronen nicht 4 b Die Rätsel der Quantenmechanik 433 als materielle Teilchen oder Punkte auf einer „ Umlaufbahn “ , sondern vielmehr als eine Welle, die beständig um den Atomkern läuft, vorstellen (Mielnik und Rosas-Ortiz 2006, S. 8). Dieser Gedanke war an sich nicht besonders revolutionär, denn die Teilchen-Welle-Dualität der Photonen war damals bereits hinlänglich bekannt und es war naheliegend, dass eine ähnliche Doppeldeutigkeit auch für andere Elementarteilchen gilt (was, wie oben erwähnt, 1927 für Elektronen tatsächlich nachgewiesen wurde). Schrödinger zog nun aber die richtigen Konsequenzen aus dieser Annahme. Bekanntlich können Wellen miteinander interagieren, was in der Fachsprache Interferenz heißt. Treffen zwei Wellen der gleichen Länge so aufeinander, dass ihre Spitzen zusammenkommen, so verstärken sie sich gegenseitig und es entsteht eine höhere Welle. Treffen hingegen zwei Wellen der gleichen Länge so aufeinander, dass die Spitze einer Welle mit dem Tal der anderen Welle zusammenkommt, so löschen sie sich gegenseitig aus. Schrödinger erkannte, dass, den Wellencharakter vorausgesetzt, Elektronen bestimmte Bahnen annehmen müssen, denn sollten sie die „ falschen “ Bahnen für ihre Bewegung „ wählen “ , würden sie sich selbst auslöschen (Mielnik und Rosas- Ortiz ebd.). Bald zeigte sich aber, dass auch diese Lösung des Problems der „ zulässigen Bahnen “ ihre Tücken hatte. Denn in vielen Experimenten wurde nachgewiesen, dass Elektronen auch die Eigenschaften von Teilchen besitzen. Man musste also irgendwie erklären können, wie es dazu kommt, dass aus einer Welle ein Teilchen wird und umgekehrt. Der Prozess der Umwandlung der Elektron-Welle in das Elektron-Teilchen ist in der Physik unter dem Begriff Kollaps der Wellenfunktion bekannt (Camejo 2010, S. 107). Man kann sich die Situation bildlich so vorstellen: Trifft eine Elektron-Welle auf einen Detektor, so wird die Welle „ zerquetscht “ , verwandelt sich in ein Teilchen und wird als ein solches registriert. Das ist einleuchtend und scheint unproblematisch zu sein, wäre nicht die Tatsache, dass eine Welle, auch eine sehr kleine, immer eine bestimmte Länge hat. Der Kollaps der Wellenfunktion verlangt aber, dass sich die Umwandlung der Welle in ein Teilchen augenblicklich ereignet, dass diesem Prozess mithin keine zeitliche Ausdehnung zugeschrieben werden kann. Das bedeutet, dass der Rest der Welle, der sich im Moment der Detektion noch nicht am Detektor befindet, verschwindet, sobald der Anfang der Welle auf den Detektor trifft. Ein solches Phänomen würde jedoch voraussetzen, dass sich die Information ( „ Die Spitze der Welle ist an den Detektor gestoßen “ ) mit unendlicher Geschwindigkeit der ganzen Länge der Welle ausbreiten sollte, was der speziellen Relativitätstheorie Einsteins widersprechen würde. (Camejo ebd., S. 108) Es verwundert deshalb nicht, dass Einstein von der Idee eines Kollapses der Wellenfunktion überhaupt nicht begeistert war. Dieses Problem lässt sich wiederum elegant lösen, indem man annimmt, dass die Schrödinger ’ sche Wellenfunktion kein physikalisches Objekt, d. h. eine Welle, beschreibt, sondern bloß die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des 434 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft durch die Wellenfunktion beschriebenen Quantenobjekts an einem bestimmten Ort (Camejo ebd., S. 111). Diese Lösung hat ebenfalls bereits 1926 (also in dem Jahr, in welchem Schrödinger seine Wellenfunktionsgleichung veröffentlichte) der deutsche Mathematiker und Physiker Max Born (1882 - 1970, Nobelpreis für Physik 1954) vorgeschlagen. Beschreibt die Wellenfunktion bloß die Wahrscheinlichkeit, ist sofort einsichtig, dass die Wahrscheinlichkeit seines Aufenthalts an diesem Ort ganz unproblematisch genau den Wert 1 annimmt, wenn ein Teilchen an einem bestimmten Ort detektiert wird. Dafür ist keine Informationsübertragung mit Überlichtgeschwindigkeit von einem Ende der Welle an das andere nötig. Das Problem dieser Lösung besteht jedoch darin, dass die Schrödinger ’ sche Gleichung plötzlich nicht als eine zwar abstrakte, aber immer noch wahrheitsgetreue Wiedergabe der realen physischen Welt zu deuten ist, sondern bloß eine mathematische Konstruktion darstellt, die es uns erlaubt, Berechnungen über die Elementarteilchen zu tätigen, jedoch keine Einsicht in ihre Wirklichkeit gewährt. Niels Bohr hielt es sogar für irreführend, überhaupt von der Welt der Quantenphänomene zu sprechen: , denn es gebe eine solche Welt strenggenommen gar nicht: There is no quantum world. There is only an abstract quantum physical description. It is wrong to think that the task of physics is to find out how nature is. Physics concerns what we can say about nature. (Zitiert in Camejo ebd., S. 184) Auch diese Sicht der Schrödinger ’ schen Wellenfunktion muss also eindeutig als ein gravierendes und bis heute nicht gelöstes Problem der Quantenmechanik betrachtet werden. Ein weiteres Problem, das sich an dieser Stelle stellt, ergibt sich aus der Betrachtung des Übergangs des Elektrons von einer „ Bahn “ auf die andere, der gewöhnlich als „ Sprung “ bezeichnet wird. In unserer Alltagswelt stellen wir uns unter einem Sprung einen plötzlichen Ortswechsel vor, während dessen der Kontakt mit dem Boden für eine kurze Zeit unterbrochen ist. Wir wissen aber, dass die Person, die sich im Sprung befindet, ihren Ort kontinuierlich wechselt und sich zu jeder Zeit an einem bestimmten, obschon je anderen Ort aufhält. Die springende Person behält ihre physische Identität und Kontinuität während des ganzen Sprungs bei. Nicht so bei dem „ Sprung “ eines Elektrons von einer Bahn auf die andere. Denn unabhängig davon, ob man das Elektron während dieses Prozesses als ein Teilchen oder als eine Welle betrachtet, eines ist sicher: Das Elektron darf sich nicht im Raum zwischen den „ Bahnen “ befinden, und dieser Zwischenraum ist aus der Sicht des winzigen Elektrons beträchtlich. Der „ Sprung “ des Elektrons kann also nicht als ein kontinuierlicher, obschon blitzschneller Übergang einer konkreten Entität von einem Ort zu einem anderen Ort vorgestellt werden, während dessen sie alle Zwischenpositionen nacheinander einnimmt, sondern muss vielmehr als eine Art Verschwinden des Elektrons aus seiner bisherigen Bahn und Wiedererscheinen in einer neuen Elektronenschale 4 b Die Rätsel der Quantenmechanik 435 gedacht werden. Es hört also für einen Moment quasi auf zu existieren, um dann an einem anderen Ort wie neugeschaffen zu erscheinen. Eine Vorstellung, die wahrlich nicht einfach in Einklang mit unseren alltäglichen Intuitionen zu bringen ist. Aber damit sind wir lange noch nicht am Ende der Probleme der Quantenmechanik. Denn selbst wenn man zugibt, dass der Kollaps der Wellenfunktion nicht zwingend zu Paradoxien (Informationsübertragung mit Überlichtgeschwindigkeit) führen müsse, bleibt die Frage offen, was eigentlich zu dieser Verwandlung der Welle in ein Teilchen führt. Erstaunlicherweise sind sich die Physiker bis heute in Bezug auf diese Frage nicht einig (Camejo ebd., S. 113). Die klassische Antwort wurde 1927 von Niels Bohr und Werner Heisenberg während ihrer Zusammenarbeit in Kopenhagen auf der Grundlage von Max Borns Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Wellenfunktion formuliert. Diese „ Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik “ besagt, dass der Kollaps der Wellenfunktion eine notwendige Folge des Messprozesses sei (Camejo ebd., S. 114). Die Interaktion des Quantenobjekts (z. B. eines Elektrons) mit einem makroskopischen Objekt (z. B. einem Elektrondetektor) bringe die Welle zum Einstürzen. Oder anders gesagt: Durch diese Interaktion geht die Überlagerung (Superposition) der verschiedenen Zustände des Quantenobjekts (das Elektron als Teilchen kann sich an unendlich vielen Orten der Elektronenwelle befinden) verloren und das Elektron erscheint an einem konkreten Ort. Diese Deutung hat jedoch zwingend zur Folge, dass mikroskopische Objekte unmöglich störungsfrei beobachtet und gemessen werden können. Jede Beobachtung der mikroskopischen Welt zieht eine Veränderung dieser Welt nach sich. Das heißt aber, dass eine objektive, distanzierte Beobachtung der Vorgänge der Mikrowelt unmöglich sei. Man kann diese Konsequenz als Nichtobjektivierbarkeit bezeichnen (Camejo ebd., S. 186). Heisenberg brachte diesen Aspekt in seiner sog. Kopenhagener Deutung zum Ausdruck: Am schärfsten aber tritt uns diese neue Situation eben in der modernen Naturwissenschaft vor Augen, in der sich [. . .] herausstellt, dass wir die Bausteine der Materie, die ursprünglich als die letzte objektive Realität gedacht waren, überhaupt nicht mehr „ an sich “ betrachten können [. . .] und dass wir im Grunde immer nur unsere Kenntnis dieser Teilchen zum Gegenstand der Wissenschaft machen können. (Heisenberg 1955, S. 18, zitiert in Camejo ebd., S. 186) e) Schrödingers Katze Eine probabilistische Interpretation der Wellenfunktion im Sinne von Max Born hat jedoch grundsätzlich etwas Unbefriedigendes an sich. Dies kommt sehr deutlich in einem berühmten Gedankenexperiment von 1935 zum Ausdruck, das als Schrödingers Katzenparadoxon bekannt ist. Stellen wir uns eine Katze vor, die sich in einer geschlossenen und absolut dichten Kiste befindet. Neben der Katze befindet sich ein instabiler Atomkern, ein Geiger- 436 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft zähler und ein Kanister mit Giftgas. Wenn der Atomkern zerfällt, misst der Geigerzähler die freiwerdende Strahlung und löst eine Vorrichtung aus, die den Kanister zerbricht und das Giftgas freisetzt, was unweigerlich zum Tode der Katze führt. Stellen wir uns ferner vor, dass wir es mit einem Atomkern zu tun haben, dessen Halbwertzeit genau eine Stunde beträgt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Atomkern nach einer Stunde noch intakt ist, beträgt also genau 0,5. Die Frage ist nun, ob die Katze in der Kiste nach einer bestimmten Zeit innerhalb dieser Stunde lebendig oder tot ist. Aus der Sicht der Quantenmechanik kann man hier nur von Wahrscheinlichkeiten sprechen: Der Atomkern befindet sich in einem sog. Überlagerungszustand, der sowohl aus „ intakt “ wie auch „ zerfallen “ besteht, wobei die Wahrscheinlichkeit des zweiten Zustands mit jeder Minute zunimmt, und des ersten entsprechend abnimmt, bis am Ende der Stunde beide 0,5 betragen. Wie sieht die Situation aber aus Sicht der Katze aus? Befindet sie sich während dieser Zeit ebenfalls in einem „ Überlagerungszustand “ ? Das heißt, ist sie ebenfalls gleichzeitig lebendig und tot mit wechselnden Wahrscheinlichkeiten der jeweiligen Zustände? Dies scheint absurd zu sein. Die Katze ist in (fast) jedem Moment entweder lebendig oder tot (in fast jedem, denn wenn das Giftgas freigesetzt wird, ist die Katze nicht sofort tot; sie ist vielmehr „ am Sterben “ ). Dieses Gedankenexperiment illustriert vortrefflich die Schwierigkeit, denen die Quantenmechanik begegnet, wenn ihre Begriffe und Ideen auf die Alltagsbzw. Makrowelt übertragen werden. Schrödingers Katzenparadoxon fand übrigens bis heute keine Lösung, die für alle Physiker befriedigend ist. Ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma bietet die sog. Viele-Welten- Interpretation der Quantenmechanik, die vom amerikanischen Physiker Hugh Everett (1930 - 1982) vorgeschlagen wurde. 294 Sie geht davon aus, dass jedes physikalische System als Teil eines größeren isolierten Systems betrachtet werden müsse. Daraus folge, dass ein Teilsystem nicht unabhängig vom Restsystem beschrieben werden könne, sondern sein Zustand (bzw. seine Zustandsfunktion) erst relativ zur Zustandsfunktion des übrigen Systems Bedeutung habe. Für Schrödingers Katze heißt das, dass es unmöglich ist, den Zustand der Katze objektiv, distanziert festzustellen. Die Beobachtung des Zustands der Katze hat vielmehr Folgen für das übrige System, also in diesem Fall auch für den Beobachter. Man kann sich diesen Umstand ein wenig vereinfacht so vorstellen: Wird festgestellt, dass die Katze tot ist, verändert diese Beobachtung zwangsläufig den Zustand des Beobachters und er wird traurig. Wird hingegen festgestellt, dass die Katze am Leben ist, macht es den Beobachter froh (Camejo ebd., S. 190). Insoweit ist Everetts Idee unproblematisch. Der springende Punkt ist jedoch, dass er annimmt, dass beide Beobachtungen gleichzeitig als reale physische Zustände existie- 294 Die Bezeichnung „ Viele-Welten-Interpretation “ selbst stammt von einem anderen amerikanischen Physiker, Bryce DeWitt (1923 - 2004) (Camejo ebd., S. 188). 4 b Die Rätsel der Quantenmechanik 437 ren, dass also obschon nur ein Zustand faktisch festgestellt wurde, der andere Zustand ebenfalls eine physische Realität besitzt: Thus with each succeeding observation (or interaction), the observer state “ branches ” into a number of different states. Each branch represents a different outcome of the measurement and the corresponding eigenstate for the object-system state. All branches exist simultaneously in the superposition after any given sequence of observations. (Wheeler und Zurek 1983, S. 320, zitiert in Camejo ebd., S. 191) Jede Messung teilt also die Welt in verschiedene „ Zweige “ : die gemessene und die mögliche, obwohl nicht festgestellte, und diese „ Zweige “ existieren real nebeneinander. Deshalb haben wir es mit „ vielen Welten “ zu tun. Auf unser Beispiel angewandt bedeutet Everetts Interpretation, dass die Katze in einem Universum als lebendig und in einem anderen Universum als tot beobachtet wird. Damit verschwindet das Paradoxon, dass sie in eins lebendig und tot ist. Allerdings ist der Preis für die Auflösung des Paradoxons sehr hoch. Sie setzt nämlich die Existenz von praktisch unendlich vielen Universen voraus, was selbstverständlich nicht nur schwer vorstellbar ist, sondern auch eine eklatante Verletzung des Ockham ’ schen „ Rasiermessers “ bedeutet. f) Das EPR-Paradox Ebenfalls im Jahre 1935 haben Albert Einstein und zwei weitere Physiker, Boris Podolsky (1896 - 1966) und Nathan Rosen (1909 - 1995), auf eine weitere gravierende Schwierigkeit der Quantenmechanik, zumindest in ihrer Kopenhagener Deutung, hingewiesen. Dazu haben Sie sich folgendes Gedankenexperiment ausgedacht: Stellen wir uns ein aus zwei Teilchen (A und B) bestehendes Quantensystem vor. Der Gesamtzustand dieses Systems ( Ψ AB ) kann durch die Schrödinger-Gleichung beschrieben werden; diese legt auch die zeitliche Entwicklung des Systems fest. Stellen wir uns weiter vor, dass wir über eine Vorrichtung verfügen, welche imstande ist, diese zwei Teilchen in entgegengesetzte Richtung zu katapultieren. Angenommen, sie bewegen sich jeweils mit Lichtgeschwindigkeit, kann gemäß der Relativitätstheorie kein Informationsaustausch zwischen diesen beiden Teilchen stattfinden, denn der zunehmende Distanz zwischen ihnen würde verlangen, dass das Signal von einem Teilchen zum anderen mit der doppelten Lichtgeschwindigkeit eilen müsste. Stellen wir uns weiter vor, dass wir an einem dieser Teilchen eine Messung vornehmen. Vor der Messung kann man nur von einer gewissen Bandbreite der Wahrscheinlichkeiten der Parameter der beiden Teilchen (z. B. ihres Impulses) sprechen, man weiß aber nicht genau, wie groß dieser Parameter ist. Die Messung gibt uns jedoch nicht nur Aufschluss über die genaue Größe dieses Parameters beim ersten, sondern auch beim anderen Teilchen. Denn gemäß der Quantenmechanik wird, sobald der Impuls des Teilchen A festgestellt worden ist, auch der Impuls des mit diesem Teilchen in einem System „ verschränkten “ Teilchens B festgelegt. Nehmen wir nun an, 438 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft wir messen den Impuls des Teilchens A. Damit legen wir quasi fest, welcher Wert aus einer Wahrscheinlichkeitsspanne dem Teilchen B zukommt. Nun kann aber Teilchen B unmöglich „ wissen “ , dass wir am Teilchen A eine Messung vorgenommen haben; es hat also (theoretisch) keinen Anlass dafür, sich auf einen konkreten Impulswert „ festzulegen “ . Also müssen wir entweder eine Kommunikation mit Überlichtgeschwindigkeit zwischen den beiden Teilchen annehmen, oder es hat keinen Sinn zu behaupten, dass die Messung an einem Teilchen den Zustand des anderen festlegt. Daraus folgerten Einstein, Podolsky und Rosen, dass die Quantenmechanik eine nur unvollständige Beschreibung der physischen Wirklichkeit biete und eine tiefere, umfangreichere Theorie gefunden werden müsse. Was 1935 unmöglich schien, wurde inzwischen experimentell bestätigt: dass zwei voneinander getrennte Teilchen tatsächlich miteinander „ kommunizieren “ (Aspect 1999). Vor kurzem wurde sogar die Geschwindigkeit gemessen, mit welcher solche „ Kommunikation “ stattfindet. Es stellt sich heraus, dass sie zwar nicht unendlich, aber doch mindestens 10.000 Mal größer als die Lichtgeschwindigkeit sein muss (Salart et al. 2008). Zwar machen diese Befunde das Phänomen der Verschränktheit (engl.: entanglement) der Teilchen verständlicher, sie bereiten aber sogleich neue Schwierigkeiten, insofern die spezifische Relativitätstheorie bekanntlich davon ausgeht, dass die Lichtgeschwindigkeit die höchstmögliche Geschwindigkeit von Naturprozessen ist. g) Gleiches Teilchen an mehreren Orten Das EPR-Paradox und seine Folgen sind aber keineswegs das letzte Rätsel der Quantenmechanik. Bald erwies sich, dass die Teilchen nicht nur über die beunruhigende Eigenschaft des „ Verschwindens “ und „ Wiederauftauchens “ verfügen, sondern dass sie auch an zwei Orten zu gleicher Zeit anwesend sein können. 295 Vor kurzem wurde sogar nachgewiesen, dass sich ein Photon an sage und schreibe vier Orten gleichzeitig befinden kann (Choi 2010, vgl. auch Vuletic 2010). Angesichts solcher Befunde wundert man sich wahrlich nicht mehr, dass Niels Bohr einmal gesagt haben soll, dass jede Person, die mit der Quantenmechanik konfrontiert werde und nicht zutiefst schockiert sei, sie noch nicht verstanden habe (Appleyard 2004, S. 152). Und der berühmte amerikanische Physiker und Nobelpreisträger für Physik (1965) Richard Feynman (1918 - 1988), der als einer der größten Physiker des 20. Jahrhunderts betrachtet wird und Wesentliches zum Verständnis der Quantenfeldtheorien beitrug, sagte: „ I think I can safely say nobody understands Quantummechanics “ (Feynman 1967, zitiert nach Hey et al. 2003, S. 335). 295 Die Beschreibung des entsprechenden Experimentes ist ein wenig aufwendig, weshalb ich darauf verzichte. Der interessierte Leser findet eine Darstellung in Ford, ebd., S. 235 - 238. 4 b Die Rätsel der Quantenmechanik 439 h) Jetztzustand Es wäre falsch zu meinen, dass die im obigen kursorischen Überblick aufgezählten Rätsel der Quantenmechanik bloß für den unverständigen Laien (wie z. B. den Schreiber dieser Zeilen) rätselhaft seien. Im Gegenteil: Auch für die Spezialisten bleiben sie weiterhin rätselhaft. Mielnik und Rosas- Ortiz stellen im letzten Abschnitt ihres Beitrags über Quantenmechanik in der Encyclopedia of Physical Sciences, Engineering and Technology Resources diesbezüglich Folgendes fest: The QM laws explained ample domains of physical phenomena at the cost of leaving some basic problems unsolved. [. . .] The older interpretational challenges [. . .] remain alive. Will the future QM see the revival of fundamental discussions? Should the quantum states be interpreted in a minimalist way, just as the code symbols used to predict the statistical effects [. . .] or will they recover some realistic sense? Will the paradox of the Schrödinger ’ s cat be solved by a new generation of QM laws? Should they remain linear forever, with the “ collapse of the wave packet ” meaning simply that our probabilistic predictions must be from time to time reset? The technical problems are no less intriguing. [. . .] No answers as yet exist. This report belongs to a turbulent epoch of an early prehistory when the solutions were still hardly emerging. What it might show is that the unsolved problems, even if they look secondary, can be more important than the established scientific theories and their results (Mielnik und Rosas-Ortiz 2006, S. 48f.). Wir sind also tatsächlich auch heute, neunzig Jahre nach der Entwicklung der Quantenmechanik in ihrer ursprünglichen Form, immer noch weit davon entfernt, ihre Rätsel enträtselt zu haben. i) Quantenmechanik und Gravitation; Stringtheorien Im Folgenden möchte ich noch kurz zwei Probleme ansprechen, welche nur mittelbar an die Quantenmechanik anknüpfen bzw. aus ihr erwachsen. Eine wesentliche Schwäche der Quantenmechanik besteht darin, dass sie nicht imstande ist, die Gesamtheit der Phänomene der physischen Welt zu beschreiben. Sie kennt grundsätzlich nur drei Kräfte: elektromagnetische Wechselwirkung, welche zwischen zwei unterschiedlich geladenen Teilchen oder in elektromagnetischen Feldern wirksam ist; die sog. schwache Wechselwirkung, welche zwischen den Teilchen vom Typ Lepton (Elektronen, Myonen usw.) und Quarks wirkt und nur eine außerordentlich kurze Reichweite von 10 - 12 m besitzt; und schließlich die sog. starke Wechselwirkung, die zwischen Quarks wirksam ist und den inneren Zusammenhalt der Hadronen gewährleistet, also von Teilchen, die aus Quarks bestehen (z. B. Protonen und Neutronen), sowie die gegenseitige Anziehung zwischen den Hadronen, folglich den Zusammenhalt der Atomkerne. Die Gravitationskraft kommt somit innerhalb der Quantenmechanik überhaupt nicht zur Geltung und kann mittels dieser Theorie nicht erklärt werden. Zwar erlaubt Einsteins 440 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft allgemeine Relativitätstheorie eine solche Deutung, diese stellt die Welt aber nicht in der Begrifflichkeit von Teilchen und ihren Interaktionen, sondern in der der Beugung des Raumes in der Nähe massiver Körper dar. Die zwei Begriffssysteme sind prinzipiell inkompatibel. 296 Daraus ergibt sich eine intellektuell unbefriedigende Situation, eine Art theoretische Schizophrenie: Wir leben doch offenkundig in einer Welt, nur kann diese - wie es scheint - nicht einheitlich erklärt werden. Dieser Zustand bietet eine starke Motivation für die Suche nach einer allumfassenden Theorie, die mit dem Namen „ Weltformel “ (engl.: „ Theory of Everything “ ) bezeichnet wird. Bereits in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden zu diesem Zweck Versuche unternommen, die schon in den 60er Jahren entwickelten sog. Stringtheorien auf das Gebiet der Gravitation auszudehnen. Die Stringtheorien, später Superstringtheorien, gehen von einer Symmetrie zwischen Bosonen (Photonen, Gluonen usw.) und Fermionen (Quarks, Leptonen, und Baryonen) aus und postulieren, dass die tiefste Ebene der Materie nicht aus kleinen Teilchen (Elektronen, Neutronen usw. oder auf einer noch tieferen Ebene Quarks) bestehe, sondern aus im Vergleich mit diesen fast unvorstellbar viel kleineren Elementen, eben Strings: eindimensionale Entitäten von der Größe einer Plancklänge, die in einem multidimensionalen Raum vibrieren. (Eine Plancklänge beträgt ca. 10 -35 m; nach dem klassischen relativistischen Modell ist der Durchmesser des Elektrons ca. 5 x 10 - 15 m, also ca. 10 -20 , d. h., es ist 100.000.000.000.000.000.000 Mal größer als die Länge eines Strings.) Einer der zentralen Vorteile der Stringtheorien besteht darin, dass sich quasi mühelos Quantengravitation herleiten lässt. Leider aber habe diese Theorien einen wesentlichen Makel: Es sind viele. Das wäre nichts Schlimmes, wenn man aufgrund empirischer Kriterien entscheiden könnte, welche von ihnen die richtigen und welche die falschen sind. Ein entsprechendes experimentum crucis scheint jedoch im Falle der Stringtheorien aus prinzipiellen Gründen undurchführbar zu sein. Richard Dawid, Dozent für Wissenschaftstheorie an der Universität Wien, der auch in Physik promovierte, charakterisierte diese Schwierigkeit folgendermaßen: The core property of strings, their extendedness, is expected to show only close to the Planck length. In classical scenarios, that means that the extendedness of the string becomes empirically testable only about 13 orders of magnitude beyond the energy scales that can be reached by the most powerful high energy experiment today, the LHC experiments at CERN [10 000 000 000 000 Mal höher]. There is no hope to reach those scales within the framework of collider physics. (Dawid 2013, S. 17) 296 Nur am Rande sei erwähnt, dass die Entdeckung des sog. Higgs-Bosons im Juli 2012 nichts an dieser Situation änderte. Denn dieses Teilchen erklärt lediglich, wie die Elementarteilchen ihre Masse erhalten - was früher ebenfalls rätselhaft war - , keineswegs aber die Gravitationskraft mit ihren Eigenschaften: ihrer Stärke, und ihrer Fähigkeit, über sehr große Distanzen hinweg zu wirken. 4 b Die Rätsel der Quantenmechanik 441 In seinem bereits 1996 erschienenen einflussreichen Buch End of Science. Facing the limits of knowledge in the twilight of the scientific age benutzte der bekannte amerikanische Wissenschaftsjournalist John Horgan ein eindrückliches Bild, um das Problem zu veranschaulichen: [T]he strings are as small in comparison to a proton as a proton is in comparison to the solar system. [. . .] To probe the realm superstrings are thought to inhabit physicists would have to build a particle accelerator 1,000 light-years around. (The entire solar system is only one light-day around.) And not even an accelerator that size could allow us to see the extra dimensions where superstrings dance. (Horgan 1996, S. 62) Interessanterweise ist der Status der Stringtheorien selbst unter den Spezialisten umstritten. Einige, wie z. B. der bedeutende britische Physiker, Michael Green, einer der Pioniere der Stringtheorie, der gegenwärtig Professor im Department of Applied Mathematics and Theoretical Physics an der Universität Cambridge tätig ist, 297 aber auch in Princeton und Oxford lehrt, ist von ihren Vorzügen überzeugt: The moment you encounter string theory and realize that almost all of the major developments in physics over the last hundred years emerge - and emerge with such elegance - from such a simple starting point, you realize that this incredibly compelling theory is in a class of its own. (Zitiert in Dawid 2013, S. 20) Andere hingegen, wie z. B. der prominente amerikanische Physiker Lee Smolin, der eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Quantengravitationstheorie spielte und gegenwärtig an den Universitäten von Waterloo (Ontario, Kanada) und Toronto lehrt, sind skeptisch: Despite a number of tantalizing conjectures, there is no evidence that string theory can solve several of the big problems in theoretical physics. Those who believe the conjectures find themselves in a very different intellectual universe from those who insist on believing only what the actual evidence supports. The very fact that such a vast difference of views persists in a legitimate field of science is in itself an indication that something is badly amiss. (Smolin 2006, S. 198, zitiert in Dawid ebd., S. 21) Die Kontroversen im Umfeld der Stringtheorien und die praktische Unmöglichkeit der empirischen Verifizierung der widersprüchlichen Behauptungen, also die radikale und prinzipielle Unterdetermiertheit 298 dieser Theorien durch empirische Daten, führen Dawid zu der Überzeugung, dass sich die heutige Physik in einer grundsätzlichen Krise befinde: Fundamental physics at the beginning of the twenty-first century is faced with a confusing situation. On the one hand, physicists sense that for the first time in the 297 Wo er 2009 von Stephen Hawking den Lucasischen Lehrstuhl für Mathematik, eine der prestigeträchtigsten akademischen Positionen der Welt, übernahm. 298 Für die ausführlichere Behandlung dieses Begriffs s. unten den Abschnitt „ Einige theoretische Probleme des empirischen Forschungsparadigmas “ . 442 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft long and successful history of their discipline they may have a realistic chance of fulfilling its most ambitious and longstanding goals. The two large complexes of physical reasoning, micro-physics and cosmology, finally seem to offer hope for a genuine unification within one overall physical conception. String theory, in conjunction with new theoretical concepts in cosmology, has revealed the contours of a truly universal theory of all fundamental aspects of the physical world. On the one hand, many physicists believe that fundamental physics is facing a serious crisis. This crisis seems to be generated by conjunction of two problems. First, physics is losing contact with empirical testing. While microphysics was driven by a continuous stream of empirical data throughout most of the twentieth century, recent decades have witnessed the increasing importance of theories whose characteristic predictions lie far beyond the reach of contemporary experimental testing. The control of the theoretical evolution by empirical data, a crucial element of the natural sciences, thus appears in danger. Moreover, the attempts to come up with a consistent fully universal theory have led to a staggering increase of mathematical complexity, resulting in a wide spectrum of speculative and empirically unconfirmed, in some cases maybe empirically unconfirmable, new hypotheses. Examples range from the spatial extra-dimensions and higher-dimensional objects of string theory to the prediction of many unobservable universes in cosmic inflation. To make things worse, the analysis of the mathematical structures implied by those hypotheses seems to transcend the capabilities of present-day physicists and mathematicians to an extent that renders a completion of the corresponding theories unlikely for the foreseeable future. (Dawid ebd., S. 1f.) Dawid sieht die Lösung des Problems in der Struktur der Endtheorie (ebd., S. 187f.). Grundsätzlich hofft er darauf, dass trotz der heutigen Vielfalt an Theorien am Ende nur eine Theorie übrig bleiben werde, welche mit allen zugänglichen empirischen Daten kompatibel ist. Selbst wenn sich diese Theorie nicht bis ins letzte Detail empirisch überprüfen lassen werde, liege doch die Vermutung nahe, dass sie wahr sei bzw. die reale Welt abbilden werde: Ontological realism explained the fact that our observations adhere to the prediction of our theory by positing that there existed a level of actual microscopic objects which had precisely the causal implications we observe. The approach of non-empirical theory assessment now explains the same fact by positing that the level of scientific description only allows a small number of [theoretical] structures which are empirically distinguishable. When limitations of undertermination [of theory by evidence, s. weiter unten] transcend the local level and develop into final theory claims, the statement becomes more radical: there is just one possible scientific structure [theory] that is compatible with the available data. That structure then is concluded to provide a true description of the world. (Ebd., S. 188) Dawid bezeichnet seine Auffassung der Beziehung zwischen physikalischer Theorie und Wirklichkeit als Strukturrealismus (engl.: „ structure realism “ [ebd., S. 189]) und unterstreicht, dass „ the reality of structure [der wissenschaftlichen Theorie] emerges from the lack of alternative scientific theories compatible with the data “ (ebd.). 4 b Die Rätsel der Quantenmechanik 443 Diese Idee mag zunächst interessant erscheinen, sie hat aber eine offensichtliche Schwäche: Sie ist kurzsichtig. Selbst wenn sich unter vielen miteinander konkurrierenden Stringtheorien schließlich eine durchsetzt, kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass sie sich 1000 oder 2000 Jahre später als unzulänglich bzw. schlicht falsch erweisen wird. So hat sich z. B. in der Antike von mehreren möglichen Auffassungen der Struktur des Sonnensystems das geozentrische System des Claudius Ptolemäus (um 100 n. Chr. - um 160 n. Chr.) gegen das heliozentrische System von Aristarchos von Samos (um 310 v. Chr - um 230 v. Chr.), das von Seleukos von Seleukia (um 190 v. Chr) weiterentwickelt wurde, durchgesetzt und mit Modifikationen und Anpassungen fast 1400 Jahre die Vorstellungen der Menschen dominiert, um erst von Kopernikus umgestoßen zu werden. Ein Mangel an plausiblen Alternativen muss also überhaupt nicht bedeuten, dass eine Theorie richtig ist, er kann genauso gut einen Mangel an Fantasie und Einfallsreichtum der Theoretiker bedeuten. Ein solcher Mangel kann übrigens auch ein Spiegel der die theoretischen Entscheidungen einschränkenden kulturell geprägten metaphysischen Annahmen sein, die wiederum kein Resultat der wissenschaftlichen Forschung sind, sondern, wie wir am Beispiel des Ptolemäischen Weltbildes gelernt haben, eine ihr vorausgehende, sie mit einer „ unsichtbaren “ , aber dennoch eisernen Hand leitende Kraft darstellen. Wir werden dieses Thema unter im Abschnitt „ Einige theoretische Probleme des empirischen Forschungsparadigmas “ (vgl. insbesondere den Unterabschnitt „ Das Okruhlik-Problem “ ) wieder aufgreifen. Fazit: Quantenmechanik-Physiker, String-Physiker als neue Priester Unabhängig von der künftigen Entwicklung der Quantenmechanik und der Superstringtheorien lässt sich bereits heute eine weitere zutiefst beunruhigende Eigenschaft moderner Wissenschaft ausmachen: Sie entwickelt sich zunehmend zu einer Art neuen Kirche, deren Priester bzw. Eingeweihte über das Leben der „ Laien “ verfügen. Wir haben soeben gesehen, 299 dass die Probleme der Stringtheorien so komplex sind, dass selbst professionelle Mathematiker mit ihnen überfordert sind. Ähnliches lässt sich über komplexere Probleme der Quantenmechanik sagen: Auch dort sind wirklich urteilsfähig nur die besten Spezialisten. Der Laie kann von diesen Problemen und Auseinandersetzungen in einer sehr vereinfachten und von der höheren Mathematik befreiten Weise aus den Medien erfahren. Er bekommt so eine Ahnung, worüber in den Fachkreisen diskutiert wird. Sich ein fundiertes Urteil über diese Kontroverse zu bilden, entzieht sich jedoch seinen Möglichkeiten. Dies ist als eine zutiefst beunruhigende Entwicklung der Wissenschaft. Denn Wissenschaft versprach einst, den Menschen mündig zu machen, ihn nicht nur in der Konfrontation mit den Naturkräften, sondern auch mit 299 Vgl. das obige Zitat aus Dawid 2013, S. 1f. 444 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft den kirchlichen Autoritäten die Macht zu geben, eigene Entscheidungen gestützt auf eigene Urteile zu fällen. Die Wissenschaft hatte mithin eine befreiende, emanzipatorische Funktion und Wirkung. Es galt: Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung können von jedermann zu jeder Zeit überprüft und wiederholt werden. Jetzt scheint sich das Rad zurückzudrehen: Der gewöhnliche Bürger wird erneut zum unvernünftigen Kind, das von den „ erleuchteten “ Hohepriestern der Wissenschaft an die Hand genommen und geleitet werden muss. Der Tempel der Wissenschaft, der bis vor kurzem wie der griechische Tempel allen offen stand, verschwindet hinter immer höheren und bedrohlicheren Mauern. 4 c Einige theoretische Probleme des empirischen Forschungsparadigmas 300 Bis jetzt haben wir uns in diesem Kapitel mit einigen empirischen Rätseln der Gegenwartswissenschaft beschäftigt. Diese stellen jedoch bei weitem nicht alle Schwierigkeiten dar, mit denen das empirische Forschungsparadigma heute konfrontiert ist. Manche der heute anerkannten Schwierigkeiten dieses Paradigmas haben nicht empirischen, sondern theoretischen Charakter. Die Geschichte der Diskussionen um diese Probleme reicht oft noch zurück in die Zeit des logischen Empirismus, ich werde aber im Folgenden nur solche behandeln, die bis heute als ungelöste Probleme des Paradigmas gelten. Dabei werde ich mich auf einige wenige, m. E. zentrale Schwierigkeiten konzentrieren, denn eine erschöpfende Diskussion würde den Rahmen des Kapitels sprengen. Fangen wir mit einer Grundeinsicht an, das heute in Fachkreisen als eine Binsenweisheit gilt, aber m. E. immer noch nicht ausreichend in der Alltagsvorstellung bezüglich des Charakters und der Leistungsfähigkeit der empirischen Forschungsmethoden und somit der empirischen Wissenschaft präsent ist. Eine Theorie kann nie endgültig bewiesen werden Nehmen wir ein klassisches Beispiel der Logikbücher: Wenn es regnet, werden die Straßen nass. Das ist eine sicherlich zutreffende Aussage. Nehmen wir ferner an, dass wir beobachten, dass die Straßen nass sind. 300 Der nachfolgende Abschnitt ist eine Art Extrakt aus den Betrachtungen der theoretischen Schwierigkeiten des empirischen Forschungsparadigmas, die in folgenden Originalquellen zu finden sind: Curd und Cover 1998, Godfrey-Smith 2003, Gorham 2009, Kuipers 2007, Ladyman 2007, McGrew et al. 2009 und Rosenberg 2012. Da meine Darstellung einen synthetischen Charakter hat, ist es oft unmöglich oder unpassend, sich auf alle einbezogenen Quellen mit Seitenangaben zu beziehen. Wenn aber die Quelle einer bestimmten Feststellung in meinem Text eindeutig identifizierbar ist, wird sie selbstverständlich genannt. 4 c Theoretische Probleme 445 Sind wir berechtigt anzunehmen, dass es geregnet hat? Das sind wir nicht, denn die Straßen können auch aus anderen Gründen nass sein (es war neblig, die Straßen wurden mit Wasser begossen usw.). Solche Beispiele kann man selbstverständlich beliebig vermehren. Es ist in der formalen Logik eine recht elementare, wenn auch vielleicht für den „ Mann auf der Straße “ überraschende Tatsache: Aus falschen Prämissen kann man - mit Glück - richtige Schlüsse ziehen. Es ist nämlich eine der elementarsten Regeln der formalen Logik, dass eine (logische) Implikation (bzw. das sog. materielle Konditional) auch dann wahr ist, wenn ihr Antezedens falsch, ihr Konsequens aber wahr ist. Die vollständige Wahrheitstafel der materiellen Implikation sieht folgendermaßen aus: p q p ) q w w w w f f f w w f f w Die Tatsache, dass eine materielle Implikation mit einem falschen Antezedens immer wahr ist, wie auch, dass eine materielle Implikation mit einem wahren Konsequens immer wahr ist, bezeichnet man manchmal als Paradoxa der materiellen Implikation (vgl. Salmon 1983, S. 80). Was bedeutet das für die Hypothesenprüfung? Die heute klassische Methode der Hypothesenbzw. Theorieprüfung besteht darin, dass aufgrund der Hypothese bzw. Theorie gewisse Voraussagen formuliert werden, die empirisch überprüfbar sind. Wenn wir z. B. behaupten, dass ein neues Medikament wirksam bestimmte Arten von Kopfschmerzen lindert, erwarten wir, dass die Kopfschmerzen verschwinden oder zumindest in ihrer Intensität abnehmen, wenn das Medikament einer Person, die unter diesen Kopfschmerzen leidet, verabreicht wird. Wird der erwartete Effekt bei einer ausreichend großen Gruppe von Probanden nachgewiesen, finden wir uns in unserer Hypothese bestätigt, dass das Medikament gegen Kopfschmerzen wirksam ist. Und dennoch gilt nach der oben erwähnten logischen Gesetzmäßigkeit, dass man unabhängig davon, wie viele Male eine Hypothese durch Empirie, durch Experimente oder Beobachtungen bestätigt worden ist, nicht berechtigt ist zu behaupten, dass sie richtig ist (bewiesen worden ist). Die Richtigkeit einer Hypothese aufgrund von erwartungsgemäß ausgefallenen Ergebnissen der Experimente zu behaupten, heißt, einen Fehler zu begehen, den man in der formalen Logik „ the fallacy of affirming the consequent “ oder auf Deutsch „ den Fehlschluss der Bejahung des Konsequens “ nennt (Salmon ebd., S. 57f.). In Carl Hempels Philosophy of Natural Science, einer bereits klassischen Einführung in die Wissenschaftstheorie, heißt es dazu: Thus a favorable outcome of a test, i. e., the fact that a test implication inferred from a hypothesis is found to be true, does not prove the hypothesis to be true. Even if 446 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft many implications of a hypothesis have been borne out by careful tests, the hypothesis may still be false. The following argument still commits the fallacy of affirming the consequent: If H is true, then so are I 1 , I 2 , . . ., I n . (As the evidence shows) I 1 , I 2 , . . ., I n are all true. H is true. (Hempel 1966, S. 8) Das scheint zunächst unsinnig zu sein. Um unser Beispiel mit dem neuen Medikament gegen Kopfschmerzen nochmals aufzugreifen: Wenn (im Idealfall) alle Probanden nach der Einnahme des Medikaments Linderung ihrer Kopfschmerzen erfahren haben, was hätte diese Linderung bewirken können, wenn nicht das fragliche Medikament? ! Und dennoch ist die Logik hier zu Recht unerbittlich. Schließlich kann es nicht ausgeschlossen werden, dass z. B. nicht das Medikament als solches, sondern nur ein bis jetzt unerkanntes Element der verabreichten Substanz für den beobachteten Effekt verantwortlich ist. Es ist z. B. streng genommen nicht gerechtfertigt zu behaupten, dass der Mensch Luft fürs Leben braucht. Sauerstoff ist eigentlich ausreichend, aber dieser wurde erst 1772 entdeckt und bis dahin (und auch noch einige Zeit nachher) meinten die Menschen, dass die Luft für das Atmen notwendig sei. Auf unser Medikament übertragen bedeutet diese Einsicht, dass es nicht auszuschließen ist, dass in ihm nicht das wirksam ist, was wir als wirksam vermuten, sondern etwas anderes, was im Medikament oder zusammen mit dem Medikament den Probanden verabreicht wurde, von dessen Existenz wir jedoch (heute) noch keine Ahnung haben. Die oben genannte recht elementare logische Tatsache hat zur Folge, dass Wissenschaft ihre Aussagen nie (empirisch) beweisen kann. Obwohl dieser Sachverhalt bereits seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts in Fachkreisen bekannt und anerkannt ist, hört man allerdings immer noch die Formulierung „ Wissenschaft hat bewiesen, dass . . . “ . Strenggenommen ist eine solche Aussage unzulässig. Es lässt sich wissenschaftlich nachweisen oder zeigen, dass eine Hypothese bzw. eine Theorie sehr wahrscheinlich ist, aber nie beweisen, dass sie wahr ist. Selbst die am besten bestätigten wissenschaftlichen Theorien wie z. B. die Quantenmechanik können aus der Sicht der Logik nur als wahrscheinlich, nie aber als mit Sicherheit richtig gelten. Diese Einschränkung bezieht sich selbstverständlich auf die empirische Überprüfung der logischen Folgen einer Hypothese oder einer Theorie. Die Situation stellt sich anders dar, wenn man existentielle Aussagen macht, wenn also keine Schlussfolgerungen zum Tragen kommen. Solche Aussagen zu beweisen ist durchaus möglich: Ein einziger Wal genügt, um die doch recht erstaunliche Behauptung zu beweisen, dass Wale existieren (streng genommen: dass ein Wal existiert). 4 c Theoretische Probleme 447 Karl Popper und der Falsifikationismus Diese recht elementare logische Einsicht brachte - wie bereits erwähnt - Karl Popper (1902 - 1994) dazu, eine der Orthodoxie des Wiener Kreises völlig entgegengesetzte Philosophie der Wissenschaft zu entwickeln, den sog. Falsifikationismus. Popper ging von einer anderen elementaren logischen Beobachtung aus, die anhand der obigen Wahrheitstafel der materiellen Implikation sofort ersichtlich ist: Aus einer wahren Prämisse kann man unmöglich eine falsche Schlussfolgerung (logisch) ableiten. Obwohl es also falsch ist, aufgrund der Beobachtung, dass die Straßen nass sind, zu schließen, dass es geregnet hat, es ist zwingend war, dass, wenn es geregnet hat, die Straßen nass sind. Diese logische Gesetzmäßigkeit führte Popper zu der Überzeugung, dass das einzig sichere Vorgehen in der Theorieprüfung nicht darin bestehe, die Theorien zu bestätigen (was eben streng genommen nicht möglich ist), sondern sie zu widerlegen. Denn nach seiner Überzeugung ist schon eine einzige Beobachtung, die mit der Theorie nicht vereinbar ist, ausreichend, um die Theorie zu verwerfen, da man eben aus wahren Prämissen (aus einer wahren Theorie) unmöglich einen falschen Schluss ableiten kann. Popper entwickelte seine Theorie in einer Zeit, die aus der Sicht der Wissenschaftstheorie äußerst interessant war. Einerseits war dies die Zeit einer wachsenden gesellschaftlichen Popularität von Freuds Theorie des Unbewussten, andererseits des wachsenden Einflusses des Marxismus, der 1917, als Popper 15 Jahre alt war, in der Oktober-Revolution und in der Übernahme der Macht durch die Kommunistische Partei in Russland gipfelte (vgl. Gorham 2009, S. 32f.). Gleichzeitig aber war es - wie bereits früher erwähnt - eine Periode grundlegender Erschütterungen in der Physik. Die tiefgreifendste war aus Sicht der Wissenschaftstheorie vielleicht die Formulierung der allgemeinen Relativitätstheorie durch Albert Einstein im Jahr 1916. Denn diese Theorie zeigte, dass die Newton ’ sche Mechanik, welche die Welt fast 200 Jahre lang „ regiert “ hatte und unzählige Male experimentell bestätigt worden war, zwar eine sehr gute Annäherung an die wahren Verhältnisse bei Geschwindigkeiten weit unterhalb der Lichtgeschwindigkeit darstellt, im absoluten Sinne jedoch ungültig ist. Popper war besonders beeindruckt von der experimentellen Bestätigung von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie im Jahre 1919 (Ladyman 2007, S. 358). Es ist heute nicht einfach, sich in das Spannungsfeld dieser Entwicklungen einzudenken und einzufühlen: Auf der einen Seite stehen Theorien wie die von Freud und Marx: Freud, der eine Reihe von Behauptungen aufstellte, insbesondere über die frühkindliche Sexualität, die kaum überprüfbar waren und gar mit gewissen Fakten zu kollidieren schienen, die von seinen engsten Mitarbeitern (z. B. Carl Gustav Jung) bestritten wurden und die dennoch verteidigt werden konnten und eine große Faszination auf die Zeitgenossen ausübten. Und Marx, der eine Theorie der historischen Entwicklung der Gesellschaftsformen 448 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft aufstellte, die sich als Wissenschaft ausgab. Marx ’ Theorie machte gewisse bedeutende Voraussagen, wie z. B., dass sich die proletarische Revolution in Ländern ereignen werde, die über die am weitesten fortgeschrittene Produktionsmittel (Industrie) verfügten. Diese Prognose wurde eindeutig widerlegt, weil eine solche Revolution in Russland stattfand, das sich damals auf einem (im Vergleich mit England oder Deutschland) sehr niedrigen industriellen Entwicklungsstand befand. Dennoch führte dieser krasse Widerspruch zwischen der Theorie und der Wirklichkeit keineswegs zur Diskreditierung der Theorie. Im Gegenteil: Man fand allerlei Gründe, um die Fakten mit der Theorie zu vereinbaren und Letztere zu retten. Diesen beiden Theorien gegenüber stand einerseits die Newton ’ sche Theorie, andererseits die neue spezielle und allgemeine Relativitätstheorie. Jene war über zwei Jahrhunderte erprobt und bewährt, diese machte unglaubliche Behauptungen, die dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen schienen. Eine von diesen „ verrückten “ Behauptungen war, dass sich das Licht in der Nähe großer Massen beugt (krümmt). 301 Sir Arthur Eddington unternahm 1919 eine Expedition, um bei der totalen Sonnenfinsternis vom 29. Mai - der ersten nach der Veröffentlichung von Einsteins Theorie - die Sterne, die sich währenddessen in der Nähe der Sonne befanden, zu beobachten. Die Beobachtungen wurden in Sobral (Ceará) und in S-o Tomé in Brasilien sowie auf der Insel Principe in der Nähe der Westküste Afrikas durchgeführt. Diejenigen, die auf der Insel Principe von Sir Arthur Eddington und seinem Team durchgeführt wurden, bestätigten Einsteins Voraussage. Das Resultat wurde als ein spektakulärer Erfolg der Theorie betrachtet und auf den ersten Seiten von führenden Tageszeitungen veröffentlicht. Es machte die Theorie weltberühmt. Der Kontrast konnte nicht stärker sein: Auf der einen Seite Theorien, die behaupteten, durch alle erdenklichen Phänomene bestätigt zu werden. Auf der anderen Seite eine Theorie, die eine sehr gewagte Voraussage machte, die durchaus widerlegt werden konnte, die sich jedoch zur großen Überraschung vieler Zeitgenossen bestätigte. Die Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft schien klar gezogen werden zu können: Als wissenschaftlich darf nur eine Theorie gelten, die so klar und eindeutig formuliert ist, dass sich aus ihr Voraussagen ableiten lassen, die ebenso klar und eindeutig bestätigt oder widerlegt werden können. Alles andere ist Pseudowissenschaft. Dabei muss aber, so dachte Popper weiter, berücksichtigt werden, dass eine Bestätigung einer Voraussage keineswegs als Beweis der Gültigkeit der Theorie genommen werden kann. Aus oben genannten logischen Gründen 301 Streng genommen wurde dieser Effekt bereits von Henry Cavendish 1784 (in einem nicht veröffentlichten Manuskript) und von Johann Georg von Soldner 1801 (in einem 1804 veröffentlichten Artikel) aufgrund der Newton ’ schen Gravitationstheorie vorausgesagt. Einstein kam jedoch zu der Überzeugung, dass der von Soldner vorausgesagte Effekt nur etwa halb so groß wie der korrekte Wert war (vgl. http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Tests_of_general_relativity). 4 c Theoretische Probleme 449 kann auch eine hundertfache, ja sogar tausendfache Bestätigung der Voraussagen einer Theorie nicht als ein endgültiger Beweis ihrer Wahrheit gelten. Trotz solch zahlreicher Bestätigungen kann sich eine Theorie als falsch erweisen, wie uns die Geschichte der Newton ’ schen Mechanik eindrücklich gelehrt hat: Fast zweihundert Jahre lange feierte sie einen Triumph nach dem anderen, und dennoch wurde sie zuletzt durch die Relativitätstheorie als (im absoluten Sinne) falsch erwiesen. Die Duhem-Quine-These Es ist unmöglich, sich genau in Poppers Gedankengänge zur Zeit der Formulierung seiner Logik der Forschung zu versetzen, aber es scheint möglich, sich vorzustellen, dass in seinen Überlegungen eine Frage untergegangen war: Was wäre gewesen, wenn Eddingtons Expedition keine Bestätigung der allgemeinen Relativitätstheorie gebracht hätte? Wäre diese Theorie tatsächlich verworfen worden, so wie es Popper in seiner Methodologie vorschrieb? Im Rückblick scheint die Antwort auf diese Frage zumindest unklar zu sein. Es liegt sogar nahe zu vermuten, dass dies nicht der Fall gewesen wäre. Vor kurzem erlebten wir vermeintlich eine spektakuläre Widerlegung der Relativitätstheorie, die Weltberühmtheit erlangte. Im September 2011 berichteten Wissenschaftler aus CERN, dass sie Neutrinos gesichtet haben, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit bewegten. Diese Entdeckung, wenn bestätigt, hätte die Grundannahmen der Relativitätstheorie und somit auch die Theorie selbst widerlegt, was uns wiederum vor die Notwendigkeit gestellt hätten, die geltende Physik völlig neu zu überdenken. Nun, die Reaktion auf die vermeintliche Entdeckung war alles andere als der Aufschrei: „ Die Relativitätstheorie ist tot! “ Ganz im Gegenteil. Die Theorie wurde so oft bestätigt und ist so fest etabliert, dass die Fachwelt der vermeintlichen Entdeckung der „ superschnellen “ Neutrinos mit großer Skepsis begegnete. Selbst die Entdecker waren sich ihrer Sache alles andere als sicher. Der Autor des Berichtes über die Entdeckung, Dr. Antonio Ereditato, hat die Stellung der Forscher zu ihren Ergebnissen so beschrieben: „ [W]e are not claiming things, we want just to be helped by the community in understanding our crazy result - because it is crazy “ . 302 Diese Skepsis hat sich als berechtigt erwiesen. Die vermeintlichen Ergebnisse wurden in März 2012 widerrufen. Bei eingehenden Überprüfungen des Messsystems hatte sich herausgestellt, dass höchstwahrscheinlich ein optisches Kabel eine Fehlfunktion aufwies, was zu den falschen Messresultaten geführt hatte. Die Geschichte wirft philosophische Fragen auf: Ist es berechtigt, wie es Popper eigentlich verlangte, nach einer widerlegenden Beobachtung die Theorie, die hinter dieser Beobachtung steht, als widerlegt zu betrachten? Kann es nicht sein, dass sich trotz aller Vorsicht und Präzision, die in der 302 BBC News, 23. 9. 2011. http: / / www.bbc.co.uk/ news/ science-environment-15017484 (heruntergeladen am 20. 3. 12). 450 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Wissenschaft walten, ein negatives Resultat nicht auf die Theorie selbst, sondern auf andere Gründe (z. B. eben eine Fehlfunktion der Messgeräte) zurückführen lässt? So wurden im 19. Jahrhundert die Voraussagen der Newton ’ schen Theorie in Bezug auf die Umlaufbahnen von Jupiter und Saturn mithilfe verbesserter Teleskope widerlegt. Anstatt aber die Theorie zu verwerfen, hat man sich entschlossen, nach möglichen himmlischen „ Störfaktoren “ zu suchen und ist fündig geworden. Durch die Berechnung, wie viel zusätzliche Gravitationskraft nötig wäre und aus welcher Richtung sie kommen müsste, um die Beobachtungen mit der Theorie vereinbaren zu können, wurde am 23. September 1846 der Neptun entdeckt (Rosenberg 2012, S. 204). Die Geschichte geht jedoch eigentlich noch weiter zurück. Denken wir an Kopernikus ’ bahnbrechendes Werk De revolutionibus orbium coelestium aus dem Jahr 1543, in welchem er bekanntlich behauptete, dass sich nicht die Sonne um die Erde, sondern die Erde um die Sonne dreht. Heute betrachten wir diese Theorie als eine Selbstverständlichkeit, ja, sie ist praktisch keine Theorie mehr, sondern ein fester Bestandteil unseres Selbstverständnisses als Menschen im Kosmos. Aber man muss bedenken, dass zur Entstehungszeit vor mehr als 450 Jahren nichts für, sondern alles gegen diese Theorie zu sprechen schien. Die alltägliche Erfahrung der Menschen war selbstverständlich die, dass die Erde fest steht und die Sonne sich um sie herumdreht. Zum einen gibt es ja keine direkte Wahrnehmung, die uns davon überzeugen könnte, dass die Erde sich um die eigene Achse dreht. Im Gegenteil: Sie scheint völlig still zu stehen. Und für die Zeitgenossen war jegliche Bewegung mit deutlichen Wahrnehmungen verbunden: Ob man lief, rannte, auf dem Pferd ritt oder auf dem Wagen fuhr, immer war die Bewegung deutlich erkennbar. Zum zweiten gab es folgende durchaus plausible Überlegung: Wenn sich die Erde um die eigene Achse drehen sollte (mit einer Geschwindigkeit von ca. 1667 Kilometern pro Stunde 303 ), so müsste überall auf der Erde einen sehr starken Wind am Äquator wehen. Einen solchen Wind gibt es aber nicht, also muss die Theorie falsch sein. Mehr noch: Nach Kopernikus bewegt sich die Erde auf einer sehr langen kreisförmigen Umlaufbahn um die Sonne. Nach heutigen Erkenntnissen beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit dieser Bewegung ca. 29.79 km/ s (über 107.000 km/ h) (Moore ebd.). Ich weiß nicht genau, welche Geschwindigkeit der Erde auf ihrer Umlaufbahn Kopernikus errechnete (wenn er überhaupt Berechnungen vornahm), sie dürfte geringer sein als die heute bekannte. Dennoch war die Größenordnung dieser Geschwindigkeit für die damalige Vorstellung schier unglaublich. Es wurden noch weitere Einwände gegen die kopernikanische Theorie gemacht: Aus ihr folge, dass die Venus wie der Mond Phasen aufweisen muss. Denn 303 Die Rotationsperiode der Erde beträgt bekanntermaßen etwa 24 Stunden (um genau zu sein: 23 Stunden 56 Minuten und 4 Sekunden (Moore 2000, S. 98) und ihr Äquatorumfang ist 40.075 km (ebd.). 4 c Theoretische Probleme 451 wie dieser befindet sie sich zwischen Sonne und Erde und damit in einer Dreierkonstellation. Solche Phasen wurden aber nicht beobachtet, also müsse die Theorie falsch sein. Ferner sollten gemäß der Theorie von Kopernikus die „ Fixsterne “ eine Parallaxe aufweisen: Da die Umlaufbahn der Erde um die Sonne einen beträchtlichen Durchmesser hat, sollte sich der Winkel, in dem ein bestimmter Stern zu einer bestimmten Jahreszeit beobachtet wird, nach einem halben Jahr, wenn sich die Erde auf der anderen Seite der Sonne befindet, ändern (Kuhn 1979, S. 163f.). Eine solche Parallaxe wurde jedoch nie beobachtet, die Theorie müsse daher falsch sein. Wie sind diese Einwände aus heutiger Sicht zu bewerten? Das Problem des Windes ist einfach zu lösen: Da sich die Erdatmosphäre mit der Erde dreht, erzeugt die Umdrehung der Erde um die eigene Achse keinen Wind. Es brauchte aber Zeit, um diesen Sachverhalt zu erkennen. Auch das Problem der Venusphasen ließ sich lösen: Es hat sich herausgestellt, dass man diese Phasen zwar nicht mit dem bloßen Auge, sehr wohl aber mit dem Teleskop sehen kann. Nur wurde das Teleskop erst am Anfang des 17. Jahrhunderts erfunden, und so kam es erst zu diesem Zeitpunkt zu einer Bestätigung dieses Aspekts der kopernikanischen Theorie. Die Parallaxe der Sterne schließlich ist so gering, dass man sie erst 1838 mit im Vergleich zu Galileos Zeit deutlich verbesserten Teleskopen beobachten konnte (Kuhn 1979, S. 163). Die Tatsache, dass eine Theorie, welche mit einer Widerlegung, sogar mit mehreren (vermeintlichen) Widerlegungen konfrontiert wird, nicht zwingend aufgegeben werden muss, war zur Zeit, als Popper an seiner Logik der Forschung (Popper 2005) arbeitete, selbstverständlich hinlänglich bekannt. Mehr noch: Bereits 1906 machte der einflussreiche französische Physiker und Wissenschaftstheoretiker Pierre Duhem (1861 - 1916) in seinem Werk Ziel und Struktur der physikalischen Theorien (Duhem 1998) darauf aufmerksam, dass ein Experiment in der Physik niemals eine isolierte Hypothese widerlegen kann, sondern sich immer auf eine ganze Gruppe von Hypothesen bzw. Sätzen bezieht. Denn indem ein Physiker eine Voraussage auf Grund einer Hypothese formuliert, akzeptiert er implizit die Wahrheit bzw. Adäquatheit einer ganzen Gruppe von Theorien und Hilfshypothesen (ebd., S. 243 - 249). 304 Folglich belehrt uns die Tatsache, dass das vorausgesagte Phänomen nicht erscheint, lediglich darüber, dass (mindestens) ein Element in der Deduktionskette, welche zu der Voraussage geführt hat, falsch ist, aber sie sagt nicht, welches Element das ist. Daher meinte Duhem, dass das Experimentum Crucis in der Physik unmöglich sei (Duhem 2009, S. 293f.). Popper meinte dennoch, dass diese Schwierigkeit des Falsifikationismus nicht unüberwindbar sei, wenngleich er am Anfang seines Werkes konzedierte: 304 Zum Beispiel. über die Eigenschaften und Funktionsweise der Instrumente, die er für die Überprüfung der fraglichen Hypothese gebraucht. 452 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Ernster scheint mir ein dritter 305 Einwand zu sein: dass [. . .] ein theoretisches System [. . .] aus verschiedenen Gründen niemals endgültig falsifiziert werden könne. Es sind ja immer gewisse Auswege möglich, um einer Falsifikation zu entgehen, - etwa ad hoc eingeführte Hilfshypothesen oder ad hoc abgeänderte Definitionen; ist es doch sogar logisch widerspruchsfrei durchführbar, sich einfach auf den Standpunkt zu stellen, dass man falsifizierende Erfahrungen grundsätzlich nicht anerkennt. (Popper 2005, S. 16) Popper anerkannte sogar, dass sein Falsifikationismus nicht „ ohne weiteres auf Systeme von Sätzen “ anwendbar sei (Popper ebd., S. 50). Er hoffte aber schließlich doch zeigen zu können, dass eine empirische Methode beschrieben werden könne, welche solche „ faulen Auswege “ ausschließt. 1951 erschien ein Aufsatz, der zu den wichtigsten philosophischen Aufsätzen des 20. Jahrhunderts gezählt wird 306 und der diese Hoffnung zerschlug (Gorham 2009, S. 85f.; Ladyman 2007, S. 337, 361): Quines „ Two Dogmas of Empiricism “ (Quine 1998). In ihm setzte sich Quine - wie bereits angedeutet 307 - kritisch mit einigen zentralen Annahmen des logischen Positivismus auseinander, allen voran damit, dass die Aussagen der natürlichen wie auch der wissenschaftlichen Sprache sauber in analytische und synthetische Wahrheiten gruppiert werden können und die Bedeutung von Sätzen letztendlich von der direkten Erfahrung abgeleitet werden kann und muss. Quine stellte fest, dass es unmöglich sei, die Wahrheit eines isolierten Satzes gestützt auf vermeintlich klar umrissene Sinnesdaten festzulegen: The notion lingers that to each statement, or each synthetic statement, there is associated a unique range of possible sensory events such that the occurence of any of them would add to the likelihood of truth of the statement, and that there is associated also another unique range of possible sensory events whose occurence would detract from that likelihood. (Quine 1998, S. 295) Aus dieser zunächst primär linguistischen Überlegung ergaben sich für Quine äußerst weitreichende Konsequenzen für die Auffassung der Vorgehensweise bei der Verifikation der wissenschaftlichen Aussagen. In Duhem ’ scher Tradition argumentierte Quine, dass wissenschaftliche Behauptungen unmöglich isoliert bestätigt oder widerlegt werden können, dass sie dem „ Tribunal der Erfahrung “ nur kollektiv unterzogen werden können. 305 Der erste: dass es befremdend ist, dass man von der empirischen Wissenschaft, welche uns etwas Positives mitteilen soll, etwas Negatives, und zwar ihre Widerlegbarkeit, postuliert; der zweite: dass man gegen die Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium ähnliche Einwände erheben kann, wie Popper sie gegen das Prinzip der Verifizierbarkeit erhoben hat (Popper 2005, S. 15). 306 „‚ Two Dogmas of Empiricism ‘ is likely the most widely cited single essay in philosophy “ (McGrew et al. 2009, S. 412); „ [It is] sometimes regarded as the most important [paper] of all twentieth-century philosophy “ (Godfrey-Smith 2003, S. 31). 307 Vgl. oben im Kapitel „ Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus “ den Abschnitt „ Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus “ . 4 c Theoretische Probleme 453 Letztendlich sei es nur die Wissenschaft als ganze, die empirisch überprüft werden könne: The dogma of reductionism survives in the supposition that each statement, taken in isolation from its fellows, can admit of confirmation or infirmation at all. My countersuggestion, issuing essentially from Carnap ’ s doctrine of the physical world in the Aufbau, is that our statements about the external world face the tribunal of sense experience not individually but only as a corporate body. [. . .] My present suggestion is that it is nonsense, and the root of much nonsense to speak of a linguistic component and a factual component in the truth of any individual statement. Taken collectively, science has its double dependence upon language and experience, but this duality is not significantly traceable into the statements of science taken one by one. [. . .W]hat I am now urging is that even in taking the statement as unit we have drawn our grid too finely. The unit of empirical significance is the whole of science. (Quine 1998, S. 295f.) Es würden sich heute wenige oder vielleicht gar keine Wissenschaftstheoretiker finden, welche Quines These in ihrer hier zitierten extremen Form ernsthaft unterstützen. Die Idee aber, dass man es in der realen Wissenschaft nie mit der Überprüfung von isolierten Behauptungen zu tun hat, wird heute allgemein akzeptiert. Ein prominenter Wissenschaftstheoretiker schilderte den herrschenden Konsens folgendermaßen: If data supports theory at all it does so in larger units than the single hypothesis. So it was that empiricist philosophers of science were driven to a „ holism “ about justification: the unit of empirical support is the entire theory - both the hypothesis directly under test, every other part of the theory that supports the tested hypothesis, and all the auxiliary hypotheses needed to deliver the test. (Rosenberg 2012, S. 239, Hervorhebung im Original). Nach der Duhem-Quine-These müssen wir uns mit der Vorstellung abfinden, dass wir, wenn wir bestimmte Hypothesen wissenschaftlichen Tests unterziehen, nicht nur diese Hypothesen, sondern gleichzeitig auch unzählige weiteren Behauptungen und Annahmen überprüfen müssen. Wenn unsere empirischen Tests nicht gemäß unseren Erwartungen ausfallen, wissen wir folglich nicht, ob die überprüfte Theorie bzw. Hypothese oder eine/ mehrere dieser zusätzlichen Annahmen falsch sind oder aber beides. Dieser Umstand liefert eine - so könnte man sagen - logische Begründung für den unter Wissenschaftlern weit verbreiteten Unwillen, eine gut bestätigte Theorie gemäß Poppers Falsifikationismus nach einer oder selbst nach mehreren vermeintlichen Widerlegungen zu verwerfen, und somit eine logische Begründung für das von Lakatos entwickelte „ Forschungsprogramm “ des wissenschaftlichen Fortschritts. 308 308 Lakatos postulierte, dass man sich eine wissenschaftliche Theorie als ein Gebilde vorstellen kann, welches aus einem „ harten Kern “ besteht, der durch einen „ Schutzgürtel “ von zahlreichen Hilfshypothesen umgeben ist. Diese Konstruktion erlaubt es, 454 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Im Rahmen von Quines Holismus ist darüber hinaus auch nicht ganz klar, wie die Bestätigung einer theoretischen Voraussage zu interpretieren ist: Werden durch ein solches positives Ergebnis die Kernaussagen der dem empirischen Test unterzogenen Theorie oder bloß die Hilfshypothesen bestätigt oder beides? Zunächst könnte man meinen, dass eine Bestätigung alle in die Aufstellung des Tests eingegangenen Annahmen bestätigt, denn aus logischer Sicht beträgt der Wahrheitswert einer Konjunktion mehrerer Aussagen null, sobald nur eine von ihnen falsch ist. Wir haben aber oben gesehen, dass nach den elementaren Gesetzmäßigkeiten der Logik aus falschen Prämissen richtige Schlüsse gezogen werden können. Auf eine wichtige Folge dieser Tatsache hat 1994 Kathleen Okruhlik hingewiesen (Okruhlik 1998). Das Okruhlik-Problem Es gibt keine wissenschaftliche Theorie, die alles zu erklären imstande ist. Jede Theorie erklärt - selbst in ihrem eingeschränkten Geltungsbereich - , was sie zu erklären beabsichtigt, nur approximativ. Deshalb ist der Fortschritt der Wissenschaft möglich und auch nötig. Eine bessere Nachfolgetheorie soll im Prinzip alles durch die alte Theorie Geleistete und noch mehr leisten (erklären) können. Aber auch eine neue Theorie erklärt nicht alles und nicht mit absoluter Genauigkeit. Sie gewinnt den theoretischen Wettbewerb nicht deshalb, weil sie der Wahrheit letzter Schluss ist, sondern lediglich deshalb, weil sie besser als ihre Konkurrentinnen ist. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass völlig andere Theorien, die bis jetzt nicht einmal in Erwägung gezogen wurden (und folglich selbstverständlich keinen empirischen Tests unterzogen wurden), besser als alle im Wettbewerb stehenden Theorien die Wirklichkeit erklären könnten. Okruhlik hat zumal darauf aufmerksam gemacht, dass gewöhnlich Ableitungen oder Modifizierungen einer bestehenden Theorien getestet werden, die gegeneinander komparativ ausgespielt werden. Es gilt, was besseren „ fit “ mit der Wirklichkeit bietet; wie gut dieser „ fit “ absolut gesehen ist, kann nicht festgestellt werden. Dabei können die Annahmen, die einmal in die Formulierung einer Ursprungstheorie eingegangen sind und von ihren Nachfolgern stillschweigend übernommen wurden, nicht neutralisiert werden, auch wenn diese Annahmen falsch sind (Okruhlik ebd., S. 201). Denn wenn die gleichen falschen Annahmen in allen Theorien vorhanden sind, werden die Voraussagen aller dieser Theorien von der Wirklichkeit abweichen, von einigen nur mehr als von anderen, was die Realität der heutigen Wissenschaft (in welcher keine Theorie alles mit vollkommener Genauigkeit erklärt) widerzuspiegeln scheint. Innerhalb aller Theorien werden jedoch auch aus den falschen den „ harten Kern “ gegen ungünstige empirische Ergebnisse zu verteidigen, indem man nicht den Kern, sondern nur die Hilfshypothesen modifiziert (Lakatos 1974). Es ist heute allgemeine Ansicht, dass Lakatos ’ Modell die Realität des Wissenschaftsbetriebes besser als Poppers Falsifikationismus abbildet. 4 c Theoretische Probleme 455 Annahmen richtige Schlüsse gezogen werden können. Okruhlik stellt fest, dass „ [e]ven granting the transcendence of [scientific] method [. . .] the scientific product could itself be radically culture-bound “ (Okruhlik ebd., S. 204, Hervorhebung im Original). Okruhlik betrachtet als einen dieser kulturellen Faktoren in der Theoriebildung den oben diskutierten Androzentrismus der Wissenschaft ( „ malestream science “ ) 309 . Sie schreibt: Suppose, for the sake of example, that [we are considering] the history of theories about female behavior. These theories may in many respects be quite different from one another; but if they have all been generated by males operating in a deeply sexist culture, then it is likely that all will be contaminated by sexism. Non-sexist rivals will never be generated. Hence the theory which is selected by the canons of scientific appraisal will simply be the best of the sexist rivals; and the very content of science will be sexist, not matter how rigorously we apply objective standards of assessment in the context of justification. In fact, the best of sexist theories will emerge more and more highly confirmed after successive tests. (Okruhlik ebd., S. 201f., Hervorhebung im Original) Eine interessante Illustration dazu liefert Nagl-Docekal: Als in Österreich 1907 bei den Wahlen die Gleichstellung aller erwachsenen Männer eingeführt wurde, wurde sie mit dem Terminus „ allgemeines Wahlrecht “ gekrönt; dagegen wurde das 1918 eingeführte Wahlrecht für Frauen bloß als „ Frauenwahlrecht “ bezeichnet, eine Praxis, die - erstaunlicherweise auch in der Wissenschaft - bis in die 80er Jahre fortdauerte (Nagl-Docekal 2000, S. 126f.). Man kann m. E. Okruhliks Verdacht des Androzentrismus der Wissenschaft auch auf andere allgemein geteilte prätheoretische Annahmen der gegenwärtigen wissenschaftlichen Forschung erweitern. Wird z. B. die materialistische Ideologie von der Mehrheit der Forscher als gültig akzeptiert, so wird sie nicht mehr oder nur sehr schwer aus den formulierten Theorien zu eliminieren sein, weil die ihr widersprechenden Phänomene lange Zeit als „ Anomalien “ eingestuft und ignoriert werden können. Das gegenseitige Ausspielen der individuellen Verzerrungen im sozialen Prozess der Theoriekonstruktion und -prüfung kann wohl zum Erlangen quasi eines Durchschnittswertes dieser Verzerrungen, nie aber zu ihrer vollkommenen Ausschaltung aus den Theorien führen. Oder anders gesagt: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass wir im wissenschaftlichen Alltag in den angeblich rein empirischen Ergebnissen nur das sehen, was uns unsere prätheoretischen (metaphysischen) Annahmen, die oft nicht einmal bewusst formuliert sind, zu sehen erlauben. Diese Feststellung besagt wiederum eigentlich dasselbe wie die Kernbehauptung von Kuhns Theorie der wissenschaftlichen Paradigmen, nach der die Wissenschaftler die Welt je auf eine bestimmte Weise „ sehen “ . 309 Vgl. den Abschnitt „ Feministische Erkenntnistheorie “ . 456 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Das Raben-Paradox Damit sind wir aber noch lange nicht am Ende der Schwierigkeiten der Bestätigung bzw. Widerlegung von Theorien. Betrachten wir einen anderen einfachen Fall: Alle Raben sind schwarz. (Nehmen wir vorläufig an, dass diese Verallgemeinerung stimmt, was, wie sich bald erweisen wird, nicht ganz zutrifft.) Welche Beobachtung würde eine solche Behauptung bestätigen? Die Antwort scheint eindeutig zu sein: die Beobachtung eines schwarzen Rabens. Man muss aber bedenken, dass innerhalb des logischen Positivismus Bestätigung eine logische und keine semantische Relation ist. Wenn dies zutrifft, dann folgt, dass das, was einen Satz, der mit unserem Ursprungssatz logisch äquivalent ist, bestätigt, den Ursprungssatz ebenfalls bestätigt. Welcher Satz ist aber mit dem Satz „ Alle Raben sind schwarz “ logisch äquivalent? Innerhalb der formalen Logik der ersten Stufe lässt sich dieser Satz folgendermaßen darstellen: a ) b (Wenn ein Rabe, dann schwarz). Logisch äquivalent mit diesem Satz ist ein Satz folgender Form: : b ) : a (Wenn nicht schwarz, dann nicht eine Rabe). (Dass die beiden Sätze logisch äquivalent sind, dessen kann man sich leicht anhand der entsprechenden Wahrheitstabelle vergewissern.) Welche Beobachtung würde einen solchen Satz bestätigen? Unter anderem die Beobachtung eines weißen Schuhs oder grünen Blattes. In beiden Fällen gilt, dass, wenn ein Gegenstand nicht schwarz ist, er auch kein Rabe ist. Es folgt daraus, dass die Beobachtung eines weißen Schuhs oder eines grünen Blattes (und Tausende weitere Beobachtungen dieser Art) als Bestätigungen der Behauptung „ Alle Raben sind schwarz “ gelten müssten. Dies scheint unsinnig zu sein. Auf dieses Paradox der Bestätigungslogik hat einer der größten Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Carl Hempel, bereits 1945 aufmerksam gemacht (Hempel 1965). In den bald 70 Jahren seit seiner Entdeckung ist es nicht gelungen, das Paradox aufzulösen. Das „ Tacking “ -Paradox Hempel hat auf ein weiteres Paradox der Bestätigung aufmerksam gemacht (Hempel 1965): Generell geht man davon aus, dass die Bestätigung einer Theorie in der empirischen Bewahrheitung ihrer logischen Konsequenzen besteht. Wir leiten aus der Theorie, die theoretische (also nicht beobachtbare) Terme beinhaltet, empirisch überprüfbare Konsequenzen ab und prüfen, ob sich diese bewahrheiten. Dies scheint selbstverständlich zu sein. Wenn sich aus einem Satz eine Folge logisch ableiten lässt, lässt sie sich allerdings auch aus einer Konjunktion dieses Satzes mit einem beliebigen anderen Satz ableiten. Denn formal-logisch gesehen, bleibt der Wahrheitswert der Implikation erhalten, unabhängig davon, welche weiteren Elemente wir der ursprünglichen Theorie „ anheften “ ( „ to tack “ ). Wenn T ) q, dann auch (T ^ T 1) ) q. Diese logische Wahrheit hat indes inakzeptable Folgen für die Theorie der Bestätigung. Denn es scheint, dass q nicht nur eine Bestätigung 4 c Theoretische Probleme 457 von T bildet, sondern auch von einer anderen Theorie T 1 , für die wir keine Einschränkungen formuliert haben (und formulieren müssen) und die mit der ursprünglichen Theorie möglicherweise nichts zu tun hat. Konkret: Nehmen wir an, unsere ursprüngliche Theorie lautet: „ Alle Raben sind schwarz. “ Nehmen wir ferner an, dass die willkürlich hinzugefügte Theorie T 1 lautet: „ Der Mond besteht aus grünem Käse. “ Aus der Logik der Bestätigung folgt, dass die Beobachtung eines schwarzen Rabens die Theorie, dass der Mond aus grünem Käse besteht, bestätigt. Dies ist aber absurd. Eine solche Theorie der Bestätigung kann unmöglich richtig sein. 310 Das neue Rätsel der Induktion ( „ Grue “ -Paradox) Zehn Jahre nach Hempel hat ein anderer einflussreicher Philosoph der Wissenschaft, Nelson Goodman, auf ein weiteres Paradox der Bestätigung aufmerksam gemacht (Goodman 1983), welches er als „ das neue Rätsel der Induktion “ bezeichnete. Smaragde sind bekanntlich grün. Sie waren immer grün und werden (vermutlich) immer grün sein. Muss es wirklich so sein? Nehmen wir einen Klumpen Erde. Der Klumpen wiegt, sagen wir, 1000 Gramm. Wenn wir ihn nicht berühren und ihm nichts Besonderes zustößt, wird er auch immer 1000 g schwer sein. Nehmen wir aber einen Klumpen radioaktives Cäsium ( 137 Cs). Nach ca. 30 Jahren wird der Klumpen nur noch ca. 500 g schwer sein. Eine seiner Eigenschaften (Gewicht) hat sich spontan mit der Zeit verändert. Das ist für uns Heutige kein Wunder mehr, sondern eine geläufige Wahrheit der Kernphysik. Hier kommt nun Goodmans Rätsel ins Spiel. Stellen wir uns einen Gegenstand vor, der bis zum Jahr 2050 grün ist und nach dem Jahr 2050 blau. Nennen wir diese Eigenschaft „ grue “ (aus englisch „ green “ und „ blue “ ). Alle Untersuchungen, die wir an dem Gegenstand durchgeführt haben (man muss berücksichtigen, dass wir lange vor 2050 leben), haben gezeigt, dass der Gegenstand grün ist. Ist er also grün oder grue? Auf diese Frage können wir keine eindeutige Antwort geben. Denn was auch immer wir über diesen Gegenstand gestern festgestellt haben, heute feststellen und morgen oder übermorgen feststellen können, die Resultate unserer Untersuchungen unterstützen eigentlich beide Behauptungen: dass er grün und dass er grue ist. Erst nach 2050 wird eine eindeutige Antwort möglich sein, aber bis dahin sind die meisten von uns tot. Dies mag als ein völlig künstliches und irrelevantes Problem erscheinen: Wer hat je von Gegenständen gehört, die „ grue “ waren! Aber hinter der künstlichen Oberfläche verbirgt sich ein ernstes und tiefes Problem: Alle unsere Testergebnisse scheinen nicht nur die gerade getestete Theorie zu bestätigen, sondern auch eine andere (vielleicht mehrere andere), von welcher wir vielleicht keine Ahnung haben, die jedoch durchaus denkbar ist. 310 Für einige neuartige Versuche, diese Paradoxien aufzulösen, vgl. Sprenger 2008. 458 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Mehr noch: Es scheint angebracht zu behaupten, dass das „ Grue “ -Problem verallgemeinert werden darf. Es ist unbestritten, dass sich die Dinge verändern: Peter Müller war einmal jung, jetzt ist er alt, der Gletscher war 10 km lang, jetzt ist er auf 5 km zusammengeschrumpft usw. Dass man einem Gegenstand zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Eigenschaften oder Prädikate zuordnen darf und muss, ist überhaupt nicht verwunderlich. Etwas Ähnliches lässt sich aber auch von den Gesetzen des Universums sagen. Eine sehr lange Zeit galt es als ein „ Naturgesetz “ , dass die größten Tiere, die sich auf dem Erdboden bewegten, die Elefanten sind, eine ähnlich lange Zeit galt es als ausgemacht, dass es (nach unseren Erkenntnissen) kein Leben im Universum und keinen Planeten mit den Eigenschaften unserer Erde gibt. Die Liste kann man beliebig verlängern. Wir merken es fast nicht, dass sich Gesetzmäßigkeiten beständig ändern. Manchmal wird vom Naturgesetz geradezu verlangt, dass es überall (im Universum) und zu jeder Zeit gelten soll. Es ist jedoch offensichtlich, dass man beliebig viele allgemeine Aussagen der Form „ Alle A (im Universum) sind x “ formulieren kann, deren Geltungsbereich zeitlich eingeschränkt ist. Wenn man dies konzediert, steht man - im Sinne von Goodmans „ Grue “ -Paradox - vor einem Rätsel: Woher schöpfen wir die Zuversicht, dass die Gesetzmäßigkeiten, welche heute als „ ewig “ gelten, tatsächlich ewig sind? Alle Beobachtungen, die wir gemacht haben, scheinen darauf hinzuweisen, dass sie sich tatsächlich nicht verändern. Aber wir haben diese Beobachtungen in einer im Vergleich mit dem Alter des Universums verschwindend kleinen Zeitspanne von nicht mehr als 500 Jahren, 311 höchstens 2500 Jahren gemacht. Kann man garantieren, dass auch künftige Beobachtungen die Beständigkeit dieser Gesetzmäßigkeit bestätigen werden? Goodmans Paradox weist darauf hin, dass wir keine solche Garantie haben. Wenn wir aber diese für die Zukunft nicht haben können, können wir dann sicher sein, dass die Gesetzmäßigkeiten, die wenigstens als in der Vergangenheit konstant gelten, in der Vergangenheit tatsächlich konstant waren? Es galt eine lange Zeit als wissenschaftlich gesichert, dass die Verteilung der Kontinente immer ungefähr so aussah, wie es heute der Fall ist. Erst 1912 formulierte Alfred Wegener die These, dass die Erdteile früher eine gemeinsame Masse bildeten, und gebrauchte in diesem Zusammenhang den Begriff „ Verschiebung der Kontinente “ (heute eher „ Kontinentalverschiebung “ oder sogar „ Kontinentaldrift “ ). 312 Fast zeitgleich, nämlich 1910, wurde 311 Der amerikanisch-japanischer Wissenschaftler und Tsunami-Experte Harry Yeh von der Universität von Oregon und der Universität Tokio hat treffend bemerkt, dass die immerhin schon 400 Jahre währende Geschichte der Tsunami-Beobachtungen in Japan relativ zur Geschichte der Erde bloß ein „ Wimpernschlag “ bedeutet. 312 Wegener wies später darauf hin, dass eine Reihe von Autoren ähnliche Ideen verfolgte: Franklin Coxworthy (zwischen 1848 und 1890), Roberto Mantovani (zwischen 1889 und 1909), William Henry Pickering (1907) and Frank Bursley Taylor (1908). Er betonte aber, dass er seine Ideen unabhängig entwickelte habe. Später wurden weitere Vorreiter seiner Auffassung identifiziert: Bereits Theodor Christoph Lilienthal (1756), Alexander 4 c Theoretische Probleme 459 vom kroatischen Geophysiker Andrija S. Mohorovi č i ć eine Erdschicht entdeckt, welche die Erdkruste vom Erdmantel trennt. Sie ist zwar kein Fall einer historischen Veränderung einer geltenden Gesetzmäßigkeit, aber sie bildet ein interessantes Beispiel für eine völlig unerwartete Diskontinuität in der früher als gleichmäßig geltenden Struktur. Daraus kann man eine weitere Frage formulieren ableiten: Wie konstant sind eigentlich unsere Naturkonstanten? Welche handfesten Beweise haben wir dafür, dass sie wirklich konstant sind, d. h. immer so waren und immer so sein werden wie heute? Im Lichte von Goodmans Paradox können wir uns dessen keineswegs sicher sein. 313 Unterdeterminiertheit der Theorie durch Daten Alle bisher betrachteten Probleme des gängigen empirischen wissenschaftlichen Paradigmas kann man unter dem Begriff der Unterdeterminiertheit der Theorie durch (empirische) Daten subsumieren. Sie weisen alle darauf hin, dass unabhängig davon, wie streng die Tests sind, denen die von den Wissenschaftlern formulierten Hypothesen und/ oder Theorien unterzogen werden, sie letztendlich nicht lückenlos durch empirische Daten untermauert sind. Ein Hauch des Zweifels an ihrer Wahrheit bleibt. Jemand, der mit der Wissenschaftstheorie und formaler Logik nicht vertraut ist, können die oben geschilderten Probleme zunächst als bloße intellektuelle Spielchen vorkommen, die in der wirklichen Welt nicht ernst zu nehmen seien. Dieser Eindruck täuscht jedoch: Die „ Spielchen “ und ihre Konsequenzen müssen durchaus ernst genommen werden. Nachdem er diese Probleme in dem entsprechenden Kapitels seiner Arbeit behandelte, stellte Alex Rosenberg die heutige Situation folgendermaßen dar: In this chapter we started with what looked like small problems, cute paradoxes, clever philosophical conundrums about white swans and black boots and funny properties that seem to involve changing colors. But these matters ended up making very serious trouble for empiricism. (Rosenberg 2012, S. 215) Die logischen Probleme sind keineswegs bloße Spitzfindigkeiten. Vielmehr veranlassen sie einige Wissenschaftstheoretiker zu der Überzeugung, dass eine rein logische Theorie der Bestätigung von Theorien bzw. Hypothesen ein Ding der Unmöglichkeit sei (Ladyman 2007, S. 357). von Humboldt (1801 und 1845) und Antonio Snider-Pellegrini (1858) wiesen auf das „ Zusammenpassen “ der Formen der Kontinente auf den gegenüberliegenden Seiten des Atlantischen Ozeans hin. Eine solche Ähnlichkeit bemerkte sogar bereits 1596 Abraham Ortelius (vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Kontinentaldrift). 313 Mehr dazu unten im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ , Abschnitt „ Sheldrake: Science Delusion. Freeing the Spirit of Enquiry: Ein Frontalangriff auf das Selbstverständnis der Wissenschaft “ . 460 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Pessimistische Metainduktion Das Problem der Unterdeterminiertheit der Theorie durch Daten kann in der Tat als eine zentrale Schwäche jeglicher empirischen, also induktiven Forschungsmethode erachten werden. Denn es ist mindestens seit Hume bekannt, dass eine solche Methode in ihren Schlussfolgerungen zwingend über die vorhandenen Daten hinausreicht. Wenn wir meinen, dass die Sonne morgen aufgehen wird, stützen wir uns in unserer lebenswichtigen Überzeugung nicht auf irgendwelche logische oder sonstige „ eiserne “ Notwendigkeit, sondern bloß auf unsere Lebensgewohnheit, behauptete er. Und es ist schwierig, ihm zu widersprechen: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass in der Nacht die Sonne verschwinden und morgen nicht mehr aufgehen wird, obschon ein solcher Fall selbstverständlich äußerst unwahrscheinlich ist. Der Schritt hinaus über die vorhandenen empirischen Daten ist aber in der heutigen Wissenschaft unvergleichlich größer als in dieser unserer alltäglichen Induktion. Wenn wir meinen, dass die Sonne grundsätzlich so funktioniere wie die Wasserstoffbombe, dass das Universum im Urknall entstanden sei, dass im Zentrum jeder Galaxie ein riesiges schwarzes Loch vorhanden sei usw., so haben wir für diese Behauptungen bloß indirekte Beweise, und je weiter die Phänomene entfernt sind, desto unsicherer sind die Hinweise und desto schwieriger ist ihre Prüfung. Obwohl immer wieder irgendwelche Anomalien auftauchen - die sehr heiße Sonnenkorona, dunkle Materie, dunkle Energie und dergleichen - , lassen wir uns in unseren Überzeugungen durch solche „ Randprobleme “ gleichwohl nicht stören. Wir haben uns an die heutigen wissenschaftlichen Vorstellungen gewöhnt, sie sind uns zu alltäglichen Selbstverständlichkeiten geworden. Wir akzeptieren sie bereitwillig. Aber diese Vorstellungen sind durch unsere Gewöhnung keineswegs zu logischen oder auch nur zu Naturnotwendigkeiten avanciert. Es ist nützlich, sich an dieser Stelle zu vergegenwärtigen, dass vor lediglich 2500 Jahren für die Griechen die Existenz von Göttern eine ebensolche Selbstverständlichkeit war, und es wäre unsinnig zu meinen, dass die alten Griechen allesamt dumm und kindisch waren. Man kann nicht ausschließen, dass den Menschen, die 2500 Jahre nach uns leben werden, unsere Vorstellungen von der Wasserstoffbomben-Sonne, vom Urknall und von den schwarzen Löchern ebenso mythisch erscheinen werden wie uns die griechischen Götter. Auf diese Möglichkeit hat bereits 1981 ein anderer prominenter Wissenschaftstheoretiker der Gegenwart, Larry Laudan, hingewiesen. In einem berühmt gewordenen Artikel, der ursprünglich in Philosophy of Science veröffentlicht wurde, „ A Confutation of Convergent Realism “ (Laudan 1998), formulierte er ein Argument, das ursprünglich gegen die realistische Interpretation der gängigen Theorien mit ihren Vorstellungen von Elektronen, Quarks, Strings, schwarzen Löchern usw. gerichtet war. Laudan ging von folgender allgemein akzeptierten Annahme aus: Wenn eine Theorie in ihren 4 c Theoretische Probleme 461 Anwendungen erfolgreich ist, „ beweist “ das, dass die zentralen theoretischen Entitäten, auf die sie rekurriert bzw. auf deren Existenz sie aufgebaut ist, real existieren. Laudan konterte dieses Argument mit der Aufzählung vergangener Theorien, die heute diskreditiert sind, die aber zur Zeit ihrer größten Popularität durchaus praktisch erfolgreich waren (z. B. die Theorie des kristallinen Himmels, die Vier-Säfte-Lehre der alten Medizin, die Phlogistontheorie, die Theorie des elektromagnetischen Äthers usw.) 314 . Weil sich die zentralen theoretischen Entitäten dieser Theorien als inexistent erwiesen, schlussfolgerte er, sei es nicht auszuschließen, dass sich auch die zentralen theoretischen Entitäten der heute erfolgreichen Theorien in der Zukunft als inexistent erweisen werden. Erfolg ist nach Laudan also keineswegs ein Garant für Wirklichkeit. Laudans Argument wurde später die „ pessimistische Metainduktion “ genannt (Psillos 1994) und sein Geltungsbereich ausgeweitet: Nicht nur werden sich theoretische Entitäten als inexistent erweisen, auch unsere wissenschaftlichen Theorien werden sich mit der Zeit als falsch herausstellen, so wie es mit den Theorien der Säfte, des Phlogistons, des elektromagnetischen Äthers u. a. geschehen ist. Wie die Gesetze der Physik lügen Zum Schluss möchte ich noch auf ein Problem der gegenwärtigen Naturwissenschaft hinweisen, auf welches eine der meistbeachteten Wissenschaftstheoretikerinnen der Gegenwart, Nancy Cartwright, in ihrem Aufsehen erregenden Buch How the Laws of Physics Lie 1983 aufmerksam machte (Cartwright 1983). Anhand konkreter Beispiele zeigt sie, dass die klaren, strengen, präzisen physikalischen Grundgesetze im besten Fall eine grobe Annäherung an die komplexe und gar nicht so saubere und klare Wirklichkeit sind. Betrachten wir z. B. das berühmte Gravitationsgesetz von Newton. Es besagt, dass F = G m 1 m 2 / r 2 . Aber stimmt das? Aus der Newton ’ schen Formel ist nicht sofort einsichtig, wie man ihre Stimmigkeit prüfen kann. Denn wenn wir einen Gegenstand mit einer bekannten Masse halten und seine Schwere verspüren und uns die Gravitationskonstante bekannt ist, 315 haben wir doch keine Möglichkeit, die Kraft, welche auf den Gegenstand einwirkt, direkt zu messen. Dazu müssen wir das 2. Newton ’ sche Gesetz heranziehen. Dieses besagt, dass die Kraft, die auf einen Gegenstand wirkt, proportional zur Beschleunigung ist: F = ma. Also best-immen wir die Masse des Gegenstandes und lassen ihn von einem hohen Turm herabfallen und messen die Zeit des freien Falls. Da wir den durch den Gegenstand zurückgelegten Weg einfach bestimmen können, können wir auch - scheinbar einfach - die Beschleunigung des Gegenstandes nach der bekannten Formel bestimmen: 314 Für die vollständige Aufzählung vgl. Laudan ebd., S. 1126f. 315 Nach internationaler Konvention wurde ihr Standardwert auf G = 9,80665 m/ s 2 festgelegt. Die Gravitationskonstante G ist übrigens diejenige Fundamentalkonstante der Physik, deren Wert bisher am ungenauesten bestimmt ist. 462 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft a = v 2 - v 1 / t 2 - t 1 (in unserem Beispiel wäre die Anfangsgeschwindigkeit v 1 selbstverständlich 0) errechnen. Es wird sich jedoch schnell zeigen, dass eine solche Berechnung in der Praxis gar nicht einfach durchzuführen ist. Zum einen müssen wir die Zeit des Falls genau messen können. Dies ist heute kein Problem, stellte aber früher eine bedeutende Schwierigkeit dar. Zum anderen müssen wir die Masse des Gegenstandes bestimmen können. Hier ergeben sich größere Probleme. Denn die Masse ist nicht identisch mit dem Gewicht. Auch in der Schwerelosigkeit haben Gegenstände Masse, obschon sie nichts wiegen. Sie wiegen auf der Erdoberfläche genau aus dem Grund etwas, weil (nach dem Newton ’ schen Gesetz) die Gravitationskraft auf sie einwirkt. Wir können also eigentlich ihre Masse überhaupt nicht bestimmen! Wir nehmen an, dass sie ist, was sie ist . . . Aber dies ist nur der Anfang der Schwierigkeiten. Wenn wir genügend präzise Messgeräte zur Verfügung haben, werden wir feststellen, dass die Gravitationskraft an verschiedenen Orten der Erde verschieden ist. Wir wissen heute, dass dieses Phänomen damit zusammenhängt, dass einerseits die Erde keine homogene Kugel ist: Lokale Unterschiede in der Dichte des Untergrunds (Kontinentalplatte oder Ozean) wie auch die Verformung der Erde zu einem Geoid führen zu örtlichen Schwankungen der Gravitationskraft von bis zu ± 0,5 %. Dazu kommt, dass zu der real beobachteten Schwerkraft nicht nur die Gravitationskraft, sondern auch die Zentrifugalkraft beiträgt, die infolge der Erdrotation auf die Gegenstände wirkt und mit der geographischen Breite variiert. Ferner hat die Höhe (über dem Meeresspiegel), auf welcher die Messung vorgenommen wird, Einfluss auf das Resultat. Betrachtet man die Erde vereinfacht als Kugel, nimmt man gewöhnlich an, dass die gesamte Erdmasse im Erdmittelpunkt vorhanden wäre. Da, wie oben erwähnt, nach dem 4. Newton ’ schen Gesetz die Stärke der Gravitationskraft zwischen zwei Gegenständen mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt, nimmt die Gravitationskraft desto stärker ab, je höher man sich über der Meeresfläche befindet. In einem in 10 km Höhe fliegenden Verkehrsflugzeug verringert sich diese Kraft bereits auf etwa 99,7 Prozent des Wertes an der Erdoberfläche, auf einer Höhe von 200 km auf nur noch 94,0 Prozent. Es ist für das Newton ’ sche Gesetz vielleicht ein Glücksfall, dass all diese Anomalien doch verhältnismäßig gering sind und dass sie mit den ihm und seinen Zeitgenossen zur Verfügung stehenden Messgeräten nicht festzustellen waren. Soweit wir sie heute tatsächlich feststellen können, haben wir bereits Theorien bzw. Einsichten entwickelt, die es uns ermöglichen, sie zu verstehen und nicht als Widerlegungen des Gesetzes zu betrachten. Ferner müssen wir auch die Endgeschwindigkeit unseres Objekts bestimmen können. Auch dies ist keine leichte Aufgabe. Strenggenommen ist die Endgeschwindigkeit 0 (der Gegenstand liegt am Boden). Wir wollen also vielmehr wissen, welche Geschwindigkeit er direkt vor dem Aufprall auf die Erde erreichte. Aber wie sollen wir diese messen? Wir wissen doch, dass selbst mit modernsten technischen Mitteln (Lasermessgeräte) ein Objekt sich eine Zeit lang (diese darf kurz, aber nicht 0 sein) mit einer mehr oder weniger 4 c Theoretische Probleme 463 konstanten Geschwindigkeit bewegen muss, damit das Messgerät die Geschwindigkeit bestimmen kann. In unserem Beispiel gehen wir jedoch gerade von der Annahme aus, dass sich der Gegenstand mit sich ständig verändernder (zunehmender) Geschwindigkeit in Richtung Boden bewegt. Also ist es gar keine einfache Sache, die letzte Geschwindigkeit vor dem Aufprall zu messen. Ferner haben wir es nicht nur mit der Masse unseres Gegenstandes, sondern auch mit der Masse der Erde zu tun. Diese können wir aber selbstverständlich nur sehr ungefähr angeben. Schließlich können wir die Erde nicht auf eine Waage legen. Aber wir sind noch keineswegs am Ende des Problems. Wollen wir das Gesetz prüfen, bedienen wir uns zu diesem Zweck gewöhnlich handlicher Gegenstände von mittlerer Größe: eines Steines, einer Metallkugel usw. Niemand würde auf die Idee gekommen, die Stimmigkeit des Gesetzes für sehr große und schwere Objekte (Elefanten, Wale, Panzer) oder sehr kleine und leichte Gegenstände (Feder, Blatt Papier) zu überprüfen. Das Erste wäre äußerst umständlich und auch kostspielig bzw. im Falle von Walen oder Elefanten unethisch, das Zweite ist mit der zusätzlichen Schwierigkeit verbunden, dass das Verhalten leichter Gegenstände im Gravitationsfeld durch den Luftwiderstand stark beeinflusst ist. Man kann diese Schwierigkeit dadurch umgehen, dass man solche Gegenstände in einem durchsichtigen, entleerten Gefäß beobachtet, was aber wiederum die Möglichkeiten des Experimentierens einschränkt (ein A4-Blatt würde noch irgendwie gehen, aber das Verhalten eines größeren Seidenvorhangs zu beobachten, würde komplizierter Einrichtungen bedürfen). Ferner ist theoretisch bekannt, dass die Gravitationskraft nicht nur mit der Höhe über dem Meeresspiegel, sondern auch mit der Tiefe unter der Erdoberfläche abnimmt. Dies aus dem einfachen Grund, dass die anziehende Masse desto kleiner ist, je tiefer man unter der Erdoberfläche ist. Konsequenterweise sollte die Gravitationskraft im Erdmittelpunkt 0 betragen. Ein Gegenstand beliebiger und das heißt beliebig großer Masse würde, wenn er dort dafür den Raum hätte, in der Mitte der Erde frei schweben. Es ist sofort einsichtig, dass sich diese logische Konsequenz der Newton ’ schen Theorie kaum empirisch überprüfen lässt. Aufgrund von solchen Überlegungen und Beobachtungen gelangte Nancy Cartwright zu der Überzeugung, dass die physikalischen Gesetze „ lügen “ (Cartwright 1983). Sie weist darauf hin, dass unsere Modelle der Mechanik der fallenden Gegenstände keine guten Voraussagen darüber ermöglichen, was genau passieren wird, wenn ein ziemlich solides, verhältnismäßig schweres, aber unregelmäßig geformtes Objekt von der Golden Gate Bridge in das Wasser unter ihr fällt. Es ist möglich, dass eine Person von der Brücke springt oder fällt und gerettet wird, so wie es einem Immobilienhändler im Jahre 1988 passiert ist. Es ist aber auch möglich und vielleicht sogar wahrscheinlicher, dass man einen solchen Fall nicht überlebt, wie es demselben Händler im Jahre 2003 geschah. Weder die Modelle der Mechanik noch die Modelle der Biologie können uns über den Ausgang eines solchen Ereignisses 464 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft - selbst für das gleiche Objekt - genau unterrichten, weil keines von ihnen alle relevanten Kräfte berücksichtigt. Die vorliegenden mechanischen oder biologischen Modelle sind daher im besten Fall partiell anwendbar (Bechtel und Hamilton 2007, S. 401). Fazit Was sollen wir aufgrund der obigen Überlegungen vom Stand der heutigen wissenschaftstheoretischen Diskussion in Bezug auf das Problem der empirischen Überprüfung von Theorien halten? Ich glaube, es wird am weisesten sein, wenn ich Rosenberg die Schlussfolgerungen aus den in diesem Abschnitt behandelten Schwierigkeiten überlasse. Er zeigt sich durchaus wohlwollend gegenüber den Anliegen der empirischen Wissenschaft, zieht aber nach einer umfangreichen Betrachtung der Schwierigkeiten des empiristischen Paradigmas 316 eine eher durchwachsene Bilanz unseres heutigen Verständnisses der wissenschaftlichen Methodik: As is evident from a survey of obvious moves in the attempt to restore the fortunes of an empiricist theory of knowledge and metaphysics as well as on empiricist account of language, easy solutions will not avail, and there is still much work to be done by philosophy if we are to understand fully the nature of science. Our project must include the nature of categorization and observation, both philosophically and psychologically. We must clarify the relations between meaning and reference. We need an epistemology adequate to deal with underdetermination or to show that it does not obtain. And the philosophy of science must come more fully to grips with the history of science. These are all tasks for a naturalistic philosophy. (Rosenberg 2012, S. 281) Man muss sich, so meine ich, an dieser Stelle die Frage stellen, ob die Schwierigkeiten und Lücken in unserem Verständnis der Natur der Wissenschaft nicht Implikationen für unsere Einschätzung der Leistungsfähigkeit und den Wahrheitsgehalt der scheinbar so erfolgreichen heutigen wissenschaftlichen Theorien haben. 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas Die im vorigen Abschnitt behandelten theoretischen Probleme des empirischen Wissenschaftsparadigmas wären an sich völlig ausreichend, um ernsthafte Zweifel an der Solidität des scheinbar unzerstörbaren Gebäudes der heutigen Wissenschaft zu wecken. Indessen wird das gegenwärtige empiristisch-reduktionistische (materialistische) Erklärungsparadigma von wei- 316 Unter anderem auch der in früheren Abschnitten meines Buches behandelten Schwierigkeiten, welche sich aus der Betrachtung der Geschichte der Wissenschaft ergeben, sowie der Herausforderungen, vor die die Soziologie der Wissenschaft dieses Paradigma stellt. 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas 465 teren Schwierigkeiten geplagt, welche als schwerwiegender einzustufen sind als die Probleme, die wir bis jetzt behandelt haben, obschon sie selten oder gar nie in der Diskussion um die Wissenschaft erwähnt werden. Einige dieser Probleme erwähnt Rosenberg am Schluss seines Buches: Er meint, man müsse u. a. die Natur der Kategorisierung und der Beobachtung wie auch das Verhältnis zwischen Bedeutung und dem gemeinten Gegenstand klären. Ich möchte mich im Folgenden mit einigen weiteren, von Rosenberg nicht erwähnten tieferen Rätseln auseinandersetzen, welche gewöhnlich zwar nicht als Rätsel der Wissenschaft als solcher betrachtet werden, die m. E. aber ebenfalls den wissenschaftlichen Alltag berühren. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass die nachfolgende Darstellung lediglich den Charakter einer bescheidenen Skizze beanspruchen kann. Eine ausführliche Behandlung würde den Rahmen dieses Kapitels bei weitem sprengen. Das Problem der zu vielen Daten Zunächst aber möchte ist ein Probleme schildern, das nicht als ein theoretisches, sondern als ein eminent praktisches Problem der heutigen Wissenschaft eingestuft werden muss. Es hat wie auch die nachfolgenden Rätsel im gegenwärtigen Diskurs um die Wissenschaft bisher kaum Beachtung gefunden, wird aber mit der Zeit an Bedeutung gewinnen: das Problem der zu vielen Daten. Lange Zeit kämpften die Wissenschaftler mit der wichtigen praktischen Einschränkung ihrer Forschungen: Sie konnten nur mit großen Schwierigkeiten an die empirischen Daten, die ihre Theorien untermauern sollten, kommen. Expeditionen, wie jene von Charles Darwin auf der HMS Beagle, waren teuer, zeitaufwendig und oft schlicht gefährlich. Die Labors der Physikern oder Chemiker waren am Ende des 19. und sogar noch am Anfang des 20. Jahrhundert recht primitiv ausgestattet und lieferten wenig Daten. Marie Sklodowska-Curie musste praktisch von Hand Tonnen von radioaktiven Erzen bearbeiten, um die chemischen Elemente Polonium und Radium isolieren zu können, eine Arbeit, die sie schließlich mit einer Erkrankung an aplastischer Anämie und verfrühtem Tod im Alter von nur 67 bezahlte. Heutige Wissenschaftler arbeiten unter völlig anderen Umständen: Die Labors sind mit modernsten Geräten ausgestattet, die sowohl die Durchführung der Experimente als auch die Datensammlung weitgehend automatisiert haben. Der Fortschritt im Bereich der neuen Technologien ist ebenfalls rasant. Das wohl bekannteste Beispiel dieser Entwicklung ist die Genomsequenzierung. Das Human-Genome-Projekt, das sich als Ziel die Entschlüsselung der menschlichen Genoms stellte, nahm 13 Jahre in Anspruch (1990 - 2003) und kostete 15 Milliarden Dollar. Heute kann man das Genom innerhalb eines Tages (oder sogar weniger) für 1000 Dollar sequenzieren. Die Leichtigkeit, mit welcher die heutigen Wissenschaftler an ihre Daten kommen, hat aber ihre Tücken: Sie haben jetzt oft zu viele Daten zur Verfügung und können sie nicht richtig verarbeiten. Ein 466 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft extremes Beispiel dieses Problems wird vom LHC in CERN (Genf) geliefert. Markus Jos, ein Wissenschaftler am CERN, gab in einer Wissenschaftssendung der Schweizer Radios SRF2 unlängst an, dass der Atlas-Teilchen- Detektor des LHC (25 m hoch, 45 m lang, Gewicht 7000 t) ca. 60 Terabyte Daten pro Sekunde produziert, d. h. 60 Computerfestplatten jede Sekunde, also eigentlich viel zu viel, um alles speichern zu können. 317 Die meisten dieser Daten sind uninteressant, denn bei der Protonenkollisionen entstehen zumeist Teilchen, die den Physikern bereits bekannt sind. Deshalb muss man die Daten filtern, um die uninteressanten möglichst früh zu eliminieren. Aufgrund der gewaltigen Datenmenge muss diese Dateneliminierung automatisch und extrem schnell erfolgen. Der CERN-Physiker Michael Hausschild erklärte in derselben Sendung, dass im Falle des Atlas-Detektors drei Filterstufen vorhanden sind: Die erste muss ihre „ Entscheidungen “ innerhalb weniger Mikrosekunden fällen, also einer Zeit, die selbst für die Computerprogramme zu schnell ist. Diese „ Entscheidungsstufe “ wurde folglich in die Hardware eingebaut. Die zweite Stufe ist langsamer und läuft über Computer. Im CERN befindet sich für diesen Zweck eine „ Computerfarm “ mit mehreren Hundert Computern, die eine Entscheidungszeit von einigen Hundertstel Sekunden haben. Schließlich gibt es noch eine dritte Stufe, die ebenfalls automatisch, d. h. nach Computer-Algorithmen, abläuft und deren Entscheidungszeit sich im Bereich von Sekunden bewegt. Am Ende dieses Prozesses wird die Datenmenge von 60 Terabyte auf nur ein Gigabyte reduziert (von 60.000 Kollisionen bleibt also nur eine übrig) und nur diese Daten werden gespeichert. Um sicherzustellen, dass die Elektronik nicht auch interessante Kollisionen aus der Datenmenge eliminiert, schalten die Wissenschaftler sie ab und zu aus und lassen alle Daten passieren. Bis jetzt wurden keine fehlerhafte Entscheidungen des Systems gefunden, Wie Hausschild bemerkte, würden den Physikern in diesem Fall interessante neue Erkenntnisse, unter Umständen sogar neue Teilchen „ durch die Lappen gehen “ , weil man diese Ereignisse nie aufgezeichnet hat. Und Jos gab unumwunden zu, dass eine solche Möglichkeit durchaus besteht. Wir haben also heute einerseits in gewissen Bereichen der Wissenschaft zu viele Daten, die wir nicht aufarbeiten können, was die Möglichkeit birgt, dass wesentliche Entdeckungen für immer ungemacht bleiben. Auf der anderen Seite aber zeigt sich die Natur als so komplex, dass selbst diese gewaltigen Datenmengen nicht ausreichend sind, um sie restlos zu analysieren. So geben z. B. Chemiker zu, dass die chemischen Reaktionen eigentlich zu schnell ablaufen, um sie in echten Experimenten genau studieren zu können. Prof. Markus Meuwly von der Universität Basel etwa stellte in einem Radiointerview fest, dass sich die Atome während der chemischen Reaktionen viel zu schnell bewegen, um sie beobachten zu können. Folglich sieht man nicht genau, wo sie sich zu welcher Zeit befinden. Aber genau das wäre das 317 http: / / www.srf.ch/ sendungen/ wissenschaftsmagazin 25. 5. 2013. 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas 467 Wichtigste, um die Natur der Reaktionen genau ergründen zu können. Deshalb muss man sich, anstatt Experimente durchzuführen, mit Computersimulationen begnügen. 318 Gehen uns durch ein solches Vorgehen nicht wichtige, vielleicht entscheidende Einsichten verloren? Etwas Ähnliches lässt sich auch über das menschliche Gehirn sagen. Es ist so komplex, dass man kaum hoffen kann, seine Funktionsweise bis ins kleinste Detail zu ergründen. Konrad Kording, ein Neurobiologe von der Northwestern University in Chicago, Illinois, sagt dazu: The human brain produces in 30 seconds as much data as the Hubble Space Telescope has produced in its lifetime. [. . .] There are approximately the same number of neurons as Internet pages, but whereas Internet pages only link to a couple of others in a linear way, each neuron links to thousands of others - and does so in a non-linear way. (Abbott 2013, S. 273f.) Im August 2013 wurde bekannt gegeben, dass eine Gruppe von japanischen und deutschen Forschern den Versuch unternommen hat, die vollständige Aktivität eines Ausschnitts des Gehirns am Computer zu simulieren. Sie haben eine Sekunde der Aktivität von ca. 1 % des Gehirns am viertschnellsten Computer der Welt simuliert. Der Computer brauchte 40 Minuten, um diese Aktivität zu berechnen. Wenn man annimmt, dass die Komplexität der Verarbeitung im Gehirn mit der Zunahme des Gehirnvolumens lediglich linear zunimmt, würde die Simulation einer Sekunde der Aktivität des ganzen Gehirns an diesem Supercomputer also zweieinhalb Tage in Anspruch nehmen. 319 Dasselbe Problem stellt sich im Bereich von Makrophänomenen wie dem Wetter. Anita Vonmont, Wissenschaftsredakteurin des Schweizer Radios SRF, stellte in einer Sendung der Reihe „ Wissenschaftsmagazin “ , welche den Wettervorhersagen gewidmet war, fest: „ Die perfekte Wetterprognose ist ein Traum. Das System Wetter ist zu komplex, als dass es sich je ganz durchschauen ließe. Und um es zumindest fast durchschauen zu können, bräuchte es viel mehr Messgeräte als heute. “ 320 Allgemein lässt sich sagen: . „ Je mehr man weiß, desto komplizierter wird es. Diese Gleichung gehört zum Erfahrungsschatz der heutigen Forschergeneration. “ Dies war das Fazit, das Katharina Bochsler, ebenfalls Wissenschaftsredakteurin des Schweizer Radios SRF, in einer Sendung in der Reihe „ Wissenschaftsmagazin “ , die anlässlich der Verleihung der Wissenschaftsnobelpreise 2013 ausgestrahlt wurde, formulierte. 321 Bochsler illustrierte diese These am Beispiel der Erforschung des zellulären Transportsystems, eines Problems, für dessen 318 http: / / www.srf.ch/ sendungen/ wissenschaftsmagazin 12. 10. 2013 319 http: / / www.riken.jp/ en/ pr/ press/ 2013/ 20130802_1/ (heruntergeladen am 1. 5. 14). 320 http: / / www.srf.ch/ sendungen/ wissenschaftsmagazin (heruntergeladen am 10. 8. 2013). 321 http: / / www.srf.ch/ sendungen/ wissenschaftsmagazin (heruntergeladen am 12. 10. 2013. 468 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Erforschung Randy Scheckman 2013 mit dem Nobelpreis für Physiologie und Medizin ausgezeichnet wurde. Anne Spang, Professorin für Biochemie an der Universität Basel, die früher in den USA mit Scheckman zusammenarbeitete und heute das zelluläre Transportsystem am Basler Biozentrum erforscht, sagte in derselben Sendung: „ Die Generation [der Forscher] vor uns war daran, die Grundmechanismen, den Grundbauplan der Zelle oder des Organismus zu verstehen, und wir müssen jetzt daran arbeiten, die Regulation zu verstehen. Und das wird nicht nur uns, sondern noch die Generation nach uns sicherlich beschäftigen, weil das super komplex ist. “ Das Problem des exponentiellen Zuwachses der wissenschaftlichen Daten lässt sich ebenfalls sehr schön am Beispiel der Erforschung der Synapse illustrieren. Als ich vor vierzig Jahren Psychologie studierte, haben wir gelernt, dass eine Synapse eine Verbindung zwischen zwei Nervenzellen ist, deren Kommunikation durch den Ausstoß von sog. Botenstoffen aus einer Nervenzelle und deren Aufnahme durch die nachfolgende Nervenzelle gewährleistet wird. Die Rede war damals von zwei, drei verschiedenen Botenstoffen, die an diesem Prozess beteiligt sind. Die Sache schien einfach und überschaubar zu sein. Vor kurzem habe ich gelesen, dass die neusten Forschungen, welche unter Verwendung von Elektron- und hochauflösenden Fluoerszenzmikroskopen durchgeführt wurden, ergaben, dass an der Aktivität einer durchschnittlichen Synapse 300.000 Proteine beteiligt sind: Synaptic vesicle recycling has long served as a model for the general mechanisms of cellular trafficking. We used an integrative approach, combining quantitative immunoblotting and mass spectrometry to determine protein numbers; electron microscopy to measure organelle numbers, sizes, and positions; and superresolution fluorescence microscopy to localize the proteins. Using these data, we generated a three-dimensional model of an “ average ” synapse, displaying 300,000 proteins in atomic detail. (Wilhelm et al. 2014, S. 1023) Diese Feststellungen lassen sich verallgemeinern. Nicholas Rescher, einer der führenden Wissenschaftstheoretiker der Gegenwart, erhob in seinem wichtigen Werk The Limits of Science 322 die zunehmende Komplexität der Forschung zu einem allgemeinen Prinzip des wissenschaftlichen Fortschritts. Sie sei unzertrennlich mit dem stetigen Fortschritt der technischen Möglichkeiten verbunden: The methodology of science [. . .] embodies an inherent dialectic that moves steadily from the simpler to the more complex, and the developmental route of technology sails on the same course. We are driven in the direction of ever greater complexity by the principle that the potential of the simple is soon exhausted and that high capacity demands more elaborate and powerful processes and procedures. [. . .] Scientific progress inherently involves an inexorable tendency to complexification in both its cognitive and its ideational dimensions. What we discover in investigating nature always must in some degree reflect the character of our technology 322 Wir werden auf dieses wichtige Werk im nächsten Kapitel ausführlicher eingehen. 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas 469 of observation. It is always something that depends on the mechanisms with which we search. [. . .] It would be naïve - and quite wrong - to think that the course of scientific progress is one of increasing simplicity. The very reverse is the case: scientific progress is a matter of complexification because oversimple theories invariably prove untenable in a complex world. The natural dialectic of scientific inquiry ongoingly impels us into ever deeper levels of sophistication. (Rescher 1999, S. 51f.) Reschers Beobachtung führt selbstverständlich zu der für die Wissenschaft äußerst ernsthaften Frage, ob man erwarten kann, dass die Wissenschaft je abgeschlossen sein wird, dass sie jemals alle Rätsel der Naturwelt wird lösen können. Reschers Antwort auf diese Frage ist eindeutig negativ: Dies wird nie der Fall sein (Rescher ebd., S. 250), unter anderem deshalb nicht, weil die zunehmende Komplexität der erforschten Phänomene immer größere finanzielle Ressourcen verlangt, um sie erforschen zu können (Rescher bezeichnet dieses Phänomen als „ the law of logarithmic [diminishing] returns “ (ebd., S. 56 - 61. Aber auch die Mathematik, die notwendig ist, um die entsprechenden Prozesse zu verstehen, wächst in ihrer Komplexität exponentiell und somit auch die Ausbildungszeit der künftigen Wissenschaftler (ebd., S. 65). Diese Entwicklungen führen gemäß Rescher dazu, dass trotz des exponentiellen Wachstums der uns zugänglichen Information die Zunahme des Wissens sich eigentlich verlangsamt. Ockhams Rasiermesser: Ist dies das richtige methodologische Prinzip? Wenden wir uns jetzt den tieferen theoretischen Rätseln des gegenwärtigen Wissenschaftsparadigmas zu. Ich möchte diese Betrachtung mit einer Reflexion über das in der Wissenschaft so beliebte Prinzip des Ockham ’ schen Rasiermessers einleiten. Eine der zentralsten Annahmen hinter den gängigen wissenschaftlichen Erklärungsstrategien ist die, dass jegliche Erklärung möglichst einfach sein müsse. Das entsprechende methodologische Prinzip wird dem in England geborenen und in München gestorbenen mittelalterlichen Philosophen und Theologen Wilhelm von Ockham (1288 - 1347) zugeschrieben, obschon er selbst es in seinen Schriften nie explizit formulierte. Eine Formulierung des Prinzips, die auf den Philosophen Johannes Clauberg (1622 - 1665) zurückgeht, lautet: „ Entitäten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden. “ Auf wissenschaftliche Theorien übertragen, wird dieses Prinzip gewöhnlich so verstanden, dass es verlange, dass eine Theorie für die Erklärung der Phänomene auf möglichst wenige Entitäten rekurriert. Die Intuition hinter dem Prinzip war, dass die Wirklichkeit wohl aus nur einigen wenigen Bausteinen bestehe, aus welchen sich beliebig komplexe Strukturen der phänomenalen Welt errichten lassen. Diese Annahme wiederum ließe sich auf die Bauchtechnik zurückführen: Die Entdeckung der Römer, dass man fast beliebig komplexe Bauten äußerst effizient aus einheitlichen Ziegeln herstellen kann, legte es nahe, dass sich 470 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft komplexe Strukturen auf einfache Bausteine zurückverfolgen lassen. Die Möglichkeit der Anwendung dieser Einsicht in der Wissenschaft ist bestechend, denn sie verspricht, dass die Welt letztendlich verhältnismäßig einfach verständlich gemacht werden kann. Das Prinzip der ontologischen Parsimonie kann übrigens sehr gut mit dem von Descartes „ entdeckten “ Prinzip der epistemischen Parsimonie kombiniert werden. Wir erinnern uns daran, dass Descartes es zu einem der wichtigsten Prinzipien seiner Denkmethodologie erhob, dass man komplexe Probleme so lange gedanklich zerlegen solle, bis man imstande ist, die auf dem Wege der Zergliederung entstandenen Einheiten vollständig zu überblicken bzw. zu verstehen. Es ist eine unbestrittene Eigenschaft des menschlichen Verstandes, dass er es nicht vermag, komplexe Sachverhalte gewissermaßen mit einem Blick zu durchschauen. Wenn aber die Wirklichkeit tatsächlich aus einigen wenigen verhältnismäßig einfachen Bausteinen in einer kunstvollen Weise zusammengesetzt ist, besteht die begründete Hoffnung, dass wir diese Wirklichkeit restlos verstehen können werden. Allerdings auch nur dann, denn wenn die Grundbausteine des Universums sehr komplex sein sollten, schwindet die Hoffnung auf die Erkennbarkeit der Welt. Folglich kann es nicht verwundern, dass sehr viele Wissenschaftler sehr große Erwartungen mit der Atomtheorie der Materie verbanden. Wie schön wäre es, wenn sich die ganze Wirklichkeit auf nur drei Elemente, Proton, Neutron und Elektron, in immer komplexeren Zusammensetzungen zurückführen ließe! Die „ heilige Dreifaltigkeit “ der Physik entpuppte sich allerdings als ein Traum. Das gegenwärtige Standardmodell der Teilchenphysik kennt sechs Arten von Quarks, sechs Arten von Leptonen und zwölf Arten von Austauschteilchen für die Kraftfelder, plus das Higgs-Boson. Da aber jedes Quark mit einer der drei verschiedenen sog. Farbladungen geladen ist, muss man sie dreifach zählen; man erhält also 18 Quarks. Und weil es ferner für jede Art von Quarks und Leptonen auch entsprechende Antiteilchen gibt, muss man sie doppelt zählen, so dass man auf 36 Quarks und Antiquarks und 24 Leptonen und Antileptonen kommt. Plus zwölf Austauschteilchen und Higgs-Boson ergibt das insgesamt 61 Arten von Elementarteilchen (Ford 2005, S. 253 - 256). Diese Zahl ist wahrlich nicht mehr ganz so einfach zu handhaben. Selbst wenn man unterhalb der „ Elementarteilchen “ (mindestens) eine weitere Ebene der physischen Wirklichkeit ansetzt, nämlich die der „ Strings “ , vereinfacht sich das Bild der Welt kaum. Denn die Strings sind zwar an sich einheitlich, aber die Mathematik, die notwendig ist, um ihr Verhalten zu beschreiben, ist so komplex, dass es „ seems to transcend the capabilities of present-day physicists and mathematicians to an extent that renders a completion of the corresponding theories unlikely for the foreseeable future “ (Dawid 2013, S. 2). Also ist die Hoffnung gering, dass der „ Mann auf der Straße “ diese Ebene der Wirklichkeit je restlos verstehen können wird. Es ist deshalb vielleicht an der Zeit, sich die Frage zu stellen, ob die oberflächlich betrachtet so vielversprechende und so einleuchtende reduktio- 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas 471 nistische Erklärungsstrategie der richtige Weg für das Verständnis der Natur ist. Der berühmte spanische Mediziner und Nobelpreisträger Santiago Ramón y Cajal hat in seinem Nobelvortrag gesagt: „ Unfortunately, nature seems unaware of our intellectual need for convenience and unity, and very often takes delight in complication and diversity. “ 323 Und in der Tat, wenn man z. B. die schönen farbigen Blumen anschaut oder selbst die ganz gewöhnlichen Blätter der ganz gewöhnlichen Bäume, dann hat man den Eindruck, dass man diese Strukturen einfacher gestalten könnte und sie dennoch (vielleicht) ihre Funktion erfüllen würden. Wir sind diesem Problem schon früher begegnet. Ich habe es mit der Frage „ Wieso ist die Natur so schön? “ formuliert. Ist die Natur tatsächlich möglichst einfach, oder strebt sie auch nach Erfüllung anderer Prinzipien? Man kann diese Frage noch vertiefen: Dass man Häuser aus kleinen Ziegeln bauen kann, ist unbestritten - sind aber die Pflanzen, Tiere, Menschen, Sterne usw. tatsächlich auch nach dem entsprechenden Prinzip konstruiert? Oberflächlich betrachtet lautet die Antwort auf diese Frage selbstverständlich „ Ja! “ : Sie bestehen aus Zellen (die wiederum aus noch kleineren Elementen bestehen). Hat man aber je gesehen, wie eine Pflanze oder ein Tier durch allmähliche Anhäufung einzelner Zellen entstanden ist? Man kann jetzt Filme der frühen embryonalen Entwicklung der Zebrafische sehen. Man kann mit eigenen Augen sehen, dass diese Entwicklung keineswegs ein mühsames Bauen verschiedener Zellen Schicht für Schicht ist, sondern eine Art Konzert, in welchem die neu entstandenen Zellen wie durch die Hand eines unsichtbaren Dirigenten von ihren Geburtsorten harmonisch zu den für sie vorgesehenen Orte wandern. Wer ist jedoch der Dirigent dieses Konzerts? Wer hat seine Partitur geschrieben? Macht es nicht viel mehr Sinn, statt vergeblich nach den Steuerungsmechanismen des Konzerts in den Zellen zu suchen (die doch am Anfang alle gleich sind! ), die Suche zu erweitern und nach dem unsichtbaren Dirigenten Ausschau zu halten? Der Physiker und Nobelpreisträger (1998) Robert Betts Laughlin hat vor kurzem geschrieben: Much as I dislike the idea of ages, I think a good case can be made that science has now moved from an Age of Reductionism to an Age of Emergence, a time when the search for ultimate causes of things shifts from the behavior of parts to the behavior of the collective. (Laughlin 2005, S. 208) String theory is, in fact, a textbook case of a Deceitful Turkey, a beautiful set of ideas that will always remain just barely out of reach. Far from a wonderful technological hope for a greater tomorrow, it is instead the tragic consequence of an obsolete belief system - in which emergence plays no role and dark law does not exist. (Ebd., S. 212) We live not at the end of discovery but at the end of Reductionism, a time in which the false ideology of human mastery of all things through microscopics is being swept away by events and reason. This is not to say that microscopic law is wrong 323 http: / / www.nobelprize.org/ nobel_prizes/ medicine/ laureates/ 1906/ cajal-lecture.pdf (heruntergeladen am 2. 5. 2014). 472 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft or has no purpose, but only that it is rendered irrelevant in many circumstances by its children and its children ’ s children, the higher organizational laws of the world. (Ebd., S. 221) Mir scheint, dass der Weg, den Laughlin vorschlägt, ein Schritt in die richtige Richtung ist. Ich bin mir aber nicht sicher, ob dieser Schritt ausreichend ist. Ich habe oben vom „ Dirigenten “ gesprochen, und ein solcher scheint mir wesentlich mehr als „ organizational laws of the world “ zu sein. 324 Seit einer gewissen Zeit - im Kapitel „ Einzug des Materialismus in die Wissenschaft “ werden wir genauer sehen, dass diese Zeit überraschend kurz ist - versucht die Wissenschaft mit allen Mitteln, der Idee des „ Dirigenten “ oder der Dirigentin im Namen von Ockhams Rasiermesser Widerstand zu leisten. Es ist wohl die größte Paradoxie des parsimonistischen Erklärungsparadigmas, dass uns die Flucht vor Gott und seinen Engeln im Namen des Einfachheitsprinzips zur Idee der Multiversen geführt hat, die nicht einige Tausend geistige Wesenheiten, sondern 10 500 Universen braucht, um unser Universum erklärlich zu machen (Hawking und Mlodinov 2010, S. 119). 10 500 Universen werden gebraucht, um die einzigartige Koinzidenz der Naturgesetze und Naturkonstanten, welche in unserem Universum herrscht und das Leben (uns Menschen) möglich macht, erklären zu können (mehr darüber s. unten, Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ , Abschnitt „ John Barrow und Frank Tipler: The Anthropic Cosmological Principle und einige Folgeüberlegungen “ ). Die Überlegung hinter dieser unvorstellbaren Zahl ist einfach: Wir wollen den Gedanken nicht zulassen, dass das Universum von einer „ höheren Macht “ „ geplant “ wurde, die Koinzidenzen der Naturkonstanten und Naturgesetze, die wir in unserem Universum vorfinden, sind jedoch sehr auffällig und müssen erklärt werden. Wenn wir annehmen, dass es unterschiedliche Universen gibt mit je einer zufälligen Kombination von Naturkonstanten und -gesetzen, dann lässt sich die beobachtete Koinzidenz einfach durch Zufall erklären: Unter zahlreichen real existierenden Universen, von welchen die allermeisten kein Leben zulassen, befinden sich einige (vielleicht sogar nur eines), in welchem die für intelligentes Leben notwendige Bedingungen gegeben sind. Das ist (z. B.) unser Universum. Der Umstand, dass wir ausgerechnet dieses Universum erkundschaften, ist innerhalb dieses Szenarios nicht überraschender als der Umstand, dass Fische im Wasser schwimmen und nicht im Sand oder in der Luft. Sie können nirgendwo anders schwimmen, wir Menschen können in keinem anderen als eben in unserem Universum leben und nur dieses Universum erkennen. Wenn man die 324 Es mag hier der Eindruck entstehen, dass ich ein Verfechter der Konzeption des Intelligent Design bin. Dies ist nicht der Fall. Was für ein Bild der Wirklichkeit ich befürworte, wird im Kapitel „ Einige Erkenntnisresultate der Geisteswissenschaft “ deutlich. Dieses Bild ist dezidiert nicht das des ID-Paradigmas, obwohl sich gewisse Ähnlichkeiten zwischen den beiden durchaus ausmachen lassen. 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas 473 Wahrscheinlichkeit der Koinzidenz aller Bedingungen berechnet, welche für die Entwicklung des intelligenten Lebens auf der Erde notwendig sind, kommt man auf die Idee, dass es die angesprochenen 10 500 zufällig zusammengewürfelten Universen braucht, um eines zu erhalten, das genau unserem entspricht. Kann man das Ockham ’ sche Prinzip noch extremer verletzen? Was ist ein Naturgesetz? Woher kommen die Naturgesetze? Eine wesentliche Rolle in dem obigen Gedankengang spielt der Begriff des Naturgesetzes. Wir haben uns mit diesem Begriff so angefreundet, dass er uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, und wir haben völlig vergessen, dass er eigentlich eine verhältnismäßig neue „ Erfindung “ des Menschengeistes ist, denn noch das Mittelalter, geschweige das Altertum, kannte eine solche Idee nicht (Hampe 2007, S. 51 - 63). Was ist aber ein Naturgesetz? Ein guter Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage bietet der entsprechende Artikel in der englischen Wikipedia (die deutsche Wikipedia enthält keinen Beitrag zu diesem Thema). Dieser stellt fest, die physikalischen Gesetze (physical laws) seien l True, at least within their regime of validity. By definition, there have never been repeatable contradicting observations. l Universal. They appear to apply everywhere in the universe. [. . .] l Simple. They are typically expressed in terms of a single mathematical equation. [. . .] l Absolute. Nothing in the universe appears to affect them. [. . .] l Stable. Unchanged since first discovered (although they may have been shown to be approximations of more accurate laws [. . .] l Omnipotent. Everything in the universe apparently must comply with them (according to observations). [. . .] l Generally conservative of quantity. [. . .] l Often expressions ’ of existing homogeneities (symmetries) of space and time. [. . .] l Typically theoretically reversible in time (if non-quantum), although time itself is irreversible. [. . .] Betrachtet man diese Aufzählung, so fällt auf, dass sie eine Antwort auf die Frage gibt, welche Eigenschaften die Naturgesetze haben, nicht aber, was sie eigentlich sind. Schauen wir uns ein paar konkrete Beispiele an. Hier ist das erste Newton ’ sche Gesetz in der deutschen Übersetzung: „ Ein Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung, sofern er nicht durch einwirkende Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird. “ Und hier der erste Hauptsatz der Thermodynamik: „ Die Änderung der inneren Energie eines geschlossenen Systems ist gleich der Summe der Änderung der Wärme und der Änderung der Arbeit. “ Betrachtet man diese Aussage (und man könnte selbstverständlich noch unzählige weitere Bei- 474 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft spiele hinzufügen), so zeigt sich, dass Naturgesetze Verallgemeinerungen unserer Erfahrung sind. Deshalb fügt Rosenberg einen weiteren wichtigen Punkt zu ihrer Charakterisierung hinzu: Naturgesetze sind kontingente Behauptungen über die Natur (Rosenberg ebd., S. 62). Damit ist der Umstand gemeint, dass Naturgesetze nicht die Notwendigkeit der Gesetze der Mathematik, Geometrie oder Logik haben, sondern durchaus auch anderes sein könnten. Man könnte sich z. B. ganz gut vorstellen, dass die Stärke der Anziehungskraft nicht mit der zweiten, sondern mit der dritten Potenz der Entfernung abnehmen würde (Rosenberg ebd., S. 63). Wenn die Naturgesetze aber bloß kontingent sind, dann stellt sich die Frage, woher wir eigentlich wissen, dass sie universal gelten und unveränderbar sind. So schrieb z. B. Henning Genz (1938 - 2006, bis zu seiner Pensionierung in 2003 Professor für Theoretische Physik an der Universität Karlsruhe), dass es durchaus möglich sei, dass die uns als notwendig erscheinenden Naturgesetze in Tat und Wahrheit weder allgemein noch notwendig seien: Gesetze für Erscheinungen, die wir beobachten, [erscheinen] uns möglicherweise nur deshalb als unabdingbar, absolut und allgemeingültig - eben als wahre Naturgesetze - [. . .], weil wir um unsere spezielle Stellung im Universum, auf der diese Gesetze auch beruhen, nicht wissen, die Abhängigkeit uns also unbekannt ist. Könnte es da nicht sein, dass zumindest einige unserer geheiligten Naturgesetze, die mit einer Aura der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit zu umgeben wir geneigt sind, tatsächlich weder allgemeingültig noch notwendig sind, sondern von den speziellen, in unserem Teil des Universums zu unserer Zeit zufällig verwirklichen Umständen abhängen? (Genz 2002, S. 247f., Hervorhebungen im Original) Bereits David Hume behauptete bekanntlich, dass das sog. Kausalgesetz nichts weiter als unsere mentale Gewohnheit ist: „ power and necessity [. . .] are [. . .] qualities of perceptions, not of objects [. . .] felt by the soul and not perceived externally in bodies “ (Hume 1978, S. 168). Die Theorie der Multiversen geht in der Tat davon aus, dass es unzählige Universen mit jeweils ganz unterschiedlichen Naturgesetzen gibt. Selbst wenn man jedoch bei einem Universum, und zwar dem unsrigen, bleiben wollte, also dem Universum, das nach gängiger Vorstellung samt den zu ihm gehörigen Naturgesetzen durch den Urknall entstanden ist, muss man sich die Frage stellen, warum es überhaupt Naturgesetze gibt. Oder anders ausgedrückt: Warum gibt es Ordnung und nicht bloß Chaos im Universum? Schließlich heißt es in der biblischen Schilderung des Anfangs der Welt, dass die Erde ursprünglich „ wüst und leer “ (tohu wa bohu, 1 Mose 1,2) war, und auch Hesiod geht in seiner Theogonie von einem ursprünglichen Chaos aus. Ähnliche Motive finden sich auch in Schöpfungsmythen anderer Kulturen (z. B. im babylonischen Schöpfungsmythos Enûma Eli š oder im koreanischen Schöpfungsmythos Cheonjiwang Bonpuli). Eine triviale Antwort auf diese Frage würde lauten: „ Gäbe es nur Chaos im Universum, gäbe es auch nicht uns, um diese 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas 475 dumme Frage zu stellen. “ Und eine tiefere Begründung ist innerhalb des gegenwärtigen wissenschaftlichen Paradigmas einfach nicht vorhanden. Warum bilden wir abstrakte Gedanken? Warum entsprechen unsere Gedanken der Realität? Neben der Frage nach dem Ursprung der Naturgesetze gibt es ein weiteres grundsätzliches Rätsel, das innerhalb des gegenwärtigen Paradigmas kaum Beachtung findet: Wir stellen mit einer tiefen Befriedigung fest, dass wir die Naturgesetze entdecken können. Wir können sie auch erfolgreich in unseren technischen Erzeugnissen verwenden. Aber warum entsprechen unsere Gedanken eigentlich der Realität „ da draußen “ ? Dies ist bei weitem keine triviale Frage. Schließlich sind alle heute existierenden Tiere äußerst erfolgreich in ihren verschiedenen Lebensweisen, sie brauchen dafür aber weder Theorie noch Technik. Man kann sich ohne weiteres eine Menschheit vorstellen, die auch ohne wissenschaftliche Theorien zumindest so erfolgreich ist, dass sie überlebt. So stellen wir uns in der Tat die Existenz unserer menschlichen Vorfahren vor. Wir gehen davon aus, dass selbst noch die Neandertaler (Homo neanderthalensis) keine wissenschaftlichen Theorien entwickelten. Es ist auch nicht leicht, sich Umweltbelastungen auszudenken, die zur Entwicklung der Fähigkeit zu abstraktem Denken führen mussten. Auch die heute lebenden Urvölker scheinen ohne diese Fähigkeit bestens auszukommen, was beweist, dass auch ein Mensch ohne wissenschaftliche Theorien im „ Kampf ums Überleben “ bestehen kann. Wenn man ferner die Anfänge des abstrakten Denkens im alten Griechenland betrachtet, so stellt man fest, dass es kaum irgendwelche Überlebensvorteile brachte. Die ersten Philosophen konnten ihre Gedanken keineswegs für die Entwicklung irgendwelcher nützlichen Technologien verwenden und waren aus der Sicht der Allgemeinheit vielleicht sogar eher nutzlose, manchmal sogar, wie im Falle von Sokrates, gefährliche Mitbürger, die ihre Zeit mit Spinnereien vergeudeten. Und dennoch, sie überlebten, und die Leidenschaft für das abstrakte Denken überlebte auch, obschon sie erst in der jüngsten Zeit wirklich greifbare praktische Früchte trägt. Die Überlebensfähigkeit dieser scheinbar nutzlosen Eigenschaft ist somit aus Sicht der Evolutionstheorie rätselhaft. Zu diesem Rätsel gesellt sich ein weiteres, das erst in jüngster Zeit akut wurde. Solange verschiedene Philosophen verschiedene Philosophien entwickeln, die meistens wenig Bezug zum praktischen Leben hatten und sich gegenseitig widersprachen, ist es den Menschen nicht aufgefallen, dass unsere abstrakten Gedanken mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder zumindest übereinstimmen können. Selbst die grundlegenden mathematischen oder physikalischen Entdeckungen, wie z. B. die Entdeckung der Infinitesimalrechnung oder der Gesetze der Bewegung, konnten in ihrer Tragweite zunächst nicht ganz gewürdigt werden. Erst mit der Zeit, als sich 476 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft die Bestätigungen der Newton ’ schen Theorie häuften, und insbesondere als wir festgestellt haben, dass man aufgrund dieser Einsichten nicht nur die Bewegungen der Himmelskörper, sondern auch die Bahnen der Raumschiffe genau berechnen kann, versetzte uns die Übereinstimmung der menschlichen Gedanken mit der Wirklichkeit in Erstaunen. Denn sie ist überhaupt nicht selbstverständlich. Man könnte sich durchaus vorstellen, dass diese Übereinstimmung nicht besteht. Wir würden dann nicht auf dem Mond oder Mars landen, aber auch ohne diese Errungenschaften sehr gut überleben können. Wenn man streng im Sinne der Darwin ’ schen Evolutionstheorie denkt, kommt man zu dem Schluss, dass eine solche Übereinstimmung eigentlich äußerst unwahrscheinlich ist. Vor kurzem hat David Bentley Hart auf dieses Paradox des Materialismus (bzw. Naturalismus) und der Evolutionstheorie hingewiesen: If [. . .] naturalism is correct (however implausible that is), and if consciousness is then an essentially material phenomenon, then there is no reason to believe that our minds, having evolved purely through natural selection, could possibly be capable of knowing what is or is not true about reality as a whole. Our brains may necessarily have equipped us to recognize certain sorts of physical objects around us and enabled us to react to them; but, beyond that, we can assume only that nature will have selected just those behaviors in us most conductive to our survival, along with whatever structures of thought and belief might be essentially or accidentally associated with them, and there is no reason to suppose that such structures - even those that provide us with our notions of what constitutes a sound rational argument - have access to any abstract „ truth “ about the totality of things. (Hart 2013, S. 17f.) Ein Weg, auf welchem die Übereinstimmung der menschlichen Gedanken mit der Wirklichkeit erklärt werden könnte, würde über die Annahme führen, dass sich im Laufe der Evolution nur solche Gehirnstrukturen durchsetzten, welche neben den auf das praktische Überleben ausgerichteten (korrekten) Gedanken auch abstrakte Gedanken produzieren, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Die Entstehung einer solchen Fähigkeit käme zwar unter evolutionsbiologischem Gesichtspunkt fast einem Wunder gleich (denn sie ist über sehr lange Zeit nutzlos), sie ist aber vielleicht auch kein größeres Wunder als die Entstehung des Lebens überhaupt. Die Rückführung der wirklichkeitstreuen Gedanken auf bestimmte im Laufe der Evolution entstandene Gehirnstrukturen führt aber zu ernsten Schwierigkeiten: Sie scheint die Möglichkeit des rationalen Diskurses, ja der Rationalität selbst unmöglich zu machen. Bereits 1966 machte Karl Popper auf dieses Problem aufmerksam: [A]ccording to determinism, any theories - such as, say, determinism - are held because of a certain physical structure of the holder (perhaps of his brain). Accordingly, we are deceiving ourselves (and are physically so determined as to deceive ourselves) whenever we believe that there are such things as arguments or reasons which make us accept determinism. Or in other words, physical determinism is a theory which, if it is true, is not arguable, since it must explain 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas 477 all our reactions, including what appear to us as beliefs based on arguments, as due to purely physical conditions. Purely physical conditions, including our physical environment, make us say or accept whatever we say or accept. [. . .] (Popper 1966, S. 11) 1998 wies der bedeutende deutsche Philosoph Franz von Kutschera, der bis zu seiner Emeritierung im selben Jahr Professor für Philosophie an der Universität Regensburg war, darauf hin, dass die Behauptungen der Deterministen kognitiv betrachtet nicht relevanter seien als ein Husten, denn gemäß ihren eigenen Überzeugung haben „ [i]hre Behauptungen [. . .] keine Gründe, sondern nur Ursachen “ (Kutschera 1998, S. 210). Von Kutschera betonte, dass jegliches Urteilen und Erkennen Freiheit voraussetze: „ Wenn meine Meinung durch die Umstände determiniert ist, kann ich mir eben nicht selbst eine Meinung, ein Urteil bilden, denn dazu muss ich mehrere Möglichkeiten haben, die ich gegeneinander abwägen kann, Urteilen und Erkennen setzen also Freiheit voraus “ (ebd., S. 208). Die Notwendigkeit der Freiheit als Vorbedingung jeglicher Vernunft wird auch von John McDowell (McDowell 1998, S. XXIII, 8, 13, 14, 18, 66) und Tyler Burge (Burge 1998, S. 249 - 253) ausdrücklich unterstrichen. Die heute in der Wissenschaft dominierende Position, die man als „ neuronalen Determinismus “ bezeichnen kann, führt zu der unhaltbaren Folge, dass unterschiedliche Meinungen in Bezug auf die Beurteilung einer bestimmten Sachlage aus Unterschieden in der Funktionsweise der Gehirne resultieren müssten (vorausgesetzt selbstverständlich, dass die Faktenlage für die beteiligten Personen gleich ist). Folglich können solche Meinungsverschiedenheiten nicht durch rationale Argumente, sondern nur mittels operativer Eingriff in ihre Gehirne beseitigt werden. Der neuronale Determinismus führt also zur Ersetzung des rationalen Diskurses durch Gehirnchirurgie. Dies ist offensichtlich inakzeptabel. Die Übereinstimmung unserer Gedanken mit der Wirklichkeit bleibt somit ein Rätsel. Was ist Wissen? Ein weiteres tiefes Problem des gegenwärtigen Erklärungsparadigmas ergibt sich aus der scheinbar einfachen Frage: Was ist Wissen? Es wird gewöhnlich angenommen, dass Wissenschaft diejenige Praxis ist, welche, wie bereits der Name besagt, Wissen bzw. enger verstanden wissenschaftliches Wissen produziert (Blasche 2004, S. 719). Zentral in dieser Definition ist selbstverständlich der Begriff des Wissens. Dieses wird wiederum, im Gegensatz zum bloßen Meinen oder Glauben, als „ die auf Begründungen bezogene und strengen Überprüfungen unterliegende Kenntnis “ definiert (ebd., S. 717), weshalb Kambartel in seinem Artikel über Wissenschaft in der von Jürgen Mittelstrass herausgegebenen Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 478 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft darauf hinweist, dass diese Form der Wissensgewinnung „ auf eine spezielle, meist berufsmäßig ausgeübte Begründungspraxis angewiesen ist “ (Kambartel 2004, S. 719). Bis vor einigen Jahrzehnten betrachtete man Wissen deshalb kurz und knapp als eine „ wahre und gerechtfertigte Überzeugung “ (engl.: „ justified true belief “ ), ein Verständnis, das auf Platos Theaitetos zurückgeht (wobei Sokrates diese Definition in dem genannten Dialog eigentlich unbefriedigend findet). Eine Überzeugung kann nicht als Wissen bezeichnet werden, wenn sie falsch ist (das scheint unbestritten: eine falsche Überzeugung ist kein Wissen, sondern bloß eine irrige Meinung). Sie ist aber auch kein Wissen, wenn sie nicht begründet ist. Wenn ich im Lotto sechs richtige Zahlen tippe, kann ich nicht behaupten, dass ich wusste, dass es die richtigen waren. Ich habe einfach Glück gehabt. Auf ein tiefgründiges Problem dieses Wissensbegriffs hat bereits am Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts der amerikanische Philosoph, Edmund L. Gettier aufmerksam gemacht. In einem aufsehenerregenden Aufsatz (Gettier 1963) hat er konkrete Beispiele für Situationen gegeben, die die obigen Bedingungen des Wissens erfüllen, in denen aber die begründeten wahren Überzeugungen intuitiv nicht als Wissen bezeichnet würden. Hier sein erstes Beispiel: Smith und Jones haben sich für eine Arbeitsstelle beworben. Smith hat starke Gründe, das Folgende zu glauben: (a) Jones ist derjenige, der den Arbeitsplatz bekommen wird, und Jones hat zehn Münzen in seiner Tasche. Smiths Gründe für (a) bestehen darin, dass der Chef ihm versichert hat, dass er am Ende Jones auswählen würde und dass er, Smith, die Münzen in Jones ’ Tasche vor zehn Minuten gezählt hat. Aus (a) zieht Smith den folgenden Schluss: (b) Derjenige, der den Job bekommt, hat zehn Münzen in der Tasche. In diesem Fall ist Smith also berechtigt, (b) zu glauben. Nun ist es jedoch so, dass - ohne dass Smith dies weiß - er, Smith, den Job bekommt, und er, Smith, ebenfalls - ohne dass er dies weiß - zehn Münzen in der Tasche hat. (b) ist daher wahr, obwohl (a), woraus Smith (b) gefolgert hat, falsch ist. In diesem Beispiel gilt also: (i) Smith glaubt, dass (b), (ii) (b) ist wahr, (iii) Smith ist berechtigt zu glauben, dass (b). Aber es ist auch klar, dass Smith nicht weiß, dass (b) wahr ist. Denn Smith gründet seine Meinung, dass (b), auf das Nachzählen der Münzen in Jones ’ Tasche und auf die falsche Annahme, dass Jones den Job bekommen würde. Man könnte sagen, Smith hat seine wahre Überzeugung nur zufälligerweise (weil er zufälligerweise, ohne es zu wissen, zehn Münzen in der Tasche hat. 325 Beispiele derartiger Situationen kann man fast beliebig vermehren. Seit der Publikation von Gettiers Artikel wurden verschiedene Versuche unternommen, das Paradox aufzulösen, die aber allesamt keine einhellige Zustimmung gefunden haben. 325 Die deutsche Fassung folgt http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Gettier-Problem (heruntergeladen am 15. 10. 2013). 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas 479 Problem des unendlichen Regresses der Begründung Eine altbekannte Schwierigkeit der Bestimmung des Wissens als begründete wahre Meinung ist das sog. Problem des unendlichen Regresses, auf welches bereits Sextus Empiricus (160 - 210 n. Chr.) hingewiesen haben soll: Wenn eine Behauptung, die als Wissen gelten soll, begründet sein muss, so muss sie durch andere Behauptungen geschehen. Diese dürfen aber nicht bloß Meinungen sein, sondern müssen ihrerseits als Wissen gelten, also wiederum durch weitere Behauptungen begründet werden und so weiter ins Unendliche. Man kann versuchen, diesen Regress zu stoppen, indem man postuliert, dass die finalen begründenden Behauptungen so etwas wie die Basissätze des logischen Empirismus sind, also bloße Beobachtungen, die nicht weiter bezweifelt werden können (der Art: „ Ich sehe einen Computer vor mir “ ), Sätze also, welche die Funktion der Axiome der Geometrie haben würden. Wir haben aber bereits gesehen, dass sich die Trennung zwischen (angeblich) reiner Beobachtung und der gedanklichen Verarbeitung des Wahrgenommenen nicht sauber durchführen lässt. Das Problem bleibt also bestehen. Mehr noch: Die Hoffnung, gewisse Aussagen auf unbezweifelbare Wahrnehmungssätze stützen zu können, lässt sich lediglich im Falle von empirischen Aussagen einigermaßen aufrechterhalten. Wie verhält sich die Sache aber bei abstrakten Feststellungen der Art „ Wissen ist begründete wahre Meinung “ ? Ist diese Feststellung unser Wissen oder nicht? Wenn sie als Wissen zählen soll, dann muss sie (vermutlich) durch etwas begründet sein. Aber durch was? Und ist diese Feststellung überhaupt wahr? Und wenn ja, wie können wir wissen, dass sie wahr ist? Wir wissen also eigentlich bis heute nicht so genau, was Wissen ist, und folglich nicht, ob das, was wir zu wissen meinen, eigentlich Wissen ist, und mithin wissen wir auch nicht, ob wir überhaupt etwas wissen. 326 Was ist Bedeutung? Betrachten wir die Feststellung, die gleichsam das Fazit des vorigen Abschnitts bildet, ein wenig genauer: „ Wir wissen nicht, ob wir überhaupt etwas wissen. “ Ich bin überzeugt, dass sich unter den Lesern dieses Buches einige finden werden, welche mit dieser Feststellung einverstanden sind. Es wird aber sicher auch viele geben, die sich mit ihr nicht anfreunden können. Beide Gruppen von Lesern werden jedoch zugeben (so hoffe ich zumindest), dass die Feststellung etwas bedeutet. Was ist aber die Bedeutung einer Aussage? Was ist die Bedeutung eines Wortes, eines Begriffs? Zunächst mag die Frage trivial erscheinen. Jeder weiß doch, was das Wort „ Hund “ 326 Vgl. auch: Stanford Encyclopedia of Philosophy The Analysis of Knowledge (http: / / plato.stanford.edu/ entries/ knowledge-analysis/ ). 480 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft oder das Wort „ Tisch “ bedeutet. Man kann zwar vielleicht nicht ohne weiteres die Bedeutung dieser Worte genau definieren, man kann jedoch sicherlich unproblematisch einen Hund von einer Katze oder einen Tisch von einem Stuhl unterscheiden. Wenn ich einen Tisch sehe, dann weiß ich, dass dies eben ein Tisch und kein Stuhl ist. Das kann bereits ein kleines Kind tun. Und Begriffe wie „ Dreieck “ , „ Wahrheit “ , oder „ Wissen “ mögen zwar abstrakter und schwieriger zu definieren sein, aber auch hier kennt man ganz genau den Unterschied zwischen einem Dreieck und einem Viereck und (obschon nicht mehr so ganz genau, s. o.) zwischen Wissen und bloßem Meinen. Bei genauerem Hinschauen erweist sich dieses Alltagswissen jedoch als trügerisch. Betrachten wir zunächst zwei Hunde, z. B. einen Terrier und einen Dackel. Wir haben keine Schwierigkeit festzustellen, dass beide Tiere eben Hunde und nicht Katzen oder Hühner sind. Sie sind aber nicht identisch, tatsächlich unterscheiden sie sich wesentlich voneinander. Was berechtigt uns also zu behaupten, dass diese beiden ungleichen Objekte unter einen Begriff fallen? Die Antwort auf diese Frage entpuppt sich schnell als viel schwieriger, als man zunächst meint, denn es ist nicht so einfach anzugeben, worin sich ein Hund auf der einen Seite von einer Katze und insbesondere einer Großkatze und auf der anderen Seite von einem Wolf genau unterscheidet. Betrachten wir ferner einen Tisch aus Holz: Er hat vier Beine und eine Arbeitsfläche. Sägen wir eines der vier Beine ab. Haben wir immer noch einen Tisch? Die allermeisten werden wahrscheinlich sagen: Selbstverständlich! Sägen wir zwei seiner Beine ab. Haben wir immer noch einen Tisch? Jetzt sind viele vielleicht verunsichert und sagen deshalb „ Jein “ . Sägen wir drei Beine ab und verbrennen ein Teil der Arbeitsfläche. Ist das, was von unserem ursprünglichen Tisch geblieben ist, noch ein Tisch oder nicht mehr? Es ist eher kein Tisch mehr. Oder betrachten wir eine Birke. Eine Birke ist ein Baum. Zweifelsohne. Wie ist es aber mit einem Birkensetzling: Ist auch er (schon) ein Baum oder noch nicht ganz? Und wie ist es mit einem Birkenschößling: Baum oder kein Baum? Wir merken bereits anhand solcher einfachen Beobachtungen, dass wir eigentlich nur sehr ungefähr die Bedeutung selbst ganz alltäglicher Wörter und Begriffe verstehen. Und wenn wir bereits die Bedeutung der alltäglichsten Wörter und Begriffe nicht ganz fassen können, dann wissen wir sicher auch nicht, was eigentlich die Bedeutung eines Wortes (Begriffs) ausmacht. Wir haben bereits eine Theorie der Bedeutung näher betrachtet, und zwar die Auffassung des logischen Empirismus, dass die Bedeutung des Begriffes identisch mit der Methode der Verifikation seines Wahrheitsgehalts sei, und haben sie für unhaltbar befunden. Bereits vor dem Aufkommen des logischen Empirismus wie auch nach seinem Zerfall gab es zahlreiche andere Auffassungen über die Natur der Bedeutung von Begriffen und Aussagen. Diese Materie ist bei weitem zu komplex, um sie hier ausführlich behandeln zu können. Der interessierte Leser kann z. B. den entsprechenden, über vierzig Seiten langen Artikel der Stanford Encyclopedia of Philosophy konsultie- 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas 481 ren. 327 Das Fazit dieser komplexen Überlegungen lässt sich jedoch verhältnismäßig einfach formulieren: Es gibt bis heute keine allgemein akzeptierte Theorie der Bedeutung von Begriffen und Aussagen. Wir können also festhalten: Nicht nur wissen wir nicht, was Wissen ist, wir wissen auch nicht, was Bedeutung ist. Worin besteht das Verstehen? Zum Schluss möchte ich ein Problem ansprechen, dass nicht nur in der heutigen Wissenschaft, sondern auch in der heutigen Philosophie kaum Beachtung findet. Es ist offensichtlich, dass wir ohne weiteres Begriffe verstehen und miteinander kommunizieren können, obwohl wir nicht so genau wissen, was die Bedeutung eines Begriffs ist. Aber wie machen wir das eigentlich? Die Einsicht in die zentrale Bedeutung des Verstehens ist für die Philosophie selbstverständlich nichts Neues. Bekanntlich unterschied bereits Wilhelm Dilthey in seiner 1883 erschienenen Schrift Einleitung in die Geisteswissenschaften (Dilthey 1959) die Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften dadurch, dass die Methode jener sich auf das Erklären, dieser jedoch auf das Verstehen stütze. Später hat sich die Disziplin der Hermeneutik entwickelt und bedeutende Denker des 20. Jahrhunderts wie Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer (Gadamer 1965), Karl-Otto Apel (Apel 1979), oder Jürgen Habermas (Habermas 1973) haben sich mit dem Problem des Verstehens bzw. Auslegens von Texten oder (wie Heidegger) der menschlichen Existenz befasst. Heidegger betrachtete das Verstehen als diese Existenz gleichsam konstituierend: „ Das Verstehen bedeutet [für Heidegger] weniger eine ‚ Weise des Erkennens ‘ als ein von Sorge getragenes Sichauskennen in der Welt “ (Grondin 2001, S. 136). Mir geht es hier um ein anderes Phänomen: Wenn jemand spricht, kann ich verstehen, was er oder sie sagt (ich kann selbstverständlich auch das geschriebene Wort verstehen). Wenn er eine andere Sprache als Deutsch spricht, dann kann ich ihn oder sie, wenn ich diese Sprache „ beherrsche “ , ebenfalls verstehen. Aber dies ist höchst merkwürdig. Erstens können die Tiere das nicht: Sie „ haben “ keine Sprache. Zweitens ist diese Fähigkeit uns Menschen nicht angeboren, denn kleine Kinder sprechen bekanntlich nicht und am Anfang ihres Lebens können sie auch nicht verstehen (so scheint es zumindest), was man zu ihnen sagt. Dies Sprachfähigkeit ist auch nicht unbegrenzt: Man kann viele Sprachen lernen, aber man wird nie imstande sein, alle Sprachen der Welt zu lernen. Es wird deshalb immer Menschen geben, die man nicht verstehen können wird, wenn sie zu einem sprechen (und sie werden höchstwahrscheinlich auch mich nicht verstehen können, wenn ich zu ihnen spreche). Jeder Mensch braucht also bestimmte Zeichen, entweder gesprochene oder geschriebene Wörter, die er zuerst lernen muss, 327 http: / / plato.stanford.edu/ entries/ meaning/ 482 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft um seine Gedanken zum Ausdruck bringen und die Gedanken des anderen verstehen zu können. Aber man versteht eben Gedanken, nicht bloß Wörter, denn gleiche, oder fast gleiche Wörter können wesentlich voneinander abweichenden Vorstellungen vermitteln: „ Ich habe ein schönes Schloss gesehen “ - und jetzt kommt die entscheidende Ergänzung: „ in England “ , oder „ im Eisenwarengeschäft “ . Der bedeutende britische Philosoph Crispin Wright hat das hier vorliegende Problem einmal treffend folgendermaßen formuliert: „ [W]e have no wordless contact with the thought that P. If we are to assess it, it has somehow to be given to us symbolically “ (Wright 1992, S. 222f., Hervorhebung im Original). Wie kann ich aber dieses Ungreifbare, das sich hinter den Wörtern recht eigentlich verbirgt, begreifen? Im gleichen Werk weist Wright auf die Rätselhaftigkeit des im Moment des Verstehens zustande kommenden Phänomens hin: „ [S]omething irreducibly human and subcognitive actively contributes to our engagement with any issue at all “ (ebd., S. 226, Hervorhebung im Original). Er deutet auf einen aktiven (und subkognitiven) Prozess der Kontaktaufnahme mit einem Gedanken hin, lässt aber seine Strukturierung völlig unbestimmt. Und kein Geringerer als Thomas Nagel stellte einmal einfach fest: „ I don ’ t know how thought is possible “ (Nagel 1986, S. 107). 328 Fazit Wir können uns nicht sicher sein, dass das reduktionistische Erklärungsparadigma auf die Natur anwendbar ist: Wir wissen bis heute nicht genau, was ein Naturgesetz ist, warum wir überhaupt denken, was Wissen ist, was Bedeutung ist, worin das Verstehen eines Gedankens besteht. Und dennoch können wir erfolgreich auf dem Mars landen. Wie ist das möglich? Vielleicht muss man aus dem Kontrast zwischen der Ungesichertheit der Grundlagen des wissenschaftlichen Paradigmas und den Erfolgen der heutigen Wissenschaft und Technologie schließen, dass die Lösung der „ tieferen Rätsel “ überhaupt nicht nötig ist. Wir können offenbar unser Leben bestens bewältigen, ohne uns je um die Fragen nach dem Wesen der Bedeutung oder Erkenntnis gekümmert zu haben. Dies ist, glaube ich, unbestritten. Für die unmittelbaren Nöte und Herausforderungen des Alltagslebens sind solche Probleme zweifelsohne völlig irrelevant. Soll man aber das Vorhandensein solcher Rätsel nicht als eine Art Kuhn ’ sche Anomalie des herrschenden Paradigmas betrachten, die, obschon klein und unscheinbar, auf die Unvollständigkeit dieses Paradigmas hinweist und in sich die Kraft birgt, es zu zersprengen? 328 Man kann an dieser Stelle auch an Wittgenstein erinnern, der meinte, dass man „ über die Begriffe des Verstehens, Meinens und Denkens größere Klarheit “ gewinnen müsse (Wittgenstein 1999, § 81, S. 286, vgl. Abschnitt „ Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico- Philosophicus “ ). 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas 483 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft: Betrug, Mangel an Reproduzierbarkeit, unterdrückte Daten Im letzten Abschnitt dieses Kapitels möchte ich mich einigen Problemen der heutigen Wissenschaft zuwenden, welche ich nicht als substantielle, sondern als bloße Image-Probleme der Wissenschaft betrachte. Sie sind vor allem in den letzten Jahren publik geworden, und ihre Bekanntmachung trug dazu bei, dass die Autorität der Wissenschaft in der Öffentlichkeit gelitten hat: Betrug in der Wissenschaft, die fehlende Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Forschungsergebnisse und die Unterdrückung von Forschungsergebnissen. Betrug in der Wissenschaft Anfang des neuen Jahrtausends machte der Betrug eines jungen deutschen Physikers, Jan Hendrik Schön, Schlagzeilen. Schön promovierte 1997 und forschte dann im Bereich der Nanotechnologie mit organischen Halbleitern. Bereits 2001 publizierte er im Durchschnitt alle acht Tage einen Fachartikel, siebzehn davon in Nature und Science. Er kündigte mehrere bahnbrechende Resultate an, unter anderem Hochtemperatursupraleiter und einen Transistor, der nur aus einem Molekül bestehen sollte. Das Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart beabsichtigte, ihn zum jüngsten Direktor in der Geschichte dieser Institution zu berufen. Im gleichen Jahr 2001 begannen aber einige Physiker, Zweifel an diversen Veröffentlichungen Schöns zu äußern, da ihnen die dort enthaltenen Messdaten zu exakt erschienen und manche von Schöns Behauptungen allgemein akzeptierten physikalischen Erkenntnissen zu widersprechen schienen. Bei eingehenderen Untersuchungen wurde entdeckt, dass Schön teilweise identische Messreihen zu völlig verschiedenen Experimenten veröffentlicht hatte. Zusätzlich erstellte er „ Messreihen “ per Simulation am Computer. Am 21. September 2002 kam eine von seinem Arbeitgeber, den Bell Laboratories, eingesetzte Untersuchungskommission zu dem Ergebnis, dass Schön sich in 16 Publikationen durch das Fälschen von Messdaten des wissenschaftlichen Fehlverhaltens schuldig gemacht habe. Er wurde daraufhin fristlos entlassen. 329 Aus Sicht der breiten Öffentlichkeit den Stein ins Rollen gebracht hat aber wohl der Fall des prominenten südkoreanischen Veterinärmediziner Woosuk Hwang, der an der Universität von Seoul forschte und dort zum Dekan des tiermedizinischen Colleges gewählt wurde. 2004 veröffentlichte Hwang in Science einen Artikel, in welchem er behauptete, ihm sei es gelungen, mit Hilfe eines Zellkerntransfers eine menschliche embryonale Stammzelle zu produzieren (Hwang et al. 2004). Ein Jahr später, im Juni 2005, veröffentlichte 329 Meine Schilderung des Falls Schön basiert auf dem entsprechenden Artikel der deutschen Wikipedia (http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Jan_Hendrik_Schön). 484 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Science einen weiteren Artikel von ihm, der einen noch größeren Durchbruch bekannt gab: Es sei gelungen, elf menschliche embryonale Stammzellen herzustellen (Hwang et al. 2005). Dieser Befund wurde sofort als Durchbruch in der Biotechnologie gefeiert, weil die Zellen angeblich mit somatischen Zellen von Patienten unterschiedlichen Alters und Geschlechts erstellt wurden, was die Aussicht auf eine Anwendung in der Therapie von zahlreichen Erkrankungen eröffnete. Ein ehemaliger leitender Mitarbeiter von Hwangs Labor erhob jedoch noch im selben Monat schwerwiegende Vorwürfe an die Adresse Hwangs hinsichtlich seiner Forschungsmethoden. Eine Untersuchungskommission der Universität untersuchte diese Vorwürfe und kam zum Ergebnis, dass die Daten der Publikationen gefälscht worden waren „ The results are in. The university committee looking into scientific misconduct in the laboratory of South Korean cloner Woo-Suk Hwang announced on 10 January [2006] that his 2004 claim to have cloned a human embryo was fake “ (Cyranoski 2006, S. 122). Hwang bot daraufhin den Rücktritt von seiner Professur an. Im Mai 2006 wurde gegen Hwang von der Staatsanwaltschaft Anklage wegen Betrug und Unterschlagung sowie wegen Verstößen gegen das südkoreanische Bioethik-Gesetz erhoben. Im Oktober 2009 wurde er in Seoul zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Im Dezember 2010 reduzierte ein Berufungsgericht die Strafe auf 18 Monaten auf Bewährung. Der Fall von Woo-suk Hwang war nur der erste und zunächst prominenteste einer ganzen Reihe ähnlicher Fälle, welche in den folgenden Jahren publik wurden. Nur ein paar Beispiele: 2008 wurden Forschungsergebnisse von Tae Kook Kim und seinen Kollegen vom Korea Advanced Institute of Technology in Frage gestellt. Die Forscher behaupteten in einem 2006 in Science und in Nature Chemical Biology veröffentlichten Artikel, dass sie eine Substanz synthetisiert haben, welche fähig ist, das Altern von Zellen rückgängig zu machen. Eine Untersuchung ergab, dass die Resultate gefälscht waren. Im März 2008 schrieb dazu Science: An investigation by a prominent South Korean university has revealed that two papers by its researchers “ do not contain any scientific truth. ” Both will likely be retracted by the journals in which they appeared, Science and Nature Chemical Biology. (Couzin und Normile 2008, S. 1468) Im Oktober des gleichen Jahres beklagte sich ein französischer Forscher, dass ein Artikel, der kurz zuvor in einer koreanischen Wissenschaftszeitschrift erschienen war, ein Plagiat eines früher von ihm veröffentlichten Artikels war. Dazu Nature: When Eric Le Bourg, a French biogerontologist, came across a paper in a Korean journal recently, he almost fell off his chair; the entire article - text and graphs included - had been taken from one of his earlier articles. “ It was plagiarism from beginning to end, ” he says. “ I was astonished; it was pure cut and paste ” . (Butler 2008, S. 715) 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft 485 2011 wurde eine noch viel größere Affäre in den Niederlanden publik. Die Universität Tilburg gab bekannt, dass eine Untersuchung der Forschungen des prominenten Sozialpsychologen Diederik Stapel ergeben habe, dass er im Zeitraum von fünfzehn bis zwanzig Jahren systematisch Daten in seinen Veröffentlichungen manipuliert habe. Schätzungsweise handelte es sich dabei um über 100 wissenschaftliche Publikationen. Besonders gravierend an diesem Fall ist der Umstand, dass Stapels betrügerisches Verhalten negative Auswirkungen auf die wissenschaftlichen Karrieren nicht nur seiner Mitarbeiter, sondern auch anderer Forscher haben wird, die auf seinen angeblichen Befunden bauten. In ihrem Bericht über diesen Fall machte Science aufmerksam: An interim report released in October 2011 by Tilburg University, Netherlands concluded that one of its faculty members, social psychologist Diederik Stapel, fabricated data for numerous studies conducted over a period of 15 to 20 years. The good news, of course, is that the fraud was eventually uncovered. The bad news is that it went undetected for so long and involved so many scientific articles - over 100 publications are now under investigation. The costs of the fraud for the careers of young scientists and others who worked with him, for science, and for public trust in science are devastating. As the investigation unfolds, the moment is opportune to reflect on what can be done to protect science and the public from fraud in the future. (Crocker und Cooper 2011, S. 1182) 330 Ebenfalls 2011 trat ein prominenter Forscher der Universität Harvard, der Evolutionärpsychologe Marc Hauser, von seiner Professur zurück, nachdem die Universität befand, dass er sich in seinen wissenschaftlichen Publikationen Verfehlungen schuldig gemacht hatte. Hauser galt als einer der führenden Forscher im Bereich der tierischen und menschlichen Kognition. Die Details seiner Verfehlungen wurden nicht veröffentlicht, was zu zahlreichen Spekulationen führte. In Nature hieß es nur: Marc Hauser, a high-flying evolutionary psychologist who resigned from Harvard University in Cambridge, Massachusetts, in 2011, after the university found him guilty of misconduct. Harvard had found Hauser guilty of eight counts of misconduct in 2010, after a three-year internal investigation of some of his studies of cognition in non-human primates. To the annoyance of many scientists, the university did not release its findings, so exactly what Hauser had done remained unclear. (Reich 2012, S. 189) Die Beispiele kann man um zahllose weitere vermehren. Im Januar 2014 veröffentlichte Nature zwei Artikel der jungen japanischen Forscherin Haruko Obokata, die behauptete, eine einfache Methode entdeckt zu haben, mit der die differenzierten Zellen eines Organismus zu (induzierten) pluripotenten Stammzellen reprogrammiert werden können (man muss einfach die differenzierten Zellen chemischem Stress aussetzen) - ein Eldorado für die Medizin, das vielversprechend für viele therapeutische Anwendungen sein 330 Vgl. auch Vogel 2011. 486 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft könnte (Obokata 2014). Bereits am 14. März 2014 gab aber RIKEN, Japans größte Forschungseinrichtung, die das Zentrum für Entwicklungsbiologie (CDB) in Kobe finanziert, wo Haruko Obokata und mehrere ihrer Koautoren arbeiten, die Zwischenergebnisse einer Untersuchung von Vorwürfen bekannt, nach denen sich die Verfasser methodische Unregelmäßigkeiten haben zu Schulden kommen lassen. Einer der Ermittler riet ihnen, die Artikel zurückziehen. Obokata hat daraufhin die Qualität ihrer eigenen Doktorarbeit in Frage gestellt. Diese Doktorarbeit ist bereits Gegenstand von Ermittlungen durch die Universität, die den Titel vergab (Cyranoski 2014). Am 19. Dezember 2014 wurde mitgeteilt, dass Dr. Obokata ihre Stelle gekündigt hat (Gallaher 2014 a). Ein besonderes Problem für die Wissenschaft bildet das mangelhafte Prüfungsverfahren für die bei den wissenschaftlichen Zeitschriften eingereichten Artikel. Wir sind einem solchen Fall bereits im Kapitel „ Soziologie der Wissenschaft “ begegnet, als wir uns mit der sog. Sokal-Affäre beschäftigt haben. Etwas Ähnliches wie Sokal hat vor kurzem John Bohannon, ein Biologe und Wissenschaftsjournalist, der an der Harvard-Universität arbeitet und u. a. für die Zeitschrift Science schreibt, unternommen. Er hat einen fiktiven Forschungsartikel an 255 wissenschaftliche „ Open-Access-Zeitschriften geschickt, d. h. an Zeitschriften, die im Internet für alle Leser kostenlos zugänglich sind. Der Artikel handelte von der angeblichen Entdeckung eines Antikrebs-Wirkstoffes und war absichtlich so gestaltet, dass er im Peer- Review-Prozess sofort abgelehnt werden würde. Bohannon schreibt dazu: „ Any reviewer with more than a high-school knowledge of chemistry and the ability to understand a basic data plot should have spotted the paper ’ s shortcomings immediately. Its experiments are so hopelessly flawed that the results are meaningless “ (Bohannon 2013, S. 60). Dennoch akzeptierten 157 Zeitschriften den Artikel und nur 98 lehnten ihn ab. Sokals und Bohannons Fälle sind insofern harmlos, als es nicht die Absicht der Autoren war, die eigene wissenschaftliche Karriere zu fördern, sondern Schwächen im System der Beurteilung wissenschaftlicher Produktionen zu entblößen: im Falle von Sokal bei den politisch links orientierten sozialwissenschaftlichen, im Falle von Bohannon bei den naturwissenschaftlichen Open-Access-Zeitschriften. Seit Sokals Zeit mehren sich jedoch die Anzeichen dafür, dass die Veröffentlichung völlig fiktiver Forschungsergebnisse nicht nur ein Spiel einiger weniger „ Lausbuben “ , sondern ein relativ weit verbreitetes und gefährliches Phänomen ist. Im April 2013 veröffentlichte The New York Times einen Artikel, der das Problem der sich explosiv vermehrenden Open-Access-Zeitschriften mit oft sehr dubiosen Referenzen behandelt. Die Autorin Gina Kolata stellte darin u. a. fest, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft über die Ausbreitung von Online-Zeitschriften beunruhigt ist, welche anscheinend bereit sind, praktisch alles zu veröffentlichen, wenn man nur willig ist, für die Veröffentlichung zu bezahlen: 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft 487 [S]ome researchers are now raising the alarm about what they see as the proliferation of online journals that will print seemingly anything for a fee. They warn that nonexperts doing online research will have trouble distinguishing credible research from junk. “ Most people don ’ t know the journal universe, ” Dr. Goodman said. “ They will not know from a journal ’ s title if it is for real or not. ” (Kolata 2013) Im November 2013 veröffentlichte Science einen Artikel, der auf eine zunehmende Praxis des Verkaufs der Autorenrechte für wissenschaftliche Publikationen aufmerksam machte. Mara Hvistendahl schildert darin die Prozedur wie folgt: Eine Firma bietet einen Forschungsartikel an, der bereits von einer anerkannten Zeitschrift akzeptiert worden ist. Man könne sich für ca. 15.000 $, eine für westliche Verhältnisse bescheidene Summe, die aber in China in etwa dem Jahreslohn eines Forschers entspricht, als co-erster Autor dieser Publikation ausgeben: The e-mail arrived around noon from the mysterious sender „ Publish SCI Paper “ , with the subject line „ Transfer co-first author and co-corresponding author “ . A message body uncluttered with pleasantries contained a scientific abstract with all the usual ingredients, bar one: author names. The message said that the paper, describing a potential strategy for curbing drug resistance in cancer cells, had been accepted by Elsevier ’ s International Journal of Biochemistry & Cell Biology. Now its authorship was for sale. (Hvistendahl 2013, S. 1035) Diese Praxis ist gegenwärtig besonders in China verbreitet, wo Publikationen in guten Zeitschriften als unabdingbar für die wissenschaftliche Karriere erachtet werden (ebd., S. 1035). Die gleiche Nummer von Science veröffentlichte einen Leitartikel von Wei Yang, Präsident der National Natural Science Foundation of China und Professor am Institut für Angewandte Mechanik der Zhejinag-Universität, Hanzhou, in dem der Autor feststellt, dass der außerordentliche Zuwachs an wissenschaftlicher Forschung in China nicht von entsprechenden Verbesserungen bei der Einhaltung der internationalen Normen der wissenschaftlichen Forschungsarbeit begleitet wird: China ’ s research capacity has grown dramatically in the past decade, an expansion that is reshaping the landscape of global scientific investigation. This rapid growth has not necessarily been accompanied by an equally measured promotion of the cultural norms of the scientific enterprise. Most troubling is a lack of research integrity, which may hinder China ’ s growth in original science, damage the reputation of Chinese academics, and dampen the impact of science developed in China. (Yang 2013, S. 1019) Yang macht jedoch auch darauf aufmerksam, dass gegenwärtig in China vor allem durch die China Association for Science and Technology (CAST) und die Erziehungsministerium intensive Anstrengungen unternommen werden, Doktoranden, Postdoktoranden und junge Fakultätsmitglieder in Forschungsethik zu schulen (ebd.). Das hier angedeutete Problem mag in erster Linie ein spezifisch chinesisches sein. Wie jedoch ein Wissenschaftsredakteur des Schweizer Radios SRF, Thomas Häussler bemerkte, wirft die 488 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Existenz des Schwarzmarktes für wissenschaftliche Publikationen in China längere Schatten, denn erstens arbeiten viele Wissenschaftler in anderen Ländern mit chinesischen Forschern zusammen und diese werden durch solche unlautere Methoden verunsichert, und zweitens kann nicht ausgeschlossen werden, dass es auch in anderen aufstrebenden Ländern zu ähnlichen Unregelmäßigkeiten kommt. 331 Wer sich mit dem Gedanken tröstete, dass solch unlautere Praktiken, wenn überhaupt, nur die einer verschwindend kleinen Minderheit von Wissenschaftlern seien, wurde bereits 2005 eines Besseren belehrt. Im Juni 2005 veröffentlichte Nature Resultate einer breit angelegten Befragung amerikanischer Wissenschaftler in Bezug auf unterschiedliche Formen des wissenschaftlich unethischen Verhaltens. Die Autoren der Studie stellten fest, dass zweifelhaftes Verhalten viel verbreiteter war, als man dies allgemein annehmen würde: We surveyed several thousand earlyand mid-career scientists, who are based in the United States and funded by the National Institutes of Health (NIH), and asked them to report their own behaviours. Our findings reveal a range of questionable practices that are striking in their breadth and prevalence. (Martinson et al. 2005, S. 737) Und ferner: „ Our findings suggest that US scientists engage in a range of behaviours extending far beyond FFP [Falsification, Fabrication, Plagiarism] that can damage the integrity of science “ (ebd., S. 738). In einem Bericht über diese Befunde, der in derselben Nummer von Nature veröffentlicht wurde, schreibt Meredith Wadman: More than a third of US scientists, in a survey of thousands, have admitted to misbehaving in the past three years. The social scientists who carried out the study of research misconduct warn that because attention is focused on high-profile, serious cases, a broader threat from more minor deeds is being missed. (Wadman 2005, S. 718) Wadman weist darauf hin, dass nur eine kleine Minderheit (1,5 %) zugab, sehr gravierende Vergehen wie Falsifizierung der Daten oder Plagiat begangen zu haben: Immerhin 12,5 % gaben aber an, dass sie gesehen hätten, wie ihre Kollegen mangelhafte Daten in ihrer Forschung verwendeten. Die Autoren der Studie hofften daher, ihre Ergebnisse werden die Wissenschaftler davon überzeugen, dass die Praxis des Ignorierens der breiten Palette von Fehlverhalten nicht angebracht ist (ebd., S. 719). Im Oktober 2011 veröffentlichte Nature einen Artikel, in welchem Richard Van Noorden, Assistant News Editor für Nature in London, auf die in den letzten Jahren stark angestiegene Zahl wissenschaftlicher Artikel aufmerksam machte, die von den Verfassern zurückgezogen wurden. Allein innerhalb der letzten Dekade vermehrten sie sich auf mehr als das Zehnfache (von 30 331 http: / / www.srf.ch/ sendungen/ wissenschaftsmagazin (30. 11. 2013). 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft 489 auf 400 pro Jahr), obschon die Zahl der in diesem Zeitabschnitt veröffentlichten Artikel lediglich um 44 % zunahm. (Van Noorden 2011, S. 26). Im September 2012 erschien in derselben Ausgabe von Nature in der Rubrik „ World View. A personal take on events “ unter dem Titel „ We must be open about our mistakes “ ein persönliches Plädoyer für mehr Transparenz im wissenschaftlichen Prozess und die Eliminierung von fehlerhaften Daten. Der Autor des Artikels, Jim Woodgett, ein Biologe, Director of Research und Senior Investigator am Lunenfeld-Tanenbaum Research Institute in Toronto, Kanada, schrieb u. a.: There is increasing unrest in global science. The number of retractions is rising, new examples of poor oversight or practice are being uncovered and anxiety is building among researchers. Those of us who work in the life sciences are discovering that some of our basic premises are flawed or inaccurate - cell lines have been misidentified and drug metabolism in animal models misjudged. Even highprofile findings have been questioned. Building on solid foundations was an architectural principle understood by the ancient Greeks and Egyptians, yet we may be constructing our castles on swampland. Is it a surprise that clinical translation fails so often? [. . .] In a culture of publish or perish, the continuing growth in the number of scientific journals is hardly a surprise. But does this proliferation of papers reflect better science, or merely dilution? When a third of all papers are never cited, it is reasonable to question why so many are published. (Woodgett 2012, S. 489) Ein paar Monate später veröffentlichte Science ein Feature über die Arbeit von Arturo Casadevall und Ferric Fang (Couzin-Frankel 2013). Sie arbeiten auf zwei verschiedenen Seiten eines Kontinents: Casadevall am Albert Einstein College of Medicine in New York, Fang an der University of Washington in Seattle. Was sie zusammenbrachte, war ihre gemeinsame Sorge über die negativen Entwicklungen in der Wissenschaft: „ Discovery for its own sake was being sidelined by a push to publish in high-impact journals. Funding was scarcer than ever. Scientists focused on narrow fields and often couldn ’ t communicate their professional passions at a cocktail party “ (Couzin-Frankel 2013, S. 386). Fang meint, dass 99 % der Wissenschaftler nicht durch Freude an den Entdeckungen, sondern durch Angst motiviert seien (ebd.). Beide sehen das Hauptproblem in der Form, in welcher Wissenschaft finanziert wird. Fang stellte fest: „ The level of competition has changed dramatically. [. . .] If you talk to any student or postdoc, they ’ ll say the picture they ’ re getting, the name of the game, is to get money “ (ebd., S. 388). 332 Da Fang oft in Beförderungs- und Berufungsausschüsse saß, hatte er viel Gelegenheit zu beobachten, wie seine Kollegen ein Lippenbekenntnis auf Lehre und Qualität der 332 Bereits zuvor haben die beiden Autoren in einem Artikel in den New York Times die Wurzel der Misere ähnlich beschrieben: „ To survive professionally, scientists feel the need to publish as many papers as possible, and to get them into high-profile journals. And sometimes they cut corners or even commit misconduct to get there “ (Zimmer 2010). 490 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Wissenschaft ablegten. Das wichtigste Kriterium für eine Berufung war dann aber das Finanzierungsniveau des Antragstellers (ebd.). Fang und Casadevall bemerken jedoch, dass ihr kritischer Blick auf die Wissenschaft auf zunehmend mehr Aufmerksamkeit und Interesse unter ihren Kollegen stößt. Und auch auf Bereitschaft, die Probleme zu besprechen und anzupacken (ebd., S. 389). Dass Probleme dieser Art heute auftauchen, ist eigentlich verständlich. Wie wir bereits früher gesehen haben, war der Wissenschaftler der ersten (und auch noch zweiten) Stunde in der Regel ein vermögender Mensch ( „ gentleman of independent means “ ), der aus Idealismus und Leidenschaft nach Erkenntnis suchte. Keine Karriere, kein Profit und keine Macht waren mit seinem Erkenntnisstreben verbunden. Heute ist es anders: Wissenschaftler ist zu einem mehr oder weniger gewöhnlichen Beruf geworden, und ein erfolgreicher Wissenschaftler zu sein, heißt Karriere, Macht, Ruhm und auch Geld zu haben. Verständlicherweise will man diese erlangen, aber in einer Situation, wo immer mehr Menschen ein Stück eines in etwa gleich groß gebliebenen Kuchens bekommen möchten, steigen die Ansprüche an diejenigen, die im Wettbewerb stehen, und insbesondere an jene, die an die Spitze der Hierarchie gelangen wollen. So meint der Leitautor der oben angeführten Studie (Martinson et al. 2005) Brian Martinson, dass der Hauptgrund für das fragwürdige Verhalten der Wissenschaftler der zunehmende Konkurrenzkampf und der wachsende Druck seien, Artikel zu veröffentlichen und finanzielle Zuschüsse zu erhalten (ebd., S. 738). Man kann diese Entwicklung vielleicht mit der Entwicklung des Kommunismus vergleichen: Am Anfang stand purer Idealismus, man kämpfte für die Rechte der armen Fabrikarbeiter, man wurde dabei verfolgt, riskierte sein Leben. Bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts konnte man als Funktionär der kommunistischen Partei, ob in Russland, Polen, oder Ostdeutschland, soziales Prestige, Macht und ein gutes Einkommen erwerben. Dies ist heute noch der Stand der Dinge in China oder Nordkorea. Es kann deshalb kaum verwundern, dass viele Menschen in diesen Ländern an einer Karriere in der kommunistischen Partei interessiert sind bzw. waren. 1960 machte der schon erwähnte Ludwik Fleck auf diese Entwicklung aufmerksam, wobei er auch auf die Verflechtung der Wissenschaft mit der Industrie und der Politik hinwies. Er schrieb: Es ist unzweifelhaft, dass die Wissenschaft zur Gehilfin von Politik und Industrie wird, zum großen Schaden ihrer kulturellen Mission. In fast allen Ländern der ganzen Welt verfügen Politiker und Industrielle über Wissenschaftler, entscheiden oft über ihre Arbeit und manchmal sogar über ihre Meinungen und Überzeugungen. Das geschieht nicht nur, weil einige moderne wissenschaftliche Aktivitäten große Ressourcen erfordern. Einen gefährlichen Faktor stellt der wachsende Opportunismus vieler, vor allem junger Wissenschaftler dar - Wissenschaftler, für die Wissenschaft lediglich ein moderner Weg zu einer guten Karriere ist. (Fleck 1983 a, S. 175) 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft 491 In der jüngsten Zeit ist das Problem auch zunehmend offiziell angegangen worden. Bereits 2007 fand in Lissabon die erste World Conference on Research Integrity statt, die zweite Konferenz wurde 2010 in Singapur und die dritte in 2013 in Montreal abgehalten. Auf letzterer wurde festgestellt, dass „ Allegations of misconduct are rising, retractions are on the up and concern is growing that sloppy lab practices are leading to unreliable research “ (Van Noorden 2013, S. 300). Die in Montreal anwesenden Experten waren sich einig, dass die Zahl der Berichte über fehlerhaftes Verhalten der Wissenschaftler steigt (so stieg z. B. die Zahl der Widerrufe veröffentlichter Artikel, welche in PubMed registriert wurden, von ca. 120 im Jahr 2007 auf über 500 im Jahr 2012), sie konnten sich jedoch nicht einigen, ob dieser Zuwachs den tatsächlichen Zuwachs der Missbräuche widerspiegelt oder bloß die Zunahme der Aufmerksamkeit, mit der die wissenschaftliche Arbeit verfolgt wird. 2012 veröffentlichten der InterAcademy Panel, ein globales Netzwerk, bestehend aus über 106 nationalen Wissenschaftsakademien, und die InterAcademy Council (IAC), ein Ausschuss des Panels, einen Bericht zum Thema „ Verantwortliches Verhalten in der Wissenschaft “ . Über die Empfehlungen des Komitees, das den Report vorbereitete, informierten in der Ausgabe vom 16. Januar 2012 der Science Indira Nath, Professor emeritus am National Institute of Pathology in Neu-Delhi, und Ernst-Ludwig Winnacker, Secretary General of the Human Frontier Science Program in Straßburg, die dem Komitee präsidierten. Sie wiesen auf die zunehmende Bedrohungen von Forschung und Wissenschaft und auf die Notwendigkeit hin, allgemein akzeptierte und verbindliche Maßstäbe zu vereinbaren: By working collaboratively, researchers can hope to answer questions never addressed before, including those with substantial influence on society. At the same time, today ’ s international, interdisciplinary, team-oriented, and technologyintensive research has created an environment more fraught with the potential for error and distortion. Technology makes it easier to plagiarize or manipulate data in misleading ways. Researchers collaborating on interdisciplinary problems in different countries may have varied ethical perceptions due to differences in disciplines as well as legal traditions and cultures. The increasing pressure on scientists to publish in high-impact journals to drive favorable hiring and promotion decisions also creates incentives for misconduct. Establishing codes of conduct in science is not new: National and international organizations have issued a range of guidelines to ensure responsible conduct in research. The goal of the IAC-IAP committee was to establish principles that transcend disciplinary or national boundaries. (Nath und Winnacker 2102, S. 863) Auch auf dem internationalen Parkett tut sich also etwas in Sachen Bekämpfung wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Ob diese Bestrebungen die gewünschte Wirkung erzielen, werden wir erst in der Zukunft beurteilen können. Allgemein lässt sich jedoch sagen, dass Gesetze und Regeln allein Delinquenz sicherlich nicht verhindern können. Denn es sind Menschen, 492 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft welche die Gesetze einhalten wollen oder nicht. Und wenn sie es nicht wollen, werden sie schon Wege finden, um selbst die strengsten Gesetze zu umgehen. Reproduzierbarkeit Das Problem des Fehlverhaltens bzw. in extremen Fällen des Betrugs in der Wissenschaft ist aber nicht die einzige Schwierigkeit, mit der die heutige Naturwissenschaft zu kämpfen hat. Eine der zentralen Forderungen an wissenschaftliche Forschungsergebnisse ist, dass sie reproduzierbar sind: Was ein Wissenschaftler in seinem Labor festgestellt hat, sollte von jedem anderen entsprechend qualifizierten Wissenschaftler in einem beliebigen entsprechend ausgerüsteten Labor irgendwo auf der Welt repliziert werden können. Die wissenschaftlichen Resultate dürfen nicht von der Person des Forschers abhängig sein. 333 Nun zeigte sich in den letzten Jahren, dass dieses Erfordernis in Wirklichkeit überraschend oft nicht erfüllt wird und viele Forschungsergebnisse von anderen Forschergruppen nicht wiederholt werden konnten. Das Problem wurde in den Fokus gerückt durch einen Artikel, der am 29. März 2012 in Nature veröffentlicht wurde. Seine Autoren, C. Glenn Begley, Berater und ehemaliger Vizepräsident der Firma Hematology and Oncology Research in Amgen, Thousand Oaks, Kalifornien, und Lee M. Ellis, der am M. D. Anderson Cancer Center der University of Texas in Houston tätig ist, berichteten, dass die Hämatologie- und Onkologie-Abteilung des Biotechnologie-Unternehmens Amgen versuchte, die Resultate von 53 in ihrem Forschungsbereich veröffentlichten Artikeln zu replizieren. Dies ist ihr in nur 6 Fällen (11 %) gelungen (Begley und Ellis 2012, S. 532). Die Autoren weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Problem keine bloß theoretische Schwierigkeit sei, sondern durchaus praktische Auswirkungen habe. Denn die Forscher stützen sich in ihrer Arbeit auf die Ergebnisse ihrer Vorgänger. Forschen sie z. B. im Bereich der Entwicklung neuer Präparate gegen Krebs, so ist das Verfolgen einer falschen Spur schlicht ein sehr teurer Fehler. Die Autoren vermuten darüber hinaus, dass die bekanntlich sehr niedrige Erfolgsrate bei der klinischen Umsetzung theoretischer Ergebnisse, d. h. der Entwicklung erfolgreicher Medikamente, mit der schlechten Replizierbarkeit der Studien zu tun haben könnte (ebd.). Sie machen zugleich einige Vorschläge, wie die Missstände beseitigt werden können. Der erste und wichtigste ist interessanterweise, dass nicht nur positive, sondern auch negative Befunde veröffentlicht werden sollten, denn die Information, dass eine bestimmte Behandlung versucht wurde und keine positiven Ergebnisse zeitigte, kann aus Sicht der Forschung ähnlich wichtig sein wie die Information, dass sich eine bestimmte Behandlung als erfolgreich erwiesen hat: 333 Wir werden auf dieses zentrale Erfordernis der Wissenschaftlichkeit weiter unten im Kapitel „ Was ist Wissenschaft . . . “ ausführlicher eingehen. 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft 493 There must be more opportunities to present negative data. It should be the expectation that negative preclinical data will be presented at conferences and in publications. Preclinical investigators should be required to report all findings, regardless of the outcome. To facilitate this, funding agencies, reviewers and journal editors must agree that negative data can be just as informative as positive data. (Ebd., S. 533) Im August desselben Jahres wurde von dem Online-Dienst Science Exchange, der den Wissenschaftlern die Möglichkeit bietet, ihre Forschung in wissenschaftliche Institutionen wie Universitätseinrichtungen oder kommerzielle Auftragsforschungsunternehmen auszulagern, eine Initiative ( „ Reproducibility initiative “ ) gestartet, die auf die Verbesserung der Reproduzierbarkeit der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse abzielt. Die Website der Initiative stellt Folgendes fest: Many of the world ’ s top media outlets, including The New York Times and The Wall Street Journal, have reported on the issue of reproducibility in scientific research. Currently researchers lack easy avenues to validate and publish reproduced results . . . that ’ s all about to change. Science Exchange, PLOS ONE, figshare, and Mendeley have launched the Reproducibility Initiative to address this problem. It ’ s time to start rewarding the people who take the extra time to do the most careful and reproducible work. Current academic incentives place an emphasis on novelty, which comes at the expense of rigor. Studies submitted to the Initiative join a pool of research, which will be selectively replicated as funding becomes available. The Initiative operates on an opt-in basis because we believe that the scientific consensus on the most robust, as opposed to simply the most cited, work is a valuable signal to help identify high quality reproducible findings that can be reliably built upon to advance scientific understanding. 334 Wie akut das Problem ist, zeigt die Tatsache, dass Nature dazu einen Leitartikel unter dem Titel „ We must try harder “ veröffentlichte und eine Kampagne startete, die eine Verbesserung der Situation erreichen will. In der Ausgabe vom 25. April 2013 findet sich eine Ankündigung unter dem Titel „ Reducing our irreproducibility “ . Die Redaktion schreibt u. a.: Over the past year, Nature has published a string of articles that highlight failures in the reliability and reproducibility of published research (collected and freely available at go.nature.com/ huhbyr). The problems arise in laboratories, but journals such as this one compound them when they fail to exert sufficient scrutiny over the results that they publish, and when they do not publish enough information for other researchers to assess results properly. From next month, Nature and the Nature research journals will introduce editorial measures to address the problem by improving the consistency and quality of reporting in life-sciences articles. To ease the interpretation and improve the reliability of published results we will more systematically ensure that key methodological details are reported, and we will give more space to methods 334 https: / / www.scienceexchange.com/ reproducibility (heruntergeladen am 20. 10. 2013). 494 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft sections. We will examine statistics more closely and encourage authors to be transparent, for example by including their raw data. Central to this initiative is a checklist intended to prompt authors to disclose technical and statistical information in their submissions, and to encourage referees to consider aspects important for research reproducibility. (Nature 2013 a) Entsprechende Leitartikel sind daraufhin in den Mai-Ausgaben der Zeitschriften der Nature-Gruppe erschienen (z. B. Nature genetics 2013, Nature medicine 2013, Nature neuroscience 2013); Nature hat das Dossier mit den Artikeln zu diesem Thema schließlich auf ihrer Website öffentlich zugänglich gemacht. 335 Im Januar 2014 hat sich Science diesen Bemühungen angeschlossen. Die Editor-in-Chief der Science, Marcia McNutt, schrieb in einem am 17. Januar 2014 unter dem Titel „ Reproducibility “ veröffentlichten Leitartikel: Science advances on a fundation of trusted discoveries. Reproducing an experiment is one important approach that scientists use to gain confidence in their conclusions. Recently, the scientific community was shaken by reports that a troubling proportion of peer-reviewed preclinical studies are not reproducible. Because confidence in results is of paramount importance to the broad scientific community, we are announcing new initiatives to increase confidence in the studies published in Science. For preclinical studies (one of the targets of recent concern), we will be adopting recommendations of the U. S. National Institute of Neurological Disorders and Stroke (NINDS) for increasing transparency. Authors will indicate whether there was a pre-experimental plan for data handling (such as how to deal with outliers), whether they conducted a sample size estimation to ensure a sufficient signal-to-noise ratio, whether samples were treated randomly, and whether the experimenter was blind to the conduct of the experiment. These criteria will be included in our author guidelines. (McNutt 2014, S. 229) Laut Marcia McNutt erstreckt sich das Problem höchstwahrscheinlich nicht allein auf vorklinische Studien, sondern auch auf andere Arten von Studien und andere Disziplinen als Medizin. Sie schreibt: „ It is unlikely that the issues with irreproducibility are confined to preclinical studies (social science has been equally noted, for example) “ (ebd). Am 30. Januar 2014 äußerten sich Francis S. Collins, der Direktor, und Lawrence A. Tabak, der Principal Deputy Director des amerikanischen National Institute of Health in Nature zu dem Problem (Collins und Tabak 2014). Sie hielten zwar optimistisch fest, dass es mit wenigen Ausnahmen keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass die fehlende Reproduzierbarkeit von Forschungsergebnissen auf wissenschaftliches Fehlverhalten zurückzuführen sei ( „ Let ’ s be clear: with rare exceptions, we have no evidence to suggest that irreproducibility is caused by scientific misconduct “ [ebd., S. 612]). Sie sind sich aber mit anderen Experten darin einig, dass dringend etwas 335 http: / / www.nature.com/ nature/ focus/ reproducibility/ index.html (heruntergeladen am 22. 10. 2013). 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft 495 unternommen werden sollte, um der Malaise der Nichtreproduzierbarkeit entgegenzuwirken: The recent evidence showing the irreproducibility of significant numbers of biomedical-research publications demands immediate and substantive action. The NIH is firmly committed to making systematic changes that should reduce the frequency and severity of this problem - but success will come only with the full engagement of the entire biomedical-research enterprise. (Ebd., S. 613) Collins und Tabak beziehen ihre Bemerkungen nur auf das „ biomedizinische Forschungsunternehmen “ . Dies mag wohl mit ihrer besonderer Sichtweise als Leiter und Entscheidungsträger eines solchen Unternehmens zusammenhängen. Wir haben gesehen, dass sich die Diskussion um das Problem der fehlenden Reproduzierbarkeit der Forschungsergebnisse in der Tat gegenwärtig vor allem auf den Bereich der medizinischen Forschung oder allgemeiner gesagt der „ Live Sciences “ konzentriert, obschon McNutt erwähnt, dass die Sozialwissenschaften ebenfalls betroffen sein könnten. Wir wissen jedoch nicht, wie stark verbreitet das Problem ist. Es scheint unwahrscheinlich, dass die Forschung im Bereich der Physik oder Chemie davon betroffen ist. Schließlich fliegen Flugzeuge und funktionieren Computer usw., welche auf der Grundlage solcher Forschung konstruiert wurden, äußerst zuverlässig. Die Möglichkeit, dass auch dort unreplizierbare Ergebnisse vorhanden sind, kann jedoch nicht ganz ausgeschlossen werden, und zwar auch ohne irgendjemandem irgendwelche betrügerische Absichten unterstellen zu wollen. Ein Grund für die Nichtreproduzierbarkeit wissenschaftlicher Forschungsergebnisse kann nämlich die mangelhafte Methodologie sein, genauer die mangelhafte Methodologie der statistischen Verarbeitung der in der Forschung gewonnenen Daten. In einem 2013 in PNAS erschienenen, Aufsehen erregenden Artikel behauptete Valen E. Johnson, Leiter des Department of Statistics der A & M University in Texas, dass das Problem der Nichtreproduzierbarkeit mancher Forschungsergebnisse mit der Akzeptanz zu laxer Standards bei den Signifikanztests der Forschungsergebnisse zusammenhängen könne (Johnson 2013). Er meinte, dass man möglicherweise überall dort, wo Hypothesenüberprüfung mittels statistischer Test vollzogen wird, unrealistisch tiefe Wahrscheinlichkeitsniveaus annehme, um ein Befund als signifikant zu deklarieren. Konkret herrscht bis heute die Überzeugung, dass eine Wahrscheinlichkeit von 0,05, dass die Nullhypothese wahr ist, ausreichend sei, um sie abzulehnen und somit den Befund als signifikant zu akzeptieren. Johnson schlägt dagegen ein Wahrscheinlichkeitsniveau von 0,005 und für sehr bedeutende Ergebnisse von 0,001 vor: [R]ecent concerns over the lack of reproducibility of scientific studies can be attributed largely to the conduct of significance tests at unjustifiably high levels of significance. [. . .] Modifications of common standards of evidence are proposed to reduce the rate of nonreproducibility of scientific research by a factor of 5 or greater. (Johnson ebd., S. 19313) 496 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Johnson ist auch davon überzeugt, dass durch die entsprechende Anhebung der Kriterien der statistischen Signifikanz der Forschungsergebnisse das Problem des Mangels an Replizierbarkeit dieser Ergebnisse wesentlich entschärft werden könnte. Dies muss aber nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Andere Faktoren können durchaus ebenfalls dazu beitragen, dass die Forschungsresultate einer Forschergruppe von anderen Forschergruppen nicht repliziert werden können. Man muss z. B. bedenken, dass die heute oft komplexen, kostspieligen und zeitaufwendigen Experimente nur selten von der ursprünglichen Forschergruppe wiederholt werden. Ein Experiment wird durchgeführt, die Resultate werden gesammelt und womöglich publiziert, und damit hat sich die Sache für die Forscher erledigt. Sie nehmen an, dass ihre Resultate reproduziert werden könnten, aber sie unternehmen keine Versuche, um sie tatsächlich zu wiederholen. Dafür gibt es selbstverständlich weder Zeit noch Geld (und möglicherweise auch wenig Lust). Es ist aber durchaus denkbar, dass ein bestimmtes Forschungsergebnis nur durch eine Verkettung günstiger Umstände zustande gekommen ist, die von den Forschenden nicht durchschaut wurde, dass die Forscher also bei ihrer Analyse wesentliche Faktoren, die zum Zustandekommen des Ergebnisses beigetragen haben, übersehen. Ich habe bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die Menschheit jahrhundertelang die Bedeutung des Sauerstoffs bei den Verbrennungsprozessen „ übersah “ . Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch die heutige Forschung, und zwar auch in den strengsten Wissenschaften, wesentliche Wirkungsfaktoren übersieht. Problem der unterdrückten Daten Ein weiteres Problem der gegenwärtigen Forschung ist das Phänomen der unterdrückten Daten. Wir sind diesem Problem bereits oben flüchtig im Zusammenhang mit Begleys und Ellis ’ Forderung nach Veröffentlichung auch von negativen Ergebnissen begegnet. Sie sind aus der Sicht der Herausgeber der wissenschaftlichen Zeitschriften nicht interessant, da sie - scheinbar - nichts Neues bringen. Es ist selbstverständlich viel interessanter darüber zu berichten, dass die Marslandung geglückt ist, als dass auch der zehnte Versuch fehlgeschlagen ist. Diese Präferenz ist nachvollziehbar, obschon es auch klar sein sollte, dass es für die Effizienz der medizinischen Forschung vorteilhaft ist zu wissen, dass eine Forschergruppe F den Brustkrebs einer bestimmten Gruppe von Patientinnen mit einem Präparat P zu behandeln versuchte und es zu keinem Erfolg gekommen ist. Denn angesichts dieser Ergebnisse wird die Forschergruppe F 1 nicht versucht sein, am Präparat P für diese Krebsform weiterzuforschen, und damit viel Zeit und Geld sparen können. Die Unterdrückung der Forschungsergebnisse kann aber auch finsterere Züge tragen, wenn nämlich die negativen Forschungsergebnisse vorenthalten werden, um ein bestimmtes Produkt oder konkret ein Medi- 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft 497 kament in ein besseres Licht zu stellen. Ein prominenter Fall einer derartigen Manipulation ist (möglicherweise) das berühmte Medikament gegen Grippe der Schweizer Firma Roche, Oseltamivir, das allgemein unter dem Namen Tamiflu bekannt ist. 2000 erlangte das Medikament die Zulassung der amerikanischen Federal Drug Agency (FDA) für die Behandlung und Prophylaxe der Influenza. 2002 erfolgte eine ähnliche Zulassung der European Medicines Agency (EMA). Aufgrund der Ängste infolge der Verbreitung der Vogelgrippe H5N1 begannen ab 2004 die Regierungen weltweit, Oseltamivir zu bevorraten. 2009 wurde festgestellt, dass sich ein neues Influenza-Virus A/ H1N1 in Nordamerika verbreitete, und im Juni 2009 erklärte die WHO Influenza A/ H1N1 zur „ Pandemie “ . Das amerikanische Center for Disease Control and Prevention (CDC), die WHO und das Europäische Zentrum für die Krankheitsprävention behaupteten, dass die Wirksamkeit von Tamiflu gegen Grippekomplikationen nachgewiesen sei, was die Regierungen auf der ganzen Welt wiederum dazu bewog, dieses Medikament für den möglichen Fall einer Pandemie zu bevorraten. Nach den vorhandenen Daten gaben allein die USA über 1,3 Milliarden Dollars für den Kauf des Medikaments aus. Die Behörden im Vereinigten Königreich kauften zwischen 2006 und 2013 Tamiflu bzw. ein Äquivalent der Firma GlaxoSmithKline (Zanamivir, verkauft unter dem Namen Relenza) im Wert von insgesamt 560 Millionen Pfund (ca. 930 Millionen Dollar). Unterdessen wurden Zweifel an die Wirksamkeit von Tamiflu laut. Ab 2010 forderte die Cochrane Collaboration 336 von Roche vollständige Offenlegung aller klinischen Studienberichte über Wirksamkeit und Nebenwirkungen des Medikaments. 337 Erst im April 2013 erklärte sich Roche jedoch dazu bereit (Cohen 2013). Ein Jahr später, im April 2014, wurden die Resultate der Auswertung dieser Daten schließlich bekannt. Die Spezialisten der Cochrane Collaboration kamen aufgrund der Beurteilung aller Daten zum Schluss, dass die positiven Effekte der Behandlung mit Tamiflu gegenüber den negativen Nebenwirkungen nicht überwiegen ( „ The revised Cochrane reviews, which were based on the full clinical trial data, conclude that the benefits of the drugs don ’ t outweigh the harms “ (Abbasi 2014), wobei das Ergebnis der Analyse der Beobachtungsstudien uneindeutig sei (ebd.). Diese 336 Die Cochrane Collaboration ist eine unabhängige und gemeinnützige nichtstaatliche Organisation, die aus mehr als 31.000 Freiwilligen in mehr als 120 Ländern besteht. Das Ziel der Organisation ist es, die medizinischen Forschungsinformationen auf systematische Weise zu organisieren, um die Entscheidungen zu begünstigen, welche von Personen in den Gesundheitsberufen, Patienten, politischen Entscheidungsträgern und anderen Entscheidungsträgern getroffen werden müssen. Die Gruppe unternimmt systematische Überprüfungen von randomisierten kontrollierten Studien von Gesundheitsinterventionen. Deren Resultate werden in der Cochrane Library veröffentlicht (http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Cochrane_Collaboration). 337 Die obige Darstellung basiert auf dem entsprechenden Artikel aus der englischen Wikipedia (http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Oseltamivir). 498 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Befunde bewogen Kamran Abassi, den International Editor des British Medical Journal, zu der Feststellung, dass über 20 Milliarden Dollar öffentlicher Gelder in den letzten Jahren für ein Medikament ausgegeben wurden, dessen Vorteile im besten Falle unsicher seien, und dies, weil die Entscheidungsträger nur über unvollständige Informationen über die Wirkungen und Nebenwirkungen des Medikaments verfügten: „ So, over $ 20bn of public money has been spent on stockpiling drugs of uncertain benefit, and decisions were based on incomplete data “ (Abbasi 2014). Nicht alle Experten sind mit dem kritischen Urteil der Cochrane Collaboration einverstanden. So stellte z. B. die EMA fest, dass sie weiterhin der Überzeugung sei, dass die Vorteile vom Tamiflu die Risiken überwiegen. Ähnlich hat sich z. B. auch die schweizerische Arzneimittelbehörde Swissmedic geäußert (Straumann 2014). Und in einem am 24. April 2014 in Nature erschienenen Artikel heißt es, dass viele Grippeforscher mit den Schlussfolgerungen des Cochrane Collaboration Berichtes nicht einverstanden seien, weil erstens die randomisierten kontrollierten Studien (RCTs), auf denen er basiere, nicht über ausreichende statistische Aussagekraft verfügten, um über die Auswirkungen des Medikaments bei Komplikationen und Hospitalisierungen (Krankenhausaufenthalten) urteilen zu können, und dass er zweitens die Ergebnisse mancher Beobachtungsstudien ausschließe, die bestätigten, dass sich das Medikament in der normalen klinischen Praxis als wirksam erwiesen habe (Butler 2014). Das Vorgehen der Firma Roche im Fall von Tamiflu bewegt sich an der Grenze zwischen einer legitimen und, wie bereits angedeutet, oft angewendeten Praxis der Nichtveröffentlichung negativer Befunde und einer böswilligen bzw. betrügerischen Unterschlagung unliebsamer Befunde mit der Absicht, die Öffentlichkeit über die Wirksamkeit eines Präparats zu täuschen. Wie das Urteil in diesem Fall letztendlich ausfallen wird, lässt sich derzeit nicht abschließend sagen, und ich will darüber auch nicht spekulieren. Ich habe das Beispiel nur erwähnt, um auf die gravierenden Implikationen der Unterdrückung von Daten aufmerksam zu machen. Es geht oft nicht allein um Reputation und Karriere, sondern auch um sehr viel Geld. Das Problem der Nichtveröffentlichung von Forschungsergebnissen hat jedoch noch eine ganz andere Seite: Forscher wollen zwar ihre Ergebnisse veröffentlichen, die Veröffentlichung wird jedoch von den Zeitschriften verunmöglicht, weil der Ergebnisse nicht zum „ Konzept “ der Zeitschrift passen oder den Herausgebern schlicht unliebsam sind. Am 26. Februar 2013 ist in PNAS ein Artikel erschienen, dessen Autoren schreiben, dass die genomischen Reaktionen von Mäusen auf Entzündungskrankheiten kaum den Reaktionen im Menschen entsprechen: „ Here, we show that, although acute inflammatory stresses from different etiologies result in highly similar genomic responses in humans, the responses in corresponding mouse models correlate poorly with the human conditions and also, one another “ (Seok et al. 2013, S. 3507). Der Befund ist von außerordentlicher Wichtigkeit, denn Experimente an Mäusen spielen eine zentrale Rolle in der biomedizinischen 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft 499 Forschung, ja, sie bilden den Eckpfeiler in der Erforschung grundlegender pathophysiologischer Mechanismen und der Beurteilung von neuen Therapien und mithin auch bei der Zulassung neuer Medikamente zu den klinischen Studien. Bis jetzt wurde angenommen, dass, da das Mäusegenom dem menschlichen Genom verhältnismäßig ähnlich ist, auch die physiologischen Reaktionen beider Gattungen ähnlich sind. Da ferner Mäuse im Labor billig und unproblematisch zu halten sind und das Töten oder Verletzen von Mäusen als ethisch unproblematisch gilt, wurden sie zum Standard- „ Modelltier “ für die Erforschung von menschlichen Erkrankungen. Der Befund, dass die Reaktionen von Mäusen auf pathogene Einflüsse weit von den Reaktionen menschlicher Organismus abweichen, erklärt zunächst die Tatsache, dass sich viele Präparate, welche erfolgreich an Mäusen getestet wurden, im Menschen als wirkungslos erweisen, 338 hat aber darüber hinaus und vor allem das Potential, die ganze biomedizinische Forschung oder zumindest ihre bedeutenden Segmente auf den Kopf zu stellen. Das Erscheinen des Artikels ist deshalb ein wichtiges wissenschaftliches Ereignis. Die Vorgeschichte der Publikation, wie sie am 11. Februar 2013 in der New York Times geschildert wurde (Kolata 2013), lässt allerdings aufhorchen: Dort erzählte einer der Autoren der Studie, Dr. Ronald Davis, die Forschergruppe habe ein Jahr lang versucht, den Artikel entweder in Science oder in Nature zu veröffentlichen, aber lauter Absagen bekommen. Daran ist zunächst nichts Besonderes: Nach Ginger Pinholster, Director des AAAS Office of Public Programs, bei Science für Kontakte zu den Medien zuständig und in dem angeführten Artikel zitiert, akzeptiert Science schließlich nur ca. 7 % der jährlich eingereichten ca. 13.000 Artikel. Es ist also durchaus denkbar, dass der Artikel von Davis et al. einfach die strengen Kriterien der beiden Zeitschriften, die schließlich die besten und einflussreichsten in der Welt sind, nicht erfüllte. Man kann jedoch Zweifel an dieser harmlosen Erklärung haben. Denn wie Davis ebenfalls berichtete, bekamen die Forscher von ihren Gutachtern (Peer Reviewers) keine wissenschaftliche Begründung für die Absagen. Als Grund für die Zurückweisung des Artikels wurde vielmehr angegeben, dass die Ergebnisse einfach falsch sein müssen: „ [T]he most common response was, ‘ It has to be wrong. I don ’ t know why it is wrong, but it has to be wrong ’“ (Kolata 2013). Nach der Publikation sieht die Sache plötzlich ganz anders aus. Die New York Times zitiert die Meinungen zweier hervorragender Wissenschaftler. Mitchell Fink, Sepsisexperte an der University of California, Los Angeles, stellte zur Studie fest: „ This is a game changer. [. . .] When I read the paper, I was stunned by just how bad the mouse 338 „ Murine models have been extensively used in recent decades to identify and test drug candidates for subsequent human trials [. . .]. However, few of these human trials have shown success [. . .]. The success rate is even worse for those trials in the field of inflammation, a condition present in many human diseases. To date, there have been nearly 150 clinical trials testing candidate agents intended to block the inflammatory response in critically ill patients, and every one of these trials failed [. . .] ” (ebd., S. 3507). 500 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft data are. [. . .] It ’ s really amazing - no correlation at all. These data are so persuasive and so robust that I think funding agencies are going to take note “ (ebd.). Und Richard Wenzel, ehemaliger Leiter der Abteilung für Innere Medizin an der Virginia Commonwealth University und ehemaliger Herausgeber des New England Journal of Medicine, urteilte: „ It ’ s amazing. [. . .] They are absolutely right on “ (ebd.). Es fragt sich, ob der Artikel von Seok et al. eine sehr seltene Ausnahme oder vielleicht einer von zahlreichen Artikeln ist, welche es nie zur Publikation schaffen, weil ihre Befunde zum gängigen Konzept dessen, was richtig und was falsch ist, nicht passen. Wir haben keine Antwort auf diese Frage, weil es praktisch unmöglich ist, den tatsächlichen Wert aller abgelehnten Artikel zu beurteilen. Die Möglichkeit kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sich unter ihnen weitere „ game changer “ befinden, welche „ absolutely right on “ sind, aber nicht anerkannt werden, und dass sich die Wissenschaft so der Notwendigkeit einer Kurskorrektur entledigt. Öffentliche Wahrnehmung der Wissenschaft Die zahlreichen Probleme der Wissenschaft und Missstände im Bereich der wissenschaftlichen Forschung, die in den letzten Jahren an die Öffentlichkeit gelangten, trugen dazu bei, dass das Ansehen der Wissenschaft stark gelitten hat. Es ist nicht einfach, diese Feststellung mit harten Zahlen zu belegen, aber es scheint angebracht zu behaupten, dass in den Jahren unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg und bis in die 60er, 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in den westlichen Gesellschaften eine Haltung der Bewunderung für und Hoffnung in die Wissenschaft dominierte. Dagegen ergab eine im Jahr 2000 vom britischen Office of Science and Technology (ein „ non-ministerial government department of the British government “ ) und des Welcome Trust durchgeführte Studie zur Einstellung der britischen Öffentlichkeit zur Wissenschaft (Sainsbury und Dexter 2000), dass 22 % der Befragten dezidiert einverstanden und weitere 39 % mit der Feststellung einverstanden waren: „ Science is driven by business - at the end of the day it ’ s all about money “ (ebd., S. 26). Mit der Aussage „ Science is out of control and there is nothing we can do to stop it “ waren 8 % der Befragten dezidiert einverstanden und weitere 28 % einverstanden, also insgesamt mehr als ein Drittel der Befragten (ebd.). Es ist ferner interessant, die Reaktionen der Befragten in verschiedenen Ländern auf die Aussagen „ Science and technology are making our lives healthier, easier and more comfortable “ und „ The benefits of science are greater than the harmful effects “ zu vergleichen (Sainsbury und Dexter 2000, S. 30). Im Vereinigten Königreich waren 67 % der Befragten mit der ersten Feststellung einverstanden (Daten aus dem Jahr 2000), in Neuseeland 85 % (1997), in den USA 89 % (1998) und in Japan 51 % (1995). In einer 1996 im Vereinigten Königreich durchgeführten Befragung waren mit der Feststellung „ Science and technology are making our lives healthier, easier and more comfortable “ 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft 501 dagegen noch 73 % der Befragten einverstanden. Innerhalb von nur vier Jahren ist der Anteil der Menschen, die von den Vorzügen der Wissenschaft überzeugt waren, also um 6 % gesunken (Sainsbury und Dexter 2000, S. 30). Was die zweite Feststellung betrifft, so waren mit ihr im Vereinigten Königreich im Jahr 2000 nur 43 % der Befragten (1996 45 %), in Neuseeland (1997) 45 %, in den USA (1998) 75 % und in Japan (1995) 64 % einverstanden. (Es wäre interessant zu wissen, was die Japaner zu diesem Thema nach der Fukushima-Katastrophe denken.) Zum Vergleich die Ergebnisse des neuesten mir zugänglichen Eurobarometers in Bezug auf die Einstellungen zur Wissenschaft in verschiedenen Ländern der Europäischen Gemeinschaft (Eurobarometer 2010). Die Autoren der Studie stellen fest, dass der Anteil der Befragten, die mit der Feststellung: „ Science makes our lives healthier, easier and more comfortable “ einverstanden sind, in den letzten Jahren verhältnismäßig stark abnimmt. 2005 waren mit dieser Feststellung 32 % der Befragten dezidiert einverstanden ( „ totally agree “ ), 2010 sank dieser Anteil auf 19 %. Der Anteil der Befragten, welche mit der gleichen Feststellung einverstanden sind ( „ totally agree + tend to agree “ ), sank im gleichen Zeitraum von 78 % auf 66 % (Eurobarometer 2010, S. 32). Diese Tendenz war übrigens extrem stark bei den jüngsten Befragten in Frankreich ausgeprägt. Während unter den zwischen 1963 und 1976 geborenen Personen etwa die Hälfte 2008 angab, mit der Feststellung einverstanden zu sein, sank dieser Anteil bei den nach 1977 geborenen Befragten auf ca. 30 % (Bauer 2009, S. 13). Symptomatisch für die Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung der Wissenschaft in den letzten fünf bis sechs Dekaden ist der Titel einer mehrstündigen Sendung, die am 2. September 2011 (wiederholt am 2. März 2014) das Schweizer Radio SRF in der Reihe HörPunkt ausstrahlte: „ Tatort Wissenschaft “ . Die Sendung war in die Themenbereiche Tatort Schreibtisch, Tatort Labor, Tatort Feld, Tatort Werkstatt und Tatort Praxis gegliedert und behandelte eine breite Palette von Formen des wissenschaftlichen Fehlverhaltens: Betrug und Plagiat, die „ Verbesserung “ (oder Fälschung) bzw. das Erfinden experimenteller Daten, die Entwendung von Kunstschätzen oder sonstigen wertvollen Fundgegenständen aus ihren Ursprungsländern, z. B. Ägypten oder Griechenland, Behandlungsfehler in der Medizin, die verbrecherische Anwendung von Wissenschaft, wie z. B. durch den berüchtigten Nazi-Arzt Josef Mengele in Auschwitz und die unrühmlichen Anwendungen von wissenschaftlichen Erfindungen, um die Kriegsmaschine anzutreiben (z. B. Entwicklung von Giftgas am Anfang des 1. Weltkrieges, von Atom- und Wasserstoffbombe im 2. Weltkrieg und in den Jahren danach) usw. 339 339 Vgl. auch die vernichtende Kritik der gegenwärtigen Pharmaindustrie im 2013 erschienen Buch von Prof. Peter C. Gøtzsche, Facharzt für Innere Medizin und Autor von über 50 Artikeln in peer-reviewed wissenschaftlichen Zeitschriften: Deadly medicines and organised crime how big pharma has corrupted healthcare (Gøtzsche 2013). 502 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Fazit Die Wissenschaft leidet gegenwärtig unter einem erheblichen Vertrauensverlust der Öffentlichkeit und unter einem ebenso erheblichen Begründungsdefizit. Doch trotz dieser „ Beunruhigungen “ ist in der konkreten Forschung bis heute im Wesentlichen alles beim Alten geblieben: Das intellektuelle Erdbeben, das der Zerfall des logischen Positivismus auslöste, und die nachfolgende scharfe Kritik am wissenschaftlichen Betrieb seitens der Soziologie der Wissenschaft, der feministischen Erkenntnistheorie und der qualitativen Forschung hat scheinbar keine Spuren in der wissenschaftlichen Praxis hinterlassen. Diese geht ihre gewohnten Wege: Die Forschungsmethoden haben sich nicht verändert, sie haben sich in den letzten Jahrzehnten durch die Entwicklung neuer, präziserer Forschungsinstrumente lediglich wesentlich verfeinert. Vielleicht ist gleichwohl selbst in der Mainstream- Wissenschaft etwas anders geworden. Wir haben dieses „ etwas “ bereits am Anfang des Abschnitts „ Empirische Rätsel der Wissenschaft “ anklingen lassen: Innerhalb der Wissenschaft ist die Bereitschaft entstanden, die vorhandenen Erklärungslücken einzugestehen. Der Ton der Überheblichkeit, der noch am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts in der Wissenschaft herrschte (wir erinnern uns an die Behauptungen zahlreicher Wissenschaftler jener Zeit, dass man am Ende der Forschung stehe, dass alle Welträtsel demnächst enträtselt sein werden), ist einer neuen Bescheidenheit gewichen. Die Wissenschaftler sind heute bereit zuzugeben, dass man noch nicht alles weiß. Einige sagen sogar, dass man das Allermeiste noch nicht verstanden habe, ja, es gibt sogar unter den „ orthodoxen “ Wissenschaftlern Stimmen, die darauf hinweisen, dass die wissenschaftliche Erforschung der Natur vielleicht nie abgeschlossen sein wird. Wir haben diese Bescheidenheit sowohl auf dem Felde der empirischen als auch auf dem Felde der theoretischen Rätsel der Wissenschaft wahrgenommen. Ob es sich um die Astrophysik oder die Quantenmechanik, die Stringtheorie oder allgemein die Wissenschaftstheorie handelt, nirgends hört man, dass wir heute bereits „ alles im Griff “ hätten, sondern im Gegenteil, dass es noch sehr viel zu tun, zu erforschen, zu klären gebe. Diese neue Bescheidenheit ist auch verständlich in Anbetracht der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, die uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt haben, dass unsere Vorstellung, dass wir die Kräfte der Natur bereits beherrschen, eine Illusion ist. Man kann in diesem Zusammenhang z. B. an die Affären um DDT und Thalidomid erinnern: Was von der Wissenschaft als Wundermittel gepriesen wurde, entpuppte sich als gefährliches Gift. Auch die Katastrophen in Tschernobyl und Fukushima haben gezeigt, dass die Wissenschaftler die Technik, welche sie kreierten, nicht immer und ganz im Griff haben. Man denke auch an die verunglückten Raumfähren Challenger und Columbia, die uns klar gemacht haben, dass die Raumfahrt doch nicht ganz so leicht und selbstverständlich ist wie die Taxifahrt vom Bahnhof zum 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft 503 Hotel. Und schließlich haben uns der Tsunami über dem Indischen Ozean vom Dezember 2004 und das Erdbeben auf Haiti 2010 mit ihren Hunderttausenden von Toten oder auch der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull, ebenfalls 2010, mit seinen gravierenden Folgen für den Luftverkehr daran erinnert, dass die Natur über Kräfte verfügt, die wir nie werden beherrschen können. Nicht zuletzt ist auf die Klimaerwärmung hinzuweisen, die uns mit allem Nachdruck die Nachteile einer durch die Wissenschaft vorangetriebenen Industrialisierung aufzeigt. Die oben diskutierte veränderte Wahrnehmung der Stellung der Wissenschaft in der Gesellschaft ist gewiss nicht in erster Linie auf die heute anerkannten empirischen oder theoretischen Rätsel, Probleme und Lücken der Wissenschaft, sondern vor allem auf solche „ realen “ Erfahrungen der letzten Jahrhunderthälfte zurückzuführen. Die Wissenschafts- und Technikgläubigkeit, die noch unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg allgemein herrschte, ist verflogen. Millionen stehen zwar immer noch Schlange, um das neuste iPhone zu kaufen, aber die breite Öffentlichkeit sehnt sich nicht mehr nach der Eroberung des Mondes oder des Mars. Der kühne Traum, die „ final frontier “ zu erobern, ist prosaischeren Zielen gewichen: dem Kampf gegen Krieg, Hunger, Arbeitslosigkeit, Terrorismus, epidemische Krankheiten, Klimaerwärmung. Wir haben zwar die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Wissenschaft zur Überwindung dieser Probleme wesentlich beitragen wird, aber da sie an der Entstehung von zumindest einigen von ihnen beteiligt war, können wir in ihr unmöglich das alleinige Heilmittel gegen die heutigen Plagen der Menschheit sehen. Der Wissenschaftler ist kein Gott oder Hohepriester mehr und er trägt auch keine weiße Weste einer reinen Erkenntnis. Die Wissenschaft hat ihre Unschuld verloren. Und die Menschen sehnen sich nach etwas anderem, was ihnen Linderung ihrer Sorgen bringen könnte. Aber wonach? 4 f Exkurs: Einige empirische Probleme des wissenschaftlichen Paradigmas im Detail 4 f i Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? 340 Es ist fast eine Tautologie geworden zu sagen, dass das Gehirn bewusste Erfahrung, Bewusstseinszustände oder allgemeiner Bewusstsein 341 produ- 340 Die Grundlage für diesen Exkurs bilden meine Beträge zu diesem Thema, welche 2008 im Merkurstab und 2012 im Journal of Consciousness Studies veröffentlicht wurden. Das damals veröffentlichte Material wurde für das vorliegende Kapitel wesentlich umgearbeitet (und der englische Artikel von mir ins Deutsche übertragen) und, soweit es mir möglich war, aktualisiert. 341 Es ist nicht einfach, das Bewusstsein zu definieren. In einem kürzlich erschienenen Artikel diskutiert Vimal nicht weniger als vierzig mögliche Konzeptionen dieses Begriffs (Vimal 2009). Im Folgenden gehe ich von einem Konzept aus, das sich in 504 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft ziert (verursacht). Wir lesen fast täglich, dass das Gehirn lerne, Entscheidungen treffe, Erinnerungen bilde bzw. „ speichere “ , unser Verhalten steuere usw. Aber tut es all dies wirklich? Oder um die Frage ein wenig vorsichtiger zu formulieren: Können wir wirklich sicher sein, dass es dies tut? Wir meinen über fast erdrückende empirische Beweise zu verfügen, die diese zentrale Lehre bestätigen: 1) Wird ein Teil des Gehirns zerstört, so werden auch gewisse mentale Funktionen zerstört bzw. zumindest beeinträchtigt, ergo ist das Gehirn für diese Funktionen notwendig. (Diese Argumentation geht mindestens auf die Studien von Broca [Broca 1861] und Wernicke [Wernicke 1874] zurück 342 .) 2) Wird das Gehirn in geeigneter Weise stimuliert - elektrisch (vgl. z. B. Penfield und Jasper 1954; Libet 1973), magnetisch (vgl. z. B. Persinger 2001) oder chemisch (vgl. z. B. Linton und Langs 1962; Snyder 1986), so werden Änderungen des bewussten Zustandes des Probanden erzeugt, ergo ist eine Veränderung des Gehirnzustandes ausreichend für eine Veränderung des Bewusstseinszustandes. 3) Wir können genau vorhersagen, welcher Teil des Gehirns aktiv sein wird, während eine bestimmte mentale Aktivität stattfindet; wir können auf der Grundlage der Analyse der Gehirnaktivität fast genau sagen, welche Gedanken eine Person derzeit denkt (Roth 2004; Reddy et al. 2010). 4) Wir können die Hirnaktivität in Muskeltätigkeit übersetzen (vgl. z. B. Abbot 2006; Hochberg et al. 2006; Miller 2008). 5) Das Feuern/ Nichtfeuern von Neuronen entspricht den Einsen und Nullen des digitalen Codes. Das Gehirn produziert Bewusstsein mithin nach Art der Übertragung von digitalen Signalen in Bilder und Töne (wie MP3-Player, DVD-Player, Digital-Fernsehgeräte); daher auch die Metapher des Gehirns als Computer (vgl. z. B. Neumann 1958 oder in jüngerer Zeit Hameroff 2007). 6) Darüber hinaus wurde wiederholt gezeigt, dass neuronale Prozesse stattfinden, bevor das Bewusstsein eines mentalen Phänomens entsteht (vgl. z. B. Libet et al. 1982; Libet 1993; oder in jüngerer Zeit Haggard 2008), was eindeutig beweise, dass die neuronalen Prozesse das Bewusstsein und nicht etwa mit „ subjektive Darstellung der Welt “ umreißen lässt. Von den vierzig Bedeutungen des Begriffs „ Bewusstsein “ , die von Vimal diskutiert werden, ist diese Interpretation dem Verständnis von Chalmers 2003 am nächsten (vgl. Vimal ebd., S. 17). Allerdings ist es mir wichtig zu betonen, dass selbst einfache Tiere bewusst sind - wenn sie nicht schlafen - , weshalb ich die Fähigkeit, (mündlich) Informationen auszutauschen, nicht als wesentlich für das Bewusstsein erachte. Übrigens haben auch vorsprachliche Kinder offensichtlich nicht die Fähigkeit, ihre inneren (seelischen) Zustände sprachlich zu kommunizieren, man wird ihnen aber sicherlich nicht Bewusstsein absprechen. Träume sollten m. E. als eine Form der bewussten Erfahrung gelten, mithin Bewusstsein nicht als ein Ein-/ Aus-Phänomen angesehen werden, sondern als ein Kontinuum von eher trüben, dumpfen Formen wie beim Regenwurm bis zu den höchsten, hellsten Manifestationen wie die des abstrakten begrifflichen Denkens oder der Meditationszustände. Ferner sollte Bewusstsein als ein Aspekt der Erfahrung verstanden werden, ohne dass die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung dieser Erfahrung durch dieses Verständnis bereits präjudiziert ist. 342 Vgl. die aktuelle Review-Studie von Rorden und Karnath (Rorden und Karnath 2004). 4 f Einige empirische Probleme im Detail 505 das Bewusstsein die neuronalen Prozess erzeuge, da eine Ursache seiner Wirkung immer vorausgehe und ihr unmöglich folgen könne. Bevor ich den Versuch unternehme zu zeigen, dass diese Argumente nicht ausreichend sind, um einen neuronalen Reduktionismus zu etablieren, nach dem das Gehirn das Bewusstsein produziert, möchte ich eine scheinbar absurde Frage stellen: Dreht sich die Erde um die Sonne oder die Sonne um die Erde herum? Die Antwort ist klar: natürlich die Erde um die Sonne! Aber wenn Sie über die Gründe für unsere Gewissheit in Bezug auf diese Erkenntnis reflektieren, werden Sie schnell feststellen, dass diese Aussage gegen den Strich unserer diesbezüglichen Erfahrung geht. Wir sehen nämlich, dass die Sonne auf- und untergeht, und wir haben umgekehrt keine direkte Erfahrung der Bewegung der Erde, weder ihrer Drehung um die eigene Achse noch ihrer linearen Bewegung auf der Umlaufbahn um die Sonne. Wenn Sie weiter bedenken, dass sich die Erde am Äquator mit einer Geschwindigkeit von etwa 1667 kmh -1 um ihre Achse dreht und dass sie sich auf ihrer Bahn um die Sonne mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 29.79 km -1 (bzw. über 107.000 kmh -1 ) bewegt, ist es eher verwunderlich, dass wir überhaupt keine direkte Wahrnehmung von diesen Bewegungen haben. Ohne die wohlbekannten Bilder der Erde aus der Umlaufbahn steht die Sache eigentlich immer noch so wie zur Zeit vor Kopernikus: Für unsere Sinne und für unsere Fußgängerlebenserfahrung dreht sich die Erde weder um die eigene Achse noch um die Sonne - Anschein und Lebensgewissheiten können also zutiefst trügerisch sein. Ist unsere Gewissheit bezüglich der kausalen Rolle des Gehirns bei der Entstehung des Bewusstseins vielleicht ebenso trügerisch? Der Verlust der mentalen Funktionen nach Hirnschädigungen ist nicht ausreichend, um die kausale Rolle des Gehirns bei der Entstehung von Bewusstsein zu beweisen Was kann deutlicher auf die Abhängigkeit des Bewusstseins vom Gehirn hinweisen als die vielfach belegte Tatsache, dass die Zerstörung von Teilen des Gehirns zur Zerstörung bzw. Beeinträchtigung psychischer/ mentaler Funktionen führt? Doch vielleicht ist das Gehirn für das Bewusstsein weniger notwendig, als es zunächst aufgrund dieser unkontroversen Tatsachen erscheint. Es sind Fälle von Menschen bekannt, die ein scheinbar normales Leben führen, obwohl sie nur (mehr oder weniger) die Hälfte des normalen Gehirns besitzen. Betrachten wir das folgende Bild, das The Lancet am 9. Februar 2002 veröffentlichte: 506 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Abb. 1: Borgstein und Grootendorst 2002, S. 473. (Abgedruckt mit Genehmigung von Elsevier) Es zeigt das Gehirn einer Person, deren dominante Hemisphäre chirurgisch entfernt wurde. Der Grund für diesen drastischen Eingriff ist der dem Bild hinzugefügten Legende zu entnehmen: Die Person, die ihm unterzogen wurde, litt am sogenannten Rasmussen-Syndrom, einer chronischen fokalen Enzephalitis oder akuten Entzündung des Gehirns. Dieses führte zu einer schwer behandelbaren Epilepsie mit rechtsseitiger Lähmung und schwerer Regression der Sprache. Die behandelnden Ärzte entschlossen sich, eine Hemisphärektomie durchzuführen, d. h. die betroffene Hemisphäre zu entfernen, weil sie das Risiko einer partiellen Lähmung des Körpers und des totalen Verlustes der Sprache für geringer hielten als die Gefahr, dass sich die Enzephalitis weiterverbreitet. Wie die angefügte kleine Notiz deutlich macht, kam es nach der Operation weder zu Lähmungen noch zu Sprachverlust. Die Patientin, ein Mädchen, wurde der Hemisphärektomie im Alter von drei Jahren unterzogen und war im Alter von sieben Jahren „ fully bilingual in Turkish and Dutch, while even her hemiplegia has partially recovered and it 4 f Einige empirische Probleme im Detail 507 is only noticeable a slight spasticity of her left arm and leg. She leads an otherwise normal life “ (ebd., S. 473). Bemerkenswert an diesem Bericht ist, abgesehen von den unsere Annahmen über die Rolle des Gehirns bei der Entstehung von Bewusstsein konterkarierenden Fakten, dass die kleine Notiz auf der linken Seite des Bildes der einzige „ Kommentar “ zu dem Fall ist. Mir scheint, dass der Bericht mit einem großen roten Titel, etwa „ Ein erstklassiges medizinisches Wunder: normales Leben mit der Hälfte des Gehirns “ , versehen und nicht nur in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, sondern auf den ersten Seiten einer jeden größeren Zeitung veröffentlicht und ausführlich diskutiert hätte werden sollen. Eine solche Diskussion hat jedoch nicht stattgefunden. Bereits zwei Jahre vor dem Erscheinen dieses Bildes wurde ein Buch veröffentlicht, das über einen sehr ähnlichen Fall berichtete (Battro 2000). Es wurde von dem Neurochirurgen Battro verfasst, der eine ähnliche Operation an einem dreijährigen Jungen durchgeführt hatte. Der Autor schrieb, dass die Erfahrung mit dem Jungen seine Ansichten zur Rolle des Gehirns, der Bildung und der geistigen Entwicklung grundlegend geändert habe (ebd., S. XII). Dennoch wurde, soweit mir bekannt ist, weder dieses Buch noch ein ähnlicher Bericht zu einem Bestseller und übte einen entscheidenden Einfluss auf die Mehrheitsmeinung bezüglich der Beziehung zwischen dem Gehirn und den Geist aus. Zum Zeitpunkt der Niederschrift des Buches gab es nach Battro etwa 100 Menschen in der Welt, die mit der Hälfte des Gehirns und in einer guten seelischen und körperlichen Verfassung lebten. Eine Follow-up-Studie mit 33 Kindern und Jugendlichen (Alter bei der Operation 0,33 bis 17 Jahre, Median 4,25; mediane Dauer des Follow-up 3,4 Jahre), die am Great Ormond Street Hospital in London zwischen 1991 und 1997 einer Hemisphärektomie unterzogen wurden, stellte fest, dass (erwartungsgemäß) bei der großen Mehrheit der Patienten die Häufigkeit von Anfällen nach der Operation signifikant abgenommen hat. Die Hemiplegie blieb bei 22 von 33 Kindern unverändert, wurde in sechs Fällen schlimmer und verbesserte sich in fünf. Darüber hinaus trat bei keinem der Patienten eine signifikante Verschlechterung kognitiver Fähigkeiten und/ oder ein Sprachverlust ein; vier Kinder zeigten eine signifikante Verbesserung der kognitiven Leistungen (Devlin et al. 2003, S. 556). 2007 wurde ein kurzer Bericht über einen anderen faszinierenden Fall veröffentlicht, wieder in The Lancet (Feuillet et al. 2007). Es handelt sich um die Geschichte eines 44-jährigen französischen Staatsbeamten und Vaters von zwei Kinder, der wegen einer anhaltenden Schwäche des linken Beins ärztliche Hilfe aufsuchte. Bei der Untersuchung des Patienten stellte sich heraus, dass sein Gehirnventrikel massiv erweitert war, was sein Gehirn zu einem dünnen Mantel, der gegen den Schädel gequetscht war, reduzierte (Abbildung 2). 508 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Abb. 2: Feuillet et al., 2007, S. 262. (Abgedruckt mit Genehmigung von Elsevier) Alles, was über diesen Fall berichtet wurde, ist in Abbildung 2 wiedergegeben; soweit ich weiß, hat niemals eine Diskussion dieses erstaunlichen Falls in dieser Zeitschrift oder anderswo stattgefunden. Zwei Jahre später, also 2009, wurde in den renommierten Proceedings of the National Academy of Sciences eine Studie veröffentlicht, die die kognitive Leistungsfähigkeit eines Mädchens untersuchte, bei dem im Alter von drei Jahren entdeckt wurde, dass es mit nur einer Gehirnhälfte geboren worden war (Muckli et al. 2009; Abbildung 3). 4 f Einige empirische Probleme im Detail 509 Abb. 3: Muckli et al. 2009, S. 13035. (Abgedruckt mit Genehmigung von The Proceedings of the National Academy of Sciences) Interessanterweise beschäftigt sich die Studie zwar mit der Entwicklung von bilateralen Feldkarten, erwähnt aber mit keinem Wort das „ Wunder “ , dass das Mädchen ein so normales Leben führte, dass es beinahe des Zufalls bedurfte, um zu entdecken, dass ihm ein Teil des Gehirns fehlt. Die Autoren der Studie stellen lediglich nüchtern fest, dass das Mädchen bei der Geburt keine rechte Hemisphäre aufwies, scheinen darüber aber nicht besonders erstaunt: The loss of AH ’ s right hemisphere had been discovered when she was 3 1/ 2 years old and underwent an MRI scan because of myoclonic seizures (brief, involuntary twitching) on the left side. Apart from these successfully treated seizures and a hemiparesis, AH ’ s developmental and medical history was normal. She successfully attends a regular school and masters activities requiring bilateral coordination such as roller skating and bike riding. Our structural MRI measurements at the 510 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft age of 10 confirmed the complete loss of AH ’ s right cerebral hemisphere including the telencephalon and almost the entire diencephalon. (Ebd., S. 13035) Eigentlich sind solche Befunde nicht neu. Einige Zeit nach der Veröffentlichung meiner beiden Artikel zu dem Thema habe ich fast zufällig entdeckt, dass bereits 1980 Science einen Artikel über Forschungen des einflussreichen englischen Neurobiologen und Pädiaters John Lorber (1915 - 1996) an Menschen veröffentlicht hatte, die durch unterschiedliche Umstände ein nur rudimentäres Gehirn besaßen und dennoch ein normales Leben führten. Der Artikel mit dem Titel „ Is Your Brain Really Necessary? “ (Lewin 1980) gab Anlass zu einer lebhaften medizinischen Debatte und zu einem gleichnamigen Dokumentarfilm des Yorkshire Television. Der Artikel stellte ausführlich den Fall eines Studenten der Universität Sheffield dar, dessen IQ 126 betrug und der sein Lizentiat-Mathematikstudium mit einem sehr guten Ergebnis abgeschlossen hatte. Infolge einer Hydrocephalie hatte er anstatt des normalen Kortex mit einer Dicke von ca. 4,5 Zentimetern lediglich eine dünne Gehirnschicht von ca. 1 Millimeter (Lewin ebd., S. 1232). Lorber hatte Daten von mindestens 30 solcher Fälle gesammelt und aus ihnen geschlussfolgert, dass „ there must be a tremendous amount of redundancy or spare capacity in the brain, just as there is with kidney and liver. [. . .T]he cortex probably is responsible for a great deal less than most people imagine “ . (Zitiert in Lewin ebd., S. 1233) Der Verfasser des Artikels, Roger Lewin, ein preisgekrönter britischer Wissenschaftsjournalist und Autor von 20 Büchern, zitiert den Anatomieprofessor Patrick Wall vom University College London mit den Worten: Scores of similar accounts litter the medical literature, and they go back a long way, but the important thing about Lorber is that he ’ s done a long series of systematic scanning, rather than just dealing with anecdotes. He has gathered a remarkable set of data and he challenges, „ How do we explain it? “ (Ebd., S. 1232) Liest man eine solche Feststellung, so fragt man sich: Wenn solche Fälle bereits seit längerer Zeit bekannt sind, warum werden sie nicht entsprechend ernst genommen? Warum zieht man nicht den Schluss, der sich aus diesen Befunden natürlich ergibt, und den bereits Lorber gezogen hat, dass nämlich „ the cortex probably is responsible for a great deal less than most people imagine “ ? Erfolgreiche Hemisphärektomien, von denen 2002 in The Lancet und 2000 in dem Buch Half a Brain is Enough: The Story of Nico berichtet wurde, sind in der Medizingeschichte eigentlich nichts Neues. Am 3. Juli 2006 erschien im New Yorker ein bemerkenswerter Artikel unter dem Titel „ The Deepest Cut “ (Kenneally 2006) 343 , dessen Autorin Christine Kenneally berichtet, dass die erste Hemisphärektomie an einem Menschen bereits 1923 durchgeführt 343 Elektronisch zugänglich unter: http: / / www.newyorker.com/ archive/ 2006/ 07/ 03/ 060703fa_fact? printable=true&currentPage=5. Da ich den Artikel anhand dieser elek- 4 f Einige empirische Probleme im Detail 511 wurde. Der Eingriff verlor aber bald aufgrund von Komplikationen an Popularität und wurde erst in den 1980er Jahre wiederaufgenommen, insbesondere vom pädiatrischen Neurochirurgen John Freemans vom Johns Hopkins Hospital in Baltimore Maryland und später von seinem Kollegen Ben Carsons. Zusammen haben sie Dutzende solcher Operationen mit positiven Ergebnissen durchgeführt. Auf die Frage, wie es möglich sei, mit nur einer Gehirnhälfte ein normales Leben zu führen, antworteten sie mit der Plastizität, Flexibilität und der Redundanz großer Partien des Gehirns; aber dann „ they smiled and said the same thing: ‘ We don ’ t really know ’“ (Kenneally 2006; vgl. auch Bell und Karnosch 1949; Choi 2007). Es stellt sich somit erneut die Frage, wieso diese seit langem bekannte Tatsache bislang nicht zu einem grundsätzlichen Umdenken des Verhältnisses Gehirn - Geist geführt hat. Wissen wir womöglich nicht, welcher Art dieses Verhältnis ist? Eine andere Argumentationslinie: Nahtoderlebnisse Es gibt eine weitere Argumentationslinie, welche die heute allgemein vorausgesetzte starke Abhängigkeit des mentalen Lebens vom Gehirn radikal in Frage stellt. Diese Argumentationslinie kann man als das Argument des Nahtoderlebnisses bezeichnen. Das Phänomen der sog. Nahtoderlebnisse, also komplexer Erfahrungen, welche Menschen, die sich äußerlich betrachtet im Koma (also in einem Zustand vollständiger Bewusstlosigkeit) befinden, werde ich weiter unten im Kapitel „ Wissenschaft gegen den Materialismus “ anhand der relevanten Literatur ausführlich behandeln. Da jedoch in der letzten Zeit Berichte über Forschungen zirkulierten, die angeblich nachwiesen, dass diese Erlebnisse bloß eine Reaktion des sterbenden Gehirns auf diese Situation seien (Borjigin et al. 2013), möchte ich an dieser Stelle einen konkreten Fall schildern, der geeignet ist, diese These zu widerlegen. Das berühmte 1975 veröffentlichte Buch von Raymond Moody Life after Life, das die Phänomene der Nahtoderlebnisse einer breiten Öffentlichkeit bekannt machte, konnte darauf nicht eingehen. Für das heutige Klima bezeichnend ist allerdings, dass er, obwohl spätestens seit 1998 bekannt, seither nicht die Aufmerksamkeit erlangt hat, die er verdient. 344 Bei dem genannten Fall handelt es sich um die Erfahrung der 35 Jahre alten Patientin Pamela Reynolds, die unter einem gigantischen Aneurysma der Arteria basilaris (eine der Schlagadern, die das Gehirn mit sauerstoffreichem Blut versorgt) litt. Das Platzen des Aneurysma würde zwangsläufig zum Tode der Patientin führen. Die Größe und die Position dieses Aneurysma tronischen Fassung zitiere, kann ich leider die Seitenzahlen der zitierten Stellen nicht angeben. 344 Im Weiteren folge ich der Beschreibung dieses Falles in Sabom 1998. Da ich aus der elektronischen Fassung dieses Buches zitiere, kann ich die Seitenzahlen der zitierten Stellen nicht angeben. 512 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft machten eine Entfernung mittels neurochirurgischen Standardtechniken jedoch unmöglich. Man hat sich deshalb für eine unkonventionelle Behandlung in einem dafür spezialisierten Spital entschieden: Die Blutzufuhr zum Gehirn wurde vollständig unterbrochen und die Körpertemperatur der Patientin auf 15°C gesenkt werden, so dass das Gehirn während der Entfernung des Aneurysmas möglichst wenig Schaden erleidet. Die Operation begann um 7.15 h, der Zustand der Patientin, insbesondere des Gehirns und des Herzens, wurde während des mehrere Stunden andauernden Eingriffs ständig beobachtet. Besonders zu erwähnen ist, dass die Augen der Patientin geölt und verklebt wurden, um ihre Austrocknung zu verhindern, so dass die Patientin also keine visuellen Reize empfangen konnte, und dass in ihren Ohren spezielle Miniboxen platziert wurden, welche periodisch 100 Dezibel laute Klicks emittierten. Diese Maßnahme sollte gewährleisten, dass man sich mittels des EEG vergewissern konnte, dass die Gehirnfunktion völlig ausgeschaltet war. Zeigte das EEG irgendwelche Erregungen an, so würde das bedeuten, dass das Gehirn noch nicht vollständig „ tot “ war und die Operation noch nicht ausgeführt werden konnte. Diese Maßnahme bedeutete aber selbstverständlich auch, dass die Patientin unmöglich etwas während der Operation hören konnte. Die Instrumente zeigten um 11.25 h an, dass Pam Reynolds Herz anhielt und das Gehirn völlig „ tot “ war. Die Operation begann. Um ca. 12.00 h fing man an, warmes Blut in ihren Leib zu pumpen, um das Erwachen einzuleiten. Um 14.10 h wurde die Patientin in den Aufwachraum transportiert. Pamela Reynolds war also ca. eine halbe Stunde lang nachweislich klinisch tot. Bemerkenswert an dem Fall ist, dass Pamela Reynolds unter präzis kontrollierten Umständen eine ausgedehnte Nahtoderfahrung hatte. Nicht nur konnte sie nach ihrem Erwachen aus der Narkose (und aus dem Koma) recht genau und nachweislich korrekt den Verlauf der Operation schildern, sondern sie berichtete auch von dem für die Nahtoderfahrungen typischen Durchgang durch den Tunnel, von Begegnungen mit ihren verstorbenen Verwandten und von der Vision des Lichtes. Mit ihren eigenen Worten: At some point very early in the tunnel vortex I became aware of my grandmother calling me. But I didn ’ t hear her call me with my ears. . . It was a clearer hearing than with my ears. I trust that sense more than I trust my own ears. The feeling was that she wanted me to come to her, so I continued with no fear down the shaft. It ’ s a dark shaft that I went through, and at the very end there was this very little tiny pinpoint of light that kept getting bigger and bigger and bigger. The light was incredibly bright, like sitting in the middle of a lightbulb. It was so bright that I put my hands in front of my face fully expecting to see them [die Gestalten der Verwandten] and I could not. But I knew they were there. Not from a sense of touch. Again, it ’ s terribly hard to explain, but I knew they were there. . . I noticed that as I began to discern different figures in the light - and they were all covered with light, they were light, and had light permeating all around them - they began to form shapes I could recognize and understand. I could see that one of 4 f Einige empirische Probleme im Detail 513 them was my grandmother. I don ’ t know if it was reality or projection, but I would know my grandmother, the sound of her, anytime, anywhere. (Sabom 1998) Der Fall Pamela Reynolds zeigt, dass auch im nachgewiesenen Zustand des klinischen Todes sinnliche Wahrnehmung möglich ist. Diese Tatsache muss innerhalb des materialistischen Paradigmas, nach dem das Bewusstsein vom Gehirn erzeugt wird, völlig unerklärlich bleiben. Dass Menschen bewusste Erlebnisse haben können, auch ohne dass elektrische Gehirnaktivität gemessen wird, stellt einen offensichtlichen Widerspruch zu der Annahme dar, dass das Gehirn für die bewusste Erfahrung notwendig ist. Man kann im Fall von Pamela Reynolds einwenden, dass die Erfahrungen des Durchgangs durch den Tunnel und der Begegnung mit den verstorbenen Verwandten nicht während des Gehirnstillstandes zustande kam, sondern erst nachdem Blut in den Körper von Pamela Reynolds gepumpt wurde, also als das Gehirn aus dem klinischen Tod allmählich zu erwachen begann. Die oben erwähnte Studie, die bei Ratten eine signifikante Erhöhung der Gehirnaktivität kurz vor dem Tode nachgewiesen hat (Borjigin et al. 2013), liefert diesbezüglich keinen Aufschluss, denn es ist damit nicht gesagt, dass sie sich auch beim Erwachen aus dem Koma, also quasi nach dem (klinischen) Tod, steigert. Im Fall von Pamela Reynolds wurde jedenfalls keine solche dramatische Steigerung der Gehirnaktivität beim Erwachen festgestellt. Selbst wenn eine solche Steigerung festgestellt worden wäre, bleibt jedoch die Begegnung mit ihren verstorbenen Verwandten ungeklärt. Die Raten aus der Studie von Borjigin et al. Studie wurden nicht gefragt, ob sie in dem Zustand der genannten Gehirnerregung auch Visionen ihrer verstorbenen Verwandten hatten. Tatsächlich werden sie nie danach gefragt werden können. Die Hypothese der Entsprechung des von Borjigin et al. entdecken Phänomens und der menschlichen Nahtoderfahrung wird daher empirisch unbestätigt bleiben. Eine weitere Argumentationslinie: terminale Geistesklarheit Eine weitere Argumentationslinie gegen die These von der Abhängigkeit der bewussten Erfahrung vom Gehirn und seiner elektrischen Aktivität stützt sich auf das Phänomen der sog. „ terminal lucidity “ (terminale Geistesklarheit): Menschen, die oft jahrelang geistig stark behindert waren, die unter Alzheimer oder anderen Formen der Demenz litten, so dass sie mit der sozialen Umgebung nicht sinnvoll kommunizieren und selbst ihre Verwandten nicht erkennen konnten, erwachen kurz vor ihrem Tod plötzlich wie aus einem tiefen Schlaf und erlangen die geistigen Kräfte wieder, die ihnen vor ihrer Erkrankung eigen waren, oder verfügen aus völlig unerklärlichen Gründen sogar über wesentlich gesteigerte mentale Fähigkeiten. Ein extremes Beispiel dieses Phänomens wurde 1958 festgehalten. Es handelt sich dabei um eine Frau (Käthe), die jahrelang in einem Pflegeheim lebte, weil sie geistig zu stark behindert war, um ein normales Leben zu führen: 514 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft From birth on, she was seriously retarded and never learned to speak a single word. She could only utter animal-like voices; her bodily abilities did not exceed uncontrolled spasms. It never seemed that she took notice of what was happening around her even for a second. One day, Happich [der Direktor des Pflegeheimes] was called to immediately visit Käthe by a physician and psychiatrist of the asylum, Dr. Wittweber. Käthe was ill with tuberculosis and she was about to die. When entering the room, Happich was stunned. He continues: “ We did not believe our eyes and ears. Käthe, who never spoke one word, entirely mentally disabled from birth on, sang the dying songs to herself. Specifically, she sang ‘ Where does the soul find its home, its peace? Peace, peace, heavenly peace! ’ over and over again. For half an hour she sang. Then, she quietly died. Her face, up to then so stultified, was transfigured and spiritualized. Like myself and the present nurse, the physician had tears in his eyes. [Happich] stated repeatedly: ‘ I cannot explain this in medical terms. If demanded, I can prove by autopsy that [. . .] from an anatomical perspective, thinking could not have been possible ’” . (Ringger 1958, zitiert in Nahm 2009, S. 97) Ein besonders verblüffender Fall ist der einer Frau, die 20 Jahre lang geistig abwesend war und vier Wochen vor ihrem Tode (mit 47) aus dieser geistigen Umnachtung wie aus einem bösen Traum erwachte und plötzlich hohe geistige Eigenschaften zeigte, die ihr auch in den besten Zeiten ihres früheren Lebens nie eigen waren: Vier Wochen vor ihrem Tode erwachte sie endlich aus ihrem zwanzigjährigen schweren Traume. Aber die sie vor ihrem Wahnsinne gekannt hatten, kannten sie jetzt, in dem Zustande dieser letzten Verwandlung kaum wieder, so veredelt, erweitert und erhöhet waren alle Kräfte und Empfindungen ihrer geistiger Natur, so veredelt ihr Ausdruck. Sie sprach in dieser Zeit Dinge mit einer Klarheit und inneren Helle aus, welche der Mensch in seinem jetzigen Zustande nur selten oberflächlich erkennen lernt. Ihre Geschichte erregte Aufsehen: Gelehrte und Ungelehrte, Gebildete und minder Gebildete drängten sich an jenes merkwürdige Krankenbette, und Alle mussten eingestehen, dass, wenn auch die Kranke während der ganzen Zeit ihres Wahnsinnes den Umgang und die Belehrung der gelehrtesten und erleuchtetsten Männer ihrer Zeit genossen hätte, ihr Geist doch nicht gebildeter, ihre Erkenntnisse doch nicht umfangreicher und höher hätten sein können, als jetzt, wie sie aus einer so langen, tiefen Gefangenschaft aller Kräfte zu erwachen schien. (Schubert (1814/ 1968, S. 146, zitiert in Nahm 2009, S. 91. Vgl. auch Nahm 2012, S. 68) Solche Schilderungen könnte man fast beliebig vermehren. 345 Nahm et al. berichten, dass in den letzten 250 Jahren mindestens 83 solche Fälle von 55 Autoren dokumentiert wurden (Nahm et al. 2012, S. 138. Vgl. auch Nahm und Greyson 2009, S. 942 und Nahm 2009, S. 89). Nahm et al. weisen ebenfalls darauf hin, dass im 19. Jahrhundert den Ärzten das Phänomen der terminalen Geistesklarheit gut bekannt war, dass die Berichte jedoch gegen Ende des Jahrhunderts seltener wurden und aus der medizinischen Literatur im 345 Für eine ausführlichere Sammlung solcher Berichte vgl. Nahm 2012, S. 11 - 72. 4 f Einige empirische Probleme im Detail 515 20. Jahrhundert fast vollständig verschwanden. Erst in der jüngsten Vergangenheit scheint das Interesse an diesem Phänomen wieder zu erwachen. In diesem Zusammenhang ist abgesehen von den oben zitierten Übersichtsartikeln auch das umfangreiche Buch Wenn die Dunkelheit ein Ende findet. Terminale Geistesklarheit und andere Phänomene in Todesnähe von Michael Nahm (einen der Autoren der genannten Studien) zu erwähnen (Nahm 2012). Nahm berichtet in seinem Buch, dass in siebzig von über achtzig ihm bekannten dokumentierten Fällen der terminalen Geistesklarheit dieses Phänomen während der letzten Woche vor dem Tod der betreffenden Person, in rund der Hälfte der Fälle im Laufe des letzten Lebenstage, in einigen Fällen sogar in den letzten Minuten vor dem Tode eintrat (Nahm 2012, S. 23). Terminale Geistesklarheit bildet insbesondere deshalb eine ernste Herausforderung für das gegenwärtig herrschende Paradigma des Verständnisses des Gehirn-Geist-Verhältnisses, weil es zumindest in einigen Fällen nachgewiesen ist, dass das Gehirn der betreffenden Menschen weitgehend zerstört war. So berichtete z. B. 1815 Andrew Marshall über einen geisteskranken und sehr gewalttätigen Ex-Leutnant der Royal Navy, der unter einem so extremen Gedächtnisschwund litt, dass er sich nicht einmal an seinen eigenen Namen erinnern konnte: On the day before his death, he became rational and asked for a clergyman. With him, the patient conversed attentively and expressed his hope that God would have mercy on his soul. An autopsy revealed that his cranium was filled with a strawcoloured water to a degree that it widened parts of the brain, whereas the brain matter itself and the origin of the nerves were uncommonly firm, the olfactory nerves displaying an almost fibrose appearance. (Andrew Marshal (1815), S. 150, zitiert in: Nahm 2009, S. 92) 346 Nahm et al. machen auf die Herausforderung aufmerksam, die für den neuronalen Reduktionismus aus solchen Fällen erwächst: Some of the cases presented, particularly those involving destruction of brain tissue caused by tumors, strokes, or Alzheimer ’ s disease, pose difficulties for currently prevailing explanatory models of brain physiology and mental functioning. (Nahm et al. S. 141) Michael Nahm ist in seinem Buch noch expliziter. Er schreibt: Sind also zumindest manche Fälle von terminaler Geistesklarheit tatsächlich nicht mit biochemischen Panikreaktionen des Gehirns zu erklären, sondern eher mit der Ablösung des menschlichen Geistes vom Gehirn; oder seiner Seele, die ihre Schwingen ausbreitet und sich auf den Weg in die verborgene Hintergrundrealität des Lebens mit ihren geistig-psychischen Seinssphären macht? Ein unbefangener 346 Vgl. bei Nahm et al. 2012, S. 139 einen anderen Fall einer Person, die am Ende ihres Lebens ihre geistigen Kräfte vollständig wiedererlangte, deren Autopsie aber offensichtliche und extreme Gehirnschädigungen ans Licht brachte. 516 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Blick macht dies wahrscheinlich. Doch zur Absicherung dieser Vermutung bedarf es weiterführender Forschungsarbeit. (Nahm 2012, S. 272) Fazit Eine große Anzahl von empirischen Tatsachen belegt, dass wir Menschen eine fast wundersame Fähigkeit besitzen, verlorene oder nie vorhandene Teile des Gehirns ohne signifikanten Verlust der Funktion zu ersetzen. Man ist geneigt, dies mit der Plastizität des Gehirns oder anderen Fähigkeiten des Gehirns (zumindest einiger Partien derselben, insbesondere der des Hippocampus, neue Neuronen zu produzieren [vgl. z. B. Eisch et al., 2008]) zu erklären. Die Schwäche dieses Versuchs liegt darin, dass das gegenwärtige Verständnis der Funktionsweise des Gehirns in der Annahme wurzelt, dass die Struktur die Funktion bestimme (vgl. z. B. Persinger 2001, S. 515; Buzsáki 2006, S. 29 - 30), d. h., dass erst durch die Entwicklung von spezifischen Hirnstrukturen bestimmte psychische Funktionen möglich werden. Dann aber ist völlig unklar, warum bei Fehlen einer spezifischen Hirnstruktur eine andere Struktur die Funktionen übernehmen sollte. Das würde die Existenz einer höhere Steuerzentrale erfordern, die in der Lage wäre, die vorhandene Funktionslücke zu erkennen und Schritte einzuleiten, die zu ihrer Schließung führen, d. h. zur Transformation von bestehenden Strukturen in einer Weise, dass sie die Aufgaben ausführen können, die durch die beschädigten Teile erfüllt wurden. Noch ist nichts von der Existenz einer solchen Struktur (solcher Strukturen) im Gehirn bekannt und im Lichte unserer gegenwärtigen Einsicht in die dezentrale Organisation des Gehirns ist es auch äußerst schwierig, sich vorzustellen, wo sich eine solche befinden sollte. Dagegen wird eingewandt, dass eine solche Struktur überhaupt nicht notwendig sei, da das Gehirn ungenutzte Ressourcen besitze, die im Notfall aktiviert werden können. So gebe es z. B. empirische Befunde, die darauf hindeuten, dass die linke Hemisphäre die rechte Hemisphäre an der Verarbeitung von Sprache und Algebra hindere, dass mithin die rechte Hemisphäre in der Lage sei, eine solche Verarbeitung durchzuführen (Devlin et al. 2003). Wenn dem so ist, würden nach einer Hemisphärektomie der dominanten Halbkugel also die bisher verborgenen Potentiale der rechten Hemisphäre manifest. 347 Die Studie von Devlin et al. scheint diese These zu unterstützen, insofern keine wesentlichen kognitiven Beeinträchtigungen und kein Verlust der Sprache bei einem der operierten Kinder eingetreten sind. Die Situation ist jedoch bei den motorischen Fähigkeiten eine andere. Wie oben erwähnt, blieb die Hemiplegie nach der Operation in 22 von 33 Fällen unverändert, verschlechterte sich in sechs und verbesserte sich in nur fünf Fällen. Dies zeigt deutlich, dass die Verbesserung der motorischen Fähigkeiten nach einer Hemisphärektomie alles andere als selbstverständlich 347 Ich verdanke diesen Vorschlag einem anonymen Reviewer meines Artikels im Journal of Consciousness Studies. 4 f Einige empirische Probleme im Detail 517 ist. Es ist mir nichts darüber bekannt, wie eine solche Verbesserung plausibel erklärt werden könnte. 348 Überdies war die Studie von Devlin et al. auf Kinder und Jugendliche beschränkt (der älteste Patient war 17 Jahre alt). Betrachtet man die Hemisphärektomie bei Erwachsenen, sehen die Ergebnisse deutlich anders aus. Ein 2007 erschienener Bericht (der erste dieser Art) über die Hemisphärektomie bei neun erwachsenen Patienten (McClelland und Maxwell 2007) stellt fest, dass sie alle infolge der Operation Halbseitenlähmung und Gesichtsfeldverlust erlitten haben (ebd., S. 372). Darüber hinaus wurde bei allen Patienten, denen die linke Hemisphäre entfernt worden war, ohne dass dieser Eingriff negative Folgen für ihre Sprachfähigkeit hätte, vor der Operation festgestellt, dass sie eine rechtsseitige Hemisphärendominanz für Sprache hatten (ebd., S. 374). Folglich ist es nicht möglich festzustellen, welche Auswirkungen die Entfernung der Hemisphäre mit dem Sprachzentrum für ihre Sprachfähigkeit hat. Die Sorgfalt, die man walten ließ, um sicherzustellen, dass die „ Sprachhemisphäre “ nicht entfernt wird, zeigt immerhin, dass man die Befürchtung hatte, dass ihre Entfernung zum Sprachverlust oder zumindest zu irgendeiner Form der Aphasie führen könnte. Selbst wenn man Kinder und Jugendliche also eine hohe Fähigkeit zur Umgestaltung ihrer Gehirnfunktionen nach einer Hemisphärektomie zuspricht, so bleibt erklärungsbedürftig, warum sie in späteren Jahren verschwindet oder zumindest deutlich eingeschränkt ist. Neben diesen empirischen Einwänden gibt es ein einfaches, aber starkes konzeptuelles Argument gegen die Schlussfolgerung, dass das Gehirn der Produzent unseres geistigen Lebens sei, weil eine Schädigung des Gehirns den Verlust der geistigen Funktionen zur Folge habe. Ein Pianist kann kein Klavierkonzert spielen, wenn sein Klavier beschädigt ist, oder zumindest wird seine Leistung durch die Beschädigung des Instruments beeinträchtigt. Dennoch wäre es absurd zu behaupten, dass das Klavier die Ursache des Konzertes sei. Es ist nur eine notwendige Bedingung für die Leistung eines Pianisten, nicht ihre Ursache. Ebenso ist es ein Trugschluss zu behaupten, dass der Verlust der mentalen Funktion infolge von Hirnschädigungen beweise, dass das Gehirn eine kausale Rolle bei der Entstehung dieser 348 Es können selbstverständlich verschiedene Mechanismen postuliert werden, die die Plastizität des Gehirns erklären. Bereits 1988 leiteten Sur et al. retinale Afferenten von neugeborenen Frettchen zum medialen geniculater Nucleus (einem der zentralen thalamischen auditorischen Nuclei) um und zeigten, dass viele Zellen dieses Nucleus dann auf den Input aus den retinalen Ganglionzellen reagierten (Sur et al., 1988, S. 1440). Aber anders als in der Studie von Sur et al. gibt es nach einer Ektomie z. B. der linken Hemisphäre keine Nervenbahnen aus dem kontralateralen Teil des Körpers, die Signale zur anderen Hemisphäre schicken. Folglich gibt es keine peripher gesteuerte Möglichkeit, diese so zu modifizieren, dass z. B. die motorische Kontrolle des rechten Armes oder Beines wiederhergestellt werden könnte. Überdies ist schwer vorstellbar, welcher neuronale Input die Einrichtung eines Sprachzentrums in der nichtdominanten Hemisphäre steuern könnte. 518 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft mentalen Funktion spiele. Es ist ein Trugschluss, eine (unter normalen Umständen) notwendige Bedingung eines Ereignisses für die Ursache dieses Ereignisses zu halten (vgl. Sosa und Tooley 1993, S. 7). Es kann sehr wohl sein, dass das Gehirn (unter normalen Umständen) eine notwendige Bedingung für das Bewusstsein bildet, dies beweist aber noch lange nicht, dass es seine Ursache ist. Das Gehirn kann sich als ein bloßes Klavier erweisen, auf dem ein Pianist ein Konzert zu spielen vermag. Veränderungen des mentalen Zustandes nach einer künstlichen Gehirnstimulation sind nicht ausreichend, um eine kausale Rolle des Gehirns bei der Entstehung von Bewusstsein zu belegen Stimuliert man das Gehirn, so stellen sich Veränderungen des bewussten Zustandes ein. Doch Stimulation ist nicht ausreichend, um ein „ normales “ mentales Erlebnis zu erzeugen. Wilder Penfield in den 50er Jahren (Penfield und Jasper 1954; vgl. auch Penfield 1975) und Benjamin Libet in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts (Libet 1973) entdeckten, dass es tatsächlich möglich ist, einige Formen der Wahrnehmung durch elektrische Stimulation geeigneter Areale des Gehirns zu evozieren. Diese „ Wahrnehmungen “ waren aber weit von unseren normalen Sinneserlebnissen entfernt. Sie werden als parästhesieartig (Kribbeln, Stromschlag) beschrieben und ähneln keineswegs etwa dem Sehen eines Baums, der in einem Garten wächst (Libet 1973, S. 102 - 106). Diese Entdeckungen wurden in einer aktuellen Studie bestätigt, die mit modernster Technik sicherzustellen versuchte, dass der stimulierte Bereich und die Form der Stimulation genau definiert waren (Murphey et al. 2009). Die Studie ergab, dass man, auch wenn man höhere visuelle Bereiche wie z. B. das sog. fusiforme Gesichtsareal (FFA) stimuliert, im besten Fall Eindrücke von einfachen Formen und Farben (und selbst diese nicht immer) erzeugen kann, nicht aber die von Gesichtern oder anderer komplexen Wahrnehmungen. Gegen diesen Beobachtungen kann argumentiert werden, dass andere Formen der künstlichen Stimulation des Gehirns, insbesondere die chemische Stimulation beispielsweise durch Drogenkonsum oder die Stimulation mit elektromagnetischen Feldern wie bei der transkraniellen Magnetstimulation (TMS), aufwendige bewusste Erfahrungen zu produzieren vermögen, die, wenn nicht Sinneswahrnehmung, so wenigstens Träume oder das Spiel der Fantasie imitieren können. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass die Versuche zur Feststellung der Wirkungen solcher externer Stimulation (und der elektrischen Stimulation des Kortex) stets an wachen Probanden durchgeführt werden. In unserem Kontext stellt das ihre wesentliche methodische Schwäche dar, denn was sie höchstens nachweisen können, ist nicht, dass die verwendete Stimulation bewusste Erfahrung verursacht, sondern lediglich, dass sie einen bewussten Zustand modifiziert. Um die stärkere These (Stimulation verursacht Bewusstsein) zu stützen, müsste man nachweisen, dass 4 f Einige empirische Probleme im Detail 519 die Stimulation des Gehirns bei einer schlafenden (nicht bloß träumenden) Person bewusste Erfahrung hervorruft, d. h. sie weckt oder zumindest einen Traum in ihr evoziert. Doch die genannten Formen der Stimulation haben auf das Gehirn einer schlafenden Person offenbar keine solche Wirkung. Ich kenne auch keine Studie, die eigens dafür entwickelt wurde, diese Behauptung zu testen (vielleicht deshalb, weil das Ergebnis zu offensichtlich ist, um den Aufwand zu rechtfertigen), aber alltägliche Belege sind reichlich vorhanden. Es genügt zu bedenken, dass lautes Schnarchen nicht unbedingt den Schnarcher zu wecken vermag (tatsächlich geschieht das so gut wie nie), obwohl es laut genug ist, um seinen Nachbarn zu wecken. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch die Studie von Issa und Wang (Issa und Wang 2008), die gezeigt hat, dass die Aktivierung der sensorischen (akustischen) Bereiche des Gehirns während des Schlafes im Wesentlichen die gleiche ist wie während des Wachens. Die Verfechter eines neuronalen Reduktionismus müssten möglicherweise eine noch stärkere Behauptung beweisen, und zwar die, dass die entsprechende Stimulation des Gehirns in der Lage ist, bewusste Erfahrung in einer toten Person hervorzurufen (im Endeffekt heißt das, diese Person wieder zum Leben zu erwecken, sie auferstehen zu lassen! ). Denn selbst wenn einige bewusste Phänomene in der (tief) schlafenden Person mittels einer externen Stimulation evoziert werden könnten, würde dies bei einer erheblichen Hintergrundaktivität des Gehirns geschehen, die auch während der Tiefschlafphasen vorhanden ist. Es ist jedoch unmöglich, mit Sicherheit festzustellen, ob diese Aktivität Produkt des Gehirns selbst oder das Resultat einer Einwirkung von außerhalb des Gehirns ist. Man wird diesen Zusammenhang besser verstehen, wenn man das folgende Szenario bedenkt. Schaltet man das Fernsehgerät ein, so kann man einen Film schauen. 349 Aber es wäre absurd zu behaupten, dass das Fernsehgerät die Ursache des Films (einschließlich der Schauspieler, die darin spielen) sei. Es ist nicht der Produzent, sondern lediglich ein Empfänger der relevanten Informationen. Darin liegt ein konzeptionelles Argument gegen die Aussagekraft der Stimulationsversuche: Wie es offenkundig falsch ist zu 349 Die Metapher vom Gehirn als einem TV-Empfänger ist mehrmals verwendet worden, beispielsweise vom amerikanischen Psychiater Rick Strassman in seinem Buch DMT: The Spirit Molecule, Rochester, VT: Park Street (2001) (zitiert in Kelly und Kelly 2010, S. 606), von dem führenden kanadischen Neurobiologen Mario Beauregard (Beauregard und O ’ Leary 2008, S. 292f.), von Pim van Lommel, einem bekannten niederländischen Erforscher der Nahtoderfahrung, in seinem neuesten Buch (van Lommel 2009), wie auch von dem renommierten amerikanischen Zellbiologen, Bruce Lipton (Lipton 2008, S. 160), und m. W. zuletzt von Paul Nunez, Professor emeritus für biomedizinische Ingenieurwissenschaft an der Universität Tulane, New Orleans (Nunez 2010, S. 274). Übrigens es ist möglich zu zeigen, dass die Interpretation des Gehirns als eines Empfängers des Bewusstseins nicht zwangsläufig einen Substanzdualismus impliziert. Ich werde mehr darüber im letzten Kapitel dieses Buches sagen. 520 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft behaupten, dass das Einschalten des Fernsehgerätes den Film verursacht, so ist es auch ein Trugschluss, aus der Tatsache, dass eine geeignete Form der Stimulation des Gehirns zu Veränderungen des Bewusstseinszustandes der Person führt, zu schließen, dass die Stimulation des Gehirns die Ursache des Bewusstseinszustandes sei. Das Gehirn kann auch nur ein Empfänger von Signalen von außerhalb sein. Die (angebliche) Fähigkeit, mentale Zustände durch neuronale Daten vorauszusagen, ist nicht ausreichend, um die kausale Rolle des Gehirns bei der Erzeugung von Bewusstsein zu belegen Den Freunden des neuronalen Reduktionismus steht eine weitere Strategie zur Verfügung, ihre Behauptungen empirisch zu untermauern, eine Strategie, die bis vor kurzem undenkbar war. Sie basiert auf dem Umstand, dass gewisse bewusste Phänomene anhand von neurobiologischen Daten (angeblich) zuverlässig vorausgesagt werden können. Gerhard Roth illustriert diese Strategie mit dem folgenden Beispiel: Sollte es so sein, dass zusammen mit einer bestimmten Konzentration von Cortisol und Testosteron und dem Auftreten einer bestimmten EEG-Komponente im Gehirn einer männlichen Versuchsperson beim Anblick einer anderen Person das Gefühl des Verliebtseins verlässlich vorausgesagt werden kann [. . .], ist es dann nicht zulässig zu sagen, ‚ Verliebtsein ist nichts anderes als die Ausschüttung der und der Stoffe in den und den Teilen des Gehirns ‘ ? (Roth 2004, S. 231) Und in der Tat bieten z. B. die immer feiner werdenden Forschungsmethoden zunehmend die Möglichkeit, allein aufgrund der Beobachtung der Gehirntätigkeit zumindest annähernd Aussagen über deren Inhalte zu formulieren (Boynton 2005, S. 541f.; Haynes und Rees 2006; Haynes und Rees 2005; Kamitami und Tong 2005). Es muss aber betont werden, dass solche Aussagen typischerweise einen recht allgemeinen Charakter haben (der Art „ X denkt jetzt über die räumlichen Verhältnisse des von ihm betrachteten Bildes nach “ ): „ A ‚ general brain reading device ‘ is still science fiction “ (Haynes und Rees 2006, S. 529). 350 Es ist zwar auch möglich, recht präzise Vorstellungen (der Art: „ Ich möchte den Computercursor in die rechte obere Ecke des Bildschirms schieben “ ) aus der allgemeinen Gehirntätigkeit „ herauszudestillieren “ , was die Grundlage für die Möglichkeit bildet, immer leistungsfähigere Neuroprothesen herzustellen, die es z. B. gelähmten Menschen ermöglichen, eine gewisse Kontrolle über ihr Leben wiederzuerlangen (Abott 2006). Diese Form des „ Gehirnlesens “ setzt aber immer eine Übungszeit voraus, während der der Patient wiederholt bestimmte Gedanken denkt, die 350 Einer der führenden Experten im Bereich des mind-reading nannte bezeichnenderweise als Grund, warum er sich nicht mit Gedankenprozessen, sondern mit der visuellen Wahrnehmung befasst: „‘ I don ’ t do vision because it ’ s the most interesting part of the brain ’ , says Gallant. ‘ I do it because it ’ s the easiest part of the brain. It ’ s the part of the brain I have a hope of solving before I ’ m dead ’“ (Smith 2013, S. 429). 4 f Einige empirische Probleme im Detail 521 der Computer dann in dem Rausch der allgemeinen Gehirntätigkeit zu erkennen lernt. Dies ist keineswegs ein „ echtes “ Gedankenlesen. Haynes und Rees fassen die Möglichkeiten des „ Gedankenlesens “ wie folgt zusammen: Perhaps the greatest challenge to brain reading is that the number of possible perceptual or cognitive states is infinite, whereas the number of training categories is necessary limited. As long as this problem remains unsolved, brain reading will be restricted to simple cases with a fixed number of alternatives, for all of which training data are available. (Haynes und Rees, S. 530) Es ist möglich zu zeigen, dass wir aus prinzipiellen Gründen nie in der Lage sein werden, die abstrakten Denkinhalte direkt aus dem Strom des neuronalen Geschehens „ abzulesen “ . 351 Nehmen wir jedoch an, dass wir solche präzisen Voraussagen formulieren können (z. B. der Art: „ Wenn die Gehirnaktivität von X zum Zeitpunkt t 1 zur Hauptsache im Bereich α stattfindet, so denkt X zum Zeitpunkt t 1 über seine Mutter nach “ ). Wäre eine solche Fähigkeit ein Beweis für die Richtigkeit der Grundannahmen des neuronalen Reduktionismus? Aus wissenschaftstheoretischer Sicht wäre die Behauptung, diese Fähigkeit beweise, dass die Theorie des neuronalen Reduktionismus bestätigt (bewiesen) wurde, eindeutig ein logischer Fehlschluss: Die Fähigkeit, Phänomene vorauszusagen, kann niemals als Beweis dafür gelten, dass man die Ursachen dieser Phänomene verstanden hat. Das wissen wir spätestens seit Kopernikus, denn bekanntlich waren Ptolemäus und seine Nachfolger imstande, die Bewegungen der himmlischen Körper recht genau vorauszusagen, 352 obschon sie es aufgrund eines völlig inadäquaten Verständnisses der Mechanismen hinter diesen Bewegungen taten. Ich möchte zu einem recht einfachen Bild greifen, um diesen Fehlschluss zu entlarven. Die Fähigkeit eines Neurobiologen, der es vermag, auf der Grundlage seines Wissens über die elektrochemischen Gegebenheiten im Gehirn „ verlässliche Voraussagen “ über die phänomenalen subjektiven Zustände der betreffenden Person zu machen, kann man mit der Fähigkeit eines kundigen Klavierbauers vergleichen, der aufgrund der Beobachtung der Bewegungen einzelner Klavierhämmerchen, die gegen die angespannten Seiten im Innern des Klaviers schlagen, die gerade vorgespielte Melodie voraussagen kann. Eine solche Voraussage ist sicherlich recht gut möglich, dem besagten Klavierbauer würde es jedoch nie in den Sinn kommen zu behaupten, dass die Klavierhämmerchen die Ursachen der Melodie seien. Er weiß, dass auf der anderen Seite des Brettes ein Klavierspieler sitzt, der durch die Betätigung der Klaviertasten die Klavierhämmerchen in Bewegung setzt. In Roths Beispiel sollte sich der Neurobiologe die Frage stellen, weshalb gewisse Substanzen zu 351 Vgl. unten den Abschnitt „ Konzeptionelle Probleme des neuronalen Reduktionismus “ . 352 Sie konnten diese Bewegungen sogar genauer als Kopernikus selbst voraussagen, da dieser bekanntlich annahm, dass sich die Planeten auf kreisförmigen Bahnen bewegen, was selbstverständlich zu verzerrten Vorausberechnungen führte. 522 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft bestimmten Zeiten in bestimmten Arealen des Gehirns ausgeschüttet werden oder weshalb zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Hirnareale tätig werden, und nicht bloß annehmen, dass die von einem Neurobiologen beobachteten Prozesse die letzten Glieder der Kausalkette sind, die zum Gedankeninhalt führt. Obwohl solche weiteren Glieder bis jetzt nicht beobachtet worden sind, wäre es aus wissenschaftstheoretischer Sicht unzulässig, die Möglichkeit auszuschließen, dass sie vorhanden sind. Dies geben vorsichtigere Wissenschaftler auch zu. Die Autoren des oben bereits zitierten Review-Artikels in Nature Reviews Neuroscience, Haynes und Rees, schreiben dazu das Folgende: Even if a specific neural response pattern co-occurs with a mental state under a specific laboratory context, that mental state and [the corresponding neural response] pattern might not be necessarily or causally connected. (Haynes und Rees 2006, S. 531) 353 Es muss an dieser Stelle noch auf einen formalen Punkt hingewiesen werden. Innerhalb des (veralteten) Paradigmas von „ notwendiger “ und „ hinreichender Bedingung “ der Ursache 354 kann man einem Ereignis (sagen wir E 1 ) eine kausale Rolle bei der Erzeugung eines anderen Ereignisses (sagen wir E 2 ) nur dann zusprechen, wenn E 1 eine notwendige und hinreichende Bedingung von E 2 ist. Dies ist aber im Falle von Gehirnereignissen in Bezug auf mentale Prozesse praktisch nie der Fall. Denn erstens zeigt sich immer wieder, dass keine Stelle im Gehirn im absoluten Sinne notwendig für die Erzeugung bestimmter mentaler Phänomene ist, da sie in dieser Funktion sehr oft durch eine andere Stelle des Gehirns ersetzt werden kann. Und zweitens: Wenn gezeigt werden kann, dass eine Gehirnstelle oder ein bestimmter Neuronenverband für eine mentale Leistung notwendig ist, weil ihre oder seine Beschädigung den Ausfall dieser Funktion nach sich zieht, so ist es nicht möglich zu zeigen, dass genau dieselbe Gehirnstelle bzw. derselbe Neuronenverband für die Erzeugung dieser Leistung hinreichend ist. Bis heute ist es jedenfalls nicht gelungen, eine spezifische, im Voraus genau bestimmte 353 Der Versuch der Reduktion des Verliebtseins auf die Anwesenheit bestimmter chemischer Substanzen im Gehirn verpflichtet übrigens die Befürworter dieser These zu der recht absurd anmutenden Behauptung, dass sich ein Proband bei Anwesenheit dieser Substanzen auch in einen Besen verlieben würde. Das wäre ein Kunststück, das selbst dem Puck aus Shakespeares „ Mitternachtstraum “ nicht ganz erreichbar war: Er vermochte unter Zuhilfenahme des Saftes einer magischen Blume nur jemanden dazu zu bringen, sich in ein beliebiges Lebewesen zu verlieben (William Shakespeare: A Midsummer-Night ’ s Dream, 3. Akt, 1. Szene 1, Zeile 115 - 148). Wenn aber eine Kombination von chemischen und elektrischen Faktoren nur dann zum Verliebtsein führt, wenn das Objekt des Gefühls einer bestimmten Kategorie zugehört, würde das auf die Mitbeteiligung zusätzlicher notwendiger Bedingungen hindeuten, die mit dem kategorialen Denken zu tun haben, und somit die These zum Fall bringen, dass neurobiologische Elemente für das Verliebtsein hinreichend wären. 354 Mehr zu diesem Thema im Exkurs „ Können Gene die Morphogenese erklären? “ . 4 f Einige empirische Probleme im Detail 523 mentale Leistung (z. B. einen spezifischen Gedanken, oder eine spezifische Wahrnehmung) durch künstliche Stimulierung zu erzeugen. Schon aus diesem formalen Grund ist es nicht statthaft - auch innerhalb des Paradigmas von notwendiger und hinreichender Bedingung - von Gehirnereignissen als den eigentlichen Ursachen mentaler Phänomene zu sprechen. Die Hauptschwäche der Annahme, die Vorhersagekraft neuronaler Daten stütze den neuronalen Reduktionismus, lässt sich folgendermaßen formulieren: Unsere Fähigkeit, mentale Ereignisse auf der Grundlage von neuronalen vorherzusagen, basiert auf der Tatsache, dass wir gelernt haben, dass die (neuronale) Tätigkeit in bestimmten Teilen des Gehirns mit einer bestimmten Form geistiger Phänomene korreliert ist. Was wir in Wirklichkeit meinen, wenn wir jemandes Gedanken „ lesen “ , reduziert sich im Grunde auf folgende Feststellung: Weil die Begriffe bezogen auf x mit dem Gehirnbereich X korreliert sind und dieser Bereich augenblicklich aktiv ist, muss die Person über etwas im Zusammenhang mit x denken. Wie bereits erwähnt, ist eine Korrelation zwischen zwei Ereignissen nicht ausreichend, um eine kausale Beziehung zwischen ihnen zu begründen, und noch weniger, um die Richtung der angeblichen kausalen Beziehung zu bestimmen: Geht sie von unten nach oben (das Gehirn verursacht bewusste Prozesse) oder von oben nach unten (der bewusste Prozess führt zu Veränderungen im Gehirnzustand)? Folglich zeigt unsere Fähigkeit, erfolgreiche Vorhersagen über den Inhalt mentaler Prozesse aufgrund der Lokalisation der neuronalen Aktivität zu formulieren, im besten Fall, dass ein bestimmter Teil des Gehirns stark mit einer bestimmten Form von mentaler Aktivität korreliert, was wiederum so interpretiert werden kann, dass dieser Teil des Gehirns notwendig für diese Tätigkeit ist, was sich wiederum als im Grunde identisch mit dem ersten Argument (oben) erweist. Die (vermeintliche) Fähigkeit, Gedanken in Handlungen zu übersetzen, ist nicht ausreichend, um die kausale Rolle des Gehirns bei der Erzeugung von Bewusstsein zu begründen Die Fähigkeit, Gedanken in Handlungen zu übersetzen, ist nicht mehr als die vorigen Argumente zur Unterstützung des neuronalen Reduktionismus geeignet. Sie beruht auf etwas sehr Ähnlichem wie die Fähigkeit, Gedanken „ zu lesen “ . Wir haben entdeckt, dass eine spezifische Form der mentalen Aktivität (sagen wir, die Absicht, die rechte Hand zu heben) mit einer spezifischen Form der neuronalen Aktivität in einem bestimmten Gehirnareal korreliert. Wenn wir also in der Lage sind, diese neuronale Aktivität zu erkennen, können wir sie in die Bewegung eines Cursors auf dem Bildschirm oder in die Bewegungen einer Handprothese von verschiedenen Graden der Komplexität „ übersetzen “ (vgl. Hochberg et al. 2006; Velliste et al. 2008). Wir sind sogar in der Lage, das Rückenmark zu „ überbrücken “ und die spezifischen Muskeln der realen Hand in einer bestimmten Weise zu stimulieren, 524 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft um die gewünschten Bewegungen auszuführen (Moritz et al. 2008). Allerdings sind diese technischen Errungenschaften nichts weiter als ein Nachweis der bekannten Tatsache, dass es eine starke Korrelation zwischen einer bestimmten Form der neuronalen Aktivität in einem bestimmten Hirnbereich und einer spezifischen Art von psychischen Phänomenen besteht. Insbesondere erlauben diese Errungenschaften keine Rückschlüsse auf die Richtung der kausalen Beziehung (sofern vorhanden) zwischen den beiden Gruppen von Phänomenen. Mehr noch deuten einige empirische Forschungsergebnisse darauf hin, dass sich ein Gerät konstruieren lässt, das in der Lage ist, Muster der neuronalen Aktivität in spezifische Muskelbewegungen zu übersetzen, selbst wenn: 1) das neuronale Aktivitätsmuster durch ein einziges Neuron produziert wurde (Moritz et al. 2008); dieses Ergebnis ist zutiefst rätselhaft in Bezug auf die aktuellen Erklärungen der Mechanismen der neuronalen Steuerung, weil niemand behaupten würde, dass die Aktivität von ein paar Neuronen ausreichend ist, um komplexe motorische Verhaltensmuster zu steuern; 355 2) das Aktivitätsmuster in Neuronen evoziert wurde, die vorher nicht mit der Steuerung der Bewegung assoziiert waren, welche das eigentliche Ziel des Experiments war (Moritz et al., 2008, S. 639, 641, 642); Moritz et al. haben gezeigt, dass „ monkeys can learn to use direct artificial connections from arbitrary motor cortex cells to grade stimulation delivered to multiple muscles and restore goal-directed movement to a paralysed arm “ (ebd., S. 639). Nun deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass die Rückführung unserer technischen Fähigkeit, Muskelbewegungen zu imitieren bzw. zu generieren, auf die Erkennung einer spezifischen Form von Aktivität des motorischen Kortex irreführend ist. Es kann sich sehr wohl als möglich erweisen, Geräte zu produzieren, die eine komplexe Muskelaktivität aufgrund der Identifizierung spezifischer reproduzierbarer Aktivitätsmuster irgendwo im Gehirn imitieren können. Der Prozess, der hier zum Tragen zu kommen scheint, ist vergleichbar damit, dass jemand per Knopfdruck eine komplexe Maschine in Bewegung setzen kann: Es reicht völlig aus, die einfache Bewegung des Knopfdrucks zu vollziehen, um ein sehr komplexes Ergebnis hervorzurufen. Bei einer ausreichenden Anzahl unterschiedlicher Tasten erhält man eine Vielzahl von komplexen Endergebnissen. Eine spezifische, nachweisbare Form der neuronalen Aktivität irgendwo im Gehirn kann sich also als ausreichend herausstellen, um als eine solche Taste zu dienen. Doch die Tatsache, dass der Autopilot das Kommando über das Flugzeug übernimmt, 355 Es wird allgemein angenommen, dass das Feuern von einzelnen Neuronen innerhalb M1 mit der Aktivität eines einzelnen Muskels korreliert und dass Gruppen von Neuronen benötigt werden, um die Tätigkeit einer bestimmten Gruppe von Muskeln mit einer erkennbaren funktionelle Rolle zu „ orchestrieren “ (vgl. z. B. Holderfer und Miller 2002, S. 234). 4 f Einige empirische Probleme im Detail 525 wenn ein Pilot auf einen Knopf drückt, sagt uns nichts über die Prozesse, die es dem echten Piloten ermöglichen, die Kontrolleinrichtungen des Flugzeugs zu bedienen. Außerdem sagt uns das Vorhandensein einer Korrelation zwischen einem spezifischen Muster der Hirnaktivität und dem Charakter der mentalen Phänomene, die mit dieser Aktivität verbundenen sind, nichts über die Richtung der Kausalität zwischen Geist und Gehirn. Es gibt keine Auskunft darüber, ob es das Gehirn ist, das die Aktivität produziert, die dann entsprechend von einem Computerprogramm als ein Signal zum Handeln „ interpretiert “ werden kann, oder aber ob der „ Geist “ dies tut. Wenn überhaupt, dann scheint die Möglichkeit, reproduzierbare Muster der neuronalen Aktivität in Muster der Bewegung (von Muskeln oder mechanischen Geräten) zu übersetzen, eine Priorität des Geistes nahezulegen: Eine Person denkt freiwillig bestimmte Gedanken, welche spezifische, regelmäßige, reproduzierbare Muster der Aktivität in einem bestimmten Neuron oder einer kleinen Neuronengruppe produzieren. Oder ein Affe lernt reproduzierbare Muster der neuronalen Aktivität zu evozieren, vermutlich durch die wiederholte Erzeugung eines identischen mentalen Bildes oder einer Serie ähnlicher mentaler Bilder, woraufhin ein Computerprogramm in der Lage ist, diese Form der Hirnaktivität zu erkennen, und entsprechende Impulse an die Muskeln oder Prothesen sendet, die dann für die Durchführung bestimmter Bewegungen sorgen. Darüber hinaus verstärkt die Leichtigkeit, mit der es den Affen in der Studie von Moritz et al. gelungen ist, die Kontrolle über die gewünschten Muster ihrer neuronale Aktivität zu erzielen (sie erreichten dies innerhalb von zehn Trainingsminuten, vgl. Moritz et al. 2008, S. 639) den Eindruck, dass die bewusste Absicht der Affen, ein bestimmtes Ziel (eine spezifische Position des Cursors auf dem Bildschirm) zu erreichen, und nicht irgendwelche präfrontalen, prämotorischen oder anterioren cingulären Bereiche des Kortex für die Steuerung der Aktivität eines bestimmten Neurons im motorischen Kortex verantwortlich sind. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass diese höheren Zentren des Gehirns spezifische neuronale Zustände spontan und genau dann produzieren, wenn ihr „ Besitzer “ will, dass sie produziert werden. Die Autoren der Studie schreiben bezeichnenderweise, dass die Affen eine willentliche Kontrolle über die Feuerungsrate von nahezu allen getesteten Zellen zeigten (ebd.), was den Annahmen des neuronalen Reduktionismus, der den freien Willen in Frage stellt, unverhohlen widerspricht. Gehirn als Computer Die fünfte von mir erwähnte Argumentationslinie für den neuronalen Reduktionismus ergibt sich aus dem Umstand, dass die neuronalen Prozesse im Gehirn mit seinen „ feuernden “ bzw. „ nichtfeuernden “ Neuronen den Prozessen in einem digitalen Computer sehr ähnlich zu sein scheinen. Deshalb die weit verbreitete Meinung, dass Gehirne rechnen. Diese Fest- 526 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft stellung gilt heute als eines der Hauptdogmen der Neurobiologie. Es wird allgemein angenommen, dass die Aktivität des Nervensystems Informationsverarbeitung darstellt, an deren Ende die bewussten mentalen Erlebnisse aus den in den separaten Zentren behandelten Bruchstücken konstruiert werden können. Ich werde jetzt versuchen, anhand bekannter empirischer Tatsachen zu zeigen, dass diese Annahme jeglicher faktischen Grundlage entbehrt. Was wissen wir konkret über die angebliche Informationsverarbeitung im Gehirn? Aus der Sicht des Laien mag die Situation sehr einfach erscheinen: Die Neuronen sind über Synapsen miteinander verbunden, so dass ein elektrischer Impuls, der in einer Nervenzelle erzeugt wird, unter bestimmten Umständen an die nächste übertragen wird. Hat man es mit großen Ansammlungen von Neuronen (sog. Neuronenverbänden) zu tun, so werden diese elektrischen Impulse unter ihnen irgendwie ausgetauscht, was man als eine Art Verarbeitung oder Berechnung bezeichnen kann, die in einem bewussten mentalen Phänomen (Wahrnehmung, Gefühl, Gedanke usw.) kulminiert. Indessen weicht die Wirklichkeit des Gehirns und seiner Prozesse weit von diesen einfachen Vorstellungen ab. Diese Wirklichkeit ist so komplex, dass die Fachleute zugeben müssen, dass sie solche einfachen Vorstellungen nicht in die eigentlichen neuronalen Abläufe „ übersetzen “ können. Ich möchte diesbezüglich ein paar neuere Äußerungen führender Neurobiologen zitieren. Kenneth Harris vom Center for Molecular and Behavioral Neuroscience der Rutgers-Universität schrieb in der Ausgabe des Nature Reviews Neuroscience vom Mai 2005: The brain is made of billions of neurons, which together form the world ’ s most powerful information-processing machine. Despite decades of research, the fundamental principle by which these cells work together is still unknown. (Harris 2005, S. 399) Michael London und Michael Häusser vom Wolfson Institute for Biomedical Research and Department of Physiology, University College London, schrieben in einem 2005 in der Annual Review of Neuroscience veröffentlichten Review der neuesten Literatur auf dem Felde der Informationsverarbeitung in einzelnen Neuronen (insbesondere in den Dendriten der Nervenzellen) über den Wissensstand in Bezug auf die neuronalen Mechanismen einer unseren einfacheren kognitiven Leistungen, der Mustererkennung: An algorithm to solve a face recognition task is one of the holy grails of computer science. At present, we do not know precisely how single neurons are involved in this computation. (London und Häusser 2005, S. 506) In einem 2004 in der Zeitschrift Gehirn & Geist veröffentlichten Manifest von elf führenden Neurowissenschaftlern über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung heißt es entsprechend: Zweifellos wissen wir also heute sehr viel mehr über das Gehirn als noch vor zehn Jahren. Zwischen dem Wissen über die obere [die Ebene der Hirnareale] und 4 f Einige empirische Probleme im Detail 527 untere [die Ebene der einzelnen Zellen und Moleküle] Organisationsebene des Gehirns klafft aber nach wie vor eine große Erkenntnislücke. Über die mittlere Ebene - also das Geschehen innerhalb kleinerer und größerer Zellverbände, das letztendlich den Prozessen auf der obersten Ebene zu Grunde liegt - wissen wir noch erschreckend wenig. Auch darüber, mit welchen Codes einzelne oder wenige Nervenzellen untereinander kommunizieren (wahrscheinlich benutzen sie gleichzeitig mehrere solcher Codes) existieren allenfalls plausible Vermutungen. Völlig unbekannt ist zudem, was abläuft, wenn hundert Millionen oder gar einige Milliarden Nervenzellen miteinander ‚ reden ‘ . (Elger et al. 2004, S. 33f.) Diese Bekenntnisse der Unwissenheit überraschen, bedenkt man die Intensität der Forschung, die Zahl der Forschenden und die in diese Forschung investierten Ressourcen. Sie sind indes keineswegs überraschend, wenn man sich die Logik der Situation vergegenwärtigt. Dazu werde ich versuchen, in aller Kürze die Hauptprobleme der Theorie der Informationsverarbeitung im Gehirn zu schildern, wie sie sich aus philosophischer Perspektive darstellen. Zunächst eine Bemerkung zum Begriff „ Informationsverarbeitung “ , den ich in Bezug auf die Leistung eines Computers und insbesondere die Aktivität des Gehirns für irreführend halte. Unter dem Begriff „ Information “ versteht man einen sinnvollen Gehalt, den man einer anderen Person mitteilen will, der einem von einer anderen Person mitgeteilt wird oder den man aus einer schriftlichen bzw. bildhaften Mitteilung entnehmen kann. Die Sequenzen digitaler Signale haben nun aber keinen solchen Gehalt. Die Rede von Information ist im eigentlichen Sinne des Wortes nur dann sinnvoll, wenn man vom Verständnis oder zumindest vom potentiellen Verständnis einer Nachricht sprechen kann. Computer können aber prinzipiell nichts verstehen. Es wäre deshalb viel angemessener, wenn man auch die Rede von Informationsverarbeitung hier zugunsten von „ Signalverarbeitung “ oder „ Digitalverarbeitung “ aufgeben würde. Betrachten wir jetzt genauer, inwiefern das Gehirn dazu geeignet ist, nach dem Muster eines Computers als eine signalverarbeitende Maschine zu dienen. Wie verarbeitet ein Computer die ihm zugefügten Signale? Das „ Herz “ - oder vielleicht eben das Gehirn - des Computers ist seine Zentrale Verarbeitungseinheit, auf Englisch: Central Processing Unit oder einfach CPU. Auf der untersten Ebene besteht die Leistung der CPU in der sehr prosaischen Fähigkeit, elektrische Impulse zu addieren. Erst das entsprechende Programm befähigt den Computer, diese recht primitive (aber sehr schnelle) Rechenfähigkeit in die Fähigkeit umzuwandeln, komplexe Probleme zu „ lösen “ . Deshalb muss man im Falle eines Computers von mehreren Ebenen der Signalverarbeitung sprechen. Auf der obersten Ebene hat man es mit einem Programm zu tun, das der CPU die Instruktionen erteilen kann, welche Rechenschritte wann zu unternehmen sind. Man darf dabei selbstverständlich nicht den Speicher vergessen, in welchem die nötigen Daten aufbewahrt werden. Auf der Ebene der CPU hat man es wiederum mit drei 528 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Ebenen zu tun: mit dem Datenspeicher, dem Befehlsspeicher und den eigentlichen Recheneinheiten. Es ist offensichtlich, dass die Verbindungen zwischen einzelnen Subelementen tadellos funktionieren müssen, und zwar so, dass sich die Befehle mit den für ihre Ausführung nötigen Daten in einer Recheneinheit zu einem bestimmten Zeitpunkt treffen. Aus diesem Grund muss jeder Computer mit einer Art Uhr ausgestattet sein, deren Impulse die Zusammenarbeit der einzelnen Komponenten steuern und synchronisieren. Bekanntlich werden die Operationen in den CPUs gegenwärtig im Takt von bis über 3 GHz, also 3 x 10 9 pro Sekunde, durchgeführt. Am Ende müssen selbstverständlich die Ergebnisse der einzelnen Recheneinheiten sauber und ordentlich zusammengefügt werden, wofür die sog. Komplettierungseinheit sorgt. Das sind in groben Linien die wichtigsten Elemente der Architektur einer CPU. Die Architektur des Gehirns und insbesondere des Kortex sieht indes ganz anders aus. Es gibt dort weder einen klar definierten Datenspeicher noch einen Befehlsspeicher, und was die Recheneinheiten betrifft, so lokalisiert man sie entweder in den einzelnen Nervenzellen oder, was sicher sinnvoller ist, in den Nervenzellenverbänden, womit man aber wiederum mit dem Problem konfrontiert ist, dass die Grenzen einer solchen „ Einheit “ völlig unscharf sind. Darüber hinaus fehlen im Gehirn u. a. die zentrale Uhr, die Komplettierungseinheit und vor allem das Programm, das die Signalströme zwischen bestimmten Einheiten gemäß der bevorstehenden Rechenaufgabe sinnvoll regeln könnte. Das Gehirn sieht somit keineswegs wie eine mit absoluter Präzision entworfene und mit der gleichen Präzision produzierte CPU aus, die durch einen einzigen Fehler insgesamt wertlos würde. Es ist vielmehr ein heilloses Durcheinander sich immer neu verzweigender und dazu instabiler, sich ständig verändernder Bahnen, was es unmöglich macht, den Pfad eines Signals festzulegen. Ein weiterer Unterschied in der Architektur einer CPU und des Gehirns ergibt sich aus Folgendem: Bekanntlich bildet den Grundbaustein der CPU eines Computers eine elektronische Schaltung, welche die elektrischen Impulse entweder durchlassen oder nicht durchlassen kann. Diese Schaltung wird technisch auf der Basis der Funktionsweise eines Transistors realisiert, die darin besteht, dass der Eingang mit dem Ausgang über eine vermittelnde Elektrode verbunden ist, die das Signal von jenem zu diesem nur dann durchlässt, wenn sie selbst entsprechend polarisiert ist. Diese einfache Einrichtung, welche in der modernen CPU millionenfach vorhanden ist, ermöglicht ein schnelles und präzises Durchlassen oder Anhalten der elektrischen Inputsignale. Dadurch ergibt sich die Grundeinheit des digitalen Kodes: Signal durchgelassen bedeutet 1, Signal gestoppt bedeutet 0. Man hat es also im Grundbaustein einer CPU mit drei Elementen zu tun: Inputelektrode, Outputelektrode und die „ Brückenelektrode “ und man kann mit absoluter Genauigkeit vorhersagen, was mit dem Inputsignal passieren wird, wenn die „ Brückenelektrode “ bestimmte Polarisationswerte aufweist. Es ist nahelie- 4 f Einige empirische Probleme im Detail 529 gend anzunehmen, dass dieser Grundbaustein der CPU seine Entsprechung im einzelnen Neuron findet. Wie ein Transistor, so kann auch das Neuron das hereinkommende Signal durchlassen (wenn es „ feuert “ ) oder anhalten (wenn es nicht feuert), und es kann praktisch nichts anderes tun (außer dass es schneller oder langsamer feuern kann, was aber von einem Transistor nachgemacht werden könnte). Ein Neuron scheint also nach dem Grundprinzip der digitalen Schaltkreise zu funktionieren. Wenn man jedoch die Eigenschaften von Neuron und Transistor genauer vergleicht, ist man überrascht, welch ein verworrener Schalter ein Neuron ist. Denn obschon es nur ein Axon hat, also nur einen Outputweg aufweist, kann es nicht nur gleichzeitig unzählige Signale über seine Dendriten aufnehmen, sondern weist überdies auch sehr zahlreiche Verbindungen (Synapsen) mit anderen Neuronen auf (gegenwärtig spricht man von bis zu 20.000 Synapsen pro Neuron [Singer 2004, S. 242]), über welche diese anscheinend Einfluss darauf nehmen können, ob und in genau welcher Form das Inputsignal am Axon entlanggeführt wird. Das macht aber die Form des Outputsignals eines Neurons von bis zu 20.000 Einflüssen abhängig, d. h. letztendlich völlig unberechenbar. Dazu muss bedacht werden, dass die Zufuhr der „ Information “ zur „ Recheneinheit “ des Gehirns ziemlich chaotisch ausschaut. Denn die Antwort eines Neurons auf einen Reiz fällt keineswegs konstant, sondern zu unterschiedlichen Zeiten sehr unterschiedlich aus, was dazu führt, dass man nicht von einer einförmigen und voraussagbaren Reaktion des Neurons auf den Reiz, sondern von einem Reaktionsmuster, das nur statistisch zu ermitteln ist, sprechen muss (Shidara et al. 2005; Fiser et al. 2004; Vogels et al. 1989; Azous und Gray 1999). Wie unter solchen „ architektonischen “ Bedingungen noch von einem „ Rechnen “ die Rede sein kann, das schließlich höchste Genauigkeit und Zuverlässigkeit erfordert, ist unbegreiflich. Dazu gesellt sich eine weitere Schwierigkeit: Man würde erwarten, dass die Neuronen in Hirnarealen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht aktiv sind (z. B. die Neuronen des Sehkortex, wenn der Proband die Augen geschlossen hat), ebenfalls keine Aktivität aufweisen. Dies ist aber nicht der Fall. Die entsprechenden experimentellen Versuche zeigen vielmehr, dass die Neuronen auch dann aktiv sind, wenn sie nicht durch Inputsignale stimuliert werden (Harris 2005; Fiser et al. 2004; Kenet et al. 2003; Tsodyks, et al. 1999), und dass man im Kortex sogar spontane Wellen der elektrischen Aktivität beobachten kann, welche durch keine äußeren Reize bedingt sind (Tsodyks et al. 1999). Die Autoren einer unlängst erschienenen Studie stellten sogar fest, dass die Veränderungen in der elektrischen Aktivität eines Hirnareals infolge einer äußeren (Sinnes-)Stimulation durch die spontane Aktivität dieses Areals übertönt wurden (Fiser et al. 2004, S. 577), was die Forscher dazu bewog, zu postulieren, dass die äußere Stimulation lediglich die Funktion hat, die spontane Aktivität der Hirnareale zu modifizieren: 530 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft We propose that during sensory coding, stimulus-evoked activity in the visual cortex principally reflects the modulation and triggering of intrinsic circuit dynamical behaviour by sensory signals, instead of directly encoding the structure of the input signal itself. In this framework, ongoing activity may not be noise upon which visual responses are superimposed, but rather an integral component of sensory processing. (Fiser et al. 2004, S. 577) Wir haben bis jetzt vor allem über die rechnerischen Fähigkeiten einzelner Neurone bzw. ihrer kleinen Ansammlungen gesprochen. Es ist aber kein Geheimnis, dass das Gehirn eine ungeheuer komplexe Struktur ist, die aus (schätzungsweise einhundert) Milliarden Nervenzellen besteht. Wenn man also von den rechnerischen Fähigkeiten des ganzen Gehirns oder selbst nur eines seiner vielen Zentren, die jeweils aus Millionen von Neuronen bestehen, sprechen will, dann müsste man - nach dem Vorbild des Computers - Rechenschaft darüber abgeben können, wie genau diese Einzelelemente miteinander interagieren, um die ihnen zugeschriebene Leistung zu erbringen. Maxwell Bennett, einer der weltweit führenden Neurobiologen der Gegenwart und Koautor eines wichtigen Werkes über die philosophischen Probleme der gegenwärtigen Neurobiologie (Bennett und Hacker 2003), hat die Forschungsergebnisse zu den drei einfachsten und am einfachsten erforschbaren neuronalen Strukturen: Netzwerke in der Netzhaut, Netzwerke im primären Sehkortex und schließlich Netzwerke im Kleinhirn untersucht und kommt zu einem ernüchternden Urteil. Vor Jahrzehnten wurden diesen Strukturen gewisse architektonische Eigenschaften zugeschrieben, welche die von ihnen (angeblich) erbrachten Leistungen erklärlich machen sollten (Bennett 2007, S. 54 - 64). Es hat sich aber herausgestellt, dass die nachfolgenden Forschungsarbeiten, die in einigen Fällen bis zu 35 Jahre in Anspruch genommen haben, die Annahmen nicht zu bestätigen vermochten, so dass man bis heute keine klare Vorstellung über die Funktionsweise dieser einfachen Strukturen besitzt. Bennett bezeichnet die Konzeption des Gehirns als eine Art architektonische Struktur, die aus einfachsten Elementen (Neuronen) säuberlich zusammengebaut ist, als „ Ingenieuransatz “ (engl.: „ engineering approach “ [Bennett 2007, S. 51, 64]) und warnt vor der „ Hybris der Neurobiologen “ (ebd., S. 54, 64), die meinen, dass sie durch dieses Vorgehen die Funktionsweise des Zentralnervensystem entschlüsseln werden können: The above three examples illustrate the relatively slow progress neuroscience is making in teasing out the complexity of even the ‘ simplest ’ parts of the central nervous system. They suggest that one should hesitate before joining in the hubris of thinking that neuroscientists understand many if any of the functions of the central nervous system and stress the extent to which one should pause and reflect before accepting many of the claims being made for what synaptic networks in the brain do. (Ebd., S. 64) Die genaue Funktionsweise selbst der einfachsten neuronalen Verbindungen bleibt also rätselhaft. Man kann sich eine Vorstellung davon machen, wie 4 f Einige empirische Probleme im Detail 531 komplex die Abläufe in größeren Gehirnstrukturen, geschweige denn im Gehirn als Ganzem sein müssen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in der Schweiz vor kurzem ein Versuch initiiert wurde, unter Zuhilfenahme eines der schnellsten Computers der Welt eine vollständige Simulation eines Ausschnitts des Ratten-Neokortex mit einem Volumen von lediglich ca. einem Kubikmillimeter (ca. 10.000 Neuronen mit ca. 5 Kilometer verbindenden Fasern) zu unternehmen (Giles 2005; Markram 2006), ein Versuch, der trotz seines für den Laien in Anbetracht des Gesamtvolumens des Kortex recht bescheidenen Rahmens von manchen Spezialisten als völlig verfrüht erachtet wird (Giles ebd., S. 721). Das Gleiche lässt sich vom 2013 ebenfalls in der Schweiz initiierten, obschon größtenteils von der Europäischen Gemeinschaft finanzierten Human Brain Project sagen. An dem Projekt, das innerhalb von zehn Jahren über 1 Milliarde Euro kosten soll, werden Hunderte von Wissenschaftlern aus 135 Institutionen in 26 Ländern arbeiten. Das Ziel des Projekts ist es, das menschliche Gehirn vollständig in einem Computer zu simulieren (vgl. z. B. Kandel et al. 2013). Bereits kurz nach seinem offiziellen Start im Oktober 2013 äußerte Nature in einem Leitartikel Zweifel daran, dass die hoch gesteckten Ziele des Projekts je erreicht werden können: Supercomputing has proved too slow for real-time brain simulation, so other subprojects will focus on developing faster supercomputers, as well as neuromorphic computing, which can theoretically simulate brain activity orders of magnitude faster than occurs in a real brain [. . .]. Neuroinformatics, medical informatics and ethical challenges are all in there too. The Human Brain Project may still fail to deliver on its central promise, at least at the desired degree of sophistication. It remains a high-risk initiative, and keeping the unwieldy, multidisciplinary consortium on track may also prove difficult. But the risks are spread over the subprojects, some of which will inevitably add significantly to our sum neuroscience knowledge. (Nature 2012, S. 5) Diese Zweifel beschränken sich nicht nur auf Wissenschaftler, die mit Nature verbunden sind. Immer wieder gelangen Berichte über Kritik von prominenten Vertretern der neurobiologischen Forschungsgemeinschaft an den Leiter des Projekts und über Streitigkeiten zwischen den involvierten Forschern an die Öffentlichkeit (vgl. z. B. Abbott 2014; Nature 2014). Am 18. Juli 2014 veröffentlichte eine Gruppe von 156 europäischen Neurowissenschaftlern einen offenen Brief an die Europäische Gemeinschaft, in welchem sie unter anderem die enge Ausrichtung des Projekts auf die Computersimulation kritisierten. Der Brief wurde nachträglich von über 600 weiteren Forschern unterschrieben. Die Unterzeichner hielten darin u. a. fest, dass sowohl die wissenschaftlichen Grundlagen als auch die Vorgehensweise des Projekts zweifelhaft seien: [W]e wish to express the view that the HBP is not on course and that the European Commission must take a very careful look at both the science and the management of the HBP before it is renewed. We strongly question whether the goals and 532 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft implementation of the HBP are adequate to form the nucleus of the collaborative effort in Europe that will further our understanding of the brain. 356 Wie das Wissenschaftsmagazin des Schweizer Radio SRF am 4. Oktober 2014 berichtete, wurde auch auf der Jahrestagung des Projekts, die Anfang Oktober 2014 in Heidelberg stattfand, Kritik am unrealistisch hoch gesteckten Ziel des Projekts, der Simulation des ganzen menschlichen Gehirns, laut (Wissenschaftsmagazin SRF2, 4. 10. 2014). Ende 2013 wurde in PNAS ein Artikel veröffentlicht, der sich mit dem Problem der Nachbildung der Gehirnarchitektur in einem elektronischen System befasst. In derselben Nummer wurde auch ein Kommentar dazu publiziert. Die Autoren des Artikels weisen einerseits darauf hin, dass die bisherigen Versuche, menschliche Intelligenz durch eine Maschine nachahmen zu lassen, mäßig erfolgreich waren, andererseits - und dies ist im gegenwärtigen Kontext besonders interessant - stellen sie fest, dass das menschliche Gehirn auf völlig anderen Gesetzmäßigkeiten als ein Computer basiert: The article by Neftci et al. in PNAS [. . .] offers a refreshing and humbling reminder that the brain ’ s cognition does not arise from exacting digital precision in highperformance computing, but rather emerges from an extremely efficient and resilient collective form of computation extending over very large ensembles of sluggish, imprecise, and unreliable analog components. This observation, first made by John von Neumann in his final opus [. . .], continues to challenge scientists and engineers several decades later in figuring and reproducing the mechanisms underlying brain-like forms of cognitive computing. [. . .D]emonstration of machine intelligence at the level of human cognition has remained elusive to date. [. . .] Our brain offers an existence proof that assemblies of imprecise and unreliable analog circuit components are capable of producing highly reliable and resilient, if not reproducible, cognitive behavior. The open question is to what extent such behavior could also emanate, perhaps more efficiently, from carefully crafted functional abstractions in more traditional computer architecture. (Cauwenberghs 2013, S. 15512) Resümierend lässt sich festhalten, dass die Rede von einer Informationsverarbeitung, die sich hinter der beobachtbaren neuronalen Aktivität in den Nervenbahnen und in den Nervenzentren verberge, eine durch die Erfahrung mit dem Computer nahegelegte Projektion ist. Was faktisch beobachtet wird, ist elektrische (und chemische) Aktivität (das „ Feuern “ der Neuronen), und diese Aktivität wird dann als Informationsverarbeitung interpretiert. Eine Verarbeitung von elektrischen Impulsen, wie sie im Computer zweifelsohne stattfindet, wurde jedoch nie konkret nachgewiesen. 356 http: / / www.neurofuture.eu (heruntergeladen am 14. 10. 2014). 4 f Einige empirische Probleme im Detail 533 Das Problem der technischen Reduktion des Geistes Man kann sich die Frage stellen, welches eigentlich die Gründe für die Selbstverständlichkeit sind, mit der man in der Neurobiologie und in unserer Kultur generell die Funktionsweise des Gehirns nach dem Muster eines Computers zu erklären versucht. Wenn man sich die Modelle ansieht, die dem Verständnis des Geistes zugrunde gelegt wurden, so fällt nicht nur auf, dass sie zeit- und kulturrelativ sind - was eine triviale Wahrheit ist - , sondern vor allem, dass sie sich an den jeweiligen Höchststand der Technik anlehnen. Während Descartes die Funktionsweise des Gehirns noch grundsätzlich in der Begrifflichkeit der Hydraulik, d. h. von Röhrchen, Behältern, Klappen und Flüssigkeiten, formulierte (Descartes 1984, S. 17 - 19, 21 - 23, 57 - 59) und die am Ende des 19. Jahrhunderts herrschende Analogie des „ Geistes “ die der Telefonzentrale war, ist sie jetzt die des Digitalcomputers. Der Grund dafür ist einfach: Wir erachten den Geist als das höchste uns Zugängliche und versuchen ihn deshalb durch die jeweils höchste uns zugängliche Erkenntnisfähigkeit erklärlich zu machen. Diese aber findet ihren Ausdruck oder ihre materielle Inkarnation in der jeweils fortgeschrittensten Technik. Wir können zur Erklärung des Geistes nichts „ Geringeres “ aufbringen, als was wir für die Erzeugung unserer komplexesten Maschinen verwenden. Diese Beobachtung sollte uns vorsichtig in Bezug auf den Wahrheitsgehalt der gegenwärtigen Erklärungsstrategien stimmen. Denn es ist einerseits höchst wahrscheinlich, dass der Stand der Technik in 100 bis 400 Jahren völlig anders als heute sein wird, weshalb auch die heute dominanten Modelle des Geistes dann höchstwahrscheinlich obsolet sein werden. Andererseits muss prinzipiell die Frage gestellt werden, ob die Strukturen der uns umgebenden „ Natur “ durch die Art der ihnen vom Menschen entgegengebrachten Intelligenz überhaupt erfasst werden können. Empirische Rätsel Ich hoffe, dass diese kurze Diskussion der wichtigsten empirischen Argumente, welche derzeit zugunsten des neuronalen Reduktionismus angeführt werden, ausreichend ist, um zu zeigen, dass sie zu schwach sind, um seine Ansprüche zu rechtfertigen. In der aktuellen wissenschaftlichen Literatur finden sich zahlreiche empirische Befunde, die weitere Schwierigkeiten für den neuronalen Reduktionismus mit sich bringen, insofern sie starke Zweifel an der Angemessenheit zahlreicher Annahmen über die Funktionsweise des Gehirns im Hinblick auf unser geistiges Leben aufkommen lassen. Es ist nicht möglich, all diese Erkenntnisse im Detail zu schildern, zumal fast jede Woche neue Befunde veröffentlicht werden. Ich will mich daher auf einige beschränken. (1) Es ist bekannt, dass Neuronen elektrisch aktiv sind, auch wenn sie keine bestimmte „ Informationsverarbeitung “ durchführen (vgl. z. B. Fiser et al. 2004; . Kennet et al. 2003). Diese Tätigkeit hat aber offensichtlich keinen 534 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Einfluss auf die Inhalte des Bewusstseins. Dieser Umstand mag von den Anhängern des neuronalen Reduktionismus als irrelevant heruntergespielt werden, indem sie behaupten, dass nicht alle Aspekte der neuronalen Aktivität im Bewusstsein repräsentiert werden müssen. Zugestanden, aber in bestimmten Situationen kann man großflächige Aktivierungen des Kortex feststellen, spontane Wellen elektrischer Aktivität, die nicht durch externe Stimuli evoziert werden (Tsodyks, et al. 1999). Die Probanden berichten auch nicht von irgendeiner intensiven mentalen Aktivität (Fantasiespiel, Gedankenprozesse), die Anlass für diese erhöhte Hirnaktivität geben könnte. In Anbetracht des Ausmaßes derartiger Hirnaktivität ist schwer zu erklären, dass sie kein Echo in bewusster Erfahrung findet. (2) Fiser et al. gehen so weit zu behaupten, dass die Veränderungen der elektrischen Aktivität eines spezifischen Gehirnzentrums infolge der Anregung durch einen externen Stimulus in der spontanen Aktivität dieses Zentrums „ ertrinken “ . 357 Deshalb postulieren sie, dass die externe Stimulation lediglich der Modifizierung der spontanen Aktivität von Gehirnzentren diene: We propose that during sensory coding, stimulus-evoked activity in the visual cortex principally reflects the modulation and triggering of intrinsic circuit dynamical behaviour by sensory signals, instead of directly encoding the structure of the input signal itself. In this framework, ongoing activity may not be noise upon which visual responses are superimposed, but rather an integral component of sensory processing. (Ebd., S. 577) Die Situation der Sinneszentren des Gehirns scheint vergleichbar mit der einer Person zu sein, die versucht, mitten am Tag einen sehr weit entfernten Kurzwellensender zu empfangen. Sie wird meist Geräusche hören, und nur mit größter Mühe wird sie daraus die ausgestrahlte Nachricht herausfiltern können. Doch dieses Szenario entspricht offensichtlich nicht unserer bewussten Erfahrung. Für diese gilt nämlich sicherlich, dass wir es mit einem sehr starken „ Signal “ und sehr wenig „ Geräuschen “ zu tun haben. Somit stellt sich die Frage: Wie ist eine solche „ geräuschfreie “ bewusste Erfahrung möglich, wenn auf der neuronalen Ebene das „ Rauschen “ überwiegt? (3) Die Gesamtgehirnaktivität nimmt bei vermindertem Bewusstsein, wie z. B. im Schlaf oder insbesondere im sog. vegetativen Zustand, deutlich ab. Daher ist zu erwarten, dass bei Zuständen erhöhten Bewusstseins intensivere Hirnaktivität gemessen wird. Paradoxerweise wurden jedoch vor kurzem empirische Befunde veröffentlicht, die zeigen, dass die spontane Aktivität von bestimmten Gruppen von Neuronen höher ist als die Aktivität derselben Neuronen, wenn sie eine bestimmte Aufgabe ausführen. Das heißt, dass die neuronale Aktivität eines spezifischen Gehirnbereichs, die in der Regel mit 357 „ Even when stimulated by input signals with diverse statistical properties, the firing patterns of visual cortical neurons are dominated by the intrinsic dynamical properties of the cortical circuit rather than the signal statistics “ (Fiser et al., 2004, S. 576). 4 f Einige empirische Probleme im Detail 535 einer gewissen Form der mentalen Aktivität verbunden ist, abnimmt, anstatt sich zu erhöhen, wenn dieses Gehirnzentrum mit einer Aufgabe beschäftigt ist, deren Bewältigung zu seinen „ Kompetenzen “ gehört (Otazu et al. 2009). So stellt die genannte Studie fest, dass die Aktivität im Hörkortex von Ratten, die eine Höraufgabe lösen mussten (auf das Läuten einer Glocke richtig zu reagieren), gegenüber dem Ruhezustand abnahm, statt zuzunehmen. Diese Ergebnisse widersprechen der bisherigen Annahme, dass die Aktivität eines Gehirnzentrums „ im Leerlauf “ wesentlich geringer ist als während der Informationsverarbeitung. (4) Wie bereits oben erwähnt, wurde vor kurzem gezeigt, dass die Aktivität der sensorischen (akustischen) Bereiche des Gehirns während des Schlafes im Wesentlichen der im Wachzustand gleicht (Issa und Wang 2008). Wie kommt es dann aber, dass wir keine Kenntnis von den Klängen haben, die uns im Schlaf umgeben? (5) Es gilt als erwiesen, dass die Zunahme der neuronalen Aktivität zu einer Erhöhung des Blutflusses in dem stimulierten Bereich des Gehirns führt, um Sauerstoff für den erhöhten Stoffwechsel zu liefern. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Erhöhung des Blutflusses zu einem bestimmten Bereich ohne eine Erhöhung der elektrischen neuronalen Aktivität in diesem Bereich, aber in Reaktion auf die Vorbereitung für die mentale Aufgabe, welche die Versuchsperson lösen soll, erfolgen kann (Sirotin und Das 2009, vgl. auch Leopold 2009). Das ist zutiefst rätselhaft: Die Neuronen scheinen nicht aktiv zu sein, der Blutfluss der Versuchsperson reagiert aber auf eine rein mentale Aktivität. Wie ist das überhaupt möglich? (6) Es wurde wiederholt gezeigt, dass Krähen und Raben die Fähigkeit haben, Probleme zu lösen und Werkzeuge auf einem Niveau zu nutzen, das mit dem höherer Menschenaffen wie Schimpansen und Gorillas vergleichbar ist (vgl. z. B. Hund 1996; Weir et al. 2002; Taylor et al. 2007; Bird und Emery, 2009 a, b). Diese Vögel haben jedoch offensichtlich sehr kleine Gehirne, auch relativ zu ihrem Körpergewicht. Wie können sie dann so „ klug “ sein? Darüber hinaus wurde bereits vor einigen Jahren berichtet, dass Kraken Verhaltensweisen zeigen, die als Werkzeuggebrauch interpretiert werden können (Finn et al. 2009). Bis dahin wurde von wirbellosen Tieren allgemein angenommen, dass sie nicht über die kognitiven Fähigkeiten verfügen, solche komplexen Aufgaben zu lösen. Wie können Kraken mit ihrem relativ primitiven Nervensystem so „ klug “ sein? (7) Im Rahmen des neuronalen Reduktionismus wäre es folgerichtig anzunehmen, dass, wenn wir unsere Beine oder Hände bewegen, einige Zentren im Gehirn, vermutlich irgendwo innerhalb des sogenannten motorischen Kortex, entsprechende Impulse an die betreffenden Extremitäten senden, um das Bein/ Hand „ in Bewegung zu setzen “ . Der genaue Mechanismus, der dies ermöglicht, ist noch unbekannt, aber die Zuschreibung des Stimulus für eine komplexe Bewegung von Gliedmaßen zu einem Gehirnzentrum ist unumstritten. Eine 2009 veröffentlichte Studie über Kraken (Zullo 536 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft et al. 2009), wirft jedoch interessante Fragen auf. Die Autoren berichten, dass sie durch elektrische Stimulation im Bereich von 3 bis 30 V Veränderungen in der Hautfarbe und Textur auf einem Teil der Haut oder dem gesamten Körper des Kraken sowie schwache motorische Reaktionen (z. B. kleine Bewegung der Augenlider, des Halses usw.) induzieren konnten. Durch die Anwendung stärkeren Stroms (3 bis 80 V) ist es ihnen gelungen, komplexere Reaktionen wie Armstrecken, Krabbeln, Schwimmen und Tintenabgabe zu evozieren. Sie scheiterten jedoch darin, Bewegungen hervorzurufen, die zum natürlichen Verhaltensrepertoire des Tieres gehören, wie z. B. die für Kraken typische Bewegung eines Tentakels, um etwas heranzuziehen, und sie haben keine Stelle gefunden, die, wenn stimuliert, die Bewegungen eines (ganzen) einzelnen Arms oder eines anderen Körperteils des Kraken evozieren konnte. Die Autoren folgerten, dass die Bereiche, welche für die Evozierung komplexer Bewegungen verantwortlich sind, keine topographische Organisation aufweisen, sondern über weite Bereiche des Körpers des Tieres verteilt sind. Wenn dem so ist, wie gelingt es dem Kraken, seine Tentakel überhaupt in einer koordinierten Weise zu bewegen? Eine weitere Schwierigkeit bei der Interpretation dieser Ergebnisse ergibt sich daraus, dass der Strom, der verwendet wurde, um die komplexeren Bewegungen der Kraken zu induzieren, eine Spannung hatte, die bei weitem jene überschreitet, die unter normalen physiologischen Bedingungen induziert werden kann. Damit stellt sich die Frage, ob die Ergebnisse, die unter diesen Bedingungen erzeugt werden, überhaupt gleichwertig sind mit den Prozessen, die im Tier in vivo stattfinden. Sollte man nicht vielmehr annehmen, dass die Reaktionen, die bei den Kraken hervorgerufen wurden, Abwehrreaktionen auf Schmerzen waren, die ihnen durch die starke elektrische Stimulation zugefügt wurden? In diesem Fall ist zu vermuten, dass die stimulierten Zentren keine oder allenfalls eine geringe Rolle bei der Auslösung der Bewegungen spielen und viel eher der Registrierung des Schmerzes dienen. Denn gleichgültig, ob Sie mich hart in die Nase oder ins Ohr kneifen, meine Reaktion wird in etwa dieselbe sein: Ich werde versuchen, Sie zu schlagen (oder, je nach meinem Temperament, schreien oder fliehen). Und wenn Sie mich wiederholt ins Ohr kneifen, werde ich diese Reaktion wiederholen. Doch weder die Nase noch das Ohr sind direkt kausal für die Evozierung meiner Schlagbewegung (oder meines Schreiens) verantwortlich. Dementsprechend wäre keines der von den Forschern identifizierten Zentren für die Herstellung der Bewegungen der Kraken unter physiologischen Bedingungen verantwortlich. Somit stellt sich die Frage: Wo befindet sich die Quelle der Bewegungen, die die Kraken unter normalen Lebensbedingungen ausführen? (8) Wie man heute weiß, feuern die Neuronen im Hippocampus von Nagetieren, die während des Aufenthalts des Tieres an einem bestimmten Ort aktiv sind (die „ place cells “ ), auch während der folgenden Schlafphasen (Pavlides und Winson 1989; Wilson und McNaughton 1994). Es wird 4 f Einige empirische Probleme im Detail 537 angenommen, dass eine solche Schlafaktivität der Reorganisation und Konsolidierung der synaptischen Verbindungen zwecks Gedächtniskonsolidierung diene (Moser und Moser 2011, S. 303). Überraschenderweise konnten nun Dragoi und Tonegawa (Dragoi und Tonegawa 2011) zeigen, dass die Aktivierung einiger hippocampaler Neuronen von Versuchsratten während der Schlafphase nicht der soeben in einem Labyrinth gemachten Erfahrung, sondern der bevorstehenden Erfahrung in einem noch zurückzulegenden Abschnitt des Labyrinths entspricht. Wie ist eine solche prophetische Vorwegnahme möglich? Der Befund scheint zunächst absurd zu sein (vielleicht handelt es sich bloß um ein experimentelles Artefakt? ), aber auf der anderen Seite weiß man z. B. von bedeutenden Entdeckern, dass sie ihre Einfälle dem Schlaf bzw. Traum verdanken. 358 Vielleicht können auch Ratten Einfälle im Schlaf haben? Dann aber stellt sich die weitergehende Frage, warum dem Schlaf bzw. dem Traum eine solche Prophetiebzw. Erfindungsgabe eignet. Konzeptionelle Probleme des neuronalen Reduktionismus Schreiten wir jetzt zu einer kurzen Diskussion gewisser konzeptioneller Probleme der Annahme, dass das Gehirn mentale Ereignisse verursacht. Gehirnereignisse haben einen völlig anderen Charakter als mentale Ereignisse. Stellen Sie sich ein Dreieck vor. Wie ist die Grundlinie des Dreiecks, das Sie sich vorstellen? Diese Frage kann beantwortet werden, wenn auch nicht sehr präzise. Jetzt fragen Sie sich, wie lange ist die Grundlinie des Begriffs des Dreiecks? Der Begriff des Dreiecks ist offensichtlich nicht identisch mit der Vorstellung des spezifischen Dreiecks, die Sie in Ihrem „ Geist “ haben, so wenig wie mit irgendeiner anderen. Die Frage ist also absurd. Begriffe haben keine räumlichen Dimensionen. Auf Ryles berühmte Idee rekurrierend kann man sagen, dass eine solche Frage einen Kategorienfehler enthält (Ryle 1949, S. 16 - 18). Es war Gottlob Frege, der am Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Aufmerksamkeit auf dieses Problem lenkte. Wie bereits erwähnt, 359 wies er in seinem berühmten Aufsatz „ Der Gedanke “ darauf hin, dass, wenn ein Gedanke, z. B. der Gedanke G mit dem Inhalt a 2 + b 2 = c 2 , nur in meinem Bewusstsein vorhanden wäre und im Bewusstsein einer anderen Person ein Gedanke T 1 , dessen Inhalt dem Inhalt meines Gedankens T zwar entspricht, der aber zahlenmäßig ein anderer Gedanke als der Gedanke T von mir ist, es dann nicht möglich wäre, vom „ pythagoreischen Satz “ zu sprechen. Man könnte mithin nicht behaupten, dass „ der Satz des Pythagoras “ wahr ist, 358 Für ein neuerliches Beispiel dieses Phänomens vgl. die Geschichte eines argentinische Automechanikers, der eine ungewöhnliche Erfindungsgabe hat und bereits acht Erfindungen zum Patent angemeldet hat. Er beschrieb den Weg, auf dem er zu ihnen gelangt, folgendermaßen: „ It comes naturally - for instance if I have a problem in my workplace I will go to bed and my head will think it through and I will wake up in the middle of the night with a solution “ (Venema 2013). 359 Vgl. Kapitel „ Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre “ . 538 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft sondern müsste vielmehr sagen, dass alle pythagoreischen Sätze, die jeweils im Geiste verschiedener Menschen vorhanden sind, wahr sind (Frege 1966). Auf der Grundlage dieser Überlegungen folgerte Frege, dass zusätzlich zu der Welt der äußeren Gegenstände und der Welt der inneren Vorstellungen eine dritte Welt angenommen werden muss, eine Welt, welche die Gedankeninhalte als solche beheimatet. Es ist ziemlich offensichtlich, dass Frege mit seiner „ dritten Welt “ eine Welt meinte, deren „ Bewohner “ raum- und zeitlose Entitäten sind. Obwohl Frege auf so prominente Philosophen wie Rudolf Carnap (Freges Schüler), Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein, und Edmund Husserl erheblichen Einfluss ausübte und obwohl Husserl ebenfalls stark betonte, dass der Inhalt der Gedanken deutlich vom Akt des Denkens unterschieden werden muss (Husserl 1992, S. 173f.), geriet die Idee der „ dritten Welt “ mehr oder weniger in Vergessenheit, bis Karl Popper sie in seiner eigenen Weise 1973 „ auferstehen “ ließ (Popper 1979, vgl. S. 152 - 61). Ungefähr zwei Jahrzehnte später lenkten mehrere Philosophen die Aufmerksamkeit erneut auf die Tatsache, dass gedachte Inhalte, ja auch Sinneswahrnehmungen und Gefühle raum- und vielleicht sogar zeitlose Entitäten sind. So schrieb z. B. Colin McGinn 1996: [U]nser Bewusstsein stellt sich uns tatsächlich als seiner Natur nach nicht-räumlich dar. Man betrachte eine visuelle Erfahrung E, einen gelben Blitz. Mit E ist im Cortex ein Komplex neuronaler Strukturen und Ereignisse N assoziiert, der räumlich beschrieben werden kann. N tritt - beispielsweise - zwei Zentimeter vom Hinterkopf entfernt auf; er dehnt sich über einen bestimmten spezifischen Bereich des Cortex aus; er hat eine Art Konfiguration oder Kontur; er ist aus räumlichen Teilen aufgebaut, die sich zu einem strukturierten Ganzen zusammenfügen; er existiert in der räumlichen Dimensionen; er schließt andere neuronale Komplexe von seiner räumlichen Lokalisierung aus. N ist ein ordnungsgemäßer Bestandteil des Raumes, wie jede andere physische Entität. E dagegen scheint keine dieser räumlichen Charakteristika aufzuweisen: E hat keinen bestimmten Ort; sie nimmt kein bestimmtes räumlichen Volumen ein; sie hat keine Form; sie ist nicht aus räumlich verteilten Teilen aufgebaut; sie besitzt keine räumlichen Dimensionalität; sie ist nicht fest. Schon nach ihren räumlichen Eigenschaften zu fragen bedeutet, eine Art Kategorienfehler zu begehen, analog der Frage nach den räumlichen Eigenschaften von Zahlen. (McGinn 1996, S. 183) 360 Der prominente deutsche Philosoph Robert Spaemann schrieb vor einigen Jahren, dass alle intentionalen Phänomene (einschließlich der Gedanken) weder innerhalb noch außerhalb unseres Körpers existieren können: „ Intentionalität ist nicht etwas Seelisches, sondern etwas Geistiges. Sie gehört so wenig zur Innenwelt von Subjekten wie zur Außenwelt “ (Spaemann 1998, 360 McGinns Artikel wurde ursprünglich auf Englisch für eine Sammlung von Aufsätzen über das Bewusstsein geschrieben. Da jedoch die Absicht des Herausgebers war, den gesamten Band auf Deutsch erscheinen zu lassen, wurden alle englischen Beiträge ins Deutsche übertragen. McGinns Aufsatz wurde von Antonia Barke übersetzt. 4 f Einige empirische Probleme im Detail 539 S. 63; vgl. ebd., S. 159). Intentionale Zustände seien, was ihre wesentliche Natur (ihr Sosein) betrifft, zeitlos und nur ihrem „ seelischen Dasein “ nach Ereignisse in der Zeit (ebd., S. 170). Interessant ist, dass sogar der radikal materialistisch orientierte einflussreiche deutsche Philosoph Thomas Metzinger annimmt, dass zumindest einige psychische Phänomene, beispielsweise unsere „ mentalen Selbstmodelle “ , keine räumliche Eigenschaften haben (Metzinger 1999 S. 163f.). In jüngerer Zeit sahen sich führende zeitgenössische Philosophen wie Richard Rorty und Jürgen Habermas zu der Feststellung veranlasst, dass Gedanken ihrem Wesen nach nicht im Gehirn repräsentiert werden können: The main reason for thinking that the Natur-Geist distinction will remain as important as it has always been is that intentional ascription is holistic: beliefs cannot be individuated in such a way as to correlate with neural states. Convincing arguments for this thesis have been afforded by, among others, Davidson, Arthur Collins, Lynn Baker, and Helen Steward. They have shown why we cannot hope to map beliefs onto neural states, though such mapping might work for, for example, mental images, or surges of lust. (Rorty 2004, S. 231) Gedanken, die wir im mentalistischen Vokabular ausdrücken können, lassen sich nicht ohne semantischen Rest in ein empiristisches, auf Dinge und Ereignisse zugeschnittenes Vokabular übersetzen. Darin besteht die Crux jener Forschungstraditionen, die genau das leisten müssen, wenn sie ihr Ziel einer nach üblichen wissenschaftlichen Standards verfahrenden Naturalisierung des Geistes sollen erreichen können. [. . .] Seit Frege und Husserl wissen wir, dass sich propositionale Gehalte oder intentionale Gegenstände nicht im Bezugsrahmen kausal wirksamer, raumzeitlich datierbarer Ereignisse und Zustände individuieren lassen. (Habermas 2004, S. 882) Doch die Schwierigkeit zu erklären, wie nichträumliche und nichtzeitliche Inhalte in einer offenbar räumlich-zeitlichen Struktur wie dem Gehirn repräsentiert werden können, ist nicht die letzte konzeptionelle Hürde, die von den Anhängern des neuronalen Reduktionismus überwunden werden muss. Eine weitere wesentliche Schwierigkeit erwächst aus einem der zentralen Merkmale unserer Vorstellungsbzw. Begriffserfahrung: der Konstanz der Bedeutung. Die Bedeutung, die der Begriff „ Dreieck “ für mich heute hat, unterscheidet sich nicht wesentlich von jener, die der Begriff hatte, als ich ihn in der Schule kennen lernte, und wird auch in 20 oder 30 Jahren dieselbe sein. Die Bedeutung unterliegt mit der Zeit zwar gewissen individuellen Veränderungen, insbesondere zwischen dem Zeitpunkt, da ein Mensch einen Begriff zum ersten Mal vernimmt, und dem Zeitpunkt, da er ein reifes Verständnis des Begriffs erreicht, sowie durch Assoziationen, welche sich im Zuge der immer reicher werdenden Lebenserfahrung um den Begriffskern legen. Auch Ereignisse wie der Zusammenbruch des ursprünglichen Verständnisses des Begriffs „ Atom “ (der sich von dem griechischen Wort für „ unteilbar “ herleitet, also quasi per definitionem die kleinste Einheit der Materie meint) am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts infolge der 540 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Entdeckung, dass Atome zerfallen können, sind in Rechnung zu stellen. Ein anderes Beispiel für einen Begriffswandel sind die jüngsten Entdeckungen bezüglich des Gens, unter welchem man - anders als heute - bis vor einigen Jahren im Grunde einen kontinuierlichen Abschnitt der chromosomalen DNS verstand, der für die Synthese eines bestimmten Proteins verantwortlich ist (Pearson 2006). 361 Und dennoch bleiben mit wenigen Ausnahmen die Kernbedeutungen der Begriffe über die Zeit unverändert. Sie sind auch im Kern nicht nur für verschiedene Menschen, sondern in verschiedenen Sprachen identisch. Tatsächlich verdanken wir der Bedeutungskonstanz den Umstand, dass sich die Menschen, auch die Menschen, die unterschiedlichen Kulturen und Sprachen angehören, überhaupt untereinander verständigen können. Es ist aber überhaupt nicht einsichtig, wie diese so zentrale Eigenschaft unserer Begriffserfahrung im Gehirn verankert sein kann. Das Problem der Abbildung der begrifflichen Konstanz im Gehirn ergibt sich aus der offensichtlichen Tatsache, dass die Realität des lebenden Gehirns alles andere als stabil ist. Wie oben ausgeführt, ruft die wiederholte Einwirkung eines Reizes verschiedene Reaktionen desselben Neurons hervor. Darüber hinaus haben wir gelernt, dass das Gehirn praktisch ununterbrochen durch neue Erfahrungen umgeformt wird, dass praktisch jede längere neue Stimulation zu einer Umlagerung der Verbindungsmuster zwischen den einzelnen Neuronen oder sogar zu strukturellen Veränderungen im Gehirn führt. Die Vermutung drängt sich auf (zugegebenermaßen wäre es allerdings äußerst schwierig, sie experimentell zu beweisen), dass keine zwei zeitlich diskreten Zustände des Gehirns oder sogar kleinerer Einheiten wie Neuronenverbände exakt identisch sind. Im Gehirn ist alles in ständiger Bewegung und unterliegt ständigen Veränderungen, alles fließt: panta rhei. Aber wie kommt es dann zu der begrifflichen Konstanz, die wir offensichtlich erleben? Mehr noch, wie kommen wir dazu, den Begriff der Konstanz, der Identität selbst zu bilden, wenn keine zwei Zustände des Gehirns je identisch sind? Schlussfolgerungen Die oben angestellten Überlegungen stellen in ihrer Gesamtheit eine radikale Herausforderung für die derzeit dominante Konzeption des Bewusstseins dar. Die Theorie, dass die elektrischen Impulse im Gehirn Spuren von „ Informationsverarbeitung “ seien, die sich innerhalb einzelner Neuronen und/ oder einzelner neuronaler Verbände vollziehe und zur Entstehung von Bewusstsein mit seinen vielfältigen und reichen Facetten führe, ist nicht zu halten. Vor nicht allzu langer Zeit schworen seriöse Wissenschaftler auf die Lehre von der Abiogenese (Urzeugung). Sie waren davon überzeugt, dass das Leben spontan aus anorganischer Materie entstehen könne. Und der große 361 Für eine ausführlichere Behandlung dieser Behauptung s. unten, Exkurs „ Können Gene die Morphogenese erklären? “ . 4 f Einige empirische Probleme im Detail 541 Aristoteles hielt es für eine „ einfach zu beobachtende Wahrheit “ , dass Blattläuse aus dem Tau, der auf Pflanzen fällt, die Flöhe aus fauliger Materie, Mäuse aus schmutzigem Heu, Krokodile aus am Flussboden verrottenden Baumstämmen usw. entstehen (vgl. Lennox, 2001). Immerhin noch im siebzehnten Jahrhundert schrieb Alexander Ross (1590 - 1654), Hausgeistlicher von Charles I. und ein einflussreicher Autor seiner Zeit, in diesem Sinn: To question [spontaneous generation] is to question reason, sense and experience. If he doubts of this let him go to Egypt, and there he will find the fields swarming with mice, begot of the mud of Nylus, to the great calamity of the inhabitants ’ . (Ross 1652) Die derzeit weit verbreitete Überzeugung, nach der das Bewusstsein eine emergente Eigenschaft eines rein physikalischen Systems ist, scheint mir ebenso radikal falsch zu sein wie einst der Glaube an Urzeugung. Wie die Mäuse nicht aus dem Schlamm des Nils entstehen können, so kann das Bewusstsein und andere, komplexere Phänomene des mentalen Lebens nicht aus dem „ Feuern “ von Nervenzellen im Gehirn hervorgehen. 362 Damit stellt sich die Frage „ Wie kann Bewusstsein entstehen? “ mit neuer Dringlichkeit. Chronologie des neuronalen und mentalen Geschehens Die Verfechter des neurologischen Reduktionismus haben jedoch noch einen Trumpf in der Hand, dessen Tragweite bis jetzt nicht gebührend berücksichtigt wurde, und zwar die Beobachtung, dass die neuronalen Prozesse bereits stattfinden, bevor die ihnen korrespondierenden mentalen Phänomene bewusst werden. Diese Tatsache scheint die Möglichkeit auszuschließen, dass mentale Phänomene und konsequenterweise das bewusste Selbst ursächlich auf die neurophysiologische Grundlage einwirken, denn die Ursache eines Phänomens kann selbstverständlich unmöglich erst nach diesem auftreten. Der Trumpf des neuronalen Reduktionismus besteht also in der Behauptung, dass jegliche Versuche, die von ihm vorgeschlagene Kausalitätsrichtung zu 362 Interessanterweise setzt sich die Einsicht, dass das Gehirn unmöglich das Bewusstsein verursachen kann, allmählich bei zumindest einigen „ unparteiischen “ Intellektuellen durch. So schrieb z. B. 2013 David Brooks, ein einflussreicher amerikanischer Journalist, der regelmäßig politische und kulturelle Ereignisse für die New York Times kommentiert, in einem Op-Ed unter dem bemerkenswerten Titel „ Beyond the Brain “ : „ Right now we are compelled to rely on different disciplines to try to understand behavior on multiple levels, with inherent tensions between them. Some people want to reduce that ambiguity by making one discipline all-explaining. They want to eliminate the confusing ambiguity of human freedom by reducing everything to material determinism. But that is the form of intellectual utopianism that always leads to error. An important task these days is to harvest the exciting gains made by science and data while understanding the limits of science and data. The next time somebody tells you what a brain scan says, be a little skeptical. The brain is not the mind “ (NYT, 17. 6. 2013: http: / / www.nytimes.com/ 2013/ 06/ 18/ opinion/ brooks-beyond-the-brain.html? _r=0. Heruntergeladen am 17. 6. 2013). 542 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft beanstanden, an der Chronologie des beobachtbaren Geschehens scheitern (Roth 2004, S. 226f.; vgl. auch Roth 2001, S. 441f.). Die Basis für diese Behauptung sind die Ergebnisse der berühmten Experimente von Benjamin Libet und ihnen ähnlicher Nachfolgeexperimente 363 . Kurz zusammengefasst besagt Libets Experiment: Wenn man eine gewollte menschliche Handlung untersucht, sind gewisse Gehirnprozesse, die diese Handlung quasi neurophysiologisch vorbereiten (das sog. Bereitschaftspotential in den motorischen Arealen des Kortex), bereits feststellbar, bevor sich die Versuchsperson der Intention, diese Handlung auszuführen, überhaupt bewusst wird. Daraus schließen die meisten Forscher und auch viele Philosophen: Weil die Wirkung selbstverständlich nicht vor der Ursache auftreten kann, kann die bewusste Intention, die Handlung auszuführen, die Gehirnprozesse, die die Handlung vorbereiten, nicht verursachen. Im Gegenteil müssen jene unbewussten Gehirnprozesse die wahren Ursachen der Handlungsintention sein, und also ist es das Gehirn, das entscheidet, was der Mensch tun will. Die sog. freie Entscheidung und mit ihr der freie Wille und moralische Verantwortung wären bloße Illusionen, Konstrukte des Gehirns. Dieser Befund hätte selbstverständlich weitgehende praktische Konsequenzen. Denn wenn der Mensch tatsächlich keinen freien Willen hätte und somit keine moralische Verantwortung für seine Taten trüge, wäre es nicht angebracht, ihn selbst für die schlimmsten Vergehen ins Gefängnis zu bringen, es sei denn, um die Gesellschaft vor künftigen Verbrechen des Täters zu schützen. Eine solche Maßnahme wäre dann aber keine Strafe mehr, sondern hätte ausschließlich Prävention zum Ziel. In diesem Sinn plädieren in letzter Zeit immer mehr Experten dafür, die Grundlagen unseres gegenwärtigen Rechtssystems zu überdenken und dem Stand der Wissenschaft anzupassen. Betrachtet man allerdings Libets Experimente wie auch die der Nachfolger kritisch, so ergeben sich Fragen, die die für das Selbstverständnis des Menschen vernichtenden Schlussfolgerungen zumindest teilweise entkräften können. So ist z. B. zweifelhaft, ob es berechtigt ist, die Bewegung eines Fingers, die bei Libet als das Paradigma der freien Handlung herhalten muss, tatsächlich als ein solches gelten kann: Man kann darauf verweisen, dass das Trinken einer Tasse Kaffee, „ wenn ich es möchte “ , kaum das Resultat einer freien Entscheidung, sondern vielmehr durch leibliche Bedürfnisse bedingt ist und dass man paradigmatisch freie Handlungen erst in jenen Entscheidungen erblicken kann, die aufgrund gut überlegter, durch rationale Gründe gestützter Entschlüsse erfolgen (vgl. z. B. Bieri 2001, S. 385 - 397). Man kann ferner darauf hinweisen, dass die messbaren Bereitschaftspotentiale handlungsunspezifisch sind, d. h., dass sie die gleiche Form haben, unabhängig davon, welche Handlung ausgeführt werden sollte, was darauf deutet, dass 363 Das einschlägige Experiment wurde zum ersten Mal beschrieben in: Libet et al. 1982. Eine sehr gute Sammlung von Libets Aufsätzen findet man in Libet 1993. Für die Nachfolgeexperimente vgl. z. B. Haggard 2008, Cashmore 2010, Soon at al. 2013. 4 f Einige empirische Probleme im Detail 543 sie eine unspezifische Vorbereitung irgendeiner Handlung und keine gezielte Vorbereitung der von der Versuchsperson konkret „ gewollten “ Handlung darstellen. Des Weiteren kann man sich fragen, weshalb sich das Gehirn eigentlich selbst belügen sollte, indem es die Illusion der freien Wahl erzeugt, zumal wenn so etwas wie das Selbst auch nichts anderes als ein Konstrukt des Gehirns ist, wenn also effektiv außer dem Gehirn niemand da ist, der belogen werden könnte. Man kann wahrscheinlich noch weitere Einwände erheben. Es ist aber seit der Zeit jener Experimente in den 80er Jahren unbestreitbar, dass zahlreiche Gehirnprozesse stattfinden müssen, bevor eine bewusste (und gewollte) Handlung ausgeführt werden kann, dass die Handlung nicht zustande kommt oder beeinträchtigt wird, wenn diese Prozesse gestört werden, und dass diese Prozesse sicherlich vor der Ausführung der Handlung, in vielen Fällen auch vor dem Bewusstwerden der Intention, die Handlung auszuführen, ablaufen. Reichen diese Befunde aus, um die Existenz des freien Willens und des Einflusses des bewussten Selbst auf das bewusste Verhalten zu negieren? Meines Erachtens kann gezeigt werden, dass sie zu diesem Schluss nicht zwingen. Ich werde aber erst gegen das Ende dieses Buches diese Behauptung ausführlich untermauern können. An dieser Stelle möchte ich lediglich ein Argument per analogiam skizzieren, das die Bedeutung von Libets Ergebnissen relativiert. Die Welt ist voll von Prozessen, insbesondere Lebensprozessen, die in einer festgelegten zeitlichen Sequenz erfolgen und bei denen man überhaupt nicht die Neigung hat zu behaupten, dass ein früherer Zustand die Ursache des späteren ist. Der große Zeiger geht dem kleinen voraus, wir werden aber die Bewegung des kleinen Zeigers nicht als durch die Bewegung des großen verursacht betrachten; der Stängel einer Pflanze geht dem Blatt voraus, das Blatt der Blüte, jedoch weder das eine noch das andere wird als Ursache des Späteren erachtet; jeden Morgen wird es vor dem Sonnenaufgang hell, es wäre aber absurd zu behaupten, dass das Hellwerden des Himmels die Ursache des Sonnenaufgangs ist. Der Grund, warum man solche regelmäßige zeitliche Abfolgen nicht als Ursache-Wirkungs-Verhältnisse betrachtet, liegt auf der Hand: Man ist sich dessen bewusst, dass sie bloße Glieder einer längeren Kette von Ereignissen sind und dass die wahren Ursachen nicht in den an einer zufällig gewählten Stelle der Kette beobachteten Einzelgliedern zu suchen sind. Was berechtigt uns aber zu der Annahme, dass das gemessene Bereitschaftspotential das erste Glied der Kausalkette ist, die zu der Handlung führt? Der einzige Grund, den die Befürworter des neuronalen Reduktionismus für diese Annahme angeben können, ist, dass sie keine anderen und noch früheren Glieder der Kausalkette beobachten bzw. feststellen können. Aber das Unvermögen, etwas zu beobachten, ist keineswegs ausreichend für die Behauptung, dass ein früheres Glied nicht existiert. Selbst wenn also das Bereitschaftspotential regelmäßig vor einer Handlung messbar ist, bleibt theoretisch durchaus die Möglichkeit offen, dass es nicht 544 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft die Ursache dieser Handlung ist. Ich werde im Kapitel „ Einige Erklärungen der Geisteswissenschaft “ zeigen, dass diese theoretische Möglichkeit im Menschenleben faktisch verwirklicht ist. 4 f ii Können Gene Morphogenese erklären? 364 Die Berichte über die neuesten Errungenschaften der Genetik und Gentechnik, die in der letzten Zeit fast wöchentlich in den Fachzeitschriften veröffentlicht werden, scheinen zu beweisen, dass keine Faktoren außerhalb der im Genom physisch enthaltenen Information nötig sind, um die Form des Organismus zu erzeugen. Es gilt heute als eine Selbstverständlichkeit, dass jegliche körperliche, aber auch seelische Eigenschaft des Menschen, sei es die Körpergröße, das Körpergewicht, Augenfarbe, aber auch Intelligenz, Charakter usw. genetisch bedingt ist, d. h., dass die Ursache für das Auftreten solcher und anderer Eigenschaften bei einer Person (im Phänotyp) die Information ist, die in den Genen dieser Person (letztendlich in der für diese Person spezifischen Sequenz ihrer DNS) enthalten ist. Diese Annahme gründet in der uralten Beobachtung, dass die Mitglieder einer Gattung und insbesondere die Kinder ihren Eltern ähnlich sind, was zu dem Schluss zwingt, dass bestimmte Einflüsse, welche diese Ähnlichkeit bedingen, von einer Generation auf die nächste weitergegeben werden. Seit dem Altertum ist allgemein bekannt, dass man die Eigenschaften von Pflanzen und Tieren steigern oder sogar erzeugen kann, indem man die diese Eigenschaften aufweisenden Exemplare der Gattung mit anderen Exemplaren gezielt kreuzt. 365 Zu dieser alltäglichen Beobachtung gesellt sich noch eine zweite, die weniger alltäglich, aber ebenfalls recht offensichtlich ist, dass nämlich Zwillinge, insbesondere eineiige Zwillinge, körperlich und seelisch fast identisch sind. Sobald man verstanden hatte, dass eineiige Zwillinge über identische genetische Information verfügen, weil sie aus einer Zygote entstanden sind, die sich dann in zwei Embryos teilt, lag es nahe zu schließen, dass praktisch die ganze Information, die zur Entstehung eines Menschen nötig ist, bereits in der Zygote enthalten ist, und damit - wie wir seit der bahnbrechenden Entdeckung von Watson und Crick im Jahr 1953 wissen - in der DNS im Zellkern dieser Zelle. Aus diesen Beobachtungen ergab sich dann das „ zentrale Dogma “ der Genetik, das besagt, dass die genetische Information nur in eine Richtung fließen könne, und zwar von der DNS-Sequenz zur RNS und von dieser zum Protein, kurz: „ DNA makes RNA makes 364 Dieser Exkurs ist eine umgearbeitete und aktualisierte Fassung eines Artikels mit dem gleichen Titel, der 2008 im Merkurstab (61) (2/ 08, S. 112 - 122) erschien. Es war mir nur begrenzt möglich, die im ursprünglichen Text enthaltenen Informationen auf den neusten Stand der Forschung zu bringen. 365 Es scheint mir hier nicht nötig, auf die allgemein bekannte Geschichte der Genetik und insbesondere auf die Leistungen ihres Gründers, Gregor Mendel (1822 - 1844), einzugehen. 4 f Einige empirische Probleme im Detail 545 protein “ 366 . Oder noch prägnanter: „ DNS macht RNS, RNS macht Proteine, und Proteine machen uns “ (Keller 2000, S. 54). 367 Diese zunächst vor allem theoretischen Erkenntnisse gewannen eine gewichtige empirische Unterstützung, als man Methoden entwickelte, die es erlauben, bestimmte Gene gezielt zu manipulieren, d. h., sie entweder aus dem Genotyp zu eliminieren oder in ihn einzubauen, um die Wirkungen einer solchen Manipulation zu beobachten. Es handelt sich dabei vor allem um zwei Gruppen von Forschungsergebnissen. Die erste umfasst die Erfolge der sog. RNS-Interferenz-Methode (RNSi) zur Bestimmung der Funktion bestimmter Gene, deren Erfinder Andrew Fire und Craig Mello 2006 mit dem Nobelpreis für Physiologie und Medizin ausgezeichnet wurden. 368 Diese Methode besteht darin, in eine Zelle eine doppelstrangige RNS (ds-RNS) mit einer bestimmten Nukleotidsequenz einzufügen. Dadurch wird die m-RNS mit der gleichen Sequenz degradiert, was dazu führt, dass die ihr entsprechenden Eiweiße nicht synthetisiert werden können. Wenn man die Nukleotidsequenz eines bestimmten Gens kennt, kann man also dieses Gen gezielt ausschalten, indem man die dieser Sequenz entsprechende ds-RNS einschleust, und dann die phänotypischen Folgen dieses Ausschaltens studieren. Die beobachteten Veränderungen des Phänotyps werden dann dem Ausbleiben der Wirkung der ausgeschalteten Gene zugeschrieben. Die Methode ist so erfolgreich, dass bereits zahlreiche Gene in unterschiedlichen Organismen ausgeschaltet wurden, um die phänotypischen Veränderungen, die daraus resultieren, zu beobachten. Im Fall von Drosophila melanogaster wurde sogar vor kurzem eine vollständige „ Bibliothek “ publiziert, die systematisch die phänotypischen Veränderungen dokumentiert, welche aus der „ inactivation of gene function in specific tissues of the intact organism “ mittels der RNSi-Methode resultieren (Dietzl et al. 2007, S. 151). Die Autoren äußern die Hoffnung, dass man bald mithilfe dieser Methode die genaue Funktion jedes Gens des menschlichen Genoms bestimmen können wird. Eine zweite Gruppe von Forschungsergebnissen stellen die beeindruckenden Erfolge der modernen Gentechnik dar. Diese werden als ein augenscheinlicher Beweis für die Behauptung interpretiert, dass Gene kausal wirksam sind. Denn die zahlreichen erfolgreichen gentechnischen Manipulationen scheinen zu zeigen, dass man nicht nur durch die Ausschaltung der Gene gewisse Erscheinungen unterbinden, sondern durch ihre gezielte Umschaltung bzw. Umplatzierung die Eigenschaften der Lebewesen wesentlich 366 http: / / history.nih.gov/ exhibits/ nirenberg/ glossary.htm (heruntergeladen am 3. 4. 2007). 367 Die ursprüngliche Formulierung lautete: „ [O]nce (sequential) information has passed into protein it cannot get out again “ (Crick 1958). 368 Vgl. „ Advanced Information: The 2006 Nobel Prize in Physiology or Medicine “ , http: / / nobelprize.org/ cgi-bin/ print? from=/ nobel-prizes/ medicien/ laureates/ 2006/ adv. html S. 5 (heruntergeladen am 19. 11. 2006), 546 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft modifizieren bzw. erzeugen kann. Das beweise, so die Schlussfolgerung, dass die manipulierten Elemente (Gene) ursächlich für diese veränderten Eigenschaften sind. Man kann heute selbstverständlich auf Dutzende, wenn nicht Tausende Beispiele solcher erfolgreicher Manipulationen hinweisen, angefangen von der Erzeugung von Augen auf den Flügeln, Beinen und Antennen der Fruchtfliege durch die Umplatzierung des entsprechenden Gens (eyeless) auf die entsprechenden Stelle der Fruchtfliegenlarve (Halder et al. 1995) über verhältnismäßig neue und spektakuläre Erfolge wie die Erzeugung der Farbsicht bei Mäusen durch eine gentechnische Manipulation (Jacobs et al. 2007) bis zur vollständigen Veränderung der Art des Organismus durch einen Austausch des Genoms (Lartigue et al. 2007). Schließlich ist eine dritte Gruppe von Forschungsergebnissen zu erwähnen, eine Gruppe, die gegenwärtig quantitativ in den Fachzeitschriften bei weitem überwiegt. Es handelt sich um die sog. genomweiten Assoziationsstudien (GWA bzw. GWAS), die darauf zielen, die genetische Prädisposition für bestimmte Krankheiten zu eruieren. Ihre Methode basiert auf der seit den Erfolgen des Humangenomprojekts weit fortgeschrittenen und somit verhältnismäßig billig gewordenen technischen Möglichkeit, ganze Genome zu sequenzieren. Sie erlaubt es, die Genome von Menschen, die unter einer bestimmten Krankheit leiden, mit denen einer Kontrollgruppe zu vergleichen, um festzustellen, welche Veränderungen im Genom (vor allem die sog. Single-Nucleotid-Polymorphien oder SNPs, also Abweichungen bei den Basenpaaren in den Chromosomen von zwei Menschen) mit dem Auftreten der Krankheit assoziiert sind. Die erste GWA-Studie wurde 2005 durchgeführt und verglich 96 Patienten mit altersbedingter Makula-Degeneration (AMD; englisch: age-related macular degeneration (ARMD) mit 50 gesunden Personen in der Kontrollgruppe (Haines et al. 2005). Heute vergeht praktisch kein Monat, ohne dass z. B. in Nature Genetik GWA-Studien veröffentlicht werden, welche über immer neue Assoziationen von SNPs mit Krankheiten berichten. Diese Studien basieren auf der Annahme, dass die Disposition für eine bestimmte Krankheit wie jegliche andere körperliche Eigenschaft des Menschen in der genetischen Information verankert ist. Die Beweise für die genetische Bedingtheit der körperlichen und seelischen Eigenschaften des Menschen sind also geradezu erdrückend. Gerade das Humangenomprojekt warf allerdings völlig unerwartet Fragen auf. Da bereits bekannt war, wie viele Gene sich im Erbgut einfacher Tiere oder Pflanzen befinden, erwartete man, dass die Zahl der Gene im Erbgut des Menschen mindestens 120.000 beträgt. 369 Indessen ergab das Humangenomprojekt eine unerwartet niedrige Zahl von 20.000 bis 25.000 Genen 370 , welche 369 http: / / compbio.dfci.harvard.edu/ tgi/ publications/ ngTIGR.pdf (heruntergeladen am 5. 4. 2007). 370 http: / / www.ngfn.de/ de/ verstehen_der_menschlichen_erbsubstanz.html (heruntergeladen am 5. 4. 2007). 4 f Einige empirische Probleme im Detail 547 nur ein wenig höher ist als die eines Fadenwurms (ca. 20.000 [Kamath et al. 2003]) und deutlich kleiner als die von Reis (ca. 37.500 371 ). Sind wir Menschen wirklich nur so komplex wie ein Wurm und zweimal weniger komplex als Reis? Und wenn nicht, welche von unseren Eigenschaften bestimmen die Gene und welche nicht? Die nachfolgenden Betrachtungen haben zur Aufgabe, einen gedanklichen Nachweis zu liefern, dass die theoretischen Schlüsse, die aus den empirischen und praktischen Erfolgen der Molekularbiologie, Genetik und Gentechnik in Bezug auf die Rolle der Gene in der Morphogenese der Organismen gezogen werden, unberechtigt sind (es geht selbstverständlich nicht darum, die empirischen Fakten in Frage zu stellen). Dieses Ziel möchte ich in drei Schritten erreichen: Im ersten möchte ich auf die in letzter Zeit erkannten gravierenden Schwächen des genetischen Paradigmas hinweisen; im zweiten werde ich kurz auf die Auffassung des Ursachebegriffs der modernen Wissenschaftstheorie zu sprechen kommen; und im dritten werde ich die dadurch gewonnenen theoretischen Einsichten auf die Ergebnisse der RNSi-Methode und der Gentechnik anwenden. Was ist ein Gen? Der klassischen Auffassung zufolge gleicht das Gen der Perle auf einer Kette. Diese Vorstellung hat folgende Aspekte: 1) Ein Gen ist ein kontinuierlicher, ununterbrochener Abschnitt der DNS. 2) Auf dem DNS-Strang folgt ein Gen direkt auf das andere. 3) Die gesamte Information für die Synthese eines Eiweißes befindet sich innerhalb eines solchen ununterbrochenen Abschnitts der DNS. Alle diese Annahmen werden heute als falsch erachtet. Das gegenwärtige Bild der DNS sieht vielmehr so aus: Ein „ Gen “ 372 bildet keineswegs eine kontinuierliche Einheit, sondern besteht aus den sog. Exonen, den eigentlich proteinkodierenden Abschnitten, und den sog. Intronen, die keine erkennbare Funktion erfüllen und ausgeschieden werden müssen, bevor ein Boten-RNS-Strang (m-RNS-Strang von engl. „ messenger “ für „ Bote “ ) gebildet wird. Die Abschnitte der DNS-Kette, welche den „ Genen “ entsprechen, also Proteine kodieren, werden durch andere, viel längere Abschnitte getrennt, deren Funktion noch immer unbekannt ist, weshalb sie oft Müll-DNS ( „ junk DNA “ ) genannt werden. Man schätzt, dass lediglich 3 % (Keller 2000, S. 59) oder sogar nur 1 - 2 % (Pearson 2006, S. 261) des Genoms als Matrize für die Synthese der Proteine dienen. Den eigentlichen proteinkodierenden DNS-Sequenzen sind die sog. Promoter vorangestellt, welche für die Initiierung der Transkription notwendig sind; die Promoter-Abschnitte müssen sich nicht auf dem DNS-Strang direkt vor dem „ Gen “ befinden, sie können fern vom „ Gen “ liegen, auf dem gleichen DNS- 371 International Rice Genome Sequencing Project 2005. 372 Ich setze dieses Wort hier in Anführungszeichen, weil die Erkenntnisse, die im Nachfolgenden kurz referiert werden, die Annahmen, die mit diesem Wort gewöhnlich assoziiert werden, grundsätzlich in Frage stellen. 548 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Strang (auf dem gleichen Chromosom) oder sogar auf einem anderen. Letzteres führt zum „ Küssen “ der Gene, bei dem sich die entsprechenden Abschnitte von zwei Chromosomen räumlich nähern, um die Transkription eines bestimmten „ Gens “ zu initiieren (Lanctôt 2007, S. 107f.). Bei miteinander verschmolzenen Abschnitten ( „ fused transcripts “ ) beginnt die Transkription der DNS-Sequenz innerhalb eines „ Gen “ -Abschnitts, springt dann aber zu der Sequenz, die einem anderen „ Gen “ entspricht, quasi über (Pearson 2006 a, S. 399). In einem 2006 in Nature erschienenen Artikel wurde das Bild der Transkription des Genoms, das sich anhand der neuesten Forschungen ergibt, so zusammengefasst: The picture these studies paint is one of mind-boggling complexity. Instead of discrete genes dutifully mass-producing identical RNA transcripts, a teeming mass of transcription converts many segments of the genome into multiple RNA ribbons of differing lengths. (Pearson 2006 a, S. 399) Von besonderem Interesse im unserem Kontext ist der Prozess des „ alternative splicing “ (engl. „ to splice “ bedeutet etwa „ Zusammenschnüren “ ; „ splicing “ wird auf Deutsch „ Spleißen “ oder ebenfalls „ Splicing “ genannt). Wie bereits erwähnt, besteht ein DNS-Abschnitt, der einem „ Gen “ entspricht, aus Exons und Introns. Bevor eine Kopie der m-RNS synthetisiert werden kann, müssen die Introns aus der sog. Präkursor-RNS (prä-RNS) ausgeschieden werden, so dass die endgültige (sog. reife) m-RNS nur noch aus den Exons besteht. 373 Es zeigt sich nun, dass die gleiche prä-RNS auf unterschiedliche Weise behandelt werden kann, so dass aus einer prä-RNS unterschiedliche m-RNS synthetisiert (gespleißt) werden können. Durch dieses alternative splicing kann ein Abschnitt der DNS auf dem Chromosom, also ein „ Gen “ , zur Grundlage für die Synthese unterschiedlicher Proteine werden. Es wird geschätzt, dass aufgrund dieser Komplikationen ein „ Gen “ eine Matrize für die Synthese von Hunderten (Keller 2000, S. 61) oder sogar Tausenden unterschiedlichen Proteinen bilden kann. Eines der spektakulärsten Beispiele solcher Variabilität ist das Dscam-Gen der Fliege Drosophila melanogaster. Dieses einzelne Gen beinhaltet etwa 116 Exone, von denen 17 in der endgültigen m-RNS übernommen werden. Dieses System kann theoretisch 38.016 unterschiedliche Proteine produzieren. Über 18.000 Varianten wurden tatsächlich in der Hämolymphe (Insektenblut) von Drosophila gefunden. 374 373 Im Lichte der allgemeinen Effizienz der biologischen Prozesse muss es als eine Art Anomalie erscheinen, dass die Introns (also dasjenige, was im Eiweißproduktionsprozess quasi spurlos verschwindet) generell viel länger als die Exons sind. Ein durchschnittliches Exon einer eukaryotischen Zelle hat eine Länge von 140 Nukleotiden, wohingegen ein menschlicher Intron manchmal eine Länge von 480.000 Nukleotiden aufweist. 374 http: / / users.rcn.com/ jkimball.ma.ultranet/ BiologyPages/ T/ Transcription.html (heruntergeladen am 5. 4. 2007) 4 f Einige empirische Probleme im Detail 549 Was bedeutet dies aber für unser Verständnis des „ Gens “ ? Auf der einen Seite kann man argumentieren, dass solche und andere Mechanismen dem Organismus eine große Flexibilität verleihen: Er kann mehr unterschiedliche Eiweiße herstellen, als er „ Gene “ hat. Das würde helfen, die rätselhafte Tatsache zu erklären, dass ein Mensch und ein Wurm über eine vergleichbare Zahl von „ Genen “ im Genom verfügen. Es ist also zu vermuten, dass komplexere Organismen ihren differenzierteren Bedarf an Eiweißen dadurch befriedigen, dass sie auf der Matrize eines „ Gens “ mehrere Proteine synthetisieren können. Auf der anderen Seite es ist offensichtlich, dass eine solche gezielte Produktion einer Aufsicht unterliegen muss. Wenn sie nicht einfach durch eine bestimmte Sequenz eines „ Gens “ festgelegt ist, müssen wiederum Steuerungsmechanismen existieren, die entscheiden, welche Proteine bei Vorhandensein eines „ Gens “ (wo und wann) entstehen werden. Über solche Mechanismen ist nichts bekannt, wobei nicht auszuschließen ist, dass sie irgendwo in den Chromosomen verborgen liegen. Eines ist indessen klar: Das zentrale Dogma der Genetik ist offensichtlich nicht gültig. Heute sieht es vielmehr danach aus, dass die DNS im Zellkern nicht das Buch des Lebens, sondern das Wörterbuch des Lebens darstellt, von dem der Organismus wie von einem Rohstofflager Gebrauch machen kann, um seine Bedürfnisse gezielt und flexibel zu befriedigen (Webster und Goodwin 2006, S. 123). Angesichts dieser Schwierigkeiten der Gen-Theorie stellen einige Wissenschaftler sogar den Sinn des Gen-Paradigmas prinzipiell in Frage: Genes have had a glorious run in the twentieth century, and they have inspired incomparable and astonishing advances in our understanding of living systems. Indeed, they have carried us to the edge of a new era in biology, one that holds out promise of even more astonishing advances. But these very advances will necessitate the introduction of other concepts, other terms, and other ways of thinking about biological organization, thereby inevitably loosening the grip that genes have had on the imagination of life scientists these many decades. (Keller 2000, S. 147) Die Choreographie der Replikation und der Transkription Darüber hinaus scheinen die neueren Forschungsergebnisse darauf hinzuweisen, dass die Transkription der „ Gene “ keineswegs ein automatischer, bei jeder Zellteilung völlig identisch ablaufender Prozess ist, sondern dass man es vielmehr mit einer subtilen raumzeitlichen Choreographie des Geschehens zu tun hat. In einem Review-Artikel, der im September 2005 in der Zeitschrift Nature Reviews Genetics veröffentlicht wurde und auf 130 neueren Studien basiert (Chakalova 2005), diskutieren die Autoren das dynamische Verhältnis zwischen den Zellkernstrukturen und dem Vorgang der Replikation und der Transkription der genetischen Information. Das Hauptergebnis ihrer Betrachtungen ist, dass diese zwei Prozesse nicht bloß triviale enzymatische Mechanismen sind, sondern dass sie das Genom im Gegenteil aktiv im nuklearen Raum organisieren: 550 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft As the relationship between nuclear structure and function begins to unfold, a picture is emerging of a dynamic landscape that is centred on the two main processes that execute the regulated use and propagation of the genome. Rather than being subservient enzymatic activities, the replication and transcriptional machineries provide potent forces that organize the genome in three-dimensional nuclear space. (Chakalova 2005, S. 669) Die Replikation der DNS, die vor jeder mitotischen Zellteilung in der S-Phase stattfinden muss, dauert mehrere Stunden lang. Sie nimmt deshalb so viel Zeit in Anspruch, weil das ganze Genom in Tausende von kleinen Replikationseinheiten (sog. Replikons) aufgeteilt wird, von welchen lediglich 10 - 15 % zu einem bestimmten Zeitpunkt der S-Phase der eigentlichen Replikation unterliegen. Die Replikation findet nach neusten Erkenntnissen nicht dadurch statt, dass das dafür zuständige Enzym Polymerase einfach den DNS-Strang entlangwandert, sondern sie wird an bestimmten Orten des nuklearen Raumes vollzogen, die Replikationsfabriken genannt werden (ebd., S. 670) und zu denen die zu replizierenden Abschnitte der DNS erst gelangen müssen (ebd., S. 674). Ähnliches findet bei der Transkription statt. Auch dieser Prozess wird an besonderen Orten des nuklearen Raumes vollzogen, die entsprechend Transkriptionsfabriken genannt werden (ebd., S. 672). Da es deutlich weniger solche Fabriken gibt, als es aktive „ Gene “ gibt, werden offensichtlich mehrere „ Gene “ in einer Fabrik transkribiert. (Ähnliches lässt sich auch von der Replikation der DNS sagen: In jeder Replikationsfabrik befinden sich mehrere aktive Replikons gleichzeitig, die nach dem Abschluss des Replikationsprozesses in andere Bereiche des nuklearen Raumes wandern [ebd., S. 670].) Es zeigt sich übrigens, dass der Prozess der Transkription das Chromatin nicht unbeeinflusst lässt: Die Nukleosome werden während dieses Prozesses teilweise auseinandergenommen, um nach dem Abschluss der Transkription wieder zusammengefügt zu werden (ebd., S. 671). Interessanterweise nehmen die Abschnitte des Chromatins, die transkribiert werden sollen, eine bestimmte dreidimensionale Struktur an, die aus mehreren Schlaufen besteht (ebd., S. 673). Die Transkriptionsfabriken wie auch die Replikationsfabriken sind verhältnismäßig stabile Einheiten, die jedoch nicht permanent vorhanden sind, sondern nach Bedarf immer wieder neu aufgebaut werden (ebd., S. 670, 674). Es zeigt sich ferner, dass die räumliche Position eines Abschnitts des Genoms im nuklearen Raum die Art der Behandlung dieses Abschnittes durch die Transkriptionsmaschinerie beeinflusst. Die „ Gene “ , die transkribiert werden sollen, wandern in die Richtung des Kernzellzentrums, obwohl die ihnen auf dem DNS-Strang benachbarten inaktiven „ Gene “ , das Heterochromatin, an der Peripherie des Zellkerns gebunden bleiben (ebd., S. 673). 375 Es besteht offensichtlich auch eine gewisse zeitliche Kontrolle des Geschehens. Eine frühe Replikation eines DNS- Abschnitts in der S-Phase erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass dieser 375 Vgl. auch den Review-Artikel von Lanctôt et al. 2007. 4 f Einige empirische Probleme im Detail 551 Abschnitt ( „ Gen “ ) auch transkribiert (expliziert) wird (ebd., S. 670, 671). Viele Studien deuten auf eine Interaktion zwischen der Zellkernmembran und dem Chromatin bei der Transkription (vgl. z. B. Akhtar und Gasser 2007), andere beschreiben interessante Transformationen der räumlichen Verteilung des genetischen Materials im Zellkern während der frühesten Phasen der Zellteilung nach der Befruchtung (Martin et al. 2006). Wenn aber die Position der Chromosomen bzw. ihrer Teile im Zellkern für die richtige Aktivierung der Gene ( „ Genexpression “ ) von entscheidender Bedeutung ist, muss auch diese kontrolliert bzw. gesteuert werden. Diese Tatsache birgt ein neues Problem für das Genomparadigma. Es lässt sich nämlich nur schwer vorstellen, dass die Basensequenz der DNS die Information beinhaltet, die solche dynamischen raumzeitlichen Prozesse kontrollieren und steuern könnte. Die Notwendigkeit, höhere Steuerungsmechanismen zu postulieren Neben den Schwierigkeiten, die sich für die Gen-Theorie der Morphogenese aus der oben beschriebenen Choreographie der Gen-Replikation und -Transkription ergeben, gibt es eine Reihe weiterer Phänomene, die darauf hindeuten, dass die Theorie von beschränktem Nutzen für die Erklärung der Morphogenese ist. Zunächst ist da die bekannte prinzipielle Schwierigkeit, wie man aus den grundsätzlich zweidimensionalen Strukturen des Genoms 376 die dreidimensionale Struktur der Organe und Organismen ableiten kann; ferner die Tatsache, dass das Muster der Genexpression auf einer bestimmten Stufe selbst dann normal sein kann, wenn die vorangehende Stufe gestört war; weiter die fehlende Korrespondenz zwischen den homologen Genen und homologen morphologischen Strukturen, die Kontextabhängigkeit der Genexpression, 377 die bekannte Tatsache des Einflusses zahlreicher Umweltfaktoren auf die Morphogenese (Gilbert 2001), schließlich die erstaunliche Armut an Genen im menschlichen Genom im Vergleich zu den Genomen einfacher Organismen (s. oben). Die zentrale Schwierigkeit des genetischen Paradigmas besteht jedoch darin, dass es nicht einsichtig ist, wie man die Tatsache erklärlich machen kann, dass die Zellen morphologisch differenziert sind, obwohl die genetische Information in allen Zellen eines Organismus 378 identisch ist. Dieses offensichtliche Problem wurde überraschenderweise erst vor einigen Jahren als eine echte Schwierigkeit erkannt. Indessen ist die Anerkennung der prinzipiellen Schwierigkeit, die Morphogenese allein mittels der „ Gene “ zu erklären, heute so allgemein geworden, dass man offen von einer Ära der „ Postgenomics “ spricht (Greally 2007, S. 782f.; Pennisi 2007, S. 1556 f; Pigliucci 2007, S. 1172f.). Die Anerken- 376 Wenn man die bloße Sequenz der Basen und nicht ihre - aus der Sicht der Morphogenese unerhebliche - dreidimensionale spiralartige Organisation betrachtet. 377 Für die ausführlichere Behandlung dieser vier Probleme des Gen-Paradigmas vgl. Beloussov und Grabovsky 2006, S. 82. 378 Mit der selbstverständlichen Ausnahme der Keimzellen. 552 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft nung dieser Schwierigkeit führte zur Suche nach zusätzlichen Steuerungsmechanismen der Genexpression, die dafür sorgen könnten, dass nur bestimmte „ Gene “ in bestimmten Zellen aktiv werden. Die Überlegung hinter dieser Suche ist sehr einfach: Wenn die Gene für die Entstehung der Form sorgen, dann enthält das Genom die gesamte Information, die für die Entstehung aller Formen des Organismus (seiner individuellen Zellen, seiner Organe, schließlich seines Ganzen) notwendig ist. In einzelnen differenzierten Zellen wird jedoch nur ein Teil dieser Information aktiviert, und zwar jener, der für die Bildung dieser besonderen Zellen notwendig und hinreichend ist. Da jedoch für die Entstehung einer bestimmten Zellart Hunderte, vielleicht Tausende Gene zusammenarbeiten müssen, muss ein Mechanismus vorhanden sein, der nur diese Gene in einer bestimmten Zelle aktiviert und die Expression aller anderen Gene in dieser Zelle blockiert. Epigenetik Die Suche nach einem solchen Mechanismus ist gegenwärtig unter dem Begriff Epigenetik im Gange (Bradbury 2003). Sie konzentrierte sich bis vor kurzem vor allem auf die mögliche Rolle der „ Verpackung “ der DNS im Zellkern bei der Steuerung der Genexpression (Pearson 2006). Da die DNS eines Chromosoms dicht um bestimmte Proteine, sog. Histone, gewickelt ist, wurde vermutet, dass die Histone oder ihr Zustand eine entscheidende Rolle bei der Aktivierung bzw. Deaktivierung von Genen spielen, was zur Annahme eines „ Histon-Kodes “ führte. 379 Neuere Versuche, einen passenden Steuerungsmechanismus zu finden, richten sich auf die Entschlüsselung der Rolle jener Abschnitte der DNS, die bislang als funktional redundante, weil nicht proteinkodierende DNS klassifiziert wurden. Im September 2003 wurde vom amerikanischen National Human Genome Research Institute (NHGRI) das sog. ENCODE-Projekt initiiert, das die Rolle dieser Abschnitte klären bzw. alle funktionalen Elemente des menschlichen Genoms identifizieren sollte (ENCODE 2007). Am 5. September 2012 wurden die ersten Resultate des Projekts durch eine koordinierte Veröffentlichung von insgesamt 30 Artikeln (sechs in Nature, sechs in Genome Research, und 18 in Genome Biology) publik gemacht (Skipper et al., S. 45). Die Forscher fanden heraus, dass bis zu 80 % des Genoms (und nicht 1 - 4 %, wie bisher angenommen) transkribiert werden, dass also in etwa dieser Teil des Genoms funktional wirksam ist (Ecker 2012, S. 52). Die Forscher stellten zwar fest, dass diese Befunde zu einem Umdenken bei der Definition des Gens und der minimalen Vererbungseinheit zwingen (ebd.) und dass die Regulierung der Genexpression 379 Der erste Vorschlag eines solchen „ Kodes “ wurde 2001 in Science veröffentlicht (Jenuwein und Allis 2001). Später sind übrigens Indizien dafür bekannt geworden, dass die DNS selbst Einfluss auf die Form ausübt, in der sie „ verpackt “ wird (Ercan und Lieb 2006). Für eine verhältnismäßig aktuelle Übersicht des Forschungsstandes in diesem Bereich vgl. z. B. Margueron et. al. 2005. 4 f Einige empirische Probleme im Detail 553 komplexer ist als bisher gedacht, weil sie „ by multiple stretches of regulatory DNA located both near and far from the gene itself and by strands of RNA not translated into proteins, so-called noncoding RNA “ beeinflusst ist (Pennisi 2012, S. 1159), blieben aber bei dem konventionellen Verständnis der Vererbungsmechanismen, das diese mit der Information identifiziert, die in den Chromosomen „ gespeichert “ ist: The project aims to fully describe the list of common ingredients (functional elements) that make up the human genome [. . .]. When mixed in the right proportions, these ingredients constitute the information needed to build all the types of cells, body organs and, ultimately, an entire person from a single genome [. . .]. (Ecker 2012, S. 52) Den Mechanismus, der dazu führen soll, dass aufgrund der im Genom enthaltenen Information letztendlich „ alle Zelltypen, alle Organe, die ganze Person “ aufgebaut werden, stellt man sich grundsätzlich so vor, dass die sog. Transkriptionsfaktoren, die in der DNS kodiert sind (es wird geschätzt, dass 10 der „ Gene “ für Transkriptionsfaktoren kodieren), an die „ Gen “ -Abschnitte des DNS „ andocken “ und so den Einbzw. Auszustand eines „ Gens “ zu einem bestimmten Zeit bestimmen und dass „ the ensemble of these binding events forms a regulatory network, constituting the wiring diagram for a cell “ (Gerstein et al. 2012, S. 91). Es ist jedoch unschwer einzusehen, dass die Suche nach den Steuerungsmechanismen, welche die Differenzierung der Zellen erklärlich machen könnten und welche wenn nicht in den „ Genen “ , so doch irgendwo sonst im Genom vorhanden sein sollten, sofort auf die gleiche gedankliche Schwierigkeit stößt wie die Hypothese, dass die „ Gene “ allein die Morphogenese aller Zellvarianten steuern können. Denn es ist bekannt, dass das gesamte Genom der Mutterzelle im Zuge der Mitose an beide Tochterzellen weitergegeben wird. Aber wenn dies der Fall ist, so folgt daraus, dass beide Tochterzellen über alle sich angeblich im Genom (sei es in den Histonen, sei es, wie es sich jetzt erweist, in den Abschnitten der DNS, die bisher als funktionell irrelevant gegolten haben) befindenden vermeintlichen Steuerungsmechanismen verfügen, und es bleibt rätselhaft, warum nur einige von diesen Steuerungsmechanismen in bestimmten Zellen zu bestimmten Zeiten aktiv werden. Ferner: Entweder funktionieren diese zusätzlichen Steuerungsmechanismen „ planmäßig “ , d. h., nur bestimmte „ Gene “ werden zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Zelle eingesetzt, um diese (pluripotenten) Stammzellen in eine Zelle eines bestimmten Typs umzuwandeln, was aber offensichtlich einen höherstufigen Steuerungsmechanismus voraussetzt. Oder aber die Transkriptionsfaktoren binden sich zufällig an die „ Gen “ -DNS-Abschnitte. Dann ist es ein Rätsel, wie aus ihrer chaotischen Aktivität die richtigen „ Gene “ in den richtigen Zellen zur richtigen Zeit aktiviert werden. Denn wenn die Aktivität der Transkriptionsfaktoren tatsächlich bloß zufällig wäre, würde man erwarten, dass sie sehr oft, ja meistens „ Unfug “ treiben. Von den vielleicht 100 „ Genen “ , die für die 554 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Entstehung eines bestimmten Zelltyps benötigt werden, sollten dann etwa nur ein paar zu einer bestimmten Zeit unisono aktiviert werden, so dass im Organismus permanent zelluläre Missbildungen entstünden. Solche Missbildungen werden jedoch im Prozess der Morphogenese in vivo nicht beobachtet. Die Postulierung zusätzlicher Steuerungsmechanismen, die für die gezielte Expression bestimmter Gene in bestimmten Zellen sorgen, wiederholt also das ursprüngliche Problem nur auf einer höheren Stufe, eliminiert es aber keineswegs. Das Ziegel-Haus-Problem Selbst wenn man aber auf der Basis der im Genom befindlichen „ Information “ die Synthese bestimmter Proteine in bestimmten Zellarten erklären könnte, wäre das Rätsel der Morphogenese noch nicht gelöst. Denn das Hauptproblem des gegenwärtigen Erklärungsparadigmas liegt nicht darin, dass es nicht imstande ist, die Differenzierung der Zygote in unterschiedliche Zellarten befriedigend zu erklären, sondern dass es überhaupt nicht imstande ist, die Entstehung selbst einer einzigen Zelle, geschweige denn eines komplexen Organismus zu erklären. Im Erfolgsrausch der täglich neuen punktuellen Entdeckungen auf immer tieferen Ebenen der subzellularen Prozesse wird nämlich die unangenehme Tatsache völlig übersehen, dass die moderne Molekularbiologie uns im besten Fall Teileinsichten in die Mechanismen bietet, welche zur Fabrikation der Rohstoffe des Organismus, der Proteine, führen, dass sie uns aber keine Einsicht darin gibt, wie aus diesen Rohstoffen die komplexen Strukturen einer Zelle entstehen können, geschweige denn wie es dazu kommt, dass aus Millionen oder sogar Milliarden unterschiedlichen Zellen komplexe Organe gebildet werden und wie diese komplexen Organe zu einem harmonischen und weisen Zusammenwirken innerhalb eines Organismus gelangen. Selbst wenn wir sehr viele Neuronen (unterschiedlicher Typen) zur Verfügung haben, werden sie nicht von allein die vielfältigen, komplexen, differenzierten, aber offensichtlich sinnvoll organisierten Strukturen des Gehirns bilden können, genau so wenig, wie die Milliarden von unterschiedlichen Zellen, aus denen die Arterien- und Venenwände bestehen, von allein das Blutkreislaufsystem unseres Körpers aufbauen können. Aus einer Anhäufung von Milliarden von Zellen eines Typs oder einiger weniger Typen (im menschlichen Organismus gibt es mindestens 200 verschiedene Zelltypen) wird bloß ein Zellhaufen, nicht aber ein kunstvoll organisiertes Organ entstehen. Man kann sich das Problem mithilfe der Analogie des Hausbaus verdeutlichen. Um ein Haus zu bauen, reicht es nicht aus, die Ziegel auf den Bauplatz zu liefern. Das Haus kann ohne Ziegel nicht gebaut werden, aber es braucht viel mehr. Es braucht außer den verschiedenen Rohstoffen vor allem einen Architekten, der die Baupläne des Hauses anfertigen kann, und die Bauarbeiter, die diese Pläne verstehen und umsetzen, d. h. die vorhandenen Materialien (Rohstoffe) zum 4 f Einige empirische Probleme im Detail 555 richtigen Zeitpunkt an die richtigen Orte bringen und sie sachgemäß zusammenfügen. So wenig, wie ein Haus von allein aus seinen Bestandteilen entstehen kann, so wenig kann eine Zelle mit der ganzen Komplexität ihres Innenbaus aus den in ihr hergestellten Proteinen „ von allein “ entstehen: „ cells do not arise by self-assembly of their molecular constituents “ (Harold 2001, zitiert in Gordon 2006, S. 246), „ even in bacteria, form is the result of multiple coordinated processes, regulated in time and localized in space, that are but indirectly related to what is spelled in the genes “ (Harold 2002, zitiert in Gordon ebd.). Somit wird ganz offensichtlich, dass „ a deep intellectual gap between the genome and morphogenesis “ vorhanden ist (Gordon 2006, S. 246). Kritische Stimmen In Fachkreisen mehren sich daher Stimmen, welche die Richtigkeit des „ genetischen Paradigmas “ prinzipiell in Frage stellen. Bereits 1996 stellten Gilber, Opitz und Raff in einem wichtigen programmatischen Artikel in der Zeitschrift Developmental Biology fest: Genetics might be adequate for explaining microevolution, but microevolutionary changes in gene frequency were not seen as able to turn a reptile into a mammal or to convert a fish into an amphibian. Microevolution looks at adaptations that concern only the survival of the fittest, not the arrival of the fittest. (Gilber at al 1996, S. 361) Die Autoren plädierten für die Rückkehr zu der noch im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts einflussreichen Idee der morphologischen Felder als Grundeinheiten oder Hauptsteuerungsmechanismen der Morphogenese. (Ebd., S. 362 et passim) In einem bedeutsamen Buch, das die Entwicklung des genetischen Denkens während des 20. Jahrhunderts nachzeichnet, stellte Evelyn Fox Keller, eine führende Biologin und Wissenschaftstheoretikerin, ebenfalls fest, dass die Komplexität der Morphogenese nicht durch Rückgriff auf den Begriff des Gens verständlich gemacht werden kann: I have argued throughout this book that our new understandings of the complexity of developmental dynamics have critically undermined the conceptual adequacy of genes as causes of development; furthermore, recent developments in molecular biology have given us new appreciation of the magnitude of the gap between genetic information and biological meaning. Thus, from the perspective of the developing organism, the question of what genes are for has become increasingly difficult to answer. (Keller 2000, S. 137f.) Sie kommt zu dem Schluss, dass der Begriff des Gens gegenwärtig zu einem Hindernis in unserem Denken über Lebewesen geworden ist. 2006 brachten zwei angesehene Embryologen, Lev Beloussov und Richard Gordon, in ihrem Vorwort zu der Sondernummer der Zeitschrift International 556 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Journal of Developmental Biology ihre Frustration über das mechanistische Erklärungsparadigma der gegenwärtigen Genetik zum Ausdruck: [O]ur understanding of embryonic development has become more and more fragmented; perceived intuitively as a common stream, development has become separated into independent pieces, each of them requiring a specific agent, so that the task of the investigator is reduced to a simple enumeration of those agents, as if pushing a set of buttons on a keyboard. The enormous gap between the genotype and phenotype, not yet bridged even in single cell morphogenesis [. . .], is hardly acknowledged. Are we doomed to accept this ‚ button-pushing ‘ , essentially additive view as something unavoidable? Who or what is doing this pushing, or are we indeed faced with an unsatisfactory infinite regression of genes controlling genes, controlling genes . . . [. . .]. The question of why cells in an organism, with identical genomes, should be different from one another, has not yet been answered in any nonmystical way. (Beloussov und Gordon 2006, S. 79) Schließlich stellte einer der führenden alternativ denkenden Biologen, Brian Goodwin in einem 2006 veröffentlichten Aufsatz fest, dass gerade angesichts der Erfolge der neueren genetischen Forschungen die Notwendigkeit besteht, über das genetische Erklärungsparadigma hinauszudenken: Now that it has become clear once again that the information in genes cannot explain how an organism is made, particularly with the recognition that there is not enough difference in numbers or natures of genes to account for the morphological and behavioral differences between us and chimpanzees and asparagus plants, we can get back to the job that was somewhat eclipsed during the 1980 s and 1990 s while the spotlight played on the genome project. “ (Goodwin 2006, S. 338) Bereits nach der Veröffentlichung der ersten ENCODE-Ergebnisse haben einige in den besten Fachzeitschriften schreibende Autoren darauf hingewiesen, dass die Mechanismen, welche die Morphogenese kontrollieren, weiterhin rätselhaft bleiben: More than a decade has passed since the human genome was completely sequenced, but how genomic information directs spatialand temporal-specific gene expression programs remains to be elucidated [. . .]. The answer to this question is not only essential for understanding the mechanisms of human development, but also key to studying the phenotypic variations among human populations and the etiology of many human diseases. However, a major challenge remains: each of the more than 200 different cell types in the human body contains an identical copy of the genome but expresses a distinct set of genes. How does a genome guide a limited set of genes to be expressed at different levels in distinct cell types? (Rivera und Ren 2013, S. 39) Transforming a single fertilized egg into a complex animal is a marvel and a mystery. Decades of study have identified molecules and mechanisms for specific steps in this transformation. But far more is involved in the construction process than the simple conversion of undifferentiated cells to a defined fate. (Purnell 2012, S. 209) 4 f Einige empirische Probleme im Detail 557 Einige von jenen, die anerkennen, dass die „ genetische Information “ das Wunder der Entstehung komplexer Organismen aus einer Zelle nie erklären können wird, rekurrieren stattdessen auf ein anderes Wunder, und zwar das der „ Selbstorganisation “ , um das Problem loszuwerden: Our knowledge of the principles by which organ architecture develops through complex collective cell behaviours is still limited. Recent work has shown that the shape of such complex tissues as the optic cup forms by self-organization in vitro from a homogeneous population of stem cells. Multicellular self-organization involves three basic processes that are crucial for the emergence of latent intrinsic order. [. . .] For simplicity and clarity, the basic processes of tissue self-organization can be classified into the following three categories: self-assembly, self-patterning and self morphogenesis. (Sasai 2013, S. 318) Das schmeckt nach einem Eingeständnis des intellektuellen Versagens: Wenn wir die Morphogenese schon nicht verstehen können, dann können wir uns zumindest mit dem Gedanken trösten, dass das Wunder von allein entsteht. Diese Strategie erinnert stark an jene, das Leben auf der Erde dadurch zu erklären, dass man behauptet, es sei auf einem Kometen auf unseren Planeten gebracht worden. Nur, wie ist es dort entstanden? Das Problem wird mit der Idee des außerirdischen Ursprungs des Lebens verschoben, nicht aufgehoben. It ’ s the Environment, Stupid! 380 It ’ s the ecology, stupid! 381 Unterdessen ist ein neues Erklärungsparadigma im Begriff zu entstehen, das die Mechanismen, die die Morphogenese steuern, nicht in der Zelle, sondern außerhalb ihrer verortet, entweder in der Interaktion zwischen den Zellen oder sogar in der weiteren Zellumgebung. Bereits 2000 hat die renommierte Fachzeitschrift Cell eine theoretische Studie veröffentlicht, die auf die mögliche Bedeutung der Umgebung der Zellen für deren Entwicklung hinwies: The genotype, however deeply we analyze it, cannot be predictive of the actual phenotype, but can only provide knowledge of the universe of possible phenotypes. Biological systems have evolved to restrict these phenotypes, and in selforganizing systems the phenotype might depend as much on external conditions and random events as the genome-encoded structure of the molecular components. (Kirschner et al. 2000, S. 87) 2005 erschien dann in Nature ein wichtiger Artikel, der über die diesbezüglichen Forschungen berichtete: [B]iologists are realizing that they are missing an important part of the picture by studying stem cells in Petri dishes. “ Thinking of stem cells in isolation can be productive, ” says David Scadden, co-director of the Harvard Stem Cell Institute in 380 Lipton 2008, S. 19. 381 Powell 2005, S. 268. 558 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Boston. “ But it falsely simplifies what is a single component of a much larger, more complex system. ” Indeed, this jungle of stem cells, support cells, protein scaffolds, blood vessels and biochemicals may be every bit as complex as a forest ecosystem. (Powell 2005, S. 268) Im Weiteren stellt Powell fest, dass es zunehmend offensichtlich ist, dass die „ ökologischen Interaktionen “ zentral für die Entwicklung spezifischen Zelltypen aus den Stammzellen sind (ebd., S. 269). Im selben Jahr schrieb ein zugegebenermaßen unorthodoxer Entwicklungsbiologe, Bruce Lipton, dass „ the cell ’ s operations are primarily molded by its interaction with the environment, not by its genetic code “ (Lipton 2008, S. 56, Hervorhebung im Original). Und er bekräftigte diese Auffassung in dem 2009 zusammen mit Steve Bhaerman veröffentlichten Buch Spontaneous Evolution. Our Positive Future (And a Way to Get There from Here): Biomedical sciences are being philosophically transformed by the new science of epigenetic control. [. . .E]pigenetics describes how gene activity and cellular expression are ultimately regulated by information from the external field of influence rather than by the internal matter of DNA. The inconvenient truth that genes do not control their own activity and that hereditary information does not flow in only one direction, as asserted by the central dogma [of genetics], was established over 20 years ago. But, in spite of these flies in the ointment basic science textbooks, the media, and, especially, the pharmaceutical industry continue to resist movement away from the notion of the central dogma. (Lipton und Bhaerman 2009, S. 132) Die Behauptung, dass die Wissenschaft zumindest in ihren Lehrbüchern noch immer auf dem alten Dogma beharre, mag heute, nur fünf Jahre nach der Veröffentlichung dieses Buches, unnötig pessimistisch sein. Denn Ansichten, die noch vor wenigen Jahren lediglich unkonventionelle oder auch eigenwillige Wissenschaftler zu äußern wagten, drängen sich heute in den Mainstream der Wissenschaft. In jüngster Vergangenheit wurden sogar in den angesehensten Fachzeitschriften konkrete außer- und interzellulare Mechanismen vorgeschlagen, welche für die Bildung der komplexen Organe aus einzelnen Zellen verantwortlich sein sollen, wie Zellbewegungen, Zell-Zell- Interaktionen, Veränderungen in Zellform u. a.: Vertebrates and higher invertebrates start as a single cell that develops into a fully functional organism comprising tens of thousands to trillions of cells, which are arranged in tissues and organs able to perform highly complex tasks. Understanding development as a function of cell behavior at this system-wide level is a central goal of biology. This investigation, however, faces fundamental challenges, because morphogenesis - i. e., the shaping of an organism by cell movements, cellcell interactions, collective cell behavior, cell shape changes, cell divisions, and cell death - is a dynamic process on multiple spatial and temporal scales [. . .]. (Keller 2013, S. 1234168 - 1) 4 f Einige empirische Probleme im Detail 559 Die Verschiebung der Aufmerksamkeit von der sog. genetischen Information innerhalb der Zelle zu den Interaktionen zwischen den Zellen oder zwischen der Zelle und ihrer Umgebung ist sicherlich ein lobenswerter „ Schritt in die richtige Richtung “ , das Problem ist aber, dass es zunächst überhaupt nicht klar ist, was eine solche Verschiebung zur Lösung des Problems beitragen könnte. Die Rede von „ Zellbewegungen “ , „ Zell-Zell-Interaktionen “ , „ kollektivem Zellverhalten “ und „ Zellform-Veränderungen “ stellt nur eine Beschreibung, keineswegs jedoch eine Erklärung dar. Denn die grundsätzlichen Fragen bleiben offen: Was verursacht die beobachteten „ Zellbewegungen “ ? Was ist für diese bestimmte Zell-Zell-Interaktion verantwortlich? Was steuert die einzelnen Formen des kollektiven Zellverhaltens? Allgemeiner formuliert: Wie soll man die Differenzierung der Zygote in über zweihundert verschiedene Zellarten und unzählige Organe durch die Einflüsse ihrer Umgebung erklären, wenn diese eine verhältnismäßig stabile und eintönige wie die Gebärmutter ist? Wie kann man die Differenzierung der Zygote eines Fisches erklären, wenn die Umgebung aus Wasser und anderen Zygoten besteht? Die Rede von „ Zellbewegungen “ , „ kollektivem Zellverhalten “ usw. ist jedoch durchaus angebracht. Wie bereits erwähnt, ist es vor einigen Jahren gelungen, die ersten 24 Stunden der Entwicklung des Zebrafischembryos auf einem Film zeitlich gerafft zu dokumentieren, und zwar in einer Auflösung, die es möglich macht, die Bewegungen einzelner Zellen (einzelner Zellkerne 382 ) zu verfolgen. 383 Diese technische Meisterleistung vergrößerte aber das Rätsel der Morphogenese eher, als dass sie es löste. Denn sie offenbarte mit aller Eindringlichkeit, dass in den Anfangsstadien der Morphogenese tatsächlich koordinierte „ Zellbewegungen “ , „ kollektives Zellverhalten “ usw. stattfinden. Es zeigte sich nämlich, dass sich die neuentstanden Zellen der verschiedenen Typen von dem Ort, an welchen sie entstehen, zu ihren Destinationen in einer höchst harmonischen und koordinierten Art bewegen, als ob sie den Befehlen eines unsichtbaren Dirigenten folgten. Beverly A. Purnell, Senior Editor Education von Science, schrieb in der Einführung zu der der Morphogenese gewidmeten „ Special Section “ zur Ausgabe vom 7. Juni 2013, dass „ [t]hese events proceed in an amazingly precise, choreographed manner, both temporally and spatially “ (Purnell 2013, S. 1183). Der Dirigent bleibt jedoch unsichtbar. Lipton und Bhaerman fragen in ihrem Buch: „ What is the genius behind the genes? “ (Lipton und Bhaerman 2009, S. 140) und meinen, dass sich das Genie in der Umgebung der Gene (der Zelle) befindet. 382 Die Zellkerne wurden auf der Eine-Zelle-Stufe durch mRNA-Injektion von H2B-eGFP markiert, einem Fusionsprotein des menschlichen Histon-2B und des grün fluoreszierenden Proteins (GFP), das Chromatin lokalisiert. Dieses stellt einen effektiven Marker für Zellpositionen und Zellteilungen dar, da Änderungen in der Chromatinstrukturdichte direkt beobachtet werden können (Keller et al. 2008, S. 1065f.) 383 Für den aktuellen Stand der entsprechenden Technologien vgl. Keller 2013. 560 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Wo aber ist es, wenn die Umgebung wie bei den Zebrafischembryos einfach aus Wasser (genauer: Agarose 384 ) besteht? Molekularbiologische Gegenargumente und eine philosophische Entgegnung Die Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit der gegenwärtigen Erklärungsparadigmen in Bezug auf das Problem der Morphogenese stößt unter manchen Fachleuten auf diesem Gebiet auf Unverständnis. Sie weisen erstens auf die Fruchtbarkeit dieses Paradigmas hin: Täglich werden neue und wichtige Entdeckungen gemacht, die unser Verständnis der beobachteten Phänomene vertiefen und erweitern. Sie weisen zweitens auf scheinbar starke empirische Argumente für die Korrektheit des eingeschlagenen Weges hin, und zwar vor allem auf die am Anfang dieses Artikels erwähnten Erfolge der RNS-Interferenz-Methode und der Gentechnik. Insbesondere die erfolgreichen gentechnischen Manipulationen scheinen zu beweisen, dass die entsprechenden Gene hinreichend für die Erzeugung der ihnen zugeschriebenen Effekte sind. Denn wenn sie von einer Stelle des Genoms an eine andere oder von einem Organismus auf einen anderen transferiert werden, so wandern auch die ihnen zugeschriebenen Effekte. Da sie auch notwendig für diese Effekte sind (wenn sie nicht vorhanden sind, sind auch die entsprechenden Effekte nicht vorhanden), scheint es, dass sie für die fraglichen Effekte notwendig und hinreichend sind, und eine notwendige und hinreichende Bedingung eines Effektes wird allgemein als die Ursache eines Effektes bezeichnet. Die Überzeugungskraft beider Arten der Manipulationen ist gewaltig. Um den Illusionscharakter dieser scheinbaren Beweise der These des genetischen Reduktionismus aufzuzeigen, ist es notwendig, sich an dieser Stelle auf einen theoretischen Umweg zu begeben. Theoretischer Exkurs: Was ist die Ursache? Wie bereits angedeutet, wird allgemein von den Naturwissenschaftlern angenommen, dass die Ursache eines Phänomens mehr oder weniger identisch mit der notwendigen und hinreichenden Bedingung dieses Phänomens sei. In der gegenwärtigen wissenschaftlichen Literatur lassen sich unschwer Spuren dieser Überzeugung finden. So schrieben vor kurzem in Nature Autoren eines Kommentars über eine Studie, die gezeigt haben soll, dass bestimmte Proteine die Funktion gewisser Nervenzellen verursachen: Proving causality is often an elusive goal in neuroscience [. . .]. The ChR2-NpHR system offers an elegant solution for proving necessity and sufficiency, which together allow causality to be inferred. (Häusser und Spencer 2007, S. 618) 384 Keller et al. 2008, S. 1065. 4 f Einige empirische Probleme im Detail 561 Und Beloussov und Grabovsky behaupten die kausale Wirkung eines elastischen Substrats auf die Erzeugung eines regelmäßigen Zellmusters aufgrund der Beobachtung, dass die Anwesenheit eines solchen Substrats eben notwendig und hinreichend für das Erscheinen des Musters sei: Presence of an elastic substrate, flexible enough to be stretched by substrateattached cells, is a necessary and sufficient condition for providing in vitro emergence of regular cell patterns. (Beloussov und Grabovsky 2006, S. 83f.) Dabei wird völlig die Tatsache ausgeblendet, dass sich die moderne Wissenschaftstheorie bereits vor ca. 20 Jahren von der Vorstellung verabschiedet hat, dass man die Ursache auf die notwendigen und/ oder hinreichenden Bedingungen 385 zurückführen kann. 386 Die Gründe dafür ergeben sich aus verhältnismäßig einfachen formallogischen Überlegungen, die sich wiederum aus den in der formalen Logik wohlbekannten Paradoxa der materiellen Implikation ableiten. 387 Die Relation der materiellen Implikation wird bekanntlich so verstanden, dass ihr Wahrheitswert nur dann 0 (falsch) beträgt, wenn das Antezedens wahr und das Konsequens falsch ist. Dies bedeutet, dass die Implikation immer dann wahr ist, wenn das Antezedens falsch ist (unabhängig von dem Wahrheitswert des Konsequens) oder wenn das Konsequens wahr ist (auch dann, wenn das Antezedens falsch ist). Aus dieser elementaren Tatsache ergibt sich die fatale Schwäche der Gleichsetzung von Kausalität mit dem Zusammentreffen von notwendiger und hinreichender Bedingung. Die hinreichende Bedingung (hB) eines Phänomens (P) wird gewöhnlich als eine solche Bedingung verstanden, die das Erscheinen des Phänomens zwangsweise nach sich zieht, sobald sie erfüllt ist, was man im formallogischen Sinne mit der Relation der materiellen Implikation gleichsetzen kann: hB → P. Die notwendige Bedingung (nB) eines Phänomens (P) hingegen wird so definiert, dass, wenn das Phänomen P auftritt, die fragliche Bedingung auch vorhanden ist, was man im formallogischen Sinne mit einer anderen materiellen Implikation gleichsetzen kann (P → nB) (Skyrms 1989, S. 140). Wenn aber hB → P, dann ist es zwingend wahr, dass auch die materielle Implikation, deren Antezedens aus der Konjunktion von hB und einer anderen Bedingung (nennen wir sie X) besteht (hB ^ X → P), auch wahr ist. Denn logisch gesehen ist der Wahrheitswert der materiellen Implikation unabhängig davon, welchen logischen Wert X hat, weil die 385 Der Plural ist insofern berechtigt, als manche Phänomene (z. B. ein Brand oder der Tod eines Menschen) multiple Ursachen haben können. Man spricht in solchen Fällen von „ Multikausalität “ . 386 Vgl. aber diese (seltene) selbstkritische Einschätzung eines Wissenschaftlers: „ In philosophy the metaphysics of causation is subject of never ending discussion. At the same time the natural sciences, especially biology, use this concept in an oversimplified manner “ (Tsikolia 2006, S. 333). 387 S. oben den Abschnitt „ Einige theoretischen Probleme des empirischen Forschungsparadigmas “ . 562 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Implikation nur dann falsch sein kann, wenn das Konsequens falsch ist. Insbesondere wenn man für X eine wahre Aussage einsetzt, wird der Wahrheitswert der Implikation genau dann 1 (wahr) sein, wenn er auch ohne diese Aussage 1 war. Man kann also eine beliebige (wahre) Bedingung (X) in die Implikation einsetzen und das Phänomen wird, formal gesehen, als von dieser und hB impliziert (also verursacht) erscheinen. So ist es z. B. formallogisch wahr (wenngleich unsinnig), dass wenn Feuer Rauch verursacht, auch die Tatsache, dass die Antarktis kalt ist, Feuer verursacht. 388 Weil sich das gleiche Problem auch für die notwendige Bedingung von P ergibt, muss die Auffassung der Kausalität als Zusammentreffen von notwendiger und hinreichender Bedingung aufgegeben werden. 389 Auch ohne diese formallogischen Gründe lässt sich nachweisen, dass die Gleichsetzung von Kausalität mit der notwendigen und hinreichenden Bedingung unseren alltäglichen Intuitionen in Bezug auf die Natur der Verursachung nicht entspricht. Dass eine notwendige Bedingung eines Phänomens nicht für die Ursache dieses Phänomens gehalten wird, ergibt sich aus der einfachen Beobachtung, dass z. B. ein Klavier eine notwendige Bedingung eines Klavierkonzertes ist, dass es aber niemals als die Ursache des Konzertes verstanden wird. Das Problem der hinreichenden Bedingung besteht hingegen grundsätzlich darin, dass man nie sicher sein kann, wie eine solche Bedingung konkret aussieht. Denn erstens kann sich das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als hinreichend für P gehalten wird, zu einem späteren Zeitpunkt als nicht hinreichend erweisen. Und zweitens ist es nicht leicht oder sogar unmöglich, diejenigen Bedingungen, welche für das fragliche Phänomen P im engeren Sinn relevant sind und deshalb einen Teil der „ hinreichenden Bedingung “ bilden, von jenen abzugrenzen, die für P ebenfalls relevant sind, aber für die Betrachtung der Ursachen von P vernachlässigt werden können. Ich möchte diese Probleme anhand des Anlassens eines Automotors veranschaulichen. Stellen wir uns die Frage, was eine hinreichende Bedingung eines solchen Ereignisses ist. Eine zunächst plausibel anmutende Antwort würde heißen: das Drehen des Zündschlüssels im Zündschloss. Denn immer wenn der Zündschlüssel entsprechend gedreht wird, startet der Motor. Bis er dies an einem kalten Tage nicht mehr tut. Spätestens dann erfährt man, dass andere Bedingungen vorhanden sind, die notwendigerweise erfüllt sein müssen, um den Motor anlassen zu können. Die Schwierigkeit der Bestimmung der hinreichenden (aber auch notwendigen) Bedingungen unter Zuhilfenahme der induktiven Methoden ist in der Wissenschaftstheorie wohlbekannt. Die Ursachenforschung gründet 388 Vgl. zu diesem Beispiel Sosa und Tooley 1993 a, S. 5 - 9 und die Diskussion der Schwächen dieser Theorie bei Pearl 2000, S. 313 - 316. 389 Für Einzelheiten vgl. die oben erwähnte Diskussion des Problems in Sosa und Tooleys 1993 a. 4 f Einige empirische Probleme im Detail 563 heute immer noch auf den Methoden, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts von dem großen englischen Philosophen und Logiker John Stuart Mill beschrieben wurden (Mill 1978, S. 388 - 406). In einer klassischen Passage über die Probleme der Ursachenforschung mittels dieser Methoden schreibt Skyrms: Wenn Mills Methoden irgendeinen Nutzen haben sollen, muss es einen Weg geben festzustellen, welche Faktoren für die bedingte Eigenschaft vermutlich relevant sind; es muss einen Weg geben, eine überschaubare Liste von möglichen bedingenden Eigenschaften aufzustellen, die wahrscheinlich die gesuchten notwendigen und hinreichenden Bedingungen enthält. Die einzige Art und Weise, dies zu tun, besteht darin, induktive Logik auf unser Erfahrungswissen, das wir uns schon früher erworben haben, anzuwenden. Mills Methoden sind ohne Wert, wenn wir nicht schon induktiv gewonnenes Wissen besitzen, das uns bei der Aufstellung der anfänglichen Liste der möglichen bedingenden Eigenschaften leitet. [. . .] Natürlich sind induktiv erschlossene Urteile nicht unfehlbar. Wir können uns irren, wenn wir glauben, das die anfängliche Liste der möglichen bedingenden Eigenschaften, die wir aufgestellt haben, eine notwendige oder eine hinreichende Bedingung enthält. [. . . D]as Aufstellen der anfänglichen Liste möglicher bedingender Eigenschaften ist der grundlegendste und am wenigsten verstandene Teil [des] Forschungsprozesses. (Skyrms 1989, S. 184f.) Man muss zunächst wissen, was die möglichen entscheidenden Faktoren eines Prozesses sind, um sie dann später im empirischen Prozess entsprechend kontrollieren zu können. Wenn bei der ursprünglichen Auswahl Fehler gemacht wurden, kann man unmöglich die richtigen Schlüsse aus den durchgeführten Experimente ziehen. Papi im Radiogerät Es ist leicht nachzuweisen, dass die Suche nach den relevanten Faktoren durch die Hintergrundannahmen der entsprechenden Kultur geleitet ist. Lassen Sie mich ein ganz persönliches, aber aufschlussreiches Beispiel einer solchen Bedingtheit erzählen. Ich war eine Zeit lang als Rundfunkjournalist tätig. Als ich zum ersten Mal im Radio zu hören war, versuchten meine damals sehr kleinen Kinder (wir mir meine Frau berichtete), mich im Radioapparat zu finden, und waren ein wenig verdutzt darüber, dass es ihnen nicht gelang. Sie wussten selbstverständlich nichts von Radiowellen und den mächtigen Effekten, die sie über längere Distanzen in einem geeigneten Radioempfänger erzeugen können. Ihrer damaligen Erfahrung gemäß suchten sie die Ursachen des beobachteten Effekts (die Stimme des Vaters) in seiner unmittelbaren Nähe, also im Radioapparat. Sie suchten natürlich vergeblich, denn die wahren Ursachen (der Vater in einem Studio, und die Radiosendeanlage) dessen, was sie wahrnehmen konnten, waren weit entfernt. Das Radiogerät ist, wie wir sehr wohl wissen, lediglich ein Empfänger von Fernwirkungen. Dennoch ist für jemanden, der solche Wirkungen nicht beobachten kann und kein Wissen von ihnen hat, die 564 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Illusion stark, dass sie im Gerät selbst erzeugt werden. Diese Illusion ist umso stärker, als man die Wirkungen scheinbar beliebig manipulieren kann, indem man das Gerät an- und abschaltet, die Lautstärke reguliert. Man kann es sogar von einem Ort an einen anderen unter Beibehaltung der beobachteten Wirkung transportieren. Ein solcher Denkfehler kann auch Wissenschaftlern unterlaufen, ist aber schwieriger zu durchschauen als bei Kindern. Es ist offensichtlich, dass in einer stark materialistisch geprägten Kultur, die von den geistigen „ Fernwirkungen “ aus der Peripherie nichts weiß (weil sie solche Wirkungen nicht wahrnimmt) und nichts wissen will, sich die Wissenschaftler alle Mühe geben werden, die beobachtbaren Phänomene durch Elemente, die sie an und in ihrem Forschungsobjekt wahrnehmen können, erklärlich zu machen. Möglicherweise befindet sich der wahre Ursprung der beobachteten Phänomene aber eben nicht im untersuchten Gegenstand, sondern in seiner Peripherie. Es sollte jetzt ersichtlich sein, dass es innerhalb der induktiven Wissenschaft prinzipiell unmöglich ist, zu einer bestimmten Zeit T mit Sicherheit zu behaupten, dass eine Bedingung hB hinreichend für das Erzeugen eines Phänomens P sei. Identifiziert man die Ursache mit der hinreichenden (und notwendigen) Bedingung, so muss man daraus den Schluss ziehen, dass es innerhalb der induktiven Wissenschaft zu keinem Zeitpunkt möglich ist, mit Sicherheit zu bestimmen, was die Ursache eines Phänomens ist. Das ist allein noch kein Hindernis für eine rein begriffliche Identifizierung der Ursache mit der hinreichenden und notwendigen Bedingung. Denn die prinzipielle Unsicherheit der induktiven Wissenschaft gilt nicht nur im Bereich der Ursachenforschung, sondern überall, wo man Feststellungen macht, die über das unmittelbar Beobachtete hinausgehen. Zu dieser Schwierigkeit gesellt sich aber das Problem der Abgrenzung der „ wirklich “ relevanten von den nur „ marginal “ relevanten Bedingungen. Kehren wir zu dem obigen Beispiel zurück. Eine einfache Reflexion genügt, um festzustellen, dass außer dem Drehen des Zündschlüssels auch manche anderen Faktoren zum Anlassen eines Automotors notwendig sind: Eine Batterie muss vorhanden und funktionsfähig sein, ebenso die Einspritzanlage, die Zündkerzen, die entsprechenden Verbindungskabel, Benzin, Benzinpumpe usw. Alle diese Elemente haben an der Verursachung des Anlassens des Motors ihren Anteil. Aber wenn das so ist, wird der Begriff der Ursache unscharf, denn er scheint eine große Menge von Einzelfaktoren zu beinhalten, die keinen aktiven Beitrag im Prozess leisten. Und gewöhnlich wird mit „ verursachen “ doch die Vorstellung einer aktiven Veränderung assoziiert. Darüber hinaus ergibt sich die Frage, inwiefern noch entferntere Umstände in der Beschreibung der Verursachung des Anlassens berücksichtigt werden sollten, z. B. die Lufttemperatur und Luftfeuchtigkeit, die zweifelsohne zum Gelingen bzw. Misslingen des Anlassens beitragen können. Aber wenn diese dazugehören, wieso dann nicht die Gravitationskraft der Erde, die selbstverständlich auch am Prozess beteiligt ist. Und wenn diese, wieso dann nicht die Anfangsbedin- 4 f Einige empirische Probleme im Detail 565 gungen des Urknalls, die es ermöglichten, dass es heute Erdöl, Eisen usw. und auch Menschen, die Autos zu konzipieren und herzustellen imstande sind, gibt. Der zunächst als klar und deutlich erscheinende Begriff der hinreichenden Bedingung erweist sich somit bei genauerem Hinschauen als verworren und unbestimmt - was Anlass genug ist, ihn als für die Erklärung der Verursachung aufzugeben. Die philosophische Diskussion des Ursachenbegriffs ist übrigens alles andere als abgeschlossen. Heute werden Ansätze behandelt, welche praktisch nichts mehr mit den notwendigen und/ oder hinreichenden Bedingungen eines Phänomens zu tun haben. Sie zu analysieren, würde jedoch den Rahmen dieses Exkurses sprengen. 390 Gegenargumente der Freunde der Gene: Ausschaltung der Gene Welche Bedeutung haben diese theoretischen Überlegungen in der Diskussion mit den Befürwortern des genetischen Paradigmas der Erklärung der Morphogenese? Erinnern wir uns noch einmal an die zwei Gruppen der Argumente der Freunde dieses Paradigmas, die oben angeführt wurden. Zum einen geht es hier um die Erfolge der RNSi-Methode, die angeblich beweisen, dass die mittels dieser Methode ausgeschalteten „ Gene “ bzw. die auf der Vorlage dieser „ Gene “ synthetisierten Proteine 391 den „ wilden “ Phänotyp „ verursachen “ , denn wenn sie eliminiert werden, werde der „ wilde “ Phänotyp modifiziert. Zum anderen geht es um die Erfolge der Gentechnik, die zu beweisen scheinen, dass die Verschiebung eines bestimmten Teils der genetischen Information (oder des ganzen Genoms) von einem Ort im Genom zu einem anderen bzw. von einem Organismus zu einem anderen notwendig und hinreichend sei, um bestimmte phänotypische Eigenschaften an ungewöhnlichen Stellen im reifen Organismus, für den „ wilden “ Typ ungewöhnliche phänotypische Eigenschaften oder sogar einen ganz neuen Organismus zu erzeugen. Es sollte jetzt verhältnismäßig einfach sein, den logischen Fehler der ersten Gruppe von Argumenten zu entlarven. Der Behauptung, dass man mittels Ausschalten bestimmter „ Gene “ und der Beobachtung der daraus entstandenen Veränderung im Phänotyp die kausale Rolle dieser „ Gene “ bzw. der auf ihrer Vorlage synthetisierten Proteine in der Erzeugung bestimmter phänotypischer Eigenschaften beweisen kann, ist aus wissenschaftstheoreti- 390 Ein interessierter Leser findet eine ausgezeichnete Einführung in den gegenwärtigen Stand der Diskussion im unlängst erschienenen kurzen Artikel von Nancy Cartwright „ Causation: One Word, Many Things ” finden (Cartwright 2004). 391 Die Behauptung, dass die Proteine für die Steuerung der Prozesse der Morphogenese verantwortlich sind, stützt sich auf der für die Biochemie grundlegende Annahme, dass die tertiäre Struktur der Proteine die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften erklären. Im nachfolgenden Exkurs ( „ Können Proteine die Leistungen erbringen, die ihnen zugeschrieben werden? “ ) versuche ich zu zeigen, dass diese Annahme unberechtigt ist. 566 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft scher Sicht entgegenzuhalten, dass sich hinter ihr die Verwechslung der notwendigen Bedingung eines Ereignisses mit seiner Ursache verbirgt. Es ist nicht zu bezweifeln, dass die ausgeschalteten Proteine notwendig für die Entstehung des „ wilden “ Phänotyps sind. Dennoch verursachen die ausgeschalteten Proteine den „ wilden “ Phänotyp genauso wenig wie ein Klavier das Klavierkonzert. Wir wissen nicht, welche andere Bedingungen bzw. Faktoren vorliegen müssen, um diesen Phänotyp zu erzeugen. Es ist insbesondere durchaus möglich, dass sich außerhalb der manipulierten Zellen Faktoren befinden, die sich der vom Menschen manipulierten Elemente quasi bedienen, um die Form des Organismus hervorzubringen. Es können also theoretisch durchaus diese peripheren Faktoren die wahren erzeugenden „ Ursachen “ der beobachteten Prozesse sein. Gegenargumente der Freunde der Gene: Einschaltung der Gene. DVD und DVD-Spieler. Das Ei im Brutkasten und in der Petrischale Die Erfolge der Gentechnik wirken jedoch in dieser Hinsicht zweifelsohne noch verführerischer als die Erfolge der RNSi-Methode. Denn durch das erfolgreiche Manipulieren der „ genetischen Information “ wird der Schein erzeugt, dass man die Wirkungsmechanismen, die sich hinter diesen Erfolgen verbergen, durchschaut hat. Es ist deshalb zunächst nützlich, sich zu vergegenwärtigen, dass man durchaus praktische Erfolge erzielen kann, ohne eine große Ahnung zu haben, auf welchen Wegen sie zustande gekommen sind. Den Beweis dafür liefert eine geübte Köchin, die es jedes Mal (wenn sie es will) vermag, ein Ei weich zu kochen, ohne dass sie wüsste, woran es liegt, dass unter der Einwirkung von Wärme die flüssige Substanz im Ei nach einer bestimmten Zeit zur gewünschten Konsistenz koaguliert. Für die allermeisten Benutzer von modernen technischen Geräten gilt dasselbe. Nehmen wir als Beispiel einen durchschnittlichen Computerbenutzer. Er kann sich erfolgreich des Computers bedienen, ohne im Einzelnen zu wissen, wie bestimmte Operationen auf der Makroebene (die Tastatur betätigen, ein Fenster anklicken usw.) von der Software, geschweige denn der „ Hardware “ umgesetzt bzw. ausgeführt werden. Praktischer Erfolg kann also nicht als endgültiger Beweis dafür dienen, dass der erfolgreiche Manipulator über korrekte oder auch nur adäquate Einsichten in die sich hinter der Manipulation verbergenden Abläufe verfügt. Es ist aber selbstverständlich hilfreich, solche korrekten Einsichten zu haben, wenn man gewisse Manipulationen vornehmen will. Wir würden uns nicht gerne einer Herzoperation unterziehen, die von einem Metzger durchgeführt wird. Kann es nicht sein, dass die Gentechniker doch genau wissen, was sie tun, und gerade deshalb so erfolgreich sind? Die Fakten scheinen eine eindeutige Sprache zu sprechen: Das manipulierte Genom bzw. seine Abschnitte sind notwendig und hinreichend, um gewisse Ergebnisse zu erzeugen. Muss man, soll man, darf man noch weiter nach Erklärungen für 4 f Einige empirische Probleme im Detail 567 diese Ergebnisse suchen? Nun, wir haben bereits gesehen, dass eine notwendige und hinreichende Bedingung eines Phänomens keineswegs mit dessen Ursache identifiziert werden darf. Angesichts des Gewichts der von den Befürwortern des genetischen Paradigmas hervorgebrachten Argumente ist es aber m. E. nützlich, die formallogische Widerlegung durch eine „ lebensweltlichen “ Überlegung (nach dem bereits am Anlassen eines Automotors geprobten Muster) zu ergänzen. Dass die manipulierten Genomabschnitte notwendig für die Erscheinung der Form sind, kann nicht bezweifelt werden. Aber können sie wirklich als dafür hinreichend interpretiert werden? Wir haben gesehen, dass sich an einem kalten und nassen Tag erweisen kann, dass eine vermeintlich hinreichende Bedingung des Anlassens (Schlüssel drehen) unzureichend ist, dieses zu bewirken. Ist es nicht möglich, dass etwas Ähnliches auch den Genomabschnitten passieren könnte? Ich möchte die sich im Falle einer erfolgreichen genetischen Manipulation ergebenden Verhältnisse wiederum durch eine alltäglichen Analogie verdeutlichen. Stellen Sie sich vor, Sie wollen eine DVD abspielen. Was tun Sie? Selbstverständlich stecken Sie die DVD in ein passendes Abspielgerät, schalten es zusammen mit einem Fernsehgerät an und drücken ein paar Knöpfe. Sie können dieselbe DVD aber auch in einem beliebigen anderen Abspielgerät abspielen, das mit einem beliebigen anderen Fernsehgerät verbunden ist. Kann man aufgrund dieser Tatsachen behaupten, dass die Information, die auf der DVD gespeichert ist, die Ursache des Filmes ist, den Sie anschauen? So einfach ist es sicher nicht, denn eine DVD ist ohne das geeignete Abspiel- und Fernsehgerät wertlos; sie allein kann unmöglich als die Ursache des Films fungieren. Abgesehen von bestimmten Geräten für die Erzeugung des Bildes anhand der auf der DVD gespeicherten Information sind weitere „ Notwendigkeiten “ in Rechnung zu stellen: eine Fabrik etwa, in der die DVD hergestellt wurde, oder ein Schauplatz für die Dreharbeiten. Schließlich muss der Film ja irgendwann gedreht worden sein, und an dieser Arbeit haben sich Schauspieler, der Regisseur, eine Filmcrew usw. beteiligt. All diese Personen haben also zur „ Verursachung “ des Films beigetragen und ohne ihre Beteiligung könnte der Film nicht angeschaut werden. Es ist also eine gewaltige und unberechtigte gedankliche Verkürzung zu behaupten, dass die Information auf der DVD die (alleinige und vollständige) hinreichende Bedingung des von uns betrachteten Films ist. Ich glaube, dass sich dieses Beispiel unproblematisch auf die Situation der Manipulation der „ genetischen Information “ in unterschiedlichen Formen der Gentechnik übertragen lässt. Die „ Information “ , die im Genom im Zellkern einer Zelle „ gespeichert “ ist, kann ohne eine geeignete Zelle (Eizelle) und ohne einen Organismus, in dem sich diese Zelle entwickelt, überhaupt nicht „ abgespielt “ oder verwertet werden. Sie müssen also als die Entwicklung des Organismus mitverursachend betrachtet werden. Man kann dem entgegenhalten, dass es doch unzählige Organismen gibt, deren embryonale Entwicklung außerhalb des Mutterleibes stattfindet, was 568 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft darauf hinweist, dass nichts außer der befruchteten Eizelle (und in bestimmten Fällen Wärme) für diese Entwicklung notwendig ist. Dieses Argument blendet jedoch die Tatsache aus, dass die Substanzen, welche sich in einer solchen Zelle befinden, allein für die normale embryonale Entwicklung nicht ausreichend sind. Man kann sich davon mittels eines einfachen Gedankenexperiments überzeugen: Man stelle sich ein befruchtetes Hühnerei vor. Anstatt es in einen Brutkasten zu legen, bricht man die Schale auf und leert den Inhalt in eine Petrischale, die man dann entsprechend lange erwärmt. Es ist offensichtlich, dass auf diese Weise kein Kücken entstehen wird. Die materiellen Substanzen des befruchteten Eis müssen sich also in einem bestimmten Zustand und in einer geeigneten Umgebung befinden, wenn die embryonale Entwicklung stattfinden soll. Die materialistisch orientierte Wissenschaft sieht als Randbedingungen der Umgebung ausschließlich physikalische Faktoren wie eine bestimmte Temperatur und Feuchtigkeit vor. Sie erkennt nicht, dass neben diesen Elementen die Umgebung des Eis Einflüsse ausübt, die die embryonale Entwicklung erst möglich machen. Diese Kräfte und Wesenheiten sind es, die die Schauspieler, den Regisseur und die Filmcrew dieses „ Films “ darstellen. Ohne sie kann die „ genetische Information “ unmöglich zum Genom gelangen und muss nutzlos im Zellkern bleiben. Um welche Einflüsse es sich hier handelt, werden wir später erfahren. Und noch ein Punkt. Wenn auch die auf einer DVD gespeicherte Information als ein Teil der Ursache der auf dem Bildschirm erscheinenden Bilder betrachtet werden kann, so würden wir die Behauptung, dass diese Information die Ursache des Abspielgeräts und des Fernsehers sei, sofort als absurd einstufen. Genau diesen Schritt vollzieht jedoch die moderne Molekularbiologie: Sie betrachtet die Eizelle und den Organismus, in dem sich diese Eizelle entwickeln kann, als durch die Information, die im Zellkern enthalten ist, verursacht. Fazit Ich hoffe gezeigt zu haben, dass die Versuche, die Form und die Eigenschaften des Organismus einseitig aus der genetischen Information, die in der DNS im Zellkern der Zygote vorhanden ist, abzuleiten, irreführend sind. Die proteinkodierenden Gene bestimmen lediglich, welche Proteine im Organismus hergestellt werden können. Diese sind jedoch nichts weiter als „ Backsteine “ : Um aus ihnen ein Haus (einen Körper) zu erstellen, ist noch viel mehr nötig als Baumaterial: Man braucht auch Baupläne und Arbeiter, die diese Pläne unter Zuhilfenahme der Baumaterialien umsetzen können. Ich hoffe ebenfalls gezeigt zu haben, dass der Rückgriff auf weitere Steuerungsmechanismen der Morphogenese, welche sich im Genom befinden (sollen) (epigenetische Steuerung der Morphogenese), ebenso wenig zielführend ist. Schließlich verfügt jede Zelle, die aus der Zellteilung der ursprünglichen Zygote ent- 4 f Einige empirische Probleme im Detail 569 standen ist, über alle Steuerungsmechanismen. Folglich ist überhaupt nicht klar, wieso in bestimmten Zellen zu bestimmten Zeitpunkten gezielt oder „ planmäßig “ nur einige von ihnen und in anderen Zellen zu anderen Zeitpunkten andere aktiv werden. Ich hoffe ferner gezeigt zu haben, dass auch die neuesten Versuche, Morphogenese durch Einflüsse von außerhalb der Zelle zu erklären, nicht vielversprechender sind, und zwar deshalb nicht, weil die Umgebung, welche angeblich die geordnete Differenzierung der Zygote in 200 verschiedene Zellarten und deren Entwicklung zu komplexen Organen bewirkt, ihrerseits - äußerlich betrachtet - recht undifferenziert und gleichmäßig ist. Von einer solchen Umgebung kann man kaum erwarten, dass sie die Milliarden von verschiedenartigen Zellen, welche die vielen Schichten einer Arterie oder einer Vene bilden, an den richtigen Ort des insgesamt 100.000 km (sic! ) langen Blutkreislaufsystems des menschlichen Körpers 392 führen werden. Ebenso wenig kann man von ihr erwarten, dass sie die ca. 100 Milliarden verschiedenartigen Neuronen, die das Gehirn bilden, auf die für sie in verschiedenen Gehirnzentren und -strukturen „ vorgesehenen “ Plätze führen können. Wir stehen also vor einem Rätsel und vor einem Paradox. Es ist unbestritten, dass irgendetwas von einer Generation von Lebewesen an die nächste weitergegeben wird. Dieses Etwas kann jedoch weder die „ genetische Information “ oder die Steuerungsmechanismen sein, die sich in der DNS befinden, noch bloß irgendwelche unbestimmten Umgebungseinflüsse, die auf die Zygote wirken. Die Steuerung der Morphogenese ist also weder im Innern der Zelle noch außerhalb ihrer anzusiedeln. Und dennoch muss es eine Steuerung dieses Prozesses geben, denn er ist so komplex, dass er sich unmöglich nach irgendwelchen Zufallsprinzipien vollziehen kann. Mehr noch: Wie die Filme über die Frühstadien der Embryonalentwicklung des Zebrafischembryos eindrücklich gezeigt haben, scheint irgendetwas oder irgendjemand die neu entstandenen, differenzierten Zellen mit unglaublicher Präzision und Effizienz an die für sie richtigen Plätze regelrecht zu führen. Dieser „ Dirigent “ der Morphogenese bleibt jedoch auf dem Film unsichtbar. Was nicht bedeutet, dass „ er “ nicht existiert. Schließlich sind auch die Radiowellen unsichtbar, sie haben aber nachweisliche, greifbare Auswirkungen auf unser Leben, sie sind durchaus wirklich. Dank ihrer kann Papi durchaus aus dem Radio sprechen, muss aber nicht unbedingt im Radiogerät sitzen. Vielleicht ist auch das Steuerungszentrum der Morphogenese weit entfernt von dem sich entwickelnden Embryo situiert? Wahrscheinlich müssen wir, um die Morphogenese zu enträtseln, in den Bereich dessen vorstoßen, was für die Filmkameras und Mikroskope unsichtbar ist und vermutlich für immer unsichtbar bleiben wird. Diese Suche wird uns 392 http: / / health.howstuffworks.com/ human-body/ parts/ facts-about-the-human-body. htm (heruntergeladen am 10. 11. 2013). 570 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft möglicherweise weit über die unmittelbare Umgebung des Embryos hinausführen. PS: Als dieser Exkurs in die Schlusskorrektur gehen sollte, erschien in Nature ein Artikel (Laland et al. 2014), in dem eine Gruppe bedeutender Forscher ihrer Überzeugung Ausdruck verleiht, dass die bisherige genzentrierte Auffassung der Mechanismen der Evolution, also auch der Morphogenese, dringend überdacht und erweitert werden müsse. Ich erlaube mir hier am Ende meiner Diskussion den ersten Absatz dieses Artikels kommentarlos zu zitieren: Charles Darwin conceived of evolution by natural selection without knowing that genes exist. Now mainstream evolutionary theory has come to focus almost exclusively on genetic inheritance and processes that change gene frequencies. Yet new data pouring out of adjacent fields are starting to undermine this narrow stance. An alternative vision of evolution is beginning to crystallize, in which the processes by which organisms grow and develop are recognized as causes of evolution. Some of us first met to discuss these advances six years ago. In the time since, as members of an interdisciplinary team, we have worked intensively to develop a broader framework, termed the extended evolutionary synthesis (EES), and to flesh out its structure, assumptions and predictions. In essence, this synthesis maintains that important drivers of evolution, ones that cannot be reduced to genes, must be woven into the very fabric of evolutionary theory. (Laland et al., ebd., S. 161) 4 f iii Können Proteine die Leistungen erbringen, die ihnen zugeschrieben werden? 393 Im vorigen Exkurs habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Behauptung, die Proteine seien für die Steuerung der Prozesse der Morphogenese verantwortlich, auf die für die Biochemie grundlegende Annahme stützt, dass Proteine die zentrale funktionale Rolle im Leben der Zellen spielen. In einem Standardlehrbuch der Zellbiologie wird diese Rolle so zusammengefasst: Bei der mikroskopischen Betrachtung einer Zelle oder der Analyse ihrer elektrischen oder biochemischen Aktivitäten geht es im Wesentlichen um die Proteine. Proteine sind die Bausteine der Zelle und machen den größten Teil ihres Trockengewichts aus. (Alberts et al. 2005, S. 127) 393 Im Folgenden gebe ich in modifizierter und leicht aktualisierter Form den Inhalt eines Artikels wieder, den ich unter diesem Titel in Merkurstab. Zeitschrift für Anthroposophische Medizin veröffentlicht habe (1/ 09, Januar - Februar 2009, S. 4 - 19). 4 f Einige empirische Probleme im Detail 571 Die Autoren des Buches schreiben den Proteinen u. a. folgende Funktionen zu: Aufbau der Strukturen der Zelle, Katalysierung chemischer Reaktionen in der Zelle, Bildung der Kanäle und Pumpen, mittels derer kleinere Moleküle in die Zelle oder aus ihr heraustransportiert werden, Übertragung der Botschaften zwischen den Zellen, Übertragung von Signalen von der Plasmamembran, Transport kleinerer Moleküle oder sogar Organellen durch das Cytoplasma. Sie wirken ferner als Antikörper, Gifte, Hormone, elastische Fasern usw. Diese imposante Aufzählung schließt verständlicherweise mit dem folgenden Hinweis ab: Bevor wir also verstehen, wie Gene arbeiten, wie sich Muskeln kontrahieren, wie Nerven Elektrizität leiten, wie sich Embryonen entwickeln oder wie unser Körper funktioniert, müssen wir mehr von den Proteinen wissen. (Ebd.) Wenn man die Rolle der Proteine im Organismus so umfassend versteht, scheint es einleuchtend anzunehmen, dass die DNS, welche die Information über die Typen der im Organismus hergestellten Proteine beinhaltet, auch die Information über die funktionellen Abläufe des Organismus und vor allem über Morphogenese enthält. Können die Proteine das aber leisten? Das Ziel des vorliegenden Exkurses ist es zu zeigen, dass es unberechtigt ist, den Proteinen eine solche Allmacht zuzuschreiben. Die Probleme, die sich daraus ergeben, können im Rahmen dieses Exkurses selbstverständlich nur anhand einer sehr begrenzten Zahl ausgewählter Beispiele illustriert werden. Woher die Konformation? Bevor wir uns der Betrachtung der gängigen Interpretation der Funktionsweise der Proteine zuwenden, ist es ratsam, sich einer vorgelagerten Frage zu widmen, und zwar der Entstehung der tertiären Struktur der Proteine. Denn was der Zuschreibung der unterschiedlichen Wirksamkeiten zugrunde liegt und sie gleichsam legitimiert, ist die Annahme der Molekularbiologie 394 , dass die Funktionsweise der Proteine aus ihrer besonderen dreidimensionalen Struktur, der sog. Konformation, resultiert (ebd., S. 132). Denkt man über diese Behauptung ein wenig nach, so ergeben sich sofort zwei grundlegende Fragen: Wodurch werden die Konformationen der Proteine bestimmt? Und wie ist es überhaupt möglich, dass sich aus einer bestimmten Form eines bestimmten Proteins dessen Funktion ergibt? Um die Tragweite der zweiten Frage anschaulich zu machen, genügt es, sich das Verhältnis zwischen einem gewöhnlichen Werkzeug und dessen Funktion zu verdeutlichen. Es ist zweifelsohne richtig zu sagen, dass eine Schere oder ein Schraubenzieher ihre/ seine jeweiligen Funktionen nur vermöge ihrer/ seiner bestimm- 394 In Anlehnung an den gleichlautenden Ausdruck in Bezug auf die Genetik könnte man vom „ zentralen Dogma “ der Molekularbiologie sprechen. 572 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft ten Beschaffenheit ausüben kann, es ist jedoch völlig unsinnig zu behaupten, dass die Art der Beschaffenheit des spezifischen Werkzeugs diese Funktionen verursacht bzw. bedingt. Vielmehr ist es bei gewöhnlichen Werkzeugen der Fall, dass ihnen eine bestimmte Beschaffenheit vom Menschen verliehen wurde, damit sie ihm bei der Ausübung einer bestimmten Kompetenz oder bei der Bewältigung einer bestimmten Aufgabe dienlich sein können. Die Bewerkstelligung bestimmter Aufgaben wäre, besonders in unserem technologisch fortgeschrittenen Zeitalter, ohne bestimmte Werkzeuge einfach unmöglich. Dabei ist es der Mensch, der sich der Werkzeuge für die Erfüllung bestimmter Aufgaben bedient, und es sind nicht die Werkzeuge selbst, die diese Funktionen quasi autark ausführen. 395 Bevor wir uns der Betrachtung der zweiten Frage widmen können, müssen wir zunächst die Antwort auf die erste suchen. Die Proteine des menschlichen Körpers sind aus 21 Aminosäuren aufgebaut (bis vor kurzem meinte man, die Zahl der proteinbildenden Aminosäuren betrage bei Menschen lediglich 20), wobei die Anzahl der Aminosäuren in einem Protein von ein paar Hundert bis mehrere Tausend betragen kann. Die Aminosäuren sind an sich recht einfache chemische Verbindungen, die jeweils mindestens eine Carboxylgruppe ( - COOH) und eine Aminogruppe ( - NH 2 ) enthalten. Die chemische Formel einer dieser Aminosäuren, des Alanins, ist C 3 H 7 NO 2 , einer anderen, des Glutamins, C 5 H 10 N 2 O 3 usw. Die Struktur des Alanins sieht so aus: Abb. 4: Chemische Struktur des Alanins. (Quelle: Wikipedia) Im Gegensatz zur Struktur der einzelnen Aminosäuren ist die Struktur der Proteine äußerst komplex. Das Protein, das unten abgebildet ist, das α - Hämolysin, wird von Escherichia coli produziert und gehört allenfalls zu den mittelkomplexen Proteinmolekülen. Es greift die Zellmembranen der eukaryotischen Zellen an und zerstört die Durchlässigkeitsbarriere. 395 Dies ist auch bei verschiedenen in der Industrie und zunehmend auch im Haushalt eingesetzten Robotern der Fall. Sie wurden von Menschen konstruiert, um gewisse Funktionen auszuüben. Ihre Funktionen ergeben sich nicht aus ihren Formen, sondern ihnen wurden bestimmte Formen (und bestimmte Fähigkeiten) verliehen, damit sie bestimmte Funktionen ausüben können. 4 f Einige empirische Probleme im Detail 573 Abb. 5: Tertiärstruktur des α -Hämolysin. (Quelle: Protein Data Bank (RCSB PDB)) Dieses Bild macht anschaulich, wie komplex die Konformationen der Proteine sind. Sie sind in der Tat so komplex, dass es nicht möglich ist, die Form eines bestimmten Proteins aus seiner bekannten chemischen Struktur analytisch abzuleiten. Die aus den Lehrbüchern der Molekularbiologie bekannten Darstellungen dieser Strukturen entspringen daher keiner theoretischen Deduktion, sondern einer sog. Röntgenstrukturanalyse (und das obige Bild ist eine Rekonstruktion einer Röntgenstrukturanalyse des α -Hämolysins). 396 Wie entsteht dann die konkrete Form eines bestimmten Proteins? Die gängige 396 2007 ist es zum ersten Mal gelungen, die Konformationen eines Proteins rein theoretisch zu berechnen (vgl. Callaway 2007, S. 765; Dodson 2007, S. 176f.; Qian, Bin et al. 2007, S. 259 - 267). Dem sind jedoch einige „ Aber “ entgegenzuhalten. Erstens war das Protein, dessen Struktur berechnet wurde, ein recht bescheidenes, lediglich 112 Aminosäuren langes bakterielles Protein. Um seine Struktur zu berechnen, mussten die Forscher nicht nur auf einen schnellen Rechner zugreifen, sondern gleich die Berkeley Open Infrastructure for Network Computing einbeziehen, also ein Netzwerk, das zusätzlich die Rechenkapazitäten von Privatcomputern nutzt. Für die Berechnung der Struktur des Proteins (mit dem Namen T0283) haben ca. 150.000 Personen ihre Rechner zur Verfügung gestellt; man schätzt, dass insgesamt einige Millionen Rechenstunden benötigt wurden. Drittens haben die Forscher nicht bei null, d. h. mit der rein chemischen Zusammensetzung des Proteins, angefangen. Sie haben vielmehr die Sequenz des Proteins in kleinere Abschnitte geteilt, die den Abschnitten bekannter Proteine mit bekannten Konformationen entsprechen (für diese drei Einschränkungen vgl. Callaway ebd.). 574 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Überzeugung diesbezüglich ist, dass sie sich aus der chemischen Struktur des Proteins ergibt: Jedes Protein hat eine bestimmte dreidimensionale Struktur, die durch die Abfolge der Aminosäuren in seiner Kette bestimmt wird. (Alberts et al. ebd. S. 132f.) Es wird ferner angenommen, dass die endgültige Struktur des Proteins durch rein energetische Gesichtspunkte festgelegt ist: Die Konformation entspricht einem Zustand des Moleküls, in dem die freie Energie möglichst gering ist (ebd., S. 132; vgl. auch Kelly 2006, S. 255f.). Wenn einmal die Struktur des Proteins bekannt ist, behaupten Molekularbiochemiker, sei es verhältnismäßig einfach einzusehen, warum sie so ist, wie sie ist (Dodson ebd., S. 176). Die Annahme, dass sich die Struktur der Proteine allein aus ihrer chemischen Zusammensetzung ergibt, ist jedoch bei einer unbefangenen Betrachtung recht unplausibel. Denn es ist zunächst durchaus vorstellbar, dass ein Molekül, das aus einer bestimmten Anzahl bestimmter Atome in einer bestimmten Reihenfolge besteht, doch unterschiedliche dreidimensionale Formen aufweist. In einem 2008 in Science erschienenen Artikel, welcher sich mit dem Problem der Proteinfaltung beschäftigte, erinnerte Service daran, dass die Anzahl möglicher Konformationen eines bestimmten Proteins astronomisch sei: Ein einfaches, lediglich aus 100 Aminosäuren bestehendes Protein kann sich theoretisch auf 3 200 Arten falten (Service 2008, S. 784). 397 Wenn ein solches Protein auf rein zufällige Weise jede billiardste Sekunde eine mögliche Konformation „ ausprobieren “ würde, würde es 10 80 Sekunden benötigen, d. h. eine Zeit, die das (angenommene) Alter des Universums um 60 Zehnerpotenzen überschreitet, um die richtige Lösung zu finden (Service ebd., S. 786). In Wirklichkeit benötigen die Proteine lediglich einige Millisekunden bis einige wenige Sekunden, um die „ richtige “ Konformation anzunehmen (ebd.). Unter anderem deshalb betitelte Service seinen Artikel „ Problem Solved* (*sort of) “ . In einem kürzlich in Science erschienenen Artikel (Dill und MacCallum 2012) nehmen Dill und MacCallum Bezug auf den soeben erwähnten Artikel von Service und stellen fest, dass auch das Problem der Proteinfaltung trotz der bedeutenden Fortschritte auf diesem Gebiet keineswegs gelöst ist: Is the protein-folding problem “ solved ” yet [. . .]? We believe it is no longer useful to frame the question this way. Protein folding is now a whole field of research - a large, growing, and diverse enterprise. A field of science - such as physics, chemistry, or biology - is bigger than any individual research question. A field is self-perpetuating; a few old puzzles generate more new puzzles. For the field of protein physical science, the future is at least as compelling as the past. Here are some of the unsolved problems: We have little experimental knowledge of protein-folding energy landscapes. 397 Service stellt übrigens am Ende seines Artikels fest, dass trotz der bedeutenden Fortschritte beim Verständnis der Proteinkonformation in der letzten Zeit gemacht wurden, offene Fragen geblieben seien (ebd., S. 786). 4 f Einige empirische Probleme im Detail 575 We cannot consistently predict the structures of proteins to high accuracy. We do not have a quantitative microscopic understanding of the folding routes or transition states for arbitrary amino acid sequences. We cannot predict a protein ’ s propensity to aggregate, which is important for aging and folding diseases. We do not have algorithms that accurately give the binding affinities of drugs and small molecules to proteins. We do not understand why a cellular proteome does not precipitate, because of the high density inside a cell. We know little about how folding diseases happen, or how to intervene. Despite their importance, we still know relatively little about the structure, function, and folding of membrane proteins [. . .]. We know little about the ensembles and functions of intrinsically disordered proteins [. . .], even though nearly half of all eukaryotic proteins contain large disordered regions. This is sometimes called the “ protein nonfolding problem ” or “ unstructural biology ” . (Ebd., S. 1046) Die zentrale Annahme, dass sich die kunstvollen Konformationen der Proteine aufgrund rein mechanischer und energetischer Prinzipien ergeben, ist umso weniger plausibel, wenn man bedenkt, dass die Faltung der Proteine in ihre jeweiligen Konformationen durch spezielle Proteine, sog. molekulare Chaperone, unterstützt wird (Alberts et al. 2005, S. 133). Darüber hinaus wird die Faltung auch durch die Anwesenheit von Wassermolekülen beeinflusst (Zhang et al. 2007). 398 In der Tat spielt Wasser zumindest manchmal eine wichtige Rolle für die Erhaltung der Form der chemischen Moleküle. So verliert z. B. die Doppelhelix der DNS in einem Gasmedium ihre dreidimensionale Struktur und sieht aus, „ as though a child has stamped on it “ (Ball 2008 a, S. 292). Kann ein bestimmtes Proteinmolekül wirklich nur eine einzige Form haben? Ist die „ Suche “ des Moleküls nach dem energieärmsten Zustand tatsächlich ausreichend, um die Komplexität der faktischen Konformationen erklärlich zu machen? Dill und MacCallum schreiben dazu in ihrem Artikel: But we are still missing a „ folding mechanism “ . By mechanism, we mean a narrative that explains how the time evolution of a protein ’ s folding to its native state derives from its amino acid sequence and solution conditions. (Dill und MacCallum 2012, S. 1043) 398 So fasst Ball in einem umfangreichen Artikel (Ball 2008) die Funktionen des Wassers in biochemischen Prozessen folgendermaßen zusammen: „ Water plays a wide variety of roles in biochemical processes. It maintains macromolecular structure and mediates molecular recognition, it activates and modulates protein dynamics, it provides a switchable communication channel across membranes and between the inside and outside of proteins. Many of these properties do seem to depend, to a greater or lesser degree, on the ‘ special ’ attributes of the H 2 O molecule, in particular its ability to engage in directional, weak bonding in a way that allows for reorientation and reconfiguration of discrete and identifiable threedimensional structures “ (ebd., S. 103). 576 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Vielleicht ist es überhaupt nicht möglich, den „ Faltmechanismus “ allein aus den Parametern der Aminosäurensequenz abzuleiten, vielleicht muss man tatsächlich auch die Parameter des Mediums, in welchem die Faltung stattfindet, also vor allem des Wassers, berücksichtigen. Aber welche Rolle könnte das an sich eher neutrale Wasser in diesem Prozess spielen? Dass bis jetzt unbekannte oder zumindest nicht berücksichtigte Faktoren in diesem Prozess eine wesentliche Rolle spielen, wird auch dadurch nahegelegt, dass die gegenwärtigen Erfolge in der theoretischen Bestimmung der tertiären Struktur der Proteine allein aufgrund ihrer Aminosäuresequenz irreführend sind. Denn die Algorithmen, welche die entsprechende Voraussage ermöglichen, basieren nicht auf rein theoretischen Überlegungen, sondern vielmehr auf dem Vergleich der bereits bekannten ca. 80.000 Proteinstrukturen, die in den öffentlichen Datenbanken (z. B. PDB, CASP) zugänglich sind (ebd., S. 1044, 1046), mit den ihnen entsprechenden Aminosäuresequenzen. Im Grunde genommen ist also der Prozess der Voraussage der tertiären Proteinsequenz nichts anderes als eine ausgeklügelte und, weil computergestützt, verhältnismäßig schnelle Trial-and-Error-Methode, die sich auf Erfahrung, nicht auf Theorie stützt. Die Versuche, die tertiäre Proteinstruktur rein aus der Aminosäuresequenz abzuleiten, sind überdies keineswegs streng wissenschaftlich motiviert. Dahinter verbirgt sich vielmehr die metaphysische Hintergrundannahme, dass sich die Eigenschaften eines komplexen Ganzen aus den Eigenschaften der dieses Ganze zusammensetzenden Teile ergeben, mit anderen Worten ein (ontologischer) Reduktionismus. Setzt man diese Position voraus, so muss die oben angeführte Behauptung wahr sein, denn innerhalb dieser ontologischen Position ist ein Protein nichts anderes und nichts als die Summe seiner Aminosäuren und damit letztendlich die seiner Atome. Wir haben aber bereits gesehen, dass es heute Wissenschaftler gibt, welche die Meinung vertreten, dass die Zeit des reduktionistischen Erklärungsmusters vorbei sei. 399 Im Folgenden werde ich von solchen theoretischen Überlegungen absehen und stattdessen die empirischen Tatsachen genauer unter die Lupe nehmen, um zu sehen, ob die reduktionistische Erklärungsstrategie im Fall der Proteine und ihrer Funktionen glaubwürdig ist. Die Röntgenstrukturanalyse unter der Lupe Die Vermutung, dass das gängige Verständnis der Mechanismen des Proteinfaltens möglicherweise zutiefst irreführend ist, gewinnt weiter an Plausibilität, wenn man die Methode der Röntgenstrukturanalyse, welche immer noch den Königsweg zur Erschließung der tertiären Proteinstruktur bildet, genauer unter die Lupe nimmt. Diese Methode besteht darin, dass man die zu untersuchende Struktur mit Röntgenstrahlen bestrahlt, woraus sich ein 399 Vgl. den Abschnitt „ Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas “ . 4 f Einige empirische Probleme im Detail 577 Diffraktionsmuster ergibt, das durch die Beugung der Röntgenstrahlen an den Atomen der untersuchten Struktur entsteht und das die Positionen der einzelnen Atome in der Struktur verrät. 400 Anhand dieses Musters ist es dann möglich (obschon aufgrund der Komplexität des Problems nur unter Zuhilfenahme schneller Computer), die dreidimensionale Form der untersuchten Struktur zu errechnen. Der notwendige erste Schritt zur Anwendung dieser Methode besteht jedoch darin, dass man die zu untersuchende Struktur, in unserem Fall ein Protein, dazu veranlasst, Kristalle zu bilden, d. h. große, hoch geordnete Ansammlungen, in denen jedes Protein dieselbe Konformation besitzt und perfekt zwischen seinen Nachbarn ausgerichtet ist (aus diesem Grund wird die Methode auf Englisch „ x-ray crystallography “ genannt). Das Züchten solcher Kristalle ist immer noch eine anspruchsvolle Kunst, die ein wenig unberechenbar ist und nicht immer gelingt. 401 Erst in einer kristallinen Form kann das untersuchte Protein bestrahlt werden. Welche Bedeutung hat dieser Vorgang für die Objektivität der auf diesem Wege ermittelten Ergebnisse? Es fällt nicht schwer einzusehen, dass dieser scheinbar nebensächliche Schritt von großer Tragweite ist, bedeutet er doch, dass man das, was ursprünglich belebt war, in den Zustand eines Minerals, also einer tote Substanz, versetzt. Man kann darum behaupten, dass das, was man mit der Methode der Röntgenstrukturanalyse untersucht und prinzipiell auch nur untersuchen kann, nicht Proteine sind, wie sie im Organismus vorkommen, sondern gleichsam ihre Leichname. Das Leben wurde aus ihnen herausgetrieben, es bleibt eine starre Struktur übrig. Insbesondere wenn man die immer noch wenig erforschte Rolle des Wassers im Prozess der Faltung der Proteine zu ihren charakteristischen Konformationen berücksichtigt, wird einem einsichtig, dass das Spiel der Kräfte zwischen einzelnen Atomen des Proteins nur ein Element des Prozesses sein kann, der zur Bildung bestimmter Konformationen führt. Die Wissenschaftler beobachten, was sie beobachten können: den Stoff, und sie vernachlässigen gezwungenermaßen den Beitrag, welchen die Kräfte und Wirksamkeiten, die sich ihrer Beobachtungsmethoden entziehen, in den Prozessen, die sie beobachten, leisten, weshalb sie aus dem Beobachteten unberechtigte Schlüsse ziehen. 400 So wird zumindest diese Methode üblicherweise dargestellt. Ob das Bild der Atome, an denen sich die Röntgenstrahlen beugen, der Wirklichkeit entspricht oder nicht, sei hier dahingestellt. 401 Vgl. dazu Alberts et al. 2005, S. 138. Eine andere Methode der Strukturanalyse der Proteine, die die Kristallisation der Proteine nicht verlangt, ist die sog. Magnetische Kernresonanzspektroskopie (engl.: NMR für Nuclear Magnetic Resonance). Sie besteht darin, dass ein Protein in einer Lösung in ein starkes Magnetfeld platziert und elektromagnetischer Strahlung ausgesetzt wird. So können die Signale von Wasserstoffkernen in verschiedenen Aminosäuren identifiziert und Abstände zwischen ihnen ermittelt werden. Aufgrund dieser Daten kann die 3D-Struktur des Proteins errechnet werden. Der Nachteil dieser Methode ist, dass sie nur für die Bestimmung verhältnismäßig kleiner Proteine verwendet werden kann, weshalb die Röntgenstrukturanalyse die Hauptforschungsmethode auf diesem Feld bleibt (vgl. ebd., S. 177). 578 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Wenn man dies einsieht, dann erscheinen die oben dargestellten Rätsel der gegenwärtigen Forschung in einem neuen Licht. Ich habe zu zeigen versucht, dass das Dogma, dass die Funktion der Proteine sich direkt und ausschließlich aus ihrer dreidimensionalen Struktur ergebe, in Anbetracht der durch die moderne Forschung entdeckten Tatsachen höchst unplausibel ist. Wenn man aber bedenkt, dass der mittels der Röntgenstrukturanalyse ermittelte Aufbau der Proteine eigentlich nichts anderes als ein Artefakt, eine gefrorene Momentaufnahme eines dynamisches Lebensprozesses ist, dann kann man vielleicht einen ersten Schritt in die Richtung einer überzeugenden Erklärung der beobachteten Phänomene machen. In einem 2007 in Nature erschienenen Artikel weisen Henzler-Wildman und Kern darauf hin, dass die Proteine entgegen der immer noch geläufigen Meinung nicht ewig in den so schön in den Molekularbiologie Lehrbüchern abgebildeten Formen verharren, sondern dass sie in Wirklichkeit bewegliche, sich innerhalb gewisser Grenzen stets verändernde Formen darstellen, was für das Verständnis der Funktion der Proteine von entscheidender Bedeutung ist: Understanding protein function on an atomic level has been revolutionized by high-resolution X-ray crystallography, resulting in a surge in studies of structurefunction relationships. The detail in these colourful structures flooding the covers of modern journals can be deceptive, suggesting that one unique structure, the ‘ folded state ’ , is the final answer. Ironically, the dynamic nature of biology seems to have been forgotten at this microscopic level. Physicists, however, will object to a static picture: they see proteins as soft materials that sample a large ensemble of conformations around the average structure as a result of thermal energy. A complete description of proteins requires a multidimensional energy landscape that defines the relative probabilities of the conformational states [. . .] and the energy barriers between them [. . .]. In biology, this concept has recently gained traction, leading to an extension of the structurefunction paradigm to include dynamics. To understand proteins in action, the fourth dimension, time, must be added to the snapshots of proteins frozen in crystal forms. (Henzler-Wildman und Kern 2007, S. 964) Die Berücksichtigung der zeitlichen Dynamik der Konformationen der Proteine, insbesondere in ihrer Wechselwirkung mit dem sie umgebenden wässrigen Medium, würde somit eine erste wesentliche Ergänzung des gängigen Bildes des Wesens dieser Substanzen bilden. Wohin würde uns aber eine solche Erweiterung führen? Proteine als Katalysatoren Nachdem wir zwei grundlegende Probleme der Molekularbiologie, den Mechanismus des Proteinfaltens und die Frage des statischen bzw. dynamischen Bildes der Proteine, kurz diskutiert haben, wenden wir uns jetzt der zentralen These zu, dass die Proteine ihre Funktionen kraft ihrer tertiären Struktur ausüben. Schauen wir uns zunächst die scheinbar unbedenkliche Behauptung genauer an, dass Proteine in der Zelle als Katalysatoren bestimm- 4 f Einige empirische Probleme im Detail 579 ter Reaktionen wirken, d. h. sie bedeutend beschleunigen. Wie wird diese Funktion konkret ausgeübt? Dazu ein typisches Lehrbuch der molekularen Zellbiologie über die Funktionsweise des Proteins Lysozym: Wie alle Enzyme trägt das Lysozym eine spezielle Bindungsstelle auf seiner Oberfläche, das sog. aktive Zentrum, das die Umrisse seines Substratmoleküls 402 umfängt. Hier findet die Katalyse der chemischen Reaktion statt. Weil sein Substrat ein Polymer ist, ist das aktive Zentrum des Lysozyms eine lange Grube, die gleichzeitig sechs verknüpfte Zucker festhalten kann. Sobald das Polysaccharid unter Bildung eines Enzym-Substrat-Komplexes gebunden hat, schneidet das Enzym das Polysaccharid auseinander, indem es ein Wassermolekül an eine seiner Zucker-Zucker-Bindungen addiert. Die Produktketten werden dann schnell freigesetzt, und das Enzym ist frei für weitere Reaktionszyklen. [. . .] Die Chemie, die der Bindung des Lysozyms an sein Substrat zugrunde liegt, ist dieselbe wie bei der Antikörperbindung - die Ausbildung vieler nichtkovalenten Bindungen. Lysozym hält jedoch sein Polysaccharidsubstrat in einer ganz bestimmten Weise fest, sodass einer der beiden Zucker, die an der aufzubrechenden Bindung beteiligt sind, aus seiner normalen, stabilen Konformation gezerrt wird. Die Bindung, die aufgebrochen werden soll, wird außerdem in der Nähe von zwei Aminosäuren mit sauren Seitenketten gehalten: einer Glutaminsäure und einer Asparaginsäure innerhalb des aktiven Zentrums. (Alberts et al. ebd., S. 156f.) Was an der obigen Beschreibung aus philosophischer und wissenschaftstheoretischer Sicht auffällt, ist die Häufung anthropomorpher Redewendungen. Das Lysozym „ trägt “ eine spezielle Bindungsstelle auf seiner Oberfläche, das aktive Zentrum, das die Umrisse des Substratmoleküls „ umfängt “ . Das Zentrum ist eine lange Grube, die gleichzeitig sechs Zucker „ festhalten “ kann. Sobald das Polysaccharid „ gebunden “ ist, „ schneidet “ das Enzym das Polysaccharid auseinander, indem es ein Wassermolekül an einer bestimmten Stelle der Kette „ addiert “ . Lysozym „ hält “ sein Polysaccharid in einer bestimmten Weise fest; die Bindung, die aufgebrochen werden soll, wird von zwei Aminosäuren mit sauren Seitenketten „ gehalten “ . Verben wie „ tragen “ , „ umfangen “ , „ festhalten “ , „ schneiden “ , „ addieren “ , „ halten “ usw. werden in der Alltagssprache für die Beschreibung menschlicher Tätigkeiten oder im erweiterten Sinne für die Beschreibung tierischer (aber nicht pflanzlicher) Aktivitäten benutzt und implizieren stets Intentionalität und Bewusstsein. Ein Mensch schneidet ein Blatt Papier durch, weil er/ sie dies beabsichtigt. Dasselbe Blatt wird durch einen fallenden scharfen Gegenstand (ein Messer) zersetzt, zerteilt, entzweit usw., aber eben nicht geschnitten. ( „ Das Messer schnitt das Papier entzwei “ klingt falsch. Solche Sätze sind ohne die Angabe des eigentlichen Täters unvollständig.) Der Anthropomorphismus der Beschreibung wird auch in dem Bild deutlich, das zur Veranschaulichung der Funktionsweise des Lysozyms verwendet wird: 402 Substrat ist ein technischer Name für den Ausgangsstoff einer durch ein Enzym katalysierten biochemischen Reaktion. 580 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Abb. 6: Lysozym katalysiert Zucker, in: Alberts et al. 2005, S. 157. (© Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Abgedruckt mit Genehmigung) Wenn man aber die intentionalen Ausdrücke aus der obigen Beschreibung entfernt und sie durch intentionsneutrale Verben ersetzt (etwa: „ An der Oberfläche des Lysozymmoleküls befindet sich eine Bindungsstelle. Sobald sich ein Polysaccharid in dieser Bindungsstelle befindet, findet ein Transfer eines Wassermoleküls an eine Zucker-Zucker-Bindung statt. . .) wird sichtbar, was durch den unzulässigen Anthropomorphismus (oder zumindest den Animismus im Sinne der Zuschreibung von seelischen Eigenschaften an die unbelebten Natur) der Originalbeschreibung verdeckt war: Die angebliche Erklärung des beobachteten Phänomens (Beschleunigung der Spaltung des Polysaccharids) entpuppt sich als eine Aneinanderreihung von glücklichen Zufällen, deren Zustandekommen keineswegs eine mechanistische Erklärung des empirisch beobachteten Ergebnisses, sondern ein völlig unerklärliches und eigentlich unbegreifliches Wunder darstellt. Betrachten wir die Situation genau. Der Ausgangspunkt des zu erklärenden Phänomens ist das Vorhandensein eines auf seiner Oberfläche geformten Proteins bzw. Enzyms. Dieses ist aber an seinem Wirkungsort im Organismus (Speichel, Schweiß, Darmschleimhäuten, Blutplasma usw.) eigentlich nicht nur von seinen „ Substratmolekülen “ (Polysacchariden), sondern stets von Millionen anderer Moleküle umgeben. In einem 2007 in Nature veröffentlichtem Artikel beschreibt Maher die grob vereinfachende und letztlich sterile Fiktion der Lehrbuchschilderungen des Zellgeschehens folgendermaßen: In the cartoon models that illustrate textbooks on celland molecular biology, purposeful proteins orchestrate neat, stepwise molecular dances as they react to coloured blobs and bind a perfect DNA staircases. Everyone finds their partners easily and does their job efficiently in a scale-free rendition of an otherwise empty space. The reality is something much more chaotic. In the cell there ’ s no eye-soothing white space to separate things. Water molecules are a constant omnidirectional hailstorm, van der Waals forces glue things together and viscosity rules. Within this molecular maelstrom, gravity is imperceptible, and there ’ s more or less no inertia; all purposeful movements degenerates into random jittering the moment no further power is available. [. . . I]f a bacterium stops beating 4 f Einige empirische Probleme im Detail 581 its flagella to move forward, it comes to a stop ‚ in less than the width of a hydrogen bond, just a fraction of a nanometre. (Maher 2007, S. 984) In der Tat bietet die Zelle ihren „ Bewohnern “ einen so gedrängten Lebensraum, dass sich die Proteine in ihm nicht völlig frei entfalten können, sondern oft Konformationsveränderungen, also Veränderungen ihrer dreidimensionalen Struktur, durchmachen, die Einfluss auf ihre Funktion haben können (Homouz et al. 2008). Der erste Schritt einer sachgemäßen Erklärung der enzymatischen Wirkung des Lysozyms muss deshalb eine Erklärung des Phänomens des Zusammenkommens oder - anthropomorphisch - des „ Sichfindens “ eines Lysozymmoleküls und eines Polysaccharidmoleküls in dem chemischen Wirrwarr des lebendigen Organismus sein. Dieser elementare Schritt wird übersehen, weil er unter Laborbedingungen so vollzogen wird, dass die fraglichen Moleküle (ein Lysozymmolekül und ein Polysaccharidmolekül) in Isolation von anderen Faktoren künstlich in Berührung gebracht werden. Nüchtern betrachtet ist aber bereits die Tatsache erklärungsbedürftig, dass zwei aufeinander „ abgestimmte “ Moleküle im dunklen und dynamischen Gedränge des Organismus zusammenfinden. Nehmen wir jedoch an, dass sie sich glücklicherweise physisch dicht nebeneinander befinden und dass ihnen das gelungen ist. Jetzt muss das Polysaccharidmolekül den Weg zum „ aktiven Zentrum “ des Enzyms finden. Wie schafft es dies? Das Bild unten vermittelt eine ungefähre Vorstellung von der Struktur des Lysozyms. Abb. 7: Lysozym. (Quelle: Protein Data Bank (RCSB PDB)) 582 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Das „ aktive Zentrum “ des Lysozyms, das im vorigen Schema schön und deutlich als eine Art Grube in der Mitte des Enzymmoleküls dargestellt wurde, ist auf diesem Bild alles andere als deutlich zu erkennen. Wie kommt es dann, dass sich ein Abschnitt des Polysaccharids „ brav “ in die für ihn „ vorgesehene “ vermeintliche „ Grube “ des Enzyms gleichsam „ legt “ , um mit seiner Hilfe schneller hydrolysiert zu werden? Stellen Sie sich vor, dass Sie ein Spielzeug in der Hand haben, das mit einer auf bestimmte Weise geformten Öffnung (sagen wir „ F “ -förmig) versehen ist, in welche Sie einen entsprechend geformten Gegenstand (sagen wir einen „ F “ -förmigen Holzklotz) einführen sollen. Der Klotz passt ganz genau zur Öffnung. Das heißt aber, dass Sie ihn nur auf eine ganz bestimmte Weise einführen können, und Sie werden deshalb mehrere Anläufe brauchen, bis es Ihnen gelingt (nicht von ungefähr bildet eine solche Übung einen Bestandteil vieler Intelligenztests). Wie schaffen es aber die fraglichen Moleküle, die ja nicht über Augen, Hände und Beine verfügen, dass das eine an der gewünschten Stelle in das andere „ hineinschlüpft “ ? Damit nicht genug. In der oben zitierten Beschreibung wird behauptet, dass das Enzym sein Substrat so „ festhält “ , dass „ einer der beiden Zucker, die an der aufzubrechenden Bindung beteiligt sind, aus seiner normalen, stabilen Konformation gezerrt wird “ . Man kann sich zwar vorstellen, dass ein Mensch einen Stock in einer Hand hält und mit der anderen dem Stock eine Drehbewegung zufügt, die in dem Stock eine gewisse Spannung und somit eine Verzerrung seiner ursprünglichen Form verursacht. Es ist hingegen nicht klar, wie ein Molekül, das doch keine Hände hat, um Kräfte zu übertragen, und keine Augen, um zu sehen, wo diese Kräfte ansetzen müssen, und das auch über keine Intentionalität verfügt, dies zu einer bestimmten Zeit zu vollziehen, dieses Kunststück vollbringen sollte. Des Weiteren lesen wir, dass die aufzubrechende Bindung von zwei Aminosäuren „ gehalten “ wird. Wie sollen „ blinde “ (und überdies „ dumme “ ) Aminosäuren „ wissen “ , wo, wie und wann sie das Zuckermolekül anpacken müssen, damit die Aufspaltung gelingt? Zuletzt lesen wir, dass dem auf dieser Weise minuziös vorbehandelten Zuckermolekül „ ein Wassermolekül an eine seiner Zucker-Zucker- Bindungen addiert “ wird. Man weiß (ungefähr), was ein Mensch braucht, um z. B. einem ausgewählten Partygast im Gedränge ein Glas Wein zu reichen; wie aber soll ein Enzym wissen, wo sich eine geeignete mit einem Wassermolekül zu beschenkende Bindung befindet, wann der Transfer stattfinden soll, und wie die Übertragung rein mechanistisch vollzogen werden kann? Man kann diesen Einwänden entgegenhalten, dass sich die oben angedeuteten Schwierigkeiten bloß aus dem Umstand ergeben, dass sich die bisherige Betrachtungsweise der Katalyse auf einer recht groben Ebene bewegt, und sich die Schwierigkeiten auflösen werden, wenn man jene verfeinert. Betrachtet man den Prozess aber auf einer recht tiefen, und zwar atomaren Ebene, so lösen sich die Fragen keineswegs auf. Unten wird dieses atomare Geschehen schematisch abgebildet: 4 f Einige empirische Probleme im Detail 583 Abb. 8: Lysozym/ Zucker-Atome, in: Alberts et al. 2005, S. 158. (© Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Abgedruckt mit Genehmigung) Die diesem Schema beigefügte Legende hält fest, dass die dargestellten Prozesse der Hydrolyse des Polysaccharids stattfinden können, wenn sich zwei spezifische Aminosäuren (eine mit einer Glutaminsäure-Seitenkette und eine mit einer Asparaginsäure-Seitenkette) der über einhundert Aminosäuren des Lysozyms im aktiven Zentrum des Enzyms befinden. Man muss sich also vorstellen, dass im Wirrwarr des Organismus ein geeignetes Polysaccharid nicht nur ein Lysozymmolekül, sondern auch innerhalb dieses Moleküls - das recht komplex ist - die zu ihm exakt passende Stelle findet. Die Beschreibung hält ferner fest, dass unter diesen Umständen im Enzym- Substrat-Komplex (ES) das Enzym den Zucker D in eine gespannte Konformation „ zwingt “ , so dass dabei die Glu-35-Seitenkette so positioniert ist, dass sie als Säure wirkt, die die benachbarte Zucker-Zucker-Bindung unter „ Abgabe “ eines Protons an Zucker E „ angreift “ (dies der in der Legende benutzte Ausdruck). Gleichzeitig „ greift “ die Asp-52-Seitenkette das C1- Kohlenstoffatom des Zuckers D an und „ bindet ihn an sich “ in einer kovalenten Bindung. Im nächsten Schritt polarisiert Glu 35 ein Wassermolekül, so dass dessen Sauerstoff leicht das C1-Atom „ angreifen “ kann und das Asp 52 ersetzt. Das Wasserstoffatom des Wassermoleküls hingegen verbindet sich mit dem Sauerstoffatom der Glu-35-Seitenkette, was sie in ihren Anfangszustand versetzt. Was soll man von dieser Erklärung halten? Zunächst ist auch in diesem Fall der anthropomorphische Charakter der Beschreibung augenscheinlich. Sehen wir aber über diesen offensichtlichen Mangel hinweg, so ist festzuhalten, dass die Schilderung selbstverständlich keiner direkten Beobachtung entspringt - niemand hat irgendwann einzelne Atome beobachtet - , sondern einer Reihe von Schlussfolgerungen aufgrund der tatsächlich beobachteten Daten (Resultate der Elektrospray-Ionisation, Massenspektrometrie, Röntgenstrukturanalyse usw.) entspringt, also eine hypothetische Theorie des Geschehens darstellt. Wie dem Schema in Abb. 8, das eine 584 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Vereinfachung der entsprechenden Darstellung in Vocadlo et al. 2001, S. 835 bildet, zu entnehmen ist, besteht die Katalyse des Polysaccharids darin, dass die Glu-35-Seitenkette des Lysozyms die Zucker-Zucker-Bindung aufbricht, indem sie das die beiden Zucker verbindende Sauerstoffatom mit einem Wasserstoffatom (genauer mit einem Proton dieses Atoms) zu einer Hydroxylgruppe anreichert, wobei das frei gewordene Kohlenstoffatom des D- Zuckers (C1) eine vorübergehende Verbindung mit der Asp-52-Seitenkette des Lysozyms eingeht, woraus dann durch eine aus einem Wassermolekül gewonnene Hydroxylgruppe das endgültige Produkt (einfacher Zucker) entsteht. Die Beschreibung lässt jedoch bei genauem Hinschauen viele Fragen offen. Es bleibt erstens, wie schon erwähnt, rätselhaft, wie der Zucker die aktive Stelle des Enzyms überhaupt findet (oder umgekehrt). Die beteiligten Moleküle sind komplex, die aktive Stelle des Lysozyms befindet sich nicht überall an der Oberfläche des Moleküls, im Organismus ist es dunkel. Die Autoren des Artikels erwähnen dieses Problem in ihren Betrachtungen nicht einmal. Die zweite, bereits bekannte Frage bezieht sich auf den Ausgangspunkt des Katalyseprozesses, die Verformung (engl. „ distortion “ ) des Substrates, durch die zwischen dem D-Zucker und dem E-Zucker des Oligosaccharids ein Knick (engl. „ kink “ ) entsteht, was das „ Eingreifen “ des Lysozyms erleichtert (Vocadlo et al. ebd). Ich habe bereits früher darauf aufmerksam gemacht, dass das Zustandekommen einer Verformung mit genau passender Gestalt und Größe keineswegs eine mechanische Selbstverständlichkeit ist. Die Autoren befassen sich ferner nicht mit der Frage, wie die Glu-35-Seitenkette des Lysozyms „ weiß “ , welches Sauerstoffatom des Oligosaccharids sie „ angreifen “ soll. Sie setzen als selbstverständlich voraus, dass Glu 35 genau dieses Atom findet. Dazu gesellen sich neue Rätsel: Es zeigt sich nämlich, dass das C1-Atom des D-Zuckers eine wichtige „ Wanderung “ während des Prozesses unternimmt. Am Anfang befindet es sich oberhalb der Ebene der Pyranoseform des D-Zuckers, wandert aber dann nach unten 403 , so dass es sich unterhalb dieser Ebene befindet und dort mit Asp 52 ein Zwischenprodukt bilden kann (Vocadlo et al. ebd., S. 837f.). Die abschließende Hydrolyse des Zwischenproduktes verlangt eine neue Migration dieses Atoms, dieses Mal nach „ oben “ , wo es sich mit einem Wassermolekül, das sich an der Stelle befindet, die früher vom Sauerstoffatom des Zuckers besetzt war, „ treffen “ kann (ebd., S. 838). Was dieses Atom zu seinen Wanderungen animiert, wie es „ weiß “ , wo und wann es genau wandern soll, wie das Wassermolekül „ weiß “ , wo und wann es auf seinen Partner warten soll, sind Fragen, auf welche die Autoren nicht eingehen. Ihre Erklärungen, obschon zweifelsohne in ihrer Präzision äußerst beeindruckend, bleiben also grundsätzlich unvollständig. Die anthropomorphischen Ausdrücke erweisen sich keineswegs als bloß ästhetische Sprachfiguren, die den Fluss der Beschreibung stützen. Sie sind vielmehr die 403 Selbstverständlich sind „ oben “ und „ unten “ hier lediglich relative Begriffe. 4 f Einige empirische Probleme im Detail 585 sprichwörtlichen Feigenblätter, welche die Erklärungslücken verdecken. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, in dem bereits erwähnten Nature- Artikel zu lesen, dass die Physiker, die sich in der letzten Zeit für die Prozesse des Lebens zu interessieren beginnen, manches an den gängigen Erklärungen der Biologen rätselhaft finden: To biologists, a text such as Molecular Biology of the Cell by Bruce Alberts and his collegues is a well-trodden rendition of that which is known. But to a physicist first approaching biomolecules, it ’ s an Aladdin ’ s cave of shiny and captivating phenomena. Nelson [Theoriephysiker an der Universität Pennsylvania in Philadelphia] says he ’ s drawn to [that] sensation when something in biology “ makes you ask: ‘ How the heck does that happen? ’ Physicists start reading Alberts ’ and they say that every three pages ” . (Maher 2007, S. 986) Die jüngsten Forschungsergebnisse weisen zumal darauf hin, dass die Struktur der Enzyme keineswegs fixiert ist, sondern während der Katalyse oft bedeutende Veränderungen durchmacht 404 - eine Tatsache, welche die Adäquatheit der gängigen Lehrbuchbeschreibungen dieses Prozesses zusätzlich in Frage stellt. Proteine als „ Detektoren “ anderer Moleküle Eine weitere zentrale Funktion, die den Proteinen zugeschrieben wird, ist ihre „ Detektorrolle “ in der Bekämpfung von Krankheiten durch das Immunsystem. Die Funktionsweise des Immunsystems in seinen zwei Hauptformen, dem sog. angeborenen und dem sog. adaptiven Immunsystem, stellt noch immer eine offene Frage dar. Es besteht jedoch eine allgemeine Übereinstimmung bezüglich der Tatsache, dass man die Kernschritte der Abwehrreaktion des Organismus auf das Eindringen fremder Substanzen bzw. Organismen hinlänglich verstanden hat. Zu den allerersten Schritten der Immunreaktion gehört - gemäß dem gängigen Wissensstand - die Erkennung der Eindringlinge durch die sog. T-Zellen. Diese sind auf ihrer Oberfläche mit besonderen Rezeptoren (den sog. T-Zellen-Rezeptoren oder TCR) ausgestattet, die ihnen die Erkennung der Eindringlinge nach dem in der Biologie vertrauten Schlüssel-Schloss-Prinzip ermöglichen soll. Wer mit der psychologischen Forschung und insbesondere mit dem sog. Mustererkennungsproblem vertraut ist und weiß, wie schwierig es ist, Computern bzw. Robotern beizubringen, lebensweltliche Objekte unter unterschiedlichen Bedingungen fehlerfrei zu erkennen, der mag zunächst staunen, dass die Winzlinge des Immunsystems (T-Zellen) über eine ebensolche Fähigkeit verfügen sollen. Schauen wir uns deshalb genauer an, wie sie nach gängiger Vorstellung leisten, was ihnen zugeschrieben wird. Die Rezeptoren der T-Zellen werden als große Komplexe aus Proteinen vorgestellt, die auf der Oberfläche von T-Zellen angebracht sind. 404 Vgl. z. B. Kapur und Khosla 2008; Frueh et al. 2008; Koslover et al. 2008. 586 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Man muss dabei bedenken, dass Antigene Viren, Bakterien oder sonstige Fremdkörper sein und folglich äußerst unterschiedliche Formen haben können. Entscheidend für die Fähigkeit der T-Zellen, die Antigene zu erkennen, ist die sog. komplementaritätsbestimmende Region (CDR), welche aus einer kurzen Sequenz der Aminosäuren besteht, die sich in der sog. variablen Domäne des Rezeptors befindet. (Jede Polypeptidkette des Antigenrezeptors besitzt drei solche Regionen, die entsprechend CDR1, CDR2 und CDR3 genannt werden.) Abb. 9: CDR. (Quelle: Wikipedia) Leider macht dieses Bild nicht besonders verständlich, wie der Erkennungsprozess des Antigens erfolgt. Glücklicherweise veröffentlichte unlängst Nature einen Artikel, der Abbildungen beinhaltet, welche in einer äußerst genauen Auflösung darzustellen vermögen, wie eine NKT-Zelle ein Fettmolekül „ erkennt “ (Borg et al. 2007). 405 Die nachfolgende röntgenstrukturanalytische Rekonstruktion soll diesen Prozess veranschaulichen: Unten auf dem Bild sind (in Grün) die Konformationen des antigenpräsentierenden Moleküls (CD1 d) abgebildet, das Antigen selbst ( α -GalCer) ist (in Magenta) in der Mitte dieses Moleküls abgebildet, und im oberen Teil des Bildes befinden sich (in Gelb und Blau) die Konformationen des T-Zell-Rezeptors einer NTK-Zelle ( „ natural killer T cell “ ): 405 NKT-Zellen erkennen die Antigene, für die sie „ zuständig “ sind, ein wenig anders als die anderen Typen der T-Zellen: Sie benötigen dazu die Leistung der antigenpräsentierenden Moleküle anstelle des für die sonstigen T-Zellen typischen Peptid-MHC- Komplexes (Haupthistokompatibilitätskomplex, Abk. MHC, von engl. Major Histocompatibility Complex). Dieser Unterschied ist jedoch aus Sicht meiner Argumentation bedeutungslos. Entscheidend ist, dass auch diese Zellen den typischen T-Zellen- Rezeptor (TCR) auf ihrer Oberfläche haben. 4 f Einige empirische Probleme im Detail 587 Abb. 10: NKT-Zelle und Lipid, in: Borg et al. 2007, S. 45. (Abgedruckt mit Genehmigung von Macmillan Publishers Ltd: Nature) Wenn man das obige Bild genauer analysiert, stellt man fest, dass die „ erkennenden “ Abschnitte der Moleküle nicht einmal die „ zu erkennenden “ Moleküle berühren. Das ist merkwürdig, denn da die Proteine keine Augen haben, sollten sie, wenn überhaupt, durch eine Art Tasten erkennen. Dies impliziert auch die Schloss-und-Schlüssel-Metapher, die im Übrigen mehrmals von den Autoren des genannten Artikels verwendet wird (Borg et al. ebd., S. 44, 47). 406 Aber hat sich die Realität der zellulären Prozesse nicht als viel komplexer, viel rätselhafter offenbart? Wenn das Antigen nicht säuberlich in ein „ Schloss “ hineinpasst, wie kann es in der ziemlich vollgestopften Umgebung unseres Blutsystems durch die T-Zelle erkannt werden, zumal in einer Umgebung, deren „ Bewohner “ sich in unaufhörlicher Bewegung befinden? 406 Man muss übrigens bedenken, dass die Entfernungen zwischen den Atomen der interagierenden Substanzen wesentlich größer erscheinen, wenn man die Auflösung der obigen Bilder bzw. Rekonstruktionen so verfeinern würde, dass man auf die Ebene der einzelnen Atome gelangt. 588 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Die Größe des Problems, das T-Zellen zu bewältigen haben, die die passenden Antigene im Blutstrom erkennen sollen, kann man mit der Aufgabe vergleichen, die jemand zu lösen hat, der seinen Freund (bzw. seinen Feind) mit verbundenen Augen in einer Menschenmenge finden will, die nach einem Fußballspiel aus dem Stadion herausströmt, um sich dann zu ihm hindurchzudrängen und ihn zu umarmen. Dem lässt sich entgegenhalten, dass die T- Zellen nicht genötigt sind, das Antigen zu suchen, wenn es ihnen von den sog. antigenpräsentierenden Zellen (insbesondere den sog. dendritischen Zellen) geliefert wird. Dieser Ausweg ist jedoch keine Lösung, sondern eine Verschiebung und Steigerung des Problems. Denn einerseits müssen die antigenpräsentierenden Zellen ihrerseits das Antigen finden und erkennen und andererseits müssen sie die T-Zellen finden, denen sie es präsentieren sollen. Es muss ferner ein erfolgreicher Austausch zwischen den beiden Zellarten stattfinden, was im Wirrwarr des Organismus und in Anbetracht der Komplexität der beiden Arten von Zellen keine Selbstverständlichkeit ist. Darüber hinaus muss bedacht werden, dass die Zellen des adaptiven Immunsystems nicht über die feste Vorprägung bzw. Strukturierung des angeborenen Immunsystems für die Erkennung der „ feindlichen “ Antigene verfügen. Sie müssen zunächst lernen, den „ Feind “ (fremde Antigene) von dem „ Freund “ (Hostantigene) zu unterscheiden. Dies ist aber bei genauerem Hinschauen eine schier unmögliche Aufgabe. Denn die antigenpräsentierenden Zellen müssen demnach die Fähigkeit besitzen, die Millionen verschiedenförmiger fremder Antigene von ebenfalls Millionen verschiedenförmigen Hostantigenen zu unterscheiden. Dies setzt wiederum nicht nur ein sehr flexibles Erkennungssystem, sondern auch eine Art Gedächtnis voraus, welches es ihnen ermöglicht, beim „ Betasten “ eines spezifischen Moleküls mit großer Sicherheit die folgenden „ Entscheidungen “ zu treffen: 1) Dies habe ich bereits „ betastet “ , dies ist mein. 2) Dies habe ich bereits „ betastet “ , dies ist fremd, also muss es bekämpft werden, also muss ich mit ihm zu einer T-Zelle gehen. 3) Dies habe ich noch nicht „ betastet “ . Es sieht so und so aus, also . . . 3 a). . . ist es eines von meinen und kann in Ruhe gelassen werden; 3 b). . . ist es fremd, also muss ich es zu einer T-Zelle tragen. Es fragt sich, wo in den entsprechenden Zellen die Speicherkapazität und die Verarbeitungsmechanismen vorhanden sind, die es diesen Zellen ermöglichen könnten, diese Entscheidungen zu treffen. Haben wir es hier nicht wiederum mit der bereits bei der angeblichen enzymatischen Funktion der Proteine angetroffenen Schwierigkeit zu tun, dass die den Proteinen bzw. Proteinen und den Zellen, in denen sie vorkommen, zugeschriebenen Eigenschaften die Leistungsfähigkeit der angegebenen mechanistischen Erklärung bei weitem übersteigt? Muss man nicht wiederum vermuten, dass die entscheidenden Schritte des beobachteten Prozesses, die ihn erst wirklich verständlich machen würden, in den bisherigen Erklärungen außer Acht gelassen wurden? 4 f Einige empirische Probleme im Detail 589 Proteine als Kontrollmechanismen Den Proteinen werden in der Tat Fähigkeiten zugeschrieben, deren Komplexität sowohl ihre enzymatischen wie auch ihre „ erkennenden “ Funktionen bei weitem übertreffen, z. B. die Überwachung und Kontrolle der Abläufe der Lebensprozesse in der Zelle. So wurde in einem unlängst erschienenen Artikel behauptet, dass Transitions between all cell-cycle phases are controlled by the activation and deactivation of a series of cyclin-dependent kinases (CDKs), which control the phosphorylation of other proteins. (Botchan 2007, S. 272f.) Man stelle sich nur genau vor, was eine solche Kontrolle im konkreten Fall voraussetzen würde. Nehmen wir an, wir wollen den Übergang von der S- Phase zur G 2 -Phase des Zellzyklus initiieren, also von der Phase, in welcher das genetische Material verdoppelt wird und die Chromatiden gebildet werden, zu der postsynthetischen Wachstumsphase. Die Replikation der Metazoon-(Vielzeller-)DNS ist ein äußerst komplexer Prozess, der mehrere Zwischenstufen beinhaltet (u. a. einen komplexen Mechanismus der Durchtrennung des Doppel-DNS-Stranges und dann die Synthetisierung der komplementären Stränge). Es ist heute bekannt, dass dieser Prozess nicht zwingend in der Reihenfolge der Stränge stattfindet; dass das gesamte Genom in mehrere Tausend individueller Replikationseinheiten ( „ replicons “ ) geteilt wird, von denen lediglich 10 - 15 % gleichzeitig zu jedem Zeitpunkt der S-Phase aktiv sind; dass die Replikation ausschließlich in spezifischen Regionen des Zellkernes, den sog. „ Replikationsfabriken “ , stattfindet, in welchen sich gleichzeitig mehrere aktive Replikons befinden; dass sich nach dem Abschluss der Replikation der bestimmten Replikons die „ Replikationsfabriken “ abbauen und in ihrer Nachbarschaft neue aufgebaut werden. Der gesamte Prozess nimmt mehrere Stunden in Anspruch (Chakalova et al. 2005, S. 670). Wenn man alle diese Einzelheiten in Betracht zieht, muss die Frage aufkommen, wie die Zelle oder irgendein Element der Zelle wissen kann, dass der Replikationsprozess tatsächlich erfolgreich abgeschlossen wurde. Man stelle sich eine Autofabrik vor, in der an verschiedenen Orten verschiedene Autoteile hergestellt oder von außerhalb der Fabrik angeliefert und dann in verschiedenen Phasen zu verschiedenen Zeiten zusammengefügt werden, um ein fahrtüchtiges Auto herzustellen. Wie kann man wissen, ob die Herstellung des Autos erfolgreich abgeschlossen wurde? Eine Methode wäre, zuverlässige Qualitätskontrolleure an unterschiedlichen Schlüsselpunkten der Montage zu postieren, die einem Hauptkontrolleur eine Meldung erstatten, wenn ihr Teil der Montage erfolgreich abgeschlossen ist. Nach dem Erhalt einer solchen Information würde der Hauptkontrolleur die Weisung erteilen, mit der weiteren Montage fortzufahren. Das Problem bei der Übertragung dieses Systems der Qualitätskontrolle auf die zellulären Prozesse der DNS-Replikation ist, dass nichts von irgendeinem zentralen Kontrolleur in der Zelle bekannt ist. Man könnte jedoch das System dezen- 590 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft tralisieren und die lokalen Kontrolleure mit der Vollmacht ausstatten, den Montageprozess anzuhalten, sobald sie irgendeine Unregelmäßigkeit auf ihrer Stufe entdecken. Unter diesen Bedingungen würde die Montage nur dann zum Abschluss kommen, wenn jeder Montageschritt erfolgreich abgeschlossen wäre. Wenn ich richtig informiert bin, ist dieses Qualitätskontrollsystem tatsächlich in manchen modernen Autofabriken im Einsatz. Interessanterweise wird postuliert, dass ein ähnliches Kontrollsystem das Geschehen in der Zelle überwacht. Man spricht von sog. Kontrollpunkten (engl.: „ checkpoints “ ), die dafür sorgen sollen, dass bestimmte Schritte einer Zellphase erfolgreich abgeschlossen sind, bevor die Zelle zur nächsten übergeht. So blockiert z. B. der Spindel-Kontrollpunkt das weitere Geschehen, wenn festgestellt wird, dass ein Chromosom sich irrtümlicherweise vom Spindelapparat abgetrennt hat, und der DNS-Beschädigungskontrollpunkt blockiert den Eintritt in die Mitose, wenn ein beschädigtes Chromosom erkannt wurde (vgl. Weinert 2007, S. 1374f.). Wie könnte dieses dezentrale Modell konkret im Falle der DNS-Replikation funktionieren? Es ist offensichtlich, dass die Probleme, welche sich bei der Verwirklichung dieses Modells im Fall der Qualitätskontrolle des gesamten Replikationsprozesses ergeben, gewaltig sind. 407 Und zwar schon das einfachste von ihnen: die Qualitätskontrolle der Synthese des leitenden Stranges der DNS (dieses Problem scheint das einfachste zu sein, weil der komplementäre Strang fortlaufend synthetisiert werden kann). Denn wer oder was kann bestimmen, ob der neu synthetisierte Abschnitt des komplementären Stranges vollständig der Matrix entspricht? Bei der Synthese des lagging strang steigern sich die Schwierigkeiten für einen potentiellen Qualitätskontrolleur dann erheblich. Denn er muss nicht nur feststellen, ob die synthetisierten Abschnitte der DNS - die sog. Okazaki-Fragmente (Bell 2006, S. 542f.) - in ihrer Basensequenz dem Original entsprechen, sondern auch, ob diese Fragmente richtig „ zusammengenäht “ wurden. Aber dies ist noch nicht alles. Wie oben vermerkt, werden die kurzen Abschnitte der neuen DNS in räumlich verstreuten Replikationsfabriken hergestellt. Die Lokalkontrolleure müssen dann die Fähigkeit haben zu entscheiden, ob alle nötigen Abschnitte geliefert wurden, dass kein Abschnitt unnötigerweise dupliziert (oder sonst vervielfacht) wurde und ob alle Abschnitte korrekt miteinander verbunden wurden. Wie könnten die CDKs oder irgendein anderes Protein oder sogar eine Gruppe von Proteinen diese Aufgabe ausschließlich vermöge ihrer dreidimensionalen Struktur bewältigen? Damit sind wir aber immer noch nicht am Ende der Schwierigkeiten angelangt. Angenommen, die Zelle erhält davon Kenntnis, dass die Synthese der neuen DNS-Stränge erfolgreich abgeschlossen wurde. Der Übergang von der S-Phase zu der G 2 Phase ist somit möglich und sogar notwendig. Was konkret beinhaltet ein solcher Übergang? Die 407 Einige Forscher behaupten, dass die Zelle keine „ Kenntnis “ vom Abschluss der Replikation hat (vgl. z. B. Torres-Rossell et al. 2007). 4 f Einige empirische Probleme im Detail 591 Mindestvoraussetzung wäre wohl, dass die Zelle Weisung erteilt, die Replikationsmechanismen einzustellen, und einer völlig anderen „ Abteilung “ die Weisung erteilt, mit ihrer Arbeit, dem Aufbau und der Vergrößerung der Zelle, zu beginnen. Wer sagt wem, dass dies zu machen ist? Fragen über Fragen. 2003 ist ein umfangreicher, auf 175 Studien basierender Review-Artikel erschienen, der versucht, Licht in den verhältnismäßig einfachen Mechanismus hinter dem Spindelapparat-Aufbau und dem Spindelpositionierungs-Kontrollpunkt zu bringen (Lew und Burke 2003). Wenden wir uns diesem Artikel zu, in der Hoffnung, dass er den Weg weist, wie man die oben genannte schwierigere Aufgabe (S-G 2 -Übergangs-Kontrollpunkt) lösen kann. Der erste der von Lew und Burke behandelten Kontrollpunkte blockiert den Eintritt der Zelle in die Anaphase der Mitose, wenn der Spindelapparat inkorrekt aufgebaut wurde, was zur falschen Sortierung der Schwesterchromatiden in die Tochterzellen führen würde. Der zweite verhindert den Abschluss der Mitose, wenn der Spindelapparat inkorrekt (z. B. mit den beiden Polen am Mutter-Ende der Zelle) positioniert wurde, was wiederum zur falschen Sortierung der Schwesterchromatiden führen würde. Da die geschilderten Abfolgen recht komplex sind, ist es im Rahmen dieses Beitrages lediglich möglich, die vorgeschlagenen Mechanismen der Funktionsweise des Spindelaufbau-Kontrollpunktes zu diskutieren. Die Autoren des Artikels stellen die regulierende Rolle dieses Kontrollpunktes wie folgt dar: Accurate chromosome segregation requires bipolar attachment of sister chromatids to the mitotic spindle, mediated by connections between kinetochores and spindle microtubules. Kinetochore capture and biorientation are stochastic processes that take a variable amount of time to complete, and during that time individual chromosomes may be detached from the spindle or attached to only one spindle pole. The spindle assembly checkpoint is an elegant regulatory system that delays the onset of anaphase until each and every chromosome has established a bipolar orientation. (Ebd., S. 252) Das Bedürfnis nach „ Qualitätskontrolle “ beim Aufbau des Spindelapparats ist einleuchtend. Wie kann aber diese Kontrolle gewährleistet werden? Nach Lew und Burke werden grundsätzlich zwei Möglichkeiten in Betracht gezogen, wie die Zelle „ wissen “ kann, dass er erfolgreich war: Die eine besteht in der Messung der Spannung, die innerhalb des Kinetochors entsteht, wenn Mikrotubuli daran (von beiden Seiten) ansetzen; die andere in der direkten Prüfung, ob ein bestimmter Mikrotubulus am Kinetochor angedockt hat oder nicht. Die Autoren zitieren eine Reihe von Studien, deren Resultate für die eine oder die andere Hypothese sprechen (z. B. künstliche Erzeugung von Spannung an einem Kinetochor, das mit keinem Mikrotubulus verbunden ist, mit der Folge, dass die Zelle in die Anaphase der S-Phase eintritt). Sie stellen jedoch fest, dass die Frage, welche dieser beiden Möglichkeiten in der Zelle tatsächlich realisiert wird, weiterhin offen ist (ebd., S. 261). Entscheidend im gegenwärtigen Kontext sind jedoch andere von ihnen beschrie- 592 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft bene Aspekte des Prozesses, der den Eintritt in die Anaphase verhindert. Lew und Burke stellen fest: The ultimate goal of the spindle assembly checkpoint is to prevent sister chromatid separation until all chromosomes achieve bipolar attachment to the mitotic spindle. Sister chromatids are held together by cohesin complexes, and sister chromatid separation involves cleavage of cohesins by a protease called separase. (Ebd., S. 259) Sie schreiben weiter, dass die Wirkung der Separase durch Securin gehemmt wird und dass der Eingang in die Anaphase durch die Degradierung des Securins initiiert wird, woran wiederum andere Proteine beteiligt sind. Schließlich stellen Lew und Burke fest, dass [t]o delay anaphase onset when there are unattached or relaxed kinetochores, the checkpoint blocks Cdc20 p-APC/ C-mediated securin degradation. (Ebd., S. 259) Diese Sicht des Prozesses wird laut den Autoren dadurch bestätigt, dass Mutationen, die Cdc20 p beeinflussen, Fehlfunktion des Kontrollpunktes zur Folge haben. An der Darstellung fällt auf, dass weder ein Mechanismus für die Messung der Spannung des Kinetochors bzw. die Feststellung, ob die Mikrotubuli besetzt oder nicht besetzt sind, noch ein Mechanismus für die Übertragung dieser Information an die Proteine beschrieben wird, welche die Degradierung des Securins bewirken bzw. hemmen könnten. Es werden auch keine Mechanismen aufgezeigt, die es ermöglichen festzustellen, dass die Situation an allen Chromosomen „ geprüft “ wurde. (Wir erinnern uns, dass es zu Beginn hieß, dass der Kontrollmechanismus für den Spindelapparat- Aufbau dafür sorgt, dass die Anaphase erst beginnen kann, wenn „ jedes und alle Chromosomen die bipolare Orientierung angenommen haben “ , [ebd., S. 252]). Ohne diese Informationen kann der Kontrollmechanismus aber offensichtlich nicht funktionieren. Allerdings ist es äußerst schwierig, sich solche Mechanismen vorzustellen, und insbesondere, dass irgendwelche Proteine allein kraft ihrer dreidimensionalen Struktur solche Aufgaben erfüllen können. Interessanterweise werden diese Fragen nicht einmal erwähnt, obwohl die Autoren im Abschnitt „ Summary and Open Questions “ (ebd., S. 260f.) eine Anzahl von offenen Problemen diskutieren. Was allerdings zur Sprache kommt, ist der verblüffende Umstand, dass, obschon in vitro die Blockade des Zellzyklus durch unterschiedliche Proteinkomplexe bewirkt wird, eine solche Blockade in vivo die Zusammenarbeit aller Komponenten des Kontrollmechanismus erfordert (ebd., S. 261), was wiederum auf eine Integration der verstreuten Informationen irgendwo in der Zelle (oder außerhalb von ihr? ) schließen lässt. Wie eine solche Integration zustande kommen könnte, wird allerdings nicht diskutiert. Man erhält jedoch eine Vorstellung von der Komplexität des Geschehens, wenn man bedenkt, dass 13 verschiedene Gene für die Synthese der an diesem Prozess beteiligten Proteine sorgen (ebd., S. 254) und allein das Kinetochor der Hefe aus der 4 f Einige empirische Probleme im Detail 593 Zentromer-DNS und mindestens fünfundreißig (sic! ) verschiedenen Proteinen besteht (ebd., S. 257), von den an den unterschiedlichen Kontrollpunkt- Proteinkomplexen beteiligten Proteinen ganz zu schweigen. Resümierend lässt sich festhalten, dass wir hier nochmals das bereits bekannte Muster vor uns haben: Was beobachtet wird, ist eine starke Korrelation zwischen der Anwesenheit bestimmter Proteine und dem Vollzug eines besonderen Lebensprozesses der Zelle, in dem diskutierten Fall der Verhinderung des Eintritts in die Anaphase. Diese Korrelation wird dann unberechtigterweise als eine Kausalrelation interpretiert: Es wird unterstellt, dass die beobachteten Proteine die alleinigen Akteure des Geschehens sind, dass sie - quasi im Alleingang - die Blockade des Überganges in die Anaphase bewirken. Ähnliche Bedenken ergeben sich bei der Lektüre der Beschreibung der Mechanismen hinter dem Spindelapparatpositionierungs-Kontrollpunkt (ebd., S. 262 - 269). Die Zuschreibung der kausalen Rolle bei der Steuerung und Überwachung der komplexen Abläufe im Zellinnern an die Proteine muss als ein weiteres Beispiel eines anthropomorphischen oder animistischen Denkens zurückgewiesen werden. Der Schluss, dass die Proteine die fraglichen Phänomene im Zellinnern verursachen, ist aus philosophischer Sicht ein Fehlschluss von der bloßen Korrelation zwischen zwei Gegebenheiten auf ein Ursacheverhältnis zwischen ihnen. Demnach ist das zeitlich frühere Phänomen die Ursache des späteren. Unter den großen Philosophen hat einzig David Hume den Begriff der Ursache mit dem der Korrelation identifiziert, wie es im Fall der Proteine implizite geschieht. Seither hat sich (eigentlich bereits mit Immanuel Kant) die Philosophie eindeutig von dieser Auffassung distanziert (vgl. Sosa und Tooley 1993 a). Es ist einfach einzusehen, dass eine bloße Korrelation, selbst wenn sie perfekt ist, nicht als ein kausales Verhältnis verstanden wird. Die Tatsache, dass man gewisse funktionale Abläufe in der Zelle und zu gleicher Zeit die Anwesenheit bestimmter Proteine beobachtet, berechtigt nicht zu dem Schluss, dass die Proteine diese Abläufe verursachen. Es ist logisch nicht auszuschließen, dass es z. B. entweder die Funktion selbst ist, welche die Anwesenheit der Proteine nach sich zieht, oder zumindest dass die beiden beobachteten Phänomene (bestimmte Proteine und bestimmte Funktion an einem bestimmten Ort der Zelle zu einer bestimmten Zeit) nach dem Muster der zwei Zeiger einer Uhr durch tiefere Ursachen, die nicht zum Vorschein gekommen sind, hervorgebracht werden. Wir haben es also im Falle der Zuschreibung der kausalen Rolle bei der Steuerung der Lebensprozesse der Zelle an die Proteine abermals mit dem Phänomen zu tun, dass sich (anthropomorphische) Vorstellungen in Bezug auf die Frage, wie bestimmte Prozesse ablaufen, in das tatsächlich Beobachtete einmischen und das Urteil trüben. 594 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft Gegenargument aus dem Erfolg Man kann durchaus in Frage stellen, ob wir wirklich wesentliche Ergänzungen des gängigen Verständnisses des Proteinfaltens und der Proteinfunktion brauchen. Denn es gibt, so scheint es, robuste Argumente für die These, dass wir eigentlich diesbezüglich auf dem absolut richtigen Weg seien, wenn auch zugegebenermaßen hier und dort wichtige Einzelheiten immer noch fehlen. Das Problem ist, dass bekanntlich „ der Teufel im Detail steckt “ und die unerwartete Entdeckung z. B. einer kaum messbaren, aber theoretisch betrachtet doch zu großen Geschwindigkeit der Ausdehnung des Universums unser Weltbild um 75 % verschieben kann (der vermutete Anteil der sog. dunklen Energie an der Gesamtenergie des Universums). Die Argumente, die die heutige Molekularbiologie für die Reduktion der zellulären Prozesse auf die Leistungen solcher Akteure wie die Proteine vorbringt, basieren vornehmlich auf den Erfolgen der zahlreichen Arten der Manipulation des subzellulären Materials bzw. der subzellulären Strukturen. Ihr Motto lautet: Die erfolgreiche Manipulation zeigt, dass unser Verständnis des Manipulierten richtig ist. Ich habe mich im vorigen Exkurs mit zwei Arten solcher Manipulation auseinandergesetzt: erstens mit der sog. RNA-Interferenz-Methode, von welcher behauptet wird, dass sie es ermöglicht, die kausale Rolle, welche genau identifizierbare Gene (und somit auch genau identifizierbare Proteine) bei der Entstehung bestimmter Eigenschaften des Organismus spielen, zu bestimmen; und zweitens mit der Gentechnik allgemein, deren unbestrittene Erfolge zu beweisen scheinen, dass die manipulierten Gene die notwendige und hinreichende Bedingung des durch die Manipulation erzeugten Effektes, also seine Ursache sind. Ich habe gezeigt, dass beide Schlüsse (von der erfolgreichen Manipulation auf die Rolle der manipulierten Elemente) unberechtigt sind. Der erste, weil er eine bloß notwendige Bedingung mit der Ursache verwechselt, der zweite, weil er auf der vorschnellen Unterstellung beruht, dass, weil die Manipulation von Abschnitten der DNS die gewünschten/ erwarteten Effekte erzeugt, die manipulierten Abschnitte hinreichend für deren Erzeugung seien. Zu diesen Überlegungen möchte ich hier eine dritte hinzufügen, welche die Behauptung entkräften soll, dass eine erfolgreiche Manipulation der Wirklichkeit ein entsprechendes Verständnis der manipulierten Phänomene bezeugt. Erfolg ist nicht mit Einsicht identisch Wir haben bereits gesehen, dass praktischer Erfolg, sei es beim Eierkochen 408 oder beim Computergebrauch, nicht zwingend eine wahre Einsicht in die 408 Es gibt Wissenschaftstheoretiker, die einigermaßen frech behaupten, dass die ganze Wissenschaft und aus ihr ausgewachsene Technologie nichts anderes als eine raffinierte Form der Kochkunst ist: „ Wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung unterscheidet sich [. . .] nicht prinzipiell davon, wie man im Alltagsleben Wissen erwirbt. Folgert man aus der Beobachtung, dass das morgendliche Frühstücksei immer dann hart wird, wenn 4 f Einige empirische Probleme im Detail 595 tieferen Mechanismen des Erfolgs impliziert. Oft gehen Machbarkeit und Verständnis getrennte Wege. Man kann sich aber die Frage stellen, wie man praktischen Erfolg erzielen kann, ohne eine tiefere Einsicht in die Natur der Sache haben zu müssen. Ein Bild kann die Verhältnisse vielleicht beleuchten. Stellen wir uns vor, man hätte im antiken Athen einen Laptop gefunden. Nach einer gewissen Zeit, während der die Athener ziemlich wild am Gerät herummanipulieren, entdecken sie, was man unternehmen muss, um auf dem Gerät zu schreiben. Nachdem sie diesen Erfolg gebührend gefeiert haben, werden sie vielleicht versuchen, eine Theorie auszuarbeiten, die das Funktionieren des Geräts erklärt. Dazu würden sie sicherlich auf göttliche Kräfte zurückgreifen, da sie das Gerät nicht auseinandernehmen wollen, und selbst wenn sie es täten, könnten sie sich keine adäquate Vorstellung von der Bedeutung der sich im Innern des Computers befindenden Elemente bilden. Wenn man sich vergegenwärtigt, was Rudolf Steiner über das Verhältnis zwischen dem menschlichen Haupt mit seinem Bewusstsein und dem übrigen menschlichen Körper sagt, so wird man leicht einsehen, dass die modernen Forscher in der Konfrontation mit dem Geheimnis des menschlichen (oder auch tierischen, sogar pflanzlichen) Organismus eigentlich in ähnlich aussichtsloser Lage sind wie die alten Griechen bei der Konfrontation mit einem Laptop: Sie sehen sich den Erzeugnissen einer Intelligenz gegenüber, die die ihrige um mehrere Stufen übersteigt. Es ist nicht verwunderlich, dass sie in dieser Lage das Unverständliche durch die Begriffe zu verstehen versuchen, die dem ihnen Vertrauten entnommen sind: Sie versuchen den Organismus als eine komplexe Maschine, einen komplexen Computer zu verstehen. Maschinen verstehen wir gut, deshalb meinen wir, dass alles nach dem Muster einer Maschine funktioniert. Dabei können wir so weit von der Wirklichkeit entfernt sein, wie die alten Griechen es gewesen sind, wenn sie die Wirkung einer Maschine mittels göttlicher Kräfte zu erklären versuchen. Fazit Das heute allgemein akzeptierte Standardmodell der Funktion der Proteine als der Hauptakteure des zellulären Geschehens leidet bei genauer Analyse unter drei entscheidenden Schwächen. Erstens wissen wir nicht, warum die Proteine eine tertiäre Form annehmen. Wir können diese Form zwar auf der Grundlage der chemischen Zusammensetzung des Proteins (Aminosäureman es zehn Minuten lang kocht, dass alle Eier nach einem zehnminütigen Kochvorgang hart sind, so hat man sein Wissen auf die gleiche Art und Weise (nämlich durch Verallgemeinerung) erweitert wie der Wissenschaftler, der mehrmals nach Zugabe einer Substanz zu einer anderen die gleiche chemische Reaktion beobachtet und daraus ableitet, dass diese Reaktion immer stattfindet. Im Gegensatz zum Alltagswissen zeichnet sich Wissenschaft jedoch durch einen höheren Abstraktionsgrad, ein systematisches Vorgehen und vor allem die kritische Überprüfung der gewonnenen Erkenntnisse aus “ (Gehring und Weins 2002, S. 1). 596 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream-Naturwissenschaft sequenz) mehr oder weniger korrekt voraussagen bzw. vorausberechnen, wir verstehen aber nicht, wie eine bestimmte Tertiärstruktur aus einer bestimmten Aminosäurensequenz hervorgeht ( „ [W]e are still missing a ‘ folding mechanism ’“ [Dill und MacCallum 2012, S. 1043]). Diese Wissenslücke deutet darauf hin, dass im verblüffend schnellen Faltungsprozess der Proteine Kräfte und Einflüsse wirksam sind, die durch unsere Forschungsmethoden bis jetzt nicht erfasst wurden. Zweitens haben wir bis jetzt die Proteine als grundsätzlich statische, unveränderbare Gebilde betrachtet. Es wird aber zunehmend klar, dass dieses statische Bild eine Illusion ist, weil sich Proteine im lebendigen Organismus in einer ständigen Bewegung befinden und sich ihre dreidimensionale Form permanent, wenn auch eingeschränkt verändern. Das bedeutet, dass „ to understand proteins in action, the fourth dimension, time, must be added to the snapshots of proteins frozen in crystal forms “ . Schließlich entpuppt sich drittens die Annahme, die Proteine erfüllen die ihnen zugeschriebenen Funktionen allein aufgrund ihrer tertiären Struktur, als eine anthropomorphische Projektion. Der logische Fehler, der zu dieser Annahme führt, ist der Fehlschluss von der Korrelation auf Ursächlichkeit. Man beobachtet, dass bei gewissen Prozessen in den Zellen Proteine anwesend sind, und weil man keine anderen Akteure erkennt, schreibt man den Proteinen eine ursächliche Wirkung bei den beobachteten Prozessen zu. Der Schritt von der beobachteten Korrelation der Anwesenheit der Proteine mit gewissen beobachteten Auswirkungen zur unterstellten Ursächlichkeit dieser Moleküle für die beobachteten Veränderungen ist zwar verständlich, ja fast verführerisch, aber aus logischer und methodologischer Sicht dennoch unberechtigt. Zur Erinnerung: Betrachtet man das Anzünden eines Streichhölzchens, so ist es sehr leicht, die Rolle des Sauerstoffs zu übersehen, weil der Sauerstoff für unsere Sinnesorgane nicht wahrnehmbar ist. Die Einsicht in die grundsätzliche Unzulänglichkeit des gängigen Erklärungsparadigmas der Funktionsweisen der Proteine dürfte weitgehende Folgen für das Verständnis aller organischen Prozesse haben. Sie stellt z. B. radikal die Adäquatheit der für die gegenwärtige Interpretation der Morphogenese und der Evolution der Lebewesen, insbesondere des Menschen, so zentrale Annahme in Frage, dass die in der DNS enthaltene Information, welche die Grundlage der Synthese der organismuseigenen Proteine bietet, für die Steuerung der Prozesse der Morphogenese und der Funktionen des Organismus ausreicht. Dabei ist es die moderne materialistische Wissenschaft selbst, die uns, indem sie mit ihren imposanten Forschungsmethoden und vor allem -instrumenten das Wunder der subzellulären Wirklichkeit offenbart, an den Punkt führt, an dem die Wirksamkeiten der Kräfte und Wesen, die mittels ihrer Methoden nicht zur Sichtbarkeit gebracht werden können, gleichsam mit Händen greifbar sind. Das Erforschte und Beobachtete wirft Fragen auf, auf die die Antworten unbefriedigend und unzureichend sind, Fragen, die innerhalb des gängigen Paradigmas nicht beantwortbar sind. 4 f Einige empirische Probleme im Detail 597 5 Was ist Wissenschaft? Die Debatte um die Abgrenzung Wissenschaft/ Pseudowissenschaft Wir haben im vorigen Kapitel feststellen müssen, dass wir eigentlich nicht wissen, was Wissen ist. Zumindest eines sollten wir aber wissen, und zwar, was Wissenschaft ist. Schließlich handelt dieses Buch von der Frage nach der Wissenschaftlichkeit bzw. dem Mangel derselben im Falle der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners. Wenn man aber den Begriff „ Wissenschaftlichkeit “ in den Mund nimmt, so hat man vermutlich jene Eigenschaften im Sinn, die typischerweise einer Wissenschaft zukommen. Folglich scheint es zwingend anzunehmen, dass man eine Wissenschaft von einer Nichtwissenschaft unterscheiden kann. Denn wir fänden es schwierig, die Eigenschaften eines Autos zu definieren, wenn wir ein solches Gefährt nicht „ klar und deutlich “ von einem Fahrrad, Motorrad, Flugzeug usw. unterscheiden könnten. Was ein Auto ist, wissen wir alle genau (oder zumindest meinen wir es zu wissen). Wie steht es aber mit unserem Verständnis dessen, was eine Wissenschaft ausmacht? Die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners als eine Pseudowissenschaft Das Hauptthema des vorliegenden Werkes ist die Frage, ob der Geisteswissenschaft bzw. Anthroposophie Rudolf Steiners der Status der Wissenschaftlichkeit zugeschrieben werden darf oder nicht. Ich habe bereits am Anfang dieses Werkes darauf hingewiesen, dass ihr der Status der Wissenschaft in den wissenschaftlichen und akademischen Kreisen gewöhnlich abgesprochen wird. So reiht Zander Anthroposophie in die Riege der Pseudowissenschaften des Anfangs des 20. Jahrhunderts ein, Ullrich betrachtet sie als die Rückkehr zum vorwissenschaftlichen Denken des Mythos, Mahner relegiert sie kommentar- und diskussionslos zu den sog. Parawissenschaften, also Bestrebungen (wie Esoterik, Okkultismus, New Age usw.), die nicht einmal als Pseudowissenschaften klassifiziert werden können, die in seinen Worten „ [are] outright antiscientific: they reject the scientific approach to knowledge in favor of various ‚ alternative ways of knowing ‘“ (Mahner 2007, 547 f). Der deutsche Wissenschaftsrat schreibt in seinem negativen Entscheid bezüglich der Anerkennung der anthroposophischen pädagogischen Ausbildungsstätte in Mannheim (Fachhochschule Mannheim, FHM) als Hochschule: Die FHM erreicht [aber] auf einer grundsätzlichen Ebene nicht die für eine Hochschule erforderliche Wissenschaftlichkeit: Nach Auffassung des Wissenschaftsrates ist im Leitbild und wissenschaftlichen Konzept der FHM das Verhältnis sowohl zu einer anthroposophisch orientierten Waldorfpädagogik als auch zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft nicht ausreichend geklärt. Dies betrifft die Vielfalt methodischer Ansätze und den Anspruch, den in den Erziehungswissenschaften üblichen Standards gerecht zu werden. Ohne eine solche Klärung besteht jedoch die Gefahr, eine spezifische, weltanschaulich geprägte Pädagogik im Sinne einer außerwissenschaftlichen Erziehungslehre zur Grundlage einer Hochschuleinrichtung zu machen. (Wissenschaftsrat 2011, S. 9) Der Wissenschaftsrat erachtet somit die anthroposophischen Pädagogik eine „ außerwissenschaftliche Lehre “ . Dieses Urteil wird kommentarlos und diskussionslos gefällt. Wir haben bereits gesehen, dass nach dem Zusammenbruch des logischen Positivismus die Vorstellungen in Bezug auf den Charakter und die Eigenschaften der „ wahren “ , „ wirklichen “ Wissenschaft im Gegensatz zur Pseudowissenschaft oder zur Kunst unsicher wurden und dass sich in der Folge sogar neue Formen der Wissenschaft entwickelten. In Anbetracht der theoretischen Unsicherheit in Bezug auf die definierenden Merkmale der Wissenschaft, die nach dem Zerfall des postpositivistischen Programms in die wissenschaftstheoretische Diskussion Einzug gehalten hat, mögen die obigen dezidierten Urteile überraschen. Denn um die Frage des wissenschaftlichen Status der Anthroposophie klären zu können, scheint es von zentraler Bedeutung zu sein, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was heute unter dem Begriff der Wissenschaft verstanden wird, um in einem zweiten Schritt untersuchen zu können, ob die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners den festgestellten Kriterien genügt oder nicht. In der bisherigen akademischen Auseinandersetzung mit der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie fehlte eine solche grundlegende Reflexion fast vollständig. Helmut Zander: Geisteswissenschaft als eine „ alte “ , ergo Pseudowissenschaft Als ein Beispiel dieser Tendenz kann uns z. B. Helmut Zander dienen, der im Band Pseudowissenschaft der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft (Rupnow et al. 2008) über Anthroposophie im Beitrag Esoterische Wissenschaft um 1900. ‚ Pseudowissenschaft ‘ als Produkt ehemals ‚ hochkultureller ‘ Praxis schreibt. Er begnügt sich damit, die Unterscheidung zwischen „ alter “ und „ neuer “ Wissenschaft einzuführen, um dann Geisteswissenschaft Rudolf Steiners als eine „ alte “ und somit aus der heutigen Sicht als eine „ Pseudowissenschaft “ taxieren zu können. Nach ihm unterscheidet sich die „ neue “ von der „ alten “ Wissenschaft hauptsächlich in drei Aspekten: a. Wissen werde weniger durch Tradierung und deduktive Ableitung als durch thetische 409 , induktive Verfahren generiert. Das Experiment erhalte 409 Es ist mir schleierhaft, was Zander konkret unter diesem Adjektiv versteht. „ Thetisch “ heißt doch „ in der Art einer These, behauptend “ (Duden 1996, S. 1532), während die Wissenschaft nicht (apodiktische) Behauptungen, sondern vorläufige, überprüfbare Hypothesen aufstellt, also nicht thetisch, sondern im Gegenteil hypothetisch vorgeht (hypothetisch: „ auf einer Hypothese beruhend, fraglich, zweifelhaft (ebd., S. 748). 5 Was ist Wissenschaft? 599 dabei eine neue Funktion, indem es ergebnisoffen angelegt werde. Die Ergebnisse dieser Wissensfindung sollten nur temporalisiert werden. b. Wissen werde öffentlich verhandelt, der geschlossene Raum des Lehrer- Schüler-Verhältnisses durch das offene Diskursfeld der scientific community in Akademien und Universitäten ersetzt. c. Die Mechanisierung und Mathematisierung der Wissenschaften relativiere oder eliminiere andere Darstellungs- und Deutungsverfahren (etwa ästhetische Evidenzen 410 ). (Zander 2008, S. 85 f). Aus dieser Darstellung lässt sich ableiten, dass sich die „ neue “ Wissenschaft nach Zander primär auszeichnet durch 1) das induktive Verfahren und den Einsatz ergebnisoffener Experimente, wobei deren Ergebnisse nicht als ewig gültig verstanden werden; 2) ihren öffentlichen Charakter; 3) Mechanisierung und Mathematisierung ihrer Methoden. Selbst ein kursorischer Blick auf die heutige wissenschaftliche Landschaft verrät aber, dass nicht alle Wissenschaften diesen Kriterien (entweder einzeln, und noch weniger als Konjunktion verstanden) genügen. So kann man z. B. in der Astrophysik oder in der Archäologie kaum von Experimenten sprechen, die Letztere ist auch kaum der „ Mechanisierung und Mathematisierung “ unterworfen, genauso wenig wie z. B. die Verhaltensforschung innerhalb der Biologie, die Geschichtswissenschaft oder die Sprachwissenschaften. Erstaunlicherweise gibt Zander das zu, indem er feststellt, dass sich „ weite Wissensbereiche wie die Kulturwissenschaften den Postulaten der new science partiell oder ganz [entziehen] “ (ebd., S. 87, Hervorhebung im Original), was aber leider für ihn keinen Anlass darstellt, die Anwendbarkeit seiner Kriterien der Wissenschaftlichkeit kritisch zu überprüfen. Auffallend an Zanders Vorgehensweise ist, dass er sich bei seiner Charakterisierung der (angeblichen) Kerneigenschaften der Wissenschaft nicht auf die umfangreiche moderne wissenschaftstheoretische Diskussion dieses Themas bezieht, sondern lediglich auf drei Werke, die sich mit der Geschichte der Wissenschaft und spezifischer der wissenschaftlichen Revolution befassen 411 (Zander 2008, S. 85). Heiner Ullrich: Geisteswissenschaft als ein Rückkehr zum Mythos Ähnlich verfährt einige Jahre später Heiner Ullrich, der in seinem Rudolf Steiner. Leben und Lehre (Ullrich 2011) Steiners Geisteswissenschaft als „ Verwissenschaftlichung “ der theosophischen Lehre (ebd., S. 53), aber zugleich als eine Rückkehr zum mythischen Denken (ebd., S. 180 - 191) betrachtet und als „ vorwissenschaftlich “ (ebd., 185) bezeichnet. Er stellt thetisch 412 fest, dass zwischen der „ essentialen “ Wissenschaft Steiners und der Forschungspraxis 410 Zander macht in seinem Beitrag nicht klar, was unter diesem Begriff konkret zu verstehen ist. 411 Jayawerdene 1996; Cohen 1994; Lindberg 1990. 412 Diesmal im eigentlichen Sinne des Wortes. 600 5 Was ist Wissenschaft? sowie dem theoretischen Selbstverständnis der modernen Wissenschaft eine „ unüberbrückbare Kluft “ bestehe (ebd., S. 109). Denn: Die Wissenschaft ist spätestens seit dem neunzehnten Jahrhundert kein anschauliches, ganzheitliches Erfassen einer ewig ruhenden Ordnung mehr, sondern spezialisierte Forschung und als solche ein sich ständig weiter ausdifferenzierender und sich selbst revidierender Diskurs, der gegenstandsbezogen ist, ohne naiv gegenstandsgebunden zu sein, und der so die Möglichkeit eröffnet, die Welt zu verändern. Eine der Grundvoraussetzungen der modernen Wissenschaft ist die Vergleichgültigung der Wesensfrage; damit sind das Konzept der Einheitswissenschaft und die Möglichkeit eines abschließenden einheitlichen Weltbildes unwiderruflich dahin. Im Gegensatz zur bewussten methodischen Selbstbegrenzung, zur Pluralität und prinzipiellen Unabschließbarkeit moderner wissenschaftlicher Forschung wollen Rudolf Steiner und seine Schüler weiterhin die Welt als ein wohlgeordnetes Ganzes gleich einer ewig unwandelbaren Wahrheit erkennen. (Ebd., S. 109f.) An dieser Stelle interessiert uns nicht, inwiefern Ullrichs Behauptungen in Bezug auf den Charakter von Steiners Geisteswissenschaft zutreffend sind oder nicht - zu diesem Thema werden wir an einer späteren Stelle zurückkehren - , sondern lediglich, was er unter der „ modernen Wissenschaft “ versteht. Zentral scheinen für ihn die folgenden Merkmale zu sein: spezialisierte Forschung, die der Selbstrevision bzw. Selbstkorrektur fähig und darüber hinaus prinzipiell unabschließbar ist; eine Forschung, welche die Möglichkeit eröffnet, Welt zu verändern. Reicht dies als Definition der Wissenschaft? Wie bereits oben bei Zander reicht eine kurze Reflexion, um diese Frage mit nein zu beantworten. Denn diese Charakterisierung passt gerade so gut auf die Wissenschaft wie auf die Technik. Auch die moderne Technik ist offensichtlich eine hochspezialisierte, sich selbst revidierende, prinzipiell unabschließbare Forschung, welche die Möglichkeit eröffnet, die Welt zu verändern. Ullrichs Charakterisierung ist also offensichtlich zu weit gefasst: Wir sind uns schließlich im Klaren, dass Wissenschaft nicht identisch mit Technik ist, obschon manche, wenn auch nicht alle Zweige der Wissenschaft technischen Fortschritt zweifelsohne unterstützen (nicht dagegen z. B.: Archäologie, Astrophysik, Psychologie, Geschichtswissenschaft). Ullrich schreibt überdies, dass eine der Grundvoraussetzungen der modernen Wissenschaft „ die Vergleichgültigung der Wesensfrage “ sei. Nun, ich habe recht viele wissenschaftstheoretische Werke sowohl auf Deutsch wie auch auf Englisch gelesen und nirgends dieses Merkmal angetroffen. Bezeichnenderweise nimmt Ullrich an dieser Stelle keinerlei Bezug auf Literatur, was den Anschein erweckt, dass seine Behauptung aus der Luft gegriffen ist. Es ist aber auch nicht ersichtlich, was er mit der „ Vergleichgültigung der Wesensfrage “ genau meint. Wenn man diesen - eher ungewöhnlichen - Begriff als „ Nivellierung bzw. Abschaffung der Bedeutung der Wesensfrage “ versteht, so ist sofort klar, dass sich die moderne Wissenschaft nicht mit der Frage nach dem Wesen der Dinge bzw. der Welt im alten spekulativen philosophischen oder 5 Was ist Wissenschaft? 601 theologischen Sinne beschäftigt. Auf der anderen Seite wäre es sicher unberechtigt, der theoretischen oder Teilchenphysik z. B. das Streben nach der Ergründung des Wesens der Wirklichkeit abzusprechen. Man redet zwar nicht mehr von dem „ Wesen “ der Welt, sondern von deren „ Grundbausteinen “ , kommt das aber nicht auf dasselbe heraus? In Fortsetzung seiner Ausführungen kommt Ullrich - fast beiläufig - auch auf andere Merkmale der modernen Wissenschaft zu sprechen. So erwähnt er z. B. den „ Exaktheitsanspruch der neuzeitlichen Wissenschaft “ (ebd., S. 113). Aber auch dieses Merkmal ist offensichtlich nur auf einige wenige Wissenschaftsbereiche (Physik, Astrophysik, Chemie, Biologie), nicht jedoch z. B. auf Verhaltensforschung, Archäologie, und allgemein Geisteswissenschaften anwendbar. Auf S. 184 und 185 kehrt er zur Revidierbarkeit des wissenschaftlichen Wissens zurück: Für die neuzeitliche Konzeption der Natur-, Kultur- und Sozialwissenschaften ist indes die Ablehnung jedes absoluten Wahrheitsanspruchs konstitutiv, denn dieser fixiert eine einmal erreichte Erschlossenheit und verhindert das Weiterdenken und die Vermehrung des Wissens. Das Neue in den Wissenschaften und in der Philosophie der Moderne liegt gerade in der Freigabe des Denkens aus der Klammer absoluter metaphysischer Systeme. Die einzelne wissenschaftliche Erkenntnis ist Bestandteil eines fortschreitenden, sich spezialisierenden und prinzipiell unabschließbaren Forschungsprozesses. (Ebd., S. 184f.) Dies mag alles stimmen, aber - wie Ullrich selbst andeutet - die prinzipielle Offenheit der Wissenschaft erlaubt es nicht, sie von der Philosophie, der Politik oder der modernen Theologie zu trennen. Im Übrigen: Wenn Ullrich dieses Kriterium der Wissenschaftlichkeit auf seine Ausführungen über den Charakter von Steiners Geisteswissenschaft anwendet, dann wird er zugeben müssen, dass auch seine diesbezügliche Ansichten keinen absoluten Wahrheitsanspruch erheben dürfen und als korrigierbar gelten müssen, sonst wäre sein Vorgehen - in seinem eigenen Sinne - entschieden unwissenschaftlich. Ein wenig weiter nimmt Ullrich Bezug auf Gaston Bachelard (1884 - 1962), einen bedeutenden, aber außerhalb Frankreichs wenig bekannten Wissenschaftstheoretiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der mit seinem Begriff des Erkenntnishindernisses bzw. der epistemischen Unterbrechung (obstacle épistémologique und rupture/ coupure épistémologique), also der Vorstellung einer grundsätzlichen Diskontinuität des wissenschaftlichen Fortschritts, Kuhns Konzept der wissenschaftlichen Revolution vorweggenommen hatte. In Anlehnung an Bachelard spricht Ullrich von der „ geistigen Askese “ der modernen Wissenschaft: [D]er wissenschaftliche Geist, den Bachelard vor allem in der Entwicklung der modernen naturwissenschaftlichen Forschung am Werk sieht, [ist] zu jener geistigen Askese bereit, die die eigenen Intuitionen, die eigenen Lieblingsbilder durch einen „ epistemologischen Schnitt “ (coupure épistémologique) abstreift, das heißt zugunsten abstrakter Modelle und quantitativer Verfahren radikal mit dem Alltagswissen bricht. (Ebd., S. 185) 602 5 Was ist Wissenschaft? Nochmals sei gesagt, dass die „ abstrakten Modelle und quantitativen Verfahren “ nur für einen Teil der modernen Wissenschaft charakteristisch sind und dass Ullrichs Bemühungen keineswegs als wissenschaftlich gelten dürften, wenn dieses Kriterium für die Wissenschaft allgemeingültig sein sollte. Es ist aber auch fraglich, ob man die „ geistige Askese “ im oben genannten Sinne als ein Kriterium der modernen Wissenschaftlichkeit betrachten kann. Schließlich könnte man von einer solchen Askese, von der Bereitschaft, „ eigene Intuitionen, eigene Lieblingsbilder “ zugunsten einer höheren Wahrheit zurückzustellen, auch bei den mittelalterlichen Gelehrten sprechen, die sich der Autorität der Kirche und ihrer Doktrin unterwarfen oder für die der Glaube an die geoffenbarten Wahrheiten höher stand als die Forderungen der Vernunft. Noch einige Seiten weiter kontrastiert Ullrich die - vermeintlich - unwissenschaftliche Vorgehensweise von Steiners Geisteswissenschaft mit der Methode der Wissenschaft, und im Zuge dieses Vergleichs kommt er auf zwei weitere Methoden der modernen Wissenschaft zu sprechen: Ihre [der Geisteswissenschaft Steiners] Methode ist nicht das kontrollierte Experiment oder die Analyse von Texten, sondern die meditative Versenkung in das Innere der eigenen Person. (Ebd., S. 190) Es ist an dieser Stelle unwesentlich, ob Ullrichs Vorstellungen bezüglich des Charakters der Geisteswissenschaft stichhaltig sind, sondern es geht allein darum, ob seine Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügen. Und dies ist, sofern er die wissenschaftliche Methode auf Experiment und Textanalyse reduzieren will, nicht der Fall. Einerseits lässt sich selbst die Vorgehensweise der Naturwissenschaft nicht immer auf das Experimentieren reduzieren: Astrophysiker machen keine Experimente, Geologen nur selten. Andererseits gibt es in der modernen Wissenschaft unzählige weitere Forschungsmethoden. Wenn ein Meteoritenforscher einen Meteorit untersucht, eine Verhaltensbiologin Schimpansen im Urwald beobachtet, eine Pflanzenforscherin die Pflanzenvielfalt in höheren Alpgebieten untersucht, ein Archäologe an einem Standort gräbt, dann führt er oder sie kein kontrolliertes Experiment durch, analysiert auch keine Texte, betreibt jedoch wissenschaftliche Forschung. Fazit Ich hoffe, in dieser kurzen Betrachtung gezeigt zu haben, dass die angeführten Autoren, die sich der Frage der Wissenschaftlichkeit von Steiners Geisteswissenschaft angenommen haben, in einer erstaunlich dilettantisch und unwissenschaftlichen Weise vorgegangen sind. 413 Sie haben kaum darüber reflektiert, was die Eigenschaften der modernen Wissenschaft ausmacht, 413 Eine Ausnahme bildet hier, wie wir weiter unten sehen werden, Martin Mahner (2007), der jedoch das Problem der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie nur in einem Nebensatz behandelt. 5 Was ist Wissenschaft? 603 sondern lediglich unkritisch einige wenige gängige Merkmale übernommen, die sie als ausreichend erachten, um deren angebliches Fehlen in Steiners Geisteswissenschaft herzunehmen, um diese der Unwissenschaftlichkeit bezichtigen zu können. Was an ihrer Vorgehensweise ebenfalls erstaunt, ist der Umstand, dass sie so gut wie keinen Bezug auf die vorhandene, recht umfangreiche wissenschaftstheoretische Literatur genommen haben, um ihre Behauptungen zu untermauern. Alltagskriterien der Wissenschaftlichkeit Bevor wir uns ernsthaft mit der Frage der Wissenschaftlichkeit von Steiners Geisteswissenschaft auseinandersetzen können, müssen wir genauer untersuchen, was unter dem Begriff der Wissenschaftlichkeit verstanden wird. Ehe ich aber auf die diesbezügliche wissenschaftstheoretische Diskussion eingehe, möchte ich noch einige weitere Alltagsintuitionen dazu betrachten. Was die bis jetzt von Zander oder Ullrich genannten Kriterien (induktives Verfahren, kontrolliertes Experiment, Mechanisierung, Mathematisierung, Offenheit, Unabschließbarkeit, Selbstkorrektur, Öffentlichkeit bzw. Austausch des Wissens innerhalb der „ scientific community “ ) betrifft, so kann man sagen, dass sie einzeln nicht hinreichend für die Bezeichnung einer Disziplin als Wissenschaft sind. Einige von ihnen (Mechanisierung, Mathematisierung, induktives Verfahren und kontrollierte Experimente) sind nicht einmal notwendige Merkmale. Von einigen wäre man jedoch spontan geneigt zu meinen, dass sie zwingend für den Status der Wissenschaftlichkeit sind. So scheint es plausibel zu behaupten, dass eine Disziplin, die ihre Lehrsätze unbestreitbar, unverhandelbar, „ ewig wahr “ usw. nennt, unmöglich als Wissenschaft bezeichnet werden kann. Das Gleiche scheint auch von der Bedingung der Selbstkorrektur und des Austausches innerhalb einer Forschungsgemeinschaft zu gelten. Keine Wissenschaft kann eine rein private Angelegenheit sein. Selbst jedoch, wenn man diese - zumindest scheinbar notwendigen - Merkmale der Wissenschaftlichkeit zusammennimmt, ergibt sich aus ihnen noch kein unseren Intuitionen entsprechender Begriff der Wissenschaft. Eine Disziplin, die offen (selbstkorrigierend) und öffentlich ist und die ihre Behauptungen nicht als ewig gültige Dogmen betrachtet, ist noch lange keine Wissenschaft. So sind z. B. Kunst, Politik und Kochen ebenfalls öffentlich, offen und beharren nicht auf der Endgültigkeit ihrer Thesen, sie werden jedoch nicht als Wissenschaften bezeichnet und haben auch keine diesbezüglichen Ansprüche. Die von Zander und Ullrich genannten Merkmale sind also nicht an sich schlecht, irreführend oder unbrauchbar, sie sind einfach nicht ausreichend, um Wissenschaft von anderen Disziplinen oder von „ Pseudowissenschaft “ zu trennen. Betrachten wir aber noch ein paar andere Merkmale, die gemeinhin mit Wissenschaftlichkeit assoziiert werden. Zu ihnen gehören: Verwendung von Forschungsinstrumenten und stringenten Messverfahren, Aufstellung und 604 5 Was ist Wissenschaft? Überprüfung von Forschungshypothesen und damit verbunden Verwendung von statistischen Methoden der Datenverarbeitung; schließlich vielleicht das wichtigste: Wiederholbarkeit bzw. Nachprüfbarkeit der Forschungsergebnisse. Es ist unschwer einzusehen, dass keines der oben genannten Merkmale (mit der möglichen Ausnahme der Wiederholbarkeit der Forschungsergebnisse) notwendig für die Bezeichnung einer Disziplin als Wissenschaft ist. Man kann wissenschaftlich forschen, ohne (komplizierte) Instrumente zu verwenden: einfach mit dem Auge und einem Schreibgerät oder vielleicht Fotobzw. Videokamera (so braucht z. B. die Entdeckung einer neuen Pflanzen- oder Insektengattung im Urwald keinerlei Instrumente, wird aber gleichwohl als wissenschaftlicher Erfolg erachtet). In gleicher Weise sind auch stringente Messverfahren und statistische Methoden der Datenverarbeitung für die Wissenschaftlichkeit entbehrlich. Jede explorative Forschung kann auch ohne Hypothesen auskommen (obschon sie gewöhnlich von gewissen Fragestellungen geleitet ist). Hypothesenbildung ist hauptsächlich dort relevant, wo Experimente angestellt werden, wobei man Hypothesen auch durch reine Beobachtung bestätigen bzw. falsifizieren kann. Wiederholbarkeit bzw. Nachprüfbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse Was sollen wir jedoch von der Bedingung der Wiederholbarkeit bzw. Nachprüfbarkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse halten? Wir haben uns bereits im Abschnitt „ Einige theoretische Probleme des empirischen Forschungsparadigmas “ mit der Tatsache auseinandergesetzt, dass viele wissenschaftlichen Ergebnisse sich aus bis jetzt ungeklärten Gründen nicht wiederholen lassen. Wir fanden uns dort ebenfalls mit dem Umstand konfrontiert, dass heute Theorien formuliert werden, die sich aus prinzipiellen Gründen jeglicher empirischen Überprüfung entziehen. Wir wollen aber jetzt von diesen Sonderfällen und den gegenwärtigen Problemen der Realwissenschaft absehen und die Bedingung der Möglichkeit einer solchen Wiederholung genauer unter die Lupe nehmen. Diese Bedingung wird oft in einer recht strengen Form formuliert: Ein wissenschaftliches Ergebnis soll von jedermann zu jeder Zeit wiederholt/ nachgeprüft werden können. Auch in diesem Fall ist nicht schwer einzusehen, dass diese Bedingung in dieser Form eigentlich nicht einlösbar ist. Betrachten wir z. B. die Geschichte der Entdeckung des „ Gottes-Teilchens “ oder Higgs-Bosons im Juli 2012. 414 Es ist sofort offensichtlich, dass die Experimente, welche zu dieser Entdeckung (die übrigens immer noch als ein wenig hypothetisch gilt) beigetragen haben, keineswegs „ zu jeder Zeit “ wiederholt werden können. Zum einen braucht man dazu ein Forschungsinstrument, das einmalig in der Welt ist, nämlich den Large Hadron Collider (LHC) in Genf, und man kann sinnvollerweise nicht erwarten, dass diese Experimente in einem anderen Forschungszen- 414 Vgl. z. B. http: / / www.spiegel.de/ wissenschaft/ technik/ higgs-boson-cern-gibt-entdec kung-von-teilchen-am-lhc-bekannt-a-842478.html. 5 Was ist Wissenschaft? 605 trum wiederholt werden können. Zum anderen sind solche Experimente unglaublich aufwendig und kostspielig, es braucht Jahre, um sie zum Abschluss zu bringen, und schon aus diesem Grund kann man nicht erwarten, dass sie noch „ sicherheitshalber “ ein paar Mal wiederholt werden. In gewissen Fällen stößt man also offensichtlich auf praktische Grenzen der Wiederholbarkeit/ Nachprüfbarkeit der wissenschaftlichen Forschungsresultate. Darüber hinaus ergeben sich weitere Probleme mit dieser Bedingung. Zum einen hat die Wissenschaft oft mit Ereignissen zu tun, die streng genommen einmalig sind. Ob es sich um den Einschlag eines ungewöhnlich großen Meteoriten über Sibirien, wie in Februar 2013 über Tscheljabinsk, 415 die Explosion einer Supernova, die Entstehung eines Monstertsunamis im Indischen Ozean im Jahre 2004, einen Vulkanausbruch oder ein Erdbeben handelt, solche Ereignisse sind streng genommen nicht wiederholbar, können jedoch durchaus wissenschaftlich untersucht werden. Man kann sich aber auch durchaus weniger spektakuläre Phänomene vorstellen, welche, obschon einmalig, als Grundlage für die wissenschaftliche Untersuchung dienen. Denken wir an die Leistungen des Curiosity-Rovers der NASA auf dem Mars. 416 Es ist nicht sicher, ob man je einen ähnlichen Roboter auf der Mars- Oberfläche landen wird, dies hindert uns aber durchaus nicht daran, die Daten, die er uns übermittelt, wissenschaftlich zu analysieren. Noch extremer in dieser Richtung sind selbstverständlich die Leistungen von Voyager 1, der nach 36-jährigem Flug im September 2013 als erstes von Menschen gemachtes Objekt in den interstellaren Raum eingedrungen ist. 417 Auch hier ist es höchst unsicher, ob man je ein solches Unternehmen wiederholen wird. An dieser Stelle kann man einwenden, dass die oben genannte Bedingung nicht das Wiederholen bzw. Nachprüfen, sondern lediglich die Wiederholbarkeit bzw. Nachprüfbarkeit stipuliert, also lediglich die theoretische Möglichkeit, die Forschungsergebnisse zu wiederholen bzw. nachzuprüfen. So kann man zwar behaupten, dass man die Forschungen, welche zur Entdeckung des Higgs-Bosons geführt haben, sehr wahrscheinlich nie wiederholen wird oder dass man keinen zweiten Voyager 1 je ins Weltall schicken wird, dass uns aber die Möglichkeit, diese Dinge zu tun, zu jeder Zeit offensteht. Die Berücksichtigung dieser Einschränkung erfordert jedoch, dass man die obige Formulierung der genannten Bedingung der Wissenschaftlichkeit stark modifiziert bzw. abschwächt. Es kann nicht um Nachprüfbarkeit/ Wiederholbarkeit zu jeder Zeit gehen, sondern im besten Falle um Nachprüfbarkeit/ Wiederholbarkeit unter günstigen Bedingungen. Um die damit angesprochene Schwierigkeit genauer zu analysieren, stellen wir uns vor, dass ein sonst vertrauenswürdiger Wissenschaftler berichtet, dass er einen Yeti im Hima- 415 Vgl. z. B. http: / / www.srf.ch/ news/ panorama/ tscheljabinsk-meteorit-wegen-kollisionabgestuerzt. 416 Vgl. z. B. http: / / www.bbc.co.uk/ news/ science-environment-23582000. 417 Vgl. z. B. http: / / www.nasa.gov/ mission_pages/ voyager/ index.html#.Uj_i7ijRcaA. 606 5 Was ist Wissenschaft? laya gesichtet hat, oder eine vertrauenswürdige Forscherin davon berichtet, dass sie im Urwald eine Gruppe von Schimpansen beobachtet hat, die eine Hütte errichtet und dort zu übernachten gelernt hat. Wenn der wissenschaftliche Rang der betreffenden Forscher hoch genug ist, kann man sich durchaus vorstellen, dass ihre Behauptungen, trotz ihrer offensichtlichen Einmaligkeit, in den relevanten wissenschaftlichen Zeitschriften abgedruckt werden. Sie werden aber nicht als gesichertes wissenschaftliches Wissen, sondern lediglich als eine Art Arbeitshypothese betrachtet, bis sie von mindestens einem, besser von mehreren Wissenschaftlern bestätigt werden. Nehmen wir als weiteres Beispiel die Behauptung, dass sich Schimpansen gelegentlich zu Banden zusammenschließen, um den benachbarten Schimpansengemeinden das Territorium abzujagen, und dass sie bei derartigen Angriffen auch Artgenossen (meistens die Affensäuglinge der benachbarten Gruppe) töten. Diese Beobachtung, die im Rahmen eines in seinem Ausmaß einmaligen Projekts gemacht wurde, bei dem eine Gruppe von 150 Schimpansen im Kibale-Nationalpark in Uganda zehn Jahre lang erforscht wurde, kann als wissenschaftlich gesichertes Wissen erst dann gelten, wenn sie mehrmals und/ oder von mehreren Forschern gemacht wurde (vgl. Mitani et al. 2010). Wie verhält es sich aber bei den wirklich einmaligen Ereignissen, wie z. B. beim Einschlag des Tscheljabinsk-Meteorits? In dem oben erwähnten Beitrag des schweizerischen Fernsehens SRF vom 27. August 2013 wurde berichtet, dass sibirische Forscher herausgefunden haben, dass dieser Meteorit vor seinem Einschlag mit einem anderen Himmelskörper kollidiert oder nahe an der Sonne vorbeigerast sei. Die das Ereignis erforschenden Wissenschaftler sind zu diesem Schluss gekommen, weil sie in den Splittern des abgestürzten Meteoriten zweifelsfrei Spuren eines intensiven Schmelzprozesses festgestellt haben, die vor dem Eintritt in die Erdatmosphäre entstanden sein mussten. Eine äußerst unwahrscheinliche Behauptung, die jedoch durchaus zumindest den Status einer soliden wissenschaftlichen „ Arbeitshypothese “ besitzt. Wieso? Wenn die entsprechenden Wissenschaftler behaupten, in den Splittern des Meteoriten die Spuren eines intensiven Schmelzprozesses festgestellt zu haben, der vor dem Eintritt in die Erdatmosphäre stattgefunden haben müsse, dann sind das erstens eben mehrere Wissenschaftler, die diese Behauptung aufstellen, zweitens sind sie davon überzeugt, dass ihre Fachkollegen bzw. Fachkolleginnen, welche die gleichen Proben untersuchen würden, zu gleichen Schlüssen kommen würden, und drittens gründen sie ihre Feststellungen auf die Forschungsergebnisse bezüglich des Charakters von Schmelzprozessen in der Erdatmosphäre. Das Ereignis (Meteoritenanschlag) ist also in dieser Form nicht wiederholbar bzw. nachprüfbar, die Forschungsergebnisse aber, die anhand der Analyse der gefundenen Meteoritensplitter erarbeitet worden sind, durchaus. Dasselbe gilt für solche einmalige Ereignisse wie das Sumatra-Andamanen-Beben von 2004 oder eine Supernova-Explosion. Diese können sich zwar 5 Was ist Wissenschaft? 607 nicht genau wiederholen, die Daten aber, die während oder nach der Beobachtung dieser Ereignisse von den Wissenschaftlern (vielleicht sogar nur von einem Wissenschaftler) gesammelt wurden, können aufgrund des vorhandenen wissenschaftlichen Vorwissens ausgewertet und später von anderen Wissenschaftlern analysiert werden, und erst wenn eine solche Nachuntersuchung stattgefunden hat, erachtet man die dadurch gewonnenen Erkenntnisse normalerweise als wissenschaftlich gesichert. Deshalb gilt die - höchst ungewöhnliche - Behauptung, dass der Tscheljabinsk-Meteorit vor seinem Einschlag mit einem anderen Himmelskörper kollidiert oder nahe an der Sonne vorbeigerast ist, als zumindest einigermaßen wissenschaftlich gesichert. Wenn jedoch ein Forscher behaupten würde, dass er in den Splittern dieses Meteoriten Spuren von Diamanten gefunden habe, aber nicht bereit wäre, die entsprechenden Meteoritenfragmente anderen Wissenschaftlern für die Nachanalyse zugänglich zu machen, würde seine Behauptung mit äußerster Skepsis behandelt. Die obigen Betrachtungen zeigen, dass der Schwerpunkt des Merkmals „ zu jeder Zeit und von jedermann nachprüfbar “ nicht bei den zu erforschenden Ereignissen bzw. Phänomenen, sondern bei den sie erforschenden Wissenschaftlern liegt: Es ist nicht unbedingt das Ereignis, das wiederholt werden können muss (obschon bei kontrollierten Experimente auch diese Bedingung - mit gewissen Einschränkungen, wie im Falle des Higgs-Bosons erörtert - erfüllt sein muss), sondern die Analyse der gewonnenen Rohdaten. Somit kommen wir zu der zweiten Hälfte des hier diskutierten Merkmals, nämlich zu der Behauptung, dass wissenschaftliche Erkenntnisse „ von jedermann “ wiederholt/ überprüft werden können müssen. Ich glaube, dass die bisherigen Überlegungen genügen, um feststellen zu können, dass auch diese Bedingung streng genommen unerfüllbar ist. Ob man die Suche nach dem Higgs-Boson, die Erforschung des Aufpralls des Tscheljabinsk-Meteoriten oder der Ursachen und Folgen des Andamanen- Bebens und -Tsunamis betrachtet, man stellt fest, dass die Forschungsergebnisse bzw. -erkenntnisse, die anhand der Rohdaten gewonnen werden, keineswegs von „ jedermann “ , sondern lediglich höchstens von einigen wenigen Spezialisten, die im gleichen Bereich tätig sind, werden überprüft werden können. Selbst ein führender Biologe oder ein Nobelpreisträger in Physiologie und Medizin wird nicht imstande sein, die Forschungsergebnisse der CERN-Forscher überprüfen. Die Spezialisierung in der Wissenschaft ist so weit fortgeschritten, dass es inzwischen eigentlich sogar irreführend ist, von einem „ führenden Biologen “ zu sprechen. Heute erforscht man nicht „ Biologie “ , sondern z. B. Mitochondrien. Und wenn man Mitochondrien erforscht, dann wird man nur eine vage Vorstellung davon haben, was die Kolleginnen/ Kollegen, die z. B. die Stammzellen erforschen, eigentlich machen und welche Methoden sie in ihren Forschungen verwenden. Vor etwa 35 Jahren habe ich mit einem polnischen Physiker gesprochen, der sich schon damals darüber beklagte, dass er sich über sein eigentliches For- 608 5 Was ist Wissenschaft? schungsgebiet nur mit einigen wenigen Menschen in der Welt austauschen könne. Seit jener Zeit hat die wissenschaftliche Spezialisierung rasant, ja exponentiell zugenommen. Naturwissenschaft ist empirisch Es gibt aber noch eine weitere weit verbreitete Intuition in Bezug auf den Charakter der Wissenschaft: Man sagt, dass sich diese von anderen Formen der Wissensgewinnung dadurch auszeichne, dass sie empirisch sei. Was ist damit konkret gemeint? Das alltägliche Verständnis von Empirie besagt, dass es sich dabei um eine Wissensgewinnungsmethode handelt, welche sich auf Erfahrung stützt (Duden 1996, S. 427). Unter Erfahrung wiederum versteht man allgemein „ durch Anschauung, Wahrnehmung, Empfindung 418 gewonnenes Wissen als Grundlage der Erkenntnis “ (Duden 1996, S. 447). Auch hier braucht es eigentlich keine komplexen Überlegungen, um festzustellen, dass diese Alltagsüberzeugung in Bezug auf den essentiellen Charakter der Wissenschaft nur bedingt stichhaltig ist. Denn es gibt offensichtlich viele wissenschaftliche Felder, bei denen von empirischer Forschung im Sinne von Feldbeobachtung oder Laborexperimenten kaum oder keine Rede sein kann und die sich vor allem auf die Verarbeitung von Texten beziehen: z. B. Geschichte, Literaturwissenschaften, Religionswissenschaften, Medienwissenschaften usw. Gleichwohl scheint die Behauptung berechtigt, dass sich die Naturwissenschaften (mit Ausnahme der Stringtheorien in der Physik) bei der Gewinnung der Rohdaten und bei der Überprüfung ihrer Theorien wesentlich auf Beobachtung und Experiment stützen. Warum aber ist die empirische Grundlegung der Naturwissenschaft für sie von einer solch zentralen Bedeutung? Diese Frage ist unschwer zu beantworten. Bereits in der Antike haben sich zwei Ströme des menschlichen Denkens manifestiert, die sich später als die zwei grundlegenden und widerstreitenden Positionen in Bezug auf die Frage der Quelle des Wissens konsolidiert haben: der Rationalismus und der Empirismus. Der Rationalismus, der auf Pythagoras, Sokrates, Platon, Aristoteles zurückgeht und später von Descartes, Spinoza, Leibniz und Kant vertreten wurde, behauptet grundsätzlich, dass der menschliche Intellekt Wesentliches zum neuen Wissen beitragen kann, obschon die sinnliche Erfahrung selbstverständlich auch eine gewisse Rolle bei der Wissensgewinnung spielt. Am deutlichsten kann man diese schöpferische Rolle des reinen Intellekts in der Mathematik beobachten. Dort gewinnt man offensichtlich neue und wesentliche Einsichten, ohne auf sinnliche Erfahrung angewiesen zu sein. Denn diese beinhaltet grundsätzlich nichts, was mit reinen Zahlen, geschweige denn abstrakteren mathematischen Gebilden zu tun haben könnte, und wenn sie Daten liefert, die gewisse Ähnlichkeiten mit den Gebilden der Geometrie 418 Man sollte hinzufügen „ durch Experiment “ , vgl. Mittelstraß 2004, S. 569. 5 Was ist Wissenschaft? 609 haben (Linien, Kreise usw.), so sind die natürliche Formen im besten Fall eine grobe Annäherung an die abstrakten Konstrukte der reinen Geometrie. Der Empirismus hingegen stützt sich auf das bekannte Motto der peripatetischen Schule „ Nihil in intellectu nisi prius in sensu “ , das später von Thomas von Aquin und dann von Locke, Berkeley und Hume aufgegriffen wurde. Seine Vertreter beharren grundsätzlich auf dem Primat der Sinne beim Wissenserwerb und betrachten den Intellekt als eine unproduktive Kraft, eine Kraft, welche die Sinnesdaten zwar verarbeiten kann und soll, aber die ohne diese Sinnesdaten völlig gelähmt ist. Heute sind die intellektuellen Kämpfe zwischen den Empiristen und Rationalisten verblasst, es gilt jedoch als offensichtlich, dass das Zeugnis der Sinne zuverlässiger als das des Intellekts ist. Die Sinne können zwar täuschen, das ist allgemein bekannt, man denke an Phänomene wie eine Allee, deren Baumreihen zusammenzulaufen scheinen, ein Ruder, das im Wasser gebrochen erscheint, oder auch an eine Fata Morgana. Diese Täuschungen sind aber verhältnismäßig einfach zu korrigieren: Es genügt, die Allee abzulaufen, um festzustellen, dass sie doch auf der ganzen Länge eine gewisse Breite besitzt, oder das Ruder aus dem Wasser zu ziehen, um sich vergewissern, dass es doch ganz ist. Denkfehler dagegen sind ungleich schwerer zu korrigieren. Es dauerte fast 1500 Jahre, bis man das ptolemäische System durch das kopernikanische ersetzte. Das Denken gilt zugleich allgemein als viel unzuverlässiger als die Sinne (trotz der Triumphe der Mathematik), weshalb man im Zuge der „ wissenschaftlichen Revolution “ begonnen hat, die Produkte des Denkens an der Erfahrung und nicht umgekehrt zu überprüfen. Auf der anderen Seite wurde jedoch ebenfalls klar, dass die menschlichen Sinne nicht die ganze Wirklichkeit abbilden. Bereits die Veröffentlichung von De revolutionibus orbium coelestium durch Kopernikus rief bei den Zeitgenossen einen tiefen Schock hervor. Seine Überlegungen zeigten nämlich, dass es wesentliche Bewegungen gab (die Rotationsbewegung der Erde, die Bewegung der Erde auf der Bahn um die Sonne), welche vom Menschen überhaupt nicht wahrgenommen werden. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurde das Mikroskop und bald danach auch das Teleskop erfunden; beide Instrumente zeigten eindrücklich, dass das menschliche Auge nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit abbildet: Sowohl das winzig Kleine als auch das Entfernte bleibt ihm verborgen. Heute sind wir in dieser Hinsicht selbstverständlich viel weiter gekommen, wir wissen, dass es zahlreiche Aspekte der Wirklichkeit gibt, welche in keinerlei Weise von unseren Sinnen registriert werden (kosmische Strahlung, Gammastrahlung, Röntgenstrahlung, Ultraviolettstrahlung, Infrarotstrahlung, Radiowellen usw.) und dass sich das „ Kleine “ bis in die früher völlig ungeahnte Dimension des „ Winzigen “ erstreckt, die heute von den Rasterkraftmikroskopen erforscht wird. Wir haben aber auch im Laufe der vergangenen vier bis fünf Jahrhunderte gelernt, dass die Wirklichkeit so reich ist, dass wir auch mit Hilfe ausgeklügelter Instrumente nur ein Teil von ihr in Erfahrung bringen können 610 5 Was ist Wissenschaft? und wir stets auf Überraschungen gefasst sein müssen. Diese Überraschungen haben spätestens mit dem Spektakel der Feder und des Steines angefangen, die in einem luftfreien Rohr gleich schnell zu Boden fallen, und ziehen sich über die Entdeckung der schwarzen Schwäne, der Röntgenstrahlen, der Radioaktivität, der Kontinentaldrift, der dunklen Materie und der dunklen Energie bis zu der kürzlich gemachten Entdeckung eines riesigen Planeten, der, obschon mehr als zehn Mal größer als die Erde, entgegen der geltenden Theorien doch eine felsige und nicht gasförmige Oberfläche aufweist. Eine Planetenforscherin reagierte auf diese Entdeckung mit der Feststellung: „ Nature will do what she wants, regardless of earthling theorists. “ (Sara Seager, Planetenforscherin am Massachusetts Institute, zitiert in Achenbach 2014). Deshalb gilt es als sicher, dass alle induktiven, d. h. auf der vergangenen Erfahrung gestützten Schlüsse grundsätzlich unsicher sind. Vor diesem Hintergrund ist die Zuverlässigkeit der Mathematik einerseits ein Trost, andererseits aber auch ein Skandal, denn sie zeugt eindrücklich davon, dass die Erkenntniskräfte, die als grundsätzlich unsicher gelten, sich seltsamerweise als zuverlässiger erweisen als die sinnliche (bzw. instrumentengestützte sinnliche) Erfahrung, die die letztgültige Quelle der Erkenntnissicherheit sein sollte. Wir haben aber auch gelernt, dass die saubere Trennung zwischen den beiden Elementen der passiven Erfahrung und des aktiven Denkens nicht so einfach zu ziehen ist, wie es sich die Gründungsväter des logischen Empirismus vorgestellt haben. So argumentierte Quine gegen die Annahme, dass sich alle sinnvolle Sätze in der Sprache der reinen Sinneserfahrung formulieren lassen (1951 „ Two Dogmas of Empiricism “ [Quine 1998]), und Sellars gegen den Mythos des Gegebenen. Hanson und dann Kuhn machten darauf aufmerksam, dass unsere Wahrnehmung Gestaltcharakter hat, weshalb sie gar nicht als eindeutig gelten kann. 1974 zeigte der vor einigen Jahren verstorbene amerikanische Philosoph Donald Davidson (1917 - 2003) in einem einflussreichen Aufsatz „ On the Very Idea of a Conceptual Scheme “ (Davidson 2001), dass auch das „ dritte Dogma “ des Empirismus, nämlich die Vorstellung, dass man innerhalb des Wissens oder der Erfahrung zwischen einer konzeptuellen Komponente (dem „ Begriffsschema “ ) und einer empirische Komponente (dem „ empirischen Gehalt “ ) unterscheiden könne, aufgegeben werden müsse. Die beiden Komponenten fließen gemäß Davidson ineinander, folglich könne die Unterscheidung zwischen dem „ subjektiven “ Beitrag zum Wissen, der von uns selbst, und dem „ objektiven “ Beitrag, der aus der Welt kommt, nicht gezogen werden. Wie wir gesehen haben, griff diese Idee dann 1996 ein anderer einflussreicher Philosoph der Gegenwart auf: John McDowell vertrat die Auffassung, dass bereits die elementare Wahrnehmung mit Begrifflichkeit durchtränkt sei, obschon diese Begrifflichkeit paradoxerweise kein Ergebnis bewusster Denkprozesse, sondern ein Teil der allgemeinen menschlichen Empfänglichkeit sei: 5 Was ist Wissenschaft? 611 In experience one finds oneself saddled with [conceptual] content. One ’ s conceptual capacities have already been brought into play, in the content ’ s being available to one, before one has any choice in the matter. (McDowell 1994, S. 10) Diese Imprägnierung der Erfahrung mit Begriffen werde völlig passiv vollzogen ( „ In ‚ outer experience ‘ , a subject is passively saddled with conceptual contents [. . .] “ (ebd., S. 31, vgl. auch S. 162). Wir sehen also, dass die Grundannahmen des Empirismus heute vielleicht mehr denn je umstritten sind. Es scheint unmöglich, aus dem Erkenntnisprozess die rein sinnliche Wahrnehmungskomponente herauszudestillieren. In der Tat hat der Versuch, der Wahrnehmung die zentrale Rolle im Wissensgewinnungsprozess zuzuschreiben, fast unvermeidlich ein paradoxes Ergebnis: Anstatt die Zuverlässigkeit der Erkenntnis zu sichern, führt er in die Sackgasse des Skeptizismus, der Notwendigkeit der Setzung von Erkenntnisgrenzen. Der Weg zu diesem Ergebnis ist verhältnismäßig geradlinig: Solange ich die Welt beobachte, meine ich, dass ich Bäume, Berge, Menschen usw. sehe (naiver oder direkter Realismus). Betrachte ich aber die Beobachtung eines anderen Menschen, so stelle ich fest, dass der Baum, der sich offensichtlich außerhalb seines Kopfes mit den Augen befindet, erst mit diesen Augen vermittels des Lichtes interagieren muss, um überhaupt von ihm wahrgenommen zu werden. Das Resultat einer solchen Interaktion kann aber unmöglich identisch mit dem Ausgangspunkt (Baum „ da draußen “ ) sein. So wird die Theorie der Sinnesdaten geboren (Schantz 2014, S. 12): Wir nehmen nicht die Welt, sondern bloß unsere Vorstellungen der Welt wahr. Diese Theorie führt zu Kants Erkenntnisgrenzen und schließlich zum subjektiven Idealismus Schopenhauers (die Welt als meine Vorstellung). Die Welt an sich scheint uns für immer durch unsere Wahrnehmungen bzw. Vorstellungen verschleiert zu bleiben. Der moderne Erbe dieser Auffassung ist der Konstruktivismus, der behauptet, dass objektive Erkenntnis der Welt grundsätzlich unmöglich sei: Die verbindende Klammer zwischen den verschiedenen konstruktivistischen Ansätzen besteht nicht in einer gemeinsamen theoretischen Problemstellung, sondern in einer erkenntnistheoretischen Grundüberzeugung, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: 1. Das, was wir als unsere Wirklichkeit erleben, ist nicht ein passives Abbild der Realität, sondern Ergebnis einer aktiven Erkenntnisleistung. 2. Da wir über kein außerhalb unserer Erkenntnismöglichkeiten stehendes Instrument verfügen, um die Gültigkeit unserer Erkenntnis zu überprüfen, können wir über die Übereinstimmung zwischen subjektiver Wirklichkeit und objektiver Realität keine gesicherten Aussagen treffen. (Ameln 2004, S. 3) Eine solche Position wird aber sofort mit dem uns bereits wohlbekannten Paradox des Selbstwiderspruchs konfrontiert: Entweder ist Objektivität nicht erreichbar, wobei das, was ich sage, objektiv ist, und also ist Objektivität doch erreichbar; oder diese Position gibt zu, dass das, was sie behauptet, zumindest 612 5 Was ist Wissenschaft? nicht ganz objektiv ist, also nicht wirklichkeits-, wahrheitsgemäß, also einfach nicht ganz wahr. Es scheint also unmöglich zu sein, dem Zeugnis unserer Sinne (oder der Sinne und passiver begrifflicher Fähigkeiten) die Zuverlässigkeit und Wahrheitstreue (gänzlich) abzusprechen. Auf der anderen Seite bleibt es rätselhaft, wie diese Zuverlässigkeit bewerkstelligt wird, wenn das Erlebnisbild der Welt „ da draußen “ ein Konstrukt des Gehirns ist, zumal offensichtlich ein solches, das sehr selektiv ist. So hegte Francis Bacon, der allgemein als einer der Urväter des Empirismus gilt, tiefe Zweifel in Bezug auf die Leistungsfähigkeit der Sinne. Gemäß Bacon haben alle Wahrnehmungen in erster Linie mit dem Menschen und nicht mit der Welt zu tun, denn der menschliche Geist ähnelt einem unebenen Spiegel, der seine eigenen Eigenschaften den Gegenständen verleiht und sie so verzerrt und entstellt (Bacon 1990, Aphor 41). Wenn Bacon von „ vorurteilslosen Sinnen “ spricht, meint er daher nicht Sinnesdaten oder „ unmittelbare Empfindungen “ , sondern Reaktionen eines Sinnesorgans, das umgebaut worden ist, damit es mit der Natur im Einklang steht. Der Mensch müsse umgebaut werden, dem Werk der Erkenntnis müsse ein Werk der „ Zerstörung “ vorausgehen (ebd., Aphor. 115), eine „ Buße “ oder „ Reinigung des Geistes “ (ebd., Aphor. 69). Eine wirklichkeitstreue Tätigkeit des Geistes ist erst dann möglich, wenn „ seine Oberfläche gereinigt, poliert und geebnet “ ist (ebd., Aphor. 115), so dass er ein getreuer Spiegel der Natur wird. Merkwürdige Worte aus dem Munde eines Verfechters des Empirismus. Ist es möglich, dass die Sinne uns grundsätzlich täuschen? Im praktischen Leben erweisen sie sich durchaus als zuverlässig genug: Wir gehen mit ihrer Hilfe erfolgreich durch das Leben und erleiden gewöhnlich keine Katastrophen, welche dem gefälschten Zeugnis der (gesunden) Sinne anzulasten wären. Auf der anderen Seite haben wir spätestens seit Kopernikus gelernt, dass unsere Wahrnehmung doch ein radikal illusorisches Bild der Welt liefert (oder liefern kann). Ein leiser Zweifel bleibt also bestehen . . . Die zunächst selbstverständlich anmutende Behauptung, Wissenschaft sei empirisch, ist bei genauerem Hinschauen also mit ernsten Schwierigkeiten und Unklarheiten behaftet. Vor allem zeigt sich, dass sich die Trennung zwischen passiver Rezeptivität der Sinne und aktiver Leistung des Denkapparats (des Verstandes oder der Vernunft) nicht sauber durchführen lässt. Es ist ferner unsicher, ob die allgemein geltende Annahme, die Sinne seien grundsätzlich zuverlässiger als das Denken (weshalb wir die Theorien durch Beobachtung und Experiment und nicht Beobachtung und Experiment an den Theorien überprüfen), berechtigt ist. Vielleicht ist das Bild der Welt, das durch die Sinne vermittelt wird, grundsätzlich (obschon unmerklich) korrumpiert. Und dennoch will niemand die gängige Praxis der experimentellen Überprüfung der Hypothesen und Theorien ernsthaft in Frage stellen. Denn welche Zweifel auch immer wir an den Sinnen haben, eines steht heute unerschütterlich fest: Durch das Denken allein kommen wir nicht an die volle, gesättigte Wirklichkeit heran. Grundsätzlich gilt hier immer noch die weise 5 Was ist Wissenschaft? 613 Beobachtung Shakespeares: „ There are more things in heaven and earth, Horatio/ Than are dreamt of in your philosophy “ (Hamlet,1. 5. 167 - 8). 419 Und dieser Überschuss der Wirklichkeit über unsere Gedanken von ihr manifestiert sich uns durch die Sinne. Doch ebenso haben wir gelernt, dass die Wirklichkeit viel umfangreicher ist als das Bild, das uns unsere leiblichen Sinne von ihr liefern. Vielleicht hatte also Feyerabend recht, als er schrieb: „ Man braucht eine Traumwelt, um die Eigenschaften der wirklichen Welt zu erkennen, in der wir zu leben glauben “ (Feyerabend 1986, S. 37). Der Begriff der Wissenschaftlichkeit im Wandel des 20. Jahrhunderts Ich habe bisher die alltäglichen Kriterien der Wissenschaftlichkeit, die gängigen Assoziationen, die mit diesem Begriff einhergehen, betrachtet. Im Folgenden will ich mich mit der wissenschaftstheoretischen Literatur und ihren Zuschreibungen auseinandersetzen. Ich wähle dazu einen historischen Zugriff, weil sich diese im Laufe des letzten Jahrhunderts stark verändert haben. Es ist schon fast in die Vergessenheit geraten, dass man früher Wissenschaftlichkeit mit der Fähigkeit, Beweise für eigene Behauptungen vorzulegen, identifizierte. Wir erinnern uns daran, wie viel Raum noch Moritz Schlick in seiner Allgemeinen Erkenntnislehre dem Problem der Verifikation gewidmet hat (§ 21, S. 423 - 438). Ein wenig vereinfacht gesagt, war man der Überzeugung, dass man die wissenschaftlich aufgestellten Theorien dadurch überprüfen könne, dass man aus der Theorie eine empirisch, experimentell überprüfbare Voraussage ableitet und dann schaut, ob sich diese Voraussage experimentell bewahrheitet oder nicht. Es scheint nämlich logisch, dass die Theorie selbst bestätigt (verifiziert, bewiesen) wird, wenn sich die Voraussage bestätigt; dass sie aber falsch und abzulehnen ist, wenn die Voraussage durch die Erfahrung nicht bestätigt wird. Wir haben gesehen, dass sich diese Meinung als falsch erwiesen hat: eine induktive Verallgemeinerung kann nie streng bewiesen werden. Wir haben ferner gesehen, dass Popper meinte, man könne Wissenschaft von der Pseudowissenschaft dadurch abgrenzen, dass man an die wissenschaftlichen Theorien die Bedingung stellt, sie sollen widerlegbar sein. Man könne, so die Meinung Poppers, eine wissenschaftliche Theorie zwar nicht beweisen, man solle sie aber durch strenge Prüfungen zumindest widerlegen können. Eine Theorie (wie die von Marx oder Freud), die sich durch keine empirischen Ergebnisse falsifizieren lasse, sei als unwissenschaftlich, als pseudowissenschaftlich abzulehnen. Wir haben dann gesehen, dass sich Poppers Falsifikationismus ebenfalls als unzulänglich erwiesen hat, denn es kann, wie Duhem und Quine gezeigt haben, streng genommen keine 419 Vgl. Steiner dazu: „ Der Mensch, der glaubt, durch bloßes Denken zur Erkenntnis zu kommen, irrt sich sehr “ (GA69b, S. 57). 614 5 Was ist Wissenschaft? Hypothese und keine Theorie für sich allein genommen widerlegt werden. Einem empirischen Test wird nicht ein isolierter Satz, eine isolierte Feststellung unterzogen, sondern immer und nur eine Reihe von Sätzen bzw. Feststellungen, logisch betrachtet eine Konjunktion solcher Sätze bzw. Feststellungen. Auf den Trümmern des Popper ’ schen Falsifikationismus entwickelte Imre Lakatos seine Auffassung vom Charakter wissenschaftlicher Theorien und von der Wissenschaftlichkeit als solcher. Ich möchte jetzt seine Theorie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme näher betrachten. Imre Lakatos ’ Theorie der Forschungsprogramme In einer Atmosphäre der Ernüchterung, die sich nach dem Zerfall des logischen Empirismus und der Infragestellung des Popper ’ schen Falsifikationismus durch Quine hinsichtlich der Möglichkeit einer sauberen Trennung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft einstellte, bekannte sich Lakatos eindeutig zur Wichtigkeit einer solchen Grenzziehung. Er wies darauf hin, dass die Diskussion um das Kriterium der Wissenschaftlichkeit keineswegs bloß abstrakt und akademisch sei, im Gegenteil, sie habe bedeutende ethische und politische Implikationen: Copernicus ’ s theory was banned by the Catholic Church in 1616 because it was said to be pseudoscientific. It was taken off the index in 1820 because by that time the Church deemed that facts had proved it and therefore it became scientific. The Central Committee of the Soviet Communist Party in 1949 declared Mendelian genetics pseudoscientific and had its advocates, like Academician Vavilov, killed in concentration camps; after Vavilov ’ s murder Mendelian genetics was rehabilitated, but the Party ’ s right to decide what is science and publishable and what is pseudoscience and punishable was upheld. The new liberal Establishment of the West also exercises the right to deny freedom of speech to what it regards as pseudoscience, as we have seen in the case of the debate concerning race and intelligence. All these judgments were inevitably based on some sort of demarcation criterion. This is why the problem of demarcation between science and pseudoscience is not a pseudo-problem of armchair philosophers: it has grave ethical and political implications. (Lakatos 1998, S. 26) Lakatos anerkannte also die Wichtigkeit einer adäquaten Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft, lehnte aber Poppers Kriterium der Falsifizierbarkeit ab (ebd., S. 23). Seine Gründe für diese Entscheidung waren jedoch nicht rein logischer Natur. Vielmehr stützte er sich auf die Beobachtung, dass die Wissenschaftler „ eine dicke Haut “ haben und die Evidenz, die gegen ihre Theorien spricht, oft einfach ignorieren: Popper ’ s criterion ignores the remarkable tenacity of scientific theories. [. . . Scientists] do not abandon a theory merely because facts contradict it. They normally either invent some rescue hypothesis to explain what they then call a mere anomaly or, of they cannot explain the anomaly, they ignore it, and direct attention to other problems. (Ebd.) 5 Was ist Wissenschaft? 615 Lakatos entwickelte deshalb eine neue Theorie des wissenschaftlichen Fortschritts und daraus abgeleiteter Wissenschaftlichkeit allgemein, die er als Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme (methodology of scientific research programmes) bezeichnete (ebd.). Sie erblickt den Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses nicht in einer Hypothese oder einer Theorie, die es entweder zu bestätigen oder zu widerlegen gilt, sondern in einem Forschungsprogramm. Dieses wiederum besteht aus einem „ harten Kern “ von Aussagen (im Falle der Newton ’ schen Wissenschaft aus den drei Gesetzen der Newton ’ schen Mechanik und dem Gravitationsgesetz), die durch einen „ Schutzgürtel “ von Hilfshypothesen vor der Widerlegung bewahrt werden. Ein Forschungsprogramm verfügt ferner über allerlei Problemlösungsstrategien (Lakatos bezeichnet sie als „ heuristic “ ), welche es ihm erlauben, die empirischen Schwierigkeiten (Anomalien) zu erklären oder, anders ausgedrückt, mit dem „ harten Kern “ in Einklang zu bringen. Wenn sich z. B. ein Planet nicht so bewegt, wie es die Theorie voraussagt, wird sich ein Wissenschaftler im Geiste Newtons Vermutungen hinsichtlich der Lichtrefraktion in der Erdatmosphäre oder des Einflusses der magnetischen Stürme auf die Lichtübertragung u. ä. anstellen, um die beobachtete Anomalie verständlich zu machen und den „ Kern “ zu retten. Gegenfalls ist er auch bereit (wie dies tatsächlich der Fall war), die Existenz eines bis dato unbekannten Himmelkörpers zu postulieren, um die Beobachtung mit der Theorie in Einklang zu bringen. In diesem Sinne sind für Lakatos nicht nur die Newton ’ sche Mechanik, Einsteins Relativitätstheorie oder die Quantenmechanik, sondern auch der Marxismus und Freuds Psychoanalyse Forschungsprogramme (ebd., S. 24). Folglich ergibt sich die dringende Frage, wie man wissenschaftliche von pseudowissenschaftlichen Programmen unterscheiden kann. Lakatos ’ Kriterium ist einfach: Wissenschaftliche Forschungsprogramme sind progressiv, pseudowissenschaftliche hingegen degenerativ (ebd.). Was ist damit gemeint? Auch auf diese Frage hat Lakatos eine einfache Antwort: In einem progressiven Forschungsprogramm führt die Theorie zur Entdeckung neuer Fakten, in einem degenerativen hingegen werden Theorien nur deshalb produziert, um bereits bekannte Tatsachen zu erklären (ebd., S. 25). Lakatos kontrastiert hier Einsteins Relativitätstheorie, welche neue Fakten korrekt vorausgesagt hatte (z. B. Beugung des Sternlichtes in der Nähe der Sonne), mit dem Marxismus, dessen Voraussagen sich z. B. in Bezug auf den Ort des Ausbruchs der ersten sozialistischen Revolutionen als manifest falsch erwiesen haben. Entscheidend für die Zuerkennung des wissenschaftlichen Status einer Disziplin oder eines Forschungsprogramms sind also für Lakatos nicht Widerlegungen, sondern dramatische, unerwartete Voraussagen: [S]o-called “ refutations ” are not the hallmark of empirical failure, as Popper has preached, since all programmes grow in a permanent ocean of anomalies. What really count are dramatic, unexpected, stunning predictions: a few of them are enough to tilt the balance [in favour of a programme being regarded as progressive, 616 5 Was ist Wissenschaft? i. e. scientific]; where theory lags behind the facts, we are dealing with miserable degenerative research programmes [i. e. with pseudoscience]. (Ebd., S. 25). Kann uns Lakatos ’ Kriterium befriedigen? Ist es ausreichend, um eine Disziplin als Wissenschaft zu bezeichnen und sie sauber von einer Pseudowissenschaft zu trennen? Dies ist eindeutig nicht der Fall. Abgesehen davon, dass große Bereiche dessen, was wir normalerweise als wissenschaftliche Tätigkeit bezeichnen (z. B. Forschung innerhalb der Astronomie, Biologie, Medizin, Archäologie, Geologie usw.) kaum mit neuartigen Voraussagen und viel eher mit der Suche nach einer Erklärung für bereits bekannte oder neu entdeckte Phänomene zu tun haben, müsste man den ganzen Darwinismus als Pseudowissenschaft bezeichnen, denn er war nie imstande, die Existenz neuer Arten erfolgreich vorauszusagen, sondern hinkte stets „ der Entwicklung “ hinterher. Lakatos ’ Blick auf die Wissenschaft scheint stark durch seine universitäre Ausbildung in Mathematik und Physik verengt zu sein. Seine Theorie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme mag auf die Physik anwendbar sein, sie scheint jedoch völlig ungeeignet, die Eigenschaften von Wissenschaft im Allgemeinen zu bestimmen. McLean versus Arkansas oder der Kreationismus-Prozess Einen weiteren wichtigen Schritt in der Geschichte der Reflexion über die Kriterien der Wissenschaftlichkeit markierte der Prozess McLean v. Arkansas Board of Education. Verschiedene Eltern, religiöse Gruppen und Organisationen, Biologen und andere Wissenschaftler reichten 1981 am United States District Court für den Eastern District of Arkansas eine Klage ein, in der sie argumentierten, dass das „ Balanced Treatment for Creation-Science and Evolution-Science Act “ des Staates Arkansas, das die Lehre der „ Schöpfungswissenschaft “ in den öffentlichen Schulen in Arkansas vorschrieb, verfassungswidrig sei, weil es gegen die sog. Establishment Clause des ersten Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten verstoße, die im Sinne einer Forderung nach Trennung von Staat und Kirchen interpretiert wird. Am 5. Januar 1982 fällte der Richter William Overton ein endgültiges Urteil, in dem er u. a. feststellte, dass die Schöpfungswissenschaft eine Religion und keine Wissenschaft sei. Die dieser Ansicht zugrundeliegende Definition von Wissenschaft ist insofern von Bedeutung, als sie nicht „ aus dem Ärmel geschüttelt “ wurde, sondern auf die Expertise zahlreicher Wissenschaftler zurückging, welche als Gutachter angerufen wurden. Diese Definition zählt fünf „ essentielle Eigenschaften “ von Wissenschaft auf: 1. Wissenschaft wird vom Naturgesetz angeleitet ( „ is guided by natural law “ ); 2. sie muss die Phänomene durch den Bezug auf ein Naturgesetz erklären; 3. sie ist überprüfbar anhand der empirischen Welt; 4. ihre Feststellungen sind vorläufig, d. h. nicht zwingend das letzte Wort; 5. sie ist widerlegbar (Laudan 1998, S. 48). Ich muss diese Definition nicht selbst kritisch untersuchen, weil eine solche Untersuchung bereits von einem führenden amerikanischen Wissen- 5 Was ist Wissenschaft? 617 schaftstheoretiker (Larry Laudan) geleistet wurde. Seine Analyse fällt vernichtend aus. Laudan weist zunächst darauf hin, dass die Behauptung, der Kreationismus sei weder überprüfbar noch widerlegbar, falsch sei. Diese Behauptungen are testable, they have been tested, and they have failed those tests. [. . .] Indeed, if any doctrine in the history of science has ever been falsified, it is the set of claims associated with “ creation science ” . schreibt Laudan (ebd., S. 49). Für uns folgt daraus, dass, wenn man den Kreationismus als eine Pseudowissenschaft bzw. eine Religion und nicht als eine Wissenschaft ansieht, Verifizierbarkeit oder Widerlegbarkeit keine ausreichenden Kriterien für Wissenschaftlichkeit sind. So kann ich zwar behaupten, dass man einen Zitronenkuchen bei der Ofentemperatur von 400°C fünf Stunden lang backen soll. Wenn am Ende dieses Prozesses ein schwarzer Klumpen aus dem Ofen herausgeholt wird, wird meine Behauptung widerlegt. Sie wird aber gewöhnlich nicht als wissenschaftlich gelten. Verifizierbarkeit und Widerlegbarkeit sind keine ausreichenden (hinreichenden) Kriterien der Wissenschaftlichkeit. 420 Wir haben auch bereits gesehen, dass keine wissenschaftliche Behauptung endgültig verifiziert oder widerlegt werden kann. Laudan argumentiert ähnlich, wenn er schreibt, dass gegenwärtig eine breite Übereinstimmung darüber herrsche, dass viele wissenschaftliche Behauptungen nicht einzeln überprüfbar seien, sondern erst wenn sie in größere Systeme von Behauptungen eingebettet seien, welche erst gemeinsam genommen empirisch überprüfbare Folgen haben (ebd., S. 49). Was den Vorwurf des Dogmatismus gegen die Verfechter des Kreationismus anbetrifft, so macht Laudan darauf aufmerksam, dass er nicht stichhaltig sei, weil sie ihre Ansichten gegenüber dem Stand ihrer Doktrin im 19. Jahrhundert doch modifiziert haben. Wenn man aber argumentiert, dass sie sich, was ihre Kernüberzeugungen anbetrifft, überhaupt nicht bewegten, so kann man, schreibt Laudan, den gleichen Vorwurf an die Adresse der „ anständigen “ Wissenschaft richten. Wie wir bereits anhand von Lakatos ’ Theorie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme gesehen habe, zeichnet auch die Wissenschaft ein gewisser Dogmatismus aus. Man kann also nicht behaupten, dass sich die „ gute “ Wissenschaft durch eine kompromisslose Aufgeschlossenheit (uncompromising open-mindedness) unterscheidet (ebd., S. 50). Was schließlich die Orientierung am „ Naturgesetz “ und die Erklärung durch den Bezug auf ein Naturgesetz betrifft, so weist Laudan darauf hin, dass man sowohl die Leistungen von Newton als auch die von Darwin als unwissenschaftlich taxieren müsste, wollte man diese Bedingungen gelten lassen. Wissenschaft unterscheidet zwischen der Feststellung der Phänomene, 420 Es ist ebenfalls strittig, ob sie notwendig sind. In manchen Zweigen dessen, was wir gewöhnlich Wissenschaft nennen, geht es überhaupt nicht darum, Hypothesen bzw. Theorien zu verifizieren bzw. widerlegen. 618 5 Was ist Wissenschaft? was an sich bereits eine wissenschaftliche Aktivität ist, und ihrer Erklärung durch den Rückgriff auf ein Naturgesetz. Letztendlich wollen wir in der Wissenschaft beides tun, aber als Newton die Existenz der Gravitationsphänomene behauptete und Darwin die Existenz der Evolution, war die Wissenschaft noch weit davon entfernt, eine gesetzmäßige Erklärung dieser Phänomen liefern zu können (ebd., S. 51). Laudan hebt hervor, dass die Bedingungen der Überprüfbarkeit, Revidierbarkeit und Falsifizierbarkeit eigentlich außerordentlich schwache Bedingungen der Wissenschaftlichkeit seien (ebd.), und er schließt seinen Aufsatz mit der unschmeichelhaften Empfehlung an die Adresse der „ scientific community “ , sich nicht mit dem Erfolg im Arkansas-Prozess zu rühmen. Denn dieser Triumph habe aus Sicht der Wissenschaftstheorie einen schalen Geschmack: The victory in the Arkansas case was hollow, for it was achieved only at the expense of perpetuating and canonizing a false stereotype of what science is and how it works. If goes unchallenged by the scientific community, it will raise grave doubts about that community ’ s intellectual integrity. No one familiar with the issues can really believe that anything important was settled through anachronistic efforts to revive a variety of discredited criteria for distinguishing between the scientific and the non-scientific. Fifty years ago, Clarence Durrow asked, à propos the Scopes 421 trial, „ Isn ’ t it difficult to realize that a trial of this kind is possible in the twentieth century in the United States of America? “ We can raise that question anew, with the added irony that, this time, the pro-science forces are defending a philosophy of science which is, in its way, every bit as outmoded as the „ science “ of the creationists. (Ebd., S. 52) Nun, wenn die Kriterien der Wissenschaftlichkeit von Richter Overton und seiner wissenschaftlichen Experten untauglich sind, was offensichtlich ist, welche andere Kriterien sollen wir anwenden? Laudan hat eine unkomplizierte Antwort auf diese Frage: „ [F]ew authors can even agree on what makes an activity scientific “ (ebd., S. 52). In dem ein Jahr nach diesen Bemerkungen erschienenen Aufsehen erregenden Aufsatz „ The Demise of the Demarcation Problem “ stellte Laudan die Frage nach einem Abgrenzungskriterium sogar als ein Pseudoproblem dar und schloss seine Ausführungen mit der Feststellung: „ Pseudo-science “ and „ unscientific “ are just hollow phrases which do only emotive work for us. As such, they are more suited to the rhetoric of politicians and Scottish sociologists of knowledge than to that of empirical researchers. (Laudan 1983, S. 125) 421 In diesem berühmten Prozess, der 1925 stattgefunden hat, wurde der Gymnasiallehrer John Scopes des Lehrens der Darwin ’ schen Evolutionstheorie an einer staatlichen Schule überführt. Infolge des Prozesses wurde das Unterrichten der Evolutionslehre an staatlichen Schulen ungesetzlich. 5 Was ist Wissenschaft? 619 Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 1996, also rund fünfzehn Jahre nach dem Arkansas-Prozess, erschien die von Jürgen Mittelstraß herausgegebene Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Mittelstraß ist einer der bedeutendsten Wissenschaftstheoretiker des deutschsprachigen Raumes und u. a. seit 1990 Direktor des Zentrums Philosophie und Wissenschaftstheorie der Universität Konstanz. Die Enzyklopädie ist zum Standardreferenzwerk für Philosophie und Wissenschaftstheorie im deutschsprachigen Raum geworden. Die Definition der Wissenschaft, welche in diesem Werk angeboten wird, ist im gegenwärtigen Kontext u. a. deshalb von Bedeutung, weil sie der deutschsprachigen Tradition entspricht. Im deutschsprachigen Raum ist es üblich, auch von den sog. Geistesbzw. Humanwissenschaften (also z. B. Geschichte, Theologie, Politwissenschaft, Religionswissenschaft, sogar Philosophie) als Wissenschaften zu sprechen, während sie an den angloamerikanischen Universitäten gewöhnlich als „ humanities “ (aber auch als „ social sciences “ ) klassifiziert und scharf von den Naturwissenschaften getrennt werden. Betrachten wir dazu eine Definition Kambartels genauer: Wissenschaft, Bezeichnung für eine Lebens- und Weltorientierung, die auf eine spezielle, meist berufsmäßig ausgeübte Begründungspraxis angewiesen ist und insofern über das jedermann verfügbare Alltagswissen hinausgeht, ferner die Tätigkeit, die das wissenschaftliche Wissen produziert. Wissenschaft heißt auch jede aus der Wissenschaft im genannten Sinne ausdifferenzierbare Teilpraxis, sofern diese durch einen bestimmten Phänomen- oder Problembereich definiert ist. Wissenschaft wird schon in der Antike als επιστημη und scientia von der bloßen Meinung ( δοξα , opinio) einerseits und der Kunstfertigkeit ( τεχνη , Techne, ars) andererseits unterschieden. Gegenüber dem unabgesicherten und häufig subjektiven Meinen steht das wissenschaftliche Wissen unter Begründungsanspruch, d. h., für seine Aussagen wird unterstellt, dass sie in jeder kompetent und rational geführten Argumentation Zustimmung finden können. (Kambartel 2004, S. 719) Was an dieser Definition auffällt, ist die Betonung der Begründung(spraxis) im Gegensatz zur experimentellen Überprüfung (Bestätigung oder Widerlegung) von Hypothesen oder Theorien, welche für die angelsächsische Tradition typisch ist. Dies ist verständlich und nachvollziehbar, denn es gibt, wie wir bereits mehrmals gesehen haben, Zweige der Wissenschaft, selbst der Naturwissenschaft, welche auf keine Experimente zur Überprüfung ihrer Aussagen zurückgreifen können. Große Teile der wissenschaftlichen Tätigkeit haben auch nichts mit Theoriebzw. Hypothesenbildung zu tun, sondern lediglich mit der Feststellung von Tatsachen. Es geht also um Fragen wie „ Welche Gene sind für die Verursachung von Brustkrebs verantwortlich? “ , „ Welche Neurotransmitter sind an der Signalübertragung von einer Nervenzelle auf die andere beteiligt? “ oder „ Wie verläuft die Migrationsroute einer arktischen Seeschwalbe? “ Die Beantwortung dieser Fragen ist anspruchsvoll 620 5 Was ist Wissenschaft? genug, um sie mit gutem Gewissen als wissenschaftliche Tätigkeit bezeichnen zu können. Die obige Definition legt nicht fest, auf welcher Art der Begründung sich die als wissenschaftlich bezeichnete Behauptungen stützen sollen. Der Artikel Wissen in der Enzyklopädie weist lediglich zurecht darauf hin, dass diese komplexe Frage den Gegenstand der Erkenntnistheorie bilde (Blasche 2004, S. 718). Die Rückführung der Wissenschaftlichkeit auf eine Begründungspraxis, und zwar eine solche, welche sicherstellt, dass die wissenschaftlichen Aussagen „ in jeder kompetent und rational geführten Argumentation Zustimmung finden können “ , ist jedoch aus zumindest zweifacher Sicht problematisch. Zum einen unterliegen bekanntlich z. B. auch Gerichtsurteile der Begründungspflicht. Also unterscheidet dieses Merkmal die Wissenschaft nicht von der Jurisprudenz, er ist zu schwach. Andererseits wissen wir, dass Gerichtsurteile auch in den „ westlichen Demokratien “ durchaus kontrovers sein können, dass sie also nicht (oder zumindest nicht immer) auf allgemeine Zustimmung zählen können. Dies ist aber durchaus auch in der Wissenschaft der Fall. Auch hier finden (manchmal sogar recht hitzige) Debatten statt und Meinungen liegen weit auseinander; „ allgemeine Zustimmung “ ist also nicht immer zu haben. Das Merkmal erweist sich daher auch als zu streng. Ein weiteres Merkmal der Wissenschaftlichkeit gemäß der obigen Definition ist der Bezug der wissenschaftlichen Tätigkeit auf den (meist) berufsmäßigen Charakter. Diese Bedingung ist aber offensichtlich zu schwach, denn nicht nur kann man berufsmäßig ein Lehrer oder Taxifahrer sein, man kann auch berufsmäßig auf eine bestimmte Begründungspraxis angewiesen sein (Richter, Anwalt), ohne dadurch schon ein Wissenschaftler zu werden. Man kann sogar berufsmäßig ein Verfechter der Kreationswissenschaft und geübt in einer bestimmten Begründungspraxis sein. Einen solchen Menschen wollen wir jedoch aus dem auserwählten Kreis der „ richtigen “ Wissenschaftler ausschließen. Schließlich bezeichnet die obige Definition Wissenschaft als eine „ Lebens- und Weltorientierung “ . Aber jede Weltanschauung, jede Religion ist auch „ Lebens- und Weltorientierung “ , die Definition ist also auch in diesem Punkt eindeutig zu schwach, um Wissenschaft zu bestimmen. Schon diese kurze Reflexion zeigt somit, dass die Definition der Wissenschaft der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie nicht der Wahrheit letzter Schluss in Bezug auf die Abgrenzung der Wissenschaft von Pseudowissenschaft sein kann. Ist Intelligent Design (ID) eine Wissenschaft? Ein weiterer Meilenstein im Verständnis des Wesens der Wissenschaft wurde 2005 im Prozess Kitzmiller v. Dover Area School District gelegt. In Oktober 2004 änderte der Dover Area School District im Bundesstaat Pennsylvania seinen Biologie-Lehrplan dahingehend, dass Intelligent Design (ID) als eine 5 Was ist Wissenschaft? 621 Alternative zur Evolutionstheorie im Klassenzimmer dargestellt werden sollte. Daraufhin haben elf Eltern und Schüler des Gymnasiums in Dover, repräsentiert durch die American Civil Liberties Union (ACLU), Americans United for Separation of Church and State (AU) und die Anwaltsfirma Pepper Hamilton LLP 422 den Area School District verklagt und die Aufhebung dieser Verordnung verlangt. Wie bereits im Arkansas-Prozess gegen die Kreationswissenschaft drehten sich auch die Verhandlungen in Dover großenteils zwar direkt um die Frage, ob ID eine wissenschaftliche Theorie oder eine Religion sei, aber mittelbar ging es auch um die Frage der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Nach der Anhörung zahlreicher Experten, unter denen sich auch anerkannte Wissenschaftler befanden, veröffentlichte der Richter John E. Jones III am 20. Dezember 2005 einen 139 Seiten langen Entscheid, welcher zugunsten der Kläger ausfiel. ID wurde als Religion eingestuft und folglich die Verordnung der Dover Area School District als Verletzung der Establishment Clause (Trennung von Staat und Religion) verurteilt. Es ist lehrreich, Jones ’ Argumentation unter die Lupe zu nehmen. Unten finden sich dazu leicht gekürzte Auszüge aus dem Urteil. Die Namen in Klammern beziehen sich auf die Gutachter im Prozess und Passagen aus ihrer Publikationen bzw. Stellungnahmen: After a searching review of the record and applicable caselaw, we find that while ID arguments may be true, a proposition on which the Court takes no position, ID is not science. We find that ID fails on three different levels, any one of which is sufficient to preclude a determination that ID is science. They are: (1) ID violates the centuries-old ground rules of science by invoking and permitting supernatural causation; (2) the argument of irreducible complexity, central to ID, employs the same flawed and illogical contrived dualism that doomed creation science in the 1980 ’ s; and (3) ID ’ s negative attacks on evolution have been refuted by the scientific community. As we will discuss in more detail below, it is additionally important to note that ID has failed to gain acceptance in the scientific community, it has not generated peer-reviewed publications, nor has it been the subject of testing and research. Expert testimony reveals that since the scientific revolution of the 16th and 17th centuries, science has been limited to the search for natural causes to explain natural phenomena. (9: 19 - 22 (Haught); 5: 25 - 29 (Pennock); 1: 62 (Miller)). This revolution entailed the rejection of the appeal to authority, and by extension, revelation, in favor of empirical evidence. (5: 28 (Pennock)). Since that time period, science has been a discipline in which testability, rather than any ecclesiastical authority or philosophical coherence, has been the measure of a scientific idea ’ s worth. (9: 21 - 22 (Haught); 1: 63 (Miller)). In deliberately omitting theological or „ ultimate “ explanations for the existence or characteristics of the natural world, science does not consider issues of „ meaning “ and „ purpose “ in the world. (9: 21 (Haught); 1: 64, 87 (Miller)). While supernatural explanations may be important and have merit, they are not part of science. (3: 103 (Miller); 9: 19 - 20 (Haught)). This self-imposed convention of science, which limits inquiry to testable, natural 422 Überdies trat das National Center for Science Education (NCSE) als Berater für die Kläger ein. 622 5 Was ist Wissenschaft? explanations about the natural world, is referred to by philosophers as „ methodological naturalism “ and is sometimes known as the scientific method. (5: 23, 29 - 30 (Pennock)). Methodological naturalism is a „ ground rule “ of science today which requires scientists to seek explanations in the world around us based upon what we can observe, test, replicate, and verify. (1: 59 - 64, 2: 41 - 43 (Miller); 5: 8, 23 - 30 (Pennock)). As the National Academy of Sciences (hereinafter „ NAS “ ) was recognized by experts for both parties as the „ most prestigious “ scientific association in this country, we will accordingly cite its opinion where appropriate. (1: 94, 160 - 61 (Miller); 14: 72 (Alters); 37: 31 (Minnich)). NAS is in agreement that science is limited to empirical, observable and ultimately testable data: „ Science is a particular way of knowing about the world. In science, explanations are restricted to those that can be inferred from the confirmable data - the results obtained through observations and experiments that can be substantiated by other scientists. Anything that can be observed or measured is amenable to scientific investigation. Explanations that cannot be based upon empirical evidence are not part of science. “ This rigorous attachment to „ natural “ explanations is an essential attribute to science by definition and by convention. (1: 63 (Miller); 5: 29 - 31 (Pennock)). We are in agreement with Plaintiffs ’ lead expert Dr. Miller, that from a practical perspective, attributing unsolved problems about nature to causes and forces that lie outside the natural world is a „ science stopper. “ (3: 14 - 15 (Miller)). As Dr. Miller explained, once you attribute a cause to an untestable supernatural force, a proposition that cannot be disproven, there is no reason to continue seeking natural explanations as we have our answer. 423 Was an diesem Urteil auffällt, ist der uns bereits vertraute Bezug auf die Bedingung der Testbarkeit oder Überprüfbarkeit bzw. Verifizierbarkeit, die, wie wir schon bei der Diskussion des Arkansas-Prozesses gesehen haben, einerseits zu schwach ist, andererseits zu streng, da die Geisteswissenschaften kaum empirisch überprüfbare Aussagen generieren. Ferner auffällig ist der Bezug auf Beobachtung und Experiment als die ausschließlichen Wissensgewinnungsmethoden der Wissenschaft, eine Bedingung, welche z. B. Geschichts- und Sprachwissenschaften aus dem Kreis der Wissenschaften ausschließt. Dasselbe gilt von der Bedingung der Replizierbarkeit. Sind wissenschaftliche Befunde nicht auf dem Wege der Beobachtung oder des Experimentes gewonnen, können sie streng genommen nicht repliziert, sondern lediglich nachvollzogen werden. Auf der anderen Seite sind Kochrezepte durchaus replizierbar, was ihnen aber keineswegs den Status der Wissenschaftlichkeit verleiht. Auch das Urteil von Richter Jones gibt daher eine veraltete und inadäquate Auffassung des Wesens der Wissenschaftlichkeit wieder. Es ist erstaunlich, wie beharrlich die diesbezüglichen Vorurteile trotz ihrer offensichtlichen Unzulänglichkeit sind. 423 Dieser Text ist dem entsprechenden Dokument ( „ Decision “ im Prozess „ Kitzmiller v. Dover Area School District “ ) entnommen, das auf Wikisource erhältlich ist. http: / / en. wikisource.org/ wiki/ Kitzmiller_v._Dover_Area_School_District/ 1: Introduction#Page_1_of_139 5 Was ist Wissenschaft? 623 Das Neue am Urteil von Richter Jones liegt in dem Hinweis auf den Mangel an selbstständigen Peer-Review-Publikationen der Verfechter des ID und auf die mangelnde Akzeptanz dieser Gedankenrichtung innerhalb der „ scientific community “ . Diese Überlegung trägt Spuren der Ideologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme von Lakatos: Ein Forschungsprogramm, das keine neuen Erkenntnisse generiert, muss als „ degenerativ “ und somit (vermutlich) unwissenschaftlich eingestuft werden. Aber auch dieses Kriterium birgt Gefahren. Vor einigen Jahren wurde berichtet, dass eine kreationistische Organisation, der evangelikale christliche Dienst „ Answers in Genesis “ , eine eigene kostenlose Online-Publikation startete, die ein Forum für Veröffentlichungen der interdisziplinären wissenschaftlichen und biblisch inspirierter Forschung zur Entstehung der Welt bieten wollte. Die redaktionelle Absichtserklärung, welche auf der Website der Zeitschrift erschien, macht deutlich, dass es um die Gründung einer wissenschaftlichen (pseudowissenschaftlichen? ) Gemeinschaft ging: Addressing the need to disseminate the vast fields of research conducted by creationist experts in theology, history, archaeology, anthropology, biology, geology, astronomy, and other disciplines of science, Answers Research Journal will provide scientists and students the results of cutting-edge research that demonstrates the validity of the young-earth model, the global Flood, the non-evolutionary origin of „ created kinds “ , and other evidences that are consistent with the biblical account of origins. Die Zeitschrift trägt den Titel Answers Research Journal (ARJ) und kann unter http: / / www.answersingenesis.org/ arj abgerufen werden. Ihr Editor-in-Chief ist Andrew Snelling, ein australischer Geologe mit einem PhD in Geologie von der University of Sydney (1982), der in der Explorations- und Bergbauindustrie in Tasmanien, New South Wales, Victoria, Western Australien und dem Northern Territory verschiedentlich als Feld-, Minen-, und Forschungsgeologe gearbeitet hat (Brumfiel 2008). Diese Gründung lässt aufhorchen. Es zeigt sich, dass es nicht schwierig ist, Peer-Review-Publikationen zu generieren, wenn man nur den Begriff des Peers großzügig genug fasst. Es gibt schließlich auch zahlreiche Peer-Review-Zeitschriften, die der qualitativen Forschung gewidmet sind, die bei der Mainstream-Wissenschaft grundsätzlich verpönt ist. Die von Jones ferner erwähnte mangelnde Akzeptanz innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft wiederum kann kaum als Argument gegen die Wissenschaftlichkeit einer neuen Disziplin angeführt werden. Schließlich litt bekanntlich u. a. die kopernikanische Weltanschauung Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte lang unter der „ mangelnden Akzeptanz “ der damaligen wissenschaftlichen Gemeinschaft. Es ist deshalb aus logischer Sicht überhaupt nicht auszuschließen, dass nach einer gewissen Zeit die ID-Bewegung als wissenschaftlich orthodox behandelt wird. Ein weiteres und wichtiges Novum in Jones ’ Urteil ist das unverblümte Bekenntnis der Wissenschaft zum „ methodologischen Naturalismus “ . Wie 624 5 Was ist Wissenschaft? wir gesehen haben, stellten die Experten der Kläger fest, dass sich die Wissenschaft seit der wissenschaftlichen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts auf die Suche nach den natürlichen Ursachen für natürliche Phänomene beschränkt. Zur Erinnerung: „ Methodological naturalism is a ‚ ground rule ‘ of science today which requires scientists to seek explanations in the world around us based upon what we can observe, test, replicate, and verify. “ Wir haben auch gesehen, dass nach Richter Jones diese Verpflichtung zur „ natürlichen Erklärung “ ein essentielles Merkmal der Wissenschaft „ by definition and by convention “ bildet. Die erste Hälfte dieser Behauptung ist eher überraschend. Denn in keiner der von uns bis jetzt betrachteten Definitionen der Wissenschaft sind wir auf eine explizite Verpflichtung zum „ Naturalismus “ oder „ methodologischen Naturalismus “ gestoßen. Es ist bemerkenswert, aber auch verständlich, dass Jones hier vom „ methodologischen “ und nicht vom „ ontologischen “ Naturalismus spricht. Denn einen ontologischen Naturalismus, d. h. eigentlich den Materialismus in Amerika behaupten zu wollen, wäre in Anbetracht der Tatsache, dass gemäß einer Befragung aus dem Jahre 2008 92 % der Amerikaner an Gott glauben, 424 ein äußerst heikles Unterfangen. Wenn man also den Materialismus auf die Methodologie der Forschung einschränkt ( „ die Suche ausschließlich nach natürlichen Ursachen für ausschließlich natürliche Phänomene “ ), kann man argumentieren, dass sich die Wissenschaft agnostisch in Bezug auf die „ letzten Wahrheiten “ verhalte, dass sie die Frage, ob es eine geistige Welt, Gott, Seele usw. gibt, absichtlich ausklammere und sich in ihrer Forschungsrichtung bewusst und absichtlich auf die natürliche Welt beschränke. Deshalb die Präambel: „ [W]e find that while ID arguments may be true, a proposition on which the Court takes no position . . . “ . Allerdings ist die Behauptung, dass der methodologische Naturalismus der (modernen) Wissenschaft seit ihrer Gründung im 15. oder 16. Jahrhundert eigen sei, durchaus strittig. Wir werden auf sie ausführlicher im nächsten Kapitel eingehen. Die zweite Hälfte der hier diskutierten Behauptung hingegen - die Feststellung, dass der methodologische Naturalismus ein essentielles Merkmal der Wissenschaft „ by convention “ bildet, gibt, wie mir scheint, tatsächlich adäquat das gängige Selbstverständnis der Wissenschaft wieder. Ob dieses wichtige Merkmal tatsächlich ein notwendiges Kriterium von Wissenschaft bildet, werden wir ebenfalls im nächsten Kapitel untersuchen. Vorläufig können wir aber festhalten, dass auch das Urteil im Prozess Kitzmiller v. Dover Area School District keineswegs vollständig befriedigende Kriterien für Wissenschaftlichkeit nennt. 424 Laut Befragung des renommierten Pew Forum „ U. S.Religious Landscape Survey. Religious Affiliation: Diverse and Dynamic “ . Erhältlich im Internet: religions.pewforum.org/ pdf/ report-religious-landscape-study-full.pdf 5 Was ist Wissenschaft? 625 Ein aktueller Versuch, Wissenschaft gegen Pseudowissenschaft abzugrenzen, und das Problem der Unterscheidung des Soll vom Ist Vor kurzem schrieb Martin Mahner (seit Mai 1999 Leiter des Zentrums für Wissenschaft und kritisches Denken der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften, sowie Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Giordano-Bruno-Stiftung, Schüler von Mario Bunge und Koautor des einflussreichen Werkes Über die Natur der Dinge [Bunge und Mahner 2004], das sich zum Ziel setzt, eine materialistische Ontologie der Wissenschaft zu begründen), die fast 90 Jahre der Suche nach einem einfachen Kriterium der Abgrenzung von Wissenschaft und Nichtwissenschaft resümierend Folgendes: The result of the preceding overview is clear: neither is there a single criterion such as falsifiability to demarcate science from nonscience, nor is there a generally accepted set of necessary and sufficient criteria to do this job. (Mahner 2007, S. 521) 425 Mahner betonte dennoch, dass die Unmöglichkeit, ein einfaches Demarkationskriterium zu finden, nicht bedeute, dass diese Unterscheidung unmöglich zu treffen sei. Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen erläutert er in Anlehnung an Bunge (Bunge 1983) eine recht komplexe Methode, diese Unterscheidung festzulegen. Er formuliert zwölf Kriterien, die eine Disziplin erfüllen muss, um als Wissenschaft zu gelten. 426 Eine Wissenschaft setzt voraus: 1) dass eine Forschungsgemeinschaft existiert, deren Mitglieder über eine entsprechende Ausbildung verfügen; 2) dass die Aktivitäten der Mitglieder dieser Gemeinschaft von der Gesellschaft unterstützt oder zumindest toleriert werden; 3) dass sich die Mitglieder der Forschungsgemeinschaft ausschließlich mit konkreten Entitäten (vergangenen, gegenwärtigen oder künftigen) beschäftigen; 4) dass sich ihre Arbeit auf eine Reihe von Annahmen ontologischer, epistemologischer, methodologischer, semantischer, axiologischer (z. B. Nichtwidersprüchlichkeit, Nichtzirkularität, Überprüfbarkeit usw.) und moralischer Art (z. B. kritisches Denken, Aufgeschlossenheit, Objektivität usw.) stützt; 5) dass die Forschergemeinschaft auf ein formales Fundament aktueller logischer und mathematischer Theorien aufbaut; 6) dass sie über spezifisches Hintergrundwissen verfügt, das aus der Menge aktueller und verhältnismäßig gut bestätigter Daten, Hypothesen, Theorien und Methoden besteht, die den angrenzenden Forschungsfeldern entlehnt sind; 425 Vgl. auch frühere ähnlich lautende Feststellungen zu diesem Thema von Michael Ruse: „ Es ist einfach unmöglich, eine einfache [neat] Definition, die die notwendigen und hinreichenden Eigenschaften spezifiziert, zu geben, die alle und nur solche Dinge aussondert, die jemals „ Wissenschaft “ genannt worden sind “ (Ruse 1998, S. 39, meine Übersetzung, MBM), und Martin Curd/ J. A. Cover: „ Versuche, Wissenschaft von Pseudowissenschaft zu trennen, sind merkwürdigerweise uneindeutig geblieben “ (Curd und Cover 1998 a, S. 77, meine Übersetzung, MBM). 426 Für die ausführliche Darstellung vgl. Mahner 2007, S. 525 - 536. 626 5 Was ist Wissenschaft? 7) dass die Forschergemeinschaft über eine spezifische Menge von Problemen verfügt, die zu lösen sind; 8) dass sie über einen Wissensfundus verfügt, der aus der wachsenden Zahl aktueller, überprüfbarer und gut bestätigter Wissenselemente (Daten, Hypothesen, Theorien) besteht; 9) dass die Forschungsziele der Forschergemeinschaft rein kognitiven (keinen praktischen) Charakter haben; 10) dass die Forschergemeinschaft über eine spezifische Methodologie, eine Ansammlung von empirischen Methoden verfügt, die von den Mitgliedern der Gemeinschaft benutzt werden; 11) dass zumindest ein anderes Forschungsfeld vorhanden ist, das die Elemente 4 bis 10 mit dem Forschungsfeld der Forschungsgemeinschaft teilt; 12) dass sich die Elemente 5 bis 10 fortschreitend ändern. Wissenschaft, Nichtwissenschaft, Pseudowissenschaft und zuverlässiges Wissen Diese gedrängte Aufzählung erweckt zunächst den Eindruck, dass wir es hier endlich mit einer kompetenten und zuverlässigen Methode, „ den Spreu vom Weizen zu trennen “ , zu tun haben. Dieser Eindruck trügt. Mahners Versuch weist eine Reihe von Schwächen auf, die den Anschein hinterlassen, dass auch sein Wort noch längst nicht das letzte in der langen Geschichte der Suche nach Abgrenzungskriterien sein wird. Es ist wiederum offensichtlich, dass Disziplinen wie Geschichte, Religionswissenschaft, Linguistik, Literaturwissenschaft usw. nicht alle oben aufgezählten Kriterien erfüllen. Die Theorien dieser Disziplinen sind kaum als nachprüfbar zu bezeichnen und die entsprechenden Forschergemeinschaften stützen sich nicht „ auf einen formalen Hintergrund aktueller logischer und mathematischer Theorien “ (vgl. Kriterium 5). Mahner diskutiert dieses Problem ausführlich. Da er auf Englisch schreibt, kann er diese offensichtliche Schwierigkeit verhältnismäßig leicht überwinden. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass es im englischen Sprachraum im Gegensatz zum deutschen üblich ist, den Begriff „ science “ nur für die Naturwissenschaften anzuwenden. Mahner bildet also den Begriff der „ Nichtwissenschaft “ , um die Naturwissenschaften von anderen (anerkannten) Wissenschaften zu trennen. „ Humanities “ bzw. Kulturwissenschaften gehören nach diesem Schema zu den „ Nichtwissenschaften “ (Nonsciences), wobei dieser Begriff keineswegs als Tadel aufgefasst werden solle, sondern lediglich dem erheblichen Unterschied hinsichtlich des Forschungsbereichs, der Methodologie und der grundlegenden philosophischen Annahmen zwischen den beiden Forschungsbereichen Rechnung trage (Mahner ebd., S. 544). Mahners Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft hat zumal eine praktische Folge, die in unserem Kontext äußerst wichtig ist. Sie vermeidet zwar die (unerwünschte) Ausgrenzung anerkannter wissenschaftlicher Disziplinen, aber diesen Gewinn bezahlt sie mit dem Preis, dass das ursprüngliche Problem einfach verschoben und zugleich verdoppelt 5 Was ist Wissenschaft? 627 wird. Denn diese Trennung macht es einerseits schwierig, die Grenzlinie zwischen den Wissenschaften und den „ guten “ Nichtwissenschaften auf der einen Seite und den „ bösen “ Nichtwissenschaften (den Pseudowissenschaften) auf der anderen Seite zu ziehen. Überdies muss man jetzt auch einen „ gemeinsamen Nenner “ für die Wissenschaften in dem obigen, engen Sinn (auf Deutsch: Naturwissenschaften) und den „ guten “ Nichtwissenschaften finden, denn die Vertreter der „ guten “ Nichtwissenschaften fühlen sich doch irgendwie „ im gleichen Boot “ mit den Vertretern der (Natur-)Wissenschaften und man ist verpflichtet, diese Gemeinsamkeit begreiflich zu machen. Mahner gibt zu, dass die Versuche, Demarkationskriterien zwischen den „ guten “ Nichtwissenschaften und den Pseudowissenschaften zu finden, ebenso fehlgeschlagen sind, wie die Versuche, einfache Kriterien der Wissenschaft festzulegen (Mahner ebd.). Er schlägt aber einen verhältnismäßig einfachen Weg vor, wie man die Trennung zwischen den guten und den schlechten Wissenschaften vollziehen und zugleich die Gemeinsamkeit zwischen den „ guten “ Nichtwissenschaften und den Wissenschaften erklären kann. Er meint, dass das Ziel sowohl der Wissenschaften als auch der „ guten “ Nichtwissenschaften in der Hervorbringung zuverlässigen Wissens (reliable knowledge) bestehe und dass die Pseudowissenschaften bloß „ vermeintliches Wissen “ (illusory knowledge) erzeugten (ebd.). Proto- und Parawissenschaften Mahners Kriterien der Wissenschaftlichkeit sind überdies ahistorisch. Sie lassen sich nur auf die „ reifen “ Wissenschaften unserer Gegenwart anwenden und werden sicher nicht von den „ real existierenden “ Wissenschaften nach der wissenschaftlichen Revolution vom Anfang des 17. Jahrhunderts, ja nicht einmal von den immer noch in der Entwicklung befindlichen Wissenschaften in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfüllt. 427 Insbesondere das erste von Mahners Kriterien (dass eine Forschungsgemeinschaft existiert, deren Mitglieder über eine entsprechende Ausbildung verfügen) ist nur auf die heutige reife, gesellschaftlich getragene Wissenschaft anwendbar. Ich habe bereits darauf aufmerksam gemacht, dass in ihren früheren Stadien Wissenschaft ein Anliegen von Einzelnen war, man könnte sogar sagen: von Einzelgängern, die über keine besondere fachliche Ausbildung (außer dem allgemeinen Studium) verfügten. Mahner trägt diesem Umstand Rechnung, indem er den Begriff der „ Protowissenschaft “ (protoscience) einführt (ebd., S. 543), d. h. einer Disziplin, von welcher man die Erwartung hat, dass sie sich zu einer „ eigentlichen “ Wissenschaft wird entwickeln können, wenn sie ihre nichtwissenschaftlichen oder sogar pseudowissenschaftlichen Wurzeln ausmerzt. Im Weiteren weist Mahner darauf hin, dass es Bewegungen wie Esoterik, 427 So existierten z. B. noch im frühen 19. Jahrhundert kaum gesellschaftlich sanktionierte wissenschaftliche Forschungsgemeinschaften. Die Forschung war völlig unabhängig von den sozialen Institutionen und den staatlichen Geldgebern. 628 5 Was ist Wissenschaft? Okkultismus, New Age usw. gebe, die zwar auf die Erzeugung von Wissen ausgerichtet sein können, die aber nicht den Anspruch erheben, wissenschaftlich zu sein. „ [T]hey reject the scientific approach to knowledge in favor of various ‚ alternative ways of knowing ‘ . “ Sie „ lehnen den wissenschaftlichen Zugang zum Wissen ab zugunsten von verschiedenen „ alternativen Weisen des Wissenserzeugung “ (ebd., S. 548). Mahner schlägt vor, diese Bestrebungen als „ Parawissenschaften “ (oder „ Parahumanities “ ) zu bezeichnen, ordnet sie (selbstverständlich) dem Bereich der Nichtwissenschaften zu, wobei er sie in der Güterhierarchie unter den Pseudowissenschaften ansiedelt, was verdeutlichen soll, dass die „ Parawissenschaften “ in seinen Augen noch weniger wissenschaftlich, also noch schlechter als die Pseudowissenschaften sind. Mahner und das Hume ’ sche Gesetz Die Anerkennung der Tatsache der Verwandlung, Metamorphose, Evolution innerhalb der Wissenschaft durch Mahner lenkt das Augenmerk auf eine ernste philosophische Schwierigkeit, in die sich Mahners Methode, Wissenschaft von der Nichtwissenschaft und von der Pseudowissenschaft zu trennen, verwickelt. Es ist offensichtlich, dass seine komplexe Aufzählung der Kriterien der Wissenschaftlichkeit einen deskriptiven Charakter hat: Sie ist ein Versuch, wiederzugeben, was man heute unter (Natur-)Wissenschaft versteht. Seine Aufzählung erhebt jedoch den Anspruch, normativ zu sein, d. h. vorzuschreiben, welche Bedingungen eine Disziplin erfüllen muss, um als wissenschaftlich gelten zu dürfen. Beim Übergang vom Beschreiben zum Vorschreiben verletzt Mahner jedoch das wohlbekannte Hume ’ sche Gesetz (Sein-Sollen-Dichotomie), das untersagt, von einer Menge deskriptiver Aussagen logisch auf normative oder präskriptive Aussagen zu schließen. Zunächst mag Mahners Aufzählung als eine neutrale Charakterisierung bzw. Beschreibung erscheinen, als beschreibe er nur die Eigenschaften der Wissenschaft, um sie von der Nichtwissenschaft unterscheiden zu können, so wie man z. B. die Eigenschaften eines Tisches beschreibt, um ihn von dem Stuhl unterscheiden zu können. Dies ist völlig legitim. Man darf selbstverständlich auch sagen, dass ein Gegenstand, der gewisse Kriterien nicht erfüllt, nicht als Tisch, sondern als Stuhl zu beschreiben ist. Es gibt nichts Normatives an einer solchen Unterscheidung. Im Gegensatz zur Unterscheidung zwischen dem Tisch und dem Stuhl, die keineswegs einen wertenden Charakter hat 428 , hat Mahners Unterscheidung jedoch normativen Charakter: Seine Wissenschaften sind eindeutig als „ besser “ als die Nichtwissenschaften bzw. Pseudo- oder Parawissenschaften einzustufen, was weitgehende gesellschaftlichen Folgen hat: Anerkennung, Prestige, Finanzierung usw. auf der einen Seite, der Entzug derselben auf der anderen. Mahner ist sich dieses Problems durchaus bewusst. Er schreibt: 428 Niemand wird behaupten wollen, dass ein Tisch besser als ein Stuhl sei, oder umgekehrt. 5 Was ist Wissenschaft? 629 Calling some theory, approach or entire epistemic field parascientific is a strong and damning verdict. For this reason we must be quite careful in our judgement, which ought to be based on a diligent examination of the suspected theory or field. (Ebd., S. 567) Der normative Charakter seiner Unterscheidung kommt spätestens hier deutlich zum Vorschein und mit ihm das Problem der Verletzung des Hume ’ schen Gesetzes. Denn will man eine normative Feststellungen machen, kann man sich nicht mit bloßen Beschreibungen begnügen. Man schuldet eine Feststellung der Gründe, warum eine Disziplin gewisse Eigenschaften aufweisen soll, um als „ besser “ (als andere) gelten zu können. Die Angabe solcher Gründe fehlt aber bei Mahner vollständig. Die Tatsache allein, dass eine Disziplin anders als die anerkannte akademische Wissenschaft ist, ist an sich nicht ausreichend, um sie im gesellschaftlichen Wettbewerb schlechter als diese zu behandeln (Forschungsgelder nicht zuzusprechen, Ausbildungen nicht anzuerkennen usw.). Vielmehr müsste man zeigen können, dass die betreffende Disziplin z. B. gesellschaftlich schädlich ist, so dass eine Diskriminierung berechtigt ist. 429 Das Problem der wissenschaftlichen materialistischen Soll-Metaphysik Die Verletzung des Hume ’ schen Gesetzes oder der unberechtigte Übergang von der (neutralen) Beschreibung zur (wertenden) Forderung wird besonders schwerwiegend, wenn man Mahners Aufzählung der ontologischen Bedingungen der Wissenschaftlichkeit betrachtet. Unter den ontologischen Annahmen der Wissenschaft listet Mahner an zweiter Stelle (nach dem ontologischen Realismus, also der Überzeugung, dass es eine vom menschlichen Geist unabhängige Welt gibt) den „ ontologischen Naturalismus “ auf. Er besagt, dass „ the inhabitants of the real world are exclusively natural as opposed to supernatural “ (Mahner ebd., S. 528). Da gemäß Mahner Wissenschaft die „ reale Welt “ der konkreten Entitäten untersucht, 430 und diese ausschließlich aus „ natürlichen Entitäten “ besteht, folgt zwingend, dass es in der Wissenschaft keinen Platz für die Untersuchung von „ übernatürlichen Entitäten “ gibt. An dieser Stelle vollzieht Mahner einen weiteren Schritt auf dem Weg, 429 In der letzten Zeit sind erfreulicherweise Zeichen einer größeren Toleranz gegenüber den „ Pseudo- “ oder „ Parawissenschaften “ seitens der etablierten Naturwissenschaft zu erkennen. So mehren sich z. B. Berichte über neurologische Untersuchungen der Effekte verschiedener Meditationsformen. In der Ausgabe vom 22. Dezember 2011 veröffentlichte die angesehene wissenschaftliche Zeitschrift Nature ein umfangreiches Supplement, das sich der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) widmete (S. 81 - 103). Der Ton der Berichte war durchaus positiv. Man kann seitens der Wissenschaft inzwischen offenbar anerkennen, dass an TCM etwas „ dran “ ist, obschon der theoretische Hintergrund der TCM aus der Sicht der Naturwissenschaft völlig märchenhaft ist. 430 Vgl. Mahners drittes Kriterium der Wissenschaft: Die Mitglieder der Forschungsgemeinschaft beschäftigen sich ausschließlich mit konkreten Entitäten (vergangenen, gegenwärtigen, oder künftigen). 630 5 Was ist Wissenschaft? den bereits das oben diskutierte Urteil von Richter Jones eingeschlagen hat. Während Jones noch von „ naturalistischer Methodologie “ sprach, somit zumindest theoretisch die Frage offenließ, ob die Welt tatsächlich bloß aus „ natürlichen Entitäten “ besteht, spricht Mahner dezidiert von ontologischem Naturalismus. Er geht also davon aus, dass die Wissenschaft auf der Annahme basiert, dass die Welt, das Universum, die Wirklichkeit nur materielle Wirklichkeit ist. Mahners „ Naturalismus- “ bzw. „ Materialismuskriterium “ 431 deckt sich somit ganz gut mit dem gegenwärtigen Selbstverständnis der Wissenschaft. Immer wieder liest man in den wissenschaftlichen Zeitschriften, dass in einer bestimmten Untersuchung eine „ mechanistische Erklärung “ der beobachteten Phänomene angestrebt werde. Einige Wissenschaftler räumen die materialistische Ausrichtung der Wissenschaft auch ausdrücklich ein. So stellte z. B. Sean Carroll, Physiker am California Institute of Technology in Pasadena, vor kurzer Zeit in Nature fest: „ The act of doing science means that you accept a purely material explanation of the Universe, that no spiritual dimension is required “ (Waldrop 2011, S. 325). Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Naturwissenschaft reicht jedoch, um sich zu vergewissern, dass das Bekenntnis zum Materialismus lange Zeit schlichtweg keine Bedingung der wissenschaftlichen Tätigkeit bildete. 432 Die große Mehrheit der Wissenschaftler war bis zum späten 19. Jahrhundert selbstverständlich (religiös) gläubig und erst die Darwin ’ sche Revolution brachte es mit sich, dass sich die Proportionen zu Ungunsten der nichtmaterialistisch gesinnten Wissenschaftler umkehrten. Aber auch heute geben mehr als 50 % der Wissenschaftler in den USA an, dass sie an Gott oder „ einen universellen Geist oder eine höhere Macht “ glauben, 433 einige beteuern sogar explizit, dass man den Glauben an Gott mit der wissenschaftlichen Tätigkeit durchaus vereinbaren kann. 434 Man könnte dagegen argumentieren, dass die privaten Überzeugungen der Wissenschaftler für ihre wissenschaftliche Tätigkeit irrelevant seien. Sie können privat glauben, was sie wollen, sie sind jedoch verpflichtet, sich in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit an die Grenzen der „ realen “ (sprich: materiellen) Welt zu halten. Das Problem bei dieser Haltung ist, wie wir bereits gesehen haben, 431 Gegenwärtig wird generell ungern von „ Materialismus “ der Wissenschaft gesprochen, man bevorzugt den Begriff des „ Naturalismus “ . Wir werden auf dieses Problem im nächsten Kapitel ( „ Einzug des Materialismus in die Wissenschaft “ ) ausführlicher eingehen. Ich erlaube mir, entgegen der herrschenden Konvention in diesem Zusammenhang doch von „ Materialismus “ zu sprechen. 432 Mehr darüber im nächsten Kapitel. 433 Pew Forum Poll: Scientists and Belief 5th November, 2009: http: / / www.pewforum.org/ 2009/ 11/ 05/ scientists-and-belief/ 434 Prominente Beispiele sind: Henry F. Schaffer (2003), Francis S. Collins (2006), und Mario Beauregard (2008). Mehr darüber im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ . 5 Was ist Wissenschaft? 631 dass das Paradebeispiel der modernen Wissenschaftlichkeit, die Quantenphysik, ein Weltbild nahezulegen scheint, das mit der materialistischen, deterministischen Metaphysik nicht vereinbar ist. 435 Gerade in diesem Punkt ist also die Verletzung des Hume ’ schen Gesetzes durch Mahners Kriterien besonders gravierend. Obschon es zweifelsohne stimmt, dass die heutigen Wissenschaftler vor dem Hintergrund materialistischer Annahmen arbeiten, es ist aus philosophischer Sicht völlig unbegründet, diese kontingente Tatsache zu einer normativen Bedingung der Wissenschaftlichkeit zu erheben, 436 umso weniger, als der Materialismus keine wissenschaftliche Theorie ist, sondern eine bloße Annahme, also letztlich nichts anderes als ein Glaubensartikel. Die Wissenschaftler wissen das (oder vermuten es zumindest) und scheuen sich zuzugeben, dass ihr vermeintlich streng rationales Bestreben eigentlich auf einem Glauben fußt. Deshalb spricht man gerne vom „ Naturalismus “ anstelle von „ Materialismus “ und von „ mechanistischen “ statt von „ materialistischen “ Erklärungen. Dieser Wortgebrauch kaschiert die Wirklichkeit: Während der Begriff „ Materialismus “ sofort offenbart, dass es sich hier um eine Philosophie, Ideologie, Metaphysik und nicht um eine wissenschaftliche Hypothese bzw. Theorie handelt, erweckt das Wort „ Naturalismus “ den Anschein, dass sich die dahinter verbergende Position im Einklang mit der Natur steht und „ natürlich “ ist. Die Wissenschaft kann es nicht zulassen, dass sich ihr Konflikt mit Richtungen wie z. B. Kreationismus, Intelligent Design oder Anthroposophie im Grunde als Glaubenskrieg herausstellt. Denn jemanden aufgrund seines Glaubens zu diskriminieren, ist, wie allgemein bekannt, in modernen westlichen Demokratien verboten und strafbar. Die Wissenschaftler können deshalb kaum zugeben, dass sie eigentlich aus religiösen Gründen (ihr Glaube an die Allmacht der Materie) darauf bestehen, dass die Gesellschaft ihre Unterstützung „ Andersgläubigen “ entzieht. Lässt man aber die Existenz einer geistigen Welt zu, muss man auch die Frage zulassen, ob diese Welt der menschlichen Erkenntnis zugänglich ist. Es gibt keine A-priori-Gründe 437 , weshalb diese Frage negativ zu beantworten wäre. Wenn man bereit ist, sie bejahend zu beantworten, stellt sich die weitere Frage, ob diese Welt wissenschaftlich erforschbar ist. Dieser Frage werde ich mich im Kapitel „ Übersinn- 435 So stellen z. B. die Autoren des Potsdamer Manifestes 2005, unter ihnen der bekannte deutsche Physiker Hans-Peter Dürr, fest: „ Die Einsichten der modernen Physik, der ‚ Quantenphysik ‘ , legen eine Weltdeutung nahe, die grundsätzlich aus dem materialistisch-mechanischen Weltbild herausführt “ (Dürr et al. 2005, S. 14; vergleiche den entsprechenden Abschnitt im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ ). 436 Mahner gibt bezeichnenderweise auch keine Begründung für diese Bedingung der Wissenschaftlichkeit an. 437 Abgesehen von kantischen bzw. neukantianischen Argumenten, die in der heutigen Wissenschaft keine Beachtung finden. 632 5 Was ist Wissenschaft? liche Erkenntnismethoden der Imagination, Inspiration und Intuition und die Frage nach der Objektivität ihrer Forschungsresultate “ widmen. Philosophy of Pseudoscience. Reconsidering the Demarcation Problem 2013 wird die Debatte um das Kriterium der Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft in dem Sammelband Philosophy of Pseudoscience. Reconsidering the Demarcation Problem wieder aufgegriffen. Die Herausgeber sind Massimo Pigliucci, Professor für Philosophie an der City University of New York, und Maarten Boudry, der eine Postdoktorandenstelle an der Universität Gent innehat (Pigliucci und Boudry 2013). Pigliucci hält Laudan entgegen, dass das Demarkationsproblem alles andere als ein Pseudoproblem sei, denn sowohl Wissenschaft als auch Pseudowissenschaft spielen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft: Those phrases [ „ pseudo-science “ , „ unscientific “ ] are rich in meaning and consequences precisely because both science and pseudoscience play important roles in the dealings of modern society. And it is high time that philosophers get their hands dirty and join the fray to make their own distinctive contributions to the allimportant - sometimes even vital - distinction between sense and nonsense. (Pigliucci 2013, S. 26) Die Herausgeber des Bandes haben ihre Einstellung zur Frage der Demarkation in einem 2013 in den New York Times erschienenen Artikel auch dem breiten Publikum bekannt gemacht. Darin heißt es: Philosophers of science have been preoccupied for a while with what they call the „ demarcation problem “ , the issue of what separates good science from bad science and pseudoscience (and everything in between). The problem is relevant for at least three reasons. The first is philosophical: Demarcation is crucial to our pursuit of knowledge; its issues go to the core of debates on epistemology and of the nature of truth and discovery. The second reason is civic: our society spends billions of tax dollars on scientific research, so it is important that we also have a good grasp of what constitutes money well spent in this regard. Should the National Institutes of Health finance research on „ alternative medicine “ ? Should the Department of Defense fund studies on telepathy? Third, as an ethical matter, pseudoscience is not - contrary to popular belief - merely a harmless pastime of the gullible; it often threatens people ’ s welfare, sometimes fatally so. For instance, millions of people worldwide have died of AIDS because they (or, in some cases, their governments) refuse to accept basic scientific findings about the disease, entrusting their fates to folk remedies and snake oil therapies. Die Autoren schließen mit der Feststellung: The borderlines between genuine science and pseudoscience may be fuzzy, but this should be even more of a call for careful distinctions, based on systematic facts and sound reasoning. (Pigliucci und Boudry 2013 a) 5 Was ist Wissenschaft? 633 Es ist unmöglich, im Rahmen dieses Kapitels ein über 450 Seiten starkes Werk ausführlich zu besprechen. Dies ist aber auch nicht nötig, denn einerseits greift es Themen auf, die wir bereits behandelt haben (siehe z. B. das Kapitel von Mahner „ Science and Pseudoscience. How to Demarcate after the (Alleged) Demise of the Demarcation Problem “ , S. 29 - 43, in dem er in geraffter Form seine oben ausführlich diskutierte Position darstellt), andererseits beschäftigt es sich mit Themen, die nur indirekt mit dem Demarkationsproblem zu tun haben. 438 Im gegenwärtigen Kontext relevant ist jedoch der 4. Teil des Werkes, „ Science and the Supernatural “ , und insbesondere sind es die Argumente von Fales gegen die Möglichkeit einer Wissenschaft des Übersinnlichen. Fales stellt zunächst fest, dass es durchaus nicht einfach sei, die Provinz des „ Natürlichen “ von der des „ Übernatürlichen “ ( „ supernatural “ ) abzugrenzen (Fales 2013, S. 248f.). Denn wenn man unter dem „ Natürlichen “ alles, was materiell ist, verstehe, und unter dem Materiellen die Gesamtheit aller Manifestationen der Materie einschließlich Energien und Feldern und ihrer Eigenschaften, dann werde man mit drei Schwierigkeiten konfrontiert. Erstens räumt man die Möglichkeit ein, dass es materielle Universen gibt, die kausal von unserem Universum völlig isoliert sind. Daraus folgt, dass wir sie nicht wissenschaftlich untersuchen können, was wiederum bedeutet, dass „ materiell zu sein “ keine hinreichende Bedingung für die Möglichkeit ist, ein bestimmtes Objekt wissenschaftlich zu untersuchen. Zweitens ist der Status des menschlichen Geistes ( „ mind “ ) umstritten. Es gebe zwar Philosophen, die die Existenz solcher Entitäten grundsätzlich negieren, eine Haltung, die Fales ablehnt. Er meint sogar, dass es unklug wäre, darauf zu beharren, dass der Geist des Menschen ( „ mind “ ) zwingend materiell sein müsse, und schlägt vor, den Naturalismus als eine Position zu verstehen, die lediglich die Existenz nicht verkörperter ( „ disembodied “ ) Geister ( „ minds “ ) ablehnt. Drittens stellen auch abstrakte Entitäten wie Zahlen, Begriffe, Propositionen usw. eine Schwierigkeit für den Naturalismus dar, insofern er sich ausschließlich auf die Existenz von materiellen Entitäten (im obigen Sinne) beschränken will. Fales meint, dass der Naturalist bereit sein sollte, die Existenz abstrakter Entitäten zuzulassen. Er formuliert dann sein Verständnis des ontologischen und methodologischen Naturalismus folgendermaßen: Take ontological naturalism to be just the minimal thesis that there are no disembodied minds, and methodological naturalism to be the thesis that science should eschew appeal to such minds by way of explaining the “ empirical data ” - both what we experience by means of our senses and what John Locke called “ reflections ” - that is, by means of introspection. (Ebd., S. 249) 438 Teil II: History and Sociology of Pseudoscience, Teil III: The Borderlands Between Science and Pseudoscience, Teil V: True Believers and Their Tactics, welche die Argumentation der Befürworter der unorthodoxen Wissenschaft darstellt, und schließlich Teil VI: The Cognitive Roots of Pseudoscience. 634 5 Was ist Wissenschaft? Im weiteren Verlauf seines Aufsatzes betrachtet Fales drei seiner Meinung nach schlechte Argumente gegen den Supernaturalismus. Zum ersten handelt es sich um die (thetische) Behauptung, dass entkörperte Geister ( „ disembodied minds “ ) und ihre Wirkungen aus der wissenschaftlichen Untersuchung ausgeschlossen werden sollten (ebd., S. 251). Was aber, wenn solche Entitäten existieren und Auswirkungen in unserer Erfahrungswelt haben? In diesem Falle sollten sie wissenschaftlich untersucht werden können, meint Fales, wobei er darauf hinweist, dass dies (möglicherweise) bereits geschehen ist, denn es wurde schon ziemlich viel Energie in die Erforschung von sog. paranormalen Phänomenen investiert und zumindest einige Forscher behaupten, dass solche Phänomene eben mit entkörperten Geistern ( „ disembodied minds “ ) zu tun haben. 439 Dieselbe Meinung vertrat zuvor bereits Boundry in seinem Beitrag. Er schrieb: „ [I]f supernatural forces were operating in the natural world, producing tangible effects, as many theists maintain, nothing would prevent scientists from empirically investigating those “ (Boudry 2013, S. 85). Boudry ist ferner der Ansicht, dass die Versuche, Wissenschaft von Pseudowissenschaft allein aufgrund der zulässigen Forschungsgegenstände anstatt argumentativer Kriterien abzugrenzen, was er als „ territorial demarcation “ bezeichnet, nicht überzeugend seien und den Beigeschmack von Willkür hätten. Als Beispiel einer solchen territorialen Abgrenzung nennt Boudry die diesbezügliche Formulierung aus der offiziellen Informationsbroschüre der amerikanischen National Academy of Science aus dem Jahr 1998. Diese stellt eben bloß thetisch fest: [B]ecause science is limited to explaining the natural world by means of natural processes, it cannot use supernatural causation in its explanations. Similarly, science is precluded from making statements about supernatural forces because these are outside its provenance. (Zitiert in Boudry, ebd., S. 84) Kehren wir jedoch zu Fales ’ Ausführungen zurück. Als ein weiteres schwaches Argument gegen den Supernaturalismus nennt Fales die Behauptung, dass nach den Vorstellungen einiger Theisten Gott unberechenbar sei (insofern er z. B. Wunder produziere) und folglich seine Existenz und Wirkung wissenschaftliche Untersuchung verunmöglichen würde (Fales ebd., S. 252). Darauf erwidert Fales, dass erstens die Welt offensichtlich nicht so unberechenbar sei, dass ihre Untersuchung unmöglich wäre, und dass zweitens die ganz orthodoxe Wissenschaft voll von Einflüssen und Wirkungen sei, welche die zuverlässige und genaue Messung und das Experimentieren schwierig machen würden. Ein drittes Argument beruft sich auf die Behauptung, dass Gott die materielle Welt transzendiere, dass er weder im Raum noch (möglicherweise) in der Zeit existiere. Daraus schließen einige Befürworter des Naturalismus, dass Wissenschaftler unmöglich ein solches Wesen beobachten und/ oder messen können, dass er sich also der wissenschaftli- 439 Mehr über die wissenschaftliche Untersuchung solcher Phänomene im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ . 5 Was ist Wissenschaft? 635 chen Forschung prinzipiell entziehe. Darauf erwidert Fales, dass die Entwicklung der Wissenschaft uns bereits gezwungen hat, unsere naive Vorstellungen vom Charakter kausaler Prozesse radikal zu revidieren. Wir akzeptieren heute bereitwillig die Wirklichkeit von Fernwirkung und Quantenprozessen, warum sollten wir uns dann weigern, übernatürliche Ursachen außerhalb der raumzeitlichen Ordnung anzunehmen? (Fales ebd., S. 255). Im letzten Abschnitt seines Aufsatzes gibt Fales eine Antwort auf genau diese Frage, eine Antwort, die seiner Meinung nach ein gutes und entscheidendes Argument gegen den Supernaturalismus liefert. Die Notwendigkeit der Ausschließung von nichtmateriellen Ursachen aus der natürlichen Welt wird oft auf das Prinzip der kausalen Geschlossenheit des Universums gestützt. Dieses besagt in seiner stärkeren Form, dass kein physisches Ereignis eine Ursache außerhalb des physischen Reiches habe (vgl. Kim 1993, S. 280), oder anders formuliert: „ If a physical event has a cause at t, then it has a physical cause at t “ (Kim 2005, S. 15). Die schwächere Form hingegen besagt lediglich, dass jedes physische Ereignis physische Ursachen habe (Montero 2003, S. 173ff.). Fales schlägt in seiner Argumentation nun nicht diesen Weg ein, da er sich auf eine metaphysische Annahme stützt: Das Prinzip der kausalen Geschlossenheit des Universums ist im Grunde nichts anderes als eine vorwissenschaftliche Behauptung, die nicht bewiesen werden kann (Falkenburg 2012, S. 370ff.). Fales beruft sich stattdessen auf das dritte Gesetz der Newton ’ schen Mechanik, das besagt: Wenn ein Körper A auf einen anderen Körper B eine Kraft ausübt, wirkt eine gleich große, aber entgegengerichtete Kraft von Körper B auf Körper A. Daraus lässt sich ableiten, dass die Vektorsumme der zwischen zwei Körpern wirksamen Kräfte oder die gesamte Veränderung des Impulses des Systems (dieser zwei, oder auch einer beliebigen Anzahl der Körper) null betragen muss: δ p T / δ t = 0. Dieses Gesetz werde durch immaterielle Entitäten verletzt, meint Fales (ebd., 257). Denn wenn ein materieller Körper von einer immateriellen Entität angestoßen wird, muss der materielle Körper auf diese Entität zurückwirken. Der einzige Ausweg, der den Immaterialisten offenbleibt, sei zu behaupten, dass eine immaterielle Entität, z. B. Gott, das Verhalten der materiellen Körper beeinflusse, ohne irgendwelche Kraft auszuüben (ebd., 258). Dies sei aber unmöglich, denn jegliche Veränderung des Zustands eines physischen Körpers bedeutet eine Veränderung seiner Bewegung. Diese aber gibt das zweite Newton ’ sche Gesetz an: F = ma, das wiederum impliziere, dass eine Kraft F wirksam war, um die gegebene Bewegung zustande zu bringen. Aus diesen Überlegungen schließt Fales: In short, we may conclude that if not even God can violate the laws of nature, then he cannot influence the world in any way that involves pushing matter around. And unless there are other measurable changes that God can effect, this, in turn, provides a decisive reason to exclude divine influence from the sphere of scientific 636 5 Was ist Wissenschaft? explanation - indeed, from the sphere of explanation of anything at all in the physical world. (Ebd., 258) Am Ende seines Aufsatzes bietet Fales noch zwei weitere Gründe an, die den Ausschluss immaterieller Entitäten aus der wissenschaftlichen Erklärung stützen sollen. Erstens zeichneten sich übernatürliche Erklärungshypothesen im Gegensatz zu wissenschaftlichen Erklärungsmustern typischerweise durch ihre Allgemeinheit, durch Mangel an Erklärungsdetails aus (ebd., S. 258f.). Man könne sie ein wenig übertrieben folgendermaßen zusammenfassen: „ God did it, and his ways are mysterious. “ 440 Und zweitens sprächen für den Ausschluss übernatürlicher Erklärungen zur Schließung der noch vorhandenen Lücken bei der Deutung von Naturphänomenen induktive Überlegungen: Die Geschichte der Wissenschaft sei eine lange Reihe von Verdrängungen übernatürlicher Erklärungen durch natürliche, das Umgekehrte jedoch, die Verdrängung einer natürlichen Erklärung durch eine übernatürliche, sei noch nie vorgekommen (ebd., S. 259). Was sollen wir von Fales ’ Argumentationsstrategie halten? Zunächst scheint sie plausibel zu sein, bei genauerem Hinschauen zeigen sich aber gravierende Mängel. Interessanterweise erwähnt Fales kurz eine mögliche Verteidigungsstrategie gegen seine Argumente und weist sie sofort zurück. Man könne behaupten, schreibt er, dass sich das Impulserhaltungsgesetz auf die physischen Objekte beschränke, nicht alle natürlichen Objekte gehören jedoch in diese Kategorie. Er weist diesen Einwand mit der Bemerkung ab, dass die Gegenkraft, welche von einem physischen Körper auf den auf sie wirkenden Körper ausgeübt werde, nicht von der Natur des wirkenden, sondern der des empfangenden Körpers abhänge. Der wirkende Körper könne sehr wohl ein immaterielles Objekt sein, aber auf was kann die Gegenkraft ausgeübt werden? Wie kann der Impuls erhalten bleiben? (ebd., S. 257f.). Fales ’ Denken ist klassisch physikalisch geprägt. Aber können wir wirklich alle in der Erfahrungswelt wahrnehmbaren Veränderungen in der Begrifflichkeit von Kraft und Gegenkraft und der Erhaltung des Impulses begreifen? Es sind z. B. zahlreiche Phänomene der Quantenphysik bekannt, die sich unter diese Begrifflichkeit offensichtlich nicht subsumieren lassen. Man muss hier nicht zu solchen exotischen Phänomenen wie die Quantenverschränkung greifen, es reicht, auf Quantensprung oder Teilchenzerfall mit Energieemission zu verweisen. Ich glaube aber, dass sich Beispiele von Wirkungen, die sich Fales ’ Erklärungsraster entziehen, nicht nur im Bereiche der physikalischen Esoterik, sondern auch - und zwar in Hülle und Fülle - unter ganz gewöhnlichen Phänomenen der alltäglichen Erfahrungswelt finden lassen. Denn kann man z. B. das Wachstum und die Ausdifferenzierung der Pflanzen, aber auch Tiere und Menschen wirklich in den Kategorien von Kraft und Gegenkraft begreiflich machen? Ergibt es Sinn, die Phänomene 440 Diese Formulierung stammt ursprünglich nicht von Fales, sondern von Boudry (Boudry 2013, S. 94). 5 Was ist Wissenschaft? 637 des Wachstums durch Stöße und Gegenstöße der Zellen oder der subzellulären Organellen innerhalb der Zellen oder schließlich der Proteine zu erklären? Stößt diese Erklärungsstrategie nicht auch hier auf ihre Grenzen? Oder kann man die Erkennung der Pathogene durch die Lymphozyten des Immunsystems oder das „ Andocken “ des Antigens an einen Rezeptor des Immunkörpers mit dieser Begrifflichkeit beschreiben? Ich meine, die Antwort auf diese Fragen muss negativ ausfallen. Ich glaube sogar, dass es noch alltäglichere Wirkungen gibt, welche sich der physikalischen Begrifflichkeit vollständig entziehen. Ich habe bereits im Kapitel „ Rätsel der Wissenschaft “ auf das Rätsel des Verstehens hingewiesen. Einen Text, den man liest, oder eine mündliche Aussage, die man hört, zu verstehen ist offensichtlich eine gewisse Wirkung. Wie kann man sie aber in der Begrifflichkeit von Kraft und Gegenkraft überhaupt erklärlich machen? Oder betrachten wir folgenden alltäglichen Vorgang: Eine Mutter sagt zu ihren Kindern: „ Kommt, das Essen ist fertig “ , und die Kinder kommen. Kann man die doch beträchtliche physische Veränderung, die die Folge dieser einfachen Äußerung ist, mit den Begriffen von Kraft (der Schallwellen) und Gegenkraft (z. B. des Trommelfells des Ohrs) erklären? Man kann vielleicht zunächst argumentieren, dass dies ohne weiteres möglich sei. Denn die Schallwellen wirken mechanisch auf das Trommelfell, dessen Bewegungen werden dann mechanisch über Hammer, Amboss und Steigbügel in die Gehörschnecke übertragen, wo sie die (mechanische) Bewegung der Innenohr-Flüssigkeit bewirken, die wiederum mechanisch die Bewegungen der Hörzellen verursacht, welche ihrerseits ihre mechanischen Bewegungen in Nervenimpulse (via die sog. Transduktion) umwandeln; und diese werden wiederum auf elektrischem Weg zum Hörkortex geleitet, wo sie weitere elektrische Impulse auslösen, die wiederum das Verhalten der Kinder auslösen. Dies kann man bekanntlich heute mit den sog. Cochleaimplantaten recht gut simulieren. Diese Erklärungsstrategie weist jedoch mindestens drei Schwachpunkte auf. Zum einen muss sie den Pfad einer rein mechanistischen verlassen und elektrische Phänomene einbeziehen, und diese vollziehen sich bekanntlich nicht mehr nach den mechanischen Gesetzmäßigkeiten von Kraft, Gegenkraft und Erhaltung des Impulses, sondern nach den Gesetzen der Elektrodynamik, gekoppelt mit denen der Chemie (synaptische Übertragung mittels chemischer Botenstoffe). Zum zweiten ist offensichtlich, dass die Wirkungskraft in unserem Beispiel (der Impuls der durch die Mutter erzeugten Schallwellen) in keinem Verhältnis zum mechanischen Effekt (der gesamten Impulsveränderung der Körper der Kinder, die zum Mittagessen kommen) steht. Der (mechanische) Effekt ist gegenüber der (mechanische) Ursache überproportional groß. Und diese Disproportionalität ist erklärungsbedürftig. Schließlich verschwindet drittens innerhalb dieser Erklärungsstrategie die Bedeutung der Aussage der Mutter als Wirkungsursache vollständig: Es ist egal, was sie sagt, Hauptsache, dass sie Schallwellen erzeugt. 638 5 Was ist Wissenschaft? Darauf könnte ein Anhänger des physikalischen Reduktionismus (oder Materialismus) erwidern, dass der Einwand unberechtigt sei, dass er den jeweils spezifischen Charakter der von der Mutter erzeugten Schallwellen ignoriere. Wenn die Mutter sagt „ Komm! “ , werden offensichtlich andere Schallwellen erzeugt, als wenn sie sagt „ Geh! “ , und die Bedeutung ihrer Aussage wird in diesen Unterschieden abgebildet. Schließlich haben wir jetzt Spracherkennungsprogramme entwickelt, die die Schallwellen sehr gut analysieren können und ohne den Umweg über die „ Bedeutung “ z. B. in geschriebene Texte oder auch bestimmte Vorgänge (z. B. Türöffnen oder -schließen und bald wahrscheinlich viel komplexere mechanische Vorgänge) umwandeln können. Mehr noch, da ich diese Worte schreibe, geht die Meldung durch die Welt, dass ein Computerprogramm zum ersten Mal in der Geschichte den Turing-Test bestanden hat (Mccoy 2014). Dies zeige, dass sich Computer sinnvoll mit Menschen unterhalten können, ohne dass sie irgendetwas „ verstehen “ (niemand will doch behaupten wollen, dass Computer menschliche Sprache verstehen können! ). Der Computer wurde programmiert, um gewisse - letztlich elektrische - Sequenzen in gewisse andere - graphische oder auch mechanische - Sequenzen umzuwandeln. Ist es also nicht möglich, dass unser Gehirn auch so ein entsprechend programmierter Computer ist? Die kleine Schwierigkeit, dass wir wissen, dass jenes Programm Eugene Goostman geschrieben hat, aber nicht, wer das „ Gehirnprogramm “ geschrieben haben sollte, lässt sich mit dem Hinweis umgehen, dass dieses von der „ weisen Evolution “ geschrieben worden ist, die dafür doch genügend Zeit gehabt habe. Auf die Frage, warum sie dieses Programm nicht für das Gehirn der Affen geschrieben hat, lässt sich wiederum erwidern, dass dies bloß eine zufällige Entwicklung in der grauen Vorzeit war, als sich die zwei Evolutionslinien voneinander abspalteten. Fände sich das Programm in Gehirnen von heutigen Affen und nicht in Gehirnen der heutigen Menschen, wären halt die Affen Menschen, und die Menschen Affen geworden. Diese Erklärungslinie hat wiederum mindestens zwei Schwachpunkte. Erstens zeigt der Umstand, dass man menschliches Verhalten mechanisch simulieren kann, nicht, dass das menschliche Verhalten nach gleichen Regeln und Gesetzmäßigkeiten wie das mechanische Verhalten abläuft. Die Tatsache, dass der automatische Pilot das Flugzeug durchaus erfolgreich starten und landen kann, beweist nicht, dass die Prozesse, welche im automatischen Piloten ablaufen, identisch mit den Prozessen sind, welche sich im menschlichen Piloten vollziehen. Analogie ist nicht Identität. Der zweite Schwachpunkt besteht darin, dass es bekanntlich möglich ist, einem Kind die Hälfte des Gehirns, in der das „ Sprachprogramm “ „ gespeichert “ ist, zu entfernen, und dennoch bleibt die Sprachfähigkeit bestehen, was äußerst rätselhaft ist. 441 Die Erklärung, dass die andere Gehirnhälfte das „ Programm “ übernommen 441 S. oben, Exkurs „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ . 5 Was ist Wissenschaft? 639 habe, ist - wie oben dargelegt - unbefriedigend, denn es ist nicht ersichtlich, was sie dazu veranlasst haben könnte. Ein Computer, dem das Programm entfernt wurde, ersetzt dieses Programm bekanntlich nicht. Man könnte ihn zwar ohne weiteres so programmieren, dass er imstande wäre, es zu tun, wenn er Zugang zum entsprechenden Programm hätte, z. B. in der Cloud, aber wo ist die Cloud des Gehirns? Wir haben in unserem Beispiel bis jetzt nur die Reaktion auf die Aufforderung der Mutter, zum Mittagessen zu kommen, betrachtet. Noch rätselhafter ist aber die Aktionsseite. Woher kommt der Mutter die Idee „ in den Sinn “ , die Kinder zum Mittagessen zu rufen? Man könnte meinen, diese Idee sei die (automatische) Reaktion des Gehirns auf den Anblick des gedeckten Mittagstisches. So ganz automatisch kann diese Reaktion zwar nicht sein, denn bekanntlich kann der Tisch gedeckt sein und dennoch ruft die Mutter die Kinder nicht herbei. Aber wenn man gewisse zusätzliche Umstände berücksichtigt, so kann plausibel behauptet werden, dass der „ Gehirncomputer “ so programmiert sei, dass er in dieser konkreten Situation die fragliche Äußerung veranlasst. Was hat aber die Mutter dazu veranlasst, das Mittagessen vorzubereiten? Wahrscheinlich wird man innerhalb der reduktionistischen Erklärungsstrategie behaupten wollen, dass der „ Gehirncomputer “ so programmiert sei, dass die Mutter es tue. Man sieht sofort, welche Abgründe sich hier öffnen: Der Mensch wird darauf reduziert, eine willenlose Marionette des „ Gehirncomputers “ zu sein. Dieser hat dann auch veranlasst, dass sich unsere Mutter in ihren Mann verliebte, ihn heiratete, Kinder haben wollte, diese gebar, sie liebevoll aufzog usw. Nun, das Gehirncomputer- Szenario ist nicht leicht abzuweisen und in der Tat gibt es heute Denker (z. B. Patricia und Paul Churchland, auch Richard Dawkins gehört vermutlich zu ihnen), die es befürworten. Es ist jedoch ziemlich offensichtlich, dass derartige Behauptungen grundsätzlich unwiderlegbar sind, und zwar deshalb, weil sie unüberprüfbar sind. Einerseits erweisen sich die neuronalen Prozesse im Gehirn als schlicht viel zu kompliziert, als dass wir eine realistische Hoffnung haben könnten, sie je bis auf das letzte Detail analysieren zu können. 442 Andererseits ist es aus praktischen Gründen offensichtlich unmöglich nachzuweisen, dass jeder Schritt, den wir im Leben unternehmen - von dem Moment der Geburt bis zum Tode - aus dem Zusammenspiel konkreter neuronaler Prozesse und ebenso konkreter Umwelteinwirkungen ableitbar ist. Man kann also die Möglichkeit, dass es sich so verhält, wie die neuronalen bzw. materialistischen Reduktionisten es behaupten, nicht absolut ausschließen. Nach Poppers Falsifizierbarkeitskriterium der Wissenschaftlichkeit würde aber eine solche reduktionistische Theorie als unwissenschaftlich gelten müssen, da sie empirisch unüberprüfbar ist. Da ein solcher neurologischer Reduktionismus nicht bewiesen werden kann, muss er geglaubt 442 Vgl. Meine obigen Bemerkungen zu dem Grad der Komplexität einer einzelnen Synapse ( „ Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas “ ). 640 5 Was ist Wissenschaft? werden. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich allerdings nicht von anderen wissenschaftlichen Theorien, denn wir haben bereits festgestellt, dass aus rein logischen Gründen keine von ihnen bewiesen werden kann. Wenn wir jedoch vor der Entscheidung stehen, ob wir dieser Theorie Glauben schenken oder nicht, dann müssen wir uns fragen: Wollen wir dies, wollen wir ihr Glauben schenken? Wollen wir uns die Welt wirklich so vorstellen, dass der Mensch in ihr bloß ein durch einen Gehirncomputer gesteuerter, willenloser Automat ist? Keine Fakten zwingen uns zu dieser Annahme, denn die vorhandenen Fakten können entweder im Sinne des materialistischen Reduktionismus oder eben im Sinne einer Weltanschauung, die an den freien Willen und die Vernunftfähigkeit des Menschen glaubt, interpretiert werden. Selbstverständlich ist der neuronale (oder materialistische) Reduktionismus der Überzeugung verpflichtet, dass wir tatsächlich keine Wahl haben. Wie Sie, lieber Leser, liebe Leserin in Bezug auf diese Fragestellung entscheiden, was ich entscheide, was irgendjemand entscheidet, ist ihm zufolge ja immer schon vom Gehirncomputer im Voraus programmiert. Damit unterminiert er den Begriff der vernünftigen Argumentation und Diskussion, ja, er vernichtet ihn. Ich bin übrigens gespannt, ob Computer je imstande sein werden, nicht nur einen (vernunftbegabten) Menschen vorzutäuschen, sondern wirklich wie ein kreativer Mensch produktiv zu sein. Werden sie je vermögen, nicht nur ein fünfminütiges „ Gespräch “ zu führen, sondern eine neue Kritik der reinen Vernunft oder vielleicht auch nur einen neuen Harry Potter zu schreiben oder eine Symphonie wie Beethovens 9. zu komponieren? Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es sehr viele Phänomene der Erfahrungswelt gibt, welche sich der (klassischen wie auch quantenmechanischen) physikalischen Begrifflichkeit und Erklärungsstrategie entziehen. Dies heißt nicht, dass sie auf eine übernatürliche Art erklärt werden müssen, es bedeutet aber, dass Fales ’ Nachweis, dass immaterielle Ursachen der Phänomene der Erfahrungswelt prinzipiell unmöglich seien, als gescheitert betrachtet werden muss. Ich möchte die Aufmerksamkeit aber noch auf einen weiteren Punkt in Fales ’ Überlegungen lenken. Wir erinnern uns, dass er im Zuge seiner Diskussion der „ schlechten “ Argumente gegen immaterielle Ursachen den Einwand erwähnte (und abwies), dass Gott ein Störfaktor im wissenschaftlichen Betrieb sein würde, weil er ein launisches Wesen sei. Es ist eine durchaus interessante Idee, Gott oder die Götter als launische, unberechenbare Wesen zu interpretieren. Gesetzt, es gäbe einen Gott oder mehrere Götter (also dem Menschen weit überlegene Wesen), sollen wir uns ihn oder sie tatsächlich als launisch vorstellen? Diese Vorstellung hat möglicherweise ihre Wurzel in der griechischen Mythologie, welche die Götter tatsächlich so darstellt. Der Gott der Bibel hingegen ist wesentlich berechenbarer und zuverlässiger, wenn er auch (selten) durchaus Wunder vollzieht. Könnte man sich aber nicht göttliche Wesen vorstellen, die noch viel zuverlässiger und berechenbarer als der Gott der Bibel sind? Könnte, ja sollte man sich nicht 5 Was ist Wissenschaft? 641 göttliche Wesen so vorstellen, dass sie absolut zuverlässig und berechenbar sind? Schließlich verlangen wir auch von anständigen Menschen, dass sie zuverlässig sind: Der Handwerker erscheint an seinem Arbeitsort zur vereinbarten Zeit und erledigt seine Arbeit zuverlässig, der Busfahrer oder Lokführer hält sich an den Fahrplan usw. Wenn wir fehlbaren Menschen dies leisten können, ist es nicht sinnvoll zu erwarten, dass göttliche Wesen noch viel zuverlässiger sind? Und wenn sie viel zuverlässiger als Mensch sind, könnte man sich nicht vorstellen, dass sie so zuverlässig sind, dass sie mit der Zuverlässigkeit der Naturgesetze handeln? Und wenn man diese Vorstellung zulässt, dann ist man nicht mehr weit von der anderen entfernt, dass die sog. Naturgesetze in Wirklichkeit nichts anderes als die Handlungen von Göttern sind. Rescher über Wissenschaft und Pseudowissenschaft Pigliucci meinte, dass das von ihm und Boudry herausgegebene Buch nicht das letzte Wort in der Debatte um das Demarkationskriterium der Wissenschaft sein werde. Er schloss seine Einführung mit der folgenden Feststellung ab: This collection will certainly not represent the final word on the issue of demarcation. On the contrary, it is meant to renew and stimulate discussion in an area of philosophy of science that is both intrinsically interesting from an intellectual point of view and that, for once, can actually make philosophy directly relevant to people ’ s lives. (Pigliucci 2013, S. 6) In der Tat. Einer der einflussreichsten Wissenschaftsphilosophen der Gegenwart, Nicholas Rescher (1928 - ) zeigt in seinem bereits 1984 erschienenen und 1999 in einer erweiterten Form neu aufgelegten Buch 443 The Limits of Science auf, dass die Frage prinzipiell offenbleiben müsse, weil die endgültige Form der Wissenschaft nicht festgelegt werden könne. 444 Rescher schloss zunächst ein Mathematikstudium an der Universität Princeton ab, um anschließend mit erst 22 dort in Philosophie zu promovieren. Seit 1961 lehrt er an der Universität Pittsburg, wo er viele Jahre das weltbekannte „ Center for Philosophy of Science “ führte. Gleichzeitig ist Rescher, der frühere Präsident der American Philosophical Association, ständiger Gastprofessor an der Universität Oxford und seit 1977 ständiges Mitglied des Corpus-Christi-College in Oxford. Die Liste seiner Veröffentlichungen beläuft sich auf ca. 100 Bücher und ca. 400 Artikel in philosophischen Zeitschriften. Wir haben gesehen, dass Mahner den Zustand der gegenwärtigen Wissenschaft als Maßstab für die Bestimmung des Charakters der Wissenschaft im 443 Im Folgenden stütze ich mich auf diese Ausgabe des Buches. 444 Am Rande sei bemerkt, dass die Autoren des Bandes The Philosophy of Pseudoscience keine Kenntnis von diesem wichtigen Werk zu haben scheinen, nicht einmal Reschers Name fällt. Dies überrascht, denn Rescher ist in der heutigen Wissenschaftstheorie wahrlich nicht zu vernachlässigen. 642 5 Was ist Wissenschaft? absoluten Sinne nimmt, dass er also aus dem jetzigen „ Ist-Zustand “ der Wissenschaft wertende Schlüsse in Bezug auf das „ Soll “ der Wissenschaft ableitet. Ich habe darauf hingewiesen, dass ein solches Vorgehen das Hume ’ sche Gesetz verletzt. Rescher stellt Mahners Zuversicht, vom Jetzt- Zustand auf die künftige Entwicklung der Wissenschaft Schlüsse zu ziehen, grundsätzlich in Frage. In seinem Buch zeigt er sich erstaunlich bescheiden in Bezug auf die Leistungsfähigkeit der gegenwärtigen, aber auch der künftigen Wissenschaft. Er meint zwar, dass sie das Beste ist, was wir für die Erforschung der Welt und die Gewinnung der zuverlässigen Information über sie haben: If we want to know about the constituents of this world and their laws of operation, we have to turn to science - and in fact to the science of the day. Whatever its shortcomings or limitations, science is the only game in town with respect to our best available picture of the laws of nature. There is no place else to turn for information worthy of our trust. [. . .] If we want to be informed about the furnishings of the world and their modes of comportment, there is simply nowhere else to go. (Rescher 1999, S. 249) Auf der anderen Seite aber schreibt er, dass der Fortschritt der Wissenschaft nicht in der asymptotischen Annäherung an die absolute Wahrheit, sondern lediglich in der Zunahme der Kontrolle über die Natur und der Exaktheit der Vorhersagen liege: Science is a comparatively fragile structure: the best it can do is provide ever-changing estimates of how things work. Our scientific knowledge is always defeasible and transitory. . . . Its instability and changeability notwithstanding, natural science does indeed progress - not, to be sure, by reaching (or even approaching) “ the ultimate truth ” but by providing us with increasingly powerful instrumentalities for successful prediction and control. (Ebd., S. 29, Hervorhebung im Original) Unsere Wissenschaft ist eingeschränkt und unvollkommen, stellt Rescher fest, und sie wird es auch notwendigerweise bleiben (ebd., S. 197). So vernachlässigt die Wissenschaft kraft ihrer Methoden, die auf das Quantitative ausgerichtet sind, wichtige Bereiche menschlicher Erfahrung: The sort of observation-transcending experience that lies at the basis of norms and values (affective receptivity, for example) remains outside its range. [. . .] Thus, no matter how far we push science forward along the physical, chemical, biological, and psychological fronts, there are issues about humanity and its works that will remain intractable by scientific means - not because science is impotent within its range but because these issues lie outside it. (Ebd., S. 244f.). Insbesondere ihr Verständnis für die Emotionalität, für die Gefühlsseite unserer menschlichen Erfahrung ist nach Rescher stark eingeschränkt: [S]cience omits from its register of facts that are worth taking at face value the whole affective, emotional, feeling-oriented side of our cognitive life. (Ebd., S. 224) The affective, appreciative, emotively evocative side of human knowledge, the intuitive and unreasoned ways of knowing - the mechanisms through which we 5 Was ist Wissenschaft? 643 standardly understand other people and their productions - lie outside science ’ s range of concern. Yet, feeling too is a mode of cognition, although one that, in its affective impurity, falls outside the scope of science as insufficiently „ objective “ . (Ebd., S. 245) Folglich kann Wissenschaft auch die Person nicht richtig begreifen: Thanks to its exclusion of normative and evaluative issues, science approaches people as objects of study, as things, and not as persons. [Scientific knowledge is] the knowledge of observation rather than communion. The aspects of mutual recognition and interactive reciprocity are lost; and such cognitive modes as sympathy and empathy are put aside. (Ebd., S. 245, Hervorhebung im Original) Obwohl selbst ursprünglich Mathematiker, tadelt Rescher die seiner Ansicht nach übermäßige Huldigung des zahlenmäßigen Erfassens der Wirklichkeit seitens der Wissenschaft: The splendid successes of natural science have enticed even the least numerate of us to the tempting idea that measurement and quantification afford the only true pathway and genuine understanding. [. . .] It is this idolatry of numbers that underlies the great characteristic delusion of the times [. . .]. A laudable impetus to quantify the things that are important tempts us into the folly of deeming the things we cannot quantify to be negligible. (Ebd., S. 234) Science has succeeded in mathematizing the realm of our knowledge to such an extent that we tend to lose sight of the fact that the realm of our experience is not all that congenial to measurement. It is full of colors, odors, and tastes, of likes and dislikes, of apprehensions and expectations, and so on, that are not particularly amenable to measurement. We readily forget how very special a situation actual measurability is - even in contexts of seeming precision. (Ebd., S. 238) A fetish for quantification seems to be astir among our contemporaries. We worship at the altar of statistics: the penchant for quantities is a salient characteristic of contemporary western culture. (Ebd., S. 239) Die Versuche der logischen Empiristen, eine ideale einheitliche wissenschaftliche Sprache für die Erfassung der Wirklichkeit zu etablieren, weist Rescher als zum Scheitern verurteilt zurück: It is (or should be) clear that there is no simple, unique, ideally adequate conceptframework for describing the world. The botanist, horticulturist, landscape gardener, farmer, and painter will operate from diverse cognitive points of view to describe one selfsame vegetable garden. It is merely mythology to think that the phenomena of nature can lend themselves to only one correct style of descriptive and explanatory conceptualization. There is surely no ideal scientific language that has a privileged status for the characterization of reality. Different sorts of creatures are bound to make use of different conceptual schemes for the representation of their experience. To insist on the ultimate uniqueness of science is to succumb to the myth of the God ’ s-eye view. Different cognitive perspectives are possible, no one of them more adequate or more correct than any other independent of the aims and purposes of their users. (Ebd., S. 201) 644 5 Was ist Wissenschaft? Aus unserer gegenwärtigen Sicht sind jedoch Reschers Überlegungen zu künftigen Entwicklungen innerhalb der Wissenschaft und ihren Metamorphosen von zentraler Bedeutung. Um diese einschätzen zu können, braucht es einen gebührenden Abstand von der gegenwärtigen Situation. Deshalb lässt sich Rescher auf eine eher gewagte Überlegung ein: Wie könnte die Wissenschaft einer fortgeschrittenen außerirdischen Zivilisation aussehen? Müsste sie der unsrigen ähnlich sein, oder könnte sie von ihr wesentlich abweichen? Rescher tendiert eindeutig zur zweiten Option, er meint sogar, dass eine solche außerirdische Wissenschaft zwangsläufig wesentlich anders als die unsrige sein müsste (ebd., S. 197). Ihre Hauptausrichtung könnte völlig anders sein. Man könnte sich z. B. vorstellen, dass Psychologie und Soziologie viel höher entwickelt wären als bei uns, wenn die „ Außerirdischen “ eine diffuse Ansammlung von Ganzheiten wären, deren konstitutive Einheiten eine Überlappung zulassen würden 445 , (ebd., S. 199). Rescher vermutet erstaunlicherweise sogar, dass auch die Mathematik einer außerirdischen Zivilisation völlig anders aussehen könnte: [The] mathematics [of aliens] might be very unlike ours. Their dealings with quantity might be entirely anumerical - purely comparative, for example, rather than quantitative. Especially if their environment is not amply endowed with solid objects or stable structures congenial to measurement - if, for example, they were jellyfishlike creatures swimming about in a soupy sea - their “ geometry ” could be something rather strange, largely topological, say, and geared to flexible structures rather than fixed sizes and shapes. Digital thinking might be undeveloped, while certain sorts of analogue reasoning might be highly refined. (Ebd., S. 199) Solche und ähnliche Überlegungen führen Rescher schließlich im Kapitel „ The Unpredictability of Future Science “ zu dem Schluss, dass die gegenwärtige Wissenschaft unmöglich die Form der künftigen Wissenschaft voraussagen, geschweige denn bestimmen könne: The inherent unpredictability of future scientific developments - the fact that no secure inference can be drawn from one state of science to another - has important implications for the issue of the limits of science. It means that present-day science cannot speak for future science: it is in principle impossible to make any secure inferences from the substance of science at one time about its substance at a significantly different time. The prospect of future scientific revolutions can never be precluded. (Ebd., S. 103, Hervorhebung im Original, MBM) Interessanterweise spricht Rescher im Sinne Kuhns von wissenschaftlicher Revolution in der Mehrzahl. Noch 1962 war es für die Wissenschaftstheoretiker, geschweige dann für die „ gewöhnlichen “ Wissenschaftler, schwierig zu akzeptieren, dass überhaupt eine wissenschaftliche Revolution stattgefunden hat. Jetzt stellt Rescher fest, dass wir viele weitere Revolutionen erwarten 445 Im Original: „ a diffuse assemblage of units comprising wholes in ways that allow overlap “ . 5 Was ist Wissenschaft? 645 müssen, die vielleicht sogar ähnlich grundlegend sind wie die kopernikanische. Weiter unten heißt es bei ihm: While we can say with confidence what the state of science as we now have it does and does not allow, we cannot say what science as such will or will not allow. The boundary between the tenable and the untenable in science is never easy to discern. Future science can turn in unexpected and implausible directions. The realm of scientific possibility is unchartable. „ There are more things in heaven and earth, Horatio. . . “ . That some theoretically available scientific position fails to accord with the science of the day is readily established, but that it is inherently unscientific is something that it lies beyond our power to show. The contention that this or that explanatory resource is inherently unscientific should always be met with instant scorn. (Ebd., S. 107) 446 Rescher erteilt hier allen Versuchen eine Abfuhr, die Grenzen zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft (bzw. Proto- oder Parawissenschaft) für immer festzulegen. Man kann zwar bestimmen, wo diese Grenzen heute verlaufen (wobei auch diese Aufgabe alles andere als leicht ist), vom Ist- Zustand lassen sich aber keinerlei Schlüsse auf die künftige Entwicklung ziehen, wie einige Jahre später Mahner beanspruchte. Reschers Buch kuliminiert in einer Doktrin, die er als „ kognitiven Kopernikanismus “ bezeichnet. Sie besagt, dass unsere kognitive Position in der Zeit genauso wenig privilegiert ist wie unsere geographische im Universum. Wir können uns in der Illusion wiegen, dass wir bereits fast ans Ende der Forschung gelangt seien und unmittelbar vor der Lösung der letzten Rätseln stehen, es werden aber andere Zeiten und andere Menschen kommen, welche vor völlig anderen Problemen und Rätseln stehen und unsere kognitiven Auseinandersetzungen und Kämpfe als Marginalien betrachten werden. Ich erlaube mir an dieser Stelle, eine längere Passage aus Reschers Buch zu zitieren, weil mir scheint, dass ein jeder Satz darin von großer Bedeutung ist: The fallibility and corrigibility of our science means it cannot be viewed as providing definitive (let alone absolutely true) answers to its questions. We have no alternative but to see our science as both incomplete and incorrect in some (otherwise unidentifiable) respects. In this sense - that of its inability to deliver into our hands something that can be certified as the truth, the whole truth, and nothing but the truth - science is certainly subject to a severe limitation. What we proudly vaunt as scientific knowledge is a tissue of hypotheses - of tentatively adopted contentions, many or most of which we will ultimately come to regard as quite untenable and in need of serious revision or perhaps even rejection. If there is one thing we can learn from the history of science, it is that the scientific theorizing of one day is looked upon by that of the next as deficient. The clearest induction from the history of science is that science is always mistaken - that at every stage of its development, its practitioners, looking backward with the wisdom of hindsight, will view the work of their predecessors as seriously deficient 446 Vgl. auch die ähnliche Äußerung von Fara: „ There is no single form of science - what counts as science depends on where and when you ’ re looking “ (Fara 2009, S. 49). 646 5 Was ist Wissenschaft? and their theories as fundamentally mistaken. 447 If we adopt (as in candor we must) the modest view that we ourselves and our contemporaries do not occupy a privileged position in this respect, then we have no reasonable alternative but to suppose that much or all of what we ourselves vaunt as “ scientific knowledge ” is itself presumably wrong. 448 We must stand ready to acknowledge the fragility of our scientific knowledge and must temper our claim to such knowledge with a cognitive Copernicanism. The original Copernican revolution made the point that there is nothing ontologically privileged about our own position in space. The doctrine now at issue effectively holds that there is nothing cognitively privileged about our own position in time. It urges that there is nothing epistemically privileged about the present - any present, our own prominently included. Such a perspective indicates not only the incompleteness of our knowledge but its presumptive incorrectness as well. The current state of knowledge is simply one state among others, all of which stand on an imperfect footing. No human generation is cognitively advantaged. We must acknowledge that the transience that has characterized all scientific theories of the historical past will possibly, even probably, characterize those of the present as well. Given the historical realities, the idea that science does - or sooner or later must - arrive at a changeless vision of “ the truth of the matter ” is not plausible. We have no alternative but to reject the egocentric claim that we ourselves occupy a pivotal position in the epistemic dispensation, and we must recognize that there is nothing inherently sacrosanct about our own present cognitive posture vis-à-vis that of other, later historical junctures. A kind of intellectual humility is in order - a diffidence that abstains from the hubris of pretentions to cognitive finality or centrality. Such a position calls for the humbling view that just as we think our predecessors of a hundred years ago had a fundamentally inadequate grasp on the furniture of the world, so our successors of a hundred years hence will take the same view of our purported knowledge of things. Realism requires us to recognize that, as concerns our scientific understanding of the world, our most secure knowledge is very likely no more than presently accepted error. To be sure, this recognition of the fallibilism of our cognitive endeavors must emphatically not be construed as an open invitation to a skeptical abandonment of the cognitive enterprise. Instead, it is an incentive to do the very best we can. In human inquiry, the cognitive ideal is correlative with the striving for optimal systematization. And this is an ideal that, like other ideals, is worthy of pursuit, despite the fact that we must recognize that its full attainment lies beyond our grasp. The crucial consideration thus remains that science is not and presumably never can be in a position to offer us anything that is definitive, incorrigible, and final. Our science is and must be developed within the confines of man ’ s cognitive 447 Vgl. Larry Laudan und seine „ pessimistische Metainduktion “ im Abschnitt „ Einige theoretischen Probleme des empirischen Forschungsparadigmas “ . 448 Rescher fügt an dieser Stelle die folgende Endnote hinzu: „ This realization is something of which we can make no effective use: while we realize that many of our scientific beliefs are wrong, we have no way of telling which ones, and no way of telling how error has crept in “ (ebd., S. 256, Hervorhebung im Original). 5 Was ist Wissenschaft? 647 fallibility. He who looks to science for answers that are ultimate and absolute is destined to look in vain. We must recognize that “ our science ” is not something permanent, secured for the ages, unchangeable. Our theorizing about the nature of the real is a fallible estimation, the best that can be done at this time, in this particular state of the art. Our science is a historical phenomenon: it is one transitory state of things in an ongoing process. This limitation cannot, of course, be justifiedly construed as a defect of science. It is an inevitable feature of whatever can be produced by imperfect triangulation from limited experience, and we must not complain of what cannot be helped. It is not a shortcoming of science as compared with other methods of inquiry, because other methods cannot overcome it either. (If they could, so could science.) It is a limitation - an inherent limitation of the enterprise as we humans do and must conduct it. The aim or goal of science is to provide answers; but answers of certified correctness, definitive and final answers, are simply not available. The complete realization of the aims of science is something that will ever remain in the realm of aspiration and not that of achievement. (Ebd., S. 36 - 38, Hervorhebung im Original) Wir haben früher von einer empirischen Bescheidenheit der Wissenschaft in der Ära nach Kuhn gesprochen. Reschers Buch nun zeugt von einer neuen theoretischen Bescheidenheit, die mit Kuhn Einzug in die Wissenschaftstheorie genommen hat. Fazit: Fünf Elemente des gemeinsamen Nenners der heutigen Naturwissenschaft Auf unserer bisherigen Suche nach den definierenden Merkmalen der Wissenschaft bzw. nach Kriterien zur Abgrenzung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft sind wir zu einem eher ernüchternden Ergebnis gekommen: Die Kriterien, die wir betrachtet haben, haben sich als unzureichend (entweder zu schwach oder zu streng) erwiesen. Mir scheinen sogar Reschers Schlussfolgerungen in Bezug auf die künftige Form der Wissenschaft unumstößlich: Wir sind nicht imstande, diese Form heute vorauszusagen, und noch weniger, sie zu bestimmen. Dies ist die Lehre, welche wir einerseits aus der Geschichte der Wissenschaft, andererseits aus der Geschichte der Reflexion über den Charakter des induktiven Wissens ziehen müssen. In ihrer dreibis viertausendjährigen Geschichte nahm die Wissenschaft immer wieder andere Formen an, bediente sich unterschiedlicher Instrumente und stützte sich auf unterschiedliche metaphysische Annahmen. Es gibt keine Veranlassung zu der Meinung, dass dieser Umwandlungsprozess heute zu einem endgültigen Stillstand gekommen ist. Die Reflexion über den Charakter des induktiven Wissens hat uns gelehrt, dass induktive Schlüsse - die auf vergangener Erfahrung basieren - immer unsicher sind. Wir müssen immer mit der Entdeckung eines neuen Amerika oder eines neuen schwarzen Schwanes rechnen. Es wäre kurzsichtig und völlig ahistorisch, auf dem 648 5 Was ist Wissenschaft? Standpunkt zu beharren, dass uns weder das eine noch das andere in der Zukunft passieren kann. Und dennoch: Technik ist offensichtlich keine Wissenschaft, Kunst auch nicht, und Jurisprudenz und Kochen sind es gleichfalls nicht. Irgendwie sind wir also fähig, die Grenzen zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft zu ziehen. Nur am Rande, in den Bereichen zwischen verschiedenen Disziplinen, fehlt uns die Unterscheidungskraft. Auch im Alltagsleben haben wir keine Schwierigkeit, ein Auto von einem Motorrad zu unterscheiden. Erst wenn wir ein Gefährt mit vier Rädern und einem Dach, aber mit einem Fahrradlenker statt eines Steuerrades sehen, sind wir verunsichert. Wenn man daher die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners beantworten will, kann man sich unmöglich mit der Antwort begnügen, was immer sie sei, sie sei einfach die künftige Form der Wissenschaft. Eine solche Entgegnung den Kritikern gegenüber, die sie der Unwissenschaftlichkeit bezichtigen, wäre billig und könnte keineswegs überzeugen. Man muss sich also doch auf einige Kriterien der Wissenschaftlichkeit einigen bzw. sie festlegen, Kriterien, welche eine Forschungsrichtung heute erfüllen soll, um als wissenschaftlich gelten zu dürfen. Rudolf Steiner macht uns aber diese Aufgabe um einiges einfacher, indem er sich hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit seiner Geisteswissenschaft nicht mit den Geisteswissenschaften (Geschichtswissenschaften, Literaturwissenschaften, Religionswissenschaften usw.), sondern explizit mit den Naturwissenschaften messen will (vgl. dazu Majorek [Hrsg.] 2011). Um die Frage der Wissenschaftlichkeit von Steiners Anthroposophie bzw. Geisteswissenschaft überprüfen zu können, müssen wir also nicht die Kriterien der Wissenschaftlichkeit im Allgemeinen, sondern die der Naturwissenschaft umreißen. Ich glaube, dass es im Lichte der vorausgehenden Ausführungen berechtigt ist, vier Elemente als den „ kleinsten gemeinsamen Nenner “ der Naturwissenschaft anzusetzen: Naturwissenschaft muss erstens empirisch sein. Wir haben gelernt, dass der Mensch sich in seinem Denken täuschen, falsche Annahmen machen, falsche Schlüsse aus seinen Annahmen ziehen kann. Wir brauchen deshalb einen Schiedsrichter für das Denken, und dieser Schiedsrichter ist die Erfahrung. Erst das, was sich in der Konfrontation mit der Erfahrung, mit der Wirklichkeit bewährt, kann als Erkenntnis erachtet werden und unterscheidet sich mithin von subjektiver Meinung. Mit dem Erfordernis der empirischen Begründung der wissenschaftlichen Erkenntnisse oder der Überprüfung eigener Forschungsresultate anhand der Forschungsresultate der Fachkollegen verbindet sich fast zwangsläufig ein anderes: das Erfordernis der Nachprüfbarkeit solcher Erkenntnisse. Wie wir gesehen haben, wäre es heute völlig unrealistisch zu erwarten, dass wissenschaftliche Forschungsergebnisse „ von jedermann zu jeder Zeit “ nachgeprüft werden können, aber ein Ergebnis, das von niemanden und niemals wiederholt oder nachgeprüft werden kann, kann unmöglich als zuverlässiges 5 Was ist Wissenschaft? 649 wissenschaftliches Wissen gelten. Ein solches Ergebnis gehört in die Sphäre der religiösen Offenbarung, nicht der Wissenschaft. Die Nachprüfbarkeit der Forschungsresultate kann also als das zweite Kriterium von Naturwissenschaft gelten. Die Nachprüfbarkeit der naturwissenschaftlichen Ergebnisse zieht jedoch notwendigerweise ein drittes Kriterium nach sich: Eine Naturwissenschaft braucht eine wissenschaftlichen Gemeinschaft, um die Forschungsergebnisse eines Forschers bzw. einer Gruppe von Forschern überprüfen zu können. Ein einsamer Forscher kann praktisch nie sicher sein, dass seine Forschungsergebnisse tatsächlich objektive Erkenntnis sind. Das Vorhandensein einer solchen Gemeinschaft muss also, zumindest ab einer bestimmten Entwicklungsstufe der Naturwissenschaft, als eine weitere definierende Bedingung dieser gelten. Viertens sucht die heutige Naturwissenschaft ausschließlich nach materialistischen (naturalistischen) Erklärungen der Naturphänomene. Es ist auffallend, wie oft man lesen kann, dass, wenn man nach den Erklärungen bzw. nach dem Verständnis der beobachteten Phänomene sucht, diese Erklärung bzw. dieses Verständnis „ mechanisch “ oder „ mechanistisch “ sein soll. 449 Lebenskräfte, geistige Kräfte oder Einflüsse werden schlicht und einfach nicht als wissenschaftliche Erklärungsmuster zugelassen. Die im deutschen Sprachraum hochgeachteten Wissenschaftstheoretiker Mario Bunge (1919 - ) und Martin Mahner (1958 - ) stellen dazu in ihrem vielgelesenen Buch Über die Natur der Dinge fest: Die Hauptthese dieses Buches ist nun, dass eine wissenschaftsorientierte und wissenschaftliche Ontologie - d. h. eine, die auf der modernen Wissenschaft gründet und mit ihr vereinbar ist - nur eine materialistische sein kann. (Bunge und Mahner 2004, S. 7) Die Forderung nach Einhaltung der materialistischen Ontologie in naturwissenschaftlichen Erklärungen ist besonders auffällig, wenn man ihr wissenschaftliche Artikel aus der Biologie entgegenhält, also aus einem Forschungsfeld, wo nicht nur am Anfang des 19. (Vitalismus), sondern auch noch am Anfang des 20. Jahrhunderts (Neovitalismus) zumindest einige Forscher durchaus ernsthaft die Möglichkeit oder sogar die Notwendigkeit einer nichtmaterialistischen Erklärung in Erwägung zogen. Wie wir in der Diskussion von Fales ’ Argumenten gegen „ übernatürliche “ Erklärungen gesehen haben, gibt es eigentlich keine guten Gründe, welche auf die logische Unmöglichkeit derartiger Erklärungen hinweisen. 449 Beispiele für diese Tendenz sind in der wissenschaftlichen Literatur fast endlos zu finden. Vgl. aber z. B. Colwell 2011, Friedrich 2012, Sasai 2013. 650 5 Was ist Wissenschaft? Wissenschaft liefert objektive Erkenntnisse Zu diesen vier Bedingungen der Wissenschaftlichkeit, die wir in der bisherigen Diskussion explizit behandelt haben, möchte ich aber noch eine fünfte hinzufügen, die mir für den heutigen Begriff von Wissenschaft - ob Naturwissenschaft oder auch Geisteswissenschaften - ebenfalls von zentraler Bedeutung erscheint. Wenn wir das ganze Spektrum der heutigen Wissenschaft betrachten, d. h. auch die wissenschaftlichen Disziplinen, welche nicht auf kontrollierte Experimente zurückgreifen können, also vor allem die Human- und Kulturwissenschaften, aber auch Teile der Biologie und sogar die Astronomie, so können wir feststellen, dass in allen diesen Disziplinen nach Erkenntnissen geforscht wird, welche objektiv in dem Sinne sind, dass sie nicht von Präferenzen, Vorlieben, Vorurteilen usw. einzelner Forscher beeinflusst sind. Ob wir von einem Archäologen sprechen, der anhand der von ihm ausgegrabenen Gegenstände Einsicht in die alten Kulturen bekommen will, von einer Tierverhaltensforscherin, welche Schimpansen im Urwald beobachtet, um ihre natürliche Lebensweise offenzulegen, von einem Soziologen, der die Einstellungen einer bestimmten Berufsgruppe zum Problem des höheren Rentenalters eruieren will, sie alle suchen objektive Auskunft über die Welt, wie sie ist, und bemühen sich darum, ihre eigenen Meinungen, Vorurteile, Präferenzen bzw. Abneigungen, aber auch die gängigen sozialen oder kulturellen Stereotypen von den von ihnen erarbeiteten Erkenntnissen fernzuhalten. Aber auch ein Astronom, der die entferntesten Quasare mittels eines Hubble-Teleskops beobachtet, oder eine Physikerin, die am CERN in Genf Teilchenkollisionen untersucht, bemühen sich um ein möglichst objektives Bild des von ihnen erforschten Ausschnitts der Wirklichkeit. Die Methoden, diese Ziel zu erreichen, mögen sich von der einen wissenschaftlichen Disziplin zur anderen gewaltig unterscheiden, das Ziel ist dasselbe: ein zuverlässiges, objektives Wissen von der Welt, wie sie an sich ist. 450 In der bisherigen Diskussion um die Merkmale von Wissenschaftlichkeit wurde m. E. diesem Kriterium der Wissenschaft zu wenig Rechnung getragen, vielleicht deshalb, weil es so offensichtlich ist. Wissenschaft wird häufig geradezu mit dem Streben nach dem objektiven Wissen identifiziert, indem man „ objektive Wissenschaft “ fast synonym mit „ Wissenschaft “ verwendet. So schrieb z. B. 1965 Carl Gustav Hempel dem Streben nach Objektivität des Wissens eine zentrale Rolle in der Wissenschaft zu: Science aims at knowledge that is objective in the sense of being intersubjectively certifiable, independently of individual opinion or preference, on the basis of data obtainable by suitable experiments or observations. (Hempel 1965, S. 141) 450 Wie wir gesehen haben, bilden hier die qualitative Forschung und zu einem geringeren Grad auch Teile der feministischen Wissenschaft eine Ausnahme. Sie negieren entweder gänzlich die Bedeutung der Objektivität in der Forschung oder schreiben ihr eine lediglich untergeordnete Rolle zu. 5 Was ist Wissenschaft? 651 Auch Imre Lakatos hat den wissenschaftlichen Wert einer Theorie mit ihrer Objektivität identifiziert: [O]bjective, scientific value of a theory is independent of the human mind which creates it or understands it. Its scientific value depends only on what objective support these conjectures have in facts. (Lakatos 1998, S. 21) Und in einer Buchbesprechung, welche 2008 in der Zeitschrift Science erschien, stellte Richardson fest: It is nearly universally accepted that science aims for an objective view of the world - and that this is a virtue of science. (Richardson 2008, S. 1780) Philip Kitchers Buch von 1993 führt den Begriff der Objektivität bereits im Titel ein: The Advancement of Science. Science without Legend, Objectivity without Illusions. Dazu stellt der Autor an prominenter Stelle fest: „ Objectivity and rationality are the order of the day “ (Kitcher 1993, S. 4). Paul K. Moser, ein weiterer führender Wissenschaftstheoretiker der Gegenwart, identifiziert in seinem Artikel über Epistemologie Wissen (knowledge) schlechthin mit objektivem Wissen: If, as standardly assumed, knowledge that P entails that it is objectively the case - or objectively true - that P, the relevant kind of likelihood of truth [gemeint ist die Begründung des Wissens, M. M.] must entail likelihood of what is objectively true, or objectively the case. [. . .] It must, in other words, indicate with some degree of likelihood what is the case conceiver independently. (Moser 1997, S. 234) Rescher schreibt im oben diskutierten Werk vom kalten, objektiven Blick der Wissenschaft ( „ cold, objective gaze of science “ ) (Rescher 1999, S. 241) und stellt kurz darauf fest, dass Wissenschaft behaupte, objektive und nützliche (objective and useful) Informationen liefern zu können (ebd., S. 249). Paul Gross und Norman Levitt sprechen sogar von der „ heiligen Objektivität der Wissenschaft “ ( „ sacred ‚ objectivity ‘ of science “ ) (Gross und Levitt 1994, S. 45). Michael Drieschner stellt knapp fest: „ Jede Wissenschaft sollte objektiv sein “ (Drieschner 1997, S. 343). Thomas Kuhn bezeichnet im Nachklapp zu seinem bahnbrechenden Buch Objektivität (neben Rationalität) als einen der zentralen Werte der Wissenschaft (Kuhn 1977, S. 321). Und Leslie Stevenson interpretiert den weißen Kittel der Wissenschaftler als ein Symbol für die Reinheit ihrer Aspirationen, die sich im Streben nach objektivem Wissen offenbare: The white coat of the scientist has been taken as a sign of the purity of his motives, in the sense that he is devoted only to the pursuit of knowledge for its own sake. Beneficial (or sinister) applications of his work may come, but that is said to be not his concern: he is supposed to seek only for truth, for objective knowledge of the world. (Stevenson 1993, S. 10) Rosenberg betont in seinem Überblick über den gegenwärtigen Stand der Wissenschaftstheorie mehrmals, dass Objektivität als die zentrale Eigenschaft 652 5 Was ist Wissenschaft? der Wissenschaft betrachtet wird (Rosenberg 2012, S. 211, 216, 249, 265, 274, 276, 279). Auch Rupert Sheldrake, der der gegenwärtigen Wissenschaft recht kritisch gegenübersteht, konzediert, dass für sehr viele Menschen Wissenschaft ein Inbegriff der Objektivität sei: For those who idealise science, scientists are the epitome of objectivity, rising above the sectarian divisions and illusions that afflict the rest of humanity. (Sheldrake 2012, S. 291) Scientists claimed to obtain absolute truth by viewing the world as objective observers. (Ebd., S. 327) Science as we know it is based on an ideal of objective truth. (Ebd., S. 327) Die oben zitierte Definition der Wissenschaft der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie nimmt, wenn auch indirekt, ebenfalls Bezug auf den Begriff der Objektivität. Denn indem sie feststellt, dass „ [g]egenüber dem unabgesicherten und häufig subjektiven Meinen [. . .] das wissenschaftliche Wissen unter Begründungsanspruch [steht] “ (Kambartel 2004, S. 719), kontrastiert sie implizit das „ häufig “ subjektive Alltagswissen bzw. Meinen mit dem objektiven Wissen (Wissen schlechthin) der Wissenschaft. Die Liste von Beispielen für die Identifizierung der Wissenschaft mit dem Streben nach objektiven Wissen kann man fast beliebig fortsetzen und fast täglich um neu hinzugekommene ergänzen. Vor kurzem berichtete die Zeitschrift Science von einem Projekt, das unter der Ägide der internationalen Interacademy Council (IAC) und des Interacademy Panel (IAP) durchgeführt wurde. Das Projekt, das vor dem Hintergrund der zahlreichen Skandale um Verfehlungen in der wissenschaftlichen Forschung durchgeführt wurde, sollte die Kriterien eines „ verantwortlichen Verhaltens in der Forschung “ ( „ Responsible Research Conduct “ ) erarbeiten. Die Leiter dieses Projekts, Indira Nath (Indien) und Ernst-Ludwig Winnacker (Frankreich), berichteten im Leitartikel von Science, dass das Projekt mit der Feststellung von sieben fundamentalen Werten einsetzte, welche sowohl innerhalb der wissenschaftlichen Forschung als auch im Alltagsleben allgemein honoriert werden. Diese waren: „ honesty, fairness, objectivity, reliability, skepticism, accountability, and openness “ (Nath und Winnacker 2012, S. 863). Es scheint mir berechtigt zu behaupten, dass von diesen sieben Werten Objektivität das spezifisch wissenschaftliche Ideal darstellt, während die anderen sechs auch vom „ Mann auf der Straße “ erwartet werden. Vom Streben nach Sicherheit in der Erkenntnis zum Streben nach ihrer Objektivität Man kann sogar behaupten, dass das Ideal der Objektivität das früher leitende Ideal der Wissenschaft, nämlich das Streben nach Sicherheit der Erkenntnis, ersetzt hat. Jenes Streben stand lange Zeit unzweideutig im Zentrum des Interesses der Philosophen der Wissenschaft, von Francis Bacon 5 Was ist Wissenschaft? 653 und René Descartes bis mindestens zu Carnap. 451 Heute begegnet man der Beteuerung der Sicherheit der wissenschaftlichen Erkenntnis kaum. Die Gründe für die Aufgabe des Sicherheitsideals in der jüngsten Vergangenheit sind sofort nachvollziehbar. Sie ergeben sich zwingend aus Poppers „ Entdeckung “ in der Mitte der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts, dass es aufgrund des Paradoxes der materiellen Implikation unmöglich ist, eine theoretische Behauptung zu beweisen, weshalb induktive Erkenntnis für immer unsicher wird bleiben müssen. Das Streben nach der Objektivität der Erkenntnis kann deshalb als eine weichere Variante des Strebens nach der Sicherheit der Erkenntnis bezeichnet werden. So wie früher Wissenschaft mit sicherer Erkenntnis gleichgesetzt wurde, wird sie heute mit objektiver Erkenntnis identifiziert. Das Erlangen objektiven Wissens kann also als das oberste Ziel der Wissenschaft erachtet werden. Die Methoden, mittels derer einzelne Wissenschaften dieses Ziel erreichen wollen, unterscheiden sich beträchtlich. Nicht alle Wissenschaften können sich auf Experiment oder Feldbeobachtung stützen, nicht alle können auf das Zusammenwirken einer großen wissenschaftlichen Gemeinschaft zählen: Neue Wissenszweige fangen klein an, und erst mit der Zeit wird aus dem Rinnsal ein mächtiger Strom. Wie wir im Kapitel „ Kurzer Abriss der Geschichte der Wissenschaft “ gesehen haben, waren die ersten Wissenschaftler aller Disziplinen Einzelgänger oder sie bildeten höchstens eine kleine Gruppe. Das Ideal der objektiven Erkenntnis kann und soll dagegen von jedem Zweig der Wissenschaft zumindest angestrebt werden. Der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verpflichtet zur Objektivität der Erkenntnis oder zumindest zum Streben nach Objektivität, subjektive Meinung kann höchstens vorübergehend als wissenschaftlich gelten. Das Streben nach objektiver Erkenntnis ist mithin das zentrale Element des „ kleinsten gemeinsamen Nenners “ , der alle Wissenschaften miteinander vereint. Was dieses Streben beinhaltet und impliziert, werden wir weiter unten ausführlich untersuchen. 452 451 Vgl. das Kapitel „ Kurzer Abriss der Geschichte der Wissenschaft “ . 452 Vgl. Kapitel „ Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals “ . 654 5 Was ist Wissenschaft? 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Wissenschaft war nicht immer materialistisch Wie wir gesehen haben, bildet das Fundament der heutigen Wissenschaft eine materialistische Ontologie. Das war aber nicht immer so. Gleichgültig ob wir ihren Ursprung in Fara im alten Babylonien, im antiken Griechenland oder in Europa des 16. und 17. Jahrhunderts sehen, die Pioniere der Wissenschaft waren durchaus gläubige Menschen, die ihre wissenschaftliche Forschung keineswegs als in Konflikt mit ihrem Glauben stehend erachteten. Im alten Babylonien, so darf man pauschal sagen, gab es keine Atheisten. Im Hinblick auf das antike Griechenland ist diese These strittiger, denn man könnte argumentieren, dass zumindest die griechischen Atomisten (Leukipp, Demokrit) und ihre Nachfolger (z. B. Lukrez) nicht an die Götter glaubten. Doch mit dieser Einschränkung wird man sagen können, dass die überwältigende Mehrheit der antiken Gelehrten von der Existenz der Götter und der geistigen Welt überzeugt waren. Interessanter aus unserer Sicht ist jedoch, dass auch am Anfang der Neuzeit und der Wissenschaft im modernen Sinne dies durchaus immer noch der Fall war. So schreiben z. B. Shapin und Schaffer in ihrer 1985 veröffentlichten einflussreichen Studie Leviathan and the Air-Pump, dass im 17. und 18. Jahrhundert das wissenschaftliche Wissen und die wissenschaftliche Methode nicht nur nicht als Waffe im Kampf gegen den Gottesglauben, sondern im Gegenteil als Beweis für der Allmacht und der Herrlichkeit Gottes benutzt wurde oder zumindest benutzt werden konnte: The experimental laboratory was advertised as a place where practically useful knowledge was produced. But the laboratory could also supply solutions to less tangible problems. Did theologians desire facts and schemata that could be deployed to convince otherwise obdurate men of the existence and attributes of the Deity? They, too, should come to the laboratory where their wants would be satisfied. Through the eighteenth century on of the most important justifications for the natural philosopher ’ s role was the spectacular display of God ’ s power in nature. Theologians could come to the place where the Leyden jar operated if they wanted evidence of God ’ s wise and regular arrangements for the order of nature; moralists could come to the natural historian if they wanted socially usable patterns of natural hierarchy, order, and the due submission of ranks. (Shapin und Schaffer 2011, S. 340) Im Kapitel „ Science as Religion ’ s Handmaid “ eines späteren Buches (Shapin 1996) stellt Shapin fest, dass es im 17. Jahrhundert keinen Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion gab: Late twentieth century moderns are accustomed to hearing about the “ inevitable apposition between science and religion, ” if, indeed religion figures at all in our contemporary understanding of science and its history. Possibly much of what I have written in the preceding chapters [. . .] has been read from that perspective. It is time to systematically correct any such impression, for the sense in which early modern changes in natural philosophy “ threatened ” religion or were animated by irreligious impulses needs to be very carefully qualified or even denied. In speaking about the purposes of changing natural knowledge in the seventeenth century, it is obligatory to treat its uses in supporting and extending broadly religious aims. There was no such a thing as a necessary seventeenth-century conflict between science and religion, but there were a number of quite specific problems for the relations between the views of some natural philosophers and the interests of some religious institutions that were precipitated by the changes treated in preceeding chapters. (Shapin ebd., S. 135f., Hervorhebungen im Original) Ähnlich formulierte es David Papineau in der Stanford Encyclopedia of Philosophy hinsichtlich des Verhältnisses Religion - Wissenschaft im 18. Jahrhundert: During the eighteenth-century heyday of Newtonian physics, science raised no objections to non-physical causes of physical effects. As a result, the default philosophical view was a non-naturalist interactive pluralism which recognized a wide range of such non-physical influences, including spontaneous mental influences (or “ determinations of the soul ” as they would then have been called). (Papineau 2009) Auch die Herausgeber der 2012 erschienenen Studie über den sog. Materialismusstreit in Deutschland im 19. Jahrhundert weisen auf die Kompatibilität von Wissenschaft und Religion bis ins 18., ja noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts hin: Zum einen ist es ja nicht strittig, dass in der frühen Neuzeit, in der Phase des Aufkommens der Naturwissenschaften, die großen Leitfiguren dieser neuen Form der Wissenschaftlichkeit keineswegs oder zumindest nicht notwendig, sondern eher ausnahmsweise Materialisten gewesen sind. Auch wenn Thomas Hobbes als Materialist gelten mag: Für Newton oder für Leibniz [man könnte ergänzen: für Bacon, Descartes oder Boyle], ja für die große Bewegung der Physikotheologie vom späten 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland - und in England noch weit länger - lässt sich nicht vom „ Materialismus der Naturwissenschaften “ sprechen. Im Gegenteil: Zu Beginn dieser Entwicklung, nur wenige Jahrzehnte nach dem Abklingen des Kampfes gegen das kopernikanische Weltbild, gelingt es noch, die junge Naturwissenschaft ungezwungen mit dem Gottesgedanken und der Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele zu verknüpfen; die wissenschaftliche Erkenntnis und die religiöse Überzeugung sind sich wechselseitig die stärkste und verlässlichste Stütze. Hier erscheint die Wissenschaft als ein herausragendes Instrument zur Erkenntnis Gottes in seinem Schöpfungswerk und zu seiner Verherrlichung, wie andererseits der Gottesgedanke als die notwendige Bedingung einer rationalen Welterklärung. Denn wie ließe sich die Welt als ein durch rationale Erkenntnis fassbarer Zusammenhang deuten, wenn sie nicht das Werk des genialen und besten Konstrukteurs der Weltmaschine wäre? (Bayertz et al. 2012 a, S. XIII) 656 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Und sie stellen ferner fest, dass viele Wissenschaftler jener Zeit ihre wissenschaftliche Arbeit mit ihren religiösen Überzeugungen problemlos vereinbaren konnten: Der Rekurs auf die Entstehung und den Erfolg der Naturwissenschaften reicht somit zur Erklärung für das Aufkommen das Materialismus nicht aus. Dies zeigt sich zudem auch an der um die Mitte des 19. Jahrhunderts wohl gar nicht so kleinen Zahl derer, die nach wie vor ihre Arbeit als Naturwissenschaftler mit der religös-metaphysischen Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele und dem Dasein Gottes verbinden. (Ebd., S. XIII f.) In der Tat war „ der Vater “ der modernen Wissenschaft, Francis Bacon, keineswegs ein Atheist. Im Gegenteil, in seiner für die Entwicklung der Wissenschaft programmatischen Schrift Novum Organon nahm er direkt auf Gott und sogar auf die Engel und „ andere höhere Wesen “ Bezug: Aber nur Gott, der die Formen 453 geschaffen und den Dingen eingeprägt hat, oder vielleicht den Engeln und anderen höheren Wesen, steht es zu, diese Formen durch bejahende Fälle in unmittelbarer Anschauung ein für allemal vollkommen zu begreifen, denn das geht über Menschenkräfte hinaus. Dem Menschen ist nur vergönnt, über verneinende Fälle voranzuschreiten, um am Ende nach gänzlichem Ausschluss alles Abwegigen zu einer Bejahung zu gelangen. (Bacon 1990 a, Aphorismus 15, S. 351) Äußerst aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Haltung Newtons. Er sah Gott als den weisheitsvollen Schöpfer der Welt und insbesondere des Sonnensystems: This most elegant system of the sun, planets, and comets could not have arisen without the design and dominion of an intelligent and powerful being. And if the fixed stars are the centers of similar systems, they will all be constructed according to a similar design and subject to the dominion of One, especially since the light of the fixed stars is of the same nature as the light of the sun and all the systems send light into all the others. And so that the systems of the fixed stars will not fall upon one another as a result of their gravity, he has placed them at immense distances from one another. He rules all things, not as the world soul but as the lord of all. And because of his dominion he is called Lord God Pantokrator. 454 For „ god “ is a relative word and has reference to servants, and godhood is the lordship of God, not over his own body as is supposed by those for whom God is the world soul, but over servants. The supreme God is an eternal, infinite, and absolutely perfect being; but a being, however perfect, without dominion is not the Lord God. For we do say my God, your God, the God of Israel, the God of Gods, and Lord of Lords, but we do not say my eternal one, your eternal one, the eternal one of Israel, the eternal one of the 453 Wir haben bereits früher ( „ Kurzer Abriss der Geschichte der Wissenschaft “ ) gesehen, dass Bacon unter „ Formen “ nicht platonische Ideen, sondern „ Gesetze und Bestimmungen “ verstand. 454 That is, universal ruler. (Dies ist Newtons eigene Bemerkung an dieser Stelle). 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 657 gods; we do not say my infinite one, or my perfect one. These designations [i. e., eternal, infinite, perfect] do not have reference to servants. The word „ god “ is used far and wide to mean „ lord “ , but every lord is not a god. The lordship of a spiritual being constitutes a god, a true lordship constitutes a true god, and supreme lordship a supreme god, an imaginary lordship an imaginary god. And from true lordship it follows that the true God is living, intelligent, and powerful; from the other perfections, that he is supreme, or supremely perfect. He is eternal and infinite, omnipotent and omniscient, that is, he endures from eternity to eternity, and he is present from infinity to infinity; he rules all things, and he knows all things that happen or can happen. He is not eternity and infinity, but eternal and infinite; he is not duration and space, but he endures and is present. He endures always and is present everywhere, and by existing always and everywhere he constitutes duration and space. Since each and every particle of space is always, and each and every indivisible moment of duration is everywhere, certainly the maker and lord of all things will not be never or nowhere. (Zitiert in Achinstein 2004, S. 95f., Hervorhebung im Original) Nimmt man die Allgegenwart Gottes in der Weltanschauung der Wissenschaftler bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und sogar darüber hinaus zur Kenntnis, so erweist sich die Allgegenwart des Materialismus in der heutigen Wissenschaft als erklärungsbedürftig. Wie ist es dazu gekommen, dass die meisten heutigen Wissenschaftler mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit welcher der große Newton noch im 18. Jahrhundert meinte, es gebe einen allmächtigen Schöpfergott, davon überzeugt sind, dass es weder Gott noch eine geistige Welt gebe? Kann man diese tiefgreifende weltanschauliche Veränderung einfach auf die Überwindung kindlicher Vorstellungen durch die Beweiskraft moderner Forschung zurückführen? Oder verbergen sich hinter ihr auch andere Einflüsse und Gründe? In dem vorliegenden Kapitel werde ich versuchen, die Geschichte des Einzugs des Materialismus in die Wissenschaft nachzuzeichnen, um später 455 die Antwort auf diese Frage liefern zu können. Bevor wir auf diese Geschichte eingehen, eine kleine terminologische Bemerkung: Oberflächlich betrachtet, ist die materialistische Ontologie heute vor allem in den Naturwissenschaften grundlegend: Sie sind es, die explizit und konsequent nach „ mechanistischen “ Erklärungen der Naturphänomene streben. Dieses Phänomen ist weit weniger ausgeprägt in den Geisteswissenschaften. Oberflächlich betrachtet, könnte man sogar meinen, dass sich diese hinsichtlich der Hintergrundontologie ihrer Befunde neutral verhalten. Tatsächlich vermeiden sie es aber tunlichst, in ihren Erklärungen auf irgendwelche Einflüsse aus irgendwelchen geistigen Welten zu rekurrieren, bekennen sich also zumindest implizit zur herrschenden materialistischen Ontologie. Aus diesem Grund scheint es mir angebracht, nicht nur vom Einzug des 455 Im Kapitel „ Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft “ und bes. im Kapitel „ Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse für das soziale Leben und die Wissenschaft: die Steiner ’ sche Revolution “ . 658 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Materialismus in die Naturwissenschaft, sondern von seinem Einzug in die Wissenschaft überhaupt zu sprechen. Dies ist umso berechtigter, wenn man bedenkt, dass eine klare Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften erst am Ende des 19. Jahrhunderts durch Wilhelm Dilthey 456 etabliert wurde, dass aber - wie wir demnächst genauer sehen werden - die materialistische Ontologie bereits in der Mitte jenes Jahrhunderts die Wissenschaft eroberte. Die Weltseele Bevor sich sog. mechanische Philosophie durchsetzte, also das Erklärungsparadigma, nach dem die Welt nach Art einer Maschine funktioniert, betrachtete man das Universum als beseelt und belebt. Diese Sicht der Welt hatte eine sehr ehrwürdige Provenienz. Kein Geringerer als Platon war es, der in seinem Timaios von der Durchdringung der Welt durch eine Seele schreibt: Diese ganze Schlussfolge des immer seienden Gottes in Bezug auf den sein werdenden Gott ließ ihn denselben glatt und ebenmäßig und vom Mittelpunkt aus nach allen Richtungen gleich, als ein Ganzes und einen vollkommenen, aus vollkommenen Körpern bestehenden Körper gestalten. Indem er aber seiner Mitte die Seele einpflanzte, ließ er diese das Ganze durchdringen und auch noch von außen her den Körper umgeben und bildete den einen, alleinigen, einzigen Himmel, einen im Kreise sich drehenden Kreis, vermögend, durch eigene Kraft sich selbst zu befruchten, und keines andern bedürftig, sondern sich selbst zur Genüge bekannt und befreundet; so erzeugte er ihn als einen durch dieses alles seligen Gott. (Platon 1994 a, 34 b) 457 Im weiteren Verlauf seiner Darstellung korrigiert Platon den Eindruck, der aufgrund des Vorhergehenden entstehen könnte, dass die Weltseele erst nach der Erschaffung des Weltkörpers entstanden sei, und betont, dass sie das Ursprünglichere und alles Beherrschende sei: Die Seele aber ward nicht, wie wir jetzt später von ihr zu sprechen versuchen, so auch als das jüngere Erzeugnis von dem Gotte ersonnen; denn nimmer hätte er wohl gestattet, dass das Ältere von dem Jüngeren, mit dem er es verband, beherrscht würde, sondern wir drücken uns wohl nur so aus, wie wir gar häufig vom Zufall und dem Geratewohl abhängen; er aber gestaltete die ihrer Entstehung und ihrer Vorzüglichkeit nach frühere und ältere Seele als Gebieterin und Beherrscherin des ihr unterworfenen Körpers aus solchen Bestandteilen und auf solche Weise. (Ebd., 34 c. Vgl auch 35 a - 37 c) Die Annahme, dass die Weltseele älter als der Weltkörper sei, wiederholt Platon in den Nomoi (Platon 1994 b, 892 a). Aus dieser Prämisse zieht er den 456 Die maßgebliche Schrift Einleitung in die Geisteswissenschaften wurde 1883 veröffentlicht. 457 Vgl. Hooykaas: „ To the ancient Greeks [. . .t]he world was a living organism, the divine source of all living beings, the gods included “ (Hooykaas 1984, S. 1). 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 659 Schluss, dass die seelischen Eigenschaften den körperlichen, welche üblicherweise gerne als die „ primären Qualitäten “ betrachtet werden, vorausgehen: Meinung aber und Fürsorge und Vernunft und Kunst und Gesetz dürften wohl früher sein als das Harte und Weiche und Schwere und Leichte; und so würden wohl auch die großen und ersten Werke und Handlungen, die unter den Ersten sind, der Kunst zugehörig; die von Natur aber und die Natur, welche sie nicht richtig mit diesem Namen bezeichnen, dürften später sein und ihr Anfang von Kunst und Vernunft herrühren. (Ebd., 892 b) So dürften also wohl Sinnesart und Gesittung und Wünsche und Schlüsse, wahre Meinung, Sorgsamkeit und Erinnerung früher entstanden sein als die Länge, Breite und Dicke sowie die Kraft der Körper, wenn jedenfalls die Seele vor dem Körper. (Ebd., 896 d) Diese Argumentation scheint zunächst die Welt auf den Kopf zu stellen: Ist es nicht offensichtlich, dass die Eigenschaften der Materie, eben Länge, Breite, Gewicht usw., jeglichen seelischen Bestimmungen vorausgehen müssen? Wir haben uns im Laufe der letzten anderthalb Jahrhunderte an diese Vorstellung gewöhnt, aber ist sie deshalb zwingend? Ist es nicht denkbar, dass Seele oder Geist der Materie vorausgeht, nicht umgekehrt? Schließlich ist es uns bis heute nicht gelungen, den als Ursprung des Universums geltenden Urknall mit seinem gewaltigen Aufkommen an Energie und Materie zu erklären, was etwa McKenna zu der ironischen Feststellung in Bezug auf den Stand unseres astrophysischen Wissens veranlasst: What orthodoxy teaches about time is that the universe sprang from utter nothingness in a single moment. [. . .] It ’ s almost as if science said, „ Give me one free miracle, and from there the entire thing will proceed with a seamless, causal explanation “ . (McKenna in Sheldrake et al. 2005, zitiert in Sheldrake 2012, S. 65) Ist es daher nicht sinnvoll, ein Prinzip anzunehmen, das dem Urknall usw. vorausgeht? Und wenn ja, sollten wir ein materielles oder vielleicht doch ein seelisches bzw. geistiges Prinzip supponieren? Wie auch immer wir diese Frage beantworten, für die Menschen früherer Jahrhunderte war es eine Selbstverständlichkeit, dass etwas Geistig-Seelisches dem Stofflichen vorausgeht. Die biblische Schöpfungserzählung, an deren Wahrheit bis ins 17. Jahrhundert praktisch niemand zweifelte, geht etwa davon aus, dass Gott, also Geist, „ den Himmel und die Erde “ schuf und nicht umgekehrt und dass der Mensch beseelt ist. Gott der Herr habe den Menschen aus dem Staub der Erde gebildet und „ in seine Nase Atem des Lebens [gehaucht]; so wurde der Mensch eine lebende Seele “ (1 Mose 2,7). Was er in die Nase des Menschen hauchte, musste aber bereits existieren, und da es in der Genesis kein Hinweis auf die Erschaffung der Seele nach der Erschaffung von Himmel und Erde gibt, ist davon auszugehen, dass die Seele dem Himmel und der Erde vorausgeht. Man muss aus dieser Einsicht 660 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft keineswegs die Schlussfolgerung ziehen, dass sich hinter der wahrnehmbaren Welt eine (die) Weltseele verbirgt, aber die Existenz von Seelen war für die Menschen des 16., 17. Jahrhunderts über jeden Zweifel erhaben und auch die Vorstellung einer Weltseele war allgegenwärtig. Es würde hier zu weit führen, die Stationen der Entwicklung dieses Begriffes von Nikolaus von Kues (1401 - 1464), über Marsilio Ficino (1433 - 1499), Giovanni Pico della Mirandola (1463 - 1494), Gerolamo Cardano (1501 - 1576) (vgl. dazu Jantzen und Kisser 2000, S. 19 - 23), bis Robert Fludd (1574 - 1637) (vgl. dazu Lolordo 2007, S. 46) zu schildern. Ich belasse es bei einigen Hinweisen: Noch im 16. Jahrhundert schrieb Leonardo da Vinci (1452 - 1519) mit Überzeugung von der Existenz einer Weltseele: We can say that the earth has a vegetative soul, and that its flesh is the land, its bones are the structure of the rocks [. . .] its breathing and its pulse are the ebb and flow of the sea. (Zitiert in Brooke 1991, S. 120) William Gilbert (1540 - 1603), ein Pionier der Wissenschaft des Magnetismus, stellte ebenfalls mit einer gewissen Selbstverständlichkeit fest: We consider that the whole universe is animated, and that all the globes, all the stars, and also the noble earth have been governed since the beginning by their own appointed souls and have the motives of self-conservation. (Zitiert in Brooke ebd., S. 119) Giordano Bruno (1548 - 1600), der allgemein als der erste Märtyrer der Wissenschaft gilt, bezog sich in seiner Philosophie ausdrücklich auf die platonische Idee der Weltseele: Now as far as the efficient cause is concerned: I am saying that the universal physical efficient cause is the Universal Intellect, which is the first and principle faculty of the Soul of the World; which is in turn the universal form of the world. . . The Universal Intellect is the intimate, most real and peculiar faculty and potential part of the Soul of the World. (Zitiert in Vassányi 2011, S. 332) If, then, spirit, soul, life is found in all things and fills out all matter in several different degrees, then it is the real act and the real form of all things. Therefore, the Soul of the World is the formal constitutive principle of the universe, and of whatever the universe includes [. . .]. (Zitiert in Vassányi ebd., S. 334) Lolordo schreibt, dass noch am Anfang des 17. Jahrhunderts die Doktrin von der Weltseele neben dem Aristotelismus das zweite zentrale Element des intellektuellen Klimas war (Lolordo ebd., S. 54). Religiöse Gründe für den Abschied von der Weltseele 1605 fasste indessen Kepler (1571 - 1630) sein wissenschaftliches Programm folgendermaßen zusammen: My aim is to show that the celestial machine is to be likened not to a divine organism but rather to clockwork. [. . .] Moreover I show how this physical 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 661 conception is to be presented through calculation and geometry. (Kepler im Brief an Herwart, Feb. 10, 1605 458 ) Die Welt ist dem Astronomen nicht mehr ein beseelter „ Organismus “ , sondern eine „ Maschine “ , ein „ Uhrwerk “ , dessen Funktionsweise mit Mathematik und Geometrie darstellbar ist. Was bewog Kepler, die ontologische Einstellung seiner Zeit zu revidieren? Ein wichtiger Grund für den Abschied von der Weltseele ist paradoxerweise eine Konsequenz der theologischen Spekulation. Das Verdienst, darauf aufmerksam gemacht zu haben, gebührt dem Utrechter Wissenschaftshistoriker Reijer Hooykaas (1906 - 1994). Hooykaas wies auf den radikalen Unterschied zwischen der Weltauffassung des antiken Griechenlands und der judäisch-christlichen Tradition in Bezug auf die Rolle der Götter bzw. der Gottheit bei der Erschaffung der Welt hin. Für die Griechen spätestens seit Platon bis zu den Stoikern war das sichtbare Universum an sich ein göttliches Wesen, das Bild des höchsten Gottes, und die Sterne und Planeten galten ihnen ebenfalls als beseelte, ja sogar göttliche Wesen (Hooykaas 1984, S. 4, 6). Wesentlich für diese Tradition war die Vorstellung, dass die Gottheit mit der Aufgabe konfrontiert war, Ordnung (die der Ideenwelt) in die chaotische Materie zu bringen, eine Materie, die sie nicht selbst geschaffen hat und die ihr Widerstand bot (ebd., S. 3f.). Platons Gott war ein Handwerker (Demiurg), der einen gegebenen Stoff formt. Im scharfen Kontrast dazu kann man die biblische Tradition als eine Entgötterung der Natur interpretieren (ebd., S. 7). Der Gott der Bibel ist der alleinige Herrscher im All, der alles aus Nichts hervorbringt und mithin keinen Widerstand der Materie zu überwinden hat. 459 Er ist allmächtig, unveränderlich und ewig, im Gegensatz zu allen geschaffenen Dingen, die der Veränderung und letztlich der Vergänglichkeit unterworfen sind (ebd., S. 8). Mehr noch: Der Mensch, dessen Leib in der griechischen Tradition noch eine Schöpfung niedriger Gottheiten ist (ebd., S. 4), erscheint in der Bibel als Geschöpf des Höchsten und teilt mit ihm (zumindest im Paradies) die Herrschaft über die Schöpfung (ebd., S. 9): 458 http: / / homepages.wmich.edu/ ~McGrew/ Kepler.htm (heruntergeladen am 19. 10. 2014). 459 Diese Interpretation von 1. Moses 1,1-2 ist zwar weit verbreitet, aber strittig. „ Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis war über der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über den Wassern. “ In dieser Beschreibung kommen Begriffe vor, die mit der Schöpfung des Himmels und der Erde möglicherweise nichts zu tun haben: Finsternis, Tiefe, Wasser, was als ein Hinweis darauf gedeutet werden kann, dass vor Himmel(n) und Erde bereits andere Gebilde vorhanden waren. Überdies ist die Aussage, dass aus der Schöpfung Finsternis und eine wüste und leere Erde hervorgingen, kaum mit der Vorstellung eines allmächtigen, allweisen und zugleich gütigen Gottes vereinbar. Überdies ist auch der Begriff Gott ungenau: Für „ Gott “ steht im 1. Kapitel der Genesis der Ausdruck „ Elohim “ , ein Plural (Elberfelder Studienbibel 2003 a, S. 1136). Es ist also am Anfang der Bibel überhaupt nicht die Rede von einem allmächtigen Gott, sondern von einer Pluralität geistiger Wesenheiten, die in Harmonie miteinander die Welt erschaffen. 662 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen in unserm Bild, uns ähnlich! Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde und über alle kriechenden Tiere, die auf der Erde kriechen. (1. Moses 1,26) Dieses Bild wird von der christlichen Tradition übernommen. In ihr kommt aber noch stärker als in der alttestamentarischen Tradition die Vorstellung zum Tragen, dass Gott nicht nur die Welt schafft, sondern sie auch durch seinen Sohn aufrechterhält (Hooykaas ebd. S. 8): [Christus], der Ausstrahlung [Gottes] Herrlichkeit und Abdruck seines Wesens ist und alle Dinge durch das Wort seiner Macht trägt [. . .] (Hebräer 1,3) Dadurch treten nach Hooykaas Gott und Natur in einen Gegensatz zueinander: Thus, in total contradiction to pagan religion, nature [im Alten und Neuen Testament] is not a deity to be feared and worshipped, but a work of God to be admired, studied and managed. [. . .] In the Bible God and nature are no longer opposed to man, but God and man together confront nature. The denial that God coincides with nature implies the denial that nature is god-like. (Ebd. S. 9) Die „ Entzauberung “ der Natur durch die mechanistische Philosophie seit dem 17. Jahrhundert wurde somit paradoxerweise durch das jüdisch-christliche Gottesverständnis vorbereitet. Hinzu kommt nach Hooykaas ein zweiter Aspekt: Die Vorstellung von substantiellen Formen und Intelligenzen, die nach der griechischen und mittelalterlichen philosophischen Tradition in der Natur wirksam sind, schien manchen Forschern und Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts mit der Doktrin der Allmacht Gottes unvereinbar (ebd. S. 16f.) 460 . So stellte der französische Arzt Sebastian Basso 1621 fest, dass es ein Irrtum sei, solchen Naturen bzw. Intelligenzen quasigöttliche Macht zuzuschreiben, und dass es nur eine allgemeine Natur, eine universelle Ursache gebe, Gott selbst: „ Er, welcher überall anwesend ist, schafft in allen Dingen direkt “ (ebd. S. 17) Ähnlich meinte Robert Boyle (1627 - 1691), dass es eine Beleidigung Gottes und ein Hindernis für die Erforschung von Gottes Werk sei, die Natur als ein göttliches Wesen vorzustellen. Gott habe die Materie wie ein geschickter Ingenieur den Gesetzen der Bewegung unterworfen und er unterhalte sie durch seine andauernde Aktivität, wofür er 460 Vgl. auch Vassányi 2011, S. 5: „ But as we have just suggested, the change in the internal structure of the concept of the world soul is accompanied in early modernity by a fundamental turn in the philosophical evaluation of the theory [of the world soul] itself. This turn is rooted in the new philosophical-theological conception of the relationship of the Absolute with conditioned (created) reality. For a rationalistic Christian theology, God as the omnipotent Creator and permanent Sustainer of the phenomenal as well as intelligible universe, needs no intermediary to interact between Him and nature. On the contrary, it would categorically contradict the concept of omnipotence to postulate an omnipresent spiritual agent that would order and organize nature by delegation of the power of God “ (Hervorhebung im Original). 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 663 keine Vermittler oder Helfer brauche (ebd. S. 18). Auch Isaac Newton wies die Ansicht, dass Gott die Seele der Welt sei, zurück: He is not the soul of the world, but the Lord over all [. . .]. For God is a word expressing a relation, and it refers to servants [. . .] a Being, however perfect, without rule, cannot be called Lord God [. . .] for a God without rule, providence and design, is nothing but Necessity and Nature [. . .]. (Zitiert in Hooykaas ebd., S. 19) 461 Eine ähnliche Kritik an der Idee der beseelten Natur wurde auch von Nicolas Malebranche (1638 - 1715) und George Berkeley (1685 - 1753) geäußert. Malebranche meinte, weil es nur einen Gott gebe, könne es auch nur eine (wahre) Ursache geben, und zwar Gottes Willen. Gott könne die Schöpfungen nicht zu Ursachen erheben, denn dies würde bedeuten, aus ihnen Götter zu machen (ebd., S. 20). Berkeley war der Überzeugung, man könne der Natur, der Materie oder dem Schicksal keine Wirkungen zuschreiben, denn die Heilige Schrift führe sie unmittelbar auf Gott zurück (ebd., S. 23). Für Berkeley waren daher die sog. Naturgesetze keine Notwendigkeiten der Natur, sondern Resultate freier Handlungen Gottes (ebd., S. 23). In diesem Sinne behauptete übrigens noch 1860 Charles Kingsley, ein anglikanischer Priester und Professor für Moderne Geschichte an der Cambridge Universität, dass die sog. Naturgesetze keine eigentlichen Gesetze, sondern nur „ Gottes Gewohnheiten “ seien (ebd., S. 24). Hooykaas schließt seine Betrachtung mit dem Hinweis, dass sich die Wissenschaftler der religiösen Wurzel ihrer Ablehnung der beseelten Natur gewöhnlich nicht bewusst seien: Most scientists of the nineteenth and twentieth centuries [. . .] may have been unconscious of the fact that the metaphysical foundations of their discipline stemmed, in spite of all secularization, in great part from the biblical concept of God and creation. (Ebd., S. 26) Ich möchte diese ideengeschichtliche Darstellung nicht abschließen, ohne einen weiteren Aspekt wenigstens kurz zu erwähnen, der wesentlich mit der 461 Interessanterweise war Newton davon überzeugt, dass der regelmäßige Lauf der Natur ein Resultat der sie direkt stützenden Aktivität Gottes sei (Hooykaas ebd., S. 19). Damit geht einher, dass Newton den Raum als eine Art Wahrnehmungsorgan Gottes ( „ sensorium Dei “ ) betrachtete. In der zweiten englischen Ausgabe seiner Optik von 1717 heißt es unter „ Query 28 “ : „ Does it not appear from phenomena, that there is a Being incorporeal, living, intelligent, omnipresent, who, in infinite space, as it were in his sensory, sees the things themselves intimately, and thoroughly perceives them, and comprehends them wholly by their immediate presence to himself: of which things the images only, carried through the organs of sense into our little sensoriums, are there seen and beheld by that which in us perceives and thinks. “ Und unter „ Query 23 “ : „ [This powerful, ever-living Agent] being in all places, is more able by his will to move the bodies within his boundless uniform sensorium, and thereby to form and reform the parts of the universe, than we are able by our will to move the parts of our own bodies “ (zitiert in Vassányi ebd., S. 163). 664 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Rolle und Aufgabe des Wissenschaftlers zu tun hat. Hooykaas macht darauf aufmerksam, dass die oben zitierte Genesis-Stelle, die den Menschen als Verwalter der Schöpfung einsetzt, nicht ohne Folgen für die wissenschaftliche Erforschung der Wirklichkeit war. Denn während die Griechen das Gefühl hatten, dass der Natur zu befehlen ein Ding der Unmöglichkeit sei, weil selbst die Götter das Gesetz der Notwendigkeit respektieren müssen, waren die biblischen Autoren davon überzeugt, dass Gott ein Teil seiner Macht an die höchste seiner Schöpfungen verliehen habe. Die Konsequenz dieser Ansicht war, dass sich die früher feste, unüberschreitbare Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen, der Natur und der techne verwischte (ebd., S. 63). Francis Bacon (1561 - 1626) meinte, dass der Mensch fähig sei, mit der himmlischen wie auch mit der irdischen Natur zu konkurrieren. Entdeckungen seien neue Schöpfungen und Nachahmungen von Gottes Werken, die dem Schöpfer willkommen seien (ebd., S. 64). Bacon war davon überzeugt, dass Gott die Menschen zu seinen Mitarbeitern erkoren und ihnen geboten habe, seine Schöpfungen zu untersuchen (ebd., S. 68). Wie es ein theologischer Irrtum sei, den Willen Gottes zu ignorieren, der in der Heiligen Schrift offenbart sei, sei es ein Irrtum, seine Macht zu missachten, die sich in seinen Schöpfungen offenbare. Man solle daher nicht aus Sorge, dass wissenschaftliche Forschung zu mangelnder Ehrfurcht vor Gottes Offenbarung führe, dem entgegengesetzten Irrtum verfallen, die Erforschung der Phänomene der Natur zu verbieten (ebd., S. 68). Es ist unschwer einzusehen, dass die religiöse Vorstellung, der Mensch sei das höchste Geschöpf Gottes, dem von Gott die Macht verliehen wurde, über die Schöpfung zu herrschen und sie zu erforschen, als eine Ermächtigung für die Entwicklung der Wissenschaft und der Technik diente. Das Vorhandensein eines solchen religiös-ideologischen Unterbaus erklärt jedoch nicht, warum diese Ideen erst ca. 2000 Jahre nach ihrem Aufkommen in der Wissenschaft wirksam wurden. 462 Die mechanische Uhr Daneben führten sicherlich andere Faktoren zur Verdrängung der Konzeption einer Weltseele durch die mechanistische Philosophie. Shapin (Shapin 1996, S. 31f.) und Grant (Grant 2007, S. 283f.) weisen etwa auf die Weiterentwicklung der mechanischen Uhr hin. Die erste urkundliche Erwähnung einer Räderuhr datiert auf das Jahr 1335, während der Renaissance aber wurde diese Technik wesentlich verfeinert und die Federuhr eingeführt (ca. 1430), was schließlich zu der Verkleinerung der Uhren bis auf Taschengröße führte. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts wurden die ersten Taschenuhren mit Spindelhemmung hergestellt. Viele bedeutende Uhrmacher in England, 462 Diese Zeitspanne gilt unter der Annahme, dass die ersten fünf Bücher des Alten Testaments spätestens ungefähr 500 vor Christus verfasst wurden. Vgl. http: / / en. wikipedia.org/ wiki/ Old_Testament (heruntergeladen am 22. 10. 2014). 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 665 Frankreich und Deutschland produzierten Stücke allerhöchster Qualität und strebten in einem regelrechten Wettlauf nach steter Verbesserung. Es liegt nahe zu vermuten, dass die zunehmende Präsenz von Maschinen im Alltagsleben, allen voran der kompliziertesten, der Uhr, Menschen auf die Idee brachte, dass das Universum eine überdimensionale und überkomplexe Maschine sei, die wie eine kleine Taschenuhr aus winzig kleinen Bestandteilen zusammengesetzt wurde. So schreibt Shapin: Of all the mechanical constructions whose characteristics might serve as a model for the natural world, it was the clock more than anything else that appealed to many early modern natural philosophers. Indeed, to follow the clock metaphor for nature through the culture of early modern Europe is to trace the main contours of the mechanical philosophy, and therefore of much of what has been traditionally construed as central to the Scientific Revolution. (Shapin 1996, S. 32) Und Grant pflichtet ihm bei: In the seventeenth century, many natural philosophers [. . .] came to view nature as a machine that could be taken apart to see how one part acts on another part. In brief, they adopted what came to be called the „ mechanical philosophy “ , an approach that sought to determine what made things „ tick “ . Indeed, „ tick “ is a key word, because the machine that came to symbolize nature ’ s actions was the mechanical clock. (Grant 2007, S. 283) Selbstverständlich sah man zunächst noch Gott als den „ Uhrmacher “ an. Ein Zeugnis dafür liefert uns Kepler mit seinen Überlegungen zu den Gründen, weshalb die Sonne der Sitz des Allmächtigen sein müsse: In the first place, lest perchance a blind man might deny it to you, of all the bodies in the universe the most excellent is the sun, whose whole essence is nothing else than the purest light, than which there is no greater star; which singly and alone is the producer, conserver, and warmer of all things; it is a fountain of light, rich in fruitful heat, most fair, limpid, and pure to the sight, the source of vision, portrayer of all colours, though himself empty of colour, called king of the planets for his motion, heart of the world for his power, its eye for his beauty, and which alone we should judge worthy of the Most High God, should he be pleased with a material domicile and choose a place in which to dwell with the blessed angels. [. . .] Since, therefore, it does not befit the first mover to be diffused throughout an orbit, but rather proceed from one certain principle, and as it were, point, no part of the world, and no star, accounts itself worthy of such a great honour; hence by the highest right we return to the sun, who alone appears, by virtue of his dignity and power, suited for this motive duty and worthy to become the home of God himself, not to say the first mover. (Zitiert in Burtt 2003, S. 59) Auch eine Anekdote aus Descartes ’ Leben kann als Zeugnis dieser neuen Denkungsweise dienen: Seine Überzeugung, dass Lebewesen Automaten seien, geht demnach auf eine Vision zurück, die ihm durch „ den Engel der Wahrheit “ eingegeben wurde. Der Engel habe ihm offenbart, dass Mathematik der einzige Schlüssel sei, mit welchem er alle Geheimnisse der Natur ent- 666 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft rätseln könne (Burtt 2003, S. 105). Diese Vision habe ihn dann zur Erkenntnis der grundsätzlich mechanische Beschaffenheit des Weltalls gebracht, eine Einsicht, die er später auch auf die Lebewesen übertrug (Brooke 1991, S. 128f.). Für den gegenwärtigen Gedankengang ist entscheidend, dass es sich beim Übergang von der Konzeption der Weltseele zum mechanistischen Uhrenmodell keineswegs um einer Folge wissenschaftlicher Entdeckungen handelte, sondern um eine Art Paradigmenwechsel, also einen nicht ausschließlich rational begründbaren Übergang von einer Form der Weltauffassung oder -betrachtung, der aber seinerseits für die nachfolgende Forschung richtungweisend werden sollte. Wie der Fall Kepler zeigt, geschah der Übergang weder abrupt noch stellte er eine Selbstverständlichkeit dar. So dokumentiert Hooykaas, dass Kepler zwischen dem Gedanken der Weltseele und der mechanistischen Auffassung im Laufe seines Lebens mehrmals hin- und herschwankte. 1597 bekannte er sich noch zu der organischen Auffassung, 1605 wechselte er, wie oben zitiert, ins Lager der Mechanismus-Vertreter, und 1619 und 1621 vollzog er erneut einen Wechsel (Hooykaas 1984, S. 62). Offensichtlich fiel es Kepler wie seinen Zeitgenossen nicht leicht, sich von der Vorstellung der Welt als eines beseelten Organismus zu verabschieden. Methodischer Atomismus Die Beweggründe für die Hinwendung zu einer mechanistischen Erklärung der Wirklichkeit sind nicht nur in theologischen Überlegungen und der zunehmenden Gegenwart mechanischer Einrichtungen im Alltag zu finden, sondern auch in der methodologischen Entwicklung. 1628 verfasste René Descartes seine Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, die uns heute als einigermaßen selbstverständliche Methoden des rationalen Vorgehens beim Problemlösung vorkommen. Man kann sie als ein Destillat der Erfahrungen betrachten, die einerseits bei der Lösung mathematischer Probleme, andererseits bei der Herstellung von Mechanismen gemacht worden waren (wobei ich selbstverständlich nicht behaupten will, dass Descartes selbst solche Mechanismen herstellte). Schauen wir uns einige dieser Regeln genauer an. Die erste stellt fest: Es muss das Ziel der wissenschaftlichen Studien sein, die Erkenntniskraft darauf auszurichten, dass sie über alles, was vorkommt, unerschütterliche und wahre Urteile herausbringt. (Descartes 1997, S. 3) Diese Regel ist auch nach bald vierhundert Jahren ein Grundpfeiler des wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens, wenngleich zugegeben werden muss, dass wir heute die Hoffnung verloren haben, dass wir je „ unerschütterliche “ Urteile erlangen werden. Bereits die zweite Regel offenbart aber eine entscheidende Abkehr von der Erkenntnishaltung der vorangehenden Epoche: Nur mit solchen Gegenständen darf man umgehen, zu deren zuverlässiger und unzweifelhafter Erkenntnis unsere Erkenntniskraft offenbar ausreicht. (Ebd., S. 7) 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 667 Was könnte selbstverständlicher sein als das Postulat, dass man, wenn man etwas verstehen will, nur mit solchen Gegenständen operieren kann, die man vollständig verstehen kann - so vollständig eben, wie man den Mechanismus einer Uhr überschauen kann! Man muss sich aber die ganze Tragweite dieser Regel vergegenwärtigen: Sobald man sie akzeptiert, muss man auf Entitäten wie die Weltseele oder Seelen verzichten. Denn von ihnen ist es unmöglich zu sagen, dass unsere Erkenntniskraft „ zu deren zuverlässiger und unzweifelhafter Erkenntnis [. . .] ausreicht “ . Bereits dieses methodologische Postulat zieht also nach sich, dass sich der Blick der Forscher von solchen Entitäten ab- und anderen, einfacheren, überschaubareren Gegenständen zuwendet. Descartes ’ Postulat ist jedoch in Anbetracht der Erfahrungen, die Menschen im Zuge der Herstellung der Uhren und anderer komplexer Mechanismen gewonnen haben, nachvollziehbar: Nur wenn man die einfachen Komponenten und ihre Funktion vollständig versteht, so hat man gelernt, kann man komplexe Aggregate aus ihnen herstellen kann, deren Funktionsweise man ebenso gut verstehen und daher auch beherrschen kann. Regel 5 und 9 arbeiten dieses grundlegende Postulat weiter aus: 5. Die ganze Methode besteht in der Ordnung und Disposition dessen, worauf man sein geistiges Auge richten muss, um irgendeine Wahrheit zu finden. Und zwar werden wir diese Regel genau befolgen, wenn wir verwickelte und dunkle Propositionen stufenweise auf einfachere zurückführen und sodann von der Intuition 463 der allereinfachsten zur Erkenntnis aller anderen über dieselben Stufen hinaufzusteigen versuchen. (Ebd., S. 29) 9. Es ist zweckmäßig, die Erkenntniskraft ganz den kleinsten und höchst einfachen Sachverhalten zuzuwenden und längere Zeit dabei zu verweilen, solange bis es uns zur Gewohnheit wird, die Wahrheit in deutlicher und scharfblickender Intuition zu erfassen. (Ebd., S. 57) Diese Ratschläge sind eher der Erfahrung des Mathematikers als des Uhrmachers entsprungen und können ohne weiteres auf das rein gedankliche, deduktive Verfahren angewandt werden. Sie lassen sich aber durchaus auch - und dies ist in unserem Zusammenhang entscheidend - als Anweisung für die Erforschung komplexer Vorgänge in der Natur verstehen: Zerlege komplexe Sachverhalte so lange in einfachere, bis du auf die einfachsten und und völlig überschaubaren, damit aber auch verständliche Einheiten stößt! Erst wenn man diese Einheiten vollständig versteht, so Descartes ’ methodologischer Atomismus, wird man den komplexen Sachverhalt vollständig verstehen können. Diese Vorgehensweise scheint uns heute so selbstverständlich zu sein, dass man vergisst, dass sie sich auf eine unhinterfragte Annahme stützt: dass 463 Mit „ Intuition “ ist hier nicht irgendeine dunkle Ahnung, sondern eine klare Einsicht im Sinne der 3. Regel gemeint, die besagt, dass man im Erkenntnisstreben nicht danach zu fragen hat, was andere gemeint haben (kein Autoritätsglauben also), oder was wir selbst mutmaßen, sondern danach „ was wir in klarer und evidenter Intuition sehen oder zuverlässig deduzieren können “ (ebd., S. 15). 668 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft eine Rückführung des Komplexen auf das Einfachere möglich und sinnvoll ist. Wir haben bereits in der Diskussion des Tractatus gesehen, dass Wittgenstein davon ausgeht, dass der Gegenstand einfach ist (2.02) und sich jede Aussage über Komplexe in eine Aussage über deren Bestandteile zerlegen lässt (2.0201). Genau diese Annahmen liegen den Regeln von Descartes zugrunde, obschon er sie nicht explizit formuliert. Es ist unbestritten, dass wir die Dinge gewöhnlich so begreifen, wie es Descartes beschreibt: Stück für Stück, Schritt für Schritt. Wir haben auch zweifelsohne die bestmöglichen Erfahrungen mit dieser Vorgehensweise bei der Herstellung selbst der komplexesten Maschinen gemacht: Sie lassen sich aus einfachen, überschaubaren Elementen zusammenfügen und funktionieren tadellos. Darf man jedoch aus dieser Erfahrung schließen, dass die Natur, insbesondere die belebte Natur, nach dem gleichen Prinzip funktioniert, dass z. B. die Pflanzen aus kleinen, einfachen, überschaubaren Elementen aufgebaut sind? Ich hoffe in den Exkursen „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ , „ Können Gene Morphogenese erklären? “ und „ Können Proteine die Leistungen erbringen, die ihnen zugeschrieben werden? “ gezeigt zu haben, dass auf diesem Wege doch erhebliche Hürden stehen, welche die Möglichkeit einer vollständigen mechanistischen Erklärung solcher Phänomene wie Bewusstsein, Denken, Verstehen, Morphogenese usw. ernsthaft in Frage stellen. Jedenfalls hat sich die Hoffnung, die das 17. Jahrhundert mit dem methodischen Atomismus verband, inzwischen doch merklich abgeschwächt und ihren Höhepunkt überschritten. Gerade dieser methodologische Atomismus scheint mir allerdings das Aufkommen des ontologischen Atomismus wesentlich begünstigt zu haben. Wenn man nämlich die Wirklichkeit in kleine Stücke zerlegen muss, um sie gründlich verstehen zu können, ist anzunehmen, dass der Zerlegungsprozess irgendwann zum Abschluss kommen wird. Am Ende dieses gedanklichen, aber eben realen Prozesses sollten irgendwelche kleinsten und dennoch immer noch begreifliche Entitäten vorhanden sein, aus welchen die Ganzheiten gedanklich und real wieder aufgebaut werden können. Auf dem Nährboden des methodologischen Atomismus Descartes ’ konnte so der antike Atomismus seine Renaissance feiern. Einzug des Atoms und Empirie Der klassische Atomismus gelangte über verschiedene Traditionslinien zu den humanistischen Denkern der Renaissance. Zum einen wurde 1417 das verlorene Werk De rerum natura von Lukrez mit seinem expliziten Atomismus „ wiederentdeckt “ ; zweitens beinhalteten die griechischen medizinischen Schriften Relikte des klassischen Atomismus; die dritte Quelle ist paradoxerweise 464 Aristoteles, und zwar seine Physik. Aristoteles äußert darin zunächst die Meinung, dass das Unendliche unerkennbar sei. Sein Argument 464 Denn Aristoteles lehnte den materialistischen Atomismus eigentlich stets ab (Lolordo 2007, S. 130). 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 669 scheint sich auf unendlich Großes zu beziehen, aber von der Logik der Sache her müsste man das Gleiche vom unendlich Kleinen behaupten, und gewisse seiner Formulierungen lassen tatsächlich vermuten, dass er auch das unendlich Kleine als unerkennbar einstufte: Wenn nun also das Unendliche, insofern es unendlich ist, unerkennbar ist, so ist das hinsichtlich Menge oder große Unbegrenzte ein unerkennbares So-und-so-viel, das hinsichtlich der Form Unbestimmte ist ein unerkennbares So-und-so-beschaffen. Wären nun die Anfangsgründe unendlich, sei es der Menge, sei es der Art nach, so wäre es unmöglich, über das, was sich aus ihnen ergibt, ein Wissen zu gewinnen. (Aristoteles 1987, 187 b [S. 21]) Diese Überlegung würde an sich unendlich kleine Grundelemente der Wirklichkeit nicht ausschließen, sie wären jedoch unerkennbar, was aus Sicht der wissenschaftlichen Erforschung der Wirklichkeit selbstverständlich sehr problematisch wäre. Im weiteren Verlauf seiner Argumentation stellt Aristoteles jedoch fest, dass selbst bei beliebig weit fortgeschrittener Teilung eines Ganzen eine Mindestmenge desselben übrig bleiben müsse: Wenn man nämlich das aus dem Wasser sich bildende Fleisch wegnähme und wenn aus dem übriggebliebenen Wasser erneut Weiteres durch Entmischung sich bildete - wenn dies sich Herausbildende auch immer weniger sein wird - , so wird es dennoch nach der Seite der Geringfügigkeit hin eine bestimmte Größe nicht unterschreiten. (Ebd., S. 23) Wenn man die große Autorität berücksichtigt, die Aristoteles ’ Schriften im europäischen Mittelalter genossen, wird nicht überraschen, dass diese recht allgemeine Vorstellung, dass die Teilung einer Substanz nicht unendlich lang wiederholt werden könne, zu der Entwicklung der Idee führte, dass es Minima von jeglicher mineralischer, pflanzlicher, oder tierischer Substanzen gebe, eine Position, die dem Atomismus ähnelt, aber mit ihm nicht identisch ist, da sie keine Erklärung für die Entstehung dieser Substanzen bietet. Die Doktrin der minima naturalia wurde in der averroistischen Interpretationstradition von Aristoteles ’ Werk im 16. Jahrhundert weiterentwickelt (Meinel 1988, S. 70). Welche wissenschaftlichen Argumente sprachen aber für den Atomismus? Der Atomismus bzw. seine Nachfolgetheorien gelten heute als unbezweifelbare, unhintergehbare wissenschaftliche Orthodoxie. Wissenschaft wiederum bedeutet uns heute vor allem ein Wissenskorpus, das sich auf die Erfahrung und Experiment stützt.Man sollte also meinen, dass der Atomismus - eine wissenschaftliche Theorie par excellence - auf wissenschaftlichem Wege, mittels empirischer Argumente Einfluss gewonnen habe. Schon ein flüchtiger Blick auf die Gegebenheiten des 17. Jahrhunderts lässt hier aber Zweifel aufkommen: Gab es damals überhaupt Mittel, die Existenz von Atomen empirisch nachzuweisen? Hat man sich bei der Übernahme der atomistischen Theorie auf empirische Argumente gestützt? Christoph Mei- 670 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft nel, der sich eingehend mit der Geschichte des Aufstieg des Atomismus im 17. Jahrhundert befasst hat, beantwortet diese Fragen mit einem klaren Nein: Compared [. . .] to the rise of astronomy and mechanics, [the success of atomism] remained ambiguous. Seventeenth-century atomism did not necessarily provide fertile soil for an understanding of material properties and processes. Its empirical background was weak, and not one of its alleged proofs would be accepted by today ’ s scientific standards. In Galileo ’ s inclined plane and his law of falling bodies, or in Newton ’ s theory of colors and his experimentum crucis with the prism, theory and experiment, observation and conclusion, were connected in a way that is still convincing. In atomism, however, there was no experimental proof possible, although most corpuscular theories of the seventeenth century explicitly claimed to be based upon experience. (Meinel ebd., S. 68) Welches waren dann die Gründe, die Hypothese des Atomismus zu akzeptieren? Meinel diskutiert eine Reihe von Argumenten, die in den Augen der Zeitgenossen für den Atomismus sprachen. Zum einen handelt es sich um epistemologische Argumente, darunter vor allem die Annahme, dass Erkenntnis der Wirklichkeit die Existenz von Grundelementen der Realität zu verlangen scheint, auf welchen sie wie auf den unbezweifelbaren Axiomen der Mathematik oder Geometrie aufgebaut werden könne (Sebastian Basso, 1621) (ebd., S. 74). Einer zweiten Argumentationslinie liegt das Problem der Teilbarkeit zugrunde: Die Existenz der Atome wurde angenommen, um den Paradoxa zu entgehen, die sich aus einer unendlichen Teilbarkeit mathematischer und physikalischer Größen ergeben würden (ebd., S. 75). Schließlich gab es tatsächlich einige Argumente, die auf Erfahrung und Experiment basierten. Meinel listet unter dieser Kategorie sechs Typen von Argumenten auf (ebd., S. 76): (1) Zum einen handelt es sich um eine Extrapolation vom Sichtbaren zu der Wirklichkeit, die sich jenseits der Sichtbarkeit befindet (ebd., S. 76ff.). Dieses Argument wurde bereits in der Antike benutzt. So bemerkte zum Beispiel Lukrez, dass, wenn es Insekten gibt, die für die Auge kaum sichtbar sind, dann sind ihre inneren Organe sicher nicht mehr für uns sichtbar, und die Teile dieser Organe noch weniger. Von dieser Feststellung gelangte man auf gedanklichem (aber damals nicht experimentellem) Weg zu der Vorstellung einer letzten, nicht weiter teilbaren Wirklichkeit. (2) Ferner gaben Prozesse der Verschiebung bzw. des Transports von geringen Mengen materieller Substanz wie Verdunstung, Abscheuerung oder Wachstum Anlass zur Spekulation über die Existenz von Atomen (ebd., S. 84f.). Wenn z. B. Brot allmählich austrocknet, jedoch kein Substanzverlust wahrnehmbar ist, liegt die Vermutung nahe, dass die Flüssigkeit, die sich zunächst im Brot befand, es allmählich in äußerst geringen, nicht wahrnehmbaren Mengen, also z. B. in einigen wenigen Atomen, verließ. (3) Für den Atomismus sprachen auch Phänomene wie Kondensation, Verdünnung und das Problem des Vakuums (ebd., S. 85ff.). So deutet die Tatsache, dass sich Substanzen wie Zucker oder Salz in Wasser auflösen, darauf hin, dass, was als Kontinuum erscheint (Wasser), aus kleinen Elementen, letztendlich 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 671 Atomen bestehe, zwischen denen genügend Leerraum verbleibt, um die kleinsten, unsichtbaren Teilchen (Atome) der aufgelösten Substanz aufzunehmen. (4) Ferner ergaben sich Argumente für den Atomismus aus den Beobachtungen von nichtsubstantiellen Phänomenen wie Licht, Magnetismus, Schall oder Wärme (ebd., S. 89ff.). Bereits Lukrez postulierte, dass sich die fast zeitlose Übertragung des Lichtes durch den Raum der Existenz von Atomen verdankt, die sich unsichtbar und mit unvorstellbar Geschwindigkeit von einem zum anderen Ort verschieben. Newtons Korpuskeltheorie des Lichtes lieferte am Anfang des 18. Jahrhunderts folglich ein gewichtiges Argument zugunsten des Atomismus (ebd., S. 90). (5) Auch die beobachteten Phänomene der chemischen Verwandlungen schienen die atomistische Sicht der Substanz zu unterstützen (ebd., S. 91ff.). Diese kann man in zwei großen Kategorien unterteilen: Prozesse, bei denen durch die Vermischung von zwei oder mehr Stoffen Substanzen entstehen, deren Qualitäten sich von denen der Ingredienzien deutlich unterscheiden, und Prozesse, bei denen die Ursprungssubstanzen einer Mischung gewonnen werden. Beide Vorgänge waren nur schwer mit der aristotelischen Sicht der substantiellen Formen vereinbar, ließen sich aber mit der Annahme von Atomen, die verschiedene Verbindungen eingehen und wieder auflösen, ohne sich wesentlich zu verändern, erklären (obschon einer der führenden Theoretiker der Zeit, der deutsche Arzt Daniel Sennert [1572 - 1637], eingestand, dass aufgrund der Trübheit der menschlichen Erkenntnis keine Möglichkeit bestehe, den Mechanismus zu beweisen, mittels dessen die Einheit der Ingredienzien und die neue Qualitäten der Mischung generiert werden können [ebd., S. 92]). (6) Schließlich schienen für den Atomismus auch die ersten Entdeckungen mit dem gerade erfundenen Mikroskop zu sprechen (ebd., S. 81). Dazu Meinel: [I]t discovered worlds in a drop of water, and it developed apparatuses to open up perspectives hitherto unseen. There was a widespread enthusiasms for the magnifying glass and for the microscope [. . .]. Microscopy became a preoccupation with the Baconians. The new instruments made it possible to come closer to the details, closer to reality, and - so it was assumed - closer to truth. What had been the exclusive domain of speculation or extrapolation for centuries was now at least potentially observable. (Ebd., S. 82) Meinel macht sogar einen Enthusiasmus für das Kleinste aus. Ich habe bereits oben darauf hingewiesen, dass man keineswegs erwarten darf, man finde die Erklärung der Naturphänomene im Kleinsten. Es ist zwar unbestreitbar, dass gewisse Phänomene wie z. B. die Entwicklung des Kükens im Ei, das Wachstum der Pflanzen in einem verschlossenen Behälter oder der Zerfall von verfaulendem Käse ohne jegliche sichtbare Zufuhr von Substanzen von außerhalb des Systems stattfinden (ebd., S. 100). Diese Beobachtung bedeutet aber nicht, dass keine Einwirkungen von außerhalb des (sichtbaren) Systems stattfinden, welche diese Prozesse ermöglichen. Den Enthusiasmus für das Kleine kann man also nicht nur als ein Zeichen der „ lange überfälligen “ 672 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Wende zur „ Realität “ und „ Wahrheit “ , sondern auch als ein Zeichen des Verlustes des Bewusstseins für die Rolle des Großen werten. Man sollte ferner beachten, dass das, was man im 17. Jahrhundert unter dem Begriff „ Atom “ verstand, nicht zwingend dem entspricht, was man sich unter dem gleichen Begriff etwa im 19. Jahrhundert vorstellte. Aufschlussreich ist die Beschreibung einer Beobachtung, die der englische Arzt Henry Power (1623 - 1666), einer der ersten Fellows der Royal Society of London, mit dem Mikroskop an Quecksilber machte und 1664 in seinem Werk Experimental Philosophy, In Three Books: Containing New Experiments, Microscopical, Mercurial, Magnetical. With Some Deductions, and Probable Hypotheses, raised from them, in Avouchement and Illustration of the now famous Atomical Hypothesis veröffentlichte: You may most plainly and distinctly see all the globular Atoms of current and quick [mercury]; besprinkled all amongst those Powders, like so many little Stars in the Firmament: which shows that those Chymical Preparations are not near so purely exalted and prepared, as they are presumed to be; nor the Mercury any way transmuted, but merely by an Atomical Division rendered insensible [invisible]. (Zitiert in Meinel ebd., S. 83) Heute würden wir sagen, dass Power zwar winzig kleine Mengen metallisches Quecksilber unter dem Mikroskop beobachten konnte, aber sicher nicht, dass er die Atome des Quecksilbers sah. Offensichtlich wurde der Begriff des Atoms im 17. Jahrhundert anders aufgefasst als heute. Mehr noch, die damaligen Naturphilosophen vertraten ganz voneinander abweichende Vorstellungen bezüglich der Atome und ihrer Eigenschaften (Lolordo 2007, S. 130). So gab es Denker, die nach dem Vorbild der Antike meinten, die Atome bewegen sich im leeren Raum, andere, z. B. Sébastien Basson (1573 - ? ), Daniel Sennert (1572 - 1637) und Descartes, behaupteten, dass es zwar Atome oder Minima, aber keinen leeren Raum gebe (ebd, S. 130). Einige behaupteten, dass die Atome hinsichtlich ihrer Substanz homogen seien und sich lediglich nach Größe, Form oder Art ihrer Bewegung unterscheiden. Wiederum andere ließen substantiell unterschiedliche Atome zu, wiederum andere galten sie nicht als materiell, sondern nur als mathematische Punkte. Diese letztere Auffassung vertrat z. B. Galileo (ebd., S. 131). Für einige waren Atome wirksam kraft ihrer Bewegung oder ihrer Antriebskraft (Gassendi), für andere ging diese Wirksamkeit auf die Form der Atome zurück (Sennert), für Giordano Bruno leitete sich ihre Wirksamkeit sogar von ihren Seelen ab (ebd., S. 132). Im 17. Jahrhundert vermutete man Atome auch noch nicht hinter allen Substanzen. Die allermeisten Atomtheorien konzentrierten sich auf die Erklärung der Prozesse in anorganischen Stoffen. Die Anwendung dieser Denkweise auf organische Prozesse war hingegen umstritten. Der bereits erwähnte Sennert behauptete z. B., dass lediglich einige belebte Körper aus Atomen bestehen. Er meinte ferner, dass Atome bzw. Korpuskeln fähig sind, 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 673 die Anima, die substantielle Form der belebten Körper, zu übertragen, aufzubewahren und zu vermehren (ebd., S. 99f.). Angesichts der dünnen empirischen Basis für die Annahme von Atomen kommt Meinel zu dem Schluss, dass die für die „ atomistische Hypothese “ vorgebrachten Argumente insgesamt eigentlich wenig überzeugend waren: Yet the range and depth of experimental proofs for the atoms as such remained limited. The old experiments were more frequently referred to in writing than repeated or extended in the laboratory. During the first half of the seventeenth century attempts to widen the experimental basis were exceptional and hardly convincing, not even for contemporaries. (Ebd., S. 99) Selbst Robert Boyle, der in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sehr dezidiert für die atomistische Hypothese argumentierte, musste zugeben, dass sie nicht durch empirische Beweise gestützt ist: [T]he intelligible [i. e. corpuscular] philosophy, [. . .] seems hitherto not to have so much as employed, much less produced, any store of experiment. (Zitiert in Meinel ebd., S. 101) In seinen Ausführungen setzt Boyle die Korpuskeln bzw. Atome einfach voraus und versucht nicht einmal ihre Existenz zu belegen. In the Sceptical Chymist, published in 1661, he devoted much effort to criticizing and refuting experimentally the doctrine of elements or principles proposed by the Peripatetics and Paracelsians, yet his own corpuscular alternatives were never exposed to the touchstone of the experiment. (Ebd., S. 70) Meinel kommt zu dem Ergebnis, dass es letztendlich nicht klar ist, warum der Atomismus in so kurzer Zeit so erfolgreich werden konnte: It is not yet entirely clear, by what exact mechanism the corpuscular theory, despite the obvious lack of experimental support, was able to win so many adherents among those who considered themselves empirical scientists ofter only a few decades of vigorous pros and cons. In any case, it would be mistaken to describe the steep rise of atomism as „ a triumph of patient experimental research over metaphysical speculation “ . (Ebd., S. 103) Meinel betont ferner, dass bereits im 18. Jahrhundert die Existenz von Atomen als selbstverständlich angenommen wurde und ihr ontologischer und epistemologischer Status nicht mehr Gegenstand der Diskussion war (ebd., S. 103). Diese merkwürdige, weil nicht völlig verständliche Umwälzung der dominierenden Weltsicht sollte uns zu denken geben. Der Atomismus war kein Materialismus Es wäre jedoch vorschnell zu meinen, dass die Annahme der atomistischen Ontologie die Annahme des Materialismus implizierte. Im Gegenteil ist festzuhalten, dass im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert das Bekenntnis zum Atomismus keineswegs ein Bekenntnis zum Atheismus und somit zum 674 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Materialismus im modernen Sinne bedeutete. Die meisten Vertreter dieser Gedankenströmung waren immer noch durchaus gläubige Menschen. Zu den wenigen Ausnahmen zählte vor allem Thomas Hobbes (1588 - 1679). Von ihm wurde die folgende Anekdote erzählt: Auf seinen Reisen nach Frankreich lernte Hobbes den Mönch, Theologen, Philosophen, Mathematiker und Musiktheoretiker Marin Mersenne (1588 - 1648) kennen, der als „ das Zentrum der Welt der Wissenschaft und Mathematik während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts “ galt (Bernstein 1996, S. 59). 1640 machte Hobbes in Paris Bekanntschaft mit Pierre Gassendi (1592 - 1655), dem damals wohl bedeutendsten Vertreter des Atomismus, woraus eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden erwuchs (Lolordo 2007, S. 249). Hobbes litt einmal unter einem heftigen Fieber und man schickte Mersenne zu ihm, der darum besorgt war, den berühmten Mann nicht ohne die letzte Ölung sterben zu lassen. Als dann Mersenne Hobbes die Macht der Kirche erklärte, Sünden zu vergeben, bat ihn Hobbes, ihm doch lieber zu sagen, wann er, Mersenne, zuletzt Gassendi gesehen habe (ebd., S. 250). Offensichtlich hielt er wenig von der Kirche und der Sündenvergebung. Gassendi dagegen blieb zeit seines Lebens gläubig und wurde 1633 sogar Propst. Für Gassendi konnte das Universum nicht ausschließlich in der Begrifflichkeit der Atome erklärt werden. Insbesondere die Phänomene der Fortpflanzung basierten für ihn auf Kräften, die weder auf die Eigenschaften der einzelnen Atome noch ihrer Zusammensetzungen zurückgeführt werden können. Solche Eigenschaften von Lebewesen betrachtete er als emergent, d. h. als den materiellen Systemen von Gott hinzugefügt. Ähnlich interpretierte er die Empfindungsfähigkeiten der Tiere (ebd., S. 183). Er sprach auch von einer Seele der Tiere (ebd.) und Pflanzen (ebd., S. 189), obwohl er sie als physische Substanzen verstand. 465 Ähnliches wie von Gassendi lässt sich auch von Robert Boyle sagen. Seine Überzeugung von der atomaren Grundstruktur der Materie hat ihn keineswegs in seinem christlichen Glauben erschüttert. Im Gegenteil war Boyle ein außergewöhnlich frommes Mitglied der anglikanischen Kirche und betrachtete die Existenz der mechanischen Ordnung in der Natur als Beweis für Gottes Plan (Brooke 1991, S. 134). Er glaubte sogar an Wunder: For the miracles of Christ (especially his Resurrection) and those of his disciples, by being works altogether supernatural, overthrow atheism; and being owned to be 465 „ [B]ecause the soul of the plants is corporeal, it can only be understood as a certain substance diffused through the plant, a substance like a spirit or little flame, which is singularly fine, pure, active, and industrious [. . .] “ (zitiert in Lolordo ebd., S. 189). Auf der anderen Seite schrieb er, dass die Seele der Pflanze eine „ hoch spirituelle und aktive Substanz “ sei: „ The soul of the plant is a certain highly spiritual and active substance, all of whose parts communicate among each other so that in whatever part of the plant it is [the soul] contains as it ware the idea and impression of the other parts. Thus it has [the idea and impression of all the parts] most powerfully in the seed, toward which everything tends from the beginning and in which [everything] ultimately terminates “ (zitiert in Lolordo ebd., S. 189f.). 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 675 done in God ’ s name, and to authorize a doctrine ascribed to his inspiration; his goodness, and his wisdom, permit us not to believe that he would suffer such numerous, great miracles, to be set as his seals to a lie. (Zitiert in Brooke ebd., S. 134) Boyle zog es vor, statt von Atomen von Korpuskeln zu sprechen, weil er die mögliche atheistische Implikation von Atomismus und Materialismus vermeiden wollte. Er war der Überzeugung, dass bei der Erschaffung der Welt Gott die Materie in eine große Zahl von kleinen Korpuskeln von unterschiedlicher Größe und Form geteilt habe und sie voneinander dadurch isolierte, dass er ihnen unterschiedliche Arten der Bewegung verlieh (Tarnas 1991, S. 437). Newton war übrigens ebenfalls der Meinung, dass Gott es war, der die Atome schuf. Er fasste seine Überzeugung in seiner Opticks (1704) folgendermaßen zusammen: It seems probable to me, that God in the Beginning formed Matter in solid, massy, hard, impenetrable, movable Particles [. . .] and that these primitive Particles being Solids, are incomparably harder than any porous bodies compounded of them; even so very hard as to never wear or break in pieces; no ordinary power being able to divide what God himself made one in the first Creation. (Zitiert in Holton 2001, S. 266) Man konnte also im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts durchaus ein Atomist und gleichzeitig ein gläubiger Christ sein. Materie Eine ähnliche Vereinbarkeit herrschte zwischen Materialismus und Christentum. Bevor wir das Verhältnis zwischen dem Glauben an die Materie und dem Glauben an Gott betrachten, sei vorausgeschickt, dass der Begriff der Materie keineswegs so selbstverständlich ist, wie wir heute oft meinen. Denn ist ein einheitlicher Stoff, eine einheitliche Substanz der Welt uns irgendwo in unserer alltäglichen Erfahrung überhaupt zugänglich? Muss man sich nicht eingestehen, dass wir einen solchen Stoff nirgends wahrnehmen, da wir es stets mit konkreten Dingen zu tun haben, die aus unterschiedlichen Stoffen bestehen: aus Stein, Holz, Metall (wobei es wiederum jeweils verschiedene Sorten gibt), Wasser oder sonstigen Flüssigkeiten, aus einem merkwürdigen, feinen Stoff, aus welchem z. B. die Blätter, oder einem noch feinerem, aus welchem die Blütenblätter der Pflanzen bestehen, oder aus dem Stoff unserer Haut, unserer Knochen usw., und dass wir zunächst keinen Grund dafür haben, hinter allen diesen sehr unterschiedlichen Materialien eine einheitliche Materie zu postulieren? So sprachen die Philosophen und Denker nicht nur der Antike, sondern immer noch des Mittelalters nicht von Materie, sondern von vier Elementen (Erde, Wasser, Luft, Feuer), aus denen die sichtbaren Dinge zusammengesetzt sein sollen. Dass das Postulat einer einheitlichen, allen Phänomenen zugrunde liegenden Materie bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht zwingend war, wird z. B. daran deutlich, dass nicht nur ein „ Extremist “ wie George Berkeley ihre Existenz leugnete (Treatise Concerning the Principles 676 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft of Human Knowledge, 1710, und Three Dialogues between Hylas and Philonous,1713), sondern auch ein „ orthodoxer “ Denker wie John Locke (1632 - 1704), der gewöhnlich als standhafter Befürworter der Materie gilt, ihre Existenz nur mit Vorsicht und Einschränkungen anerkannte. Nachdem er in seinem Essay Concerning Human Understanding (erschienen 1690) das Problem der Kohäsion der Körper, die aus separaten Atomen bestehen, ausführlich und kritisch behandelte, kommt er zu folgendem Schluss: Whereby it appears, that this primary and supposed obvious quality of body will be found, when examined, to be as incomprehensible, as anything belonging to our minds, and a solid extended substance, as hard to be conceived, as a thinking immaterial one, whatever difficulties some would raise against it. (Locke 1997, II.xxiii.26, S. 281, Hervorhebung im Original) Und ein wenig später: So that, in short, the idea we have of spirit, compared with the idea we have of body, stands thus: the substance of spirit is unknown to us; and so the substance of body equally unknown to us [. . .]. (II.xxiii.30, S. 283, Hervorhebung im Original) Für Locke bietet der Materiebegriff also keineswegs eine Lösung für die Rätsel der phänomenalen Welt. Interessanterweise konnte der große Empiriker und Skeptiker des 18. Jahrhunderts, David Hume (1711 - 1776), dessen religiöse Überzeugungen als im besten Falle unbestimmt galten und gegen den die schottische Kirche „ sich ernsthaft überlegte “ den Vorwurf des Unglaubens zu erheben (Mossner 2001, S. 206), nicht viel mit dem Atomismus und der Materie-Theorie anfangen konnte. In einem Abschnitt seines postum erschienenen Werkes Dialoge über natürliche Religion, der dem Problem der Entstehung der Welt gewidmet ist, betrachtet er lediglich die zwei Möglichkeiten, dass die Welt ein Resultat der Planung eines kosmischen Vernunftprinzips oder die des kosmischen „ Wachstums- und Zeugungsvermögens “ sei (Hume 1981, S. 74). Dass die Welt per Zufall aus unzähligen Atomen entstanden sein könnte, kommt für ihn offensichtlich gar nicht in Frage. Dabei entscheidet sich Hume für die zweite Option, weil für sie gewisse Erfahrungen sprächen: „ Denn wir sehen täglich, wie Vernunft durch Zeugung entsteht, nie aber das Umgekehrte “ (ebd.). Darüber hinaus gleiche die Welt mehr einem Tier oder einer Pflanze als einer Uhr oder einem Webstuhl, meint Hume, weshalb ihre Ursache ähnlich der Ursache eines Tieres oder einer Pflanze, also Wachstum und Zeugung sein sollte. Wie ein Baum einen Samen erzeuge, aus welchem ein neuer Baum wachse, so erzeuge „ die große Pflanze, die Welt oder dies Planetensystem “ , eine Art Samen, der, „ in das umgebende Chaos gestreut, zu neuen Welten erwächst “ (ebd., S. 70). Man könne sich einen Kometen als einen solchen Samen einer Welt vorstellen oder als eine Art Ei eines Planetensystems betrachten, schreibt er (ebd.). Beide Vorstellungen stehen in starkem Kontrast zur dominanten Maschinenmetaphorik. Der Aufstieg des Materiebegriffs ist also durchaus erklärungsbedürftig, und die Wege, auf denen er allmählich seine Prominenz im philosophischen 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 677 und wissenschaftlichen Diskurs erlangte, sind womöglich noch verschlungener als jene, die zur Renaissance des Atombegriffs in der neuzeitlichen Philosophie geführt haben. Es wird allgemein angenommen, dass Aristoteles den Begriff der Materie gebrauchte, womit er eine Ursubstanz bezeichnete, auf die die formale Ursache einwirkt (die Zusammenfügung der Materie und der Form), um gemäß der bewegenden und der Zweckursache eine Wirkung hervorzurufen. Bereits Friedrich Lange betonte jedoch, dass man dem aristotelischen Begriff der Materie keinen modernen Sinn unterstellen dürfe: Mit oder ohne Atomismus denkt man sich [heute] die Materie als ein körperliches Ding, allgemein verbreitet, wo nicht leerer Raum ist, von gleichartigem Grundwesen, wiewohl gewissen Modifikationen unterworfen. Bei Aristoteles ist der Begriff der Materie ein relativer; sie ist Materie in Beziehung auf das, was durch Hinzukommen der Form aus ihr werden soll. Ohne die Form kann das Ding nicht sein, was es ist, durch die Form wird das Ding erst das, was es ist, in Wirklichkeit, während früher nur die Möglichkeit dieses Dinges durch den Stoff gegeben war. Der Stoff hat aber für sich schon auch eine Form, jedoch eine niedrige, und eine solche, die in Beziehung auf das Ding, welches es werden soll, ganz gleichgültig ist. (Lange 1974, S. 171, Hervorhebung im Original) Man kann also bei Aristoteles nicht von der Vorstellung eines an sich existierenden körperlichen Substrats aller Dinge sprechen. Es gibt nach ihm schlicht keine ungeformte Materie (ebd., S. 173). Wenn schon Aristoteles die Materie „ etwas geringschätzig “ behandelte, wie Lange schreibt, so nahm diese Geringschätzung unter dem Einfluss des Christentums noch zu (ebd., S. 177). Dies kann nicht überraschen. Wir haben ja bereits gesehen, dass innerhalb der biblischen Tradition der Begriff der Materie nicht anzutreffen ist und Stoffliches nur eine äußerst untergeordnete Rolle spielt. Gott wird als ein Schöpfer betrachtet, dem keine der Schöpfung vorausliegende Substanz Widerstand leistet. Innerhalb dieser Tradition bringt die Erde, von Gott dazu veranlasst, die Pflanzen (1. Moses 1,11-12) wie auch die Tiere und sonstigen Lebewesen (1. Moses 1,24-25) hervor. Und wenn Gott der Herr gemäß dem zweiten Schöpfungsbericht (1. Moses 2,7; 18 - 23) 466 den Leib des Menschen aus dem „ Staub vom Erdboden “ schuf, so ist keine Rede von einer abstrakten und ursprünglichen Materie, sondern von einem konkreten, vertrauten Stoff. Es gibt also innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition kaum Veranlassung, den Begriff der Materie einzuführen. Der moderne Begriff der Materie taucht erst bei Francis Bacon auf, der erklärt, dass man die Prozesse der Natur erst dann wird erklären können, wenn man vollständige Einsicht in die verborgene Struktur und geheime Wirkungsweise der Materie erlangt (Pérez-Ramos 1988, S. 101). Bereits einige Jahrzehnte später stellt Robert Boyle mit einer gewissen Selbstverständlich- 466 Gemäß dem ersten Schöpfungsbericht (1. Moses 1,26-27) schafft Gott den Menschen direkt nach seinem Vorbild als Mann und Frau, und nicht zunächst Adam aus dem „ Staub der Erde “ und erst später Eva aus einer seiner Rippen. 678 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft keit fest, dass das Universum aus der Materie aufgebaut sei, die wiederum aus Atomen bestehen müsse: I agree with the generality of philosophers so far as to allow, that there is one catholic or universal matter common to all bodies, by which I mean a substance extended, divisible, and impenetrable. But because this matter, being in its own nature but one, the diversity we see in bodies must necessarily arise from somewhat else than the matter they consist of, and since we see not how there could be any change in matter, if all its parts were perpetually at rest among themselves, it will follow that to discriminate the catholic matter into variety of bodies, it must have motion in some or all its designable parts; and that motion must have various tendencies, that which is in this part of the matter tending one way, and that which is in that part tending another. [. . .] It will follow, both that matter must be actually divided into parts, that being the genuine effect of variously determined motion, and that each of the primitive fragments, or other distinct and entire masses of matter, must have two attributes: its own magnitude or rather size, and its own figure or shape. (Zitiert in Burtt 2003, S. 174) Einen nicht unbedeutenden Beitrag zum Einzug des Materiebegriffs in die neuzeitliche Philosophie hat zweifelsohne Descartes geleistet, indem er in seinen Meditationen über die Grundlagen der Philosophie den Dualismus der res cogitans (Meditation II, 6) und der res extensa (Meditation VI, 19) einführte (Descartes 1996 c). Es ist wohl kein Zufall, dass der wichtigste Exponent der materialistischen Philosophie des 18. Jahrhunderts, La Mettrie (auf den wir noch ausführlicher zu sprechen kommen werden), sich mit aller Gewalt als Cartesianer darstellte (Lange 1974, S. 207). Zwar behauptet Descartes in seinen Prinzipien der Philosophie (Descartes 1992) die logische Unmöglichkeit der Existenz von Atomen: Weil jeglicher Körper ausgedehnt sei und alles, was ausgedehnt sei, teilbar sei, sei es unmöglich, dass Atome (unteilbare Teilchen) existieren, denn „ was in Gedanken geteilt werden kann, ist auch teilbar; wollten wir es also für unteilbar halten, so widerspräche dies unserer eigenen Erkenntnis “ (Descartes ebd., II.20, S. 40, Hervorhebung im Original). Dennoch setzt er an ihre Stelle kleine runde Körperchen, die wie Atome unveränderbar sind und gedanklich, aber nicht real teilbar sind. Bereits hier sieht man, dass seine Vorstellung bezüglich des Aufbaus der Welt ein Atomismus unter anderem Namen war. Wichtiger scheint mir indes, dass für Descartes eine Substanz, eben die res extensa, existiert, die keine weiteren Eigenschaften als die Ausdehnung hat (Prinzipien I.16). Sein Argument für diese Behauptung ist sehr einfach: Man könne sich zwar einen Körper ohne Farbe, Härte usw., nicht aber ohne Ausdehnung vorstellen. Ausdehnung ist also die essentielle Eigenschaft jedes Körpers, aber auch der Substanz, aus welcher dieser Körper aufgebaut ist (vgl. Meditation VI, 19). Da aber eine solche lediglich mit Ausdehnung ausgestattete Substanz nach Descartes selbstständig existieren kann, ohne z. B. von Gott in ihrer Existenz aufrechterhalten werden zu müssen, haben wir es hier mit dem Begriff der Materie ohne den entsprechenden Namen zu tun. 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 679 Fazit Der vorangehende Abschnitt hat gezeigt, dass nicht nur der Atombegriff, sondern auch der Materiebegriff eine recht komplexe Entstehungsgeschichte hat. Es wäre aber vorschnell zu meinen, dass die Etablierung dieses Begriffs in der Wissenschaft mit der Etablierung des Materialismus gleichzusetzen ist. Was wir früher vom Glauben an Atome gesagt haben, lässt sich auch vom Glauben an die Materie behaupten: Auch dieser implizierte noch keineswegs Atheismus und Materialismus (im engeren Sinne). So war z. B. derselbe Boyle, der von der Existenz von „ one catholic or universal matter common to all bodies “ überzeugt war, gläubiger Christ. Und für Newton war Gott der Schöpfer der in Atome aufgespaltenen Materie ( „ It seems probable to me, that God in the beginning formed matter in solid, massy, hard, impenetrable, movable particles [. . .]. “ ). In der Tat war, worauf Papineau in seinem Artikel über den Naturalismus in der Stanford Encyclopedia of Philosophy hinweist, die Newtonsche Physik mit ihrem Gravitationsbegriff für materialistisch-mechanistische Erklärungsprinzipien ebenso offen wie für mentalistische: At the end of the seventeenth century Newtonian physics replaced the mechanical philosophy of Descartes and Leibniz. This reinstated the possibility of interactive dualism, since it allowed disembodied forces as well as impacts to cause physical effects. Newtonian physics was quite open-ended about the kinds of forces that exist. Early Newtonians posited distinctive mental and vital forces alongside magnetic, chemical, cohesive, gravitational and impact forces. Accordingly, they took sui generis mental action in the material world to be perfectly consistent with the principle of physics. Moreover, there is nothing in the original principles of Newtonian mechanics to stop mental forces arising unpredictably and spontaneously, in line with common assumptions about the operation of the mind. (Papineau 2009) Dies ist eine sehr wichtige Feststellung, die im heutigen wissenschaftlichen Klima fast vollständig ausgeblendet wird: Nicht nur war Newton persönlich ein gläubiger Mensch, sondern er hatte im scharfen Gegensatz zu der heutigen Physik keine Schwierigkeiten damit, die Wirksamkeit von geistigen Einflüssen und Kräften in der Welt selbst in der aus Atomen und Materie bestehenden physischen Welt anzuerkennen. Definitionen Meine Behauptung, dass man nicht nur den Glauben an die Atome, sondern auch den Glauben an die Materie vom Materialismus abkoppeln kann und soll, zwingt mich dazu, gewisse begriffliche Klärungen vorzunehmen, um einer gewissen Verunsicherung entgegenzuwirken: Wenn der Glaube an die Materie keinen Materialismus impliziert, mag man sich fragen, was dann? Bislang habe ich den Begriff des Materialismus recht locker gebraucht, spätestens jetzt aber scheint es mir notwendig, klarer zu umreißen, was ich mit diesem Begriff konkret meine bzw. die Grenzen des Materialismus- 680 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft begriffs und mithin die ihm verwandten Begriffe festzulegen. Dies gilt umso mehr, als man in der heutigen wissenschaftlichen und insbesondere naturwissenschaftlichen Literatur nicht besonders oft ein offenes Bekenntnis zum „ Materialismus “ findet. Nimmt man heute in der Wissenschaft überhaupt explizit Bezug auf die weltanschaulichen Hintergrundpositionen, so ist gewöhnlich nicht vom Materialismus, sondern eher vom „ Naturalismus “ oder „ Physikalismus “ die Rede (vgl. Bunge und Mahner 2004, S. 7). Da diese Begriffe in der Regel ebenso wenig wie der Begriff des Materialismus scharf definiert werden, möchte ich jetzt die Unterschiede zwischen ihnen zumindest kurz erläutern und die Bedeutung, in der ich die entsprechenden Begriffe verwenden werde bzw. bereits verwendet habe, möglichst klar darlegen. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Materialist, wer die Existenz nichtmaterieller Entitäten ablehnt. Bunge und Mahner formulieren dies folgendermaßen: Der philosophische 467 Materialismus ist keine einheitliche Lehre, sondern zerfällt in verschiedene Varianten. Deren Gemeinsamkeit besteht lediglich in der Annahme, alles (real) Seiende sei physischer bzw. materieller Natur. Negativ formuliert heißt dies: Immateriellen Objekten wie Ideen oder Seelen kommt keine reale Existenz zu. (Bunge und Mahner ebd., S. 3) Ähnlich definieren die Autoren des Blackwell Dictionary of Western Philosophy, Bunnin und Yu: [Materialism: ] The doctrine that all items in the world are composed of matter and that the properties of matter determine all other things, including mental phenomena. Every explicable thing can be explained on the grounds of natural. (Bunnin und Yu 2004, S. 414) Wir haben aber soeben gesehen, dass man die Überzeugung von der Existenz der Materie mit dem Glauben an Gott oder sonstige geistige Kräfte, Wesenheiten und Einflüsse, die in die Geschicke der „ Materie “ aktiv eingreifen, durchaus vereinbaren kann. Was vom Glauben an die Materie im Verhältnis zur Bezeichnung „ Materialismus “ gesagt worden ist, lässt sich vom Glauben an die Atome sagen. 468 Auch dieser Glaube impliziert keineswegs, dass der 467 Im Gegensatz zum alltagssprachlichen Gebrauch des Begriffs im Sinne des „ Streben[s] nach Lebensgenuss, Luxus und Besitz ohne Rücksicht auf moralische und ästhetische Werte “ (Bunge und Mahner 2004, S. 2). 468 Es mag als anstößig empfunden werden, wenn ich hier vom „ Glauben an die Atome “ spreche. Die diesbezügliche Überzeugung sei kein Glaube mehr, sie stütze sich auf unzählige wissenschaftliche Forschungsergebnisse, es handle sich also um eine wissenschaftliche Tatsache. Es ist jedoch unschwer zu zeigen, dass für die allermeisten Menschen die Überzeugung von der Existenz der Atome grundsätzlich ein Glaube ist. Denn kaum jemand kann behaupten, dass er oder sie Atome je gesehen hat, er oder sie glaubt also den Wissenschaftlern, die behaupten, dass Atome existieren, so wie viele Menschen den kirchlichen bzw. allgemeiner religiösen Autoritäten glauben, wenn diese behaupten, dass Gott, Engel usw. existieren. Wir haben bereits gesehen, dass intelligente 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 681 betreffende Denker als Materialist bezeichnet werden kann, denn auch diese Überzeugung kann bestens mit dem Glauben an Gott und seine Engel vereinbart werden. Mir scheint es daher angebracht, einer Person erst dann Materialismus zuzuschreiben, wenn sie die Existenz nicht nur Gottes bzw. von Göttern, sondern jeglicher geistigen Kräfte und Wesenheiten im Universum ausdrücklich leugnet. Aus diesem Begriff des Materialismus folgt, dass die weltanschaulichen Positionen, die im heutigen Diskurs unter den Namen „ Physikalismus “ oder „ Naturalismus “ bekannt sind, als Formen des Materialismus eingestuft werden sollten. Bunnin und Yu definieren den Physikalismus als a refinement of materialism introduced because not all physical phenomena are material. Physicalism assumes that physical science can encompass everything in the world, and that ultimately everything in the world can be explained through physics. It is possible to reduce any scientific predicate to a physical predicate. (Bunnin und Yu ebd., S. 530) Der Physikalismus behauptet also nicht nur, dass in den wissenschaftlichen Erklärungen der Naturphänomene ausschließlich auf physikalische Prinzipien, oder genauer gesagt: die Prinzipien und Wirkungen, welche von der heutigen Physik anerkannt werden, zurückgegriffen werden dürfe, sondern auch, dass keine weiteren Kräfte und Wirksamkeiten im Universum vorhanden seien. Somit schließt er die Möglichkeit der Existenz einer geistigen Welt mit eigenen Wesenheiten und Kräften aus, und kann deshalb berechtigterweise als eine Spielart des Materialismus bezeichnet werden. Die Namenswechsel vom „ Materialismus “ hin zum „ Physikalismus “ im Laufe des 20. Jahrhunderts 469 lässt sich dadurch erklären, dass infolge der Entwicklungen innerhalb der Quantenphysik, von denen wir im Unterkapitel „ Die Rätsel der Quantenmechanik “ gesprochen haben, der Materiebegriff unscharf wurde und seine noch im 19. Jahrhundert herausragende Rolle einbüßte. Infolge dieser Entwicklungen ist es heute durchaus möglich zu behaupten, dass die Materie im Sinne des 19. Jahrhunderts nicht existiere, 470 es wäre jedoch recht absurd zu behaupten, dass die physischen Kräfte nicht existieren. moderne Wissenschaftler bzw. Wissenschaftstheoretiker, allen voran Ernst Mach und nach ihm zumindest einige moderne Wissenschaftstheoretiker, die zur antirealistischen Interpretation der theoretischen Entitäten der moderne Wissenschaft neigen, z. B. Bas van Fraasen (van Fraasen 1980) oder Arthur Fine (Fine 1998), an der Existenz der Atome gezweifelt haben. Ich möchte mich hier - dem Vorbild der logischen Positivisten folgend - als Agnostiker verhalten: Ich behaupte weder, dass die Atome nicht existieren, noch, dass sie existieren. 469 Laut Bunnin und Yu wurde der Begriff von den logischen Positivisten eingeführt (Bunnin und Yu ebd.). 470 Vgl. unten das Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ , darin den Abschnitt: „ Manifest 2005 “ . 682 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Der Naturalismus wiederum kann grundsätzlich als Physikalismus unter anderem Namen betrachtet werden. Bunge und Mahner definieren den ontologischen Naturalismus folgendermaßen: Der ontologische Naturalismus ist zu verstehen als die philosophische These, wonach es auf der Welt ausschließlich mit natürlichen oder „ rechten Dingen “ zugeht. Negativ formuliert: Es gibt darin keine übersinnlichen Dinge oder Eigenschaften und daher auch keine Wunder (insofern Wunder eine übernatürliche Verursachung voraussetzen). (Bunge und Mahner ebd., S. 8) Dabei räumen sie ein, dass der Ausdruck „ mit rechten Dingen zugehen “ vage sei (ebd.). Bunnin und Yu definieren den Naturalismus wie folgt: The claim that everything is a part of the world of nature and can be explained using the methodology of the natural science. Naturalism accepts explanatory monism rather than dualism or pluralism, is committed to science, and is opposed to mysticism. (Bunnin und Yu ebd., S. 458) Aus diesen Definitionen wird ersichtlich, dass auch der Naturalismus die Existenz von nichtphysischen Entitäten leugnet und deshalb als eine Form des Materialismus eingeschätzt werden sollte. Nur am Rande sei vermerkt, dass zum Aufstieg des Begriffs „ Naturalismus “ möglicherweise auch seine positiven Konnotationen beitrugen, schließlich evoziert er Natur und Natürliches und gibt damit vor, dass die unter seinem Namen subsumierten Erklärungsarten eben „ natürlich “ seien bzw. in Harmonie mit der Natur stehen. Umgekehrt scheint der Niedergang des Begriffs „ Materialismus “ nicht nur mit den wissenschaftlichen Entwicklungen zusammenzuhängen, sondern auch mit seinen negativen Konnotationen (Bunge und Mahner ebd., S. 7). Bis jetzt haben wir die möglichen ontologischen Positionen in Bezug auf die Existenz von einerseits materiellen/ physikalischen, andererseits geistigen/ immateriellen Substanzen, Kräften und Wesenheiten betrachtet. Davon zu unterscheiden ist der methodische Materialismus. Unter diesem Namen versteht man eine Position, welche sich agnostisch in Bezug auf die Existenz immaterieller Kräften und Einflüssen verhält bzw. sogar die Möglichkeit der Existenz solcher Kräfte zulässt, jedoch zur Erklärung der Phänomene ausschließlich auf physikalische Kräfte rekurriert. Solange der Vertreter des methodischen Materialismus die Existenz von nichtphysischen Entitäten nicht leugnet, ist eine solche Position dem Deismus ähnlich, damit also letztendlich kein Materialismus. Da gemäß einer Befragung des Pew Forum mehr als 50 % der Wissenschaftler in den USA an Gott oder „ einen universellen Geist oder eine höhere Macht “ glauben 471 , ist es plausibel anzuneh- 471 Vgl. oben das Kapitel „ Was ist Wissenschaft? Die Debatte um die Abgrenzung: Wissenschaft/ Pseudowissenschaft “ . 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 683 men, dass viele der heutigen Wissenschaftler, und zwar nicht nur in den Vereinigten Staaten, den methodischen Materialismus unterstützen. Primäre und sekundäre Qualitäten Wir haben mehrere Einflüsse betrachtet, welche das Aufkommen des materialistischen Erklärungsparadigmas ebneten: Wir haben von gewissen christlichen theologischen Überlegungen, von der Verbreitung der Maschinen und insbesondere der mechanischen Uhr, vom methodologischen Atomismus Descartes ’ , von der Renaissance des Atomismus und vom Aufkommen der Vorstellung eines einheitlichen Substrats der sichtbaren Welt, der Materie, gesprochen. Ein nicht zu vernachlässigendes Mosaikstein in dieser Entwicklung ist das Aufkommen der Unterscheidung zwischen den sog. primären und sekundären Qualitäten. In einer rudimentäre Form war diese Unterscheidung bereits bei Demokrit vorhanden, der die Ansicht vertrat, dass die wahren (ersten, primären) Qualitäten nicht die der wahrgenommenen Gegenstände (die eigentlich eigenschaftslos seien), sondern die der Atome seien: [Demokrit sagt,] in der Leere zerstreut bewegen sich Substanzen, der Zahl nach unendlich wie auch unteilbar und unterschiedslos und ohne Qualität und für Einwirkung unempfänglich; wenn sie sich einander näherten oder zusammenstießen oder verflöchten, so träten einige dieser Anhäufungen als Wasser, andere als Feuer, andere als Pflanze und wieder andere als Mensch in Erscheinung. Alles sei Atome [. . .], und weiter [sei] nichts. (Mansfeld 1986, Fragment 49, S. 281) Wir haben bereits gesehen, dass auch Platon von einer Art primärer und sekundärer Qualitäten sprach, allerdings mit gegenüber heute umgekehrtem Vorzeichen. Er meinte nämlich, dass die seelischen Qualitäten (wozu er Trauer, Mut oder Furcht, Hass oder Liebe zählt) den räumlichen Qualitäten (Wärme und Kälte, Schwere und Leichtigkeit, Härte und Weichheit, Weiße und Schwärze) vorausgehen. Diese platonische Sicht der Welt scheint mir unmittelbar nachvollziehbar. Ein Säugling oder ein Kleinkind würde nie auf die Idee kommen, zu einem Metermaß oder zu einer Waage zu greifen, um die Güte der ihm zugefügten Nahrung oder Betreuung zu beurteilen. Die körperlichen Dimensionen von Dingen, inklusive des eigenen Leibes, spielen für ein Kind eine völlig untergeordnete Rolle. Was zählt, ist, ob man sich bei den Eltern geborgen fühlt oder nicht, ob das Essen schmeckt oder nicht, ob die Kleider schön sind oder nicht, die Spielzeuge spannend oder nicht und die Spielkameraden nett oder nicht. Das Messen spielt im Leben eines Kindes eigentlich bis in das Schulalter hinein kaum eine Rolle. Auch die Zeit bleibt für das Kind lange eine sehr abstrakte, kaum feststellbare Größe. Wir Menschen wachsen also zunächst in der Welt der seelischen Qualitäten auf und entdecken erst allmählich, dass Eigenschaften wie Länge, Breite, Gewicht usw. im alltäglichen Leben, im Umgang mit den uns umgebenden konkreten, fassbaren, „ materiellen “ Gegenständen eine zentrale Rolle spielen. Aber 684 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft selbst nachdem man entdeckt hat, dass man z. B. Waren am besten tauschen, kaufen und verkaufen kann, wenn man sie in einer allgemeingültigen Weise abmisst, oder dass man Kirchen, Burgen und Schlösser am sichersten bauen kann, wenn man sich auf genaue Maße stützt, waren den Menschen doch ihre emotionalen und ästhetischen Reaktionen auf die ausgetauschten bzw. gekauften Waren, auf die von ihnen errichteten und bewohnten Bauten zumindest ebenso, wenn nicht wichtiger als deren Maße. Schließlich kaufte man einen Stoff nicht, um einen Meter davon zu haben, sondern um ein schönes, farbiges, nützliches, weiches, biegsames, strapazierfähiges usw. Material für ein Kleid zu haben. Es dürfte deshalb kaum überraschen, dass es nach dem Auftauchen der Idee vom Primat der „ primären Qualitäten “ bei Demokrit etwa 2000 Jahre brauchte, bis Galileo Galilei sich zu der Behauptung erkühnte: „ I think that tastes, odours, colours, and so on are no more than mere names so far as the object in which we locate them are concerned, and that they reside in consciousness. Hence if the living creature were removed, all these qualities would be wiped away and annihilated. “ 472 Warum werden die am Anfang des Lebens entscheidenden Eigenschaften (z. B. „ schön “ und „ hässlich “ , ob man sich in der Anwesenheit einer bestimmten Person geborgen fühlt oder nicht, ob eine Person als freundlich oder unfreundlich empfunden wird) zu „ sekundären “ , ja zu bloß „ subjektiven “ Qualitäten degradiert? Warum findet in der Philosophie diese Revolution, diese „ Umwertung aller Werte “ statt? Gewöhnlich sagt man: „ Die alten Philosophen hatten naive Vorstellungen, die wir glücklicherweise hinter uns gelassen haben. “ Ist es aber nicht naiv zu meinen, dass Denker vom Kaliber eines Platon oder Aristoteles einfach naiv und kindisch waren? Ist das nicht überheblich? Müsste man die Erklärung nicht woanders und tiefer suchen? Die Differenzierung von primären und sekundären Eigenschaften wurde endgültig von John Locke in seinem An Essay Concerning Human Understanding (Locke 1997, II.viii.7ff.) vollzogen. Es ist lehrreich, die Überlegungen, welche ihn bewogen haben, diese Unterscheidung einzuführen, genauer zu betrachten. In § 7 (Ideas in the mind, qualities in bodies) äußert Locke die Überzeugung, dass unsere Wahrnehmung der Gegenstände den Eigenschaften der Gegenstände „ an sich “ nicht entspricht: To discover the nature of our ideas the better, and to discourse of them intelligibly, it will be convenient to distinguish them as they are ideas or perceptions in our minds; and as they are modifications of matter in the bodies that cause such perceptions in us: that so we may not think (as perhaps usually is done) that they are exactly the images and resemblances of something inherent in the subject; most of those of sensation being in the mind no more the likeness of something existing 472 Galileo Galilei, The Assayer (veröffentlicht 1623) in: http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Primary_and_secondary_qualities (heruntergeladen am 12. 10. 2012). 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 685 without us, than the names that stand for them are the likeness of our ideas, which yet upon hearing they are apt to excite in us. Wahrnehmung und wahrgenommener Gegenstand bzw. wahrgenommene Eigenschaft des Gegenstandes sind nach Locke so weit entfernt wie das Wort von der Idee, die es in uns evoziert. In § 8 führt Locke konsequenterweise die wichtige Unterscheidung zwischen der Idee im Geiste ( „ mind “ ) und der Qualität des Gegenstandes ein, die eine entsprechende, aber mit der Qualität kaum identische Idee in unserem Geiste erzeugt: Our ideas and the qualities of bodies. Whatsoever the mind perceives in itself, or is the immediate object of perception, thought, or understanding, that I call idea; and the power to produce any idea in our mind, I call quality of the subject wherein that power is. Thus a snowball having the power to produce in us the ideas of white, cold, and round, the power to produce those ideas in us, as they are in the snowball, I call qualities; and as they are sensations or perceptions in our understandings, I call them ideas; which ideas, if I speak of sometimes as in the things themselves, I would be understood to mean those qualities in the objects which produce them in us. Bereits diese zwei Passagen sind äußerst aufschlussreich. Zum einen machen sie klar, dass die Frage für Locke nicht die ist, welche Eigenschaften der Gegenstände für uns im Leben wichtig, welche weniger wichtig sind, was ursprünglich, was abgeleitet ist, sondern vielmehr was wirklich, was unwirklich oder in heutiger Terminologie objektiv bzw. subjektiv ist. Ihm scheint es selbstverständlich, dass die Qualitäten der Gegenstände, welche bestimmte Ideen in unserem Geiste erzeugen, diesen Ideen nicht entsprechen. Was bewegt Locke aber zu der Annahme, dass das Grün des Grases, das ich auf der Wiese sehe, wie auch das Gras selbst, nicht außerhalb von mir, sondern in mir sind? Wir sind diesem Problem bereits in der Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre begegnet (Das Problem der quantitativen und qualitativen Erkenntnis, § 31), der das Problem von Locke und anderen geerbt hat. Der Gedankengang, der sich hinter dieser scheinbar selbstverständlichen Feststellung (das Gras ist draußen, meine Wahrnehmung des Grases aber drinnen) verbirgt, kann so skizziert werden: Ich schaue in die Welt und sehe allerlei Gegenstände. Ich sehe sie eindeutig außerhalb meines Kopfes, ja außerhalb meines Leibes, den ich ja auch, zumindest teilweise, wahrnehmen kann. Ich weiß aber, dass mein Bild der Welt verschwinden wird, wenn ich meine Augen schließe. Die Welt verschwindet aber sicher nicht, wenn ich die Augen schließe. Wenn ich andere Menschen betrachte, stelle ich fest, dass ich das Gleiche wahrnehme, unabhängig davon, ob sie die Augen offen oder geschlossen haben. Die Augen sind also offensichtlich notwendig, damit ich die Welt sehen kann, nicht aber für die Existenz der Welt. Wenn ich aber einen Menschen betrachte, der die Welt betrachtet, und weiß, dass er die Welt sehen kann, wenn seine Augen geöffnet sind, dass er aber nichts mehr sehen kann, wenn sie geschlossen sind, dann scheint für mich zwingend zu folgern, dass etwas 686 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft von dem durch diesen Menschen betrachteten Gegenstand (getragen auf den „ Schwingen “ der Lichtstrahlen: das Licht ist nämlich ebenso notwendig für das Sehen) durch seine Augen in seinen Kopf gelangt, wo es als das Bild der Welt (in Lockes Terminologie eine „ Idee “ ) von ihm wahrgenommen wird. Weil aber dieses Etwas erstens vom Objekt zu den Augen übermittelt werden muss und dann, zweitens, durch die schmalen Löcher der Augen in das Innere des Menschen hineinschlüpfen muss (und insbesondere weil man weiß, dass einige Menschen die Welt falsch wahrnehmen: unscharf oder ohne bestimmte Farben usw.), ist es naheliegend, dass dieses Etwas auf dem Wege zu dem Ort, wo es wahrgenommen wird (wo auch immer dieser Ort genau zu finden ist, sicherlich aber irgendwo im Kopf bzw. im Gehirn), verändert wird; dass also das wahrgenommene Bild (die Idee) der Wirklichkeit, d. h. dem Gegenstand außerhalb des Kopfes des ihn betrachtenden Menschen, nur bedingt entspricht. Ergo verhalten sich die Ideen (Wahrnehmungen) des Gegenstandes, die in unserem Geiste ( „ mind “ ) erzeugt werden, zu ihrem Original eher wie die Namen zu der benannten Person/ zum benannten Gegenstand denn als getreue Kopien. Heute kann man diesen Gedankengang, den bereits Locke verfolgte, natürlich dadurch ergänzen, dass man zwischen dem Gegenstand „ da draußen “ und seiner bewussten Wahrnehmung durch eine Person die komplexe, mehrstufige, mehrere Zentren einbeziehende Tätigkeit des Gehirns dieser Person schiebt. Damit würde sich die Entfernung zwischen dem Gegenstand und seiner bewussten Wahrnehmung ins Unermessliche vergrößern. Aus der obigen Beschreibung wird ersichtlich, dass die Behauptung, die „ Ideen “ entsprächen den Dingen nicht, keine direkte Beobachtung ist; sie ist auch nicht das Resultat irgendwelcher wissenschaftlicher Forschung (zumindest war sie sicher nicht ein wissenschaftliches Forschungsresultat zur Zeit Lockes), sondern ein Gedankenschluss, der aufgrund gewisser Erfahrungen gemacht wird und der mehrere unhinterfragte Annahmen beinhaltet (es wird etwas von dem Gegenstand zu dem Auge auf den „ Schwingen “ des Lichtes getragen, das Bild des Gegenstandes entsteht im Kopfe usw.). Nach mehr als 300 Jahren Forschung seit der Veröffentlichung von Lockes Essay ist es auch noch immer nicht gelungen, den Ort im Kopfe bzw. im Gehirn zu finden, wo das Bild des äußeren Gegenstandes entsteht, und noch weniger ist es gelungen festzustellen, wer oder was dieses Bild dann an dem Ort, wo es (angeblich) entsteht, betrachten könnte. Das naive cartesianische Bild eines Homunkulus, der das im Gehirn erzeugte Bild betrachtet (Dennett 1991, S. 107; Noë 2009, S. 144, 161) muss somit aufgegeben werden, es ist aber nicht klar, was dieses Bild ersetzen soll. Vieles deutet heute sogar darauf hin, dass etwas, was einem äußeren Gegenstand bzw. einer sich „ da draußen “ abspielenden Szene im Gehirn bzw. in seiner Aktivität entspricht, an verschiedenen Orten des Gehirns gleichzeitig vorhanden ist, was das Verstehen des Prozesses/ der Prozesse, welche diese Pluralität integrieren könnte, exponentiell 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 687 erschwert. Das vielleicht größte Problem dieser Konzeption der Prozesse, die bei der Sinneswahrnehmung ablaufen, besteht gleichwohl in der Tatsache, dass wir die Welt „ da draußen “ eindeutig außerhalb und nicht innerhalb des Kopfes wahrnehmen. Diese Tatsache ist umso rätselhafter, als wir auch mit Phänomenen bestens vertraut sind, die uns als im Kopf aufzutreten scheinen. So werden Kopfschmerzen eben innerhalb des Hauptes empfunden, aber auch Gedanken und Vorstellungen (Erinnerungsvorstellungen, wie auch Phantasievorstellungen) werden gewöhnlich als „ im Kopf “ wahrgenommen. 473 Wir haben also scheinbar die Fähigkeit, das, was im Kopfe erzeugt wird, als solches wahrzunehmen. Eine Theorie, die die Sinneswahrnehmungen als Produkte der Gehirntätigkeit darstellen will, ist uns also eine Erklärung dafür schuldig, wie durch die Gehirnaktivität die vermeintliche Täuschung entsteht, dass das „ da draußen “ Wahrgenommene tatsächlich „ da draußen “ wahrgenommen wird, dass also das, was angeblich drinnen entsteht, nach außen projiziert wird. Einige Philosophen haben diese Annahme in der letzten Zeit radikal in Frage gestellt. So schreibt z. B. Noë: The theory of vision starts [. . .] from the assumption that the task for vision science is to explain how the brain transforms the retinal image into the percept. And that assumption is tantamount to the view that vision is an internal process, in this sense like digestion. Far from supporting this conclusion, the various puzzles [welche Noë früher diskutierte] are themselves, one and all, artifacts of this starting assumption. When we give up the assumption, we lose the feeling of puzzlement. (Noë ebd., S. 145) Und einige Seiten weiter: The true commitment that grounds the neuroscientific fantasy that we are, really, brains in vats is the familiar idea that the world we know is a fantasy, a grant illusion. In Chapter 6, I urged that nothing forces us to accept this conclusion, least of all any findings of contemporary perceptual psychology or cognitive neuroscience. It represents, it seems, something like an article of faith. (Ebd., 177) Die Behauptung, dass die von uns wahrgenommene Welt bloß eine Illusion und ein Produkt unseres Gehirns sei, kann also nicht als wissenschaftlich erhärtete Wahrheit gelten. Gerade diese Behauptung bildet aber die entscheidende, wenn auch nicht explizierte Prämisse der Locke ’ schen Unterscheidung zwischen den primären und den sekundären Qualitäten, die er in den nachfolgenden zwei Paragraphen seines Essays vollzieht: § 9 Primary qualities of bodies. Qualities thus considered in bodies are, first, such as are utterly inseparable from the body, in what state soever it be; and such as in all the alterations and changes it suffers, all the force can be used upon it, it constantly keeps; and such as sense constantly finds in every particle of matter which has bulk enough to be perceived; and the mind finds inseparable from every 473 Dies gilt nicht für Gefühle. Sie werden selten oder gar nicht im Kopf wahrgenommen, obschon starke Gefühle durchaus als „ in den Kopf aufsteigend “ erlebt werden können. 688 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft particle of matter, though less than to make itself singly be perceived by our senses: v.g. Take a grain of wheat, divide it into two parts; each part has still solidity, extension, figure, and mobility: divide it again, and it retains still the same qualities; and so divide it on, till the parts become insensible; they must retain still each of them all those qualities. For division (which is all that a mill, or pestle, or any other body, does upon another, in reducing it to insensible parts) can never take away either solidity, extension, figure, or mobility from any body, but only makes two or more distinct separate masses of matter, of that which was but one before; all which distinct masses, reckoned as so many distinct bodies, after division, make a certain number. These I call original or primary qualities of body, which I think we may observe to produce simple ideas in us, viz. solidity, extension, figure, motion or rest, and number. § 10. Secondary qualities of bodies. Secondly, such qualities which in truth are nothing in the objects themselves but power to produce various sensations in us by their primary qualities, i. e. by the bulk, figure, texture, and motion of their insensible parts, as colours, sounds, tastes, &c. These I call secondary qualities. To these might be added a third sort, which are allowed to be barely powers; though they are as much real qualities in the subject as those which I, to comply with the common way of speaking, call qualities, but for distinction, secondary qualities. For the power in fire to produce a new colour, or consistency, in wax or clay, by its primary qualities, is as much a quality in fire, as the power it has to produce in me a new idea or sensation of warmth or burning, which I felt not before, by the same primary qualities, viz. the bulk, texture, and motion of its insensible parts. Setzt man voraus, dass die Gegenstände „ an sich “ nicht so sind, wie wir sie wahrnehmen, folgt das oben von Locke Auseinandergesetzte fast zwingend. Denn in diesem Licht gesehen müssen die Gegenstände an sich irgendwelche Eigenschaften haben, die auf unsere Sinne einwirken und sie dazu veranlassen, gewisse Wahrnehmungen (Farbe, Geruch, Ton, Geschmack usw.) zu erzeugen. Da jedoch die Sinne (und das Gehirn) für die Entstehung dieser Wahrnehmungen notwendig sind (keine Farbe ohne Auge), scheint daraus zu folgen, dass „ das Ding an sich “ die wahrgenommenen Eigenschaften nicht aufweist. Die wahrgenommene Farbe ist demnach ein Produkt der Interaktion des Gegenstandes „ an sich “ und des Sinnesorgans (und Gehirns). Der Ausgangspunkt dieser Interaktion kann nicht mit dem Produkt identisch sein. Was folglich den Gegenständen eigen ist, sind irgendwelche Qualitäten (primäre genannt), die die Sinne (und das Gehirn) dazu veranlassen, die Wahrnehmungen mit ihren sekundären Qualitäten zu erzeugen. Wenn man diese Prämisse ausklammert, werden offensichtliche Ungereimtheiten im Locke ’ schen Gedankengang sichtbar. Er schreibt: „ Take a grain of wheat, divide it into two parts; each part has still solidity, extension, figure, and mobility: divide it again, and it retains still the same qualities; and so divide it on, till the parts become insensible; they must retain still each of them all those qualities. “ Man muss sich erstens fragen, ob es stimmt, dass die „ sekundären “ Eigenschaften des Gegenstandes (z. B. die Farbe) verschwinden, wenn man eine solche Zerkleinerung vornimmt. Es mag durchaus sein, 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 689 dass die Farbe sich ändert. Wenn man etwa den Weizen nicht nur mit einem Messer zerkleinert, sondern in einer Mühle mahlt, ist das Endprodukt praktisch weißes Pulver. Aber Weiß ist immer noch eine Farbe, die winzigen Mehlkörnchen sind also nicht farblos. Wie kommt Locke dann aber darauf, dass zwar die Solidität, Ausdehnung, Form usw., nicht aber die Farbe erhalten bleibt? Ändern sich nicht vielmehr die konkreten Werte der bestimmten Eigenschaften (die Dinge werden kleiner, ihre Form, ihre Farbe, ihr Geruch verändern sich), und zwar sowohl die „ sekundären “ als auch die „ primären “ Eigenschaften? Dann aber wird die Unterscheidung zwischen den beiden hinfällig. Zum Zweiten muss man sich die Frage stellen, ob die Behauptung berechtigt ist, dass ein Weizenkorn, dass man beliebig zerkleinert, zwar nicht die ursprünglichen Werte der „ primären “ Eigenschaften wie Solidität, Ausdehnung, Form und Beweglichkeit, aber zumindest diese Eigenschaften als solche beibehalte. Wir wissen heute, dass dies sicherlich nicht der Fall ist. Die kleinsten von der gegenwärtigen Physik anerkannten Bausteine der Materie, die Elementarteilchen und ihre konstitutiven Elemente, die Quarks, weisen - zumindest wenn man sie als Wellen vorstellt - keine Solidität und keine bestimmte Form auf. Allerdings haben sie eine gewisse Ausdehnung und auch Beweglichkeit und es werden ihnen heute einige zusätzliche Eigenschaften zugeschrieben, bereits Locke bekannte (Masse) wie auch einige von Locke nicht vermutete (Ladung, Spin). Irrte Locke also zwar in Bezug auf die konkrete Liste seiner primären Eigenschaften, hatte aber in der Sache ein gutes Gespür, insofern es tatsächlich gewisse Eigenschaften (Ladung, Masse, Spin) gibt, die allen Grundbausteinen der Materie zukommen und sich erheblich von den sinnlichen „ sekundären “ Eigenschaften unterscheiden? Dies wäre für Locke sicherlich eine willkommene Schlussfolgerung, sie trifft aber sofort auf weitere Schwierigkeiten. Denn Locke meinte, und dass ist der wesentliche Aussage von § 10, dass die sekundären Qualitäten durch eine nicht weiter spezifizierte Kombination der primären Qualitäten des Gegenstandes im wahrnehmenden Subjekt evoziert werden. Wir wissen aber z. B., dass keine Ansammlung von Elektronen ausreichend ist, um bei einem betrachtenden Subjekt die Wahrnehmung einer Farbe, eines Tons oder eines Geruchs zu evozieren. Die einzelnen Elementarteilchen werden nicht durch das Auge oder das Ohr, sondern durch äußerst komplexe Detektoren in Teilchenbeschleunigern „ wahrgenommen “ . Eine große Masse von Elektronen kann durch die entsprechenden Geräte als elektrischer Strom registriert werden, aber sicher nicht als Farbe. Es wird bekanntlich postuliert, dass der Wahrnehmung z. B. von Farbe oder Ton nicht die oben aufgelisteten „ primären “ Eigenschaften der Grundbausteine der Materie, sondern vielmehr eine bestimmte Wellenlänge des Lichts bzw. der Luft zugrunde liege. Wir müssten also unsere Liste der „ primären “ Qualitäten um die Wellenlänge erweitern, was aber ohne weiteres zu machen ist. Die Frage ist nur, ob man, 690 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft wie man dies heute gewöhnlich tut, ihnen eine „ power to produce various sensations in us “ zuschreiben kann. Fazit Die von Locke befestigte Unterscheidung zwischen den primären und sekundären Qualitäten begünstigte das Aufkommen des Materialismus, indem sie Wirklichkeit lediglich den Qualitäten der Materie, dem „ ausgedehnten Stoff “ Descartes ’ zuschrieb. Sind nur die primären Qualitäten „ wirklich “ , ist auch nur derjenige Stoff „ wirklich “ , dem sie zukommen. Diese Unterscheidung ebnet aber nicht nur der Behauptung den Weg, dass die sekundären Qualitäten bloß Produkte oder Projektionen des menschlichen Geistes sind, sondern auch der folgenschweren Annahme, dass dieser Geist selbst bloß ein Produkt dessen ist, was allein wirklich ist: der Materie. Ich hoffe im vorangehenden Abschnitt gezeigt zu haben, dass die Gründe, welche die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten stützen sollen, nicht tragfähig sind und damit auch die Unterscheidung selbst hinfällig ist. Damit bricht aber ein wichtiger Pfeiler der materialistischen Ontologie weg. La Mettrie: Der Mensch als Maschine Wie wir gesehen haben, waren bis in das 18. Jahrhundert hinein keine zwingenden Gründe für die Leugnung der Existenz Gottes und der geistigen Welt vorhanden. Selbst noch die so erfolgreiche Physik Newtons war mit der Vorstellung der Wirksamkeit geistiger Kräfte problemlos vereinbar. Religiöse Überzeugungen waren im Hinblick auf die Forschung daher zunächst unproblematisch. So war auch Descartes keineswegs ein Materialist in dem Sinne, dass er die Existenz Gottes und/ oder der geistigen Welt leugnete. Gott ist für ihn einerseits Schöpfer der Welt und des Geistes des Menschen, andererseits Garant der Zuverlässigkeit der Erkenntnis. Fast einhundert Jahre nach dem Tode Descartes ’ kam nun eine Vorstellung auf, die man als eine logische Erweiterung seiner Konzeption des Tieres als Maschine betrachten kann. 1748 erschien die berühmt-berüchtigte Schrift von Julien Offray de La Mettrie (1709 - 1751) L ’ homme machine (Der Mensch als Maschine). Darin behauptet der Autor, dass nicht nur die Tiere, sondern auch der Mensch eine Maschine sei, dass sein „ Geist “ und seine Leistungen aus den (mechanischen) Regungen des Leibes erklärbar seien. La Mettrie ging in seiner Schrift jedoch noch weiter und behauptete, dass es kein Leben nach dem Tode gebe, und der Begriff Gottes fallen gelassen werden könne. Wir müssen uns nicht ausführlich mit diesem Werk beschäftigen, denn sein Geist ist uns heute sehr vertraut. Einige wenige Passagen werden ausreichend sein, um diesen Geist veranschaulichen zu können: 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 691 Wir phantasieren bzw. unterstellen eine höhere Ursache als die, der wir alles verdanken und die wirklich alles auf unfassbare Weise hervorgebracht hat. Nein, die Materie hat nichts Niedriges an sich, es sei denn in den Augen jener Niedrigen, die sie gerade in dem glänzendsten ihrer Werke verkennen; und die Natur vollbringt ihre Werke mit großem Geschick. Mit Leichtigkeit und Freude bringt sie Millionen Menschen hervor [. . .]. Ihre wunderbaren Fähigkeiten zeigen sich überall: beim Entstehen des niedrigsten Insekts wie des großartigsten Menschen [. . .]. (La Mettrie 1985, S. 91) Es ist also die „ Materie “ bzw. die „ Natur “ , nicht Gott, die „ das glänzendste ihrer Werke “ hervorbringt. Darin liegt eine bemerkenswertes Schwanken. Man hat den Eindruck, dass auch La Mettrie es noch nicht leicht findet, zu behaupten, dass die Materie es ist, die den Menschen schöpfen kann, und sich genötigt fühlt, auf den Begriff der Natur zu rekurrieren, den er - wahrscheinlich - als umfangreicher empfindet. Er stellt sich diese „ Natur “ zwar völlig materialistisch vor, stützt sich jedoch auf damals offensichtlich noch weit verbreitete Assoziationen, die man mit der „ rauen “ Materie sicherlich nicht verbindet. Wenn Jean-Jacques Rousseau (1712 - 1778) etwa zur gleichen Zeit die Rückkehr zur Natur propagierte, dann sicher nicht zur Materie. La Mettrie schreibt dann weiter: Zerbrecht die Ketten eurer Vorurteile! Ergreift die Fackel der Erfahrung! Und ihr werdet der Natur die Ehre erweisen, die sie verdient, und nicht aus der Unwissenheit, in der sie euch ließ, falsche Schlüsse über sie ziehen. Macht eure Augen auf und kümmert euch nicht um Dinge, die ihr gar nicht verstehen könnt! Und ihr werdet sehen, dass ein Bauer, dessen geistiger Horizont mit dem Rand seines Ackers zusammenfällt, sich im Wesentlichen nicht von dem großen Genie unterscheidet [was die Sektion der Gehirne von Descartes und Newton bewiesen habe, M. M.]. Ihr werdet euch überzeugen, dass die schwach- oder blödsinnigen Tiere in Menschengestalt sind, während ein geschulter Affe unter seinem andersartigen Äußeren ein kleiner Mensch ist. (Ebd., S. 92) Der Geist von La Mettries Ausführungen spricht förmlich aus jeder Seite der naturwissenschaftlichen Literatur zu uns. Heute gilt es als eine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit, dass der Mensch eine Art chemischer Computer sei und dass er sich von den Tieren nicht wesentlich unterscheidet. Ein schöner Beleg für den Triumph von La Mettries Ansicht ist die Allgegenwart der Redewendungen „ der Mensch und andere Tiere “ oder „ humane und nichthumane Primaten “ in der naturwissenschaftlichen Literatur. 474 Heute wird die Gleichstellung des Menschen mit den Tieren durch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung und insbesondere durch die 474 Hier ein paar (unter Dutzenden) neuerer Beispiele: Ravindran spricht von „ Great Apes, including humans “ (Ravindran 2013, S. 3208), Miller schreibt: „ In the human brain, cells in BA10 were more widely spaced than they were in any of the other apes “ (Miller 2010, S. 1167), die Herausgeber von Nature medicine sprechen von „ human and non-human primates “ (Nature medicine 2013, S. 379), und Foster et al. von „ nonhuman animals “ (Foster et al. 2012, S. 1313). 692 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Einsichten der Evolutionstheorie gerechtfertigt. Es ist daher lehrreich zu sehen, dass die Idee der Gleichheit von Mensch und Tier lange vor der Entstehung der Evolutionstheorie entstanden ist. Man darf daher zumindest vermuten: Nicht die „ objektive “ wissenschaftliche Forschung hat uns zu der Annahme der Gleichheit von Menschen und „ anderen Primaten “ gezwungen, sondern umgekehrt haben Ideen und Vorstellungen, die dieser Forschung vorausgingen, die Interpretation der Resultate der Evolutionsforschung wesentlich geprägt. Während uns La Mettries Denkweise heute sehr vertraut sind, ist die Reaktion seiner Zeitgenossen in Vergessenheit geraten. Bereits das philosophische Erstlingswerk des promovierten Arztes, Histoire naturelle de l ’ âme, wurde bald nach seinem Erscheinen 1745 wegen seines „ ketzerischen “ Inhalts in Paris öffentlich verbrannt (Laska 1985, S. IX). Eine Zeit lang genoss La Mettrie in seiner Heimat noch die Protektion der Mächtigen. Bereits 1747 spitzte sich aber seine Situation so zu, dass er sich entschloss, ins holländische Exil zu gehen (ebd., S. X). Holland war traditionell ein Zufluchtsort des liberalen Denkens, dort wurden auch anderswo verbotene Bücher gedruckt, um sie in die Zielländer einzuschmuggeln. L ’ homme machine, obschon auf 1748 datiert, erschien, anonym, bereits Ende 1747 mit einer aufschlussreichen „ Vorbemerkung des Verlegers “ (Elie Luzac): Man wird sich vielleicht wundern, warum ich das Wagnis eingehe, ein so kühnes Buch herauszubringen. Ich würde dies gewiss nicht tun, wenn ich nicht der festen Meinung wäre, dass die Religion gegen alle Versuche, sie zu stürzen, gefeit ist [. . .]. Mir ist zwar klar, dass die politische Klugheit gebietet, ungefestigte Gemüter nicht in Versuchung zu führen. Doch bereits bei der ersten Durchsicht des Textes wurde mir klar, dass von ihm in dieser Hinsicht nichts zu befürchten ist. Warum soll man denn übervorsichtig seine und alles, was gegen die Vorstellungen von Gott und der Religion gesagt wird, unterdrücken? Könnte dies nicht beim Volk sogar den Eindruck erwecken, man mache ihm etwas vor? [. . .] Und wie soll man den Irreligiösen überzeugend entgegentreten, wenn es so aussieht, als fürchte man sie? Wie soll man sie auf den rechten Weg zurückführen, wenn man den Gebrauch der Vernunft untersagt und sich darauf beschränkt, ihre Sittlichkeit zu verunglimpfen? Und dies noch dazu auf reinen Verdacht hin, ohne geprüft zu haben, ob ihre Lebensweise auch wirklich den gleichen Tadel verdient wie ihre Denkweise. (La Mettrie 1985, S. 5) Trotz diesen Vorsichtsmaßnahmen verursachte das Buch auch unter den sonst sehr toleranten Holländern einen solchen Aufruhr, dass sich La Mettries Verleger gezwungen sah, den bald nicht mehr anonymen Verfasser Anfang Februar 1748 über die grüne Grenze aus Holland hinauszuschleusen, um ihn davor zu bewahren, „ wie ein gewöhnlicher Verbrecher auf dem Schafott zu enden “ (Laska ebd., S. X). Durch die Vermittlung des angesehenen Naturwissenschaftlers Maupertuis gelang es, für La Mettrie eine Einladung Friedrichs des Großen nach Potsdam zu besorgen. Friedrich ernannte La Mettrie zu seinem persönlichen Arzt und Gesellschafter, und Maupertuis, ein guter 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 693 Freund des Königs, berief La Mettrie wenig später in die von ihm präsidierte Königliche Akademie (ebd., S. XII). Friedrich sicherte ihm zunächst zu, er dürfe schreiben, was er wolle. Diese Zusage währte aber nicht lange. Bereits die zweite Schrift La Mettries im Exil, Discours sur le bonheur, in welcher er seine Ansichten zu Religion, Moral und Recht zum Ausdruck brachte, erwies sich als so brisant, dass sich Friedrich dazu veranlasst sah, ein „ Edikt wegen der wiederhergestellten Censur “ zu erlassen, um die Erstauflage dieses Werkes konfiszieren zu können. Und bei der Veröffentlichung seiner „Œ uvres philosophiques “ wurden die aus Sicht La Mettries wichtigsten Schriften ausgespart. Sofort nach deren Erscheinen verbot Friedrich zumal den Verkauf, weil der Autor in sie eine unzensierte „ Einführung “ eingeschmuggelt hatte (ebd., S. XIV). Was die intellektuelle Elite seiner Zeit erzürnte, war die Auffassung La Mettries, dass Religion für den Menschen schädlich sei und überwunden werden müsse, und dass er das Gewissen als einen Ausdruck der Unterwerfung des Individuums unter das Diktat einer Gruppe betrachtete. Diese Ansichten waren so radikal, dass La Mettrie selbst für die Freigeister seines Jahrhunderts zur Unperson wurde. Bald ließ er sich am Hof Friedrichs nur noch als eine Art Hofnarr halten, der nicht ganz ernst zu nehmen ist (ebd., S. XI). Holbach etwa verschwieg ihn auch wegen seiner schlechten Reputation als eine Quelle seiner materialistischen Ansichten, und Diderot erwähnte La Mettrie erst nach dreißigjährigem Schweigen als den „ Verteidiger des Lasters und Lästerer der Tugend “ und schloss ihn, „ einen in seinen Sitten und Anschauungen so verdorbenen Menschen “ , aus der Gemeinschaft der Philosophen aus (ebd., S. XIX). La Mettrie starb am 11. November 1751 mit nur 42 Jahren. La Mettries Buch war aber nur eine erste Salve (Lange 1974, S. 344) in einer Reihe von Publikationen, die immer vehementer atheistische und materialistische Positionen vertraten, allen voran die Encyclopedie, deren Publikation 1752 wegen Volksverhetzung in den Artikeln über Religion und Naturgesetz suspendiert wurde. Der Hauptherausgeber, Denis Diderot (1713 - 1784), wurde verhaftet. Die Abhandlung Système de la Nature von Paul Henri d ’ Holbach (1723 - 1789), die 1770 unter Pseudonym in Amsterdam erschienen ist, gilt als „ the culmination of French materialism and atheism “ (Topazio 1956, S. 117) und löste eine starke Reaktion aus. So bedrohte die katholische Kirche in Frankreich die Krone mit dem Entzug der finanziellen Unterstützung, wenn sie die Verbreitung des Buches nicht wirkungsvoll unterdrückte. Viele Intellektuelle verfassten Widerlegungen. Die römisch-katholische Kirche beauftragte ihren herausragende Theologen Nicolas-Sylvestre Bergier, eine Replik auf das System zu schreiben. Selbst Voltaire griff hastig zur Feder, um in dem Artikel „ Dieu “ in seinem Dictionnaire philosophique die Philosophie des System zu widerlegen. Auch Friedrich der Große verfasste eine Gegenschrift. 475 475 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Encyclopédie (heruntergeladen am 12. 10. 2012). 694 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Ein weiterer Meilenstein des materialistischen Denkens in Frankreich ist der „ Essai philosophique sur les probabilites “ aus dem Jahr 1814 (Mises 1932, S. 175). Darin formulierte Pierre-Simon de Laplace (1749 - 1827) zum ersten Mal in der Geschichte eine völlig deterministische Sicht des Universums: Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde ihr ungewiss sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen stehen. (Laplace 1932, S. 1f.) Bezeichnend für das Denken von Laplace ist eine Anekdote, die man über ihn erzählt: Als er sein (damals noch immer unvollständiges) Hauptwerk über Himmelsmechanik (den Traité de Mécanique Céleste, erschienen in fünf Bänden zwischen 1799 und 1823) Napoleon vorstellte, stellte ihm der Kaiser die Frage: „ Warum haben Sie dieses Buch über das Weltall geschrieben, aber nicht einmal seinen Schöpfer erwähnt? “ Darauf erwiderte Laplace: „ Diese Hypothese habe ich nicht benötigt. “ Ich habe bereits oben betont, dass die meisten frühen Vertreter des Atomismus keineswegs Atheisten waren und dass das Bekenntnis zum Atomismus keineswegs ein Bekenntnis zum Materialismus im modernen Sinne bedeutete. Es wäre ebenfalls völlig irrtümlich zu meinen, dass alle wichtigen Vertreter der Aufklärung Atheisten waren. So fühlte sich z. B. Voltaire (eigentlich Francois-Marie Arouet, 1694 - 1778) nicht nur dazu veranlasst, gegen Holbach Einspruch zu erheben, sondern brachte gegen Ende seines Lebens auch seinen religiösen Glauben in einer unzweideutigen Weise zum Ausdruck. Am 28. Februar 1778, als er ernsthaft krank war, schrieb er: „ I die adoring God, loving my friends, not hating my enemies, and detesting superstition “ 476 . La Mettries Der Mensch als Maschine wie auch manche Artikel in der Encyclopédie dürfen daher keineswegs als Indizien für einen materialistischen Zeitgeist genommen werden. La Mettrie starb lediglich vierundzwanzig Jahre nach Newton, einem überzeugten Bekenner der christlichen Religion. Es ist kaum anzunehmen, dass sich in einer so kurzen Zeit eine Art weltanschauliche Revolution ereignete und Wissenschaftler massenhaft zum materialistischen Lager übergetreten sind. Man hat damals selbstverständlich keine groß angelegten Befragungen durchgeführt, aber es ist sicherlich davon auszugehen, dass auch in der Mitte des 18. Jahrhunderts der Materialismus im Allgemeinen und in der Wissenschaft im Besonderen noch immer eine Randerscheinung war. Der erste Naturwissenschaftler, der sich öffentlich zum Materialismus bekannte, ist wohl Laplace, aber auch am Anfang des 476 http: / / thegreatdebate.org.uk/ Voltaire.html (heruntergeladen am 12. 10. 2012). 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 695 19. Jahrhunderts war er damit eine seltene Ausnahme und sicher nicht die Norm. Reaktion: die Romantik, der deutsche Idealismus und die Weltseele Der intellektuelle Umschwung von der Religion zum Materialismus und Atheismus musste jedoch bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ganz Europa unverkennbar sein, fühlte sich doch bekanntlich Immanuel Kant gezwungen, sein großes Werk Kritik der reinen Vernunft der Aufgabe zu widmen, „ das Wissen auf[zu]heben, um zum Glauben Platz zu bekommen “ (Kant 1995, B XXX). Die Entwicklung des philosophischen Materialismus, die wir ab etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts konstatieren, war jedoch keineswegs geradlinig. Denn am Ende dieses Jahrhunderts entstand als Reaktion auf den aufklärerischen Primat des Verstandes die Romantik, eine breite Kulturbewegung, die Literatur, bildende Kunst, Musik und Philosophie umfasste und internationale Verbreitung fand (sie reichte von Amerika, wenn man die amerikanischen Transzendentalisten als einen Ableger der europäischen Romantik betrachtet, im Westen bis nach Russland im Osten). Sie zeichnete sich aus durch die Aufwertung des Gefühls, der Leidenschaft, der Natur, und durch eine Sehnsucht nach Mysterium und Geheimnis, wie sie im Symbol der „ Blauen Blume “ in Novalis ’ Roman Heinrich von Ofterdingen zum Ausdruck kommt: Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. „ Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, “ sagte er zu sich selbst; „ fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn ’ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn und ich kann nichts anderes dichten und denken. “ (Novalis 1949, S. 21) Neben der Sehnsucht nach Mysterium und der Aufwertung der Natur zeichnet die Epoche eine große Sensibilität für die Wirkung der nichtmateriellen, geistigen Kräfte hinter dem Schleier der sinnlichen Wahrnehmung aus. Dieser Aspekt kommt innerhalb der deutschen Literatur am besten im zweiten Teil von Goethes Faust zum Ausdruck. 477 Ein außergewöhnlich 477 Es ist sehr umstritten, ob dieses Werk der Romantik zugezählt werden kann. Unumstritten ist hingegen, dass es „ romantische Züge “ trägt. So schreibt z. B. Lubkoll: „ Dass Goethe überhaupt eine Annährung an die romantische Ästhetik vollzog, ist von der Forschung aus wissenschaftsideologischen Gründen lange ausgeblendet worden: zu stark wirkte die starre Dichotomisierung von ‚ Klassik ‘ und ‚ Romantik ‘ , wie sie spätestens Fritz Strich in der germanistischen Diskussion verankerte. [Lubkoll nimmt hier Bezug auf Strichs Werk Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich. Bern 5. Aufl. 1965.] Auch Goethes Distanz zu den Frühromantikern leistete dem Vorschub: seine Polemik gegen das ‚ klosterbrudisirende, sternbaldisirende Unwesen ‘ ebenso wie sein Diktum ‚ Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke ‘ . Demgegenüber lassen Goethes poetologische Reflexionen seit den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts erkennen, dass er mehr und mehr einem polyphonen Strukturideal folgt, das ihm - wie den Romantikern - zum ästhetischen Vorbild gerät. [. . .] Goethes 696 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft schönes Zeugnis in der englischen Literatur stellt Wordsworths „ Ode: Intimations of Immortality from Recollections of Early Childhood “ dar: There was a time when meadow, grove, and stream, The earth, and every common sight, To me did seem Apparell ’ d in celestial light, The glory and the freshness of a dream. It is not now as it hath been of yore; Turn wheresoe ’ er I may, By night or day, The things which I have seen I now can see no more. The rainbow comes and goes, And lovely is the rose; The moon doth with delight Look round her when the heavens are bare; Waters on a starry night Are beautiful and fair; The sunshine is a glorious birth; But yet I know, where ’ er I go, That there hath pass ’ d away a glory from the earth. [. . .] Our birth is but a sleep and a forgetting: The Soul that rises with us, our life ’ s Star, Hath had elsewhere its setting, And cometh from afar: Not in entire forgetfulness, And not in utter nakedness, But trailing clouds of glory do we come From God, who is our home: Heaven lies about us in our infancy! [. . .] An diesem Zeugnis finde ich besonders bemerkenswert, dass es sich nicht um eine theoretische Überlegung bzw. Spekulation über die Existenz oder Nichtexistenz einer geistigen Welt handelt, sondern um eine Erinnerung an eine nicht weiter spezifizierte „ frühe Kindheit “ , die Erinnerung eines Bewusstseinszustandes, in dem man eine andere, eine höhere, eine herr- Dichtungskonzept weist an manchen Stellen Ähnlichkeiten zu [der] Verbindung von ‚ Neuer Mythologie ‘ [gemeint ist das Programm der Frühromantik] und musikalischer Poetologie auf - seinen heftigen antiromantischen Polemiken zum Trotz. Dies lässt sich an zwei Texten zeigen, die weit auseinanderliegen und gewissermaßen den Anfangs- und Endpunkt von Goethes Auseinandersetzung mit der romantischen Bewegung markieren: Goethes Märchen zunächst, das 1795 entstand, sodann Goethes Faust II, das Spätwerk, das mit seiner ‚ klassisch-romantischen Phantasmagorie ‘ poetologische Ansätze der Romantik produktiv aufgreift und aber auch weiterführt “ (Lubkoll 2002, S. 400f.). 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 697 lichere Wirklichkeit „ klar und deutlich “ wahrgenommen hat, eine Wirklichkeit, welche jede erdenkliche sinnliche Naturschönheit bei weitem übertrifft. Es ist übrigens bezeichnend, dass sich Wordsworth im Weiteren darüber beklagt, dass diese frühe Vision bzw. Erfahrung der geistigen Herrlichkeit sehr bald verblasste und zur Zeit der Abfassung des Gedichts (zwischen 1802 und 1804, Wordsworth war 32 bis 34 Jahre alt) schon sehr fern war. „ Shades of the prison-house begin to close/ Upon the growing Boy “ , schreibt Wordsworth, wobei man die starke Vermutung hat, dass er mit dem „ prison-house “ die leiblich bedingte Wahrnehmung der sinnlichen Welt meint, die jeder Spur der sich hinter ihr verbergenden geistigen Wirklichkeit entblößt ist. In unserem Kontext interessiert an der Romantik die Rückkehr einer spirituellen, aber von den Dogmen der institutionalisierten Kirchen befreiten Weltauffassung in das Zentrum der Kultur. Damit ist nicht nur allgemein das Verhältnis des Menschen zur Natur angesprochen, sondern auch die spezifische Vorstellung vom Universum als eines beseelten Wesens, wie sie maßgeblich in Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Werk Von der Weltseele (1798) zum Ausdruck kommt. 478 Wir haben oben die Gründe analysiert, die dazu führten, dass diese Vorstellung allmählich in den Hintergrund geriet. Einer dieser Gründe ist die Vorstellung der Allmacht Gottes: Ein allmächtiger Gott braucht weder einen Vermittler zwischen sich und der Natur, noch kann er ihn dulden. Daher ist es vermutlich der Zurückdrängung des Einflusses der Kirche durch die Aufklärung und dem Aufkommen materialistischer Tendenzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu verdanken, dass sich ein intellektueller Raum für die Rehabilitierung der Weltseele öffnete. Bereits in seinen Ideen zu einer Philosophie der Natur (Leipzig 1797) entwickelt Schelling im Zuge seiner Diskussion der Zweckmäßigkeit der Natur die Idee der Weltseele (Vassányi 2011, S. 376). Es ist die fundamentale Prämisse seiner Naturphilosophie, dass der Organismus oder allgemeiner das Leben nicht Attribute der materiellen Substanz sein kann (ebd., S. 377). Nach Schelling ist es unmöglich, über die harmonische Entwicklung eines Organismus zu sprechen, ohne eine Intelligenz vorauszusetzen, welche diese Harmonie gründen und aufrechterhalten kann. Deshalb ist für ihn der Begriff „ organisierte Materie “ undenkbar ohne eine Bezugnahme auf den „ Geist “ . Konsequenterweise muss ein höheres, immaterielles Prinzip als für die Einheit jedes Lebewesens verantwortlich gedacht werden: [. . .D]azu gehört ein höheres Prinzip, das wir nicht mehr aus der Materie selbst erklären können, ein Prinzip, das alle einzelnen Bewegungen ordnet, zusammenfasst und so erst aus einer Mannigfaltigkeit von Bewegungen, die untereinander übereinstimmen, sich wechselseitig produzieren und reproduzieren, ein Ganzes schafft und hervorbringt. (Schelling 2000, S. 101; moderne Rechtschreibung) 478 Der deutsche Wissenschafter, Bergbauingenieur und Philosoph Franz Xaver von Baader hatte noch vor Schelling den Gedanken einer Weltseele entwickelt, sie jedoch als ein materielles Prinzip angesetzt (Vassányi 2011, S. 368). 698 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Schelling geht jedoch weiter. Er äußert die Vermutung, dass ein „ Geist der Natur “ nicht von außen, sondern innerhalb der Natur operieren und seine Aktivität jeder belebten Materie innewohnen müsse. Somit nähert er sich bereits dem Begriff der Weltseele als einer Art Offenbarung dieses Geistes in der Natur an. Diese Idee habe uralte Wurzeln: Diese Philosophie muss also annehmen: es gebe eine Stufenfolge des Lebens in der Natur: Auch in der bloß organisierten Materie sei Leben, nur ein Leben eingeschränkter Art. Diese Idee ist so alt, und hat sich bis jetzt unter den mannigfaltigsten Formen, bis auf den heutigen Tag so standhaft erhalten - (in den ältesten Zeiten schon ließ man die ganze Welt von einem belebenden Prinzip, Weltseele genannt, durchdrungen werden, und das spätere Zeitalter Leibnitzens gab jeder Pflanze ihre Seele) - dass man wohl zum voraus vermuten kann, es müsse ein Grund dieses Naturglaubens im menschlichen Geiste selbst liegen. (Ebd., S. 99) Diese knappen Bemerkungen mögen reichen, um deutlich zu machen, dass sich der allmähliche Aufstieg der materialistischen Tendenzen im Kulturleben Europas nicht ohne Widerstände vollzog. Johann Wolfgang von Goethes Wissenschaftsentwurf Einen nicht unerheblichen Teil von Goethes Schaffen bildet seine wissenschaftliche Tätigkeit, deren wichtigste Zeugnisse die Theorie der Metamorphose der Pflanzen und die Farbenlehre sind. Darin zeigt sich Goethe offen für geistige Wirksamkeiten. Obschon er den Begriff der Weltseele nicht benutzte, galt ihm die Natur in allen ihren Erscheinungen als wie von einem Wesen belebt. Diese Anschauung fand jedoch wenig Zustimmung bei seinen Zeitgenossen wie auch bei der Nachwelt. Bereits Rudolf Steiner, der 1884 - 1897 die Herausgabe von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften für die damals maßgebliche Ausgabe der „ Deutschen National-Literatur “ besorgte und die Einleitungen zu seinen naturwissenschaftlichen Schriften schrieb (gesammelt in GA1), hat sich eingehend damit beschäftigt. Er hat sich auch ausführlich mit Goethes impliziter Erkenntnistheorie auseinandergesetzt und ihr eine gesonderte Schrift (GA2: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung) gewidmet. Darin charakterisiert er Goethes Ansichten folgendermaßen: Wir finden [Goethes Ideen über Natur] im Zusammenhange dargestellt in seinem Aufsatz „ Die Natur “ , welcher um das Jahr 1780 geschrieben ist. Da in diesem Aufsatze alle Gedanken Goethes über die Natur, welche wir bis dahin nur zerstreut angedeutet finden, zusammengestellt sind, so gewinnt er eine besondere Bedeutung. Die Idee eines Wesens, welches in beständiger Veränderung begriffen ist und dabei doch immer identisch bleibt, tritt uns hier entgegen: „ Alles ist neu und immer das Alte. “ „ Sie [die Natur] verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillstehen in ihr “ , aber „ ihre Gesetze sind unwandelbar. “ Wir werden später sehen, dass Goethe in der unendlichen Menge von Pflanzengestalten die eine Urpflanze sucht. Auch diesen Gedanken finden wir hier schon angedeutet: „ Jedes ihrer [der Natur] Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff, und doch 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 699 macht alles Eins aus. “ Ja sogar die Stellung, welche er später Ausnahmefällen gegenüber einnahm, nämlich sie nicht einfach als Bildungsfehler anzusehen, sondern aus Naturgesetzen zu erklären, spricht sich hier schon ganz deutlich aus: „ Auch das Unnatürlichste ist Natur “ und „ ihre Ausnahmen sind selten “ . (GA2, S. 20f., Hervorhebung im Original) Es würde uns hier zu weit führen, auf Goethes naturwissenschaftliche Ansichten ausführlich einzugehen, ich möchte es deshalb bei diesen sehr knappen Hinweisen belassen. Philosophischer Materialismus und Materialismus „ von unten “ Romantik und deutscher Idealismus hatten wenig Auswirkung auf die Wissenschaft. Deren materialistische Ausrichtung wurde im 19. Jahrhundert vielmehr immer deutlicher, eine Entwicklung, die vor dem Hintergrund eines breiten gesellschaftlichen Meinungswandels stattfand. Als symptomatisch kann die vielzitierte Äußerung von Karl Marx gelten, dass Religion „ das Opium des Volkes “ sei. 1844 meinte Marx in seiner „ Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie “ forsch, dass die Kritik der Religion, zumindest für Deutschland, im Wesentlichen beendigt sei (Marx 1962, S. 65), und formulierte die für die Entwicklung der Philosophie und Wissenschaft wegweisende These, dass Religion nichts als ein Produkt der freien Vorstellungskraft des von sich selbst entfremdeten Menschen sei: Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion des Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. [. . .] Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. (Ebd.) Von der Prämisse ihres illusionären Charakters ausgehend, plädiert Marx für die Emanzipation von der Religion und die Hinwendung zur gesellschaftlichen Praxis: Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. [. . .] Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit 700 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik. (Ebd., S. 65f.) Diese kühnen Worten eines sehr jungen Mannes machen deutlich, dass religiöse Vorstellungen zu einem „ unheiligen “ Schein verblasst waren, hinter dem sich keine Wirklichkeit, sondern allein der Wille der herrschenden gesellschaftlichen Schichten verbirgt, die breiten Massen zu unterjochen. Es ist wiederum nicht ganz einfach festzustellen, wieweit diese Meinung in Deutschland verbreitet war, es gibt aber Anhaltspunkte, dass sie spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts zumindest unter den Arbeitern in England großen Anklang fand. Don Cupitt, ein anglikanischer Priester, früher Dean des Emmanuel College, University of Cambridge, und Professor für Philosophie an dieser Universität, der aber in England vor allem als Autor populärer Bücher über Religion wie auch Radio- und Fernsehpersönlichkeit bekannt ist, machte in seinem 1984 erschienenen Buch The Sea of Faith darauf aufmerksam, dass parallel zur Popularisierung des Materialismus „ von oben nach unten “ , eine Ausbreitung „ von unten nach oben “ stattfand, die jener vielleicht sogar zeitlich vorausging. Nach Angabe von Cupitt stellte eine offizielle amtliche Statistik aus dem Jahre 1851 in England fest, dass am Tage der Erhebung (nur) 42 % der Bevölkerung von England und Wales die Kirche besuchten. Bereits damals wurde hervorgehoben, dass der Anteil der Kirchenbesucher unter der höheren und mittleren Klassen wie auch auf dem Lande höher als in den industrialisierten Gegenden war. Am tiefsten war er in den schlimmsten Slums (vielleicht um 10 %) und hier unter den schlecht bezahlten Arbeitern im besten Mannesalter (Cupitt 1984, S. 23). Cupitt zitiert dazu einen Brief, den W. F. Hook, der Vikar von Leeds, Geschichtsforscher und eine hochgeachtete Persönlichkeit, bereits im Jahre 1843 verfasste: In the manufacturing districts [the Church] is an object of detestation to the working classes. Among this class I have many friends, zealous and enlightened Churchmen; and from them, and the persecution they endure, I know the feeling which exists. The working classes consider themselves to be oppressed people. They think that they can only obtain the right and importance they desire by exhibiting their strength [. . .. M]any of them are noble and enthusiastic lovers of their Party 479 . They place Party in the stead of the Church; and they consider the Church to belong to the Party of their oppressors; hence they hate it, and consider a man of the working-classes who is a Churchman to be a traitor to his Party or Order [. . .]. (Cupitt ebd., S. 24) 480 479 Hook versteht unter „ Party “ sehr wahrscheinlich der sog. „ Chartism “ (1838 - 1848), denn eine organisierte sozialistische Partei existierte damals in England noch nicht. 480 Marx erforschte das Schicksal der Arbeiterklasse in England, das damals die industriell fortschrittlichste Nation der Welt war. In Deutschland dürfte sich die Abkehr der Massen von der Kirchen zwar später vollzogen haben, aber bis spätestens zum Ende des Jahrhunderts ebenfalls eingetreten sein. 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 701 Cupitt schreibt weiter, dass diese Entfremdung von der Kirche sehr gut zu verstehen sei (ebd., S. 26). Die Arbeiter hatten eine extreme Umwälzung ihres Lebens erfahren: Sie hatten in einer landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft gelebt, deren Lebensrhythmus von der natürlichen Ordnung geprägt und die auf der Autorität Gottes und der Tradition aufgebaut war. Diese alte Ordnung war hart und doch war sie verständlich und akzeptabel, stellt Cupitt fest. Aber in den neuen industriellen Bezirken waren die alten sozialen Kontrollen, die die Menschen an die Kirche gebunden hatten, zusammengebrochen. Die Arbeiter fanden sich in eine menschengemachte Welt geworfen vor, deren Organisation nicht mehr von einer übergreifenden göttlichen Ordnung zeugte. Natur, die von Gott geschaffene Ordnung, erschien in dieser Welt nur in Form von Rohstoffen und physischen Energien, die von Menschen nutzbar gemacht wurden. Die Lebensbedingungen der Armen waren nicht mehr gottgegeben, sondern wurden von Fabrikbesitzern und Aktionären bestimmt, und das religiöse Streben nach Erlösung von der Macht des Bösen wurde in den politischen Kampf gegen den Kapitalismus und für die Etablierung einer gerechten Gesellschaft auf Erden umgelenkt (ebd.). Der Vormarsch des Materialismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts war somit weniger das Ergebnis eines Erkenntnisfortschritts als das Resultat gesellschaftlicher Veränderungen. Aufstieg des Materialismus zur dominierenden Metaphysik der Wissenschaft. Der sog. „ Materialismusstreit “ In der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es gleichwohl einen wichtigen wissenschaftlichen Durchbruch, der der Entwicklung des Materialismus Vorschub verlieh: die Entdeckung des sog. Energieerhaltungssatzes durch den Arzt Julius Robert von Mayer (1814 - 1878) im Jahr 1842. Mayer hat durch Versuche nachgewiesen, dass Bewegungsenergie bei vollständiger Umwandlung in Wärme stets die gleiche Wärmemenge ergibt, und den Wert dieses „ mechanischen Wärmeäquivalents “ bestimmt. Unabhängig von Mayer kamen 1843 James Prescott Joule - dessen Arbeiten damals weit bekannter waren - und Ludwig August Colding in Dänemark (ebenfalls 1843) zum selben Ergebnis. Endgültig ausformuliert wurde der Energieerhaltungssatz 1847 von Hermann von Helmholtz. 481 Der Energieerhaltungssatz wird gewöhnlich so interpretiert, dass er zeige, dass Energie zwar von einer Form in eine andere (z. B. kinetische Energie in Wärmeenergie) umgewandelt und von einem System in ein anderes transportiert werden könne, dass es jedoch nicht möglich sei, Energie zu erzeugen bzw. zu vernichten. Für die theologische Spekulation würde das bedeuten, dass Gott zwar die Welt schöpfen, ihr den ersten „ Stups “ geben, aber sich danach an der Entwicklung der geschaffenen Welt nicht mehr beteiligen konnte. 481 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Energieerhaltungssatz (heruntergeladen am 10. 7. 2014). 702 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Der Historiker F. M. Turner schrieb über die Bedeutung der Entdeckung dieses Satzes, dass er möglicherweise weitgehendere weltanschauliche Konsequenzen als Darwins Evolutionstheorie hatte: „ [T]he contemporary significance of [the law of conservation of energy] was immense and probably more destructive to a supernatural interpretation of nature than was evolution by natural selection “ (Turner 1974, zitiert in Papineau 2009). Heute wissen wir allerdings, dass der Energieerhaltungssatz sehr wahrscheinlich nicht allgemeingültig ist. Jedenfalls scheinen die Annahme des Urknalls als des Anfangs des Universums, die Entdeckung der sog. „ dunklen Energie “ , aber auch ein Alltagsphänomen wie die Tatsache, dass es Menschen gibt, die sehr lange ein normales Leben führen können ohne jegliche Nahrungsaufnahme, dem Satz zu widersprechen. Ich werde dieses Thema ausführlicher im Abschnitt „ Rupert Sheldrake: Science Delusion. Freeing the Spirit of Enquiry “ des Kapitels „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ behandeln. Im selben Zeitraum, in den die Entdeckung des Energieerhaltungssatzes fällt, verfassten zahlreiche führende deutsche Wissenschaftler bedeutsame Werke, welche die materialistische Weltanschauung verbreiten. So formulierte z. B. August Christoph Carl Vogt (1817 - 1895), ab 1847 Professor für Zoologie an der Universität Gießen, ab 1852 Professor für Geologie und ab 1872 für Zoologie in Genf, den prägenden Satz, dass „ die Gedanken in demselben Verhältnis etwas zu dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren “ (Vogt 2012, S. 6). Eine Seele anzunehmen, die sich des Gehirns wie eines Instruments bediene, sei demnach „ ein reiner Unsinn “ (ebd.), der Sitz des Bewusstseins, des Willens und des Denkens sei einzig und allein im Gehirn zu finden. Zum Verhältnis von Leib und Seele konstatiert er: Die Seele fährt nicht in den Fötus, wie der Böse Geist in den Besessenen, sondern sie ist ein Product der Entwicklung des Hirns, so gut als die Muskelthätigkeit ein Product der Muskelentwicklung und die Absonderung ein Product der Drüsentwicklung ist. Sobald die Substanzen, welche das Hirn bilden, wieder in derselben Form zusammengewürfelt werden, so werden auch dieselben Functionen wieder auftreten, welche ihnen in diesen Formen und Zusammensetzungen zukommen, und es wird damit auch das wieder gegeben sein, was man Seele nennt. (Zitiert in Schleiden 2012, S. 285) Mit seiner 1852 erschienenen Schrift Bilder aus dem Thierleben, in der er nicht nur eine ausführliche Darstellung der materialistischen Position bot, sondern auch die deutschen Universitätsgelehrten, die diese Ansicht nicht teilten, scharf angriff, weckte Vogt das Interesse der deutschen Öffentlichkeit. In dieser Schrift behauptete er, dass jeder klar denkende Biologe die Wahrheit des Materialismus anerkennen müsse, da die Abhängigkeit der Seelenfunktionen von den Gehirnfunktionen über jeden Zweifel in Tierexperimenten nachgewiesen worden sei: „ [W]ir [können] der Taube Stück für Stück die geistigen Funktionen abschneiden, indem wir Stück für Stück das Gehirn 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 703 abtragen “ (zitiert nach Laufs 2010, S. 224). Wenn aber die Seelenfunktionen so stark vom Gehirn abhängig seien, so folge zwingend, dass die Seele den Tod des Körpers nicht überdauern könne. Und wenn die Gehirnfunktionen durch die Naturgesetze bestimmt seien, so müsse auch die Seele durch diese determiniert sein So wäre dem einfachen Materialismus Thür und Tor geöffnet - der Mensch so gut wie das Thier nur eine Maschine, sein Denken das Resultat einer bestimmten Organisation - der freie Wille demnach aufgehoben? [. . .] Wahrlich, so ist ’ s. Es ist wirklich so. (Ebd.) Diese Position entwickelte Vogt in der gleichen Schrift konsequent weiter: Der freie Wille existirt nicht und mit ihm eine Verantwortlichkeit und eine Zurechnungsfähigkeit, wie sie die Moral und die Strafrechtspflege und Gott weiß wer noch uns auferlegen wollen. Wir sind in keinem Augenblicke Herren über uns selbst, über unsere Vernunft, über unsere geistigen Kräfte, so wenig, als wir Herren sind darüber, dass unsere Nieren eben absondern oder nicht absondern sollen “ . (Ebd.) Der Physiologe Jakob Moleschott (1822 - 1893), ab 1847 Privatdozent für Physiologie an der Universität Heidelberg, ab 1856 Professor für Physiologie in Zürich und ab 1879 in Rom, behauptete in seinem 1852 erschienenen, berühmt gewordenen Werk Der Kreislauf des Lebens, dass der Mensch ausschließlich ein Produkt äußerer Einflüsse (Eltern und Amme, Ort und Zeit, Luft und Wetter, Kost usw.) sei (zitiert in Schleiden 2012, S. 285f.). „ Ohne Phosphor kein Gedanke! “ , meinte er. Mit dem Stoff sei das Leben, mit dem Leben das Denken, mit dem Denken der Wille, das Leben besser und glücklicher zu machen, verbunden. Der Arzt Ludwig (Louis) Büchner (1824 - 1899) veröffentlichte 1855 sein Hauptwerk Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemein verständlicher Darstellung (Frankfurt a. M., 1855), das mit 21 Auflagen und zahlreichen Übersetzungen in andere Sprachen ein für seine Zeit ungewöhnlich erfolgreicher Bestseller wurde. In diesem Werk behauptete er, dass es die einfachste und „ folgewichtigste “ Wahrheit sei, dass „ keine Kraft ohne Stoff - kein Stoff ohne Kraft “ existieren könne (Büchner 1888, S. 2). Und einige Seiten weiter formuliert er paradigmatisch die zentralen Überzeugungen der materialistisch gesinnten Wissenschaftler in bereits früher ausführlicher zitierten Form 482 : Stück für Stück hat die Aufklärung suchende Wissenschaft dem uralten Kinderglauben der Völker seine Positionen abgewonnen, hat den Donner und Blitz und die Verfinsterung der Gestirne den Händen der Götter entwunden und die gewaltigen Kräfte ehemaliger Titanen unter den befehlenden Finger der Menschen geschmiedet. [. . .] Mit dem vollkommenen Rechte können wir heute sagen: Es gibt nichts Wunderbares; Alles, was geschieht, was geschehen ist und was geschehen wird, geschieht und geschah und wird geschehen auf eine natürliche Weise, d. h. 482 Vgl. den Abschnitt: „ Das Aufkommen “ . 704 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft auf eine Weise, die nur bedingt ist durch das zufällige oder nothwendige Zusammenwirken oder Begegnen der von Ewigkeit her vorhandenen Stoffe und der mit ihnen verbundenen Naturkräfte. (Büchner 1888, S. 32) Nur ein Jahr später behauptete der einflussreiche Militärarzt und Philosoph Heinrich Czolbe (1819 - 1873) in seinem Werk Entstehung des Selbstbewusstseins. Eine Antwort an Herrn Professor Lotze (1856), dass der „ Mensch [. . .] nichts weiter als ein aus den verschiedenartigsten Atomen in künstlerischer Form mechanisch zusammengefügtes Mosaikbild “ ist (zitiert in Schleiden 2012, S. 286). Und der Mediziner Rudolf Ludwig Karl Virchow (1821 - 1902), der Weltruhm durch seine Entdeckung erlangte, dass Krankheiten auf Störungen der Körperzellen basieren, schrieb 1862 in seinen Vier Reden über Leben und Kranksein: Es ist ganz gleichgültig, ob man das organische oder unorganische Schaffen betrachtet. Es ist kein Spiritus rector, kein Lebens-, Wasser- oder Feuer-Geist darin zu erkennen. Überall nur mechanisches Geschehen in ununterbrochener Nothwendigkeit der Verursachung und Bewirkung. Der Plan ist in den Körpern, das Ideale im Realen, die Kraft im Stoff. (Zitiert in Schleiden 2012, S. 322) An einer anderen Stelle dieses Werkes stellte Virchow fest: „ Vergeblich bemüht man sich zwischen Leben und Mechanik einen Gegensatz zu finden “ (zitiert in Schleiden 2012, S. 330). Die Ausbreitung der materialistischen Überzeugungen im deutschsprachigen Kulturraum rief schließlich vehemente Reaktionen auf den Plan. So drohte der Rektor der Universität Heidelberg nach der Publikation von Der Kreislauf des Lebens Moleschott mit dem Entzug der Lehrberechtigung, worauf dieser auf jede Lehrtätigkeit verzichtete, weil er die Lehrfreiheit nicht mehr gewährleistet sah, und bis zu seiner Berufung nach Zürich im Jahre 1856 nur noch ein privates Laboratorium in Heidelberg betrieb. 483 Der deutsche Botaniker und Mitbegründer der Zelltheorie Matthias Jacob Schleiden (1804 - 1881) bringt seine Vorbehalte 1863 wie folgt auf den Punkt: Wer nicht bloß leidendlich den einzelnen Zeitrichtungen folgt, sondern selbst denkend die Wahrheit sucht, dem wird kaum irgend eine Erscheinung unserer Zeit so bedeutend entgegentreten, so sehr die Aufmerksamkeit und das Nachdenken in Anspruch nehmen als das, was man schon gewohnt ist, den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaften zu nennen. Diese Lehre, wenn Sie überhaupt diesen Namen verdient, greift so tief in die wichtigsten, ja heiligsten Ueberzeugungen der Menschheit ein, stellt in ihren Consequenzen so vollständig die Grundlagen unseres sittlichen und religiösen Lebens in Frage, dass es keiner Entschuldigung bedarf, wenn man dieselben zum Gegenstand einer ernsten Prüfung macht und auch das größere Publicum auffordert, an dieser Prüfung teilzunehmen. 483 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Jakob_Moleschott (heruntergeladen am 12. 12. 2012). 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 705 Kurz ausgesprochen lässt sich dieser Materialismus in die zwei Sätze zusammenfassen: „ Es giebt keinen Geist als selbständige Substanz und keinen Gott als geistige außerweltliche Persönlichkeit. “ (Schleiden 2012, S. 283) Die Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern und den Gegnern des Materialismus ist in die Ideengeschichte als „ Materialismusstreit “ eingegangen, wobei es sich, wie die Autoren eines Sammelbandes zu dem Thema vermerken, „ eine geradezu irenische Neubildung “ handele (Bayertz et al. 2012, S. IX), weil die Teilnehmer der Diskussion selbst „ im allgemeinen nicht zurückhaltend von ‚ Streit ‘ , sondern unverblümt von ‚ Kampf ‘ - und zwar von ‚ Kampf gegen den Materialismus ‘ reden “ (ebd.). Dieser wird von seinen Gegnern als „ furchtbare, weltgeschichtliche Seuche “ (Wagner 2012, S. 79f.), als der „ schlimme Feind, der in allen Winkeln steht “ bezeichnet und den es „ hervorzuholen und zu entlarven “ gelte (Anonymus 2012, S. 224). Man sprach von der Pflicht, „ die Gesellen, welche die Heiligthümer der Kirche, des Staates, der Familie in Worten und Thaten besudeln[,] heraus[zu]fegen “ (Wagner 2012 a, S. 49), und wetterte, dass während „ aus den Zersetzungsproducten des Urins 484 [. . .] doch wenigstens ein guter Dünger für nutzbare Pflanzen zu gewinnen [ist], [. . .] jene erwähnten Geistesproducte nur als Fermente zur Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnung und nationalen Bildung dienen “ (Wagner 2012 a, S. 44). Diese Auseinandersetzung war nicht auf die Wissenschaft beschränkt, sondern ergriff breite Schichten des Bürgertums und artikulierte sich in einer „ unüberschaubaren Fülle von Zeitschriften- und sogar Zeitungsartikeln, die aber ebenfalls oft monographischen Umfang erlangt haben “ (Bayertz et al. 2012 a, S. XXXIII). Die Kontroverse traf offensichtlich einen empfindlichen Nerv der Zeit. Die scharfen Attacken gegen die Vertreter des Materialismus rührten nicht allein von theoretischen Überlegungen her, sondern richteten sich gegen seine realen oder vermeintlichen Auswirkungen auf die Gesellschaft: Die materialistische Position, insbesondere wenn sie die Existenz des freien Willens in Frage stellte, wurde als eine Bedrohung der allgemeinen Sittlichkeit verstanden. Ihr wohl bedeutendster Gegner war Rudolf Wagner (1805 - 1864). Er war seit 1833 Professor für Zoologie und vergleichende Anatomie an der Universität Erlangen. 1840 wurde er an die Universität Göttingen berufen, wo er Lehrkanzeln für Zoologie, Physiologie und vergleichende Anatomie bis zu seinem Lebensende innehatte. 1844 übernahm er das Prorektorat der Universität Göttingen. Wagners öffentlichkeitswirksame Streitschriften rückten die seit einigen Jahren schwelende Materialismusdebatte endgültig ins Zentrum des öffentlichen Interesses. In seinem im Rahmen der 31. Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte in Göttingen am 18. September 1854 gehaltenen Vortrag „ Menschenschöpfung und Seelensubstanz “ warf 484 In Anspielung auf die oben zitierte Behauptung von Carl Vogt, dass „ die Gedanken im demselben Verhältnis etwa zu dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder Urin zu den Nieren “ . 706 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Wagner den Materialisten vor, dass sie durch die Leugnung der Willensfreiheit die sittlichen Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung untergraben. Er zitierte Vogts Aussagen zum freien Willen (s. oben) und stellte ironisch fest: Die Moral, die Maxima für das Leben, welche daraus folgt, ist nicht minder einfach; es ist dieselbe, wie sie schon vor Jahrtausenden, solchen Lehren gegenüber aufgestellt wurde; sie lautet: „ Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir todt. “ (Wagner 2012, S. 77) Abschließend äußerte er die Meinung, dass die Naturwissenschaft die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung nicht unterminieren dürfe: Aber ich kann mir nicht denken, dass sie bei einer ernsten Vertiefung in den Gegenstand zu Resultaten kommen sollten, welche die Naturwissenschaften in den Verdacht bringen müssen, die sittlichen Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung völlig zu zerstören. Nur indem wir diese stützen und erhalten, erfüllen wir eine Pflicht gegen die Nation. Unsere Nachkommen werden uns darüber Rechenschaft abfordern. (Ebd., 80 Hervorhebung im Original) Wagners Verständnis der intellektuellen Pflichten des Wissenschaftlers wird heute Erstaunen hervorrufen, für viele seiner Zeitgenossen aber war sie nachvollziehbar und sie wurde von ihnen geteilt. Noch im selben Jahr erschien eine zweite Schrift Wagners 485 , in der er seine Position um einige Ausführungen zum Verhältnis von Wissen und Glauben ergänzte. Nach Wagner bilden sie zwei weitgehend unabhängige Bereiche. Folglich kann naturwissenschaftliches Wissen den religiösen Glauben weder beweisen noch widerlegen: Ich bezweifle, dass es für die göttlichen Dinge irgend einen anderen Erkenntnisweg giebt, als den durch den Glauben. Auf dem Wege wissenschaftlicher Forschung im gewöhnlichen Sinne des Worts sich der göttlichen Dinge, als völlig übersinnlichen Natur, zu bemächtigen, scheint mir von vorne herein unmöglich. Allerdings kann die Idee eines Schöpfers als ein geistiges Erzeugnis aus der Betrachtung der Werke der Natur hervorgehen. (Wagner 2012 b, S. 90) Gleichwohl hält er das Menschenbild der Bibel für ein tragfähiges Fundament der auf den Menschen bezogenen Forschung: Es befindet sich in der ganzen biblischen Seelenlehre [. . .] kein einziger Punkt, welcher mit irgend einem Lehrsatze der modernen Physiologie und Naturwissenschaft im Widerspruch wäre. Die Bibel stellt, einem falschen Spiritualismus und Materialismus gegenüber, in dem richtigen Dualismus des zu einem seelischen Organismus vereinigten Geistes und Körpers die auch physiologisch allein haltbare Grundlage einer wissenschaftlichen Psychologie und Anthropologie auf. (Ebd., S. 102f., Hervorhebung im Original) 485 Über Wissen und Glauben mit besonderer Beziehung zur Zukunft der Seelen. Fortsetzung der Betrachtungen über „ Menschenschöpfung und Seelensubstanz “ , Göttingen, 1854. 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 707 Die bisher angeführten Argumente der Materialisten können so aufgefasst werden, dass sie zwar die Wirklichkeit der menschlichen Seele bzw. des menschlichen Geistes, nicht aber die Realität Gottes in Frage stellen. Schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts war es aber zu einer Entkoppelung von Naturwissenschaft und Theologie gekommen, die man als methodischen Atheismus bezeichnen kann: Die Naturwissenschaften haben ihrem Erkenntnisinteresse nachzugehen und ihre Methode zu befolgen, ohne sich um die Vereinbarkeit ihrer Resultate mit theologischen Annahmen zu bekümmern. (Bayertz et al. 2012 a, S. XXVIII) Diese Emanzipation der Wissenschaft von Religion und Kirche illustriert sehr treffend die bereits oben angeführten Anektdote, nach der Laplace auf die Frage Napoleons I., warum er in seiner Mechanik des Himmels Gott nicht nenne, geantwortet habe: „ Sire, in meinem Himmel finde ich keinen Gott “ (zitiert in Schleiden 2012, S. 326). Matthias Jacob Schleiden weist in seinem Kommentar auf zwei wichtige Momente dieser Antwort hin. Zum einen fasst Laplace das Gebiet der Naturwissenschaft im engeren Sinne als die Wissenschaft von der Welt im Raum auf, und diese „ ist wesentlich und nothwendig atheistisch “ (ebd.). Zum anderen spricht Laplace von seinem Himmel, er behauptet also nicht, dass seine oder die naturwissenschaftliche Astronomie insgesamt das ganze Gebiet des menschlichen Wissens umfasst (ebd.). Schon bald entwickelte sich jedoch die Tendenz, die Restriktion auf die Methode zu ignorieren und von dem Satz „ Die Wissenschaft findet keine Seele und keinen Gott “ zu dem anderen „ Es gibt weder Seele noch Gott “ weiterzuschreiten (Bayertz et al. 2012 a, S. XXIX). Damit wurde, wie die Herausgeber des Bandes Der Materialismus-Streit herausstellen, der Materialismus dogmatisch und behauptete die Nichtexistenz von Seele und Gott, weil er sich nach Ludwig Büchner „ verbietet, etwas zu glauben, was wir nicht wissen “ (zitiert in Bayertz et al. 2012 a, S. XXX). Es ist dieser „ frivole Materialismus einzelner Naturforscher “ , den die Gegner des Materialismus zumeist ins Visier nehmen (Rudolph Wagner, zitiert in Bayertz et al. 2012 a, S. XXXI). Gegenbewegung: Neukantianismus, Du Bois-Reymond An diesem Punkt setzte in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts die Kritik des Neukantianismus an. Bereits 1865 hatte Otto Liebmann in seiner Schrift Kant und die Epigonen: Eine kritische Abhandlung die philosophischen Positionen vom deutschen Idealismus bis zu Schopenhauer scharf kritisiert und jedes Kapitel mit der Feststellung abgeschlossen: „ Also muss auf Kant zurückgegangen werden! “ Nur ein Jahr später argumentierte Friedrich Albert Lange in seinem umfangreichen Werk Die Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, dass die zentrale Verfehlung des Materialismus darin bestehe, dass dieser behaupte, es gebe in Wirklichkeit nur Materie, und dabei übersehe, dass auch die Naturwissenschaften keineswegs eine absolute Realität beschreiben, da sie bereits gewisse Kategorien und 708 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Anschauungsformen (im Sinne Kants) voraussetzten (Lange 1974, S. 56). Unterstützung erhielt diese philosophische Argumentation von der Naturwissenschaft selbst. Hermann von Helmholtz präsentierte seine Arbeiten zur Sinnesphysiologie des Menschen als eine empirische Bestätigung von Kants Philosophie. Jede Wahrnehmung der Welt sei durch die menschliche Interpretationsleistung geprägt, woraus folge, dass die Dinge an sich unzugänglich bleiben: Wie es aber mit dem Auge ist, so ist es auch mit den anderen Sinnen; wir nehmen nie die Gegenstände der Außenwelt unmittelbar wahr, sondern wir nehmen nur Wirkungen dieser Gegenstände auf unseren Nervenapparat wahr. (Helmholtz 2003, S. 115) Die naturwissenschaftlichen Materialisten betrachteten die Argumente der Neukantianer lediglich als eine spekulative Attacke auf die Ergebnisse der Naturwissenschaften und setzten sich nicht systematisch mit ihnen auseinander. Gefährlicher erschien ihnen die Kritik des einflussreichen Physiologen Emil Du Bois-Reymond (1818 - 1896), der in seinem am 14. August 1872 vor der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig gehaltenen Vortrag 486 meinte, dass gewisse Rätsel der Wissenschaft, insbesondere die Frage nach dem Wesen der Materie und der Kraft wie auch die Frage, wie aus Materie Gedanken hervorgehen, für immer unlösbar bleiben: Ich werde jetzt, wie ich glaube, in sehr zwingender Weise dartun, dass nicht allein bei dem heutigen Stand unserer Kenntnis das Bewusstsein aus seinen materiellen Bedingungen nicht erklärbar ist, was wohl jeder zugibt, sondern dass es auch der Natur der Dinge nach aus diesen Bedingungen nicht erklärbar sein. (Du Bois- Reymond 1974, S. 65) Und weiter: Gegenüber den Rätseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein „ Ignoramus “ auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn trägt ihn dabei das stille Bewusstsein, dass, wo er jetzt nicht weiß, er wenigstens unter Umständen wissen könnte, und dereinst vielleicht wissen wird. Gegenüber dem Rätsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muss er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen: „ Ignorabimus “ . (Ebd., S. 77) 1880 legte Du Bois-Reymond mit dem Vortrag „ Die sieben Welträthsel “ , den er vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin hielt, nach. Darin zählt er sieben Welträtsel auf: 1) das Wesen der Materie und Kraft; 2) der Ursprung der Bewegung; 3) die Entstehung der Empfindung; 4) die Entstehung des Lebens; 5) die zweckmäßige Einrichtung der Natur; 6) das menschliche Denken und Sprechen; 7) die Willensfreiheit. Die drei ersten hielt 486 Diese Rede wird häufig als „ Ignoramus et ignorabimus “ -Vortrag ( „ Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen “ ) zitiert. 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 709 er für transzendent im Sinne Kants und damit für prinzipiell unlösbar, die anderen vier wären dagegen zumindest theoretisch zu klären (Du Bois- Reymond 1974 a). Die Anhänger des Materialismus argumentierten damals (wie auch heute), dass die leicht nachweisbare Abhängigkeit der seelischen bzw. mentalen von den Gehirnfunktionen ausreiche, um die Reduzierbarkeit des Bewusstseins auf seine materielle Grundlage, das Gehirn, behaupten zu können. Du Bois-Reymond wies demgegenüber darauf hin, dass ein Nachweis der Abhängigkeit des Seelischen vom Gehirn keineswegs ausreichend für die Begründung des Materialismus sei. Denn wer das Bewusstsein auf das Gehirn reduzieren wolle, müsse nicht nur seine Abhängigkeit vom Gehirn nachweisen, sondern auch und vor allem die Entstehung des Bewusstseins aus der Gehirnfunktionen erklären können. Dies sei aber von der Neurobiologie nicht geleistet worden. Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen „ Ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot “ und der ebenso unmittelbar daraus fließenden Gewissheit: „ Also bin ich “ ? Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, dass es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoffusw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammensein Bewusstsein entstehen könne. (Du Bois-Reymond 1974, S. 71) Du Bois-Reymonds Thesen erregten große Aufmerksamkeit und wurden kontrovers diskutiert (vgl. Bayertz et al. 2007). Ernst Haeckels erfolgreichstes Buch Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie (1899) ist eine Reaktion auf die Thesen von Du Bois-Reymond (vgl. Haeckel 1960, S. 26f. Vgl. die ausführliche Behandlung dieses Buches weiter unten). Der Materialismusstreit endete, wenn man überhaupt von einem Ende sprechen kann, in einer Art Patt-Situation. Weder die eine noch die andere Seite konnte sich als Sieger rühmen. Dies kann nicht überraschen, wenn man bedenkt, dass sich heute, mehr als 150 Jahren seit dem Ausbruch des Streits, die Geschichte wiederholt. Wiederum haben wir es mit zwei Lagern zu tun: auf der einen Seite die Verfechter eines radikalen materialistischen Reduktionismus, auf der anderen die Befürworter einer dualistischen Option; und wiederum kann keines der beiden Lager endgültig als siegreich bezeichnet werden. Darwin und der Stimmungswechsel 1859 ist Darwins epochales Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life erschienen, 710 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft das zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit versprach, die Entstehung des Reichtums und der Vielfalt der Naturwelt ohne Intervention einer dem Menschen überlegenen Intelligenz, eines Schöpfergottes erklärlich zu machen. Darin schrieb Darwin die Selektion der Organismen einem einigermaßen rationalen Prinzip zu: Diejenigen Organismen überleben, die am besten an ihre Umgebung angepasst sind. Den anderen Hauptmechanismus der Evolution, die Veränderung der Organismen, stellte er dagegen dem Zufall (den zufälligen genetischen Mutationen) anheim. 487 Die Thesen von On the Origin of Species fielen in Deutschland auf einen fruchtbaren Boden, der durch die Arbeiten und Überlegungen zahlreicher anderer Forscher vorbereitet war, und sie wurden ihrerseits für die Ausarbeitung des materialistischen Weltbildes nutzbar gemacht. 488 Schließlich gab Darwins Theorie vor, die Vielfalt der Natur ausschließlich durch „ blinde “ , d. h. nicht teleologisch agierende Entwicklungskräfte erklären zu können. Nur ein paar Jahre nach dem Erscheinen von Darwins monumentalem Werk verkündete der berühmte englische Biologe Thomas Henry Huxley, dass der Determinismus, den Laplace für die anorganische Welt geltend machte, auch den belebten Kosmos umfasse: If the fundamental proposition of evolution is true, that the entire world, living and not living, is the result of the mutual interaction, according to definite laws, of the forces possessed by the molecules of which the primitive nebulosity of the universe was composed, it is no less certain the existing world lay, potentially, in the cosmic vapour, and that a sufficient intellect could, from a knowledge of the properties of the molecules of that vapour, have predicted, say, the state of the fauna of Great Britain in 1869. (Zitiert in Sheldrake 2012, S. 17) Gott ist damit nicht nur für die Schöpfung der Welt, sondern auch für ihre weitere Entfaltung irrelevant. Ein sehr eindrückliches Zeugnis dieser profunden weltanschaulichen Wende stellt das Gedicht „ Dover Beach “ von Matthew Arnold (1822 - 1888) dar. Arnold, der als staatlicher Schulinspektor das ganze Land bereiste, dessen Stimmung also besser als jeder andere kannte, veröffentlichte das Werk im Jahr 1867: 487 Strenggenommen verfügte Darwin 1859 über keine Erklärung des Mechanismus der Veränderung der Organismen. Die Entstehung neuer Eigenschaften durch Mischung von Eigenschaften der Elterngeneration wurde erst 1866 vom Gregor Mendel nachgewiesen, der Begriff der Mutation wurde erst 1894 gebraucht (SOEDHP 1992, Bd. II, S. 1377), der Begriff des Gens kam erst um 1913 in Umlauf (SOEDHP 1992, Bd. I, S. 840). Darwin selbst schlug erst 1868 eine Theorie der Verwandlung der Organismen vor, die er als „ Pangenesis “ bezeichnete. Er nahm an, dass der ganze Elternorganismus an der Vererbung teilnimmt (deshalb „ pan “ ), dass aber der Transfer der erblichen Information mittels winziger Teilchen stattfindet, welche er als „ gemmules “ bezeichnete. Die Annahme der Existenz solcher Entitäten war damals eine reine Spekulation (http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Pangenesis, heruntergeladen am 18. 10. 2014). 488 Eine nichtmaterialistische Interpretation dieses Prozesses werden wir im Kapitel „ Einige Erkenntnisresultate der Geisteswissenschaft “ kennen lernen. 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 711 The sea is calm to-night. The tide is full, the moon lies fair Upon the straits; - on the French coast the light Gleams and is gone; the cliffs of England stand, Glimmering and vast, out in the tranquil bay. Come to the window, sweet is the night-air! Only, from the long line of spray Where the sea meets the moon-blanch ’ d land, Listen! you hear the grating roar Of pebbles which the waves draw back, and fling, At their return, up the high strand, Begin, and cease, and then again begin, With tremulous cadence slow, and bring The eternal note of sadness in. Sophocles long ago Heard it on the Ægæan, and it brought Into his mind the turbid ebb and flow Of human misery; we Find also in the sound a thought, Hearing it by this distant northern sea. The Sea of Faith Was once, too, at the full, and round earth ’ s shore Lay like the folds of a bright girdle furl ’ d. But now I only hear Its melancholy, long, withdrawing roar, Retreating, to the breath Of the night-wind, down the vast edges drear And naked shingles of the world. Für Cupitt drückt dieses Gedicht aus the sense, common in his [Arnolds] time, that the ancient supernatural world of gods and spirits which had surrounded mankind since the first dawn of consciousness was at last inexorable slipping away. The English social and religious order had until quite recently seemed strong enough to be able to resist the encroachment of unbelief by isolating and containing it, but it was becoming apparent that the long rearguard action was being lost. From now on thinking Christians would either be revisionists of some kind, or else be consciously in a dissenting minority. (Cupitt 1984, S. 22) Ernst Haeckel und Die Welträtsel 1899 erschien Ernst Haeckels Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, ein Buch, das in weiten Kreisen des Bildungsbürgertums hohe Wellen schlug. Bereits im Erscheinungsjahr gab es drei Auflagen, bis 1905 kamen fünf weitere Auflagen hinzu. Ab 1903 erschienen einige 712 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Volksausgaben und ab 1908 die Taschenbuchausgaben. Die deutsche Gesamtauflage lag bei nahezu einer halbe Million Exemplare (Klohr 1960, S. VII). Die Welträtsel eroberten sich auch außerhalb Deutschlands ein breites Publikum. In kurzer Zeit folgten fünfundzwanzig Übersetzungen des Werkes. Besonders die englische Übersetzung von McCabe, dem „ Apostel von Haeckel “ (ebd., S. VIII), verkaufte sich ausgesprochen gut. In England, USA und Australien wurden insgesamt 250.000 Exemplare verkauft (ebd.), wobei man berücksichtigen muss, dass die Bevölkerung der Vereinigten Staaten 1910 ca. 92 Millionen (heute ca. 318 Millionen) und von Großbritannien ca. 38 Millionen (heute ca. 63 Millionen) Einwohner betrug. McCabe berichtet, dass er das Buch bei Fischern der Orkney-Inseln, Bergleuten von Schottland und Wales, Schafscherern in Australien und sogar bei den Maoris in Neuseeland gesehen habe (ebd.). Lenin schrieb 1908, das Buch sei „ ins Volk gedrungen “ , Haeckel habe mit einem Schlag Lesermassen auf seine Seite gebracht (Lenin 1952, S. 340 zitiert von Klohr ebd.). Haeckel erhielt Tausende von Zuschriften. Allein bis Mitte 1900 beantwortete er ca. 1000, später wurde ihre Zahl so groß, dass er nicht mehr alle beantworten konnte (Klohr ebd., S. VIII f.). Schon aufgrund dieses Echos kann man Haeckels Werk als eine Art Kulminationspunkt der naturwissenschaftlich-materialistischen Weltanschauung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert betrachten. Was hatte das Buch an sich, dass ihm so große Resonanz beschieden war? Um diese Frage zu beantworten, muss man vielleicht mit der Person des Verfassers anfangen. Ernst Haeckel (1834 - 1919) zählte zur Zeit des Erscheinens seiner Rätsel zu den berühmtesten Wissenschaftlern Deutschlands. Bereits 1861 hatte er sich habilitiert, 1865 erhielt er die Ehrendoktorwürde in Philosophie und eine Professur für Zoologie in Jena. 1866 und 1867 knüpfte er Kontakte mit wissenschaftlichen Größen wie Charles Darwin, Thomas Huxley und Charles Lyell. Von 1876 an war er Prorektor der Universität Jena und unternahm Vortragsreisen durch Deutschland, später auch nach England und Schottland, wo er sich mehrmals mit Darwin traf. Sein wissenschaftlicher Ruf wurde vor allem durch die grundlegenden meeresbiologischen Monographien über Radiolarien (1862, 1887), Kalkschwämme (1872), Medusen (1879 - 1880) und Staatsquallen (1869, 1888) begründet. Allein während der britischen Challenger-Expedition (1872 - 1876) benannte Haeckel 3500 neue Arten von Radiolarien. Er war aber nicht nur ein hervorragender Forscher, sondern auch ein ausgezeichneter Zeichner. Seine Zeichnungen von Meerestieren sind so detailliert (und schön! ), dass sie auch heute noch von wissenschaftlichem Wert sind. Haeckel prägte solche Schlüsselbegriffe der Biologie wie Stamm und Ökologie und formulierte die berühmte biogenetische Grundregel, dass die Ontogenese die Philogenese wiederholt. Bereits 1862 setzte Haeckel sich in einem öffentlichen Vortrag vor der Allgemeinen Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Stettin ( „ Über die Entwicklungstheorie Darwins “ ) für Darwins Evolutionstheorie ein. 1866 veröffentlichte er die Generelle Morphologie, ein epochales Werk, das den Beginn zahlreicher Synthesen verschie- 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 713 dener Teilgebiete der Biologie im Rahmen der Evolutionstheorie markierte. Danach begann Haeckel, auch an Laien gerichtete Bücher - oft Zusammenfassungen seiner Vortragsreihen - zu publizieren. Allmählich avancierte er zum wichtigsten Wegbegleiter von Darwins Theorie in Deutschland. 489 Seine Rätsel waren ein Versuch, die Erkenntnisse der Naturwissenschaften (insbesondere die Biologie) zusammenzuführen und die weltanschaulichen Folgerungen aus dem aktuellen Stand der Forschung zu ziehen. Haeckel stellt fest, dass die Erkenntnis der organischen und der anorganischen Natur eine „ glänzende Höhe “ erreicht habe (Haeckel 1960, S. 13). Die Fortschritte des theoretischen Wissens fänden ihren Niederschlag in mannigfaltigen praktischen (technischen) Anwendungen (ebd., S. 16). Diese Errungenschaften stünden in scharfem Kontrast zu dem unbefriedigenden Entwicklungsstand des sozialen Lebens, dessen Prinzipien hinter den Bildungsstand zurückfielen: im Rechtsleben (ebd., S. 18f.), in der Staatsordnung (ebd., S. 19f.), im Schulwesen (ebd., S. 20f.), in der Kirche (ebd., S. 21f.). Ganz besonders greift Haeckel die „ wunderlichen Ansichten “ von Willensfreiheit und Verantwortung (ebd., S. 18, 26) wie auch die „ rückständige Weltanschauung des Anthropismus “ (ebd., S. 22), den „ herrschenden anthropistischen Größenwahn “ (ebd., S. 26), mithin die Überzeugung von der privilegierten Stellung des Menschen in der Natur an (ebd., S. 22f.): „ Das anthropozentrische Dogma gipfelt in der Vorstellung, dass der Mensch der vorbedachte Mittelpunkt und Endzweck alles Erdenlebens - oder in weiterer Fassung der ganzen Welt - sei “ (ebd., S. 23). Haeckel kritisierte ferner die Vorstellung, dass der Mensch Ebenbild Gottes sei (ebd., S. 26). Diesen „ Dogmen “ stellt er die „ kosmologischen Lehrsätze “ gegenüber (ebd., S. 24), womit er jene Sicht der Entstehung der Welt und des Menschen meint, die uns allen heute aus den Schullehrbüchern sehr vertraut ist (mit Ausnahme des inzwischen aufgegebenen Konzepts des Äthers [ebd., S. 25]), und insbesondere das „ kosmologische Grundgesetz “ oder Substanzgesetz (das Gesetz der ewigen Erhaltung der Kraft und des Stoffes, der Konstanz der Energie und der Materie im Weltall [ebd., S. 15]) wie auch Darwins Entwicklungslehre (ebd., S. 16). Haeckel nimmt im Weiteren polemisch Stellung zu den von Du Bois- Reymond in seiner oben erwähnten Rede, 490 in der er seine sieben Welträtsel formulierte (ebd., S. 26f.) und skizziert in ein paar Zeilen ihre Lösung. Haeckel schreibt, dass die drei „ transzendenten “ Rätsel Du Bois-Reymonds (1, 2 und 5) durch seine Auffassung der Substanz erledigt würden; die drei anderen Probleme, welche Du Bois-Reymond als zwar schwierig, aber lösbar bezeichnete (3, 4, 6), würden durch Darwins Entwicklungslehre gelöst; und das siebte Welträtsel sei überhaupt kein Rätsel, sondern ein reines Dogma, da die Willensfreiheit „ nur auf Täuschung beruht und in Wirklichkeit gar nicht existiert “ (ebd., S. 27). Die Mittel zur Lösung von Du Bois-Reymonds Rätseln 489 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Ernst_Haeckel (heruntergeladen am 14. 12. 2012). 490 Die ihrerseits polemisch Bezug auf Haeckels frühere Äußerungen nahm. 714 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft seien, so Haeckel, allerdings nicht die der philosophischen Spekulation, sondern „ keine anderen als diejenigen der reinen wissenschaftlichen Erfahrung überhaupt, also erstens Erfahrung und zweitens Schlussfolgerung “ (ebd.). 491 Wissenschaftliche Erfahrung wiederum werde durch Beobachtung und Experiment erworben. Es ist lehrreich, sich Haeckels äußerst kompakt geschriebene Ausführungen über die neurobiologische „ Mechanik “ der wissenschaftlichen Tätigkeit vor Augen zu führen. Bei der Beobachtung sind in der ersten Linie unsere Sinnesorgane, in zweiter die „ inneren Sinnesherde “ unserer Großhirnrinde tätig [. . .]. Die mikroskopischen Elementarorgane der ersteren sind die Sinneszellen, die der letzteren Gruppen von Seelenzellen. Die Erfahrungen, welche wir von der Außenwelt durch diese unschätzbarsten Organen unseres Geisteslebens erhalten haben, werden dann durch andere Gehirnteile in Vorstellungen umgesetzt und diese wiederum durch Assoziationen zu Schlüssen verknüpft. Die Bildung dieser Schlussfolgerungen erfolgt auf zwei verschiedenen Wegen, die beide gleich wertvoll und unentbehrlich sind: Induktion und Deduktion. Die weiteren verwickelten Gehirnoperationen, die Bildung von zusammenhängenden Kettenschlüssen, die Abstraktion und Begriffsbildung, die Ergänzung des erkennenden Verstandes durch die plastische Tätigkeit der Phantasie, schließlich das Bewusstsein, das Denken und Philosophieren sind ebenso Funktionen der Ganglienzellen oder Neuronen der Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfacheren Seelentätigkeiten. Alle zusammen vereinigen wir in dem höchsten Begriffe der Vernunft. (Ebd., S. 27f., Hervorhebung im Original). Dieser Abschnitt legt mindestens zwei Schwächen von Haeckels Ansatz offen. Zum einen haben wir bereits gesehen, 492 dass die Ansicht, dass das Denken, die Logik, die Vernunft bloß eine biologische Funktion des Gehirns seien, letztlich zur Aufhebung von Rationalität führt. Zweitens ist auch heute, mehr als hundert Jahre später, die Funktionsweise des Gehirns rätselhaft.Was Haeckel als festen Bestand des wissenschaftlichen Wissens darstellt, sind auch heute noch vage Vermutungen. Solche Spekulationen finden sich auch an anderen Stellen seines Werkes; sie mahnen uns, hinsichtlich der Einschätzung unseres Standortes in der Geschichte des Wissens vorsichtig zu sein. Denn möglicherweise stellt sich auch das, was wir heute als festen Bestand des wissenschaftlichen Wissens behaupten (z. B. unsere Vorstellungen über den Ursprung des Universums), in 100 Jahren als ein Ausflug der Fantasie dar. Haeckel jedenfalls war fest davon überzeugt, dass die Wissenschaft seiner Zeit die naive Phase der wissenschaftlichen Entwicklung hinter sich hatte und dass man endlich auf einem soliden Tatsachengrund stehe: Wenn wir uns den unvollkommenen Zustand der Naturerkenntnis im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden Höhe 491 Vgl auch ebd. S. 29, wo Haeckel seine „ zwei Wege “ als die von Erfahrung und Denken oder Empirie und Spekulation bezeichnet. 492 Vgl. oben den Exkurs „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 715 an dessen Schlüsse vergleichen, so muss jedem Sachkundigen der Fortschritt innerhalb desselben erstaunlich groß erscheinen. Jeder einzelne Zweig der Naturwissenschaft darf sich rühmen, dass er innerhalb dieses Jahrhunderts - und besonders in dessen zweiter Hälfte - extensive und intensive Gewinne von größter Tragweite erzielt habe. (Ebd., S. 13f.) Sachlich betrachtet, stimmt diese Aussage durchaus. Wie am Ende seines Buches deutlich wird, ist Haeckel jedoch der weitergehenden Überzeugung, dass man nicht nur Fortschritte gemacht habe, sondern die Wahrheit bereits in Sichtweite sei: Die Zahl der Welträtsel hat sich durch die angeführten Fortschritte der wahren Naturerkenntnis im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf ein einziges allumfassendes Universalrätsel zurückgeführt, auf das Substanzproblem. Was ist denn nun eigentlich im tiefsten Grunde dieses allgewaltige Weltwunder, welches der realistische Naturforscher als Natur oder Universum verherrlicht, der idealistische Philosoph als Substanz oder Kosmos, der fromme Gläubige als Schöpfer oder Gott? Können wir heute behaupten, dass die wunderbaren Fortschritte unserer modernen Kosmologie dieses „ Substanzrätsel “ gelöst oder auch nur, dass sie uns dessen Lösung sehr viel näher gebracht haben? (Ebd., S. 390) Nachdem er die Fortschritte der Wissenschaft im 19. Jahrhundert kurz Revue passieren gelassen hat, stellt er fest, dass sie die drei großen „ Zentraldogmen der dualistischen Philosophie “ , den Glauben an den persönlichen Gott, an die Unsterblichkeit der Seele und an die Freiheit des Willens „ zertrümmert “ haben: Da überragt alle anderen Fortschritte und Entdeckungen des verflossenen „ großen Jahrhunderts “ das gewaltige, allumfassende Substanzgesetz, das „ Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes “ . Die Tatsache, dass die Substanz überall einer ewigen Bewegung und Umbildung unterworfen ist, stempelt dasselbe zugleich zum universalen Entwicklungsgesetz. Indem dieses höchste Naturgesetz festgestellt und alle anderen ihm untergeordnet wurden, gelangten wir zur Überzeugung von der universalen Einheit der Natur und der ewigen Geltung der Naturgesetze. Aus dem dunklen Substanzproblem entwickelte sich das klare Substanzgesetz. Der Monismus des Kosmos, den wir darauf begründen, lehrt uns die ausnahmslose Geltung der „ ewigen, ehernen, großen Gesetze “ im ganzen Universum. Damit zertrümmert derselbe aber zugleich die drei großen Zentraldogmen der bisherigen dualistischen Philosophie, den persönlichen Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens. (Ebd., S. 391) Nicht alle führenden Wissenschaftler der Zeit waren allerdings von dieser szientistischen Euphorie ergriffen. Einige Stimmen mahnten zu Vorsicht und Bescheidenheit und wiesen auf die Grenzen der Wissenschaft hin, allen voran Emil Du Bois-Reymond, der in seinem 1877 im Verein für wissenschaftliche Vorlesungen zu Köln gehaltenen Vortrag formulierte: Einseitig betrieben, verengt Naturwissenschaft, gleich jeder anderen so geübten Tätigkeit, den Gesichtskreis. Die Naturwissenschaft beschränkt dabei den Blick auf 716 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft das Nächstliegende, Handgreifliche, aus unmittelbarer Sinneswahrnehmung mit scheinbar unbedingter Gewissheit sich Ergebende. Sie lenkt den Geist ab von allgemeineren, minder sicheren Betrachtungen und entwöhnt ihn davon, im Reiche des quantitativ Unbestimmbaren sich zu bewegen. In gewissem Sinne preisen wir dies an ihr als unschätzbaren Vorzug, aber wo sie ausschließend herrscht, verarmt, wie nicht zu verkennen, leicht der Geist an Ideen, die Phantasie an Bildern, die Seele an Empfindung, und das Ergebnis ist eine enge, trockene und harte, von Musen und Grazien verlassene Sinnesart. (Du Bois-Reymond 1974 b, S. 141f.) Diese Beobachtung trifft nicht nur die Naturwissenschaft zur Zeit Du Bois- Reymonds, sie lässt sich ohne Schwierigkeiten auf die heutige Naturwissenschaft, vielleicht sogar auf die Wissenschaft allgemein übertragen.In einigem erinnern Du Bois-Reymonds Ausführungen an jene Kritik, die viel später die qualitative Forschung am herrschenden Paradigma äußern sollte, so etwa die Bemerkung, dass die einseitige Beschäftigung mit der Wissenschaft die Fantasiekraft beeinträchtige. Was Haeckel zur Lösung der von Du Bois-Reymond formulierten Rätseln anbietet, zeugt wenig von der von ihm selbst propagierten nüchternen wissenschaftlichen Denkungsart. Auf ein Beispiel habe ich bereits aufmerksam gemacht, die Meinung Haeckels, Darwins Evolutionstheorie erkläre die Entstehung des Lebens. Doch auch die anscheinende Zweckmäßigkeit der Natur (Du Bois-Reymonds 4. Rätsel) ist bis heute rätselhaft. Denn obwohl man gerne annimmt, dass zweckmäßig organisierte Lebewesen entstehen werden können, wenn dem Zufall nur lang genug Zeit gelassen wird, ist es bis heute niemandem gelungen, konkret nachzuweisen, wie dies geschah. Das Gleiche gilt auch für das 5. Rätsel, die Erklärung des Ursprungs der Denkens und der Sprache. Denn obschon man wiederum annimmt, dass sie im Zuge der Evolution und Anpassung an die Umwelt mechanisch entstanden seien, fehlt weiterhin der Nachweis, dass dies tatsächlich so war. Wie verhält es sich nun mit Haeckels Lösung von Du Bois-Reymond „ transzendenten “ Rätseln: das Wesen von Materie und Kraft, der Ursprung der Bewegung, das Entstehen der einfachen Sinnesempfindungen und des Bewusstseins? Haeckel versichert uns, sie seien durch seine Auffassung der Substanz erledigt. Wie ist seine Auffassung der Substanz? In Anlehnung an Spinoza und Goethe schreibt er: „ Auch für uns sind Materie und Energie nur zwei unzertrennbare Attribute der einen Substanz - der Gott-Natur von Goethe “ (Haeckel ebd., S. 277). Das klingt zunächst wie eine Vorwegnahme von Einsteins spezieller Relativitätstheorie. Aus der Identität der Materie und Energie ergibt sich für Haeckel dann als Ergänzung der Gesetze der Konstanz der Materie 493 und der Energie 494 das übergeordnete Substanzgesetz: 493 Haeckel spricht von diesem „ Gesetz “ wie von einer wissenschaftlichen Trivialität. Wir wissen heute, dass ein solches Gesetz überhaupt nicht existiert. 494 S. oben. 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 717 Beide große Gesetze, das physikalische Grundgesetz von der Erhaltung der Energie und das chemische Grundgesetz von der Erhaltung der Materie, können wir zusammenfassen unter einen philosophischen Begriff, als Gesetz von der Erhaltung der Substanz; denn nach unserer monistischen Auffassung sind Kraft und Stoff untrennbar, nur verschiedene unveräußerliche Erscheinungen, eines einzigen Weltwesens, der Substanz. (Ebd., S. 269, Hervorhebung im Original) 495 Angenommen Energie und Materie (oder Masse) sind tatsächlich unzertrennbar verbunden, wie Haeckel behauptet, so liefert das keine Antwort auf die Frage nach dem Wesen von Materie und Kraft. Wir wissen heute, dass die Physiker zur Theorie des Urknalls greifen müssen, um die Entstehung der beiden zu erklären, wobei auch heute noch rätselhaft ist, wieso es eigentlich zum Urknall kam, oder anders formuliert: warum es überhaupt etwas und nicht nichts gibt. Insbesondere ist bis heute rätselhaft, warum sich die positive und negative Materie nach ihrer Entstehung nicht gegenseitig annihiliert haben, warum also die positive Materie überwog. 496 Auch das Wesen der Materie (und vielleicht noch mehr das der Energie) ist weiterhin ungeklärt, die verschiedene Superstring-Theorien des Aufbaus der Elementarteilchen etwa entziehen sich der wissenschaftlichen Überprüfung usw. Betrachten wir die beiden anderen „ transzendenten Rätsel “ von Du Bois- Reymond. Erklärt Haeckels Gesetz von der Erhaltung der Substanz den Ursprung der Bewegung? Keineswegs. Dieses Rätsel müsste man wahrscheinlich heute als das Rätsel vom Ursprung der Energie reformulieren, aber auch er ist bis heute ungeklärt. Liefert Haeckels Ansicht die Antwort das Rätsel der Entstehung der einfachen Sinnesempfindungen und des Bewusstseins? Keineswegs, die (vermeintliche) Entstehung des Bewusstseins durch neuronale Prozesse im Gehirn ist weiterhin rätselhaft. Der Stand des diesbezüglichen Wissens war aber zur Zeit Haeckels selbstverständlich noch viel rudimentärer als heute. Woher schöpfte er dann die Zuversicht, dass sein Ansatz die Lösung bietet? Für Haeckel erweist sich die Substanz bei näherem Betrachten nicht als eine unzertrennliche Einheit zweier, sondern dreier Prinzipien: Materie, Kraft und Psychoma oder „ unbewusste Empfindung im weitesten Sinne “ (Haeckel 1960, S. 32). Man kann also nach Haeckel von einer „ Trinität der Substanz “ sprechen (ebd., S. 32). Damit ist Substanz von Anfang an mit elementarer Empfindungsqualität ausgestattet. Wie das möglich ist, wie es dazu kommen kann, weiß Haeckel nicht zu erklären. 495 Vgl. auch diese Stelle: „ Unter dem Begriff ‚ Substanzgesetz ‘ fasse ich zwei höchste allgemeine Gesetze verschiedenen Ursprungs und Alters zusammen, das ältere chemische Gesetz von der ‚ Erhaltung des Stoffes ‘ und das jüngere physikalische Gesetz von der ‚ Erhaltung der Kraft ‘“ (Haeckel ebd., S. 271). 496 „ The Big Bang should have created equal amounts of the two that would have annihilated on contact. But somehow, matter gained an advantage. Differences have been observed between the behaviour of some matter and antimatter particles, such as kaons and mesons, but these are far too small to explain the Big Bang conundrum “ (van Noorden 2013, S. 24). 718 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft Jedenfalls entwickelt er eine quasidarwinistische Theorie der Steigerung des Bewusstseins von der elementaren Psychoma bis zum menschlichen Selbstbewusstsein, das er als Bewusstsein schlechthin bezeichnet. Bewusstsein in diesem Sinne haben nur Menschen, genauer Menschen ab ca. dem dritten Lebensjahr, wenn sie von sich als „ ich “ zu sprechen beginnen. Ein neugeborenes Kind ist dagegen noch „ ganz ohne Bewusstsein “ (ebd., S. 237). Gemäß Haeckels monistischer Auffassung ist das Seelenleben stets an ein bestimmtes materielles Substrat gebunden. Diese materielle Basis aller psychischen Tätigkeit bezeichnet er als „ Psychoplasma “ , und zwar deshalb, weil die chemische Analyse dieses Substrats gezeigt habe, dass es zum Plasmakörper gehöre, also zu den eiweißartigen Kohlenhydraten, die allen Lebensvorgängen zugrunde liegen (ebd., S. 125). 497 Dieses könne sich bei höheren Tieren, welche ein Nervensystem und Sinnesorgane besitzen, zum „ Neuroplasma “ differenzieren (ebd.). Das Psychoplasma sei der Träger der Psyche und stellt damit das „ monistische “ Äquivalent der Seelensubstanz dar, wobei Psyche nichts anderes als der „ Kollektivbegriff für die gesamten psychischen Funktionen des Plasma “ sei (ebd., S. 148). Bei einzelligen Protisten sei die Psychoplasma entweder identisch mit dem ganzen lebendigen Protoplasma der einfachen Zelle oder mit einem Teile desselben. Beim Menschen und den höheren Tieren hingegen sei das Psychoplasma ein differenzierter Bestandteil des Nervensystems. Haeckel spricht hier von dem „ Neuroplasma “ (ebd., S. 125, 148). Er differenziert ferner fünf Stufen der Empfindungsfähigkeit: Auf der untersten reagiert das Psychoplasma als Ganzes auf Reize, auf der nächsthöheren Stufe formen sich die einfachsten Sinneswerkzeuge und auf der darauffolgenden die spezifischen Sinnesorgane. Auf der vierten erfolgt die Integration des Nervensystems und somit der Empfindung, und auf der fünften entsteht bewusste Empfindung. Diese schreibt Haeckel dem Menschen, den höheren Wirbeltieren und möglicherweise einem Teil der höheren wirbellosen Tiere zu (ebd., S. 149). Haeckel betont, dass seine Auffassung materialistisch sei, nennt sie aber zugleich empirisch und naturalistisch, denn unsere wissenschaftliche Erfahrung hat uns noch keine Kräfte kennen gelehrt, welche der materiellen Grundlage entbehren, und keine „ geistige Welt “ , welche außer der Natur und über die Natur stünde. (Ebd., S. 125) Diese Auffassung ermöglicht es Haeckel auch, den Begriff der Seele auf materielle, physiologische Prozesse zu reduzieren. Er verabschiedet sich von allerlei „ Mythen “ , die dem Begriff der Seele anhaften: der Seelenwanderung, der Seeleneinpflanzung, der Seelenschöpfung, der Seeleneinschachtelung 497 Zur Zeit Haeckels wurde mit der Begriff „ Plasma “ für die innere sol- oder gelartige flüssige Masse aller lebenden Zellen inklusive Zellkern verwendet. Vgl. auch diese Stelle: „ Alle Erscheinungen des Seelenlebens ohne Ausnahme sind verknüpft mit materiellen Vorgängen in der lebendigen Substanz des Körpers, im Plasma oder Protoplasma “ (Haeckel ebd., S. 47). 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 719 und der Seelenteilung (ebd., S. 177f.), und verkündet, dass die Seele identisch mit der Summe gewisser physiologischer Eigenschaften der Organismen sei, weshalb man bereits bei den einzelligen Organismen von der „ Zellseele “ sprechen könne (ebd., S. 179), die Haeckel als die erste Hauptstufe der phyletischen Psychogenesis erachtet (ebd., S. 198). Darüber siedelt er die „ Pflanzenseele “ an, die er als Inbegriff der „ gesamten psychischen Tätigkeit der gewebebildenden, vielzelligen Pflanzen “ bezeichnet (ebd., S. 203), 498 und auf einer noch höheren Stufe spricht er von der „ Nervenseele “ (ebd., S. 208), womit er meint, dass das Seelenleben aller höheren Tiere durch ein Nervensystem mit seinen verschiedenen Organen vermittelt werde (ebd., S. 208f.). Beim Menschen entstehe die Seele im Moment der Befruchtung. Beide „ Geschlechtszellen “ (heute spricht man eher von Gameten) besäßen je eine spezifische „ Zellseele “ , d. h. beide seien durch eine besondere Form der Empfindung und Bewegung ausgezeichnet. Im Moment der Befruchtung verschmelzen nach Haeckel nicht nur die „ Plasmakörper “ der beiden Gameten und ihre Kerne, sondern auch ihre Seelen. Dadurch entstehe eine neue Seele, die spezifisch für jede Person sei (ebd., S. 181). Die individuelle Seele habe also ihren spezifischen, zeitlich festgelegten Ursprung, wodurch „ der alte Mythus von der Unsterblichkeit der Seele widerlegt “ sei (ebd., S. 181). Der Glaube an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele sei daher ein bloßes Dogma, das im Widerspruch zur modernen Naturwissenschaft stehe (ebd., S. 267). Es ist offensichtlich, dass Haeckels Begriff der Seele von dem üblichen völlig abweicht und durch und durch organisch, materialistisch gemeint ist (vgl. auch Klohr ebd., S. XXVI). Liefert aber diese Konzeption eine Antwort auf die von Du Bois-Reymond gestellte Frage? Es ist aufschlussreich, dass Haeckels „ Antwort “ lange Zeit in völlige Vergessenheit geraten ist. Trotz der zunehmenden Dominanz der materialistisch orientierten Ansätze in der Wissenschaft und insbesondere in der Psychologie vermieden die Naturwissenschaftler tunlichst, auf Haeckels Ideen zurückzugreifen, vermutlich in der begründeten Überzeugung, dass sie eine Art intellektueller Verzweiflungsakt darstellen. Haeckel begeht an dieser Stelle den klassischen logischen Fehler, den man als „ ignotum per ignotum “ oder den Versuch, das Unverstandene durch ein anderes Unverstandenes zu erklären, bezeichnet. Denn seine Behauptung, die (materielle) Substanz besitze neben den Attributen der Kraft und des Stoffes auch ein Psychoma, also die „ unbewusste Empfindung im weitesten Sinne “ , ist eine durch keine empirischen Tatsachen, auf die Haeckel sich grundsätzlich gerne beruft, gestützte Annahme. Schließlich hat noch nie jemand beobachtet, dass Felsen mit irgendwelcher „ unbewussten Empfindung “ reagieren, wenn man 498 Unter „ psychischer Tätigkeit “ versteht Haeckel vor allem Phänomene wie die Reaktion der Mimose auf die Berührung oder das Schließen der Fliegenfalle bei der Berührung ihrer Blätter. 720 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft sie zersprengt. Man hat auch nichts davon gehört, dass die Elementarteilchen, die in den Teilchenbeschleunigern zerfetzt werden, darunter leiden. Allerdings haben sich zuletzt materialistisch gesinnte Philosophen gefunden, deren Lösungsversuche denen Haeckels ähneln, ohne dass sich diese Denker aber auf ihn berufen oder überhaupt ahnen, dass ihre Ansätze bereits über 100 Jahre alt sind. So stellte Chalmers in seinem Buch The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory (Chalmers 1996) die Vermutung an, dass Erfahrung, also eine Form des Bewusstseins, auch der anorganischen Materie eigen sei (Chalmers ebd., S. 293 - 301), und auch der einflussreiche britische Philosoph Galen Strawson hat diese Idee aufgegriffen (Strawson 2006). Diese Theorien genießen jedoch in Fachkreisen keineswegs breite Zustimmung. Haeckels „ Lösung “ des 6. Rätsels von Du Bois-Reymond kann also auch heute nicht als eine wissenschaftlich angemessene Erwiderung betrachtet werden. Haeckels Überzeugung, dass die materialistische Wissenschaft seiner Zeit die von Du Bois-Reymond formulierten Rätsel gelöst habe, sind unbegründet. Weder die Wissenschaft seiner Zeit noch die Wissenschaft unserer Tage hat überzeugende Antworten auf Du Bois-Reymonds Herausforderung gefunden. Zum Schluss der Betrachtung von Haeckels Rätseln möchte ich noch auf eine äußerst interessante Facette des Buches aufmerksam machen: Trotz seines offenen Bekenntnisses zum Materialismus fühlt sich Haeckel gezwungen, auf den Begriff Gottes zurückzugreifen und seine monistische Weltdeutung als eine Art Religion darzustellen. Bereits zu Beginn seines Werkes schreibt er: Der Monismus [. . .] erkennt im Universum nur eine einzige Substanz, die „ Gott und Natur “ 499 zugleich ist; Körper und Geist (oder Materie und Energie) sind in ihr untrennbar verbunden. Der extramundane „ persönliche “ Gott des Dualismus (der idealisierter Mensch! ) führt notwendig zum anthropistischen Theismus; hingegen der intramundane Gott des Monismus (das allumfassende Weltwesen! ) zum Pantheismus. (Haeckel ebd., S. 31) Haeckel bezeichnet seinen Monismus zwar als eine Form des Pantheismus 500 , versteht sich jedoch zugleich als Atheist: Dem atheistischen Naturforscher, der seine Kraft und sein Leben der Erforschung der Wahrheit widmet, traut man von vornherein alles Böse zu; der theistische Kirchengänger dagegen, der die leeren Zeremonien des papistischen Kultus gedankenlos mitmacht, gilt schon deswegen als guter Staatsbürger, auch wenn er sich bei seinem Glauben nichts denkt und nebenher der verwerflichsten Moral huldigt. Dieser Irrtum wird sich erst klären, wenn im zwanzigsten Jahrhundert das Licht der naturwissenschaftlichen Aufklärung mehr in den allgemeinen Schul- 499 Dies ist eine Anspielung auf Spinoza und Goethe. 500 Vgl. ebd., S. 366 „ PANTHEISMUS (All-Eins-Lehre): Gott und Welt sind ein einziges Wesen. Der Begriff Gottes fällt mit demjenigen der Natur oder Substanz zusammen “ (Hervorhebung im Original). 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 721 unterricht eindringt und wenn die Schule von den Fesseln der Kirche befreit wird. Freilich ist dazu erforderlich, dass der moderne Staat sich selbst von den Banden des Kirchen-Regiments ablöst und nicht die Dogmen des konfessionellen Glaubens, sondern die klaren Erkenntnisse des vernünftigen Denkens zur Grundlage der wahren Bildung erhebt. Dann erst wird der herrschende Aberglaube mehr der vernünftigen Naturerkenntnis weichen und der monistische Überzeugung der Einheit von Gott und Welt. (Ebd., S. 370) Am Schluss seines Werkes wendet sich Haeckel erneut mit aller Deutlichkeit gegen den traditionellen Gottesbegriff: Viele von uns sehen gewiss mit lebhaftem Bedauern oder selbst mit tiefem Schmerze dem Untergange der Götter zu, welche unseren teuren Eltern und Voreltern als höchste geistige Güter galten. [. . .] Die alte Weltanschauung des Ideal-Dualismus mit ihren mystischen und anthropistischen Dogmen versinkt in Trümmer; aber über diesem gewaltigen Trümmerfelde steigt hehr und herrlich die neue Sonne unseres Real-Monismus auf, welche uns den wunderbaren Tempel der Natur voll erschließt. In dem reinen Kultus des „ Wahren, Guten und Schönen “ , welcher den Kern unserer neuen monistischen Religion bildet, finden wir reichen Ersatz für die verlorenen anthropistischen Ideale von „ Gott, Freiheit und Unsterblichkeit “ . (Ebd., S. 479f.) Das alles wirkt widersprüchlich: Ein Atheist spricht davon, dass Gott und Welt eine Einheit bilden und will eine Art Religion gründen (vgl. Abschnitt: „ Unsere monistische Religion “ ,ebd., S. 419 - 438), die allerdings nicht dem persönlichen, christlichen Gott, sondern der „ Göttinnen der Wahrheit, der Schönheit und der Tugend “ dienen solle (ebd., S. 428ff., 438). Diese Religion brauche keine Tempel, Kirchen oder sonstige „ Gotteshäuser “ , weil der moderne Mensch seine „ Kirche “ überall in der „ herrlichen Natur “ selbst finde: In ihr begegne er überall dem Wahren, Schönen und Guten. Haeckel versucht sogar, das seiner Meinung nach zentrale christliche Sittengesetz „ Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst “ (Mt 19,19; 22,39 u. a.) 501 aus rein naturalistischen Überlegungen abzuleiten (ebd., S. 445ff.): Der Mensch gehöre zu den sozialen Wirbeltieren; wolle er also in einer geordneten Gesellschaft existieren, so müsse er nicht nur sein eigenes Glück anstreben, sondern auch das Glück der Gemeinschaft, ergo: „ Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst “ (ebd., S. 445f.). 502 Es ist verblüffend, dass Haeckel nicht sieht, dass das Gesetz der Nächstenliebe, sieht man vom Menschen ab, für „ soziale Wirbeltiere “ offenbar nicht gilt. Das Sozialverhalten der Tiere erstreckt sich allenfalls 501 Das Gebot der Nächstenliebe ist genau genommen kein ursprünglich christliches, sondern ein alttestamentarisches Gebot (vgl. die Formulierung in 3. Mose 19,18). Haeckel verkennt diesen Zusammenhang und verweist stattdessen darauf, dass diese „ Goldene Regel “ bereits 500 Jahre vor Christus von „ vielen Weisen “ der antiken Welt gelehrt worden sei. 502 Man muss an dieser Stelle vollständigkeitshalber vermerken, dass für Haeckel die Gebote der Selbstliebe (Egoismus) und der Nächstenliebe (Altruismus) in einer Gesellschaft gleichberechtigt und beide unentbehrlich sind (ebd., S. 446). 722 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft auf die nächsten Verwandten. Die Entstehung von Kooperation und altruistischem Verhalten ist auf der Grundlage von Darwins Evolutionstheorie, die Haeckel voraussetzt, nur schwer zu erklären. 503 Warum fühlt sich Haeckel genötigt, seine Theorie als Religion zu bezeichnen? Schließlich gibt es heute kaum Wissenschaftler, welche es als ihre Aufgabe betrachten, einen neuen Glauben zu verkünden. Bei allem vorgeblichen Materialismus waren Haeckel und insbesondere sein Publikum von der Religion und Philosophie seiner Zeit und ihren „ Idealen “ geprägt. Seine Früherziehung und Schulausbildung vollzogen sich noch diesseits der Wasserscheide von Darwins Origin of Species, und es bedurfte des Versprechens einer neuen „ Ordnung “ , um die Ablösung der alten akzeptabel zu machen. Bezeichnenderweise trat Haeckel erst 1910 aus der evangelischen Kirche aus und begründete die Verzögerung dieses Schrittes mit der Rücksichtnahme auf seine Familie und Freunde (Klohr ebd., S. XLI). Den späteren Forschergenerationen fehlte eine solche religiöse Sozialisation weitestgehend. Haeckels Vorträge und Schriften haben schließlich dazu beigetragen, dass die (christliche) Religion ihre Führungsrolle insbesondere in den Unterschichten allmählich einbüßte. So wurden die Welträtsel gerade auch in Arbeiterkreisen und in der Sozialdemokratie wohlwollend rezipiert (ebd., S. XIII). Bezeichnend für Haeckels herausragende Bedeutung in diesem Prozess ist, dass er im September 1904 auf dem Internationalen Freidenker-Kongress in Rom, den 2000 Menschen besuchten, feierlich zum „ Gegenpapst “ ausgerufen wurde (was - zumal angesichts des Ortes - eine außerordentliche Provokation der katholischen Kirche darstellte). 504 Am 11. Januar 1906 wurde in Jena der Deutsche Monistenbund gegründet, der für die Verbreitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse im Sinne des Monismus eintrat. Haeckel, der zum Ehrenvorsitzender gewählt wurde, fasste dessen Auftrag in einem Zusatz zur Ausgabe seiner Rätsel von 1908 in folgende Worte: Der unvermeidliche Kampf zwischen den herrschenden dualistischen Kirchen- Religionen und unserer vernunftgemäßen monistischen Natur-Religion muss früher oder später mit dem vollständigen Siege der letzteren endigen - wenigstens in den wahren Kulturstaaten! Denn den stetigen, wenn auch langsamen Fortschritt der Aufklärung und der höheren Bildung vermag auf die Dauer weder die politische Macht der konservativen Regierungen und des mit ihnen verbündeten Klerus aufzuhalten, noch die intellektuelle Herrschaft des traditionellen Aberglaubens und der bequemen „ Jenseits-Dichtung “ . [. . .] Nachdem die kritische Theologie selbst im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die historischen Grundlagen des Christentums zerstört und die Person Christi als eine schöne Ideal-Figur der religiösen Dichtung erkannt hat, müssen wir an ihre Stelle die drei unver- 503 S. den Abschnitt: „ Empirische Rätsel der Naturwissenschaft “ . 504 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Ernst_Haeckel (heruntergeladen am 14. 12. 2012). 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 723 gänglichen Kultus-Ideale der Wahrheit, Schönheit und Tugend setzen. (Haeckel ebd., S. 438) Haeckels Hoffnung entpuppte sich als Illusion: Sein Monistenbund ist verschwunden, die Religionen bestehen fort. Gleichwohl lässt sich sagen, dass mit dem Erscheinen der Rätsel der Einzug des Materialismus in die Wissenschaft seinen Abschluss fand. Der Materialismus wurde zu einer neuen Orthodoxie, deren metaphysische Herkunft nicht mehr erkannt wurde. Einer der meistbeachteten Intellektuellen jener Epoche, Bertrand Russell, zeichnete im Jahr 1903, also nur vier Jahre nach der Veröffentlichung der Rätsel, folgendes ernüchternde Weltbild: [T]he world which science presents for our belief is even more purposeless, more void of meaning [than the world in which God is malevolent]. Amid such a world, if anywhere, our ideas henceforth must find a home. That man is the product of causes which had no prevision of the end they were achieving; that his origin, his growth, his hopes and fears, his loves and his beliefs, are but the outcome of accidental collocation of atoms; that no fire, no heroism, no intensity of thought and feeling, can preserve an individual life beyond the grave; that all the labours of the ages, all the devotion, all the inspiration, all the noonday brightness of human genius, are destined to extinction in the vast death of the solar system, and the whole temple of Man ’ s achievement must inevitably be buried beneath the debris of a universe in ruins - all these things, if not quite beyond dispute, are yet so nearly certain that no philosophy which rejects them can hope to stand. Only within the scaffolding of these truths, only on the firm foundation of unyielding despair, can the soul ’ s habitation henceforth be safely built. (Russell 1957, S. 107) 505 Der Nobelpreisträger Steven Weinberg wirft Jahrzehnte später in seinem äußerst populären Buch The First Three Minutes einen ähnlich schonungslosen Blick auf die Situation des Menschen im Kosmos: It is almost irresistible for humans to believe that we have some special relation to the universe, that human life is not just a more-or-less farcical outcome of a chain of accidents reaching back to the first three minutes [of the Universe ’ s existence], but that we were somehow built in from the beginning. [. . .] It is very hard to realize that [the entire earth] is just a tiny part of an overwhelmingly hostile universe. It is even harder to realize that this present universe has evolved from an unspeakably unfamiliar early condition, and faces a future extinction of endlesss cold or intolerable heat. The more the universe seems comprehensible, the more it seems pointless (Weinberg 1977, S. 154) Die Stellung des Materialismus hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts weiter gefestigt. Der Glaube an überphysische, übersinnliche Einflüsse in der Natur (Vitalkräfte, Geisterscheinungen, Mediumismus usw.) ist praktisch vollständig aus der Wissenschaft gewichen. An seine Stelle ist der Glaube an die sog. kausale Geschlossenheit der Universums getreten. Dieses Prinzip besagt, 505 Noch Russells Doktorvater Alfred North Whitehead hatte, wie wir sehen werden, völlig andere, dem Materialismus fernstehende Ansichten über das Universum. 724 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft dass physische Zustände, Prozesse und Ereignisse nur physische und keine nichtphysischen Ursachen haben (vgl. Falkenburg 2012, S. 378), wobei stillschweigend angenommen wird, dass in der Natur (im Universum) keine anderen als physischen Zustände, Prozesse und Ereignisse vorkommen. Papineau beschreibt diese Entwicklung folgendermaßen: During the course of the twentieth century received scientific opinion became even more restrictive about possible causes of physical effects, and came to reject sui generis mental or vital causes, even of a law-governed and predictable kind. Detailed physiological research, especially into nerve cells, gave no indication of any physical effects that cannot be explained in terms of basic physical forces that also occur outside living bodies. By the middle of the twentieth century, belief in sui generis mental or vital forces had become a minority view. This led to the widespread acceptance of the doctrine now known as the ‘ causal closure ’ or the ‘ causal completeness ’ of the physical realm, according to which all physical effects can be accounted for by basic physical causes (where ‘ physical ’ can be understood as referring to some list of fundamental forces). (Papineau 2009) Trotz seiner gegenwärtig großen Beliebtheit in wissenschaftlichen Kreisen ist das Prinzip der kausalen Geschlossenheit des Universums umstritten. Zum einen handelt es sich eindeutig um eine metaphysische Annahme und nicht um ein wissenschaftliches Forschungsergebnis. Es ist unmöglich, empirisch nachzuweisen, dass es keine außerphysischen Einflüsse im Universum gibt. Man kann lediglich feststellen, dass bis jetzt keine beobachtet worden sind. Daraus zu schließen, dass es keine gebe, käme dem Schluss im Jahr 1490 gleich, dass Amerika nicht existiere, weil man es nirgends entdeckt hat. Zum Zweiten setzt das Prinzip einen strikten Determinismus voraus. Mit Falkenburg gilt: „ Unabhängig davon, ob es Wunder, göttliches Eingreifen, menschliche Gedankenkräfte oder was auch immer neben physischen Ursachen gibt oder auch nicht: Eine Welt mit Kausalitätslücken kann schwerlich als kausal geschlossen betrachtet werden “ (Falkenburg 2012, S. 378). Wir haben aber bereits im Exkurs „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ gesehen, dass die Annahme eines durchgehenden Determinismus inakzeptable Konsequenzen hat: Nicht nur schließt sie den freien Willen des Menschen, sondern auch jeglichen rationalen Diskurs aus. Die Befürworter der kausalen Geschlossenheit des Universums machen ihre These zu einem irrationalem Lallen. Das materialistische Weltbild hat inzwischen die Massen erreicht und den Schulraum erobert. Dies mögen abschließend zwei Gerichtsentscheidungen in den USA illustrieren: Noch 1925 verabschiedete der Bundesstaat Tennessee ein Gesetz, das es verbot, in staatlichen Schulen Lehren zu verbreiten, die mit der biblischen Schilderung des Ursprungs des Menschen unvereinbar sind; im selben Jahr wurde John Thomas Scopes verurteilt, weil er an einer staatlichen Schule die Evolutionstheorie lehrte. 2005 wurde es den Schulbehörden der Dover Area School District (York County, Pennsylvania) verboten, 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 725 in staatlichen Schulen neben der wissenschaftlichen Evolutionslehre auch Intelligent Design zu unterrichten. Fazit Halten wir fest: Weder der Glaube an die Existenz der Atome noch der Glaube an die Existenz einer (sinnlich nicht wahrnehmbaren) Materie sind hinreichend für einen starken Begriff des Materialismus. Dieser impliziert vielmehr die Leugnung der Existenz einer geistigen Welt, von geistigen Einflüsse und geistigen Wesenheiten, allen voran eines Schöpfergottes. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich dieser strenge Materialismus als dominierende Metaphysik der (deutschen) Wissenschaft durch. „ Metaphysik “ besagt, dass er nicht das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung war: Diese rechtfertigte nämlich keineswegs den Übergang vom Theismus zum Atheismus, viele Naturphänomene blieben auch unter materialistischen Voraussetzungen ungeklärt. Dem Materialismus lag vielmehr eine allgemeine weltanschauliche Verschiebung zugrunde, ein Paradigmenwechsel in der intellektuellen Kultur der Zeit. Der Materialismus erreichte in der Wissenschaft seinen ersten Gipfel zur Zeit der Jahrhundertwende mit der Publikation von Haeckels Rätseln und der Gründung des Deutschen Monistenbundes. Wesentlich zur Verankerung dieser Metaphysik in der Wissenschaft haben drei wissenschaftliche Errungenschaften beigetragen: erstens die Entdeckung des Energieerhaltungssatzes, dessen Richtigkeit heute zumindest zweifelhaft ist; zweitens die materialistische Interpretation der Mechanismen der Evolution, deren Gültigkeit heute ebenfalls in Zweifel stehen; und drittens die Annahme der kausalen Geschlossenheit des Universums, eines Prinzips, das empirisch nicht verifiziert werden kann und heute gleichfalls bezweifelt wird. Trotz dieser fragwürdigen Legitimität bildet der Materialismus spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts die unhinterfragte Grundannahme der Wissenschaft. 726 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft 7 Intermezzo: Einige sozialen Folgen der Verbreitung der materialistischen Ideologie in der Wissenschaft Die materialistisch fundierte Wissenschaft und Technik haben uns zweifelsohne reichen Segen gebracht. Wir verdanken ihnen unsere hygienische, saubere Lebensweise, unsere sicheren Behausungen, vielfältige und günstige Reisemöglichkeiten, dank Internet und Mobiltelefonie fast grenzenlose Kommunikationsmöglichkeiten, breiten Zugang zur Unterhaltung, hochklassige Gesundheitssysteme, gesunde und in den meisten Ländern der Welt ausreichende Ernährung, kurz: einen hohen Lebensstandard und eine stark gestiegene Lebenserwartung. Zugleich hat sich in den letzten Jahrzehnten aber immer stärker eine dunkle Seite gezeigt: Materialistische Gedanken verwandeln sich in soziale Realitäten. Diese Entwicklung möchte ich anhand einiger Beispiele darstellen. Vor kurzem wurde in England bekannt, dass die Zahl der Zuweisungen von Jugendlichen zum psychiatrischen Dienst in den letzten Jahren markant zugenommen hat. Im Rahmen einer Untersuchung der englischen psychiatrischen Dienste für Kinder und Jugendliche (Child and Adolescent Mental Health Services oder CAMHS) durch das Health Select Committee des britischen Parlaments wurden am 10. Juni 2014 eine Anzahl der in diesen Diensten tätigen Psychiater zur Nachfrage nach entsprechenden Leistungen befragt. Alle Befragten waren sich darin einig, dass der Bedarf in den letzten Jahren stark gestiegen sei (O ’ Dowd 2014). Ein erfahrener Psychiater schilderte diese Entwicklung folgendermaßen: There is a degree of insecurity amongst young people which is quite remarkable. I have been in my job for 34 years as a consultant psychiatrist and I have never seen so many people coming in, in crisis, and these are not trivial crises [. . .] and it ’ s right across all social classes. There is a degree of social disintegration that we are witnessing at the front line which is unprecedented in the last two or three years. (Ebd.) Vor kurzem wurde ferner berichtet, dass 42 % der Harvard-Studenten im Laufe ihrer Studien Dienste von psychologischen Beratern beansprucht haben (Coughlan 2014). Es ist davon auszugehen, dass diese Zahl nicht immer so hoch war. Die Vermutung liegt nahe, dass der Wertezerfall in der fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften, der u. a. mit der Auflösung der religiösen Bezugsrahmens zur wachsenden Verunsicherung unter Jugendlichen beiträgt, sich in psychologischen Problemen manifestiert. Anfang 2014 wurde berichtet, dass viele junge Menschen in Großbritannien (ca. 750.000) das Gefühl haben, dass sie keine Zukunft haben, dass sie nichts Wertvolles vom Leben erwarten können (Sellgren 2014). Eine ähnliche Stimmung wird es auch unter Jugendlichen anderer Länder geben, worauf auch die Selbstmordrate unter jungen Menschen in den höchstentwickelten Ländern deutet (Jouvenal und Shapiro 2013). Die Popularität dystopischer Literatur unter den heutigen Jugendlichen bestätigt diese Vermutung ebenfalls (Kalbermatten 2010; Gradwohl 2014). Eine offensichtliche Quelle dieser depressiven Stimmung ist die gegenwärtig schlechte wirtschaftliche Lage in vielen westlichen Ländern, die dazu geführt hat, dass die junge Generation zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg das Gefühl hat, dass es ihr nicht besser, sondern schlechter als ihren Eltern ergehen werde (New York Times Editorial Board 2014). Ein weiterer Grund mag die Bedrohung des Lebensniveaus der Wohlstandsgesellschaften durch Klimaveränderung und Naturzerstörung sein. Diese wirtschaftlichen Faktoren reichen aber sicherlich nicht aus, um zu einer solch pessimistischen Einschätzung der Zukunftsaussichten zu gelangen. Dazu bedarf es einer bestimmten Sicht der Welt und der Rolle des Menschen in ihr. Erst wo sich der Mensch primär als Homo oeconomicus versteht, entwickelt er die Tendenz, sich und seine Zukunftsaussichten primär über seinen ökonomischen Status zu beurteilen. Diese Vermutung findet Bestätigung in der Tatsache, dass ausgerechnet die entwickeltsten Länder von der Plage des Drogenkonsums heimgesucht werden (vgl. z. B. BBC 1. 8. 2014), wobei in jüngster Zeit zu den „ klassischen “ Drogen wie Marihuana oder Heroin immer neue synthetische Drogen hinzukommen (BBC 20. 5. 2014). Man könnte zunächst meinen, dass es sich bei den Drogenkonsumenten um gesellschaftlich Unterprivilegierte handelt, doch oft ist das Gegenteil ist der Fall. In den USA steigt gerade unter den Wohlhabenden der Drogenkonsum (Svrluga 2014), wovon die jüngsten prominenten Fälle wie Philip Seymour Hoffman 506 und Peaches Geldoff 507 zeugen. Auch in Europa zeigt sich dieses Phänomen. 2013 ist das Buch Dem See entlang Richtung verlorene Jugend (Solanki 2013) der Redakteurin Linda Solanki erschienen. Die Hauptfiguren des Romans gehören zu den „ Rich Kids “ von der sogenannten Goldküste am rechten Zürichseeufer, wo die Reichsten der Reichen der Schweiz wohnen. Sie sind alle Anfang zwanzig und sie verbringen ihre Tage trinkend, die Nächte koksend und zwischendurch verschleudern sie das Geld ihrer Eltern mit Kurztrips nach Saint-Tropez und teurem Fummel, den sie dann im Schrank hängen lassen. [. . .] 506 http: / / www.zeit.de/ kultur/ 2014-03/ philip-seymour-hoffman (heruntergeladen am 2. 11. 2014). 507 http: / / www.independent.co.uk/ news/ people/ peaches-geldof-cause-of-death-heroinaddict-socialite-had-taken-fatal-dose-of-drug-inquest-concludes-9623056.html (heruntergeladen am 2. 11. 2014). 728 7 Intermezzo Da sie von den Eltern vernachlässigt werden, finden sie in der Clique eine Art Ersatzfamilie, die eben doch keine ist. Trotz ihres Reichtums, trotz der Tatsache, dass ihnen alle Möglichkeiten offenstünden, nutzen sie ihre Chancen kaum, sondern versinken in einem Sumpf der Hoffnungslosigkeit. Nach außen wirken sie strahlend, beneidenswert, doch in ihrem Innern sind sie stumpf, kaputte Persönlichkeiten. (Aus dem Umschlag des Buches) Das Buch ist zwar ein Roman, es basiert jedoch auf realen Erfahrungen. Dasselbe Thema behandelte der 2007 herausgekommene Schweizer Film Snow White. Sex, Drugs, Hip Hop und Verlorene Träume. Er erzählt die Geschichte einer kokainsüchtigen jungen Frau von der Goldküste, deren reiche Eltern keine Zeit für sie haben. Was steckt hinter solchen Lebensgeschichten? Definiert sich der Mensch in der Begrifflichkeit vom „ Haben “ anstatt „ Sein “ (um die Terminologie von Erich Fromm aufzugreifen), so verliert er zwangsläufig seine Zukunftsperspektiven, sobald mehr „ Haben “ nicht zu haben ist. Dann macht er die Erfahrung von König Midas, dass man vom „ Haben “ allein nicht leben kann. Der Mensch hungert nach mehr als biologischen, sinnlichen Reizen, sei es in Form guten Essens, schneller Autos, Weltreisen oder sexueller Befriedigung, denn der Mensch „ lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht “ (Mt 4,4). Dass wir es gegenwärtig mit einem weit verbreiteten ungestillten inneren, seelischen Hunger zu tun haben, macht auch das Phänomen der Adipositas erklärlich. Der Anteil der übergewichtigen Personen inklusive Kinder und Jugendlichen ist in den westlichen Ländern bekanntlich besorgniserregend hoch. Ein Drittel der erwachsenen Menschen in den Vereinigten Staaten wird gegenwärtig als übergewichtig eingestuft (Briggs 2011) und es wird erwartet, dass dieser Anteil bis 2030 auf ca. 50 % ansteigt (Huget 2011). Es wird geschätzt, dass die Zahl der übergewichtigen Personen in der ganzen Welt die Marke von 2 Milliarden überschritten hat, während sie noch 1980 „ nur “ 875 Millionen betrug (Ng et al. 2014; BBC 29. 5. 2014). Der Anteil der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen ist in den letzten Jahren, zumindest in den Vereinigten Staaten ebenfalls stark gestiegen. 508 Man könnte zunächst vermuten, dass Übergewicht ein Problem der entwickelten und wohlhabenden Länder sei. Dies ist aber ein Irrtum. In den Entwicklungsländern ist der Anteil der übergewichtigen Personen in den letzten ca. 35 Jahren sogar um das Vierfache auf fast eine Milliarde Menschen gestiegen (BBC 3. 1. 2014). Diese Entwicklung hängt zweifelsohne mit der Erhöhung des Lebensstandards zusammen. Ein zweiter Faktor ist der veränderte Lebensstil: Die heutigen Menschen bewegen sich wesentlich weniger als ihre Vorfahren und sind weniger auf körperliche Leistungen, auf die Ausübung von Muskelkraft angewiesen. Und dennoch: Essen können heißt nicht essen müssen. Deepak Chopra, ein bekannter amerikanischer Komplementärmediziner, 508 http: / / www.cdc.gov/ healthyyouth/ obesity/ facts.htm (heruntergeladen am 8. 5. 2014). 7 Intermezzo 729 Redner und Buchautor, hat vor kurzem ein interessantes Buch mit dem Titel What are you hungry for? (Chopra 2014) veröffentlicht, in welchem er die These vertritt, dass Hunger nicht unbedingt der Ausdruck berechtigter Bedürfnisse des Körpers, sondern auch von ungestillten seelischen Bedürfnissen sein könne. Man versucht also seinen seelischen Hunger durch Nahrungsaufnahme zu stillen bzw. oder zu verdrängen: Modern medicine has quite a lot of knowledge about the “ triggers ” that set off the impulse to eat. Your body secretes hormones and enzymes connecting the hunger center in your brain with the stomach and digestive tract. When you were a baby, this was the only kind of trigger you responded to. You cried because you were hungry. Now the reverse may be true: When you feel like crying, you get hungry. Over a lifetime, we create new triggers that a baby could never anticipate. Depression is a well-known trigger for overeating. So are stress, sudden loss, grief, repressed anger - and there are many others. (Chopra ebd., S. 13) Bereits 1943 stellt der berühmte amerikanische Psychologe und Vorreiter der humanistischen Psychologie Abraham Maslow (1908 - 1970) eine Theorie der Hierarchie menschlicher Bedürfnisse auf, die von physiologischen Strebungen bis zum Bedürfnis nach Selbstverwirklichung ( „ self-actualization “ ) reicht (Maslow 1943). Maslow charakterisierte diese letztere Stufe folgendermaßen: The need for self-actualization. - Even if all [other] needs are satisfied, we may still often (if not always) expect that a new discontent and restlessness will soon develop, unless the individual is doing what he is fitted for. A musician must make music, an artist must paint, a poet must write, if he is to be ultimately happy. What a man can be, he must be. This need we may call self-actualization. This term, first coined by Kurt Goldstein, is being used in this paper in a much more specific and limited fashion. It refers to the desire for self-fulfillment, namely, to the tendency for him to become actualized in what he is potentially. This tendency might be phrased as the desire to become more and more what one is, to become everything that one is capable of becoming. (Ebd., S. 382 In seinem 1971, also bereits posthum veröffentlichten Werk The Farther Reaches of Human Nature (Maslow 1978) erweiterte Maslow sein ursprüngliches Modell um eine Stufe: Neben dem Bedürfnis nach Selbsterfüllung habe der Mensch ein noch tieferes und verborgeneres Bedürfnis nach Transzendenz, nach einer das individuelle Selbst überschreitenden Dimension, letztlich nach Kontakt mit dem geistigen Urgrund des Seins (ebd., S. 270 - 286). Über einen solchen spirituellen Hunger schreibt wiederum Chopra: After every other hunger has been satisfied, there is still going to be a spiritual yearning that dwells inside you. It, too, can be satisfied once you know where the right nourishment can be found. (Chopra ebd., S. 204) Diesen Hunger kann der Mensch jedoch nicht mit Nahrungsmittel stillen, nur innere, spirituelle Erlebnisse können das. Chopra spricht in diesem Zusammenhang von der Erfahrung, geliebt zu werden, Kommunion mit der Natur, 730 7 Intermezzo Gefühl der Einheit mit allen Wesen und Dingen, Erfahrung der Glückseligkeit (ebd.). Ein üppiges Essen muss als Ersatz für solche Erlebnisse dienen. So wie ein Mensch, der ein innerlich erfülltes Leben führt, keine Drogen zu konsumieren braucht, so braucht er auch nicht Unmengen zu essen. Die materialistische Hintergrundmetaphysik verschleiert jedoch die Realität der seelischen und geistigen Bedürfnisse des Menschen und die Notwendigkeit, diese Bedürfnisse zu sorgen. Es mehren sich in der letzten Zeit Berichte über Gewalttaten von Jugendlichen (Beaver 2014; BBC 22. 3. 2014; BBC 24. 3. 2014; BBC 1. 6. 2014; BBC 2. 7. 2014, um nur einige Meldungen zu nennen). Sind solche Taten wirklich so überraschend in einer Gesellschaft, in welcher der Mensch, wie dies die materialistische Wissenschaft behauptet, grundsätzlich nichts anderes als ein Tier sei? Unter den Tieren hat bekanntlich der Stärkere den Vorrang. Sind Menschen wirklich nur Tiere, dann soll auch unter den Menschen der Stärkste den Vorrang haben. Stärke, physische Überlegenheit zu zeigen erwächst somit zu einer gesellschaftlichen Norm. Es sollte übrigens nicht überraschen, dass ausgerechnet die Jugendlichen Opfer solcher Ideologie sind. Ihre Eltern oder zumindest Großeltern sind noch innerhalb einer Kultur aufgewachsen, in welcher andere Wertvorstellungen allgegenwärtig waren: Sie haben noch vom göttlichen Ursprung des Menschen gehört. Wenn aber jemand bereits in der Grundschule von den Lehrern, die schließlich für die heranwachsen Menschen bedeutende Autoritätspersonen sind, hört, dass der Mensch bloß ein Tier sei, wird man dann nicht versucht sein, seine animalischen Triebe auszuleben? In der jüngsten Vergangenheit sind ferner alarmierende Berichte über die Verbreitung der sexuellen Gewalt unter Kindern und jungen Menschen aufgetaucht. Am Ende 2013 wurde in England ein Bericht der staatlichen Stelle für Förderung und Schutz der Rechte der Kinder in England (Office of the Children ’ s Commissioner ’ s for England) über sexuelle Gewalt und Ausbeutung in Banden und Gruppen veröffentlicht, der die Frucht einer breit gefassten zweijährigen Untersuchung des Problems bildet (Berelowitz et al. 2013). Die Hauptautorin Sue Berelowitz schreibt im Vorwort des Berichts: The fact that some adults (usually men) rape and abuse children is generally accepted. There is, however, a long way to go before the appalling reality of sexual violence and exploitation committed by children and young people is believed. Our findings about the scale and nature of this form of sexual violence have left panel members aghast.We have found shocking and profoundly distressing evidence of sexual assault, including rape, being carried out by young people against other children and young people. While we have published chilling evidence of this violence in gang-associated contexts, we know too that it is more widespread than that. This is a deep malaise within society, from which we must not shirk. (Berelowitz et al. ebd., S. 5) Über einen besonders erschütternden Fall von Gewalt wurde von der BBC am 24. 10. 2014 berichtet. Das Opfer war eine in Liverpool wohnhafte 43-jährige 7 Intermezzo 731 Frau, die die Polizei als „ verwundbar “ bezeichnete. Sie wurde von einer Bande von zehn Personen, darunter zwei junge Männer im Alter von 18 und 19, und acht Jungen im Alter zwischen 12 und 16 vergewaltigt. Am Verbrechen beteiligte sich auch ein 15-jähriges Mädchen (BBC 24. 10. 2014). Selbstverständlich hängen solche Verhaltensweisen mit dem Konsum von Gewalt- und pornografischen Videos zusammen, und wären diese nicht so leicht den jungen Menschen zugänglich, würde die Zahl der Sexualdelikte vielleicht abnehmen. Aber auch in diesem Fall sollte man den Einfluss der in unserer Kultur verbreiteten Hintergrundgedanken nicht unterschätzen. Die entsprechenden Filme können ihren Einfluss nur dank der Tatsache entfalten, dass ihre Inhalte als einigermaßen normal betrachtet, dass sie also nicht als zutiefst pathologisch empfunden werden. Eine solche Einstellung wäre aber in einer Kultur, in welcher die Glorifizierung von Gewalt, in welcher das hemmungslose Ausleben des Sexualtriebes verpönt wären, nicht möglich. In Ländern wie Vereinigten Staaten oder Großbritannien war man noch vor einigen Jahren über die hohe Zahl der Teenagerschwangerschaften besorgt (Blow 2014), wobei sich die Situation in diesem Bereich in beiden Ländern in den letzten Jahren deutlich verbesserte. Im April 2014 berichtete Arie im British Medical Journal, dass die Zahl der Schwangerschaften bei englischen Mädchen zwischen 15 und 17 seit 2008 signifikant abnahm und 2010 auf das tiefste Niveau seit Beginn der Aufzeichnungen 1969 sank. Die Rate der Jugendschwangerschaften verringerte sich auch in den folgenden zwei Jahren, so dass sie 2012 40 % tiefer als 1998 lag (27.9/ 1000 in 2012 gegenüber 47.7/ 1000 Mädchen 1998) (Arie 2014). In den Vereinigten Staaten ist dieser Trend sogar noch deutlicher: Die Zahl der Geburten unter Jugendlichen zwischen 15 und 19 Lebensjahr verringerte sich von ca. 55/ 1000 1995 auf 31/ 1000 2012 (Economist 12. 7. 2014). Diese Entwicklung ist selbstverständlich sehr erfreulich, die Gründe für die Abnahme der Teenagerschwangerschaften sind allerdings noch unklar. Sie kann einerseits mit der Abnahme der Sexualkontakte oder aber einfach mit effizienterer Schwangerschaftsverhütung zusammenhängen (Arie ebd.). Dass sie eher in Letzterem begründet ist, scheinen die Ergebnisse der kürzlich im Lancet veröffentlichten Studie über den Wandel der sexuellen Grundhaltungen in Großbritannien in den letzten Jahrzehnten zu zeigen (Mercer et al. 2013). Die Autoren der Studie stellen fest, dass, während von den 65bis 74-jährigen Frauen 8 % angeben, dass sie zehn oder mehr Sexualpartner während ihres Lebens hatten, es bei den 16bis 24-jährigen Frauen 16,4 % sind. 509 Während 4 % der Frauen zwischen 65 und 74 angeben, dass sie ihren ersten Geschlechtsverkehr vor dem 16 Lebensjahr hatten, steigt diese Zahl für 509 Es handelt sich hier um die Zahl der bisherigen Sexualpartner und nicht um eine Extrapolierung auf die ganze Lebenslänge. Ich habe die Studienleiterin um die Klärung dieses Punktes gebeten und sie hat meine Interpretation bestätigt (Mercer, E-Mail vom 2. 6. 2014). Es geben also mehr als 16 % der britischen Frauen, die nicht älter als 24 Jahre sind, an, dass sie bisher in ihrem Leben bereits mindestens 10 Sexualpartner hatten. 732 7 Intermezzo die Frauen zwischen 16 und 24 auf 29,2 % (Mercer et al. ebd., S. 1786f.). Die deutliche Zunahme der Zahl der Sexualpartner im Laufe des Lebens wie auch die Abnahme des Alters, in welchem erste Sexualkontakte stattfinden, sollte aber im gegenwärtigen Werteklima nicht überraschen. Wenn den Kindern und jungen Menschen gepredigt wird, dass der Mensch grundsätzlich nichts anderes als ein Tier sei, dass die geistigen Ideale und moralischen Werte bloß Phantome des Gehirns seien und die einzige Wirklichkeit des Menschen seine „ Biologie “ sei, dass also die sexualen Triebe etwas Reales, die kulturellen Einschränkungen ihrer Ausübungen hingegen etwas Künstliches seien, dann soll man sich nicht wundern, dass junge Menschen ihre Sexualität möglichst uneingeschränkt ausleben wollen. Ähnlich verhält es sich mit dem unter Studentinnen inzwischen verbreiteten Phänomen der Prostitution, um das Studium zu finanzieren (BBC 21. 9. 2012; BBC 3. 3. 2014) oder auch als eine Art alternativer Lebensstil (Marcus 2014; Stoya 2014). Am Anfang 2014 bekannte sich eine Studienanfängerin der angesehenen amerikanischen Duke University in North Carolina dazu, sich als Pornodarstellerin zu betätigen, und bewertete ihre Erfahrungen in der Pornoszene als „ nothing but supportive, exciting, thrilling, and empowering “ . Die Studentin mit dem Bühnennamen Bell Knox schrieb in ihrem Blog auf der Website www.xojane.com: „ For me, shooting pornography brings me unimaginable joy. [. . .] It is my artistic outlet: my love, my happiness, my home. ” 510 Dieses Bekenntnis zog ein breites Interesse der Medien auf sich, wobei die Kommentare mehrheitlich negativ waren. So schrieb z. B. Ruth Marcus in der Washington Post über Bell Knoxs Enthüllungen, dass sie nicht bloß ein persönliches Problem einer isolierten jungen Frau, sondern vielmehr ein Symptom der Störung unserer Kultur darstellten: Knox ’ s pathetic story wouldn ’ t be worth examining - exploiting? - if it didn ’ t say something deeper about the hook-up culture run amok and the demise of shame. In an age of sexting and Snapchat, of „ Girls Gone Wild “ and friends with benefits, perhaps it ’ s easy to confuse the relative merits of waitressing and sex work. [. . .] One way to look at Belle Knox is to worry about her and ache for her parents. Another is to worry about what it means for all of us. Her story doesn ’ t simply reflect a troubled young woman. It reflects a troubled culture. (Marcus 2014) Das Phänomen beschränkt sich übrigens nicht nur etwa auf die Vereinigten Staaten oder Großbritannien. In Polen verkaufen in der letzten Zeit junge Frauen ihre Jungfräulichkeit dem „ höchsten Anbieter “ (Semik 2014), in Brasilien breitet sich unter Jugendlichen Prostitution aus (Davies 2014), in Südafrika ist das Phänomen der „ Sugardaddies “ schon seit einigen Jahren bekannt (IRIN 2007). Ähnlich beunruhigende Entwicklungen finden auch in Deutschland statt. 2010 ist das Buch Deutschlands sexuelle Tragödie (Siggelkow und Büscher 2010) 510 http: / / www.xojane.com/ sex/ duke-university-freshman-porn-star (heruntergeladen am 7. 5. 2014). 7 Intermezzo 733 mit dem Vorwort des Leiters des Instituts für Lebens- und Familienwissenschaften Thomas Schirrmacher erschienen, das zum Bestseller wurde. Das Buch erzählt wahre Lebensgeschichten zahlreicher deutscher Jugendlicher beiden Geschlechts, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie ungewöhnlich früh ungewöhnlich zahlreiche sexuelle Erfahrungen machten. Die Autoren schreiben in diesem Zusammenhang von einem „ besorgniserregenden Trend “ : Viele Mädchen und Jungen haben immer früher Sex. Gefordert wird diese Entwicklung durch die zunehmende Pornografisierung unseres gesellschaftlichen Alltags. Mehr und mehr Jugendliche driften ab in die sexuelle Orientierungslosigkeit: Sie haben schon kurz nach dem Kennenlernen Sex, mit ständig wechselnden Partnern, auch in der Öffentlichkeit. Häufig ist Gewalt im Spiel und Alkohol oder Drogen. Partys werden zu Gruppensexorgien und nur selten wird an Verhütung gedacht. Die körperliche Reife ist zwar da, aber die Seele stolpert hinterher. Die Jugendlichen wissen nicht mehr, was Liebe ist. (Ebd., S. 2) Und sie fragen: „ Welche Folgen hat diese Entwicklung für unser Land? “ (ebd.). 2013 ist das autobiographische Buch Nimm mich, bezahl mich, zerstör mich! von Lisa Müller (Pseudonym: Müller 2013, S. 4) erschienen, in welchem die Autorin ihre Geschichte als eine freiwillige minderjährige Prostituierte aus guter Familie, die in einem kleinen Dorf in Baden-Württemberg aufgewachsen ist, erzählt. Müller behauptet in ihrem Buch, dass es mehr von „ ihrer Sorte “ gebe, als man glaube. Sex für Geld sei normal geworden: „ Wissen Sie denn mit Sicherheit, ob Ihre Tochter nicht auch so etwas tut, tun würde oder getan hat: Sex für Geld? “ , schreibt sie (ebd., S. 10). Auch dieses Buch wurde zum Bestseller. Müller, die sich aus Gründen, auf welche wir hier nicht eingehen können, mit 18 entschieden hat, der Prostitution den Rücken zu kehren, schreibt an anderer Stelle: Auch im normalen Arbeitsalltag wieder Fuss zu fassen ist schwer. Immer wenn mir etwas nicht passt, stelle ich mir die Frage: Wieso eigentlich, das Geld, für das du hier einen Monat lang arbeitest, könntest du auch in ein paar Stunden verdienen, wieso denn nicht? (Müller ebd., S. 278) Das Zitat macht deutlich, dass wir es nicht mit Armuts-, sondern im Gegenteil mit Wohlstandsprostitution zu tun haben. Der eigene Körper ist zu einem bloßen Tauschwert herabgesunken, der zur Befriedigung materieller Bedürfnisse „ ins Spiel gebracht wird “ , und es steht zu vermuten, dass dies irgendwann zur Normalität, wenn nicht sogar zu einer Norm wird. 511 511 Innerhalb des ökonomischen Paradigmas würde man wahrscheinlich mit den Marktkräften argumentieren und einwenden, dass eine solche Normalität der Prostitution zum Preisverfall führt und deshalb an eine natürliche Grenze stößt - eine Perspektive, die ich ausdrücklich nicht einnehme. 734 7 Intermezzo Ein anderes Gegenwartsphänomen ist die Hormonersatztherapie (HET bzw. engl. HRT) für Frauen. Sie ist in den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts Mode geworden. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass sie manche unerwünschte Nebeneffekte nach sich zieht, wie auch die starke Zunahme des Testosterongebrauchs von älteren Männer, die in jüngster Zeit zu verzeichnen ist (Kremer 2014). Dies macht offenkundig, dass der Körper als biochemische Maschine wahrgenommen wird, die man repariert, wenn sie nicht mehr funktioniert. Ähnlich ist der Umgang mit der Antibaby-Pille zu beurteilen, wenngleich hier zugleich eine Grenze deutlich wird. Zwar kann man mit hormonellen Mitteln die Ovulation unterbinden, man ist jedoch nicht imstande, die Entwicklung des Embryos allein mit solchen Mitteln zu gewährleisten. Sonst wären wir wahrscheinlich bereits heute auf dem Stand von Huxleys Brave New World, wo Kinder nach Belieben und nach vorgegebenen Maßstäben in Flaschen produziert werden. Der Embryo braucht eindeutig viel mehr als die geeigneten Hormone, um sich normal im Mutterleib entwickeln zu können, und was dieses „ Mehr “ eigentlich ist, wissen wir heute immer noch nicht ganz genau. Ich habe bis jetzt den Zusammenhang zwischen der materialistischen Metaphysik und gewissen beunruhigenden gesellschaftlichen Entwicklungen an Beispielen illustriert, wo er mir am offensichtlichsten erscheint. Ich möchte im Folgenden einige weitere Zahlen nennen und damit die Frage verbinden, ob hier ebenfalls ein - latenter - Zusammenhang vorliegt: Bekanntlich leiden wir heute unter einer starken Zunahme von chronischen Krankheiten wie Demenz, Diabetes oder Krebs. Vor kurzem wurde berichtet, dass gegenwärtig weltweit ca. 44 Millionen Menschen mit Demenz leben, dass aber damit gerechnet wird, dass sich die Zahl bis 2050 auf ca. 135 Millionen erhöhen wird (Ulli 2014). Diese verursachen bekanntlich beträchtliche gesellschaftliche Kosten: Allein in der Schweiz betragen diese heute 7 Milliarden Franken und könnten bis 2050 auf über 20 Milliarden anwachsen (ebd.), weltweit betrugen sie 2010 über 600 Milliarden Dollars also ca. 1 % des globalen BIP (The Lancet 2014). Die gleiche starke Zunahme lässt sich auch im Falle von Diabetes beobachten. 1985 wurden ca. 30 Millionen Menschen weltweit mit Diabetes diagnostiziert, diese Zahl erhöhte sich 2010 auf 285 Millionen. 512 Ein Bericht, der kürzlich im British Medical Journal veröffentlicht wurde, spricht von einer „ äußerst schnellen Zunahme “ der Prädiabetes in England seit 2003. Es wird geschätzt, dass in England heute bereits mehr als ein Drittel der Erwachsenen an Prädiabetes leidet (Wise 2014). Eine ähnliche Progression ist beim Krebs festzustellen: Die Zunahme betrug 2012 14 Millionen, und es wird erwartet, dass sie 2025 19,3 Millionen neue Fälle betragen wird (Gulland 2014). Die gegenwärtige Zunahme der Krebserkrankungen ist so markant, dass die WHO kürzlich vor einer „ cancer tidal wave “ warnte 512 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Diabetes_mellitus_type_2 (heruntergeladen am 1. 11. 2014). 7 Intermezzo 735 (BBC 4. 2. 2014). Auch die chronischen Krankheiten nehmen immer mehr zu. Besteht hier ein Zusammenhang mit der Ausbreitung der materialistischen Hintergrundmetaphysik? Ich werde auf diese Frage an einer späteren Stelle dieses Werkes zurückzukommen. In letzter Zeit wird überdies eine starke Zunahme von psychischen Erkrankungen von Kindern beobachtet. Bei ADHS beträgt sie 25 % innerhalb einer Dekade (zumindest in den Vereinigten Staaten), 513 bei Autismus um 30 % seit 2000 (Bernstein 2014; JAMA 2014) Diese Entwicklung verursacht hohe Kosten für die Gesundheits- und Sozialsysteme des Staates. Allein in Großbritannien rechnet man für die Behandlung von Autismus mit Kosten von £ 32 Milliarden pro Jahr (Briggs 2014), in den Vereinigten Staaten wurden sie 2012 auf $ 126 Milliarden geschätzt. 514 Eine mögliche Erklärung für diese Entwicklung wäre selbstverständlich, dass die Ärzte für diese Krankheiten zunehmend sensibilisiert sind und sie einfach vermehrt diagnostizieren. Angenommen jedoch, dass wir hier mit einer realen Zunahme der entsprechenden Erkrankungen und nicht bloß mit einer Zunahme der Diagnosen zu tun haben, könnte ein Zusammenhang mit der Ausbreitung der materialistischen Hintergrundmetaphysik bestehen? Alles nur Fata Morgana? Anhand der Lektüre der vorangehenden Zeilen könnte beim Leser, bei der Leserin der Eindruck entstehen, dass ich die Schuld für alle sozialen und gesundheitlichen Übel der Gegenwart der Ausbreitung der materialistischen Ontologie zuschreiben möchte. Das wäre selbstverständlich eine grobe Vereinfachung. Sehr viele Faktoren sind hier am Werk: ökonomische Zwänge, Bevölkerungszuwachs, Auflösung der traditionellen Familienstrukturen, die veränderte Rolle der Frauen in der Gesellschaft, die Auswirkungen der Medien usw. Es ist also nicht mein Anliegen, alle Übel der Gegenwart dem Materialismus anzuhängen. Dennoch scheint mir, dass dieser Zusammenhang zu wenig beachtet wird. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht bilden Äußerungen von Papst Franziskus während seiner Reise nach Südkorea im August 2014. Dort hat er u. a. die Leere angesprochen, die durch Materialismus und ungezügelte Marktwirtschaft entstehe und sie mit der hohen Selbstmordrate in Südkorea 515 in Verbindung gebracht. 516 513 http: / / www.webmd.com/ add-adhd/ news/ 20130118/ adhd-rises-decade (heruntergeladen am 1. 11. 2014). 514 http: / / www.autismspeaks.org/ about-us/ press-releases/ annual-cost-of-autism-triples (heruntergeladen am 1. 11. 2014). 515 Südkorea hat nach Grönland und Litauen die dritthöchste Suizidrate in der Welt (http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_countries_by_suicide_rate (heruntergeladen am 1. 11. 2014)). 516 Aufzeichnung von SRF 4 News aktuell vom 18. 8. 2014 ca. 3' bis 3'55''.http: / / www.srf. ch/ player/ radio/ popupaudioplayer? id=2926de92-715e-4dce-9e12-dc640e501fbb (heruntergeladen am 1. 11. 2014). 736 7 Intermezzo Man könnte jedoch argumentieren, dass eine solche kausale Zuschreibung völlig unberechtigt sei, denn trotz des fortschreitenden Ausbreitung des Materialismus sind doch gerade in der jüngsten Zeit nicht nur negative, sondern auch durchaus positive Trends insbesondere bei den Jugendlichen festzustellen. Im Juli 2014 veröffentlichte der Economist einen aufschlussreichen Artikel mit dem vielsagenden Titel „ The staid young “ , in welchem die Zeitschrift mit dem Stereotyp, dass die heutige Jugend „ alienated, unhappy, violent failures “ seien, abrechnet (Economist 12. 7. 2014). Es lohnt sich, eine längere Passage wortwörtlich zu zitieren. In 2002 just 13 % of German teenagers had never had an alcoholic drink; by 2012, that figure had risen to 30 %. Among 18to 25-year-olds, the proportion drinking at least once a week has fallen by a third since the early 1990 s. Cannabis use has dropped, too, and the number of deaths attributed to the use of illegal drugs has fallen by half since 2000. Similar trends are seen across the Western world. [. . .] In 2008 Time magazine described Britain ’ s youth as „ unhappy, unloved and out of control “ ; a nation gripped by an „ epidemic of violence, crime and drunkenness “ was scared of its feral youth. Polling by Barnardo ’ s, a charity, found that 54 % of people thought that children were „ beginning to behave like animals “ - perhaps because, in television programmes such as “ Skins ” and films such as „ Kidulthood “ , hoodie-wearing teenagers occupied themselves largely with cocaine, wild sex and stabbing one another. David Cameron - now prime minister, then leader of the opposition - denounced a „ broken society “ , arguing that „ we have seen a decadeslong erosion of responsibility, of social virtue, of self-discipline, respect for others, deferring gratification instead of instant gratification. “ Cameron ’ s claim, hyperbolic then, has since become ludicrous. In 2007, 111,000 children aged between 10 and 17 were convicted or given a police caution for a first offence in England and Wales. By last year, that had fallen to just 28,000 [. . .]. The teenage murder rate quietly plunged, and London ’ s knife crime epidemic of the summer of 2008 proved a blip, much like the riots of 2011. As elsewhere, drug use by the young is falling. Perhaps most remarkably, Britain ’ s notoriously surly youths are getting more polite: according to one government survey, those born in the early 1990 s are less rude and noisy in public places than previous cohorts were at the same age. „ People are still being young, but they ’ re recognising there are boundaries, “ says one youth worker in Hackney, a borough of London long known for its high crime rate. In America, the proportion of high-school students reporting „ binge-drinking “ - more than five drinks in a single session - has fallen by a third since the late 1990 s. Cigarette smoking among the young has become so uncommon that more teenagers - some 23 % of 17to 18-year-olds - smoke cannabis than tobacco. Over the past ten years pot-smoking has increased, a bit, among these older teens; but even though now legal in some states (see page 35) its prevalence is still far lower than in the 1970 s, when Barack Obama was a member of his high-school „ choom gang “ . Use of other recreational drugs has fallen sharply. Dr Wilson Compton, the deputy director of the National Institute on Drug Abuse, says that perhaps the most worrying trend in young Americans ’ drug habits is the increasing abuse of 7 Intermezzo 737 attention-focusing pills such as Ritalin by students keen to improve their performance. Teenage kicks of other sorts also appear to be on the decline. „ Teens are waiting longer to have sex than they did, “ according to a report on young Americans from the Guttmacher Institute, a think-tank. America ’ s teenage pregnancy rate is half what it was two decades ago [. . .]. Britain has experienced a lesser decline. (Ebd.) Der Economist stellt im Weiteren fest, dass es schwierig sei, diese erfreuliche Entwicklung zu erklären. Vermutlich seien mehrere Faktoren am Werk, u. a. strenge Strafen selbst für vergleichsweise harmlose Vergehen und ökonomischer Druck (die Auslagerung von Hilfsarbeitertätigkeiten in die Drittweltländer bedeute, dass in den entwickelten Ländern höhere Bildung an Bedeutung gewinne, was den Jugendlichen weniger Zeit, Lust und Geld für „ Unfug “ lasse). Der wichtigste Faktor sei aber die intensivierte und verbesserte elterliche Aufsicht über die heranwachsenden Kinder: According to William Strauss and Neil Howe, authors of various studies of the „ millennial “ generation, children born in the 1970 s and 1980 s were mostly raised by baby-boomer parents who married young, had children quickly and were often rather blasé about the consequences. The suburbs they moved into - and the inner cities they left derelict and unwanted - were breeding grounds for isolation and disaffection. By the late 1980 s that generation was giving way to a new group of parents who waited longer to have children and paid more attention when they did. In the 1970 s the average American mother had her first child at the age of just 22. That has since increased to around 26. Today ’ s young adults were thus raised by a generation of parents who had fewer children later in life, and took the process more seriously. [. . .] What this adds up to is a generation that is more closely watched and less free to screw up. (Ebd.) Ist also im sozialen Bereich alles auf bestem Wege und eine nachhaltige Besserung in Sicht? Sind die Befürchtungen eine Fata Morgana? Und sind insbesondere meine Vermutungen, dass sich hinter den unliebsamen sozialen Phänomenen der letzten Zeit die Folgen der schleichenden Ausbreitung der materialistischen Ideologie verbergen, haltlos? Ich glaube, dass die Entwicklungen der letzten Jahre noch keine endgültigen Antworten auf diese Fragen erlauben. Insbesondere gibt der Economist-Artikel keinen Aufschluss darüber, ob und inwieweit sich die Wertvorstellungen und weltanschauliche Überzeugungen der jüngeren Generation verändert haben. Es ist zumindest nicht auszuschließen, dass abgesehen von der gesteigerten Erziehungsleistung auch die Abnahme der Wissenschaftsgläubigkeit unter der jüngeren Generation, und somit auch die Abnahme des Glaubens an die Endgültigkeit der materialistischen Weltanschauung unter ihnen eine wesentliche Rolle in diesem Prozess spielt. Wir erinnern uns daran, dass der Anteil der Befragten, welche mit der Feststellung „ Science makes our lives healthier, easier and more comfortable “ einverstanden sind, in den letzten Jahren verhältnismäßig 738 7 Intermezzo stark abnimmt, und zwar besonders deutlich unter den Jugendlichen in Frankreich: Während von den zwischen 1963 und 1976 in diesem Land geborene Personen etwa die Hälfte 2008 angab, mit der Feststellung einverstanden zu sein, sank dieser Anteil bei den nach 1977 geborenen Befragten auf ca. 30 % (vgl. oben das Unterkapitel „ Image Probleme der Naturwissenschaft “ ). Die Zukunft der Menschheit Will man die Folgen einer Ausbreitung der materialistischen Ontologie angemessen beurteilen, muss man berücksichtigen, dass sie ihre Wirksamkeit auf dem Boden von mehrheitlich noch immer traditionsgebundenen Gesellschaften entfaltet hat, der den Glauben an übersinnliche Kräfte und Wesen durchaus zulässt. Gemäß einer 2012 durchgeführten Untersuchung des renommierten amerikanischen Pew Research Center bekannten sich 5,7 Milliarden, 517 also eine überwältigende Mehrheit der damals nach Schätzung der UNO auf der Erde lebenden ca. 7 Milliarden Menschen, 518 zu einer Religion. Es muss also berücksichtigt werden, dass bis jetzt die praktischen Folgen der materialistischen Überzeugungen durch die universal verbreiteten religiösen Vorstellungen, Werte und Vorbilder gleichsam gemildert wurden. Man kann aber versuchen, sich auszumalen, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse aussehen würden, wenn die materialistische Ontologie tatsächlich die Religionen mit ihren Werten vollständig vernichten und sich als die wirklich dominierende Weltanschauung etablieren würde. Um dieses Bild zu erlangen, nehmen wir also an, dass der Materialismus tatsächlich wahr sei. Es gäbe keine übersinnlichen, geistigen Einflüsse und Kräfte, keine geistigen Wesenheiten, keine Götter usw., Religion, religiöse Vorstellungen und Traditionen einschließlich die moralischen Vorschriften bzw. Gebote, welche innerhalb dieser Traditionen entstanden sind, seien bloß Hirngespinste, Produkte überhitzter Phantasie unserer Vorfahren bzw. ihrer Schutzmechanismen im Kampf mit der bedrohlichen Naturumgebung. Der Mensch sei nichts anderes als ein biochemischer Computer, der keine reale Individualität (Ich) und keinen freien Willen habe. Er sei im Laufe der blinden Evolution infolge des Drucks entstanden, der von der Umwelt auf die zufällig stattfindenden Mutationen des Erbgutes oder genauer auf die phänotypischen Folgen dieser Mutationen (neuartige Organismen) ausgeübt wurde. Er unterscheide sich folglich qualitativ nicht von anderen Säugetieren und insbesondere nicht von den Primaten. Er sei im Grunde auch ein Tier. Wenn der Materialismus wirklich wahr ist, dann sollten wir ehrlich sein und den Mut haben, die logischen Konsequenzen dieser Weltanschauung zu akzeptieren. Im Folgen- 517 http: / / www.pewforum.org/ 2012/ 12/ 18/ global-religious-landscape-exec/ (heruntergeladen am 2. 11. 2014). 518 http: / / www.un.org/ en/ development/ desa/ population/ publications/ pdf/ trends/ WPP2012_Wallchart.pdf (heruntergeladen am 2. 11. 2014). 7 Intermezzo 739 den werde ich in knapper Form einige dieser Implikationen für die Stellung des Menschen in der Natur, die geeignete Lebensführung und die Beziehungen zwischen den Menschen schildern: Wenn der freie Wille und das Ich des Menschen bloß eine Fiktion, ein Epiphänomen des Gehirns sind, macht es keinen Sinn, Kriminelle zu bestrafen, denn sie sind für ihre Handlungen nicht verantwortlich. Wenn jemand stiehlt oder zwanzig Menschen umbringt, dann liegt das nicht am „ bösen Willen “ (denn diesen gibt es nicht), sondern an einer Störung im Gehirn. Es ist aus dieser Sicht zwar pragmatisch berechtigt, einen Kriminellen ins Gefängnis zu sperren. Eine Inhaftierung wäre aber keine Strafe, sondern eine Prävention weiterer Verbrechen. Da die Gefahr der Wiederholung der Tat besteht, solange die organische Störung vorhanden ist, müsste der Täter eigentlich lebenslänglich eingesperrt bleiben, wenn die von ihm ausgehende Gefahr als hoch genug eingestuft wird. Oder man müsste sofern möglich durch einen operativen Eingriff sein Gehirn heilen. Diese Folge der materialistischen Metaphysik ist eigentlich bereits seit mehreren Jahren bekannt und wurde bereits verhältnismäßig breit diskutiert (vgl. z. B. Gehirn & Geist 2002), obwohl man bis jetzt aus welchen Gründen auch immer davor zurückschreckte, die logischen Folgen des Materialismus im praktischen Leben zu implementieren. Aus materialistischer Perspektive wäre aber auch die Verleihung von Preisen für besonders hochstehende Leistungen unberechtigt, denn Menschen, die sich positiv ausgezeichnet haben, verdanken das nicht ihrem freien Willen und einer besonderen Anstrengung, sondern einer Kombination aus Genen und Erziehung. Wenn solche Leistungen überhaupt zu belohnen sind, dann sollte die Belohnung an die Eltern und die Erzieher der betreffenden Personen gehen. Da jedoch auch diese die genetische Ausstattung und Erziehung ihren Eltern verdanken, verschiebt sich das Lob weiter nach hinten - bis zu Adam und Eva. Auch falsche oder irrige Meinungen wären nichts weiter als Folgen der pathologischen Hirnaktivität, etwa der Vorliebe für das kommunistische System bei einem Menschen, der in einem Land mit Marktwirtschaft lebt, oder umgekehrt. Denn wenn Gedanken bloß Produkte des Gehirns wären, so wären sowohl die richtigen als auch die falschen Gedanken ein solches Produkt, und zwar die richtigen das Produkt der richtigen bzw. gesunden und die falschen das Produkt der pathologischen Schaltkreise im Gehirn. Es ergibt dann keinen Sinn, mit den durch falsche Gedanken „ beeinträchtigten “ Individuen zu diskutieren, denn bloße Worte haben selbstverständlich keine Kraft, die Schaltkreise im Gehirn zu verändern. Man könnte derart verwirrte Menschen von ihrem Irrglauben - worunter selbstverständlich auch der Glaube an Gott oder sonstige höhere Macht fallen würde - wiederum nur durch Gehirnchirurgie dauerhaft befreien. An dieser Stelle ergibt sich allerdings eine gewisse Schwierigkeit: Es ist nicht einfach zu entscheiden, was die wahren und was die falschen Meinungen sind. Wir wissen leider allzu gut, 740 7 Intermezzo dass sich die Meinungen hinsichtlich wahr und falsch mit der Zeit ändern, und oft können wir selbst in elementarsten Fragen keinen Konsens erreichen. Vielleicht ist gerade deshalb noch niemand auf die Idee gekommen, Menschen, deren Überzeugungen vom Richtigen abweichen, durch Hirnchirurgie von ihrem Irrglauben zu befreien. Man kann aber die begründete Hoffnung haben, dass in Zukunft ein viel größeres Maß an Übereinstimmung in Bezug auf die Grundwahrheiten des Lebens erlangt wird, als dies heute möglich sei, was die chirurgische Therapie der Verwirrten nicht nur realistisch machen, sondern auch rechtfertigen würde. Da es ferner in einer materialistischen Welt als ausgemacht gilt, dass der Mensch ein Produkt seiner genetischen Ausstattung (und Früherziehung) sei, muss man schließlich den Gedanken akzeptieren, dass jegliche Abweichung von der normalen embryonalen Entwicklung bloß eine Art biochemischer Unfall ist. Und so wie man in einem Unfall stark beschädigte Autos entweder reparieren lässt oder aus dem Verkehr zieht, weil sie auf der Straße eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer bilden und darüber hinaus unnötige Kosten verursachen, muss verhindert werden, dass erbliche Krankheitsdispositionen an die Nachkommen weitergegeben werden. Menschen mit solchen Pathologien müssen an der Fortpflanzung gehindert werden. Man muss also sowohl pränatale Diagnostik betreiben. Eine befruchtete Eizelle, bei der genetische Störungen festgestellt worden sind, darf selbstverständlich nicht implantiert werden. Werden genetische oder sonstige Entwicklungsstörungen erst beim Fötus festgestellt, muss er abgetrieben werden, denn die Kosten für die Gesellschaft, ein behindertes Wesen zu unterstützen, sind hoch, und die Investition lohnt sich nicht, da der Nutzen (außer vielleicht für die emotional tangierten Eltern) praktisch gleich null ist. 519 Ähnliches gilt selbstverständlich auch, wenn erst bei der Geburt festgestellt wird, dass das Kind einen Makel aufweist. Zwei fortschrittliche Philosophen, Alberto Giubilini und Francesca Minerva, empfehlen, ein solches Kind zu töten. Sie nennen diese Vorgehensweise treffend „ after-birth abortion “ (Giubilini und Minerva 2012). Völlig zu Recht, denn auch in diesem Fall übersteigen die gesellschaftlichen Kosten für die „ Aufzucht “ den Nutzen bei weitem. Welche Makel zur Tötung des Neugeborenen führen sollen und welche noch toleriert werden könnten, überlassen die Autoren einem künftigen Diskurs. Human Enhancement, die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit des Individuums auf chemischem oder mechanischem Weg (z. B. sog. Neuroprothesen) 520 , ist ebenso ein Mittel der Wahl wie genetische Verbesserung der menschlichen „ Rasse “ . Wie bei der Tierzucht wäre es bei Menschen emp- 519 Richard Dawkins behauptet laut Guardian, einen Embryos mit Down-Syndrom nicht abzutreiben sei unmoralisch (Guardian, 21. 8. 2014). 520 Die New York Times zitiert eine Mutter mit den Worten: „ My kids don ’ t want to take [Concerta], but I told them, ‘ These are your grades when you ’ re taking it, this is when you don ’ t, ’ and they understood ” (zitiert in Schwarz 2012). 7 Intermezzo 741 fehlenswert, besonders geglückte Exemplare zu kreuzen und so allmählich den Genpool des Menschen zu optimieren. Als Alternative böte sich hier selbstverständlich direkte genetische Manipulation an, wie sie bereits bei Pflanzen und allmählich auch bei tierischen Organismen stattfindet. Wenn man den beständigen Fortschritt in diesem Bereich berücksichtigt, ergibt sich die berechtigte Hoffnung, dass in nicht allzu ferner Zukunft eine kontrollierte Optimierung des menschlichen Erbguts erreichbar ist. Was das Enhancement mittels technischer Apparate betrifft, sollte nicht nur körperlich behinderten Menschen geholfen werden (wie z. B. durch Cochlea-Implantate oder vom Gehirn gesteuerte Gliedmaßenprothesen), sondern durch eine Verschmelzung des menschlichen Gehirns mit einem leistungsfähigen Computer auch angestrebt werden, die kognitiven Leistungen wesentlich zu steigern. Man kann sich erhoffen, dass Kurzweils „ Singularity “ möglichst bald erreicht wird und Menschen die Begrenzungen ihrer biologischen Körper und Gehirne werden transzendieren können (Kurzweil 2005, S. 9). Man kann sich auch auf die Zeit freuen, da Maschinen endlich intelligenter und geschickter als Menschen sein werden und die weitere Evolution übernehmen können, denn „ future machines will be human, even if they are not biological “ (ebd., S. 30), wenn also Maschinen eine deutlich verbesserte Version der heutigen Menschheit, eine Art Menschheit 3.0 (4.0, 5.0 . . .) darstellen, was hoffentlich dazu führen wird, dass der Homo sapiens ebenso aussterbt, wie es einst dem Neandertaler widerfahren ist. Aus der materialistisch-deterministischen Perspektive ergeben sich auch Konsequenzen für das Ende des Menschenlebens. Die Menschheit ist gegenwärtig mit dem Problem der Zunahme der Alterskrankheiten (z. B. verschiedene Arten der Demenz) konfrontiert. Die Kosten für die Behandlung dieser Krankheiten steigen exponentiell, die die Pflege der von diesen Gebrechen betroffenen Menschen bringt aber keinen gesellschaftlichen Nutzen (außer vielleicht Arbeitsstellen). Unter diesen Umständen wäre unbedingt zu empfehlen, die Praxis des Freitodes zu unterstützen und auszuweiten. Die Tatsache, dass sich immer mehr Menschen ein solches Lebensende im Falle einer unheilbarer Krankheit oder unerträglicher Schmerzen wünschen (SRF 31. 3. 2014), ist wärmstens zu begrüßen. Und natürlich ist auch der „ Lebensbilanzsuizid “ , also das freiwillige Ableben von Menschen, die nicht unheilbar krank, sondern einfach lebensmüde sind (Matt 2014; SRF 24. 5. 2104), zu fördern, um zu verhindern, dass sie im Alter durch Krankheiten zur gesellschaftlichen Last werden. Ferner wäre ernsthaft zu überlegen, ob demente Menschen nicht auch ohne ihre Einwilligung getötet werden sollten. Schließlich haben sie nichts mehr vom Leben, sie wissen ja nicht einmal, wer sie sind. Wenn ihre Angehörigen sie aus „ Sentimentalität “ am Leben erhalten wollen, dann dürfen sie dies tun, solange sie die Kosten vollumfänglich selbst tragen. Gleiches gilt für schwerkranke Kinder (Nuspliger 2014). 742 7 Intermezzo Da der menschliche Leib nichts weiter als eine komplizierte biochemische Maschine ist, ergibt sich auch eine klare Sicht auf das Problem der Organspende. Eine Leiche ist als ein wertvolles Ersatzteillager zu betrachten. Eine Leiche ist weder ein Besitz der verstorbenen Person (diese existiert nämlich nicht mehr, kann also auch nichts mehr besitzen), noch ihrer Familie. Denn auf welchem Wege habe sich die Familie das Recht auf die Leiche erworben? Sie hat doch nie für den Körper des verstorbenen gearbeitet oder bezahlt! Die Leiche gehört daher der Gemeinschaft, und nur diese darf über ihre Nutzung (oder Nichtnutzung) entscheiden. Das Tragen von Organspenderpässen erübrigt sich somit: Jede Leiche kann zu jeder (geeigneten) Zeit die geeigneten Organe entnommen werden. Wie steht es mit jenen, die ihr Leben um jeden Preis verlängern wollen? In Zukunft wird es dank Nanotechnologie u. A. möglich sein, den Leib praktisch unendlich lang am Leben zu erhalten und Krankheiten wie Krebs oder Herzkrankheiten zu heilen (Kurzweil 2005, S. 212 - 219), wenngleich dies einiges kosten wird. (Bereits heute kostet die Krebstherapie für ein zusätzliches „ qualitätsangepasstes “ Lebensjahr [QALY: „ quality-adjusted life year] über eine Million Dollar [Malakoff 2011, S. 1545], womit man über 3000 Menschen in Afrika ein Jahr problemlos ernähren könnte.) Durch Molekularkonstruktion wird es überdies möglich sein, auch die physische Welt, welche sich bei genauem Hinschauen als ebenso unvollkommen erweist wie der menschliche Leib, zu rekonstruieren (Kurzweil ebd. S. 226f.). Eine logische Folge des materialistisch-reduktionistischen Paradigmas ist selbstverständlich, dass der Mensch sich qualitativ nicht von Tieren unterscheidet. Seit Jahren pflegen die Wissenschaftler von „ human and nonhuman primates “ bzw. „ human and non-human animals “ zu sprechen (vgl. oben). Zuletzt ist diese Einsicht in die breite Bevölkerung durchgesickert und vor kurzem hat die amerikanische Interessengruppe Nonhuman Rights Project in New York die Anwendung der Habeas-Corpus-Akte auf vier (inhaftierte) Schimpansen beantragt (Gorman 2013). Einige Philosophen schließen aus der Idee der Gleichstellung der menschlichen und nichtmenschlichen Tiere, dass man auf das Töten von Tieren verzichten solle (Sezgin 2014), wobei nur noch geklärt werden müsste, ob ein entsprechendes Verbot nur Kühe und Schweine oder auch Mäuse, Schnecken, Fliegen und Mücken umfassen sollte. Man könne jedoch dieses moralische Dilemma lösen bzw. auflösen, indem man den Spieß umdreht und zugesteht, dass man nicht nur Tiere (kleine wie große), sondern auch Menschen beliebig töten darf. Dann wäre es eigentlich folgerichtig, nicht mehr von töten, sondern von schlachten zu sprechen, wie dies in dem alten Substantiv „ Schlacht “ für „ kriegerische Auseinandersetzung zwischen Menschen “ noch durchscheint. In der Tat haben sich die Menschen früherer Kulturen regelmäßig und in großer Zahl „ abgeschlachtet “ (Pinker 2011, S. 1 - 20) und erst mit dem Gebot „ Du sollst nicht morden “ setzte sich allmählich die gesellschaftliche Ächtung des Tötens von Menschen durch (ebd., S. 59 - 64). Allerdings wurde dieses Gebot den Menschen laut Wissen- 7 Intermezzo 743 schaft von einer fiktiven Gestalt auferlegt, einem bloß vermeintlichen Gott, und verliert damit selbstverständlich seine Weisungskraft. Dieser Mangel an Legitimation gilt dann natürlich auch für alle andere Gebote des Dekalogs: Du sollst nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht lügen usw. Alle sog. moralische Normen entpuppen sich im hellen Licht der objektiven, wissenschaftlichen Forschung als bloße Epiphänomene des Gehirns, als unbeständiger Rauch über dem Feuer der Nervenzellen. Solche Normen sind Instrumente der Unterdrückung und Benachteiligung der Stärkeren und Fähigeren, sie wurden von vorwissenschaftlichen Menschen frei erfunden und haben in einer postmodernen Gesellschaft keine Gültigkeit. Man muss sich ihrer endlich entledigen und zu den von den natürlichen Gesetzen (man sollte vielleicht sogar sagen: von den Naturgesetzen) der Evolution determinierten Verhaltensregeln zurückkehren. Das Grundgesetz der Evolution besagt doch, dass nur die an ihre Umwelt bestangepassten, die stärksten Organismen überleben können. Statt der Gebote „ Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen “ usw. soll wieder das einzig natürliche Recht des Stärkeren (ob die Stärke im Falle der menschlichen Primaten als eine physische oder intellektuelle oder eine Mischung aus beiden verstanden werden sollte, ist hier und zu diesem Zeitpunkt unerheblich) herrschen. Der Stärkste soll endlich wieder die Freiheit haben, mit den Schwachen so umzugehen, wie es ihm passt. Dies würde eben das Überleben der bestangepassten Exemplare der menschlichen Gattung, und nur dieser, sichern, was langfristig der ganzen Menschheit zugute kommen würde. Dies würde auch eine Kontrolle des explosiven Populationszuwachs bedeuten und somit das Problem der schwindenden Ressourcen und möglicherweise sogar der Klimaerwärmung radikal lösen. Denn bleiben nur die Stärksten auf der Erde, werden sie, da sie nur wenige sein werden, sicher genug Ressourcen für sich haben und bedeutend weniger CO 2 ausstoßen. In H. G. Wells ’ Time Machine (Wells 1984) wird uns eine alternative Verwendung minderwertiger menschlicher Primaten vorgestellt: als Futter für die Starken, nach dem Vorbild der Elois und Morlocks. Denn Tiere fressen Tiere und Fleisch ist Fleisch. Also dürfen menschliche Tiere (auch) menschliches Fleisch fressen. Es wäre also denkbar, dass man eine Anzahl minderwertiger menschlicher Primaten am Leben erhält, um sie als eine besondere Delikatesse für die Bankette der Herrenrasse zu schlachten. Früher wurde dies in magischen Ritualen durchaus praktiziert, zuletzt haben Einzelne diese Praxis wiederbelebt, 521 einige behaupten sogar, dass sie dazu von Engeln ermuntert worden seien (SRF 2012). Selbstverständlich wird der Engelsglaube in einer materialistischen Zukunftsgesellschaft obsolet sein, aber pragmatische Gründe für den Verzehr von Menschenfleisch wird es genug geben. 521 http: / / listverse.com/ 2012/ 03/ 04/ top-20-human-cannibals-by-country (heruntergeladen am 31. 10. 2014). 744 7 Intermezzo Jene, die dieses Szenario für unwahrscheinlich halten, seien daran erinnert, dass Schritte in diese Richtung bereits einmal unternommen wurden: von Adolf Hitler und seine Schergen. Die Ausrottung „ minderwertigen Lebens “ ging mit der Ausschlachtung der Leichname einher (Verwendung von Haaren zum Ausstopfen von Kopfkissen, Haut für Lampenschirme oder menschlichem Fett für die Seifenproduktion [Borowski 2009, S. 97] und, besonders pikant, von Haut für Büchereinbände 522 ). Hitler war allerdings nationalistisch verblendet. Er glaubte noch an die Deutschen als eine privilegierte Rasse, während tatsächlich die Stärksten in allen Ländern und unter allen Nationen verstreut sind. Diese müssen sich zusammentun, um die neue Ordnung der Welt ( „ brave new world “ ) zu etablieren. Anstelle „ Proletarier aller Länder, vereinigt euch! “ muss es also in Zukunft heißen: „ Stärkste aller Länder, vereinigt euch! “ Diesem Schreckensszenario mag man entgegenhalten, dass der Materialismus durchaus fähig sei, gleichsam aus eigener Kraft und ohne jegliche Bezugnahme auf außernatürliche Wesen und deren Einflüsse eine menschenfreundliche Ethik zu entwickeln. So wie die Evolution das menschliche Gehirn hervorbrachte, so bringe sie auch ethische Prinzipien hervor. Man betrachte z. B. die „ zehn neuen Gebote “ , die Richard Dawkins einer atheistischen Webseite entnahm und in seinem viel diskutierten Buch The God Delusion zur Befolgung empfahl: l Do not do to others what you would not want them to do to you. l In all things, strive to cause no harm. l Treat your fellow human beings, your fellow living things, and the world in general with love, honesty, faithfulness and respect. l Don not overlook evil or shrink from administering justice, but always be ready to forgive wrongdoing freely admitted and honestly regretted. l Live life with a sense of joy and wonder. l Always seek to be learning something new. l Test all things; always check your ideas against the facts, and be ready to discard even a cherished belief if it does not conform to them. l Never seek to censor or cut yourself off from dissent; always respect the right of others to disagree with you. l Form independent opinions on the basis of your own reason and experience; do not allow yourself to be led blindly by others. l Question everything. (Dawkins 2006, S. 298f.). Das klingt alles schön und überzeugend, durchaus vernünftig und sehr empfehlenswert. Das Problem ist jedoch offenkundig: Es ist überhaupt nicht klar, woher diese Grundsätze ihre Legitimation erhalten, kraft welcher Autorität sie Bestand haben sollen. Denn wer sich auf die Evolution als 522 http: / / www.mnn.com/ lifestyle/ arts-culture/ stories/ books-bound-in-human-flesh-di scovered-in-harvard-library (heruntergeladen am 31. 10. 2014). 7 Intermezzo 745 ethikstiftende Instanz beruft, muss zugeben, dass sie nicht nur das Gebot „ Liebe deinen Nachbarn “ hervorbrachte, sondern auch Hitler, der sich nicht daran hielt. Es ist auch leider nicht auszuschließen, dass die „ Evolution “ in der Zukunft weitere Massenmörder hervorbringen wird, deren Macht sogar größer sein wird. Welche Argumente werden wir benutzen können, um einen künftigen Hitler von der Falschheit seiner Vorstellung überzeugen zu können? Ich befürchte, solche Argumente sind für den Materialisten schlicht nicht zu haben. Denn auch ein für das Gerechtigkeitsempfinden so grundlegendes Prinzip wie die Reziprozität (vgl. Sturma 1997, S. 314 523 ) bleibt ohne eine dem Individuum übergeordneten Instanz wirkungslos. Um es mit David Hume zu sagen: ‘ Tis not contrary to reason to prefer the destruction of the whole world to the scratching of my finger. ‘ Tis not contrary to reason for me to choose my total ruin, to prevent the least uneasiness of an Indian or person wholly unknown to me. ‘ Tis as little contrary to reason to prefer even my own acknowledg ’ d lesser good to my greater, and have a more ardent affection for the former than the latter. (Hume 1978, S. 416) Ein Atheist schuldet uns also nicht ethische Prinzipien - diese sind in Hülle und Fülle zu haben - , sondern eine Begründung ihrer verpflichtenden Kraft. Im Grunde lebt seine Ethik von Ressourcen, die die jahrtausendealten religiösen Tradition bereitstellen, und mithin davon, dass die allermeisten Menschen der Gegenwart immer noch gläubig sind, dass sie die Existenz einer Transzendenz grundsätzlich bejahen. Ohne den Bezug auf eine nicht nur dem individuellen Menschen, sondern auch den vorübergehenden menschlichen Kulturformen überlegene Instanz bleiben auch die schönsten moralischen Maximen letztlich wirkungslos. Wenn eine solche übergeordnete Instanz für eine Illusion erklärt wird, bleibt eigentlich nur noch Biologie. Und diese kennt keine Ethik. Dieser pessimistischen, ja apokalyptischen Einschätzung der Folgen der Ausbreitung der materialistischen Weltanschauung scheinen die Ergebnisse zahlreicher wissenschaftlicher Studien zu widersprechen, welche darauf hindeuten, dass es keine wesentlichen Unterschiede z. B. im altruistischen Verhalten zwischen gläubigen Christen und Atheisten gibt (Schnabel 2008, S. 126 - 142). Wie man diese - aus der Sicht obiger Betrachtungen paradoxen, ja ihnen widersprechenden - Befunde verstehen kann, werden wir im letzten Kapitel erörtern. Dass man sich die Folgen einer materialistischen Weltanschauung (in irgendwelcher Form) bis jetzt nicht lebhaft und konkret ausmalte, mag mit 523 Von Kutschera bezeichnet diesen Grundsatz als „ Universalisierbarkeitsprinzip “ : „ Habe ich gegenüber jemanden die Pflicht, etwas zu tun oder zu unterlassen, so hat er seinerseits in derselben Situation eine gleiche Pflicht mir gegenüber “ (Kutschera 1998, S. 329). Forst spricht von der „ reziprok-allgemeinen Geltung “ einer moralischen Norm (Forst 1999, S. 176; vgl. ebd., S. 198). 746 7 Intermezzo einer gewissen Verweigerungshaltung zusammenhängen. Wie Savulescu, der Schriftleiter des Journal of Medical Ethics, treffend bemerkte (Information Philosophie 2012, S. 125), werden die Konklusionen, welche aus breit akzeptierten Prämissen logisch abgeleitet werden, in der Gesellschaft oft abgelehnt, ja, sie stoßen auf Entrüstung. Savulescu ist dies mit einem Artikel über nachgeburtliche Abtreibung selbst widerfahren. Nach der Veröffentlichung des Artikels sei eine Fülle von Beschimpfungen eingegangen und die beiden Autoren haben sogar mehrere Morddrohungen erhalten. Savulescu meint, man könne gleichwohl getrost in die Zukunft schauen in der Zuversicht, dass sich die wahre, gesunde Einsicht letztendlich als siegreich erweisen werde. Schließlich glaubten die Menschen früher auch, die Sonne drehe sich um die Erde, und sie verbrannten diejenigen, die die wahren Verhältnisse durchschauten. Die kopernikanische Sicht habe sich bekanntlich durchgesetzt, und in Bezug auf die Stellung des Menschen im Kosmos und die zwischenmenschlichen Verhältnisse werde es ähnlich ergehen. Allerdings möchte ich bezweifeln, dass Savulescu und seine Mitstreiter die Konsequenzen ihrer Prämissen gezogen haben. Sonst hätten sie vielleicht doch die Unmenschlichkeit ihrer Idee eingesehen. Atheisten argumentieren gerne, dass auch religiöse Vorstellungen nicht unbedingt vor Unmenschlichkeit schützen. Im Gegenteil, sie seien für zahlreiche Kriege und Verbrechen verantwortlich. Das neuste Beispiel dafür sind die Verbrechen, welche von den Anhänger der ISIS bzw. IS verübt werden. Es würde uns hier zu weit führen, dieses Argument ausführlich zu diskutieren. In einer knappen Entgegnung lässt sich jedoch sagen, dass sich erstens Menschen in ihren Handlungen sehr oft nicht an ihre ethischen Maximen halten und dass man zweitens zugeben muss, dass sowohl die Interpretationen von religiösen Urkunden falsch sein können als auch die religiösen Urkunden selbst. Nicht alles, was von angeblich übersinnlichen Instanzen geoffenbart wurde, ist schon vertrauenswürdig. Wenn jemandem vermeintliche Engel befehlen, Menschen zu essen, dann muss mit einer solchen „ Offenbarung “ etwas nicht stimmen. Was zeigt, dass man für die Orientierung in der heutigen komplexen Welt eine höhere Instanz als die der religiösen Offenbarung braucht. Stellt man, wie die Wissenschaft dies tut, die Existenz einer Transzendenz oder geistigen Wirklichkeit in Frage, so schüttet man das Kind mit dem Bade aus. Wir werden zu diesem wichtigen Thema an späteren Stellen dieser Schrift zurückkehren. 7 Intermezzo 747 Rudolf Steiners Geisteswissenschaft wird oft als unwissenschaftlich und nebulös, als esoterischer Humbug abqualifiziert. Marek B. Majorek zeigt, dass dieser Beurteilung einerseits ein enges und eingeschränktes Bild des Wissenschaftlichen, andererseits ein mangelhaftes Verständnis der Kerneigenschaften von Steiners Geisteswissenschaft, insbesondere ihrer Forschungsmethoden zugrunde liegt. Darüber hinaus macht diese Studie deutlich, welche Bedeutung die geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Rudolf Steiners mit Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart haben. 00001 Rudolf Steiners Geisteswissenschaft wird oft als unwissenschaftlich und nebulös, als esoterischer Humbug abqualifiziert. Marek B. Majorek zeigt, dass dieser Beurteilung einerseits ein enges und eingeschränktes Bild des Wissenschaftlichen, andererseits ein mangelhaftes Verständnis der Kerneigenschaften von Steiners Geisteswissenschaft, insbesondere ihrer Forschungsmethoden zugrunde liegt. Darüber hinaus macht diese Studie deutlich, welche Bedeutung die geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Rudolf Steiners mit Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart haben. Majorek Rudolf Steiners Geisteswissenschaft 2 00002 Rudolf Steiners Geisteswissenschaft Mythisches Denken oder Wissenschaft? Band 2 Marek B. Majorek Rudolf Steiners Geisteswissenschaft Band 2 Marek B. Majorek Rudolf Steiners Geisteswissenschaft Mythisches Denken oder Wissenschaft? Band 2 © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8563-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildungen: Hintergrund: Goetheanum, Dornach (Schweiz), kurz vor Sonnenuntergang von Nordwesten (© Wladyslaw Sojka, www.sojka.photo). Vordergrund: Goetheanum, Dornach (Schweiz), Außenfassade (Details) (© Marek B. Majorek). Inhalt B AND 2 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft . . . . 749 9 Neue Sicht der alten Geschichte: die alten Mysterien als ein Suchen nach dem Verkehr mit der geistigen Welt . . . . . . . . . . . . . . 1012 10 Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals . . . 1084 11 Übersinnliche Forschungsmethoden: Imagination, Inspiration und Intuition und die Frage nach der Wissenschaftlichkeit ihrer Forschungsresultate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1162 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft . . . . . . . . . . 1324 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse für das soziale Leben und die Wissenschaft: die Steiner ’ sche Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1396 14 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1470 15 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1481 16 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1543 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1543 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1556 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1585 Inhalt Band 1 und Band 2 B AND 1 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus . . . 45 2 a Das Aufkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus . . . . . . . . . . 251 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus . . . . . . . . . . . . . . . 299 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus . . . . . . . . . . . . . 313 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 3 b Feministische Wissenschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 3 d Ein neues Verständnis der Natur der Wissenschaft: Philip Kitcher: The Advancement of Science . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream- Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 4 b Die Rätsel der Quantenmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 4 c Einige theoretische Probleme des empirischen Forschungsparadigmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas . . . . . . . . . . . 465 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft: Betrug, Mangel an Reproduzierbarkeit, unterdrückte Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 4 f Exkurs: Einige empirische Probleme des wissenschaftlichen Paradigmas im Detail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 4 f i Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? . . . . . . . . . . 504 4 f ii Können Gene Morphogenese erklären? . . . . . . . . . . . . . . 545 4 f iii Können Proteine die Leistungen erbringen, die ihnen zugeschrieben werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 5 Was ist Wissenschaft? Die Debatte um die Abgrenzung Wissenschaft/ Pseudowissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 7 Intermezzo: Einige sozialen Folgen der Verbreitung der materialistischen Ideologie in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 727 B AND 2 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft . . . . 749 9 Neue Sicht der alten Geschichte: die alten Mysterien als ein Suchen nach dem Verkehr mit der geistigen Welt . . . . . . . . . . . . . . 1012 10 Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals . . . 1084 11 Übersinnliche Forschungsmethoden: Imagination, Inspiration und Intuition und die Frage nach der Wissenschaftlichkeit ihrer Forschungsresultate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1162 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft . . . . . . . . . . 1324 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse für das soziale Leben und die Wissenschaft: die Steiner ’ sche Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1396 14 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1470 15 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1481 16 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1543 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1543 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1556 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1585 Inhalt Band 1 und Band 2 VII 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Wir haben gesehen, dass die materialistische Ontologie ein wesentliches Moment der heutigen Wissenschaft und insbesondere der Naturwissenschaft bildet. Betrachtet man die heutige Wissenschaft durch die Brille der Massenmedien, so bestätigt sich diese These. Berichte über die materialistischmechanistische Erklärung von Lebensphänomenen, die genetischen Ursachen immer neuer Krankheiten, erfolgreiche genetische Manipulationen verschiedener Organismen, die Erzeugung von Geweben oder sogar Organen im Labor, die Abhängigkeit psychischer Phänomene vom Gehirn, über wissenschaftliche Nachweise, dass der freie Wille eine Illusion sei, die Möglichkeit, angeblich übersinnliche Phänomene wie außerkörperliche Erfahrungen im Labor zu erzeugen usw. machen die Runde. Nachrichten über Forschungen, die in eine dem herrschenden Erklärungsparadigma entgegensetzte Richtung steuern, gibt es so gut wie nicht. So entsteht der Eindruck, dass die einzigen Wissenschaftler, die die herrschende materialistische Ontologie nicht unterstützen, zwar wissenschaftlich oder akademisch geschulte, aber sicherlich wissenschaftlich diskreditierte Vertreter des Kreationismus, insbesondere sog. Junge-Erde-Kreationisten, seien oder vielleicht ebenso wissenschaftlich bzw. akademisch geschulte, aber ebenfalls wissenschaftlich diskreditierte Vertreter des Intelligent Design. In diesem Kapitel möchte ich zeigen, dass dieser Eindruck täuscht, dass zahlreiche prominente Wissenschaftler für die Abkehr von der materialistischen Ideologie plädierten und heute wieder immer mehr von ihnen dafür plädieren. Dass Wissenschaftlichkeit keineswegs die materialistische Sichtweise voraussetzt oder zu ihr führt, wird vielleicht am besten durch konkrete Beispiele erfolgreicher Wissenschaftler belegt, die den Materialismus nicht teilen. Eine vollständige Liste solcher Wissenschaftler zu erstellen, ist eine fast unmögliche Aufgabe, da sie sehr lang sein würde. Die Wissenschaftler der „ ersten Stunde “ , also vom Anfang des 17. Jahrhunderts, waren gläubige Menschen, 1 und auch heute noch geben in den Vereinigten Staaten ca. 50 % der Wissenschaftler an, dass sie an „ Gott oder eine höhere Macht “ glauben. 2 Der vielleicht prominenteste unter ihnen ist der ehemalige Leiter des Human Genome Project und gegenwärtige Leiter des amerikanischen National 1 Einer der Urväter der modernen Wissenschaft, Isaak Newton, war nicht nur ein gläubiger Christ, sondern widmete auch viel Zeit und Energie dem Studium der Bibel und insbesondere der Offenbarung des Johannes (Sheldrake 2012, S. 21). 2 Vgl. oben das Kapitel „ Was ist Wissenschaft? Die Debatte um die Abgrenzung: Wissenschaft/ Pseudowissenschaft “ . Institute of Health, Francis Sellers Collins, der sich ganz öffentlich zu seinem christlichen Glauben bekennt und in seinem Buch A Language of God: A Scientist Presents Evidence for Belief für die Versöhnung zwischen Wissenschaft und Glauben plädiert (Collins 2007). Das Buch wurde übrigens zum New- York-Times-Bestseller. Ein weiterer eminenter Wissenschaftler, der sich öffentlich für die Versöhnung zwischen Wissenschaft und dem christlichen Glauben geäußert hat (vgl. Schaefer 2003), ist der Chemiker Prof. Henry F. Schaefer, dessen Vorträge über Wissenschaft und Religion Zuhörer an fast allen größeren Universitäten in den Vereinigten Staaten, wie auch in Peking, Budapest, Kalkutta, Kapstadt, Neu-Delhi, Hongkong, Istanbul, London, Mumbai, Paris, Prag, Sarajevo, Schanghai, Singapur, St. Petersburg, Sydney, Tokio und Zürich fesselten. Im Folgenden möchte ich nur die wichtigsten Repräsentanten von Gegenpositionen zum herrschenden Paradigma anführen. 3 Dies sind zunächst solche, welche ihre Überzeugungen in ihren Schriften kundgetan haben. Die viel zahlreicheren Wissenschaftler, deren Glaube eine Privatsache geblieben ist, müssen hier unerwähnt bleiben. Bereits unter dieser Einschränkung gestaltet sich aber die Auswahl wegen der Menge der Dokumente schwer. Manche nennenswerten Beispiele werden deshalb hier unerwähnt bleiben müssen, und insbesondere habe ich mich schweren Herzens entschlossen, die Schriften der modernen Philosophen (seit Beginn des 20. Jahrhunderts), welche für die Überwindung des Materialismus in der Philosophie und/ oder der Wissenschaft plädieren, unberücksichtigt zu lassen. 4 Es werden ferner keine Bücher der heute so umfangreichen „ esoterischen “ Literatur hinzugezogen. Sie zu berücksichtigen würde den Rahmen des Kapitels eindeutig sprengen und seine Ausrichtung entstellen. Denn es soll hier darum gehen, zu zeigen, dass es sich unter anerkannten Wissenschaftlern zahlreiche finden, die sich gegen den Materialismus öffentlichen aussprechen. Was genau unter „ Wissenschaftler “ zu verstehen ist, ist sicherlich 3 Henry F. Schaefer bietet folgende Liste von Wissenschaftlern der Vergangenheit und der Gegenwart, die zugleich gläubige Christen waren. Jeweils in alphabetischer Reihenfolge: Vergangenheit: Francis Bacon, Robert Boyle, Charles Coulson, Michael Faraday, Lord Kelvin, Johannes Kepler, James Clerk Maxwell, Isaac Newton, Blaise Pascal, William Henry Perkin, Michael Polanyi, Arthur Schawlow, Georger Stokes, J. J. Thomson. Gegenwart: Richard Bube, David Cole, Francis Collins, Robert Griffiths, Chris Isham, Norman March, Donald Page, William Phillips, John Polkinghorne, John Pople, Allan Sandage, Marlan Scully, John Suppe, James Tour (Schaefer 2003, S. 135). 4 Ich mache nur zwei Ausnahmen: Erstens behandle ich Henri Bergsons Ansichten. Als Nobelpreisträger scheint er mir bedeutend genug gewesen zu sein, um ihn hier berücksichtigen zu müssen. Zweitens behandle ich das Buch „ The Self and Its Brain “ , das von einem Philosophen (Karl Popper) und einem Wissenschaftler (John Eccles) geschrieben wurde. Da an dieser Publikation ein bedeutender Wissenschaftler maßgeblich beteiligt war, schien mir die Berücksichtigung dieses Werkes ebenfalls berechtigt zu sein. Weitere Beispiele von Philosophen, die dem Materialismus kritisch gegenüberstehen, finden sich in Majorek 2002. 750 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft strittig. Ich habe mir erlaubt, unter diesem Begriff auch Personen zu berücksichtigen, welche über eine medizinische Ausbildung verfügen und in ihrem Beruf als fachlich kompetent gelten, auch wenn sie nicht selbst Forscher sind. Denn die medizinische Ausbildung beinhaltet heute genügend Elemente der Naturwissenschaft, um davon ausgehen zu können, dass ein Mediziner mit deren Denkweise bestens vertraut ist. Es werden in diesem Kapitel ebenfalls keine Publikationen des sog. Intelligent Design berücksichtigt, obwohl seine Vertreter oft durchaus auf ihrem Felde anerkannte Naturwissenschaftler sind. Dafür zwei Gründe: Erstens ist die Literatur zu Intelligent Design heute bereits so umfangreich, dass eine Berücksichtigung den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde. Zweitens könnte man mir vorwerfen, dass sie eine extreme und isolierte Gruppe repräsentieren, dass sie wissenschaftlich diskreditiert und ihre Argumente nicht ernst zu nehmen seien. Ich bin persönlich zwar nicht dieser Meinung, um aber einer möglichen Kontroverse aus dem Weg zu gehen, erachtete ich es als opportun, diese Literatur nicht zu behandeln. Ich werde im Folgenden chronologisch vorgehen und mit einigen wenigen prägnanten Beispielen von Wissenschaftlern des 19. und des Anfangs des 20. Jahrhunderts anfangen, um mich dann auf die Zeit nach der Mitte des 20. Jahrhunderts und insbesondere auf die aktuellsten Beispiele zu konzentrieren. Der Betrachtung der hier ausgewählten Schriften schicke ich eine „ intellektuelle Biographie “ des Autors/ der Autorin voraus, um seine/ ihre Stellung innerhalb der Wissenschaft seiner/ unserer Zeit zu veranschaulichen. Ich möchte meinen Überblick mit einer Ausnahme beginnen: mit der Betrachtung des Werkes eines Wissenschaftlers, der bereits im 18. Jahrhundert lebte. Es handelt sich um Emanuel Swedenborg. Wir haben gesehen, dass die Hoch-Zeit des Materialismus damals noch nicht gekommen war. Man könnte deshalb meinen, dass es keinen besonderen Mut brauchte, sich gegen ihn auszusprechen, und somit kaum als eine besondere Leistung zählen dürfte. Betrachten wir Swedenborgs Schicksal genauer, erweist sich diese Meinung als verfehlt. Emanuel Swedenborg: Wissenschaftler und Mystiker Biographie Emanuel Swedenborg (1688 - 1772) hat heute - wenn überhaupt - vor allem als Mystiker einen Namen. Er stand also eigentlich im krassen Widerspruch zum Geist seiner Zeit, die allgemein als Epoche der Aufklärung, des Siegeszuges der Vernunft bezeichnet wird. Jede noch so kurze biographische Notiz über Swedenborg weist jedoch darauf hin, dass er nicht nur ein Mystiker, sondern auch Wissenschaftler war, und um seine Stellung in der europäischen Kulturgeschichte gebührend würdigen zu können, ist es unerlässlich, diese Seite seines Schaffens wahrzunehmen. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 751 Swedenborgs Vater, Jesper Svedberg (1653 - 1735), war eine einflussreiche Persönlichkeit in Schweden: Reformator des schwedischen Erziehungssystems, der schwedischen Sprache, der schwedischen Bibel und des schwedischen Kirchengesangbuches. Professor für Theologie an der Universität Uppsala, Rektor der Universität, Domdechant, Bischof von Skara in Zentralschweden, und Seelsorger am königlichen Hof (Haller 2010, S. 6), Autor von zahlreichen Büchern über theologische und säkulare Themen, war er ein zutiefst religiöser Mensch mit einer Vorliebe für den deutschen Pietismus und Distanz zum lutherischen Dogmatismus. Jesper Svedbergs erste Frau und die Mutter von Emanuel Swedenborg, Sarah Behm, stammte aus einer reichen schwedischen Familie, die in der Kupferindustrie tätig war. Als Kind lebte Emanuel in einer stark religiös geprägten Umgebung, die sich durch fast täglichen Austausch über Glauben, Pflicht, Erlösung und Gott auszeichnete. Innerhalb der Familie und mit den Gästen sprach und diskutierte man aber auch über Politik, Wissenschaft, Philosophie und Technik. Die intellektuellen Diskussionen und Debatten im Haus der Familie übten einen starken Einfluss auf Swedenborg aus und trugen zur Entwicklung seiner kritischen Denkfähigkeit und seines forschenden Geistes bei (ebd., S. 7). Nach dem Tode seiner ersten Frau und seines ältesten Sohnes in der Epidemie vom 1696 hat Jesper Svedberg seinen Neffen, den Medizinstudenten Johan Moraeus, eingeladen, bei der Familie zu wohnen und die Aufgabe eines Tutors für Emanuel zu übernehmen. Moraeus regte die intellektuelle Neugierde des jungen Swedenborg an und führte ihm die Kluft zwischen Aristotelismus und kartesianischem Dualismus vor Augen. 1699, mit elf Jahren, belegte er an der Universität Uppsala das Hauptfach Philosophie, das jedoch damals eigentlich von Wissenschaften und Mathematik dominiert war. Unterdessen heiratete sein Vater 1697 wieder, diesmal eine reiche Witwe eines Bergbaumagnaten, Sara Bergia. 1703 wurde er zum Bischof von Skara erkoren und zog dort mit seiner zweiten Frau und zwei jüngsten Töchtern um. Der fünfzehnjährige Emanuel, seine Schwester Hedwig und seine zwei Brüder blieben in Uppsala und zogen zur Familie der ältesten Tochter von Jesper Svedberg, Anna, und ihres Mannes Dr. Erik Benzelius, der zunächst Bibliothekar, dann Theologieprofessor der Universität und schließlich Priester war. Benzelius war passionierter Anhänger des Kartesianismus und organisierte informelle Sitzungen der Fakultät, auf denen die neusten Themen aus Literatur und Wissenschaft diskutiert wurden. Swedenborg erbte manche intellektuellen Eigenschaften seines „ Ziehvaters “ , insbesondere dessen Achtung für die Wissenschaften, und nahm an seiner Korrespondenz mit einigen führenden Intellektuellen der Epoche teil (ebd., S. 8). Swedenborg tauchte so zwar tief in die kartesianische Gedankenwelt ein, behielt jedoch den Glauben seiner Eltern bei. Er behauptete später, dass er bereits in diesem frühen Alter mit den Engeln kommunizierte und währenddessen eine 752 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft „ interne Atmung “ hatte, worunter er einen besonderen mentalen und physischen Zustand verstand (ebd., S. 9). 1710, also zur Zeit der wissenschaftlichen Revolution, reiste er nach London und Oxford. Er besuchte Museen, begegnete dem Astronomen John Flamsteed vom Greenwich-Observatorium, diskutierte mit Edmond Halley, dem Nachfolger von Flamsteed, über Mathematik, Physik, Astronomie und Philosophie und besuchte Newtons Vorträge über Gravitation und Vakuum. Abgesehen vom lebhaften Austausch mit zahlreichen Gelehrten las er intensiv und umfangreich und gab Unsummen für Bücher, Instrumente und Maschinen aus. Nach seinem Abschied aus England reiste er nach Holland, Frankreich, Hannover und Pommern und entwarf Pläne für die Konstruktion eines U-Bootes, eines Luftgewehrs, einer Zugbrücke, einer Kanalschleuse, einer Wasseruhr, einer Mineralienförderanlage, einer Flugmaschine und eines neuen Musikinstruments. Er beschäftigte sich mit dem Linsenschleifen, Mineralogie, Metallurgie, Geologie, Chemie und einem halben Dutzend anderer Wissensgebiete. Oft ging er bei Handwerkern in die Lehre. Neben all diesen praktischen Beschäftigungen hatte er auch noch Zeit, sich auf die englischen Dichter einzulassen. Er las Shakespeare, Edmund Spenser, Ben Jonson, Sir John Beaumont, John Milton, John Dryden und Abraham Cowley (ebd., S. 9f.). Zurück in Schweden beschäftigte sich Swedenborg intensiv mit der Mathematik, Astronomie und Mechanik und pflegte Bekanntschaft mit vielen berühmten Wissenschaftlern seiner Zeit. Ein prominenter unter ihnen war Christopher Polhem (1661 - 1751), der als der „ schwedische Archimedes “ bekannt war und für den Swedenborg tiefe Achtung hatte. Mit Benzelius ’ finanzieller Unterstützung gründete Swedenborg die wissenschaftliche Zeitschrift Daedalus Hyperboreus, die als Forum für Polhems Arbeiten gedacht war, für die aber auch Swedenborg mehrere Beiträge lieferte. Diese Publikation wurde zum Vorläufer der Acta Literaria Sueciae, des Organs der Schwedischen Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in Uppsala, die auf Betreiben 1710 von Benzelius gegründet wurde (ebd., S. 10). Trotz seiner hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen hatte Swedenborg mit 28 immer noch weder eine gesicherte Stelle noch ein gesichertes Einkommen. Ein erhoffter Ruf auf den Lehrstuhl für Mechanik an der Universität Uppsala blieb aus. Stattdessen wurde er 1716 unter königliche Patronage Assessor des Bergwerkskollegiums zu Stockholm, eines Ministeriums, das für die Aufsicht über die Bergwerke und die Metallindustrie zuständig war. Diese zunächst ehrenamtliche Stelle wurde 1724 in eine permanente Berufung umgewandelt und Swedenborg blieb dieser Aufgabe bis 1747 treu (ebd.). 1719 wurde Swedenborgs Familie von Königin Ulrika Eleonora geadelt und erhielt den heute geläufigen Namen. Ein Jahr später starb seine Stiefmutter. Sie hinterließ Emanuel Swedenborg eine bescheidenes Erbe, das ihm 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 753 half, das Leben eines unabhängigen Gelehrten zu führen (seine Stelle als Assessor war damals immer noch ehrenamtlich) und die Publikation seiner zahlreichen Schriften zu finanzieren. 1724 bot ihm die Universität Uppsala im Zuge der wachsenden Anerkennung seiner Schriften die Professur in Mathematik an, die Swedenborg jedoch ablehnte. Er akzeptierte aber die ihm 1724 angebotene Mitgliedschaft in der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften (ebd., S. 14). In seinem Privatleben war Swedenborg wenig erfolgreich. Als seine Gefühle für die Tochter Polhems nicht erwidert wurden, verzichtete er auf ihre Hand und entschloss sich, seine Energie ganz dem intellektuellen Leben zu widmen. Während seiner Zeit als Assessor initiierte Swedenborg zahlreiche Reformen der schwedischen Bergbauindustrie und unterbreitete dem schwedischen Parlament Empfehlungen in den Bereichen Navigation, Metallurgie, Währungsreform, Dezimalsystems, Walzwerk usw. Zur Belagerung von Frederikshall ließ er 1718 sieben Schiffe auf Rollen fünf Stunden lang über Berg und Tal transportieren. Er verfasste ferner zahlreiche Schriften über Algebra, den Wert von Münzen, den Planetenlauf, Ebbe und Flut u. a. 1721 veröffentlichte er die Schrift Chemie und Physik, in der er postulierte, dass alles mathematisch erklärt werden könne und dass alle Stoffe im Grunde Bewegung in geometrischen Formen seien. Das stand im scharfen Kontrast zur Sicht Newtons, der die Welt auf unteilbare Partikel bzw. Korpuskeln reduzierte. Swedenborg meinte, die Schöpfung der Welt erfolge aus einem ersten materiellen Punkt durch einen göttlichen Impuls. Diese Sicht kommt - abgesehen von der Rolle der Gottheit in der Schöpfung - den Theorien der Quantenphysik und des Urknalls erstaunlich nah (ebd., S. 11). 1733 reiste Swedenborg ins Ausland und verbrachte die meiste Zeit in Leipzig, wo 1734 sein drei-bändiges Werk Opera Philosophica et Mineralia veröffentlicht wurde. Der zweite und dritte Band waren das Resultat seiner zahlreichen Reisen durch die Bergbaugebiete Europas, auf denen er Produktionsmethoden, chemische Prozesse, Schmelzöfen und Maschinen studierte. Diese Bände wurde zum Referenzwerk und trugen wesentlich zur Förderung und Verbesserung der Bergbauindustrie in Schweden bei (ebd., S. 15). Der erste Band Prinzipien; Oder die ersten Prinzipien der Naturdinge; ein neuer Versuch der philosophischen Erklärung der Elementarwelt befasste sich dagegen mit allgemeineren Themen wie dem Ursprung des Universums und dem Verhältnis zwischen der organischen und der anorganischen Welt. Swedenborg vertrat die Ansicht, dass die Membranen und Flüssigkeiten im menschlichen Organismus mit geistigen Auren im Universum mitschwingen und dass jeder individuelle Körper mit der Welt in Harmonie stehe und eine Maschine sei, deren vollkommene Weisheit nur mit Gott übereinstimme und den Geist des Menschen zu Gott führe (ebd.). Alles in der stofflichen Welt ist von einer Ursache in der geistigen Welt abhängig, die Natur ist in ihren aufsteigenden Stufen eine Bühne für Gottes Zwecke (ebd., S. 17). 754 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Bald wandte sich Swedenborg der Natur der menschlichen Seele zu. Bereits 1734 veröffentlichte er das Werk Die unendliche und endliche Ursachen der Schöpfung, in dem er das Verhältnis der Seele zum Leib behandelte. Er beließ es dabei nicht bei bloßer Spekulation. Um die Verbindung der Seele mit dem Körper oder des Unendlichen mit der endlichen Welt zu bestimmen, wandte er sich an die besten Anatomen der Zeit. Mit ihrer Hilfe wollte er die physischen Spuren der Seele finden. Die Frucht seiner Untersuchungen war zunächst das 1738 geschriebene Manuskript Drei Berichte über das Großhirn, das erst 1938 veröffentlicht wurde und ein erstaunliches neurophysiologisches Wissen offenbarte. Das Manuskript liefert auch Hinweise, dass Swedenborg den Sitz der Seele mit dem Kortex identifizierte, was die Entdeckungen der Anatomie und Neurowissenschaft des 19. Jahrhunderts antizipierte (ebd., S. 19). Während die führenden Anatomen der Zeit, z. B. Albrecht von Haller, Professor in Tübingen und später in Bern, und J. G. Zinn, Professor für Medizin in Göttingen, die Hirnrinde für eine „ unempfindliche Rinde, mit keinen Wahrnehmungs-, Motor-, oder sonstigen höheren Funktionen “ hielten, (ebd., S. 23), lokalisierte Swedenborg in ihr richtigerweise die motorischen Areale des Gehirns und die intellektuellen Funktionen. Der schwedische Histologe Gustav Retzius (1842 - 1919) bezeichnete Swedenborg daher als einen „ fachkundigen Anatomen und scharfsichtigen Beobachter, aber auch in mancher Hinsicht einen unvoreingenommen, scharfsinnigen und tiefen anatomischen Denker “ (ebd., S. 20). Erstaunlicherweise wurden seine fortschrittlichen Ideen und Beobachtungen jedoch von der Fachwelt nicht zur Kenntnis genommen, bis Max Neuburger, Professor für die Geschichte der Medizin in Wien, sie 1901 vorstellte (ebd., S. 21). Neuburger zufolge waren Swedenborgs Forschungen am Gehirn und Nervensystem bahnbrechend. Er wies nicht nur die Funktion der Hirnrinde in der Steuerung der Muskelfunktionen nach, sondern dokumentierte auch die Funktion der grauen Substanz der Medulla oblongata und des Rückenmarks bei der Regulierung der unwillkürlichen Bewegungen. Dass diese Entdeckungen unerkannt blieben, mag darin begründet sein, dass Swedenborg nie eine Professur für Medizin innehatte. Darüber hinaus zirkulierten manche Manuskripte lediglich in einem kleinen Kreis von Freunden und Anhängern, manche waren auch anonym verfasst (ebd.). 1740 - 41 folgte das Werk Oeconomia regni animalis, was gewöhnlich mit Ökonomie des Tierreichs übersetzt wird. Es handelt aber eigentlich über den menschlichen Körper (der erste Band ist dem Blut und dem Kreislaufsystem, der zweite dem Gehirn, der Hirnrinde und der menschlichen Seele gewidmet) (ebd., S. 19). 1744 erschien Regnum animale (Bände 1 - 2, Haag, Band 3 London 1745), welches sich mit den Organen des Unterleibes einschließlich der Fortpflanzungsorgane und den Organen des Brustkorbs sowie den Sinnesorganen befasst. Zu Swedenborgs anatomischem Gesamtwerk schreibt Haller: „ The sweep of his anatomical and physiological writing is breathtaking in detail and in his 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 755 mastery of the subject “ (ebd., S. 26). Er stellt zugleich heraus, dass Swedenborgs seine wissenschaftlichen Bemühungen stets in den Dienst Gottes gestellt habe. Selbst fest im Glauben an einen personifizierten Gott und an die göttliche Vorsehung verankert, schrieb er so, dass er den Skeptiker veranlasste, die Existenz Gottes anzuerkennen (ebd.). Immer wieder setzte er teleologische Begriffe anstelle der rein mechanistischen Erklärungen und führte er die Entwicklung des Organismus auf die Idee eines nicht materiellen „ Etwas “ zurück (ebd., S. 27). Für Swedenborg hat Wissenschaft sowohl natürliche als auch spirituelle Qualitäten. Gott gilt ihm als ein Kausalfaktor, der zwar nicht gemessen oder berechnet werden kann, aber dem stofflichen Universum immanent ist. Er ist für ihn prinzipiell in jedem Ereignis, also nicht nur in der Schöpfung, aktiv. Alle natürliche Phänomene haben somit letztlich spirituelle Ursachen (ebd., S. 29). Hellsichtigkeit Im Frühjahr 1745, also mit 57 Jahren, erlebte Swedenborg während einer Reise nach England eine tiefe seelische Krise. Er hörte eine männliche Stimme, die ihm befahl, nicht zu viel zu essen. Ihr folgte eine Vision, in der eine Art Dampf aus seinem Leib herausgepresst wurde und sich in winzige Würmer verwandelte, welche vor seinen Augen verbrannten (Horn 1995, S. 7). Swedenborg bekundete, dass sich aufgrund dieses Erlebnisses seine geistigen Sinne geöffnet haben und er sich fortan mit den Engeln und Teufeln unterhalten konnte und durch sie eine neue Sicht auf die Heilige Schrift erhalten habe (Haller ebd., S. 33) Diese Fähigkeit blieb ihm über siebenundzwanzig Jahre lang erhalten (ebd., S. 34). 1747, mit 59 Jahren, kündigte Swedenborg seine Stelle beim Bergwerkskollegiums zu Stockholm und kehrte nach London zurück, wo er anfing, sein theologisches Hauptwerk Arcana Coelestia (Geheimnisse des Himmels) zu schreiben. Das Werk erschien von 1749 bis 1756 in acht Bänden, die am Ende insgesamt 4.500 Seiten umfassten. Swedenborg behandelte in ihm Genesis und Exodus und hielt seine visionäre Erfahrungen vom Himmel und Hölle fest. Dies war der Beginn der theologischen Phase im Leben Swedenborgs, während der er Kommentare über die Bücher des Alten und des Neuen Testaments verfasste und seine Erfahrungen mit der geistigen Welt und die Ergebnisse seiner Unterredungen mit den Geistern dieser Welt festhielt (ebd., S. 40). Haller schreibt dazu: During this period of his life he addressed the nature of heaven and hell, regeneration, correspondences, faith, charity, marriage, the nature of God, the nature of evil, divine providence, and free will. He likewise claimed to pass along messages from the dead received during visits to heaven and, also while travelling in the spiritual realms, to have conversed with the inhabitants of Mercury and Jupiter (who were supposedly disposed to the doctrines of New Church); Mars and Saturn (heretics and apostates); Venus (giants in stature); and the Moon (people small in stature with no written language). Finally he claimed to have travelled 756 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft beyond the solar system via the spiritual realms and conversed with the spirits residing on planets of distant suns. (Ebd., S. 34) Und fügt später hinzu: [H]e [also] adressed such subjects as Christian religion, conjugal love, divine love, divine providence, angelic wisdom, the Apocalypse, human regeneration, the glorification of Jesus Christ, and heaven and hell. (Ebd., S. 40) Swedenborg behauptete auch, dass er von Jesus in den Himmel versetzt wurde und dort die Gelegenheit hatte, mit Verwandten und Freunden, Königen und Herzogen, Gelehrten, aber auch mit Abraham, Isaak, Jakob, Esau, Rebekka, Moses, Aaron und mit den Jüngern Christi zu sprechen (ebd., S. 38). Ein erstes belegtes Beispiel seiner seherischen Fähigkeit ereignete sich 1759, als Swedenborg mit einigen Freunden in Göteborg beim Mittagessen saß. Plötzlich hatte er eine Vision, dass im ca. 380 km entfernten Stockholm ein Feuer ausgebrochen sei, das auch Swedenborgs eigenes Haus bedrohte. Er berichtete über die Ausbreitung des Feuers, Einzelheiten über Schäden und wann und wo es gelöscht wurde. Am nächsten Tag wurden alle diesen Einzelheiten durch Boten aus Stockholm bestätigt (ebd., S. 39). Ein zweites Ereignis dieser Art fand 1761 statt und betraf die Witwe des Botschafters der Niederlande in Schweden. Sie erhielt eine Rechnung, die ihr Ehemann vor seinem Tod angeblich nicht mehr bezahlen konnte. Swedenborg sollte daraufhin den Geist des Verstorbenen kontaktiert haben, der ihm mitteilte, dass sich die Quittung für die bezahlte Rechnung hinter einer bestimmten Schublade im Aktenschrank des Botschafters befinde, wo sie später tatsächlich gefunden wurde (ebd.). Ein drittes Ereignis fand ebenfalls 1761 statt. Königin Louisa Ulrika von Schweden bat Swedenborg darum, den Geist ihres 1758 verstorbenen jüngeren Bruders Augustus Wilhelm zu kontaktieren. Während einer Privataudienz vermittelte ihr Swedenborg eine Botschaft von ihrem verstorbenen Bruder, die ein Geheimnis betraf, das, so die Königin, nur ihr und ihrem Bruder bekannt war (ebd.). Einige Beispiele Um einen Einblick in die Themenvielfalt und den Stil von Swedenborgs reichhaltigem Œ uvre zu gewinnen, betrachten wir einige Passagen aus dem wohl populärsten Werk Swedenborgs, des 1758 in London in lateinischer Sprache veröffentlichten Buches Himmel und Hölle, das seit seiner ersten Veröffentlichung einige Hundert Auflagen in verschiedenen Sprachen erlebte (Horn 1992, S. 7). Das Buch gliedert sich in drei Teile: „ Der Himmel “ , „ Die Geisterwelt “ und „ Die Hölle “ und gibt Swedenborgs Erlebnisse in diesen Regionen wieder wie auch seine Gespräche mit den Engeln (vgl. Swedenborg 1995). Horn, ein Kenner von Swedenborgs Nachlass und auch sein moderner Übersetzer, betont, dass Swedenborg ein Seher und kein Spiritist war, d. h. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 757 dass er sich bewusst war, dass die Gegenstände seiner Schauungen gegeben waren und nicht von ihm erforscht wurden (Horn ebd., S. 13). Vielleicht ist Swedenborg deshalb bemüht, seine Botschaft so weit als nur irgend möglich durch die biblische Offenbarung abzustützen (ebd., S. 14). Swedenborg war sich auch bewusst, dass die Erscheinungen der geistigen Welt, so wie sie an sich sind, in der gewöhnlichen Sprache lediglich approximativ, durch Bilder, die dem irdischen Erfahrungsbereich des Menschen entstammen, wiedergegeben werden können (ebd.): „ Wer den Frieden des Himmels nicht selbst erlebt hat, kann den Frieden nicht begreifen, in dem sich die Engel befinden “ (Swedenborg 1992, S. 183). „ Der Herr ist der Gott des Himmels “ Bereits der Inhaltsverzeichnis von Himmel und Hölle lässt aufhorchen. Einige Überschriften: „ Der Herr ist der Gott des Himmels “ ; „ Das Göttliche des Herrn bildet den Himmel “ ; „ Dieses Göttliche ist die Liebe zu Ihm und zum Nächsten “ ; „ Der Himmel besteht aus zwei Reichen “ ; „ Es gibt drei Himmel “ ; „ Die Himmel bestehen aus unzähligen Gesellschaften “ ; „ Jede Gesellschaft und jeder Einzelne ist ein kleinerer Himmel “ usw. Was hier vorliegt, ist der Versuch einer „ empirischen “ Theologie, einer detaillierten Beschreibung der geistigen Welten. Dabei zeigt sich bald, dass diese Theologie höchst unorthodoxe Züge aufweist. Betrachten wir den Anfang des Abschnitts „ Der Herr ist der Gott des Himmels “ : Zuerst muss man wissen, wer der Gott des Himmels ist, weil davon alles übrige abhängt. Im ganzen Himmel wird außer dem Herrn niemand als Gott des Himmels anerkannt. Man sagt dort, wie er selbst gelehrt hat, dass er einer sei mit dem Vater, und dass wer ihn sieht, den Vater sehe, dass der Vater in ihm und er im Vater sei; das alles Heilige aus ihm hervorgehe (Joh. 10, 30.38; 14,10 f; 16, 13 - 15). Ich sprach herüber öfters mit den Engeln, und sie sagten beharrlich, man könne im Himmel das Göttliche nicht in drei (Personen) unterscheiden, weil man dort weiß und wahrnimmt, dass das Göttliche eines ist, und zwar im Herrn. Die Engel sagten auch, dass die Mitglieder der Kirche, die von der Welt herkommen, nicht in den Himmel aufgenommen werden können, wenn sich bei ihnen die Idee von drei göttlichen Personen findet, weil ihr Denken von einem zum anderen hin und her irrt und es im Himmel nicht erlaubt ist, an drei zu denken und dabei doch nur einen zu nennen. (Swedenborg 1992, S. 17) Bereits diese kurze Passage bietet eine gute Illustration der obigen Schilderung von Swedenborgs Vorgehensweise. Was er schreibt, hat er entweder selbst gesehen oder es wurde ihm von den Engeln mitgeteilt. Er stützt sich auf die Bibel, um seinen Offenbarungen den Anschein der Orthodoxie zu verleihen, was er aber im Konkreten sagt, weicht von einer solche Orthodoxie weit ab, ist neuartig und höchst kontrovers. 758 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft „ Der Himmel im Ganzen stellt einen einzigen Menschen dar “ Betrachten wir eine andere Passage: „ Der Himmel im Ganzen stellt einen einzigen Menschen dar “ : Ein in der Welt noch unbekanntes Geheimnis besteht darin, dass der Himmel in seinem Gesamtumfang einen einzigen Menschen darstellt. In den Himmeln ist das hingegen eine ganz bekannte Tatsache. [. . .] Weil [die Engel] wissen, dass alle Himmel mit ihren Gesellschaften [gemeint sind die Gesellschaften der Engel, die „ himmlischen Scharen “ ] einen einzigen Menschen darstellen, so nennen sie den Himmel auch den „ größten “ oder „ göttlichen Menschen “ - den göttlichen darum, weil das Göttliche des Herrn den Himmel ausmacht [. . .]. (Ebd., S. 46) Im weiteren Verlauf versucht Swedenborg diesen verblüffenden Gedanken durch den Hinweis verständlicher zu machen, dass das Essentielle des Menschen nicht in seinem äußeren Körper besteht, sondern in der Tatsache, dass er „ das Wahre einsehen und das Gute wollen kann “ (ebd., S. 47). Der irdische Leib ist lediglich dazu gebildet, dem Willen und Verstand in der Welt zu dienen und die Natur in Harmonie mit ihnen umzugestalten (ebd.). Ferner erklärt er, dass die Engel den Himmel nicht als Ganzes in der Gestalt eines Menschen sehen, denn der ganze Himmel falle nicht in den Gesichtskreis eines Engels, sie erblicken jedoch die „ Gesellschaften “ von Engeln, die aus vielen Tausenden von Engeln bestehen (ebd., S. 47f.). Der Himmel stellt einen Menschen dar und ist wie dieser in „ Glieder und Teile “ unterschieden: Die Engel wissen auch, zu welchem Glied die eine oder andere Gesellschaft gehört. So sagen sie etwa, diese Gesellschaft befinde sich in einem Teil oder in einer Gegend des Kopfes, jene in einem Glied oder in der Gegend der Brust, eine andere wieder in der Gegend der Lenden, und so fort. (Ebd., S. 49) Der oberste oder dritte Himmel bilde das Haupt bis zum Hals, der mittlere oder zweite Himmel die Brust bis zu den Lenden und Knien, der unterste oder der erste Himmel die Beine bis zu den Fußsohlen und die Arme bis zu den Fingern (ebd.). Der Abschnitt vermittelt somit ein völlig neuartiges Bild des Himmels. Dabei beansprucht Swedenborg, ein höheres Wissen als die Engel zu besitzen, deren Gesichtskreis beschränkt sei. „ Die Macht der Engel des Himmels “ Im Abschnitt „ Die Macht der Engel “ (ebd., S. 143 - 147) erfahren wir u. a., dass die Engel eine große Macht in dem Bereich ausüben, den wir gewöhnlich als „ natürlich “ bezeichnen. Swedenborg erachtet es als selbstverständlich, dass alle - heute würde man ergänzen: unter Kontrolle des Bewusstseins stehenden - Regungen unseres Körpers durch den Verstand und den Willen des Menschen, also letztlich durch den geistigen Menschen gelenkt werden. Er formuliert dann aber eine völlig überraschende These: „ Wille und Verstand des Menschen werden vom Herrn durch Engel und Geister regiert, und damit 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 759 auch alle Teile des Körpers, da diese von jenen abhängen “ (ebd., S. 143). Man kann, behauptet er, keinen Schritt tun ohne den Einfluss des Himmels: Dies wurde mir durch vielfache Erfahrung deutlich. Es wurde den Engeln gestattet, meine Schritte, meine Handlungen, meine Zunge und Sprache nach ihrem Willen zu lenken, und zwar durch einen Einfluss in mein Wollen und Denken. So machte ich die Erfahrung, dass ich aus mir selbst nichts vermag. Nachher sagen die Engel, jeder Mensch werde so regiert und könne dies auch aus der Lehre der Kirche und aus dem Wort wissen. (Ebd., S. 143f.) In der geistigen Welt, lesen wir weiter, ist die Macht der Engel so groß, dass sie unser Vorstellungsvermögen übersteigt. Swedenborg schreibt, er habe gesehen, wie Berge, die von Bösen besetzt waren, umgestürzt und aufgehoben wurden, wobei sie wie durch ein Erdbeben zerbersten. Er habe auch gesehen, wie mehrere hunderttausend böse Geister von den Engeln zerstreut und in die Hölle geworfen wurden. „ Nichts vermag die Menge wider die Engel, nichts alle Künste, Schlauheit und Aufruhr. Sie sehen alles und schlagen es augenblicklich nieder “ (ebd., S. 144). Swedenborg betont jedoch, dass die Macht, die den Engeln zukommt, nicht aus ihnen selbst stammt, sondern ihnen vom Herrn verliehen wird (ebd., S. 145), sie besitzen die Macht nur deshalb, weil sie die „ Aufnahmegefäße “ des Herrn sind (ebd., S. 146). Schließlich fügt er noch hinzu, dass das „ Falsche aus dem Bösen “ keine Macht hat, weil alle Macht dem Guten (dem Herrn und seinen Engeln) zukommt: „ Da in der Hölle alle Einwohner in irgendeinem Falschen aus dem Bösen sind, so habe sie keine Macht gegen das Wahre und Gute “ (ebd.). „ Die Tätigkeit der Engel im Himmel “ Machen wir einen gewaltigen Sprung und gehen zu einer der letzten Passage des ersten Teils des Werkes über: „ Die Tätigkeit der Engel im Himmel “ . Nach der gängigen Vorstellung der Engel in unserer Kultur sind sie die Boten Gottes, sie übermitteln Nachrichten von Gott an die Menschen (z. B. Gabriel an Maria [Luk. 1: 26 - 38]), und sie singen Lobeshymnen auf Gott (z. B. Luk. 2: 13 - 14; Offenbarung 19: 1 - 8), weshalb sie z. B. Fra Angelico gerne mit verschiedenen musikalischen Instrumenten abbildet. Was hat uns Swedenborg über sie zu sagen? Die Tätigkeiten in den Himmeln lassen sich weder aufzählen noch im einzelnen beschreiben, vielmehr kann darüber nur etwas Allgemeines gesagt werden, sind sie doch unzählig und auch je nach den Aufgaben der einzelnen Gesellschaften verschieden. Jede Gesellschaft hat nämlich ihre besondere Aufgabe. (Ebd., S. 269) Bereits diese einführenden Worte machen klar, wie weit Swedenborgs Vision von der üblichen Vorstellung abweicht. Im weiteren Verlauf seiner Schilderung gibt er konkrete Beispiele für die Tätigkeiten der verschiedenen Gesellschaften: Einige widmen sich der Pflege kleiner Kinder, andere nehmen sich der Heranwachsenden an, wieder andere unterrichten Knaben und 760 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Mädchen, „ die aufgrund ihrer irdischen Erziehung gutartig sind und in den Himmel kommen “ (ebd., S. 271). Es gibt Gesellschaften, welche sich der Aufgabe widmen, „ die einfältig Guten aus der Christenheit zu lehren und auf den Weg zum Himmel zu leiten “ , andere wiederum verrichten ähnliche Aufgabe unter den „ heidnischen Völkern “ . Es gibt sogar Gesellschaften, die den Bewohnern der Hölle helfen, damit sie nicht übermäßig gepeinigt werden, und solche, die denen beistehen, welche von den Toten auferweckt werden (ebd. 271). Daneben gibt es zahllose andere „ Ämter und Beschäftigungen “ (ebd., S. 273). Swedenborg zeichnet also ein recht ungewöhnliches Bild des Himmels: Er ist kein Ort der ewigen Ruhe, einer passiven (um nicht zu sagen faulen) Glückseligkeit, sondern der Ort einer permanenten Tätigkeit. Diese Tätigkeit ist eine Quelle der Freude, ja Seligkeit ( „ Der Himmel ist dermaßen mit Freuden angefüllt, dass er nur aus Seligkeit und Freude besteht “ (ebd., S. 276). Im nächsten Abschnitt ( „ Die himmlische Freude und Glückseligkeit “ ) konstatiert Swedenborg, dass alles Angenehme einer bestimmten Liebe entspringe, woraus folgt, dass „ wie die Liebe, so die Lust ist “ (ebd., S. 275). Aus Swedenborgs Schilderung lässt sich schließen, dass die Engel ihre Tätigkeit(en) lieben, weswegen sie aus der Ausübung dieser Tätigkeit(en) Seligkeit schöpfen. Diese Vorstellung erinnert stark an Aristoteles ’ Doktrin der Glückseligkeit als „ Tätigkeit der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit “ (Aristoteles 1983, 1098a16f.). Die drei Zustände nach dem Tode Schließlich möchte ich noch kurz auf Swedenborgs Ausführungen über die Phasen eingehen, die der Mensch nach dem Tod durchläuft, ehe er entweder in den Himmel oder in die Hölle kommt (Swedenborg 1992, S. 360). Unmittelbar nach dem Tode tritt ein Zustand ein, in welchem der Mensch noch stark seinem Äußerlichen verhaftet ist ( „ Der erste Zustand des Menschen nach dem Tode “ , ebd., S. 360 - 365). Dieser Zustand ähnelt stark seinem Zustand während des Lebens: Sein Gesicht, seine Ausdrucks- und Denkweise, sogar sein „ sittliches und bürgerliches Leben “ bleiben praktisch unverändert. Sein irdisches Lebens setzt sich also im nachtodlichen fort, der Tod ist bloß ein Übergang (ebd., S. 361). Weil der Mensch wie zu Lebzeiten aussieht, erkennen ihn auch seine verstorbenen Freunde und alle, die er in der Welt gekannt hatte, und es entwickelt sich ein lebhafter Austausch mit ihnen (ebd., S. 362). Dieser erste Zustand dauert bei einigen Menschen mehrere Tage, bei anderen mehrere Monate und bei noch anderen sogar in Jahr lang (ebd., S. 364). Ihm folgt ein Zustand, in dem sich die inneren Eigenschaften des Menschen offenbaren, die während des irdischen Lebens verborgen sein können (ebd., S. 365 - 377): „ In diesem Zustand denkt der Geist aus seinem eigentlichen Willen, folglich aus seiner eigentlichen Neigung bzw. seiner eigentlichen Liebe “ (ebd., S. 368). Der Mensch zeigt sich also so, wie er eigentlich ist: 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 761 „ Sobald der Geist in den Zustand gelangt, in dem sich seine inneren Bereiche befinden, liegt offen zutage, was für ein Mensch er innerlich auf Erden war “ (ebd., S. 369). „ In diesem zweiten Zustand erscheinen die Geister ganz so, wie sie innerlich auf Erden waren, und es kommt auch an den Tag, was sie im Verborgenen getan und gesprochen hatten “ (ebd., S. 371). Das heißt selbstverständlich, dass die wahrhaft gute Menschen nach dem Guten nach dem Göttlichen trachten: „ Nun erkennen sie den Herrn an und verehren ihn in Freiheit, denn die Freiheit ist mit der tieferen Neigung verbunden “ (ebd., S. 370), die „ bösen “ hingegen offenbaren ihr wahres Gesicht, weil die Hemmungen des bürgerlichen Anstandes weggefallen sind: „ Aufgrund ihrer bösen Begierden gehen sie plötzlich zu Schandtaten über, zur Geringschätzung anderer, zu Verhöhnungen und Lästerungen, zu Hassausbrüchen, Racheakten und zum Ränkeschmieden “ (ebd., S. 370f.). Die Offenbarung der inneren Eigenschaften des Menschen hat zur Folge, dass sich in diesem zweiten Zustand die guten von den bösen Geister trennen, mit welchen sie im ersten Zustand noch beisammen waren (ebd., S. 376). Das heißt aber auch, dass die Verstorbenen zu den geistigen Gesellschaften geführt werden, zu welchen sie innerlich gehören: „ Jeder kommt zu der Gesellschaft, zu der sein Geist bereits in der Welt gehört hatte. In der Tat ist der Geist jedes Menschen mit irgendeiner höllischen oder himmlischen Gesellschaft verbunden, der böse mit einer höllischen, der gute mit einer himmlischen “ (ebd., S. 375). Den dritten Zustand (ebd., S. 377 - 385) durchleben nur für diejenigen, welche zum Eintritt in den Himmel vorgesehen sind (ebd., S. 377). „ Die Guten “ machen in diesem Zustand eine Art Unterricht durch, der sie für den Himmel vorbereitet, denn „ niemand kann ohne Unterricht wissen, worin das geistig Gute und Wahre und dessen Gegensatz, das Böse und Falsche, besteht (ebd., S. 377). Swedenborg unterscheidet an dieser Stelle scharf zwischen den „ bürgerlichen “ Begriffen von gut/ schlecht und Gerechtigkeit/ Ungerechtigkeit sowie dem, was diese Begriffe auf „ geistiger Ebene “ besagen. Letzteres kann man nur im Himmel erfahren, selbst die Lehre der Kirche ist nur eine Annäherung (ebd., S. 378). Der Unterricht wird durch Engel verschiedener Gesellschaften erteilt (ebd., S. 379), die Teilnehmer an der Unterweisung wohnen jedoch nicht am Ort des Unterrichts, sondern getrennt voneinander im Bereich der himmlischen Gesellschaft, zu der er seinen inneren Eigenschaften nach schließlich gelangen soll (ebd., S. 380). Die Unterweisung ist von kurzer Dauer, weil diese Menschen bereits durch ihr irdisches Leben gut für sie vorbereitet sind (ebd., S. 384). Danach empfangen sie Engelgewänder, die meist glänzend weiß wie feine Leinwand aussehen. Nun werden sie auf den Weg gebracht, der aufwärts zum Himmel führt; dort werden sie Wächter-Engeln übergeben, darauf von anderen Engeln übernommen und in Gesellschaften mit allen ihren Seligkeiten eingeführt. Nachher wird dann ein jeder vom Herrn in seine eigene Gesellschaft gebracht [. . .]. Kommen sie dann zu ihrer Gesellschaft, so werden ihre mehr im Inneren liegenden Bereiche aufgeschlossen, und weil diese mit den entsprechenden Bereichen jener Engel 762 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft übereinstimmen, werden sie auf der Stelle anerkannt und mit Freuden aufgenommen. (Ebd., S. 384) Reaktionen auf Swedenborg Typisch für die Reaktionen der Zeitgenossen war die Stellungnahme Immanuel Kants. 1766 veröffentlichte Kant unter dem Titel Träume eines Geistessehers seine Einschätzung von Swedenborgs Geheimnissen des Himmels. Kant behandelt Swedenborgs Werk mit Verachtung und Spott und stellt fest, dass es ihm an jeglicher Vernunft mangele. Ernst Benz meinte 2002, dass in dieser Haltung Kant repräsentativ für die „ general mood and attitude of the rationalist generation of German philosophers “ war, die Swedenborg als „ an arch fanatic and a fool “ betrachteten (Haller 2010, S. 51). Manche seiner Zeitgenossen und insbesondere Vertreter späterer Generationen gingen noch weiter und hielten Swedenborgs „ spiritualistische “ Phase schlicht für den Ausdruck einer Geisteskrankheit. Bereits 1744 (also bevor diese Phase von Swedenborgs Leben angefangen hat) berichtet John Paul Brockmer, in dessen Haus in London Swedenborg zeitweise wohnte, Swedenborg sei, von seinem Mund schäumend, nackt auf die Straße hinausgelaufen und habe sich als Messias bezeichnet (Haller 2010, S. 36). Später behauptete der Pionier der britischen Psychiatrie, Henry Maudsley, Swedenborg habe in seinem mittleren Leben eine „ messianische Psychose “ entwickelt, möglicherweise infolge von Epilepsie (ebd.). Auch andere Forscher versuchten Swedenborgs abrupten Wechsel von Wissenschaft zum Mystizismus als ein Resultat einer Schläfenlappen-Epilepsie zu erklären, deren Symptome wie Déjà-vu, oder Jamais-vu, visuelle oder akustische Halluzinationen, intensive Gefühle der Furcht oder Euphorie und unbeherrschbare Bewegungen seien. Dieser Diagnose lagen Swedenborgs eigene Schilderungen seines Zustands zugrunde, wonach der Kontakt mit der geistigen Welt von Zuckungen oder eine Art Schauder am ganzen Leib, gefolgt von einem tiefen Schlaf, begleitet war (ebd., S. 37). Heller weist jedoch darauf hin, dass sich Swedenborgs Beschreibung in einigen wichtigen Punkten von den Symptomen der Schläfenlappen-Epilepsie unterscheidet. Zum einen dauern derartige epileptische Anfälle in der Regel von einigen Sekunden bis höchstens einige Minuten. Swedenborgs Visionen hingegen dauerten manchmal viele Stunden lang. Ferner wird Epilepsie dieser Art oft von Gedächtnisstörungen begleitet, insbesondere wenn die Betroffene länger als fünf Jahre an diese Störung leidet. Swedenborg erlebte solche Störungen aber nicht. Drittens haben Grand-Mal-Anfälle oft verhältnismäßig milde Anfälle als Vorboten. Solche hat Swedenborg nie gehabt. Schließlich geht die Erkrankung an Schläfenlappen-Epilepsie selten mit hoher Produktivität einher, wie dies bei Swedenborgs offensichtlich der Fall war: Auf seine Geheimnisse des Himmels folgten fast zwanzig andere Schriften, u. a. Göttliche Liebe und Weisheit (1763), Göttliche Vorsehung (1764), 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 763 Apokalypse geoffenbart (1788), Liebe in der Ehe (1768) und Das wahre Christentum (1771). Schließlich ist der Ausbruch der Schizophrenie im fortgeschrittenen Alter Swedenborgs (er war bereits 57) so gut wie ausgeschlossen. Die neurologischen Erkrankungen dieser Lebensphase sind bekanntlich Demenz, Alzheimer und Parkinson, und keine von ihnen geht mit einem lebhaften Innenleben und reichen Visionen einher. Sollten Swedenborgs Visionen also keiner Erkrankung zuzuschreiben sein, bleibt die Aufgabe, sie inhaltlich zu beurteilen: Stimmt es, was er erzählt, oder sind sie bloße Hirngespinste? Steht man auf der „ soliden “ Grundlage des wissenschaftlichen Materialismus, wird man sie selbstverständlich als „ Träume “ (Kant) aburteilen und damit erledigen. Sie können keiner Wirklichkeit entsprechen, weil es keine geistige Welt gibt, so die weit verbreitete Meinung. Swedenborg war aber vor seiner seelischen Verwandlung nachweislich kein Träumer und die Visionen kamen ihm in wachem Zustand. Überdies decken sie sich einigermaßen - wenn auch sicher nicht eins zu eins - mit den althergebrachten Vorstellungen über die übersinnliche Welt., wie sie etwa in den Mystikern des Mittelalters aufflackerten. Ist es möglich, dass ihnen eine Wirklichkeit entspricht? Und dass sich diese Wirklichkeit in Swedenborg, auf dem Grund einer naturwissenschaftlich gebildeten Seele, neu und mächtig offenbarte? Wir werden auf diese Fragen zurückkommen. Die Entwicklung des Swedenborgianismus Neben dieser kritischen Rezeption gab aber durchaus auch positive Reaktionen auf Swedenborgs mystische Schriften. Gerne wurden sie u. a. von Hegel, Schelling, Johann Heinrich Jung-Stilling (1740 - 1817), Johann Kaspar Lavater (1741 - 1801), und Franz von Baader (1765 - 1841) gelesen. Dazu Benz: Having been condemned by German Scholastic philosophy. Swedenborg became the teacher of the “ Outsiders ” , who became the creators of the philosophy, poetry, and religion of the next one hundred years. (Zitiert in Haller ebd., S. 52) In Deutschland übte Swedenborg einen besonders starken Einfluss auf den Tübinger Pietisten und Begründer der Theosophie Friedrich Christoph Oetinger (1702 - 1782) aus (ebd., S. 53). Ein anderer deutscher Bewunderer von Swedenborg, Johann Friedrich Immanuel Tafel (1796 - 1863), erhielt vom König von Württemberg die Erlaubnis, Übersetzungen von Swedenborgs Werken (aus dem Originallatein) zu veröffentlichen (ebd., S. 53f.). Dank seiner Anstrengungen fand Swedenborgs Ideen Zustimmung unter vielen deutschen Gelehrten. Er wurde aber auch gern in den populären Medien behandelt, was seiner Reputation in „ seriösen “ Kreisen wiederum schadete (ebd., S. 54). In Swedenborgs Heimatland bekannte sich manche sozial und finanziell hochstehende Persönlichkeit der lutherischen Kirche und des Adels offen zu seinen Lehren und sorgten dafür, dass seine Schriften in viele Sprachen übersetzt wurden. 1784 und 1787 entstanden sogar Zeitschriften, 764 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft welche der Verbreitung seiner Ideen gewidmet waren (ebd., S. 56). In England gründete bereits kurz nach Swedenborgs Tod Robert Hindmarsh eine Gruppe, die sich regelmäßig traf, um seine Ideen zu diskutieren und zu entwickeln. Der Amerikaner James Glen, der mit dieser Gruppe verbunden war, gründete 1784 einen Lesekreis in Philadelphia (ebd., S. 56). 1810 wurde von einigen Mitgliedern der anglikanischen Kirche in England die Swedenborg Society gegründet (ebd., S. 57). Im katholischen Frankreich entwickelte sich der Swedenborgianismus zunächst langsam, seine ersten Anhänger rekrutierten sich aus den Freimaurerlogen in Avignon und Paris (ebd., S. 54). Obwohl Swedenborg eigentlich nie eine Kirche gründen, sondern lediglich zur Verbreitung religiöser Frömmigkeit und zur Moralisierung der Menschen beitragen wollte (ebd.), wurde 1817 in Amerika die Neue Kirche gegründet, die sich auf die Ansichten und Doktrinen Swedenborgs stützte (ebd., S. 60). Swedenborgs Anhänger waren unter den ersten Gegnern des Sklavenhandels, einige von ihnen entließen ihre Sklaven in die Freiheit (ebd., S. 59). Den Gipfel des Einflusses erreichten Swedenborgs Ideen um 1850, als Ralph Waldo Emerson eines der Kapitel seines äußerst einflussreichen Buches Representative Men Swedenborg ( „ dem Mystiker “ ) widmete. Anfang des 20. Jahrhunderts war jedoch die Vitalität des Swedenborgianismus bereits weitgehend gebrochen (ebd., S. 63) und die Neue Kirche hatte ihre Ausstrahlung verloren. Ihre ursprünglich tief spirituelle Vision der Zukunft der Menschheit wurde in eine breite Palette von irdischen Anliegen säkularisiert: sozialer und moralischer Fortschritt, Nächstenliebe, Kommunitarismus und Dienst an der Menschheit (ebd., S. 63). Allerdings besteht die Neue Kirche bis heute, in den Vereinigten Staaten ebenso wie in zahlreichen anderen Ländern der Welt. Es wird geschätzt, dass ihr 25.000 bis 30.000 Gläubige angehören. 5 Würdigung Swedenborg stellt uns vor ein Rätsel. Was er in seiner „ mystischen “ Phase behauptet, tönt für unsere modernen Ohren wie wilde Phantasien eines geistig Verwirrten. Auf der anderen Seite ist Swedenborg eine Geisteskrankheit oder Epilepsie nur schwer nachzuweisen. Wenn er aber nicht krank war, muss man seine Offenbarungen für Wirklichkeiten halten? Oder offenbaren sie teilweise Wirklichkeit? Ich möchte mir keine abschließende Antwort erlauben (wir werden jedoch später auf diese Frage zurückkommen). Wichtig scheint mir an diesem Punkt festzuhalten, dass wir im Falle Swedenborgs mit einem kritischen, experimentell arbeitenden Wissenschaftler zu tun haben, der behauptete, es gebe eine geistige Welt, in die er Einsicht habe und mit der er kommunizieren könne. 5 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ The_New_Church (heruntergeladen am 5. 11. 2014). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 765 Alfred Russell Wallace: Evolution mit Gott Intellektuelle Biographie Alfred Russell Wallace (1823 - 1913) gehörte zu den angesehensten Wissenschaftlern seiner Zeit (Shermer 2002, S. 14). Von seinen 508 wissenschaftlichen Artikeln wurden 191 (38 %) in Nature veröffentlicht, in einer der prestigeträchtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften (ebd., S. 15), außerdem veröffentlichte er in allen damals wichtigen Zeitschriften. Insgesamt publizierte er neben 22 Büchern 747 Artikel, Essays, Buchbesprechungen, Kommentare, Interviews und Briefe (ebd., S. 17) zu einer atemberaubenden Vielfalt von Themen. Er schrieb über antike Geschichte, Archäologie, Astronomie, Botanik, Entomologie, Ethnographie und Ethnologie, Evolutionsethik, Evolutionstheorie, Exobiologie, Geschichte der Wissenschaft und des Evolutionsgedankens, Geographie und Geologie, Linguistik, Paläontologie, Phrenologie, Primatologie, Pluralität der Welten, Spiritualismus, Taxonomie, Tierverhalten, Ursprung des Lebens und Zoologie sowie zu gesellschaftlichen Themen (ebd., S. 15). In seinen letzten Jahren und nach seinem Tode wurde er in der Presse gefeiert als „ England ’ s greatest living naturalist “ , „ [one of the two] most important and significant figures of the nineteenth century “ , „ a mid-Victorian giant “ , „ the Grand Old Man of Science “ oder „ the last of the giants of English nineteenth-century science “ (ebd., S. 13f.). Vor allem als Mitentdecker der Evolutionstheorie wird er auch heute noch geschätzt. Bereits 1855, also vier Jahre vor dem Erscheinen von Darwins epochalem Buch On the Origine of Species, veröffentlichte Wallace seinen ersten Aufsatz, der auf die Evolution der Arten hinwies ( „ On the Law which has Regulated the Introduction of New Species “ , erschienen in Annals and Magazine of Natural History im September 1855). 1858 schrieb er einen zweiten Aufsatz, der das Thema weiterentwickelte ( „ On the Tendency of Varieties to Depart Indefinitely From the Original Type “ ), und schickte ihn an Darwin. Obschon dieser Aufsatz den Begriff der natürlichen Selektion nicht explizit erwähnte, schilderte er den Mechanismus der Differenzierung der Arten unter dem Druck der Umgebung, was genau den Ideen entsprach, an welchen Darwin bereits seit zwanzig Jahren forschte, die er aber bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht hatte. Darwin war von der Lektüre verblüfft. In einem Brief an Charles Lyell schrieb er: I never saw a more striking coincidence. If Wallace had my M. S. sketch written out in 1842 he could not have made a better short extract! Even his terms now stand as Heads of my Chapter. (Zitiert in Shermer, ebd., S. 118) Die Ähnlichkeit von Wallace ’ s Ausführungen mit seiner eigenen Theorie veranlasste Darwin dazu, seine Ideen früher als geplant publik zu machen, um seine eigene intellektuelle Priorität sicherzustellen (Shermer ebd., S. 118). Wallace ’ s Aufsatz wurde dann zusammen mit einigen früheren Schriften Darwins zum Thema Evolution am 1. Juli 1858 in der Linnean Society of 766 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft London vorgestellt (ebd., S. 119). Selbst in seiner Autobiographie, die etwa zwanzig Jahre nach diesen Ereignissen verfasst wurde, schrieb Darwin, dass Wallace ’ s Essay „ contained exactly the same theory as mine “ (zitiert in Shermer ebd., S. 119). Ansichten In Anbetracht seines einwandfreien wissenschaftlichen Leumunds ist bemerkenswert, dass Wallace verhältnismäßig früh ein lebhaftes Interesse für spirituelle Phänomene zeigte. Michael Shermer, der sich mit dem Leben des Forschers eingehend beschäftigt hat, stellt deshalb verdutzt die Frage: „ How does an eminent scientist, through a series of investigations (as opposed to compartmetalized religious or spiritual beliefs) come to accept suprascientific or supernatural ideas? “ (ebd., S. 175). Wallace gibt eine interessante Antwort. In einer autobiographischen Passage aus seinem Buch Miracles and Modern Spiritualism (1871) schreibt er: From the age of fourteen I lived with an elder brother, of advanced liberal and philosophical opinions, and I soon lost (and have never since regained) all capacity of being affected in my judgements, either by clerical influence or religious prejudice. Up to the time when I first became acquainted with the facts of spiritualism, I was confirmed philosophical sceptic, rejoicing in the works of Voltaire, Strauss, and Carl Vogt, and an ardent admirer (as I am still) of Herbert Spencer. I was so thorough and confirmed a materialist that I could not at that time find a place in my mind for the conception of spiritual existence, or for any other agencies in the universe than matter and force. Facts, however, are stubborn things. My curiosity was at first excited by some slight but inexplicable phenomena occurring in a friend ’ s family, and my desire to knowledge and love of truth forced me to continue the inquiry. The facts became more and more assured, more and more varied, more and more removed from anything that modern science taught, or modern philosophy speculated on. The facts beat me. (Zitiert in Shermer ebd., S. 199) Der Leser wird wissen wollen, welche Fakten es sind, die den ernsten Wissenschaftler und überzeugten Materialisten zur grundlegenden Revision seiner Überzeugungen geführt haben. Wallace besuchte 1865 zum ersten Mal eine spiritistische Séance (ebd., S. 183) und im November 1866 fing er an, im eigenen Haus mit einem Medium namens Miss Nichol zu experimentieren (ebd., S. 180). Die Eindrücke mussten sehr stark und positiv gewesen sein, denn bereits 1866 verfasste Wallace eine dem Spiritismus wohlwollende 57seitige Monographie: The Scientific Aspects of the Supernatural: Indicating the Desirableness of an Experimental Enquiry by Men of Science into the Alleged Powers of Clairvoyants and Mediums (ebd., S. 180). 1875 ist sein bereits erwähntes Werk Miracles and Modern Spiritualism erschienen, in welchem er seine Überlegungen zum Thema ausführlich festhielt (ebd., S. 183). Shermer beschreibt zahlreiche Untersuchungen, die Wallace mit verschiedenen damals berühmten Medien durchführte, wie auch Ereignisse, die Mitglieder der Familie 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 767 Wallace betrafen und ihn nachdrücklich bewegten, von seiner materialistischen Haltung abzurücken. Ich werde auf diese Erfahrungen nicht ausführlicher eingehen. Ob sie auch für einen heutigen Wissenschaftler überzeugend wären, sei dahingestellt. Wichtig für uns ist lediglich die Tatsache, dass sie Wallace zu überzeugen vermochten. Er war darin keineswegs ein Einzel- und Sonderfall, im Gegenteil. 1882 wurde in London die Society for Psychical Research gegründet, welche sich der Erforschung spiritistischer Phänomene widmete und deren Mitglieder sich hauptsächlich aus den Mitarbeitern der Universität Cambridge rekrutierten. Unter ihnen fanden sich solche renommierte Wissenschaftler wie die Physiker William Crookes, Lord Rayleigh und Sir Oliver Lodge, der berühmte Eugeniker (und Darwins Cousin) Francis Galton, der Mathematiker Augustus De Morgan, der Naturalist St. George Mivart, der Physiologe Charles Richet, und die Psychologen Frederic Myers und G. T. Fechner (ebd., S. 179). 6 Das Ziel der Gesellschaft war es, naturalistische Erklärung dieser Phänomene zu finden, denn die Grundannahme war, dass sie in der Wirklichkeit verankert seien (ebd. S. 179). Wallace argumentierte, dass es sich bei den vermeintlichen Wundern, wie sie z. B. in Séancen erfahrbar wurden, um Wirkungen von bis jetzt unbekannten Naturgesetzen handelte (ebd., S. 181): A century ago, a telegram from 3000 miles ’ distance, or a photograph taken in five seconds, would not have been believed possible, and would not have been credited on testimony, except by the ignorant and superstitious who believed in miracles. (Zitiert in Shermer, S. 181) Weshalb seiner Meinung nach [i]t is possible that intelligent beings may exist, capable of acting on matter, though they themselves are uncognisable directly by our senses. (Zitiert in ebd., S. 181). Wallace beklagte sich in einem Artikel in The Year-book of Spiritualism for 1871 über die kritische Haltung gegenüber diesem Forschungsfeld: [T]he men of science are at least consistent in treating the phenomena of Spiritualism with contempt and derision. They have always done so with new and important discoveries; and, in every case in which the evidence has been even a tenth part of that now accumulated in favour of the phenomena of Spiritualism, they have always been in the wrong. (Zitiert in ebd., S. 193) 6 Nunn berichtet, dass der „ hochgeachtete “ Professor für Moralphilosophie an der Universität Cambridge Henry Sidgwick zum ersten Präsidenten der Gesellschaft gewählt wurde und seine Frau Eleanor, Rektorin von Newham, des ersten Frauencollege an der Universität Cambridge, eine respektierte Mathematikerin an der Arbeit der Gesellschaft enthusiastisch teilnahm. Ebenfalls involviert waren Arthur Balfour, der Bruder von Eleanor Sidgwick und später Premierminister, wie auch William James. Nunn schreibt: „ These people and others, having powers of mind and morality unequalled, perhaps, by any comparable group in human history, were lured on by curiosity but also by hopes of immortality “ (Nunn 2011, S. 7). 768 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 1889 schreibt er in einem Brief: I (think I) know that non-human intelligences exist - that there are minds disconnected from a physical brain, that there is, therefore, a spiritual world. This is not, for me, a belief merely, but knowledge founded on the long-continued observation of facts, - & such knowledge must modify my views as to the origin & nature of human faculty. (Zitiert in ebd., S. 199) Wallace versuchte, jegliche Behauptung einem Test zu unterziehen. Wenn er glaubte, Befunde unterstützten eine Theorie oder eine Vermutung, war er bereit, seine ganze Reputation in die Waagschale zu werfen. Wenn die Befunde eine Behauptung nicht unterstützten, war er aber ebenso vehement in der Ablehnung wie seine skeptischen Fachkollegen (ebd., S. 251). Bis zum Ende seines langen Lebens stand Wallace so auf der Scheidelinie zwischen dem Natürlichen und Übernatürlichen und war der Überzeugung, dass er gute Wissenschaft in beiden Bereichen leistete (ebd., S. 201). Vor diesem Hintergrund wird nicht überraschen, dass Wallace von Anfang an einige der zentralen Annahmen von Darwins Version der Evolutionstheorie ablehnte. 7 Insbesondere war er davon überzeugt, dass der Mensch eine Sonderstellung in der Natur einnimmt und nicht einfach eine andere Tiergattung darstellt, und er lehnte es ab, den Evolutionsprozess als Ergebnis der blinden Kräfte der Natur zu betrachten. Mit dieser Kritik von Darwins Theorie stand Wallace selbstverständlich nicht allein, jedoch hatte seine Stimme besonderes Gewicht. Dazu Schermer: Of all people to dissent, however, as the co-discoverer of the theory ’ s main mechanism, Alfred Russell Wallace stood out above most others and causes Darwin considerable consternation. And of their many disputations, none was more portentous than that over human evolution, particularly the evolution of the mind. (Ebd., S. 208) Bereits 1869 stellte sich Wallace auf den Standpunkt, dass übernatürliche Kräfte einer höheren Intelligenz zumindest drei Mal in die Prozesse der natürlichen Evolution eingegriffen haben: 1) Sie haben das Leben initiiert; 2) sie haben die Wahrnehmungsfähigkeit und das Bewusstsein der höheren Tiere erzeugt; 3) Sie formten typisch menschliche Fähigkeiten wie Moralität und kulturelle Intelligenz (ebd., S. 230). Neither natural selection nor the more general theory of evolution can give any account whatever of the origin of sensational or conscious life. [. . .] But the moral and higher intellectual nature of man is as unique a phenomenon as was conscious life on its first appearance in the world, and the one is almost as difficult to conceive as originating by any law of evolution as the other. (Zitiert in ebd., S. 230) In seinem Buch Darwinism, An Exposition of the Theory of Natural Selection with some of its Applications (Macmillan & Co., London & New York, 1889) griff 7 Nebenbei sei bemerkt, dass Darwin dem Spiritismus gegenüber recht feindlich gesinnt war (Shermer ebd., S. 197 - 200 „ Darwin ’ s Secret War on Spiritualism “ ). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 769 Wallace all jene an (in erster Linie selbstverständlich Darwin selbst), die behaupten, dass „ we, in common with the rest of nature, are but products of the blind external forces of the universe “ und dass das Universum eines Wärmetodes sterben werde. Er schrieb: As contrasted with this hopeless and soul-deadening belief, we, who accept the existence of a spiritual world, can look upon the universe as a grand consistent whole adapted in all its parts to the development of spiritual beings capable of indefinite life and perfectibility. To us, the whole purpose, the only raison d ’ etre of the world - with all its complexities of physical structure, with its grand geological progress, the slow evolution of the vegetable and animal kingdoms, and the ultimate appearance of man - was the development of the human spirit in association with the human body. (zitiert in ebd., S. 230f.) Noch 1908 betonte er, dass er im starken Gegensatz zu Darwins Auslegung der Evolutionstheorie immer der Ansicht war, dass es einen qualitativen Unterschied zwischen dem Menschen und den Tieren gibt: „ My view [. . .] was, and is, that there is a difference in kind, intellectually and morally, between man and other animals “ (zitiert in ebd., S. 231). Diese Überlegungen finden ihre Höhepunkt in Wallace ’ s letztem naturwissenschaftlichem Buch The World of Life; A Manifestation of Creative Power, Directive Mind and Ultimate Purpose (Wallace 1910). Es ist m. E. immer noch sehr lehrreich, sich auf seine Gedankengänge einzulassen. Denn die Argumente, welche Wallace gegen den blinden Zufall als den alleinigen Schöpfer der Vielfalt der Naturwelt vorbringt, haben auch heute nichts an Aktualität verloren. [T]he most prominent feature of my book is that I enter into a particular yet critical examination of those underlying fundamental problems which Darwin purposely excluded from his works as being beyond the scope of his enquiry. Such are, the nature and causes of Life itself; and more especially of its most fundamental and mysterious powers - growth and reproduction. I first endeavour to show [. . .] by a careful consideration of the structure of bird ’ s feather; of the marvellous transformations of the higher insects [gemeint ist die Metamorphose der Larve zum reifen Insekt über das Stadium der Puppe]; and more especially of the highly elaborated wing-scales of Lepidoptera [. . .] the absolute necessity for an organising and directive Life-Principle in order to account for the very possibility of these complex outgrowths. I argue, that they necessarily imply first, a Creative Power which so constituted matter as to render these marvels possible; next, a directive Mind which is demanded at every step of what we term growth, and often look upon as so simple and natural a process as to require no explanation; and lastly, an ultimate Purpose, in the very existence of the whole vast life-world in all its long course of evolution throughout the eons of geological time. This Purpose, which alone throws light on many of the mysteries of its mode of evolution, I hold to be the development of Man, the one crowning product of the whole cosmic process of life-development; the only being which can to some extent comprehend nature; which can perceive and trace out her modes of action; which can appreciate the hidden forces and motions everywhere at work, 770 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft and can deduce from them a supreme and overruling Mind as their necessary cause. (Wallace 1910, S. vif.) Diese Zeilen weisen verblüffende Ähnlichkeiten mit der Argumentation von heutigen Verfechtern des Intelligent Design auf (vgl. dazu Shermer ebd., S. 232, der Wallace als einen Vorreiter des kreationistischen Denkens und Verfechter des anthropischen Prinzips 8 sieht). Wir müssen nicht auf alle Einzelheiten von Wallace ’ s Argumentation eingehen. Ein Punkt scheint mir jedoch auch heute von besonderem Interesse zu sein. Wallace richtet unsere Aufmerksamkeit auf das Geheimnis der Metamorphose der Insekten und zeigt mit ungewöhnlichem Scharfsinn die Schwierigkeit, der sich jegliche mechanistische Erklärung dieses Phänomens gegenüber sieht: The whole of the internal organs of the larva - muscles, intestines, nerves, respiratory tubes, etc. - are gradually dissolved into a creamy pulp; [. . .]. This mass of nutritive pulp thenceforth serves to nourish the rapidly growing mature insect, with all its wonderful complications of organs adapted to an entirely new mode of life. There is, I believe, nothing like this complete decomposition of one kind of animal structure and the regrowth out of this broken-down material - which has thus undergone decomposition of the cells, but not apparently of the protoplasmic molecules - to be found elsewhere in the whole course of organic evolution; and it introduce[s] new and tremendous difficulties into any mechanical or chemical theory of growth and of hereditary transmission. (Ebd., S. 300) Wallace betont, dass die zeitgenössische Wissenschaft nicht imstande ist, solche und ähnliche Phänomene zu erklären: 8 In der Tat findet man in Wallace ’ s Buch eine frühe Spielart des erst Jahrzehnte später unter diesem Namen bekannten Arguments. Es besagt in einer seiner Formulierungen: Weil wir beobachten, dass die Naturkonstanten derart sind, dass sie intelligentes Leben auf der Erde ermöglichen, müssen wir annehmen, dass dies kein Zufall ist, sondern ein Zeichen dafür, dass das Universum von einer Intelligenz so geschaffen wurde, dass ein solches Leben möglich ist. Wallace argumentiert überraschend ähnlich. Er weist darauf hin, dass sich in der Erde allerlei Substanzen befinden, darunter auch äußerst seltene wie das zu seiner Zeit neu entdeckte Radium, die sich später als für Menschen nützlich erweisen, und schreibt: „ If now we take the occurrence of all these apparently useless substances in the earth ’ s crust; the existence in tolerable abundance, or very widely spread, of the seven metals known to man during his early advances towards civilisation, and the many ways in which they helped to further that civilisation; and, lastly, the existence of a few elements which, when specially combined, produce a substance without which modern science in almost all its branches would have been impossible [gemeint ist Glas], we are brought face to face with a body of facts which are wholly unintelligible on any other theory than that the earth (and the universe of which it forms a part) was constituted as it is in order to supply us, when the proper time came, with the means of exploring and studying the inner mechanism of the world in which we live - of enabling us to appreciate its overwhelming complexity, and thus to form a more adequate conception of its author, and of its ultimate cause and purpose “ (Wallace 1910, S. 361). S. auch unten den Abschnitt „ Anthropisches Prinzip “ . 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 771 To myself, not all that has been written about the properties of protoplasm or the innate forces of the cell, neither the physiological units of Herbert Spencer, the pangenesis hypothesis of Darwin, not the continuity of the germ-plasm of Weismann, throw the least glimmer of light on this great problem [der Entstehung einer Vogelfeder]. Each of them, especially the last, helps us to realise to a slight extent the nature and laws of heredity, but leaves the great problem of the nature of the forces at work in growth and reproduction as mysterious as ever. Modern physiologists have given us a vast body of information on the structure of the cell, on the extreme complexity of the processes which take place in the fertilised ovum, and on the exact nature of the successive changes up to the stage of maturity. But the forces at work, and of the power which guides those forces in building up the whole organ, we find no enlightenment. They will not even admit that any such constructive guidance is required! (Ebd., S. 295f.) Im Exkurs „ Können Gene Morphogenese erklären? “ (s. oben) versuchte ich zu zeigen, dass trotz aller zweifelsohne gewaltigen Fortschritte, die seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts im Verständnis der Morphogenese erzielt worden sind, die Situation heute im Grunde genommen identisch mit der ist, die Wallace in seinem Buch schildert. Wir verstehen weiterhin nicht, wie aufgrund der genetischen Information lebensfähige Organe im Organismus „ konstruiert “ werden können, weil wir keine Einsicht in die Kräfte haben, welche diesen Konstruktionsprozess steuern. Die Mehrheit der Forscher will aber nicht zugeben, dass man solche Steuerungskräfte überhaupt zulassen muss! Wallace schildert auch eine äußerst lehrreiche „ physiologische Allegorie “ , welche das Dilemma der Wissenschaft seiner, aber auch unserer Tage gut veranschaulicht. Man stelle sich vor, dass die Erde von intelligenten außerirdischen Wesen besucht wird, die das Leben hier untersuchen wollen. Sie haben sehr scharfe Sinne, die es ihnen ermöglichen, mineralische und andere unbelebte Stoffe und Pflanzen, nicht aber Menschen oder Tiere, ob lebendig oder tot, zu erkennen. Solche Wesen würden überall Materie in Bewegung wahrnehmen, aber nirgendwo die Ursachen dieser Bewegung. Sie würden z. B. sehen, wie große Bäume, die von großen Sägen oder Äxten „ traktiert “ werden, plötzlich umfallen und dann unter der Einwirkung kleinerer Sägen und Äxte ihre Äste verlieren, um auf wunderbare Weise vom Boden auf große Lastwagen zu gelangen, in denen sie zu großen Fabriken transportiert werden, wo sie sich wiederum in Balken, Leisten usw. verwandeln. Solche Wesen, schreibt Wallace weiter, würden sich bemühen, das, was sie wahrnehmen, mithilfe der Elemente, die ihnen durch ihre Sinne zugänglich sind, also als „ Materie in Bewegung “ , zu erklären. Und wenn jemand käme und vorschlüge, dass sich hinter dem von ihnen Wahrgenommenen mit Intelligenz begabte Wesen verbergen, würden sie ihn als „ unwissenschaftlich “ bezeichnen und darauf bestehen, dass sie mit der Zeit alle ihnen zugänglichen Phänomene mittels der Kräfte und Entitäten, die sie wahrzunehmen fähig sind, erklärt werden können: 772 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft „ You are wholly unscientific [, würden sie sagen]; we know the physical and chemical forces at work in this curious world, and if we study it long enough we shall find that known forces explain it all. “ (Ebd., S. 297) Würdigung Wallace ist ein Beleg für die These, dass selbst noch am Anfang des 20. Jahrhunderts Wissenschaftlichkeit und insbesondere evolutionäre Ansichten nicht zwangsläufig Atheismus und Materialismus implizieren. Ein so herausragender Wissenschaftler wie Wallace verband wissenschaftliche Mentalität und Vorgehensweise mit der Überzeugung von der Existenz einer geistigen Welt. Dieser Überzeugung lag kein bloßer Fideismus zugrunde, sie war vielmehr das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit den Erklärungsmängeln der Wissenschaft. William James: The Varieties of Religious Experience William James (1842 - 1910) gilt als einer der wichtigsten amerikanischen Philosophen und „ Vater der amerikanischen Psychologie “ . Sein Werk beeinflusste solch prominente Denker wie (u. a.) Emile Durkheim, Edmund Husserl, Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein, Hilary Putnam und Richard Rorty. Wie sein Vater Henry James Sr., der ein bedeutender Theologe und Anhänger Swedenborgs und Ralph Waldo Emerson war und in den literarischen und intellektuellen Eliten seiner Zeit verkehrte, pflegte William James Kontakt mit den intellektuellen Größen seiner Generation, darunter mit so prominenten Persönlichkeiten wie Charles Sanders Peirce, Bertrand Russell, Ernst Mach, John Dewey, Henri Bergson, Sigmund Freud und Mark Twain (um nur einige zu nennen). Praktisch seine ganze akademische Karriere verbrachte er an der renommierten Harvard Universität. 1873 wurde er dort als Dozent für Physiologie angestellt, bald danach als Dozent für Physiologie und Anatomie, 1876 wurde er zum Assistenzprofessor für Psychologie berufen, 1881 zum Assistenzprofessor für Philosophie, 1885 zum Ordinarius in Philosophie. Zwischen 1889 und 1897 war er Stiftungsprofessor für Psychologie, 1897 kehrte James zur Philosophie zurück und 1907 wurde er zum Professor emeritus in Philosophie ernannt. Daneben interessierte sich William James für die Erforschung der paranormalen Phänomene: 1884 wurde er Gründungsmitglied und erster Vizepräsident der American Society for Psychical Research, 1894 - 1895 Präsident der 1882 gegründeten Society for Psychical Research in London. Nach dem Tode seines Sohnes 1884 nahm James an mehreren Séancen mit dem berühmten Medium Leonora Piper (1857 - 1950) teil und war bald davon überzeugt, dass Piper über Informationen zu seinem Angehörigen verfüge, die sie nur mittels übersinnlicher Wahrnehmung hatte erlangen können. Seine Erfahrung mit Leonora Piper bewegten James zur der Feststellung: „ If you wish to upset the law that all 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 773 crows are black, it is enough if you prove that one crow is white. My white crow is Mrs. Piper “ (Murphy und Ballou 1960, S. 41). The Varieties of Religious Experience Im Folgenden möchte ich mich lediglich einem Werk von William James widmen, dem 1902 veröffentlichten Band The Varieties of Religious Experience. Sie beinhalten die zwanzig Gifford-Vorlesungen, die James an der Universität Edinburgh 1901 - 1902, also kurz vor dem Ende seiner glanzvollen akademischen Karriere, gehalten hat. Diese Vortragsreihe geht auf das Testament des Rechtsanwalts und Richters Adam Gifford (1820 - 1887) zurück, der den Universitäten St. Andrews, Glasgow, Aberdeen und Edinburgh eine damals riesige Summe von 80.000 Pfund vermachte, um „ das Studium der natürlichen Theologie im weitesten Sinn des Wortes zu fördern und zu verbreiten “ , wobei die „ natürliche Theologie “ als Wissenschaft, „ ohne Bezugnahme oder Vertrauen auf irgendeine angenommene besondere oder sogenannte übernatürliche Offenbarung “ behandelt werden sollte. Die Vorlesungen wurden 1888 aufgenommen und seither bis auf eine Unterbrechung während des 2. Weltkrieges durchgeführt, wobei ein Referent in der Regel in zwei aufeinander folgenden akademischen Jahren vorträgt. Ursprünglich waren die Vorlesungen zur Unterweisung „ der ganzen Bevölkerung Schottlands “ vorgesehen, inzwischen genießen sie aufgrund des Rangs der bestellten Referenten und der Bandbreite der vertretenen Zugänge aber internationale Aufmerksamkeit. Zahlreiche Forscher, Politiker und Schriftsteller trugen in ihrem Rahmen Überlegungen und Thesen vor, die sich als wichtige Impulse für ihr Fach erwiesen. Zu den bekanntesten Referenten gehören: William James (1900 - 02), Hans Driesch (1907 - 08), Henri Bergson (1913 - 14), James George Frazer (1923 - 25), Arthur Eddington (1926 - 27), Alfred North Whitehead (1927 - 28), John Dewey (1928 - 29), Albert Schweitzer (1934 - 35), Karl Barth (1936 - 38), Niels Bohr (1949 - 50), Paul Tillich (1952 - 54), Werner Heisenberg, (1955 - 56), Carl Friedrich von Weizsäcker (1959), Hannah Arendt (1973), John Eccles (1978 - 79), Paul Ric œ ur (1985 - 86) und Roger Penrose (1992 - 93). 9 James ’ Gifford-Vorträge und der aus ihnen resultierende Band stießen auf eine ungemein große Resonanz. Von ihrem Einfluss mag zeugen, dass meine Auflage des Buches von 1942 bereits die 39. ist und dass das Buch in den ersten Jahren nach Erscheinen mehrmals innerhalb eines Jahres nachgedruckt wurde. James ’ Vorträge umfassten eine Reihe von Themen: Er sprach u. a. vom Verhältnis von Religion und Neurobiologie, vom Problem der Wirklichkeit der unsichtbaren Welt, von Seelenkrankheiten, von der Erfahrung der Bekehrung, von der Heiligkeit und ihrem Wert, vom Mystizismus und vom Verhältnis der Philosophie zur Religion. Welche Haltung zur Frage der 9 Quellen: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Gifford und http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Gifford_Lectures (heruntergeladen am 25. 12. 2012). 774 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Existenz einer geistigen Welt und zu solchen Kernbegriffen der Religion wie Seele, ewiges Leben oder Gott lässt sich diesen Vorträgen entnehmen? Etwa in der Mitte des ersten Vortrages - über das Verhältnis zwischen Religion und Neurobiologie - . geht James auf die Auffassung ein, dass alle mentalen Prozesse, alltägliche wie spirituelle, biologisch determiniert seien. Und er formuliert scharfsinnig ein Argument gegen diese Position, welches Jahrzehnte später von Franz von Kutschera wiederholt wurde (von Kutschera 1998, S. 209f.): Die organische Determination aller mentalen Prozesse zu behaupten, hat zur Folge, dass auch alle unsere wissenschaftliche Behauptungen und Theorien bloß organisch determiniert und folglich weder wahr oder falsch (oder mit von Kutschera: weder rational noch irrational) sind: To plead the organic causation of a religious state of mind [. . .] in refutation of its claim to possess superior spiritual value, is quite illogical and arbitrary, unless one have already worked out in advance some psycho-physical theory connecting spiritual values in general with determinate sorts of physiological change. Otherwise none of our thoughts and feelings, not even our scientific doctrines, not even our dis-beliefs, could retain any value as revelations of the truth, for every one of them without exception flows from the state of their possessor ’ s body at the time. (James 1941, S. 14) In seinem dritten Vortrag ( „ The Reality of the Unseen “ ) kommt James auf die griechischen Götter zu sprechen. Während die zeitgenössische Gelehrsamkeit in den Gestalten der griechischen Mythologie halbmetaphorische Personifizierungen abstrakter Ideen und Gesetze sah, lässt James durchblicken, dass sie für ihn zumindest Aspekte einer objektiven Wirklichkeit enthalten, welche sich nur unvollkommen im menschlichen Bewusstsein manifestieren, aber paradoxerweise realer sind als die „ Realitäten “ unserer Sinne: It is as if there were in the human consciousness a sense of reality a feeling of objective presence, a perception of what we may call ‘ something there, ’ more deep and more general than any of the special and particular ‘ senses ’ by which the current psychology supposes existent realities to be originally revealed. (Ebd., S. 58, Hervorhebung im Original) Dieses Motiv tritt im letzten Vortrag noch einmal auf, in welchem James zwei allen Religionen gemeinsame Elemente unterscheidet: zum einen ein gewisses Unbehagen, ein dunkles Gefühl, dass es etwas Verkehrtes an unserem natürlichen Zustand gibt ( „ a sense that there is something wrong about us as we naturally stand “ , 508, Hervorhebung im Original), und zweitens das Gefühl, dass wir aus diesem verkehrten Zustand erlöst werden können, indem wir eine angemessene Verbindung mit den höheren Mächten eingehen ( „ a sense that we are saved from the wrongness by making proper connection with the higher powers “ , ebd., S. 508, Hervorhebung im Original). Im weiteren Verlauf des Vortrages nimmt James Bezug auf die Ansichten seines Freundes Frederic Myers, welche damals zwar nur in Teilen veröffentlicht waren und erst im 1903 posthum erschienenen Werk Human Personality and Its Survival after 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 775 Death zugänglich wurden, dessen Inhalt James aber bereits zu diesem Zeitpunkte kannte (James bezieht in der Fußnote auf S. 511 darauf). Bereits 1892 entwickelte Myers in einem Essay unter dem Titel „ Subliminal Consciousness “ eine Theorie des unterbewussten Selbst, das er als eine psychische Entität verstand, welche viel umfassender als das bewusste Selbst des Menschen sei und das sich immer nur unvollständig durch die gewöhnliche Persönlichkeit offenbaren könne (vgl. dazu den nächsten Abschnitt, der Myers und seinem Werk gewidmet ist). James bekennt sich zur Existenz eines unsichtbaren Reiches, in dem das „ unbewusste Selbst “ (man ist versucht, es als eine Art „ Überselbst “ zu bezeichnen) wurzelt und aus welchem Erlösung kommt: Disregarding the over-beliefs 10 , and confining ourselves to what is common and generic, we have in the fact that the conscious person is continuous with a wider self through which saving experiences come, a positive content of religious experience which, it seems to me, is literally and objectively true as far as it goes. (Ebd., S. 515, Hervorhebung im Original) James bekennt sich somit zur Existenz einer übersinnlichen Sphäre, die aber der christlichen religiösen Orthodoxie nicht zu entsprechen scheint. Man kann diese Unklarheit in eine eher plumpe Frage einmünden lassen: Glaubt James an Gott? Die vielleicht ein wenig überraschende Antwort auf diese Frage lautet: Ja, er glaubt an ihn. Er bereitet dieses Bekenntnis allmählich, mit gleichsam wissenschaftlicher Vorsicht in mehreren Schritten vor. Zunächst spricht er allgemein von einem Etwas, das im Universum existiert und wirksam ist, und das ein Mehr dessen darstellt, was dem Mensch in der Ahnung seines „ Überselbst “ zugänglich ist: [One] becomes conscious that this higher part is conterminous and continuous with a MORE of the same quality, which is operative in the universe outside of him, and which he can keep in working touch with, and in a fashion get on board of and save himself when all his lower being has gone to pieces in the wreck. (Ebd., S. 508, Hervorhebung im Original) Später stellt James fest, dass unsere Ideale, unsere ideellen Handlungsimpulse in dieser Region und in diesem Etwas gründen und dass wir eigentlich zu ihr in einem weit intimeren Sinne gehören als zur sichtbaren Welt, denn „ we belong in the most intimate sense wherever our ideals belong “ (ebd., S. 516). Im nächsten Schritt stellt er fest, dass diese Sphäre nicht nur für sich existiert, sondern auch erfahrbare Wirkungen in der Welt zeitigt. Was aber reale Wirkung habe, müsse als real betrachtet werden: Yet the unseen region in question is not merely ideal, for it produces effects in this world. When we commute with it, work is actually done upon our finite per- 10 Darunter versteht James einerseits den orientalischen Glauben, dass sich das menschliche Selbst nach dem Tode mit dem Absoluten Selbst, dessen Teil es eigentlich immer war, vereinigt, andererseits aber interessanterweise auch den für jüdisch-christliche Tradition typischen Monotheismus (ebd., S. 513, 419 - 423). 776 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft sonality, for we are turned into new men, and consequences in the way of conduct follow in the natural world upon our regenerative change. But that which produces effects within another reality must be termed a reality itself, so I feel as if we had no philosophic excuse for calling the unseen or mystical world unreal. (Ebd., S. 516) Und unmittelbar nach dieser Feststellung scheint sich James nicht nur zu seinem Glauben an Gott im Allgemeinen, sondern zum Glauben an den Gott der Christen zu bekennen: God is the natural appellation, for us Christians at least, for the supreme reality, so I will call this higher part of the universe by the name of God. We and God have business with each other; and in opening ourselves to his influence our deepest destiny is fulfilled. (Ebd., S. 516 f, Hervorhebung von mir, MBM) Auf den nachfolgenden Seiten konkretisiert James seine Vorstellung von Gott und dessen Wirksamkeit im Leben des Menschen. Das tönt orthodox, allerdings fehlt eine Bezugnahme auf das Zentrum christlicher Vorstellung, Tod und Auferstehung Christi, wie James auch von der Erlösung nur im Allgemeinen spricht. Erst im „ Postscript “ , das nicht Teil der Vorträge war, sondern der zweiten Auflage des Buches (August 1902) hinzugefügt wurde, kommen die abweichenden Gedanken zum Vorschein. Gott, heißt es hier, müsse weder unendlich noch „ solitär “ sein. Man könne sich vorstellen, dass das, auf was wir uns mit dem Wort „ Gott “ beziehen, eine Art gesteigertes Selbst des Menschen ist und dass sich im Universum eine Menge solcher Entitäten befindet: [The higher power] need not be infinite, it need not be solitary. It might conceivably even be only a larger and more godlike self, of which the present self would then be but the mutilated expression, and the universe might conceivably be a collection of such selves, of different degrees of inclusiveness, with no absolute unity realized in it at all. (Ebd., S. 525) James gibt dann unumwunden zu, dass diese Sicht der geistigen Wirklichkeit eine Form des Polytheismus darstellt (ebd., S. 526). Zur Rechtfertigung seiner Ansicht führt er an, dass der Polytheismus eigentlich immer die Religion der gewöhnlichen Leute ( „ common people “ ) war (ebd.), womit er wohl sagen will: der Leute mit gesundem Menschenverstand. Doch James geht noch weiter. Er erklärt sich mit der Karmalehre des Buddhismus einverstanden: I am ignorant of Buddhism and speak under correction, and merely in order the better to describe my general point of view; but as I apprehend the Buddhistic doctrine of Karma, I agree in principle with that. (Ebd., S. 522) Er ist sich des Skandals, den dieses „ häretische “ Eingeständnis hervorruft, sehr bewusst: I state the matter thus bluntly, because the current of thought in academic circles runs against me, and I feel like a man who must set his back against an open door quickly if he does not wish to see it closed and locked. In spite of its being so 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 777 shocking to the reigning intellectual tastes, I believe that a candid consideration of [. . .] supernaturalism and a complete discussion of all its metaphysical bearings will show it to be the hypothesis by which the largest number of legitimate requirements are met. (Ebd., S. 523) Ferner vertrat James die gleichfalls unorthodoxe Ansicht, dass es neben dem Alltagsbewusstsein andere Bewusstseinsformen geben könne, denen sich andere Welten als die der Sinne offenbaren: The whole drift of my education goes to persuade me that the world of our present consciousness is only one out of many worlds of consciousness that exist, and that those other worlds must contain experiences which have a meaning for our life also; and that although in the main their experiences and those of this world keep discrete, yet the two become continuous at certain points, and higher energies filter in. [. . .] I can, of course, put myself into the sectarian scientist ’ s attitude, and imagine vividly that the world of sensations and of scientific laws and objects may be all. But whenever I do this, I hear the inward monitor of which W. K. Clifford 11 once wrote, whispering the word ‘ bosh! ’ Humbug is humbug, even though it bear the scientific name, and the total expression of human experience, as I view it objectively, invincibly urges me beyond the narrow ‘ scientific ’ bounds. (Ebd., S. 519) Würdigung William James ’ Gifford-Vorträge und das aus ihnen hervorgegangene Werk The Varieties of Religious Experience stellen m. E. im doppelten Sinn ein wichtiges Zeitzeugnis dar. Zum einen zeugen sie davon, dass sich bereits bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der Materialismus so weit in der Wissenschaft verfestigt hat, dass er als die allein zulässige wissenschaftliche Orthodoxie galt. Die Vorstellung, dass es über bzw. hinten dem sinnlich zugänglichen Gebiet andere, unsichtbare Welten geben könnte, erschien offensichtlich bereits damals als „ Humbug “ - um den treffenden Begriff von James zu verwenden. Dieser Siegeszug des Materialismus ist bemerkenswert, da er erst am Anfang des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte und erst um die Mitte des Jahrhunderts ein signifikanter Anteil bedeutender Wissenschaftler Materialisten war. Es reichten also etwa 100 Jahre, damit das, was zu Beginn des Jahrhunderts noch eine verpönte Minderheitsmeinung und in der Mitte des 18. Jahrhunderts sogar noch strafbar war (man erinnere sich an La Mettries Schicksal), den Status einer Orthodoxie erreichte, die keinen Widerspruch duldet. Das zeigt, dass sich selbst so tiefgreifende Umwälzungen bzw. 11 William Kingdon Clifford (1845 - 1879), ein bekannter englische Mathematiker und Philosoph, vertrat die Meinung, dass dem Universum eine primitive Form des Bewusstseins zugrunde liege, die er als „ mind-stuff “ bezeichnete, und dass die materiellen Atome bloß Erscheinungsformen der Atome des „ mind-stuff “ seien. Diese Weltanschauung kann als eine Form des spirituellen Monismus oder vielleicht besser als eine Form des Panpsychismus bezeichnet werden. (http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ William_Kingdon_Clifford, heruntergeladen am 25. 12. 2012). 778 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft philosophische Moden wie der Übergang vom deistischen zum materialistischen Weltbild sehr schnell vollziehen können. Was Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende lang als eine selbstverständliche Weltanschauung der überwältigenden Mehrheit der Menschheit war, wurde innerhalb von etwa einhundert Jahren von der gegenteiligen Auffassung verdrängt. Diese Tatsache wirft selbstverständlich die Frage auf, inwiefern eine solche Veränderung dauerhaft ist. Natürlich ist es denkbar, dass es sich um einen endgültigen Richtungswechsel des menschlichen Geistes handelt und die Zeit, wo die Mehrheit eine spirituelle Sicht der Welt unterhielt, nicht mehr zurückkommen wird. Bereits knapp über 100 Jahre nach James ’ Vorträge ist aber ersichtlich, dass dem nicht so ist. Die Hoffnung der führenden Materialisten des 19. Jahrhunderts, dass sich das „ Opium des Volkes “ unter dem Eindruck der aufklärerischen und befreienden Wissenschaft verflüchtigen werde, erwies sich als eine Illusion. Denkbar ist ebenso, dass der Materialismus ein paar Hunderte, vielleicht sogar Tausende Jahre anhalten wird, bis er einer (neuen) spirituellen Auffassung Platz machen wird. Es ist aber sicherlich auch denkbar, und dies ist die dritte Möglichkeit, dass das Pendel schon bald wieder umschlägt und der Materialismus so schnell wieder gehen wird, wie er gekommen ist. Wie sich etwa technische Entwicklungsprozesse in den letzten Jahrhunderten exponentiell beschleunigt haben, könnten auch Weltanschauungen an Dynamik gewonnen haben. (Man denke z. B. an die Entwicklung der Transportmittel: Jahrtausende lang wurde im Wesentlichen mit pferdegezogenen Wagen transportiert, innerhalb der letzten zweihundert Jahren sind wir nacheinander auf die Dampflokomotive, das Benzinauto, Flugzeug und auf die Raumsonde umgestiegen.) Wir werden im Weiteren sehen, dass es tatsächlich besonders seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts deutliche Anzeichen einer spiritualistischen Wende innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft gibt. Der zweite Grund, weshalb man James ’ Vorträge und sein Werk als ein wichtiges Zeitzeugnis bezeichnen darf, liegt m. E. darin, dass diese unmissverständlich zeigen, dass auch nachdem Materialismus zur wissenschaftlichen Orthodoxie wurde, es durchaus prominente Wissenschaftler und Philosophen gab, die in ihm einen Humbug unter dem Deckmantel der objektiven Wissenschaft erkannten. Wir werden demnächst sehen, dass James nicht der Einzige unter ihnen war. Frederic W. H. Myers: Human Personality and Its Survival of Bodily Death 1903 erschien in England posthum 12 das monumentale, insgesamt fast 1430 Seiten dicke zweibändige Werk des englischen Altphilologen Frederic Wil- 12 Das Werk war zur Zeit von Myers ’ Tode 1901 weitgehend abgeschlossen. Lediglich Kapitel IX (Trance, Possession, Ecstasy) musste aus Bruchstücken redigiert werden. Myers hat aber bereits 1896 angeordnet, dass im Falle seines Todes die Herausgabe des 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 779 liam Henry Myers (1843 - 1901) Human Personality and Its Survival of Bodily Death, das sich als Herausforderung des geltenden materialistisch-reduktionistischen Menschenbildes verstand. Man kann berechtigterweise die Frage stellen, was zum einen ein Altphilologe auf dem Feld der Psychologie zu bestellen hat, und zum anderen, was man mit dem Zusatz „ und deren Überleben nach dem Tod “ anfangen soll. Die Antwort auf den zweiten Teil ist einfach. Myers war tatsächlich davon überzeugt, dass er in seinem Werk empirische Belege gesammelt hat, die beweisen, dass der Mensch oder genauer seine Seele den Tod des Leibes überdauert. Die Antwort auf die erste Frage ist komplexer und beinhaltet mindestens zwei Komponenten, eine biographische und eine kulturell-gesellschaftliche. Wenden wir uns zunächst der ersten zu. Biographie 13 Myers war Sprössling einer wohlhabenden englischen Familie, der sich bereits sehr früh als dichterisches Talent offenbarte: Mit 16 erhielte er den zweiten Preis in einem Lyrikwettbewerb anlässlich der Hundertjahrfeier für Robert Burns und ein Jahr später gewann er einen College-Preis für das Gedicht „ The Death of Socrates “ . Seine Universitätskarriere war außergewöhnlich erfolgreich. Er gewann zahlreiche Preise und Medaillen, schloss sein Studium am Trinity College der Universität Cambridge 1867 mit dem M. A. ab. Schon 1865 wurde er Dozent für klassische Literatur am Trinity College und Fellow des College. Weil er sich aber für die Aufgaben eines akademischen Lehrers ungeeignet hielt, trat er 1869 als Dozent des College zurück und wurde 1872 Schulinspektor. Diese eher unspektakuläre, obschon durchaus ehrenhafte Position behielt er bis kurz vor seinem Tod. Sie hatte den Vorteil, dass sie ihm neben einem anständigen Einkommen genügend Freizeit ließ, um seinen eigentlichen Interessen nachzugehen. Bereits mit 16 erlebte Myers bei der Lektüre von Platons Phaidon eine Art religiöse Konversion, die den Anfang seines Interesses für die Spiritualität markierte. Nach verschiedenen weltanschaulichen Umwegen bekannte er sich 1864 zum Christentum und verbrachte in den nachfolgenden Jahren viel Zeit in religiöser Selbstdisziplin mit Gebet und Kontemplation. Um 1869 kam diese Periode der innerlichen Vertiefung und der spirituellen Vision zu Ende. Myers schrieb in Buches vom Dr. Richard Hodgson besorgt werden solle. Unterdessen fiel die Hauptlast des Editierens zu Myers' Lebzeiten Frau Alice Johnson vom Newham College in Cambridge zu. Diese zwei Personen zeichneten dann letztendlich für die posthume Herausgabe von Myers Opus magnum verantwortlich (Hodgson und Johnson 1915, S. x). 13 Meine Darstellung von Myers ’ Biographie basiert auf dem entsprechenden Artikel im Oxford Dictionary of National Biography (Gauld 2004). Da dieser lediglich drei Seiten lang ist, verzichte ich auf die Seitenangaben. 780 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft seinem autobiographischen Buch Fragments of inner life: „ [F]rom increased knowledge of history and science, from a wider outlook on the world [. . .] insensibly the celestial vision faded “ (Myers 1961, S. 13). Es folgte eine innerlich äußerst schwierige und schmerzhafte Periode seines Lebens, die erst zum Ende kam, als Myers Kollege und Mentor am Trinity College, Henry Sidgwick (1838 - 1900) (seit 1869 Dozent für Moralphilosophie am Trinity College, Cambridge, 1883 erhielt er die renommierte Knightbridge-Professur für Philosophie an der Universität Cambridge) ihn ermunterte, sich der Untersuchung spiritistischer Phänomene zu widmen, die damals zunehmend Interesse erregten. Um 1873 formte sich eine Gruppe, die Trinity College Fellows und/ oder Freunde der beiden waren. In diesem Kreis fanden sich so bekannte Persönlichkeiten wie der Psychologe und Parapsychologe Walter Leaf ein (1852 - 1927), ein Altphilologe (und später Banker), dessen Ausgabe von Homers Ilias einige Jahrzehnte lang als die beste in England galt, John Strutt, später Lord Rayleigh (1842 - 1919) (OM), der für seine Entdeckung von Argon 1904 den Nobelpreis für Physik erhalten sollte, Arthur James später Lord Balfour (1848 - 1930) (KG, OM), britischer Premierminister von 1902 bis 1905 und Außenminister von 1916 bis 1919, und deren Schwestern Eleanor, die später Sidgwick heiratete und 1892 Leiter des Newnham College in Cambridge wurde (dieses College, das ausschließlich für Frauen zugänglich war, wurde 1871 von Henry Sidgwick gegründet), sowie Evelyn, die später Lord Reyleigh heiratete. Diese und einige weitere Persönlichkeiten besuchten zwischen 1873 und 1878 zahlreiche Séancen mit verschiedenen Medien. Die meisten erwiesen sich als Enttäuschungen, Myers hatte jedoch den Eindruck, dass er zumindest bei einigen Sitzungen Phänomene wahrnahm, welche Hoffnung auf einen Durchbruch weckten. 1882 gründeten Myers zusammen mit Sir William Barrett (1844 - 1925), dem prominenten englischen Physiker, seinen Freunden Sidgwick und Gurney und einigen Spiritisten in London die oben bereits erwähnte Society for Psychical Research (SPR), die erste parapsychologische Organisation der Welt. Sidgwick wurde zum ersten Präsidenten der Gesellschaft gewählt. Das deklarierte Ziel der Gesellschaft war die vorurteilsfreie Untersuchung paranormaler Phänomene. 14 Unter den späteren Präsidenten befanden sich: 1885 - 1887 Balfour Stewart (1827 - 1887): Physiker, von 1870 Professor für Physik am Queen ’ s College, Manchester, vom 1862 Fellow der Royal Society; 1893 der bereits erwähnte Arthur Balfour; 1894 - 1895 William James; 1896 - 1899 William Crookes (1832 - 1919): Chemiker und Physiker, Entdecker des Thallums und der Kathodenstrahlen, 14 [To investigate] that large body of debatable phenomena designated by such terms as mesmeric, psychical and “ spiritualistic ” , and to do so “ in the same spirit of exact and unim passioned enquiry which has enabled Science to solve so many problems ” (http: / / www.spr.ac.uk/ main/ page/ history-society-psychical-research-parapsychology. Heruntergeladen am 20. 5. 2013) 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 781 Erfinder des Radiometers; 1901 - 1903 (und zusammen mit der bereits erwähnten Eleanor Sidgwick 1932) Oliver Lodge (1851 - 1940): Physiker und Mathematiker, seit 1881 Professor für Physik und Mathematik in Liverpool, seit 1913 der erste Rektor der Universität Birmingham; 1913 Henri Bergson (1859 - 1941), der berühmte französische Philosoph, von 1900 - 1921 Professor für griechische Philosophie am Collège de France, Nobelpreisträger für Literatur 1927; 1926 - 1927 Hans Driesch (1867 - 1941), der berühmte deutsche Biologe und Naturphilosoph, von 1919 Professor für Systematische Philosophie an der Universität Köln, von 1921 Direktor des Philosophischen Seminars in Leipzig; 1965 - 1969 Alister Hardy (1896 - 1985): ein englischer Zoologe, Professor für Zoologie an der Universität Hull und dann Linacre- Professor of Zoologie in Oxford, der Begründer des Religious Experience Research Unit am Manchester College, Oxford; 1988 - 1989 Ian Stevenson, M. D. (1918 - 2007): Direktor der Abteilung für Persönlichkeitsforschung, Inhaber der Carlson-Professur für Psychiatrie an der Universität von Virginia. Ein Großteil der frühen Arbeiten der Gesellschaft bestand darin, Betrugsfälle zu entlarven, sogar in einigen Fällen die Betrügereien zu wiederholen, um die Methoden der Betrüger bloßzustellen. Allerdings gab es auch eine Reihe von Medien, sowohl physischer als auch psychischer, die fähig waren, ungewöhnliche Phänomene zu produzieren, und/ oder korrekte Informationen zu übermitteln unter Bedingungen, die als experimentell bezeichnet werden können. Die Gesellschaft veröffentlichte einen umfassenden Bericht über Experimente, die William Crookes 1871 - 74 mit dem bekannten Medium D. D. Home 15 durchgeführt hatte. Immer wieder fand die SPR psychische Medien, die als vertrauenswürdig angesehen wurden und die bereit waren, mit der Gesellschaft unter vorgeschriebenen Bedingungen zu arbeiten.Das bekannteste war wohl Frau Leonora Piper (1857 - 1950), eine Amerikanerin, die behauptete, verstorbene Personen kontaktieren zu können, auf deren bemerkenswerte Kräfte die SPR von William James hingewiesen wurde. Die Gesellschaft existiert übrigens bis heute, obschon sich ihr auf ihrer Website deklariertes Ziel ein wenig geändert hat: „ Founded in 1882, the SPR was the first society to conduct organised scholarly research into human experiences that challenge contemporary scientific models. “ 16 Die Gesellschaft beruft sich dabei auf einen interessanten Ausspruch von C. G. Jung: „ I shall not commit the fashionable stupidity of regarding everything I cannot explain as a fraud. “ Sie veröffentlicht das Journal of the Society for Psychical Research (JSPR), eine Peer-Review-Zeitschrift, die unregelmäßigen Proceedings und das Magazin Paranormal Review. Jedes Jahr veranstaltet sie eine Konferenz, darüber hinaus regelmäßige Vorträge und zwei Studientage pro Jahr. 15 Zu Daniel Douglas Home (1833 - 1886) vgl. http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Daniel_Dunglas_Home (heruntergeladen am 20. 5. 2013). 16 http: / / www.spr.ac.uk/ main/ (heruntergeladen am 20. 5. 2013). 782 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Myers wurde 1900 zum Präsidenten der Gesellschaft gewählt. In seiner Antrittsrede stellt er als Aufgabe heraus, gleichsam wissenschaftlich zu beweisen, dass die geistige Welt existiere: Starting from various standpoints, we endeavour to carry the newer, the intellectual virtues into regions where dispassionate tranquillity has seldom yet been known. As compared with the claims of Theologians, we set before ourselves a humbler, yet a difficult task. We do not seek to shape the clauses of the great Act of Faith, but merely prove its preamble. To prove the preamble of all religions; to be able to say to theologian or to philosopher: “ Thus and thus we demonstrate that a spiritual world exists - a world of independent and abiding realities, not a mere ‘ epiphenomenon ’ or transitory effect of the material world - a world of things, concrete and living, not a mere system of abstract ideas; now therefore, reason on that world or feel towards it as you will. “ (Myers 1915 a, S. 297) Myers betonte weiter, dass er persönlich die Aufgabe der Gesellschaft nicht primär darin sieht, Betrügereien zu entlarven, die paranormalen Phänomene sorgfältig zu untersuchen oder eine neue Wissenschaft zu gründen, sondern den Geltungsbereich der Wissenschaft so zu erweitern, dass sie jene Fragen beantworten könne, welche „ the human heart will rightly ask, but to which Religion alone has thus far attempted an answer “ (ebd., S. 305). Er sah nämlich die Wissenschaft seiner Zeit (und würde wahrscheinlich ebenfalls die heutige Wissenschaft so sehen) als begrenzt und konventionell an. Die etablierte Wissenschaft stütze sich auf Annahmen, die man nicht beweisen könne oder die aufgrund ihrer internen Inkonsistenz darauf hinweisen, dass sie im besten Fall einenAusschnitt eines tieferliegenden Gesetzes darstellen (ebd., S. 295). (Es wäre sehr interessant zu wissen, was er zu den Paradoxien der heutigen Quantenphysik zu sagen hätte.) Er erwähnt in diesem Zusammenhang die „ Dogmen “ der Erhaltung der Materie und Energie (ebd., S. 301) und weist darauf hin, dass, während das erste als ziemlich gesichert gelten dürfe, der Beweis des zweiten viel unvollständiger sei, denn der Begriff der Energie gehöre nicht allein zur materiellen Welt. Leben sei die wichtigste Form aller Aktivität und auch der Energie, wir wissen aber nicht, woher Leben stamme. Um die ganze Palette seiner Manifestationen zu begreifen, müssten wir in die unsichtbare Welt eintreten (ebd.). Er ist sich jedoch ziemlich sicher, dass man mittels geeigneter Formen der Beobachtung und des Experiments diese Aufgabe bewältigen können wird (ebd., S. 299). Wir seien in Bezug auf die übersinnliche Welt nicht zum „ ignoramus et ignorabimus “ verurteilt (ebd., S. 297). Myers zeigt sich in seiner Antrittsrede überdies davon überzeugt, dass verstorbene Menschen ihre Existenz in der übersinnlichen Welt in einer veränderten Form fortsetzen. Er erwähnte mehrmals in seiner Ansprache Erfahrungen, die auf einen Einfluss der „ diskarnierten “ Geister auf die Lebenden zu zeugen scheinen (ebd., S. 299, 306), obschon manchmal in einer recht konfusen Weise. Dabei gibt er unumwunden zu, dass er ganz persönliche Gründe für diese Überzeugung hat: „ From my earliest childhood - 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 783 from my very first recollections - the desire for eternal life has immeasurably eclipsed for me ever other wish or hope “ (ebd., S. 294). Hinzu kommt ein verschwiegener Grund für sein lebhaftes Interesse an der Kommunikation mit Verstorbenen: Seine frühe Geliebte Annie Eliza Hill hatte 1876, nach einem etwa dreijährigen emotional intensiven Verhältnis, aufgrund von Spannungen in ihrer Ehe Selbstmord verübt. Myers Biograph schreibt, ihr Tod habe ihn in Verzweiflung gestürzt: Myers [. . .] was devastated. Annie had shared his religious doubts and his interest in spiritualism and was already associated in his mind with his quest for evidence of survival of death; proof of her survival now became a principal object of that quest. (Gauld 2004, S. 61) Neben dieser biographischen Komponente für Myers Motivation, sich mit paranormalen Phänomenen auseinanderzusetzen, ist auf einen wissenschaftsinternen Aspekt hinzuweisen, der das fachfremde Engagement Myers begünstigte: Die Spezialisierung in der Wissenschaft war nicht so weit fortgeschritten und die Grenzen zwischen den einzelnen Disziplinen waren bedeutend durchlässiger, als dies heute der Fall ist. Der obigen kurzen Charakterisierung der Society for Psychical Research kann man entnehmen, dass sie Persönlichkeiten vereinte, die sehr unterschiedliche Fächer repräsentierten. Diese Breite stand in den Augen der Zeitgenossen der Ernsthaftigkeit des Unternehmens nicht entgegen, im Gegenteil, sie wurde als Bereicherung empfunden. Darüber hinaus muss man bedenken, dass die allermeisten Mitglieder wohlhabende Persönlichkeiten waren und zudem nicht unter dem heutigen akademischen Publikationszwang litten und sich deshalb durchaus die Zeit nehmen konnten, einigermaßen ungewöhnlichen Interessen nachzugehen. Die relative Durchlässigkeit der akademischen Disziplinen hatte es auch Myers ermöglicht, recht umfangreich auf dem Felde der Psychologie oder Parapsychologie zu veröffentlichen (insbesondere zwischen diesen beiden Richtungen war im Übrigen eine Trennung noch nicht erfolgt). Edward und Emily Kelly zählen denn auch nicht weniger als 67 wissenschaftliche Publikationen Myers auf, wobei die allermeisten Artikel in den Proceedings oder in der Journal of the Society for Psychical Research erschienen (Kelly und Kelly et al. 2010, S. 718 - 721). Der Umstand, dass die Society über eigene Publikationskanäle verfügte, trug selbstverständlich dazu bei, dass Myers seine zahlreichen Aufsätze publizieren konnte. Human Personality and Its Survival of Bodily Death Wie Myers in der Vorrede schreibt, basiert sein Buch auf einer „ Masse von Beweisen “ , die in den 18 Jahren des Bestehens der Society for Psychical Research gesammelt worden waren (Myers 1915, S. ix). Zum großen Teil besteht sein Werk aus der Diskussion von Fällen, die den 16 Bänden der Proceedings, den 9 Bänden der Journal of S. P. R. und dem bereits 1885 von Edmund Gurney unter Mitwirkung von Myers verfassten Buch Phantasms of 784 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft the Living entnommen wurden. Sie umfassen Fälle der Desintegration der Persönlichkeit (Kapitel II), des Genies (Kapitel III), des Schlafes (Kapitel IV), des Hypnotismus (Kapitel V), des sensorischen Automatismus 17 (Kapitel VI) sowie im 2. Band Erscheinungen von verstorbenen Personen ( „ Phantasms of the Dead “ , Kapitel VII), motorischn Automatismus 18 (Kapitel VIII) und schließlich Trance, Besessenheit und Ekstase (Kapitel IX). Persönlich war ich besonders von seinen Beschreibungen der telepathischen Experimente angetan, in welchen die „ Empfänger “ erstaunlich genau die „ gesendeten “ Bilder wiedergeben konnten (Appendices B-E to Chapter VI: Sensory Automatism, Myers 1915, S. 600 - 628), andererseits von den vielen detaillierten Beschreibungen von Geistererscheinung verstorbener Personen (Chapter VII: Phantasms of the Dead, Myers 1915 a, S. 1 - 80, und Appendices to Chapter VII, Myers 1915 a, S. 315 - 399). Auf der Grundlage dieser Fallbeschreibungen entwickelt Myers eine originelle Sicht der menschlichen Persönlichkeit. Ich werde mich im Weiteren auf die Wiedergabe der Schlussfolgerungen beschränken, die er bezüglich der Natur der menschlichen Persönlichkeit und grundlegenden weltanschaulichen Fragen zieht. Im Vorwort seines Werkes stellt Myers fest, dass es ihm bewusst ist, dass diese Untersuchung in der akademischen Welt nur sehr gering geschätzt wird und dass sein Werk nicht nur allerlei Kritik, sondern auch Abscheu und sogar Feindseligkeit in manchen Kreisen hervorrufen wird. Er äußert aber die Hoffnung, dass derartige Untersuchungen bereits für die nachfolgende Generation zur Selbstverständlichkeit werden (Myers 1915, S. viii). In der Einführung spricht er dann von einer Art Paradoxie der wissenschaftlichen Forschung. Die wissenschaftliche Methode wurde bereits äußerst erfolgreich und fruchtbar auf allerlei Probleme des täglichen Lebens angewandt, jedoch noch nie auf die Frage, die den Menschen am tiefsten und elementarsten betrifft: ob die Seele des Menschen unsterblich sei, oder anders gesagt: ob seine Persönlichkeit ein Element besitze, das den körperlichen Tod überdauern könne (ebd., S. 1). Myers sieht es als seine Aufgabe an, dieses Manko zu überwinden: It is my object in the present work - as it has from the first been the object of the Society for Psychical Research, on whose behalf most of the evidence here set forth has been collected, - to do what can be done to break down that artificial wall of demarcation which has thus far excluded from scientific treatment precisely the problems which stand in most need of all the aids to discovery which such treatment can afford. (Ebd., S. 2) 17 Myers versteht unter diesem Begriff die Fälle, in denen innere Visionen oder Auditionen zu Quasi-Wahrnehmungen externalisiert wird (Myers 1915, S. 222). 18 Unter diesem Begriff wiederum versteht Myers die Botschaften, die über Bewegungen der Beine, der Hände oder der Zunge vermittelt werden, welche nicht vom bewussten Willen initiiert werden (ebd.). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 785 Er hebt hervor, dass die Methoden zur Erforschung dieses tiefsten Rätsels den wissenschaftlichen Standards der Offenheit, Gewissenhaftigkeit in der Suche nach objektiven Belegen und der kritischen Analyse der Forschungsresultate entsprechen müssten (ebd.). Die fraglichen Phänomene müssen, so wie alle anderen Phänomene, mittels Experiment und Beobachtung untersucht werden, „ simply by the application to the phenomena within us and around us of precisely the same methods of deliberate, dispassionate, exact inquiry which have built up our actual knowledge of the world which we can touch and see “ (ebd., S. 7). Gegen Ende bekräftigt Myers nochmals seine Überzeugung, dass die Zeit gekommen sei, die Phänomene der geistigen Welt (er spricht hier sogar vom „ göttlichen Wissen “ ) mit wissenschaftlichen Methoden zu erforschen und den religiösen Glauben durch die Autorität von Beobachtung und Experiment zu ersetzen. I claim that there now exists an incipient method of getting at this Divine knowledge also, with the same certainty, the same calm assurance, with which we make our steady progress in the knowledge of terrene things. The authority of creeds and Churches will thus be replaced by the authority of observation and experiment. The impulse of faith will resolve itself into a reasoned and resolute imagination, bent upon raising even higher than now the highest ideals of man. (Ebd., S. 279) Myers äußert sogar die Überzeugung, dass die geistige Welt dem Wunsche der Menschen nach wissenschaftlicher Erforschung bereitwillig entgegenkommt: „ The newer scientific temper is not confined, as I believe, to the denizens of this earth alone. The spiritual world meets it, as I think our evidence has shown, with eager and strenuous response “ (ebd., S. 283). Es ist aber von Anfang an völlig klar, dass es Myers um die Überschreitung der Grenzen des herkömmlichen, materialistischen Paradigmas geht, gleichsam um die Überwindung der „ selbstverschuldeten Unmündigkeit “ 19 des menschlichen Geistes. Mit Verweis auf das bereits erwähnte Werk Phantasms of the Living stellt Myers fest, es gebe Kommunikation zwischen verschiedenen Personen, die sich nicht über die Sinnesorgane vollzieht (Telepathie) 20 (ebd., S. 8). Wenn aber inkarnierte Menschen auf diese Art unabhängig von 19 In einem Aufsatz für die Berlinischen Monatszeitschrift, dem führenden Organ der deutschen Aufklärung, beantwortete Immanuel Kant 1784 die Frage „ Was ist Aufklärung? “ : „ Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht aus Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. ‚ Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ‘ ist also der Wahlspruch der Aufklärung “ (http: / / www.uni-potsdam.de/ u/ philosophie/ texte/ kant/ aufklaer.htm, heruntergeladen am 21. 5. 2013). 20 Dieser Begriff ist Myers Bildung (vgl. die Website der SPR) 786 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft ihren Leibern interagieren können, gewinnt die Vermutung, dass andere Wesen unabhängig vom Leib existieren und uns auf eine ähnliche Art beeinflussen können, an Plausibilität (ebd., S. 15). Einige Seiten weiter stellt Myers die Frage, ob man berechtigt sei, von der Existenz der Telepathie (hier im umfassenden Sinn der Informationsübertragung zwischen Personen gemeint, auch zwischen Lebenden und verstorbenen Personen vgl. Myers 1915 a, S. 281f.) auf die Existenz der geistigen Welt, und sogar auf das Überleben des Persönlichkeitskerns nach dem Tode zu schließen. Ein solcher Schluss hätte weitgehende Folgen: To prove that telepathy implies a spiritual environment would be at once to lift our knowledge of the Cosmos to a higher level. To prove that man survives death would also be to transform and transfigure his whole life here and now. (Myers 1915, S. 25) Myers äußert auch die Zuversicht, dass seine Zeit zum ersten Mal über (die wissenschaftlichen) Methoden verfüge, diese Frage endgültig zu entscheiden (ebd., S. 25). Die zentrale Frage ist dabei, ob gezeigt werden könne, dass Menschen anderen, physisch weit von ihnen entfernten Menschen geistig erscheinen können (Myers spricht in diesem Falle von „ Phantasmen “ der Toten), nicht nur im Moment des Todes, sondern bereits nach ihrem Tode. Diese Frage kann jetzt, in Anbetracht der vorhandenen Daten, positiv beantwortet werden, behauptet Myers: Man, therefore, is not a planetary or a transitory being; he persists as very man among cosmic and eternal things. [. . .] [W]e come to find that there are traces over all the earth of indeterminate and unrecognized communications from a world of unembodied intelligences; - hauntings of unknown purport, and bearing nor perceptible relation to the thoughts or deeds of living men. (Ebd., S. 26) Bereits in der Einleitung zu seinem Werk stellt Myers den Begriff des subliminalen Selbst ( „ subliminal self “ ) vor, der einer seiner wichtigsten und originellen Beiträgen zur Psychologie bildet (vgl. Kelly und Kelly et al. 2010, S. 80 - 83). Schon früher hat Myers festgestellt, dass der Mensch kein Monolith ist, sondern ein Aggregat von unendlichen Möglichkeiten: The human individuality [is] a practically infinite reservoir of personal states; as a kaleidoscope which may be shaken into a thousand patterns, yet so that no pattern can employ all pieces contained in the tube. (Zitiert in Kelly und Kelly et al. 2010, S. 82) In seinem Opus magnum erweitert Myers diese Sicht und spricht nicht bloß von einer verborgenen Vielfalt des Menschen, sondern von einer hierarchischen Struktur: Es gibt ein tieferes Selbst des Menschen, das sich im gewöhnlichen Leben kaum oder nur stückweise offenbart, ein Selbst, das im phänomenalen Selbst allenfalls kurzzeitig aufflackert. Hierfür bildet Myers den Begriff des subliminalen Selbst ( „ subliminal Self “ ), der einen seiner wichtigsten und originellen Beiträge zur Psychologie bildet (vgl. Kelly und 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 787 Kelly et al. 2010, S. 80 - 83). Von ihm her öffnet sich Myers die Perspektive einer Post-Mortem-Existenz und der Reinkarnation des Menschen: I mean by the subliminal Self that part of the Self which is commonly subliminal; and I conceive that there may be, - not only co-operation between these quasiindependent trains of thought, - but also upheavals and alternations of personality of many kinds, so that what was once below the surface may for a time, or permanently, rise above it. And I conceive also that no Self of which we can here have cognisance is in reality more than a fragment of a larger Self, - revealed in a fashion at once shifting and limited through an organism not so framed as to afford its full manifestation. (Myers 1915, S. 15) An einer späteren Stelle hält er fest, dass das subliminale Selbst das tiefste und beständigste Element des Selbst sei (ebd., S. 221f., vgl. auch S. xl). Einzelne Bemerkungen Im Zuge der Diskussion von Fällen der Desintegration der Persönlichkeit bringt Myers seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die zentrale vereinigende Instanz der Persönlichkeit die dem Menschen innewohnende Seele ist und dass die Wirksamkeit solcher Seelen auch außerhalb der Organismen, bei lebenden ebenso wie bei toten, mehrmals beobachtet wurde (ebd., S. 35). Ein wenig später schildert er den Fall einer Patientin, deren subliminales Selbst sich äußerst feindlich zum gewöhnlichen Selbst verhielt (ebd., S. 63, vollständige Beschreibung des Falles im Appendix 234 A, ebd., S. 341 - 352). Im 3. Kapitel schildert Myers eine interessante Sicht der Natur der genialen Persönlichkeit. Genie bestehe seiner Meinung nach in einer verbesserten Kommunikation zwischen dem gewöhnlichen und dem subliminalen Selbst: „ The man of genius is what he is by virtue of possessing a readier communication than most men possess between his supraliminal and his subliminal self “ (ebd., S. 108). Myers ist davon überzeugt, dass das subliminale Selbst von jedem von uns über außergewöhnliche - eben geniale - Fähigkeiten verfügt. Genialität besteht für ihn also nicht darin, dass man über ein außergewöhnliches subliminales Selbst verfügt, sondern lediglich darin, dass man mit dem „ gewöhnlichen “ subliminalen Selbst besser kommuniziert. Die Fortsetzung dieses Abschnittes deutet aber darüber hinaus darauf hin, dass die genialen Fähigkeiten des „ gewöhnlichen “ subliminalen Selbst irgendwie in dessen Fähigkeit gründen, mit seiner geistigen Umgebung in Verbindung zu treten, obwohl es nicht zwingend über die Fähigkeit der Wahrnehmung konkreter Einzelheiten dieser Umgebung verfügen muss. Dazu braucht man - von Myers nicht weiter spezifizierte - höhere Fähigkeiten. From his subliminal self, he can only draw what it already possess; and we must not assume as a matter of course that the subliminal region of any one of us possesses that particular sensitivity - that specific transparency - which can register definite facts from the unseen. That may be a gift which stands as much 788 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft alone - in independence of other gifts or faculties - in the subliminal region, as, say, a perfect musical ear in the supraliminal. The man of genius may draw much from those hidden wells of being without seeing reflected therein any actual physical scene in the universe beyond his ordinary ken. And yet neither must we hastily assume that because the man of genius gets no definite impression of a world beyond our senses he does not therefore get any true impression, which is all his own. (Ebd., S. 108f.) Die Stelle macht deutlich, dass Myers das Genie als eine Art unvollkommene Hellsichtigkeit bzw. Clairvoyance betrachtet. Mit genau diesem Wort charakterisiert er es auch im 2. Band: Genius, as has been already said, is a kind of exalted but undeveloped clairvoyance. The subliminal uprush which inspires the poet or the musician, presents to him a deep, but vague perception of that world unseen, through which the seer or the sensitive projects a narrower but an exacter gaze. (Myers 1915 a, S. 282; vgl. auch Myers 1915, S. 280) 21 Im Zuge der Diskussion des Schlafes kommt Myers zu dem Schluss, dass wir nicht in einer, sondern eigentlich in zwei Welten, in der der gewöhnlichen Sinne und in einer übersinnlichen oder geistigen, leben, wofür ihm insbesondere die Tatsache, dass der Schlaf für die Gesundheit notwendig ist, dass er den Leib gleichsam magisch stärkt und kräftigt, spricht: [My] view obviously involves the hypothesis that we are living a life in two worlds at once; a planetary life in this material world, to which the organism is intended to react; and also a cosmic life in that spiritual or metetherial world, which is the native environment of the soul. From that unseen world the energy of the organism needs t be perpetually replenished. That replenishment we cannot understand [. . .]. (Myers 1915, S. 151). Interessanterweise skizziert er in diesem Zusammenhang auch eine Art Theorie der Entwicklung des supra- und subliminalen Selbst. Jenes zielt auf die Erlangung der vollständigen Kontrolle über die Ressourcen der Persönlichkeit, deren Kulminationspunkt eben Genie genannt wird. Dieses wird erreicht, wenn das supraliminale Selbst bei der Verfolgung seiner bewussten Ziele das subliminale integriert (ebd., S. 152). Es scheint aber, dass Myers auch die Möglichkeit der Entwicklung des subliminalen Selbst vorgesehen hat, wobei es nicht einfach ist, Myers Intention genau zu eruieren, da er nicht einen, sondern drei Begriffe ins Spiel bringt, deren Verhältnis zueinander aber unscharf bleibt: das subliminale Selbst, die schlafende Persönlichkeit und schließlich die Seele. Über die Entwicklung der Seele schreibt Myers: 21 An einer anderen Stelle beschreibt Myers das Phänomen des Genies als „ Besitzergreifen von Gehirnzentren durch das subliminale Selbst “ (Myers 1915 a, S. 192f.). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 789 The same withdrawal from the surface which, while it diminishes power over complex muscular processes, may at the same time increase the soul ’ s power of operating in that spiritual world to which sleep has drawn it nearer. (Ebd.) Im Kapitel, das der Diskussion des Hypnotismus gewidmet ist (die „ Wunder von Lourdes “ sind für Myers übrigens Fälle von Selbstsuggestion, ebd., S. 212 - 215), entwickelt Myers die Idee, dass der Mensch an drei Welten teilhabe. Wir existieren zunächst in der Welt der Materie, aus der wir die Nahrung für unsere Körperfunktionen schöpfen (ebd., S. 215). Wir leben aber auch in einer Welt des Äthers: 22 Wir sind so beschaffen, dass wir mit seinen Gesetzen harmonieren, die sich zwar als eine Erweiterung der Gesetze der Materie erweisen, die aber tiefer in den Kosmos greifen. Wir sind von dieser Umgebung in unserer organischen Existenz ebenso abhängig wie von der materiellen Umgebung, wenngleich diese Abhängigkeit weniger augenscheinlich ist. In ways which we cannot fathom, the ether is at the foundation of our physical being. Perceiving heat, light, electricity, we do but recognise in certain conspicuous ways [. . .] the pervading influence of etherial vibrations which in range and variety far transcend our capacity of response. (Ebd., S. 215) Innerhalb oder auch jenseits ( „ within, beyond “ ) der Welt des Äthers befindet sich nach Myers eine noch allgemeinere Sphäre, die Welt des geistigen Lebens (spiritual life). Myers behauptet, dass wir bereits über ausreichende Belege für die These verfügten, dass diese metaätherische (metethereal) Welt von der materiellen Welt unabhängig sei (ebd.). Auch aus dieser Umgebung schöpfen wir Energie für unsere Existenz. Unsere individuellen Geister und Organismen leben kraft dieser spirituellen Energie, die der chemischen Energie zugrunde liege (ebd., S. 218). Wenn aber dies der Fall ist, müsse man sich auch vorstellen, dass wir diese spirituelle Energie erneuern und auffrischen müssen, wie wir dies auch mit der chemischen Energie tun. Um chemische Energie zu erneuern, leben wir in einer warmen Umgebung und nehmen Nahrungsmittel zu uns. Um spirituelle Energie erneuern zu können, sollten wir dementsprechend in einer geistigen Umgebung leben und von Zeit zu Zeit eine besondere Zufuhr (special influx) geistigen Lebens absorbieren (ebd.): In my view, then, each man is essentially a spirit, controlling an organism which is itself a complex of lower and smaller lives. The spirit ’ s control is not uniform throughout the organism, nor in all phases of organic life. In waking life it controls mainly the centres of supraliminal thought and feeling, exercising little control over deeper centres [. . .]. But in subliminal states - trance and the like - the supraliminal processes are inhibited, and the lower organic centres are retained more directly under the spirit ’ s control. As you get into the profounder part of man ’ s being, you get nearer to the source of his human vitality. You get thus into a 22 Man muss bedenken, dass zu dieser Zeit die Physik mit Äther den Träger des Lichtes meinte. 790 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft region of essentially greater responsiveness to spiritual appeal than is offered by the superficial stratum which has been shaped and hardened by external needs into a definite adaptation to the earthly environment. (Ebd., S. 217) Myers schließt dieses Kapitel mit einem Aufruf, dessen konzentrierte Form sich kaum adäquat übersetzen lässt: Let men realise that their most comprehensive duty, in this or other worlds, is intensity of spiritual life; nay, that their own spirits are co-operative elements in the cosmic evolution, are part and parcel of the ultimate vitalising Power. (Ebd., S. 219) Im Kapitel, das dem „ motorischen Automatismus “ gewidmet ist, gelangt Myers zu der Feststellung, dass das Phänomen der Geisterscheinungen, insbesondere die Erscheinung von Personen, die bereits längere Zeit tot sind, zu der Annahme berechtige, dass der Mensch primär Geist sei und als solcher den physischen Tod überlebe (Myers 1915 a, S. 83). Überdies meint Myers, dass die von ihm diskutierten Phänomene mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit den Schluss zuließen, dass der Mensch seine Existenz nach dem leiblichen Tode fortsetze, und zwar zusammen mit den Verstorbenen (ebd., S. 288). Er gibt zu, dass es auf diesem Gebiete viele falsche Propheten und viele Illusionen gebe, meint aber, dass unter dem Strich die zuverlässigen Belege überwiegen (ebd.). 23 Wir haben bereits gesehen, dass Myers das Genie als eine gleichsam unterentwickelte Form der Hellsichtigkeit versteht. Ebenso originell ist seine Sicht der Liebe. Diese sei eine erhabene, aber unspezifische Form der Telepathie (exalted, but unspecified telepathy), der einfachste, aber auch universellste Ausdruck der gegenseitigen Anziehung oder Verwandtschaft zwischen den Geistern 24 (ebd., S. 282). Diese Einsicht zerstreue, so Myers, die verbreitete Befürchtung, dass der Mensch im Grunde ein einsames und egoistisches Wesen sei, das sich nur aus utilitaristischen Gründen zu anderen Menschen geselle und dass die Menschen einander immer Fremde, wenn nicht Feinde seien. Denn unser innerste Wesen verbindet uns mit den anderen Menschen: Such fears, I say, vanish when we learn that it is the soul in man which links him with other souls; the body which dissevers even while it seems to unite; so that “ no man liveth to himself nor dieth to himself ” , but in a sense which goes deeper than metaphor, “ We are every one members one of another. ” Like atoms, like suns, like galaxies, our spirits are systems of forces which vibrate continually to each other ’ s attractive power. (Ebd.) Ein weiterer wichtiger Schluss, der sich für Myers aus der Betrachtung der von ihm behandelten Phänomene ergibt, ist, dass der Mensch nicht nur eine 23 „ We have shown that amid much deception and self-deception, fraud and illusion, veritable manifestations do reach us from beyond the grave “ (ebd., S. 288). 24 „ Love is a kind of exalted, but unspecified telepathy; - the simplest and most universal expression of that mutual gravitation or kinship of spirits which is the foundation of the telepathic law “ (ebd., S. 282). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 791 leibliche Evolution hinter sich hat, sondern auch einer spirituellen Evolution unterworfen ist, die sich in die Zukunft erstreckt: „ Spiritual evolution [. . .] is our destiny, in this and other worlds; an evolution gradual with many gradations, and rising to no assignable close “ (ebd., S. 281). Das Endziel ist zwar vielleicht nicht deutlich erkennbar, aber die Richtung dieser Evolution scheint Myers ziemlich klar: Bei den Menschen, die auf der Erde inkarniert sind, zielt sie auf eine Steigerung der Heiligkeit (growth in holiness), die Myers definiert als „ the joy too high as yet for our enjoyment; the wisdom just beyond our learning; the rapture of love which we still strive to attain “ (ebd., S. 291). Was die Seelen der Verstorbenen betrifft, sieht Myers das Ziel ihrer Evolution als die endlose Steigerung der Weisheit und der Liebe: „ I at least see ground to believe that their state is one of endless evolution in wisdom and in love. Their loves of earth persist; and most of all those highest loves which seek their outlet in adoration and worship “ (ebd., S. 287). Trotz seiner Vorstellung einer dauerhaften Evolution der inkarnierten und diskarnierten Menschen greift Myers nicht zur Idee der Reinkarnation, ohne die es wohl schwierig sein wird, die Idee des seelischen Fortschritts unter den Verstorbenen erklärlich zu machen. Denn wenn für die (entkörperten) Menschen seelischer Fortschritt auch ohne Inkarnation auf der Erde möglich ist, stellt sich notwendigerweise die Frage, wozu sie überhaupt nötig sind. Myers berührt dieses Problem und merkt an, dass sich in der westlichen Zivilisation Platon und Virgil wohlwollend dieser Idee gegenüber gezeigt haben, stellt aber fest, dass es keine stichhaltige Beweise für die Reinkarnation gebe (ebd., S. 134). Myers ist so tief vom Überleben des physischen Todes durch die geistige Entelechie des Menschen überzeugt, dass er empfiehlt, die Kommunikation mit den Verstorbenen, die ihre ersten Anfänge durch die von ihm unternommenen Forschungen erfahren hat, zu intensivieren. In einer solchen Kommunikation sieht er auch die Möglichkeit, dass sich die inkarnierten Menschen durch die Verstorbenen über ihre Absichten und Intentionen belehren lassen: We look, not backward to fading tradition, but onward to dawning experience. We hope that the intercourse, now at last consciously begun - although as through the mouth of babes and sucklings, and in confused and stammering speech - between discarnate and incarnate souls, may through long effort clarify into a directer communion, so that they shall teach us all they will. (Ebd., S. 290) Im Appendix C zum letzten Kapitel (Prayer and Supplication) regt Myers an, sich an die Toten auch mit der Bitte um Belehrung, Erneuerung und Steigerung der Lebenskräfte zu wenden (ebd., S. 312). Die von Myers diskutierten Forschungsresultate haben seiner Meinung nach auch Konsequenzen für die religiösen Bekenntnisse und insbesondere für die christliche Religion, denn diese Resultate zeigten, dass die zentrale Tatsache des Christentums, die Auferstehung Christi, keine Ausnahme, 792 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft sondern eher eine Kulmination sei, ein Ereignis, dass das kosmische Gesetz nicht zerstöre, sondern eher erfülle (ebd., S. 283). Die Folgen seiner Untersuchungen für die christliche Religion werden von Myers in einem gesonderten Abschnitt des letzten Kapitels (X Epilogue) des Werkes unter dem Titel „ Provisional Sketch of a Religious Synthesis “ (ebd., S. 284 - 292) dargestellt. Dort stellt er unter anderem fest, dass die von ihm beigebrachten Belege für die Kommunikation zwischen den Verstorbenen und Lebenden die zentrale Behauptung des Christentums bestätigt „ wie noch nie zuvor “ (ebd., S. 288): By His appearance after bodily death He proved deathlessness of the spirit. By His character and His teaching He testified to the Fatherhood of God. So far, then, as His unique message admitted of evidential support, it is here supported. So far as He promised things unprovable, that promise is here renewed. (Ebd., S. 288) Ferner wagt er die mutige Prophezeiung, dass dank der angeführten Belege innerhalb nur eines Jahrhunderts alle vernünftigen Menschen an die Auferstehung Christi glauben werden, während ohne sie kein vernünftiger Mensch an sie glauben würde (ebd., S. 288). Gegen Ende seines Werkes schildert Myers eine hoffnungsvolle Vision der Vereinigung der Religion und der Wissenschaft, die nicht mehr verfeindet, sondern vielmehr in einer höheren Harmonie vereint die Menschheit auf dem Wege der Steigerung des Lebens, der Liebe und der Freude führen werden: Science, then, need be no longer fettered by the limitations of this planetary standpoint; nor ethics by the narrow experience of a single life. Evolution will no longer appear as a truncated process, an ever-arrested movement upon an unknown goal. Rather we may gain a glimpse of an ultimate incandescence where science and religion fuse in one; a cosmic evolution of Energy into Life, and of Life into Love, which is Joy. Love, which is Joy at once and Wisdom [. . .]. (Ebd., S. 290f.) Würdigung Was sollen wir von Myers Ausführungen halten? Sind sie eine ernstzunehmende Wissenschaft oder eher das Gerede eines gutmeinenden, aber naiven Dilettanten? Parapsychologie genießt heute keinen guten Ruf, daran konnte auch der Altmeister dieser Disziplin Charles T. Tart mit seiner vor einigen Jahren erschienenen Verteidigungsschrift wenig ändern (Tart 2009; s. auch unten für die ausführlichere Behandlung dieses Werkes). Wie die obige Übersicht der ersten Präsidenten der Society for Psychical Research zeigt, zog diese Disziplin in ihren Anfängen allerdings die besten Köpfe an, was sich von den neueren Präsidenten der Gesellschaft nicht unbedingt sagen lässt (die letzten drei Präsidenten der Gesellschaft waren bzw. sind: 2005 - 2007: John Poynton: Professor emeritus der Biology, Universität von Natal; Scientific Fellow der Zoological Society of London; Associate des Natural History Museum, London; 2007 - 2011: Deborah Delanoy: Professorin für Psychologie, Universität von Northampton; Forschungsdirektorin der School of Behaviour Studies, Direktor des Centre for the Study of Anomalous Psycho- 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 793 logical Processes, Northampton; seit 2011: Richard Broughton: früherer Direktor des Rhine Research Center, Autor zahlreicher wissenschaftlicher Artikel und eines bekannten Buchs über Parapsychologie. 25 Myers selbst wird auch heute noch rezipiert, wenn nicht von der ersten, so doch von der zweiten Garde von Wissenschaftlern. Dennoch ist festzuhalten, dass sich das allgemeine Interesse an paranormalen Phänomenen abgekühlt hat und die Forschung auf diesem Gebiet ein eher randständiges Dasein fristet. Noch in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts war die Situation aber anders: Als Upton Sinclairs Buch Mental Radio erschien, zog es das Interesse eines wissenschaftlichen Genies wie Albert Einstein an. Sinclair (1878 - 1968), ein äußerst erfolgreicher Schriftsteller, der fast 100 Bücher in verschiedenen Gattungen verfasste und Pulitzerpreisträger war, beschrieb in seinem Buch- Experimente zu telepathischer Übertragung, die er mit seiner zweiten Frau Mary Craig Kimbrough durchführte, wobei er zu denselben Ergebnissen kam wie Myers. Albert Einstein schrieb in seinem Vorwort zu dem Buch: Ich habe das Buch von Upton Sinclair mit großem Interesse gelesen und bin überzeugt, dass dasselbe die ernsteste Beachtung, nicht nur der Laien, sondern auch der Psychologen vom Fach verdient. Die Ergebnisse der in diesem Buch sorgfältig und deutlich beschriebenen telepathischen Experimente stehen sicher weit außerhalb desjenigen, was ein Naturforscher für denkbar hält. Andererseits aber ist es bei einem so gewissenhaften Beobachter und Schriftsteller wie Upton Sinclair ausgeschlossen, dass er eine bewusste Täuschung der Leserwelt anstrebt; seine bona fides und Zuverlässigkeit darf nicht bezweifelt werden. Wenn also etwa die mit großer Klarheit dargestellten Tatsachen nicht auf Telepathie, sondern etwa auf unbewussten hypnotischen Einflüssen von Person zu Person beruhen sollten, so wäre auch dies von hohem psychologischen Interesse. Keinesfalls also sollte die psychologisch interessierten Kreise an diesem Buch achtlos vorübergehen. A. Einstein den 23. Mai 1930. (Upton 2001, S. xi) William McDougall FRS (1871 - 1938), ein einflussreicher englischer Psychologe, der die zweite Hälfte seiner Karriere in den Vereinigten Staaten verbrachte, war so von Sinclairs Buch angetan, dass er nicht nur das zweite Vorwort schrieb, sondern sich auch entschloss, an der Duke University in Durham, North Carolina, eine Abteilung für Parapsychologie zu gründen. Die Erforschung paranormaler Phänomene genoss, so dürfen wir festhalten, früher einen höheren Stellenwert, als dies heute der Fall ist. Allerdings sind die Phänomene, die heute erforscht werden, auch viel weniger interessant als jene, die im „ Goldenen Zeitalter “ von Myers und Co. die Gemüter erhitzten. Denn während Myers und seine Mitstreiter noch Séancen mit Medien besuchten, die in (vermeintlichem) Kontakt mit Verstorbenen standen, oder es mit Menschen zu tun hatten, die ihr Phantom (vermeintlich) willentlich an einem weit entfernten Ort erscheinen lassen konnten (Myers 25 http: / / www.spr.ac.uk/ main/ page/ past-presidents-parapsychology (heruntergeladen am 23. 5. 13). 794 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 1915, S. 25, 292 - 297, 688 - 700), führt man heute recht unspektakuläre Experimente mit Zener-Karten oder sog. Ganzfeld-Experimente durch. Die Tage der außergewöhnlichen oder außergewöhnlich begabten Medien wie z. B. Mrs Willet (vgl. Nunn 2011, bes. S. 5 - 18) scheinen vorbei zu sein. Warum eigentlich? Eine naheliegenden Erklärung für den heutigen Mangel an paranormalen Phänomenen würde darin liegen zu postulieren, dass jene, die behaupteten, außergewöhnliche paranormale Fähigkeiten zu besitzen, allesamt Schwindler und Betrüger waren, und diejenigen, die an solche Fähigkeiten glaubten bzw. sie wahrzunehmen glaubten, allesamt naive und leichtgläubige Dilettanten. Das hieße, den doch durchaus angesehenen Forschern der „ ersten Stunde “ der SPR, aber auch einem Albert Einstein Naivität zu unterstellen. Was sind die Alternativen? Sie sind nicht einfach zu finden. Eine Möglichkeit wäre, dass zumindest einige außergewöhnliche Phänomene, die um 1900 beobachtet wurden, heute einfach nicht mehr vorkommen oder unvergleichbar seltener sind. Neben dem allgemeinen Zuwachs an Erkenntnisfähigkeit hat die menschliche Spezies im Zuge der Entwicklung bekanntlich auch manche Fähigkeiten abgebaut. So ist die Gedächtnisleistung bei Urvölkern, die noch nicht Lesen und Schreiben gelernt haben, viel stärker ist als unsere. Ähnliches gilt für das sog. eidetische Gedächtnis. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass gewisse Fähigkeiten (z. B. telepathische Fähigkeiten, Kommunikation mit Verstorbenen, Wahrnehmung von „ Phantomen “ lebender bzw. verstorbener Personen usw.) früher verhältnismäßig weit verbreitet waren. Dagegen scheint die Tatsachen zu sprechen, dass uns keine Berichte darüber vorliegen, dass z. B. Geisterbzw. Gespensterschau früher weit verbreitet war. Man muss hier aber mit voreiligen Schlüssen vorsichtig sein. Denn erstens werden wir keine Wissenschaftler mehr finden, die entsprechende Phänomene hätten untersuchen können, wenn wir ausreichend weit zurückgehen, und zweitens merkt bekanntlich ein Fisch nicht, dass er im Wasser schwimmt und nicht fliegen kann: Wenn etwas allgegenwärtig ist, wird es zu einer Selbstverständlichkeit und daher nicht nicht mehr wahrgenommen. Wenn also z. B. Kommunikation mit Verstorbenen oder prophetische Träume irgendwann Alltag waren, würden sie überhaupt nicht als Besonderheiten registriert worden sein. Als Beispiel mag die berühmte Begegnung von Hamlet (1. 4. 38 - 91) mit dem Gespenst von Hamlets verstorbenen Vater dienen (auch Horatio, Barnardo und Marcellus begegnen ihm übrigens [1. 1. 43 - 180]), der eine durchaus wahrheitsgetreue Erzählung über die Umstände seines Todes liefert. Daran wird deutlich, dass die Geisteserscheinung zwar als außergewöhnlich, nicht aber als pathologisch beurteilt wird. Vielleicht machte es zur Shakespeares Zeit tatsächlich Sinn, von Geistererscheinungen als von einer erlebbaren Wirklichkeit zu sprechen? Jedoch selbst wenn man dies annehmen würde, würde dies das Rätsel des raschen Verschwindens gewisser Fähigkeiten im Laufe von lediglich ca. 50 - 80 Jahren nicht erklären. Das Rätsel bleibt also bestehen. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 795 Ich möchte zum Abschluss noch auf einen Bericht in Myers ’ Opus aufmerksam machen, der auf eine mögliche Veränderung in der Form der Erscheinung der paranormalen Phänomene in der neuesten Zeit hinweist. Auf S. 315 - 323 des 2. Bandes von Human Personality (Appendix 713 A zum Kapitel VII) finden wir eine Schilderung dessen, was heute allgemein Nahtoderlebnis genannt wird. Es handelt sich um das Erlebnis des Arztes Dr. Wiltse, der infolge einer Typhuserkrankung mit Komplikationen im Sommer 1889 bewusstlos wurde und einen Herzstillstand erlitt. Der anwesende Arzt konnte ca. eine halbe Stunde lang keine Lebenszeichen erkennen. Nach vier Stunden der Bewusstlosigkeit kam der Patient zu sich, acht Wochen später schilderte er seine Erlebnisse während dieses Zustandes. Was er beschrieb, war eine komplexe außerkörperliche Erfahrung (AKE): Er hatte seinen Leib verlassen und ihn von außen betrachtet, er konnte auch genau und, wie sich später herausgestellt hat, wahrheitsgetreu die Personen im Zimmer und ihre Tätigkeiten beschreiben. Er ging dann aus dem Haus auf die Straße, fand sich dort in der Luft wie von einigen Händen gestützt und bewegte sich schließlich ( „ flog “ ) über ein ihm unbekanntes Gebiet. Er fühlte sich bald einsam und sehnte sich nach Gesellschaft, aber niemand half ihm. Dann wurde er einiger riesiger Felsenblöcke gewahr, die seinen Weg versperrten und über denen eine Wolke hing, die von Lichtblitzen durchzuckt wurde. Er meinte auch die Anwesenheit einer überragenden Intelligenz darin zu verspüren, obwohl er kein Wesen wahrnehmen konnte. Dann erhielt er von ihr eine Botschaft in einer Sprache, die für ihn zwar verständlich war, aber keine menschliche Sprache zu sein schien: This is the road to the eternal world. Yonder rocks are the boundary between the two worlds and the two lives. Once you pass them, you can no more return into the body. If your work was to write the things that have been taught you, waiting for mere chance to publish them, if your work was to talk to private individuals in the privacy of friendship - if this was all, it is done, and you may pass beyond the rocks. If, however, upon consideration you conclude that it shall be to publish as well as to write what you are taught, if it shall be to call together the multitudes and teach them, it is not done and you can return into the body. (Myers 1915 a, S. 319f.) Er fühlte die Versuchung, die Grenze zu überschreiten, wurde aber durch eine kleine, tiefschwarze Wolke aufgehalten und bewusstlos. Dann öffnete er seine leiblichen Augen (ebd., S. 321). Wer mit den Beschreibungen von Nahtoderfahrungen in Moodys bahnbrechendem Buch Life after Life vertraut ist, wird in der obigen Schilderung einige Übereinstimmungen, aber auch wesentliche Abweichungen entdecken. Die Ähnlichkeiten bestehen vor allem darin, dass man den eigenen Leib verlässt, ihn von außen sieht, dass man die Personen, die um ihn herumstehen, erkennt, den Raum, in welchem der Leib liegt, verlässt und sich auf eine Art Wanderung in der Luft begibt. Es fehlt dagegen die Tunnelerfahrung und die Begegnung mit einer „ Lichtgestalt “ und/ oder mit verstorbenen Verwandten. Hat sich der Charakter einer NTE in der (verhält- 796 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft nismäßig kurzen) Zeit seit 1889 geändert, oder soll man diese wesentlichen Unterschiede einfach der allgemeinen Variation in der individuellen Beschreibungen dieser Erfahrungen zuschreiben? Wenn aber die Tatsachengrundlage von Myers ’ Werk zumindest einigermaßen glaubwürdig ist, was sollen wir von seinen doch recht ungewöhnlichen Schlüssen über die Natur des Menschen und insbesondere über sein Überleben nach dem Tode halten? Logisch gesehen, ist die Korrektheit der Prämisse ausreichend, um die Korrektheit der Schlüsse zu sichern (vorausgesetzt, dass der Übergang von den Prämissen zu den Schlüssen nach den Regeln des logischen Schließens erfolgt). Es scheint auch tatsächlich so zu sein, dass Myers seine außergewöhnlichen Schlussfolgerungen eng an die ihm zur Verfügung stehenden Fakten anlehnt. Könnten sie der Wahrheit entsprechen? Hans Driesch und Neuvitalismus Biographie 1905 erschien in Leipzig das Buch Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre des bekannten deutschen Biologen Hans Driesch (1867 - 1941). Driesch studierte u. a. Zoologie an der Universität Jena bei Ernst Haeckel und Oskar Hertwig und Botanik bei Ernst Stahl. 1889 promovierte er bei Haeckel mit der Arbeit „ Tektonische Studien an Hydroidpolypen “ . 1890 unternahm er Studienreisen nach Indien und Lesina. Ab 1891 war er an der Zoologischen Station Neapel tätig, wo er experimentelle entwicklungsmechanische Studien am Seeigelkeim vornahm und ihm durch „ Schüttelversuche “ die Trennung der ersten Furchungszellen gelang. Deren Weiterentwicklung zu ganzen Individuen schien ihm mit der materialistisch-mechanischen Auffassung der Biologie unvereinbar, weshalb er sich den Neovitalisten anschloss, deren wichtigster Vertreter er schließlich wurde. 26 Auf diesen Neuorientierung geht Driesch in seinem Vitalismus-Buch ein (Driesch 1905, S. 161f.). Ab 1900 war Driesch Privatgelehrter in Heidelberg, im Jahr 1904 wurde er zum Mitglied der 1652 gegründeten Deutschen Akademie der Naturforscher (die spätere „ Leopoldina “ ) gewählt. 1907 erhielt Driesch den Lehrstuhl für Natürliche Theologie in Aberdeen, 1909 wurde er Privatdozent für Naturphilosophie an der Universität Heidelberg, 1911 außerordentlicher Professor und 1920 Ordinarius für Philosophie an der Universität Köln, 1921 ordentlicher Professor und Direktor des Philosophischen Seminars der Universität Leipzig. Ab 1924 beschäftigte sich Driesch auch mit Parapsychologie, und fungierte von 1926 bis 27 als Präsident der Society for Psychical Research in London. 1932 publizierte er eine Methodenlehre für dieses Gebiet, die vielfach neu auf- 26 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Hans_Driesch (heruntergeladen am 25. 5. 2013). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 797 gelegt wurde. Driesch war Pazifist, weshalb ihm im NS-Staat der Lehrauftrag entzogen wurde. 27 Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre Im ersten Teil seines Buches gibt Driesch eine ausführliche Darstellung der Geschichte des Vitalismus. Dazu geht er bis auf Aristoteles ’ De generatione animalium (Über die Entstehung der Tiere) zurück. Er erinnert daran, dass für Aristoteles der Körper aus dem Samen durch eine Art Beseelung des von der Mutter gelieferten Stoffes gebildet wird (Driesch 1905, S. 16). Nach Aristoteles ist die Seele die „ vollendete Wirklichkeit “ , das, was sein Ziel in sich selbst hat (Entelechie) und organisiert als solche den Körper organisiert (ebd., S. 17), wobei er drei Arten unterscheidet: die Ernährungsbzw. Wachstumsseele, die den Pflanzen, Tieren und Menschen gemeinsam ist, die Empfindungsseele, die nur den Tieren und Menschen eigen ist, und schließlich die Vernunft (nous), die der Mensch allein besitze und göttlichen Ursprungs sei (ebd., S. 16f.). Diese vitalistische Lebenslehre war bis ins 17. Jahrhundert prägend (ebd., S. 20). So vertrat noch William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufsystems, (1578 - 1657), die Auffassung, dass „ Omne vivum ex ovo “ sei ( „ Alles lebendige stammt aus dem Ei “ ) (ebd., S. 25), im Ei aber ist für ihn die aristotelische „ anima vegetativa “ tätig (ebd., S. 26). Einige Jahrzehnte später meinte Georg Ernst Stahl (1660 - 1784), der Urheber der Phlogiston-Theorie, dass die bewusste Seele der Urgrund des Lebens sei (ebd., S. 29). Die Seele ist für ihn - gemäß der aristotelischen Tradition - ein dreifaches Wesen: aktiv, bewegend, vernünftig, und sie schaffe sich den Körper, weil sie ein „ instrumentum “ brauche. Nur durch die Seele existiert also der Organismus. Sie wirkt auf den Körper durch ihre Leidenschaften, würde aber ohne den Körper auch nichts vermögen, weder aktiv noch passiv. Ihre eigentliche Leistung aber sind die gerichteten und geordneten Bewegungen (ebd., S. 30). Auch George Louis Leclerc Buffon (1702 - 1788) nimmt Driesch in seine Geschichte auf. Zwar vertrat er in seiner berühmten Histoire naturelle (Paris 1749) eine Präformationstheorie (alles Wachstum ist nur Anlagerung gleicher, dem Wesen nach schon vorhandener Teile: im Samenkorn ist schon der Baum) (ebd., S. 38), zugleich aber war er der Ansicht, dass eine „ innere Form “ ( „ moule interne “ ) die Entwicklung leite, die ebenso real wie die Schwerkraft (ebd., S. 39) sei und das Ergebnis besonderer, dem Lebendigen zukommender Kräfte (ebd., S. 40). Besonders der englische Jesuit John Needham, der Vertreter der spontanen Generationstheorie, und Pierre Louis Moreau de Maupertuis, ein französische Mathematiker, Astronom und Philosoph, der 1740 die Leitung der Berliner Akademie übernahm, standen unter seinem Einfluss (ebd.). Auch der deutsche Physiologe und Begründer der modernen Embryologie Caspar Friedrich Wolff (1734 - 1794), der die Präformationslehre wider- 27 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Hans_Driesch (heruntergeladen am 25. 5. 2013). 798 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft legte und an ihre Stelle die Embryogenese setzte, ist ein wichtiger Vertreter des Vitalismus. Wolff war der Auffassung, dass der in Entwicklung begriffene Körper keine Maschine ist (ebd., S. 44) und dass die Entwicklung des Organismus durch eine besondere, lebenseigene Kraft gesteuert wird, welche er als „ vis essentialis “ bezeichnet (ebd., S. 43). In Johann Friedrich Blumenbach (1752 - 1840) erreicht die zweite Periode (nach der Antike) ihren Abschluss (ebd., S. 53f.); seine Schrift: Über den Bildungstrieb stellt ein ausgearbeitetes System dar (ebd., S. 56). Als Lebenskräfte nennt Blumenbach Kontraktibilität, Irritabilität und Sensibilität (ebd., S. 54). Über die Natur dieser Kräfte finden sich allerdings keine näheren Ausführungen. Blumenbach erwähnt daneben noch eine vierte Kraft: den „ nisus formativus “ , dessen Aufgabe die Formbildung sei. Diese Kraft sei allen lebenden Körpern eigen (ebd., S. 55). Auch für Immanuel Kant hat der Organismus eine „ bildende Kraft “ (Kritik der Urteilskraft) (ebd., S. 62) und stellt einen „ Naturzweck “ dar (ebd., S. 68), d. h. er ist Ursache und Wirkung seiner selbst (ebd.). Naturzwecke sind mithin nicht durch Naturkausalität erklärlich (ebd., S. 70). Driesch zitiert in diesem Zusammenhang den berühmten Ausspruch Kants, dass nie ein Newton kommen werde, der auch nur die Entstehung eines Grashalms nach Naturgesetzen, „ die keine Absicht geordnet hat “ , wird erklären können (ebd., S. 76). Kant könne man daher, so Driesch, als einen Vitalisten bezeichnen, „ mag er selbst diesen Schluss ziehen oder nicht “ (ebd., S. 70). Die Naturphilosophien Schellings oder Hegels sind für Driesch aus Sicht des Vitalismus zunächst indifferent, da sie sowohl mit einer statischen als auch einer dynamischen Auffassung der Teleologie vereinbar seien (ebd., S. 83). Unter statischer Teleologie versteht er eine grundsätzlich mechanische Auffassung des Organismus, innerhalb welcher die Zweckmäßigkeit nur scheinbar ist; nur die „ dynamische Teleologie “ entspricht dem vitalistischen Verständnis des Organismus (vgl. ebd., S. 4f.). Allerdings haben die von ihnen beeinflussten Biologen für den Vitalismus Bedeutung gewonnen (ebd., S. 82). Auch Goethes naturphilosophische Ansichten erwähnt Driesch nur flüchtig, da sie sich vorwiegend mit dem Begriff „ Typus “ beschäftige, nicht mit dem der Lebenskraft (ebd., S. 84). Mit dem deutschen Arzt und Naturforscher Gottfried Reinhold Treviranus (1776 - 1837) habe dann der dogmatische Vitalismus begonnen, der eine Begründung seiner selbst nicht mehr für nötig gehalten habe (ebd., S. 89). Das Probleme der Formbildung trete bei ihm zugunsten des Problems der Instinkte zurück. Zwischen 1802 und 1822 erschienen sechs Bände seiner Biologie oder Philosophie der lebenden Natur, in welchen das Leben als etwas der Materie Fremdes dargestellt werde (ebd., S. 91). Materie und Lebenskraft befinden sich in Wechselwirkung (ebd., S. 92). Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth (1772 - 1835) charakterisiert Driesch als Vertreter des „ schulmäßigen Vitalismus “ . Nach Autenrieth ist die Lebenskraft selbstständig, unabhängig vom Körper (ebd., S. 96). Auch den bedeutenden deutschen Physiologen und Neuroanatom Karl Friedrich Burdach 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 799 (1776 - 1847), der 1826 - 1840 das sechsbändige Werk Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft veröffentlichte, rechnet Driesch dem Vitalismus zu (ebd., S. 98). Burdach vertrat die Ansicht, dass der Materialismus stets nur Einzelheiten, nie aber die Beziehungen zum Ganzen erklären könne (ebd., S. 99). Das Leben müsse aus einem einzigen Grund erklärt werden. Lebenskraft ist für Burdach dieser in bestimmten Schranken sich verwirklichende „ Urgedanke “ (ebd.). In diesem Sinne schrieb der deutsch-baltische Naturforscher, Zoologe, Embryologe Karl Ernst von Baer (1792 - 1876), ein Schüler Burdachs und der Entdecker der menschlichen Eizelle (1827): „ Die Palme aber wird der Glückliche erringen, dem es vorbehalten ist, die bildenden Kräfte des tierischen Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder Lebensrichtungen des Weltganzen zurückzuführen “ (zitiert ebd., S. 100). Von Baer war der Ansicht, dass ein Grundgedanke durch alle Formen und Stufen der tierischen Entwicklung gehe und alle einzelnen Verhältnisse beherrsche. Derselbe Gedanke ist im Weltraum tätig und lässt lebendige Formen hervorwachsen. Dieser Gedanke sei aber nichts anderes als das Leben selbst, und die Worte und Silben, in welchen er sich ausspricht, sind die verschiedenen Formen alles Lebendigen (ebd., S. 101). Johannes Peter Müller (1801 - 1858), ein deutscher Physiologe, Meeresbiologe und Anatom, der 1826 das sog. Gesetz der spezifischen Sinnesenergien formulierte, fasste in seinem Handbuch der Physiologie des Menschen zum letzten Mal den schulmäßigen Vitalismus in systematischer Darstellung zusammen (ebd., S. 104). Nach aristotelischem Muster unterscheidet er Vegetationskraft, Bewegungskraft und Empfindungskraft. Alle stammen vom „ primum movens “ her, welches immer spezifizischere Formen erzeuge (ebd., S. 105). Nach Müller setzt der Wille die Faserursprünge der Nerven wie die Tasten eines Klaviers in Tätigkeit. Die Seele sei vom Gehirn unabhängig, deshalb könne sie auch nicht erkranken (ebd., S. 106). Justus von Liebig (1803 - 1873) meinte in seinen Chemischen Briefen (1851 - 1865), dass die chemische Kraft und Lebenskraft einander zwar nahestünden und organische Stoffe synthetisiert werden könnten, dass aber die Chemie doch nie imstande sein werde, ein Auge, ein Haar, ein Blatt zu erzeugen (ebd., S. 107). Nur mangelhafte Kenntnis sei der Grund, warum die Existenz einer besonderen, in der organischen Wesen wirkenden Kraft geleugnet und den anorganischen Kräften Wirkungen zugeschrieben würden, die ihrer Natur entgegengesetzt seien (ebd., S. 108). Abschließend befasst sich Driesch noch mit den Ansichten von Arthur Schopenhauer (1788 - 1880), der Kants Aussage zustimmt, dass wir niemals die Beschaffenheit der organischen Körper aus bloß mechanischen Ursachen werden erklären können (ebd., S. 110). Die Biologie gilt Schopenhauer als eine Sonderwissenschaft mit eigenen, irreduziblen Gesetzen. Dabei ist das Leben für ihn nur das letzte Glied einer Reihe und nichts, was zur sonstigen Natur in Gegensatz steht (ebd., S. 111). Schopenhauers Philosophie des Organischen markiert das Ende des älteren Vitalismus (ebd., S. 112). 800 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Im Anschluss formuliert Driesch eine „ vitalistische “ Verfallstheorie des Vitalismus: Wie die politische Parteien, so gingen auch die wissenschaftlichen und philosophischen Doktrinen zugrunde, wenn sie keine Gegner mehr haben: Sie werden in ihren Folgerungen lax und unvorsichtig, das Richtige wird überwuchert von Haltlosem und Falschem (ebd., S. 112). Drieschs Ansicht nach starb der alte Vitalismus aus Mangel an Gegnern (ebd., S. 113). Diejenigen, die sich zuletzt zu Wort gemeldet hätten, hätten den Vitalismus nicht widerlegt, dieser sei vielmehr durch sich selbst gestorben (ebd.). Driesch sieht den Hauptgrund für den „ Tod “ des Vitalismus in dem Umstand, dass die Formbildung seit Beginn des 19. Jahrhunderts aufgehört habe, das wissenschaftliche Interesse zu fesseln. Damit habe der Vitalismus seinen Boden verloren; „ aus ihr allein saugt er recht eigentlich seine Kräfte “ , wenigstens soweit er nicht auch das „ Seelische “ zu seinem Objekte machen wolle (ebd., S. 133). Im Weiteren befasst sich Driesch mit den Kritikern des Vitalismus, zu denen er vor allem den Philosophen Rudolf Hermann Lotze (1817 - 1881) mit seiner Abhandlung Leben und Lebenskraft (1843) (ebd., S. 115) und den französischen Mediziner und Physiologen Claude Bernard (1813 - 1878) zählt (ebd., S. 120). Driesch widmet auch einige Seiten (ebd., S. 124 - 133) der „ materialistisch-darwinistischen “ Zeitströmung der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er sieht sie zum einen von der materialistischen Metaphysik von Moleschott, Vogt und Büchner, zum anderen vom Darwinismus geprägt, den Driesch spöttisch als „ jene Anweisung, wie man durch Steinwürfe Häuser typischen Stiles baut “ , bezeichnet (125). Als drittes Moment nennt er die Entdeckung des Satzes von der Erhaltung der Energie durch Robert Mayer, „ der trotz seiner Inhaltsarmut die Naturwissenschaften in wahre Verzückung versetzt hat “ , und als viertes die Entdeckung und planmäßige Erforschung der Feinstrukturen der Lebewesen mit Hilfe verbesserter optischer Werkzeuge. Zuvor wusste man nicht, dass es unter der Oberfläche der Lebewesen sehr viele maschinenartige Phänomene gibt. Daraufhin glaubte man, schließen zu dürfen, dass alle Prozesse kausalmechanisch verständlich sein müssten, schreibt Driesch. Damit habe man aber „ bereitwillig einer dogmatischen Maschinentheorie die Tore geöffnet “ (ebd., S. 126). Eingehend behandelt Driesch Emil Du Bois-Reymond, der der Widerlegung des Vitalismus den größten Teil der Vorrede zum ersten Band seiner „ Untersuchungen über tierische Elektrizität “ (1848) widmete (ebd., S. 129), sowie Helmholtz, dessen Hauptargument gegen den Vitalismus das Gesetz von der Erhaltung der Energie war (ebd., S. 131). Im dritten Kapitel seines Buches (ebd., S. 136 - 167) geht Driesch zur Charakterisierung des „ neueren Vitalismus “ über. Er vermerkt an einer späteren Stelle (ebd., S. 155), dass die Bezeichnung „ Neovitalismus “ eigentlich nicht ganz zutreffend sei, weil die vitalistischen Lehren vollständig zu keiner Zeit verschwunden waren: Eine richtige Lehre könne nicht vollkommen erlöschen, schreibt er (ebd., S. 136). Der neue Vitalismus knüpfe 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 801 dabei an das 18. Jahrhundert an, nicht an die schulmäßigen Lehren vom Anfang des 19. Jahrhunderts. Er baue auf die Fundamente, nicht auf die Folgerungen aus einem angeblich ganz Sicherem: Herausgefordert von der materialistischen Theorie, versuche er wieder, zu beweisen, dass die vitalistische Auffassung des Lebendigen und nur sie zu Recht bestehe (ebd., S. 155). Der Vitalismus sei also an seinen Feinden wieder groß geworden (ebd.). Driesch nennt eine Reihe von Forschern, die zu der Entwicklung des Neovitalismus beigetragen haben, z. B. den Schweizer Anatom Wilhelm His (1831 - 1904) und den deutschen Zoologen und Embryologen Alexander Goette (1840 - 1922) (ebd., S. 137). Er verweist auch auf den deutschen Botaniker Johannes von Hanstein (1822 - 1880), der in seinem Werk Das Protoplasma als Träger der pflanzlichen und tierischen Lebenserscheinungen (Heidelberg, 1880) die (hier schon mehrfach ähnlich formulierten) Fragen stellt: „ Wodurch werden dann nun beim beginnenden Aufbau alle diese Dinge richtig verteilt? “ und „ Müssen nicht der Schar der Mosaikstücke noch ordnende Werkmeister mitgeben werden? “ Und von Hanstein kommt zu dem Ergebnis: „ Der aristotelische Ausspruch: das Ganze ist vor den Teilen, ist noch heute richtig “ (ebd., S. 140). Als wichtiges Moment für die Entstehung der neovitalistischen Lehre stellt Driesch das Wiedererwachen der experimentellen morphologischen Forschung heraus (ebd., S. 155). Maßgebend sei dabei das Programm der „ Entwicklungsmechanik des Embryo “ gewesen, das Wilhelm Roux (1850 - 1924) am sich entwickelnden Froschkeim 1885 durchführte. Driesch zitiert aus dessen Gesammelten Abhandlungen, Band II, S. 188f.: Wer nicht blind das, was als höchste Resultat unserer Untersuchungen [der embryonale Entwicklung] erst gewonnen werden muss, in Form der allerdings sehr gebräuchlichen petitio principii als selbstverständlich und keines Beweises bedürftig von vornherein annimmt, der wird sich bei den kausalen Untersuchungen der embryonalen Entwicklung immer unsere Eventualität [nämlich die Frage nach besonderen ‚ organischen Energien ‘ ] vor Augen halten und sich zu fragen haben, ob die von ihm beobachteten Vorgänge sich unter die Leistungen bekannter Kräfteformen subsumieren lassen, oder ob sie zur Annahme besonderer ‚ Wirkungsweisen ‘ , wie differenzierender Fernwirkungen und dergl., und damit zur Annahme besonderer Energien nötigen. (Ebd., S. S. 156) Driesch erwähnt ferner die Schriften des Psychiaters Gustav Wolff 1865 - 1941, der neben seinen psychiatrischen Schriften 1890 und 1898 Darwin-kritische Abhandlungen veröffentlichte (ebd., S. 159). 1894 führte er Experimente durch, um Darwins Theorie der Anpassung zu überprüfen. Es ging dabei um die Frage, ob ein Organismus einen Teil regenerieren könne, der ihm nie zuvor fehlte. Wolff entnahm dem Auge eines Wassermolchs die Linse und stellte fest, dass sie tatsächlich regeneriert wurde, und zwar vom vorderen Rand der Iris aus, also in einer von der normalen Entwicklung abweichenden, aber sehr zweckentsprechenden Weise, was nach Wolffs Ansicht der Darwins Theorie widersprach (ebd., S. 160). 802 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Driesch diskutiert ebenfalls die Stellung der Philosophie zu der Frage des Vitalismus, wobei er besonders auf die Ansichten von Eduard von Hartmann eingeht (ebd., S. 144ff.). Hartmanns Lehre ist deshalb von besonderer Bedeutung für die Geschichte des Vitalismus, weil in ihr „ der erste Versuch gemacht wird, eine besondere Folgerung der Lehre von der Lebensselbständigkeit zu ziehen, nämlich genau zu bestimmen, wie elementare Lebensfaktoren zu den Faktoren des Anorganischen in Beziehung treten “ (ebd., S. 147, Hervorhebung im Original). Resümierend lässt sich festhalten, dass Driesch im ersten Teil seines Buches die geschichtlichen Wurzeln des Vitalismus aufzeigt und dabei herausstellt, dass die lange Reihe namhafter Forscher und Philosophen bis in die jüngste Vergangenheit reicht. Im zweiten Teil des Werkes referiert Driesch die Grundzüge des vitalistischen Lehre. Er setzt sich zunächst mit den Merkmalen organischer Zweckmäßigkeit auseinander: die Harmonie der Teile (ebd., S. 175f.) und die „ zweckmäßige “ Regulation der Lebensprozesse (ebd., S. 176f.). Im zweiten Kapitel geht er auf die Phänomene der Regeneration beschädigter Organe ein, welche für ihn einen Beweis für die Autonomie der Lebensvorgänge bilden. Er erwähnt in diesem Zusammenhang z. B. Experimente mit Seeigel- Embryos, die ergaben, dass sich aus Zellen, die man der Morula entnimmt, vollständige, obschon kleinere Organismen entwickeln (ebd., S. 186 - 189), oder Experimente mit Seesternen, die zeigten, dass, selbst wenn man die Gastrula dieses Tieres durchtrennt, sich auch aus diesen Teilen vollständige Organismen entwickeln (ebd., S. 190 - 192). Er beschreibt ferner Versuche mit Wasserwürmern, bei denen nachgewiesen werden konnte, dass sie, nachdem sie an einer beliebigen Stelle zerschnitten wurden, vom hinteren Teil ausgehend den vorderen Teil mit dem Gehirn neu bilden (ebd., S. 193). 28 Ferner geht Driesch auf die Indizien der Lebensautonomie auf dem Gebiet der Formregulationsgeschehens ein (ebd., S. 211 - 215), wobei er den von Ludwig Noll (1872 - 1930) 1903 eingeführten Begriff der „ Morphoästhesie “ aufgreift. Noll schrieb den Organismen ein Empfinden ihrer Körperform und Körperlage zu (ebd., S. 215). Weiter diskutiert Driesch die Beweise für die Autonomie des Lebens, die sich aus der Analyse der organischen Bewegungen ergeben (ebd., S. 217 - 227), wobei er vor allem darauf hinweist, dass die 28 Solche Phänomene sind heute allgemein bekannt. Die Fähigkeit der pluripotenten embryonalen Stammzellen, sich in Zellen aller drei Keimblätter auszudifferenzieren, zählt ebenso dazu wie dass gewisse ausgewachsene Organismen in der Lage sind, verlorene Körperteile zu regenerieren. Man unterscheidet heute drei Haupttypen der Regeneration: Epimorphose, bei welcher die verloren gegangenen Teile durch Zellproliferation vollständig neu gebildet werden (z. B. Molche, Seesterne), Morphallaxis, bei welcher die verloren gegangenen Teile durch Umordnen der vorhandenen Zellen neu gebildet werden (z. B. Süßwasserpolyp), und Induktion, bei welcher die Regeneration durch die Applikation von Geweben (z. B. fein gemahlene Knochen) induziert wird. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 803 Reaktionen der Tiere auf die äußeren Reize situationsspezifisch, nicht mechanisch-automatisch sind. Zum Abschluss erörtert Driesch den Begriff der Entelechie (ebd., S. 228 - 246). Er versteht Entelechie als die Eigengesetzlichkeit der lebenden Körper, als ein elementares Naturagens, welches nicht durch die Körper verursacht ist, sondern sich lediglich an ihnen äußert (ebd., S. 242). Der Begriff sei bislang nur in Verbindung mit Körpern verwendet worden, obschon Entelechie keine Eigenschaft des Materiellen sei (ebd., S. 242). Driesch lehnt auch entschieden den Begriff des Lebensstoffes ab (Entelechie könne nicht Resultat physikalisch-chemischer Prozesse sein) (ebd., S. 240f.) und somit den Begriff eines materiellen „ Träger[s] der Vererbung “ (ebd., S. 241). Zwar seien in Organismen allerlei „ Maschinen “ zu finden, aber alle diese Maschinen hätten die Entelechie als Urgrund: [D]ie „ primäre “ im Ei gelegene Entelechie eines Individuums schafft sich eben alles mögliche Harmonisch-maschinelle, wie sie sich auch Sonderentelechien, z. B. für die Bewegungsregulationen, schafft. (Ebd., S. 244f.) Die Antwort auf die Frage, was konkret diese Entelechie bzw. Sonderentelechien ist bzw. sind, bleibt uns Driesch bis zum Ende seines Werkes schuldig. Um mit einem Zitat des Autors zu schließen: In vielen Dingen muss unser „ Vitalismus “ Fragen an Stelle von Antworten bieten; in anderen Punkten unterscheidet er sich wenig von älteren Theoremen. Was ihn aber von älteren Lehren grundsätzlich scheidet, ist der Umstand, dass seine Fundamente in breiter Weise bewiesen sind. (Ebd., S. 244, Hervorhebung im Original.) Würdigung Das Buch von Driesch kann als ein Manifest des Neovitalismus betrachtet werden, der eine Reaktion auf den wachsenden Einfluss des Materialismus in der Biologie darstellt. Maßgeblich dafür waren die Evolutionstheorie von Charles Darwin und das Wirken des Monistenbundes von Ernst Haeckel. Interessanterweise erfreute sich der Vitalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer recht breiten Unterstützung. Niels Bohr war einer der ersten, die meinten, dass es in Organismen besondere Gesetze gebe, die nicht für die unbelebte Materie gelten. Erwin Schrödinger unterstützte ähnliche Ideen, ebenso die Physiker Walter M. Elsasser und Eugene Wigner. 29 Merkmale oder Elemente des Vitalismus finden sich auch in Henri Bergsons „ élan vital “ (s. unten), Whiteheads „ Prozessdenken “ (s. unten), Pierre Teilhard de Chardins „ radialer Energie “ , Wilhelm Reichs „ Orgon “ -Lehre und später in Ervin Lászlós Theorie der „ Akasha-Felder “ , Rupert Sheldrakes „ morphogenetischen Feldern “ (s. unten). Die Idee einer organischen „ Entelechie “ weist zudem Ähnlichkeiten mit fernöstlichen Vorstellungen von einer 29 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Vitalism (heruntergeladen am 27. 5. 2013). 804 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Lebenskraft auf, welche in der indischen Tradition als „ Prana “ und in der chinesischen als „ Qi “ (Chi) bekannt ist. 30 Natürlich ist der „ Verbreitungsgrad “ eines Grundgedankens kein Beweis für seine Richtigkeit. So lehnen auch die allermeisten Gegenwartsbiologen den Vitalismus entschieden ab. Wenn man also die Wahrheit einer wissenschaftlichen Theorie aufgrund einer Abstimmung entscheiden könnte, wäre sein Ansatz verloren. Wir wissen aber, dass die Wahrheit nicht demokratisch beschlossen werden kann. Doch abgesehen vom Wahrheitsgehalt seiner Theorie ist Driesch auch deshalb interessant, weil er seine wissenschaftliche Laufbahn keineswegs als Abtrünniger begonnen hat. Im Gegenteil stand er als Haeckel-Schüler zunächst auf der Seite der Materialisten. Erst lange Jahre des Experimentierens haben ihn davon überzeugt, dass sie sich im Bereich des Lebendigen auf dem Holzweg befinden. Es kann aber nicht geleugnet werden, dass sein Ansatz heute - mit wenigen Ausnahmen (z. B. Rupert Sheldrake, s. unten) - für die meisten Forscher als obsolet gilt. Dennoch ist Vorsicht geboten. Denn wir wissen heute, dass sich der naive Optimismus in Bezug auf die Entschlüsselung des Geheimnis des Lebens, der sich nach der Entdeckung der DNS eingestellt hat, als verfrüht erwiesen hat. Wie bereits oben (Können die Gene die Morphogenese erklären? ) ausführlich dargestellt, wurde vor einigen Jahren erkannt, dass das Gen eine viel komplexeres Gebilde als „ eine Perle auf einer Schnur “ ist, und in jüngster Zeit setzt sich allmählich die Einsicht durch, dass die in den proteinkodierenden Abschnitten der DNS enthaltene Information unzureichend ist, um die Entstehung der Vielfalt der Zellen und Organe erklären zu können. Ich habe auch bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die Hoffnung, die Steuerungsmechanismen, welche in der „ Junk-DNS “ enthalten sind, alle Rätsel der Morphogenese komplexer Organismen erklären könnten, an einem einfachen logischen Problem scheitern muss. Alle diese Steuerungsmechanismen sind in sämtlichen Zellen des Embryos enthalten, und es ist nicht einsichtig, wieso je nach Zelltyp jeweils nur einige zum Einsatz kommen. Darüber hinaus wäre es von der Erklärung der Entstehung von ein paar hundert Zelltypen bis zur Herleitung komplexer Organe und schließlich des ganzen Organismus auch noch ein weiter Weg. Schließlich ergibt ein Haufen unterschiedlicher Backsteine noch kein Haus. Vielleicht muss man sich also eingestehen, dass die Vorbehalte gegen den materialistisch-mechanischen Ansatz, welche Driesch vorbrachte, trotz der exponentiellen Entwicklung der Biologie seit seiner Zeit nichts an Aktualität eingebüßt haben. Eine andere Frage ist selbstverständlich, ob seine Vorschläge die Probleme lösen. 30 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Vitalismus (heruntergeladen am 27. 5. 2013). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 805 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung Biographie 31 Henri Bergson (1859 - 1941) war jüdischer Abstammung. Der Vater hatte polnische, die Mutter irische Wurzel, und Bergson verbrachte seine frühe Kindheit überwiegend in London. Die Familie zog endgültig nach Paris, als Bergson acht Jahre alt war. In Paris besuchte er das Lycée Fontanes, eine der besten Schulen Frankreichs, wo er 1877 einen Preis für Mathematik gewann. Anstatt jedoch Mathematik zu studieren, entschied er sich für ein Literatur- und Philosophiestudium und bewarb sich erfolgreich um einen Studienplatz an der Pariser Elitehochschule École normale supérieure. 1881 schloss er sein Studium erfolgreich ab, erwarb Qualifikationen für das Amt eines Gymnasialprofessors im Fach Philosophie und bekam eine Stelle an einem Gymnasium in Angers in Westfrankreich. Bereits 1883 wurde er aber nach Clermont-Ferrand versetzt. Nebenher arbeitete er an seiner Doktorarbeit in Philosophie, welche er 1889 an der Pariser Sorbonne einreichte und verteidigte. Mit einer kurzen, auf Latein verfassten „ thèse supplémentaire “ wurde er zugleich zum docteur ès lettres promoviert, was in etwa einer deutschen Habilitation entspricht. Dank diesem Erfolg hatte er Anspruch auf den Wechsel an ein Gymnasium in Paris. 1890 erhielt er eine Stelle am renommierten Lycée Henri IV. 1896 publizierte er seine zweite (nach seiner Dissertation) größere Schrift, Matière et mémoire (auf Deutsch erschien sie 1908 unter dem Titel Materie und Gedächtnis). Dank dieser Veröffentlichung wurde er 1897 mit Vorlesungen an der École normale supérieure, einer der angesehensten Universitäten in Europa, betraut und kurz darauf dort zum Professor ernannt. 1900 wurde er auf den Lehrstuhl für griechische Philosophie am Collège der France berufen, der prestigeträchtigsten wissenschaftlichen Einrichtung Frankreichs, und 1901 wählte ihn die Académie des sciences morales et politiques (eine der fünf Akademien des Institut de France) zum Mitglied. 1903 wechselte er im Collège de France auf den Lehrstuhl für moderne Philosophie, was den Höhepunkt seiner beruflichen Karriere bedeutete. 1907 veröffentlichte er eine weitere große Schrift: L ’ Évolution créatrice (erschienen auf Deutsch 1912 unter dem Titel Die schöpferische Entwicklung), welche ich im Weiteren ausführlicher besprechen werde. Mit ihren 21 Auflagen in 10 Jahren sollte sie Bergsons bekanntestes und meistgelesenes Werk werden. 1914 wurde Bergson in die Académie française aufgenommen und im gleichen Jahr zum Vorsitzenden der Académie des sciences morales et politiques und zum Offizier der Ehrenlegion ernannt. 1927 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Bergson interessierte sich lebhaft für die Erforschung der paranormalen Phänomene; im Jahre 1913 bekleidete er das Amt des Präsidenten der Society 31 Diese basiert auf http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Henri_Bergson (heruntergeladen am 29. 5. 2013). 806 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft for Psychical Research 32 . In den späten 20er Jahren näherte er sich christlichmystischen Vorstellungen an. Er zog in Erwägung, zum Katholizismus zu konvertieren, sah jedoch letztendlich von dieser Idee ab, um in einer Zeit wachsenden Antisemitismus seine jüdischen Wurzeln nicht zu verleugnen. 1940, als das Vichy-Regime die Juden gesetzlich zu diskriminieren begann, verzichtete Bergson demonstrativ auf alle Auszeichnungen, Titel und Mitgliedschaften und ließ sich als Jude eintragen. Schöpferische Entwicklung Das Hauptanliegen dieses Werkes ist eine Auseinandersetzung mit Darwins Evolutionstheorie, die Bergson wegen ihres Determinismus ablehnt, an dessen Stelle er eine schöpferische Kraft setzt (deshalb das Adjektiv „ créatrice “ im Titel). In ihm tritt auch zum ersten Mal jener Begriff auf, für den Bergson vor allem bekannt ist: élan vital, der für die 1912 deutsche Ausgabe mit „ Lebensschwungkraft “ übersetzt wurde (Bergson 2006, S. 93), der aber auch als „ lebendige Begeisterung “ übersetzt werden könnte. Er meint eine Art Willen zur Formbildung und Differenzierung, der sich in den biologischen Prozessen offenbart bzw. sie vorantreibt. Im gegenwärtigen Kontext ist dieses Werk vor allem wegen einiger anderer Aspekte bedeutend. Zum einen stellt sich Bergson in seinem Werk dezidiert gegen den weit verbreiteten Reduktionismus seiner Zeit, der die Lebensprozesse auf physikalisch-chemische Prozesse zurückführen will: [W]er sich nur mit der funktionellen Aktivität des Lebewesens befasst, wird zu dem Glauben gedrängt, Physik und Chemie würden uns den Schlüssel der biologischen Prozesse reichen. Er hat es in der Tat vorzüglich mit Phänomenen zu tun, die sich im Lebewesen genau so unablässig wiederholen wie in der Retorte; und das ist es, woraus sich die mechanistische Tendenz der Physiologie zum großen Teil erklärt. Wer dagegen die Aufmerksamkeit auf den feineren Bau der Gewebe, auf ihre Genese und ihre Entwicklung konzentriert, der Histologe und Embryologe auf der einen, der beschreibende Naturforscher auf der anderen Seite, er, der sich der Retorte selbst und nicht nur ihrem Inhalt gegenüber sieht, er erkennt, dass diese Retorte ihre eigene Form kraft einer einzigartigen Reihe von Akten erschafft, Akten, die eine wirkliche Geschichte bilden. Und Histologe und Embryologe und beschreibender Naturforscher sind weit davon entfernt, mit der Bereitwilligkeit des Physiologen an den physikalisch-chemischen Charakter der Lebensprozesse zu glauben. (Ebd., S. 42) An einer späteren Stelle formuliert Bergson diese Einsicht noch schärfer: Das Leben ist der Materie ein entgegengesetzter, ja sie erschaffender (sic! ) Prozess: 32 Interessanterweise veröffentlichte die Fachzeitschrift Nature am 5. 6. 1913 einen kurzen Bericht über die Inaugurationsrede Bergsons als Präsident der Gesellschaft. Offensichtlich war eine solche Aktivität damals bedeutend weniger verpönt als heute (Nature vom 5. 6. 1913, S. 360f.). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 807 In der Tat, alle unsere Analysen zeigen uns das Leben als eine Anstrengung, die geneigte Bahn rückzuerklimmen, die die Materie hinuntersteigt. So lassen sie vor uns die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit eines der Materie entgegengesetzten, eine die Materie durch seine bloße Unterbrechung erschaffenden Prozess aufleuchten. (Ebd., S. 250) Er stellt zudem mit Entschiedenheit heraus, dass das Bewusstsein nicht dem Gehirn entspringe: Alles also wird [im Nervensystem] vor sich gehen, als ob das Bewusstsein dem Gehirn entspränge und als ob die bewusste Tätigkeit sich im einzelnen nach der Gehirntätigkeit modele. In Wirklichkeit aber entspringt das Bewusstsein nicht dem Gehirn. Sondern nur darum entsprechen sich Gehirn und Bewusstsein, weil beide gleichmäßig - jenes in der Vielgliedrigkeit seines Baues, dieses in der Intensität seines Erwachens - das Wahlquantum angeben, worüber das Lebewesen verfügt. (Ebd., S. 266) Folglich behauptet Bergson, dass das „ Schicksal des Bewusstseins [. . .] an jenes der Gehirnmaterie nicht gebunden “ ist (ebd., S. 274) und dass es entgegen allem Anschein nicht die Lebensprozesse sind, die im Erscheinen des Bewusstseins kulminieren, sondern umgekehrt das Bewusstsein das bloß Materielle zum Organischen erhebt: So angeschaut gewinnt die Entwicklung des Lebens bestimmteren Sinn, wenngleich sie einer wirklichen Idee nicht unterstellt werden kann. Alles geht vor sich, als wäre eine breiter Strom von Bewusstsein in die Materie eingedrungen, beladen - wie alles Bewusstsein - mit einer unendlichen Vielheit von Möglichkeiten, die sich in eins durchdrangen. Dieser Strom zwingt die Materie ins Organische hinein; nicht aber, ohne dass seine Bewegung durch sie unendlich verlangsamt, unendlich zerteilt worden wäre. Denn einerseits hat sich das Bewusstsein - gleich der Puppe in ihrer Hülle, wo sie sich Flügel bereitet - einschläfern müssen, und hat anderseits die vielen in ihm beschlossenen Tendenzen auf divergierende Organismenreihen verteilen müssen, die diese Tendenzen noch obendrein mehr zu Bewegungen veräußerlicht, als zu Vorstellungen verinnerlicht haben. (Ebd., S. 186) Anhand dieser wenigen Zitate wird deutlich: Nicht die Materie, nicht einmal das Leben, sondern das Bewusstsein ist für Bergson die primäre Antriebskraft des Universums. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass er darunter nicht „ jenes herabgeminderte Bewusstsein “ versteht, „ das in jedem von uns wirksam ist “ (ebd., S. 241f.), sondern ein (Welt-)Prinzip, das die Einheit des Schauens und des Wollens bedeutet (ebd., S. 242). In der Folge spricht er von einer „ ideellen Genesis der Materie “ (ebd., S. 241 - 255): Die Materie produziert nicht Bewusstsein, sondern gibt ihm die Möglichkeit, sich zu individualisieren: Der Strom [des Bewusstseins] also flutet hin, die Generationen der Menschen durchwaltend, und sich in Individuen zerteilend: diese Zerteilung war in ihm 808 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft dumpf angelegt, hätte sich aber ohne die Materie nicht herausgearbeitet. (Ebd., S. 273) Von hierher erstaunt nicht, wenn Bergson sagt, dass die Seelen der Menschen „ in gewissem Sinn “ präexistieren und dass der Unterschied zwischen dem Menschen und den Tieren nicht nur einer des Grades, sondern einer des „ Wesens “ sei (ebd., S. 269), ja, dass der Abstand zwischen den beiden Reichen „ grenzenlos “ (ebd., S. 272) und der Mensch „ Ziel “ oder „ Zweck “ der Entwicklung (ebd., S. 269) und die Tiere und Pflanzen Nebenprodukte der Evolution der Menschheit seien: Alles geht vor sich, als ob ein unbestimmtes und wallendes Wesen, mag man es nun Mensch oder Übermensch nennen, nach Verwirklichung getrachtet, und diese nur dadurch erreicht hätte, dass es einen Teil seines Wesens unterwegs aufgab. Diese Verluste sind es, welche die übrige Tierheit, ja auch die Pflanzenwelt darstellt [. . .]. (Ebd., S. 270, Hervorhebung im Original) Bergson schließt sein Werk mit einem Hymnus auf die Philosophie. Sie sei der wahre Evolutionismus, die Kraft, welche fähig sei, die Naturwissenschaft aus der Sackgasse hinauszuführen, in die sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hineinmanövriert habe, und zum wahren Ursprung des Seins zu führen: [Philosophie ist] nicht bloß die Rückkehr des Geistes zu sich selbst, nicht das Zusammenfallen des menschlichen Bewusstseins mit dem lebendigen Prinzip, dem es entströmt, nicht bloßes Sichberühren mit der schöpferischen Kraft. Sie ist die Ergründung des Werdens überhaupt, ist der wahre Evolutionismus, ist also die wahre Weiterführung der Naturwissenschaft - sofern nämlich unter diesem Wort ein Zusammenhang festgestellter oder bewiesener Tatsachen verstanden wird, und nicht eine gewisse moderne Scholastik, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um Galileis Physik genau so emporgeschossen ist, wie die alte Scholastik um jene des Aristoteles. (Ebd., S. 371) In seiner 1913 anlässlich der Übernahme der Präsidentschaft der Society for Psychical Research in London gehaltenen Ansprache bekräftigt Bergson seine Meinung, dass das Bewusstsein ein ursächlich aktiver Faktor (ebd., S. 160f.) und das Gehirn sein Instrument sei (ebd., S. 168f.), dass das Bewusstsein umfassender als die körperliche Organisation sei (ebd., S. 171) und sie überdauere (ebd., S. 171). Er weist zudem darauf hin, dass die moderne Wissenschaft mit ihrer experimentellen Methode das Spektrum der dem Menschen zugänglichen Erfahrung nicht nur (durch Instrumente) erweitert, sondern auch einschränkt, indem sie sich auf die Phänomene konzentriert, welche messbar sind. Das Mentale lasse sich aber prinzipiell nicht messen (ebd., S. 165). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 809 Würdigung Henri Bergson ist ein weiterer hervorragender Wissenschaftler (Philosophen), der sich geweigert hat, sich dem Materialismus anzuschließen, der zu seiner Zeit Triumphe feierte. Er sprach zwar nicht von der Existenz geistiger Welten und insbesondere nicht von der Existenz von solche Welten „ bevölkernden “ Wesenheiten, ließ diese Möglichkeit aber offen. Oliver Lodge: Raymond, or Life and Death Biographie 33 1916 wurde in London ein umfangreiches Buch publiziert, das ausführliche Berichte über Kontakte mit einer verstorbenen Person enthielt. Das wäre für die damalige Zeit verhältnismäßig unspektakulär, wäre nicht der Verfasser der bereits berühmte, 1902 von König Edward VII. zum Ritter geschlagene englische Physiker Oliver Joseph Lodge. Lodge (1851 - 1940) war das älteste Kind eines reichen Händlers. Dank des Vermögens seines Vaters konnte er an der Universität London studieren, wo er 1875 den Titel eines Bachelor of Science erwarb und 1877 promovierte. Bereits 1881 wurde er zum Professor für Physik und Mathematik am University College, Liverpool berufen. 1900 wurde er zum Rektor der neu gegründeten Universität Birmingham gewählt, wo er bis zu seiner Pensionierung 1919 lehrte. 1898 wurde er mit der Rumford Medal 34 der Royal Society für seine Forschungen über Strahlung und das Verhältnis zwischen Materie und Äther “ ausgezeichnet. Lodge beschäftigte sich insbesondere mit Elektrizität und Magnetismus. Er leistete wegweisende Arbeiten auf dem Feld der Übertragung der elektromagnetischen Wellen und beschäftigte sich auch mit dem Phänomen des Blitzes, mit der Verwendung der Elektrizität zur Zerstreuung von Nebel und erfand die elektrische Zündkerze für den Benzinmotor sowie einen Vorläufer des Radiotuners (den er als „ synchroner “ bezeichnete). Vier von Lodges sechs Söhnen (er hatte auch noch sechs Töchter) gründeten eigene Firmen, die die Erfindungen ihres Vaters erfolgreich vermarkteten. Bereits in den späten 1880er Jahren hatte Oliver Lodge angefangen, sich für den Spiritismus zu interessieren. Er war Präsident der Society for Psychical Research von 1901 bis 1903. 1909 veröffentlichte er das Buch Survival of Man, in dem er seinen Glauben an ein Leben nach dem Tod darstellte, den er durch Erfahrungen mit verschiedenen Medien gewonnen hatte. Nach dem Tode seines jüngsten Sohnes Raymond im Ersten Weltkriege 33 Basiert auf http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Oliver_Lodge (heruntergeladen am 30. 5. 2013). 34 Dieses wird jedes zweite Jahr für „ an outstandingly important recent discovery in the field of thermal or optical properties of matter made by a scientist working in Europe “ vergeben (http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Rumford_Medal, heruntergeladen am 30. 5. 2013). 810 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft (1915) besuchten Lodge und seine Frau mehrere Séancen mit dem bekannten Medium Gladys Osborne Leonard (1882 - 1968). Leonard teilte ihnen Informationen über Raymond mit, von welchen Oliver Lodge überzeugt war, dass sie nur von seinem verstorbenen Sohn Raymond haben stammen können. Infolge dieser Erfahrung schrieb er das Buch Raymond, or Life and Death, das 1916 veröffentlicht und zum Bestseller wurde. Sein öffentlich verlautbartes Interesse für den Spiritismus wurde von der wissenschaftlichen Gemeinschaft jedoch mit Ablehnung quittiert. 1913 kritisierte etwa der prominente Biologe Ray Lankester (1847 - 1929), ein Freund von Karl Marx und aktives Mitglied im Kreis der sog. Rationalisten, Lodges spiritistische Ansichten als unwissenschaftlich und irreführend. 1914 veröffentlichte Joseph McCabe (1867 - 1955), der sich vom katholischen Priester zum Freidenker wandelte und als solcher einen gewissen Ruhm erlangte, das Buch The Religion of Sir Oliver Lodge, in welchem er Lodges spiritistische Überzeugungen scharf angriff. Danach wurden Lodges Arbeiten in Wissenschaftskreisen geringgeschätzt. Erst am 25. Juni 1995 anerkannte die Royal Society seine wissenschaftlichen Errungenschaften im Rahmen einer Sonderzeremonie an der Oxford Universität. Raymond, or Life and Death Oliver Lodge gliedert sein Buch in drei Teile: der erste umfasst eine Sammlung von Briefen seines verstorbenen Sohnes von der Front. Die Aufgabe dieses Teils ist es, wie Lodge schreibt (Lodge 2012, S. vii), den Leser mit dem Autor der Briefe bekannt zu machen und ihn für seinen Sohn einzunehmen. Der zweite, umfangreichste Teil, gibt, zumeist in Form des „ automatischen Schreibens “ , die Ergebnisse der Séancen zwischen September 1915 und Mai 1916 wieder (ebd., S. 355). 35 Oliver Lodge berichtet, er habe Mitteilungen über ein künftiges Unheil in der Familie bereits einige Woche vor dem Tode seines Sohnes (genau am 8. 8. 1915, Raymond starb am 14. 9. 1915) erhalten (ebd., S. 90f.). Besondere Bedeutung misst er Mitteilungen zur Existenz eines 35 Um dem Leser eine Vorstellung von der Art dieser Mitteilungen zu geben, zitiere ich im Folgenden einen Auszug aus der Sitzung vom 25. 9. 1915. Darin wurde nicht das automatische Schreiben, sondern die sog. Tisch-Methode verwendet. Sie besteht darin, dass einige Personen, einschließlich des Mediums, um einen Tisch sitzen und ihn zu einem rhythmischen Kippen in verschiedene Richtungen bringen. Dann wird der verstorbenen Person eine Frage gestellt. Das Medium spricht die Buchstaben des Alphabets, und hält jenen fest, der erreicht ist, wenn der Tisch aufhört sich zu bewegen. Dann beginnt es von vorn. So ergibt sich allmählich eine Antwort aus Wörtern und Sätzen. Hier ein Auszug: „ Frage (im Weiterenf.): Are you lonely? ; Antwort (Im Weiteren A): No. F: Who is with you? A: Grandfarther W.: F: Have you anything to say to me? A: You know I can ’ t help missing you, but I ’ m learning to be happy. F: Can you tell me the name of anyone at home? A: Honor [eine von Raymonds Schwestern] [. . .] F: Is there anything you want to send? A: Tell father I have met some friends of his. F: Any name? A: Yes, Myers “ (ebd., S. 122). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 811 Gruppenfotos von Raymond mit anderen englischen Offizieren bei, das die Familie erst später erhalten sollte (ebd., S. 105 - 116). Die erste Mitteilung dieser Art wurde am 27. 9. 1915 empfangen (ebd., S. 105), die Familie bekam das Foto erst am 7. 12. 1915 (ebd., S. 109). Im dritten Teil des Buches zieht Oliver Lodge aus seinen spiritistischen Erfahrungen und seinen umfangreichen Forschungen zu paranormalen Phänomenen die weltanschaulichen Konsequenzen (ebd., S. 389). Bereits in der Einführung zu diesem Teil setzt er sich mit möglichen Einwänden auseinander: Wenn die Vertreter des wissenschaftlichen Materialismus seine Schlussfolgerungen ablehnen, so Lodge, dann deshalb, weil sie nicht bereit sind, gewisse Tatsachen zu akzeptieren, die ihnen zugrunde liegen: The opinions of the present author on these topics, whatever they may be worth, are held without apology or hesitation, because to him they appear the inevitable consequence of facts of nature as now known or knowable. Some of these facts are not generally accepted by scientific men; and if the facts themselves are not admitted, naturally any conclusion based upon them will appear ill-founded, and the further developed structure illusory. He anticipates that this will be said by critics. (Ebd., S. 283f.) Er äußert ein gewisses Verständnis für die Anliegen der Materialisten, denn ihrer Weltanschauung liegt die monistische Ahnung zugrunde, dass sich Geist und Materie als zwei Aspekte einer fundamentaleren Wirklichkeit offenbaren. Er mahnt jedoch zu Vorsicht und Geduld und warnt vor vorschnellen reduktionistischen Schlüssen, welche den Reichtum des Universums verstümmeln: We can sympathise with the aim, and still feel how far from accomplishment we are. Nothing is gained by undue haste, and by unfounded negation much may be lost. We must not deny any part of the Universe for the sake of a premature unification. Simplification by exclusion or denial is a poverty-stricken device. (Ebd., S. 284) In den folgenden kurzen Kapiteln setzt sich Lodge mit der Bedeutung der Begriffe „ Leben “ und „ Tod “ , der Frage der Fortsetzung der Existenz nach dem Tode, die Interaktion zwischen dem Geist und der Materie und zwischen dem Geist und dem Gehirn, den Methoden der alltäglichen Kommunikation sowie denen der Kommunikation mit den Verstorbenen auseinander. In Kapitel XVI skizziert er dann sein Weltbild. Er stellt zunächst fest, dass er sich der Fortsetzung der Existenz nach dem Tode ebenso sicher sei wie seiner Existenz in der alltäglichen Welt (ebd., S. 375). Er ist davon überzeugt, dass die unsichtbare Welt von verschiedenartigen Wesenheiten auf unterschiedlichen Stufen der Entwicklung bewohnt wird, von denen zumindest einige wohlwollendes Interesse an den Geschicken der Menschheit haben: I am reasonably convinced of the existence of grades of being, not only lower in the scale than man but higher also, grades of every magnitude from zero to infinity. And I know by experience that among these beings are some who care for and help 812 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft and guide humanity, not disdaining to enter even into what must seem petty details, if by so doing they can assist souls striving on their upward course. (Ebd., S. 375f.) Im Weiteren gibt sich Lodge eindeutig als Christ zu erkennen, denn er stellt fest, dass ein solches Wesen Christus sei. Er äußert zumal die Überzeugung, dass die Zeit der Wirksamkeit dieser Wesenheit kaum begonnen habe, und die Hoffnung, dass der andauernde, schreckliche Krieg paradoxerweise zur vertieften Bekanntschaft mit Christus und der „ ineffable beauty of his life and teaching “ beitragen werde. Lodge empfindet es daher als seine Pflicht, ein Zeugnis der Gnade und Wahrheit, welche von diesem Wesen strömen, abzulegen: My own time down here is getting short; it matters little: but I dare not go till I have borne this testimony to the grace and truth which emanate from that divine Being, - the realisation of whose tender-hearted simplicity and love for man may have been overlaid at times and almost lost amid well-intentioned but inappropriate dogma, but who is accessible as always to the humble and meek. (Ebd., S. 376) Lodge unterstreicht dabei den göttlichen Status von Christus: Er sei die planetarische Manifestation der Gottheit ( „ planetary manifestation of Deity “ ) sei (ebd., S. 383). Er meint, dass die christliche Idee des Gottes sich sehr einfach fassen lasse, und vergleicht das Verhältnis von Christus zu Gott mit dem Verhältnis des Sonnenscheins zu der Sonne: Der Sonnenschein ist nicht die Sonne, sondern das, was im Alltag von der Sonne erfahrbar ist: The sunshine is not the sun, but it is the human and terrestrial aspect of the sun; it is that which matters in daily life. It is independent of study and discovery; it is given us by direct experience, and for ordinary life it suffices. Thus would I represent the Christian conception of God. Christ is the human and practical and workaday aspect. Christ is the sunshine - that fraction of transcendental Cosmic Deity which suffices for the earth. Jesus of Nazareth is plainly a terrestrial heritage. His advent is the glory, His reception the shame, of the human race. (Ebd., S. 392) Lodge bekennt sich auch zur Wahrheit der Evangelien, welche er als die historische Aufzeichnung der göttlichen Inkarnation ( „ historical records of a Divine Incarnation “ ) bezeichnet (ebd., S. 390), und zur Wirklichkeit der Wunder ( „ The Christian idea of God certainly has involved, and presumably always will involve, an element of the miraculous “ ) (390). Ferner betont Lodge, dass die christliche Idee Gottes den Glauben an die Unsterblichkeit des Menschen [bzw. seiner Seele oder seines Geistes] impliziere (ebd., S. 384). Lodge wendet sich zugleich dezidiert gegen den „ modernen Aberglauben “ ( „ modern superstition “ ) der wissenschaftlichen Weltanschauung, welche die Existenz unsichtbarer Intelligenzen ablehnt und den freien Willen des Menschen negiert. The modern superstition about the universe is that, being suffused with law and order, it contains nothing personal, nothing indeterminate, nothing unforeseen; 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 813 that there is no room for the free activity of intelligent beings, that everything is mechanically determined; so that given the velocity and acceleration and position of every atom at any instant, the whole future could be unravelled by sufficient mathematical power. 36 The doctrine of Uniformity and Determinism are supposed to be based upon experience. But experience includes experience of the actions of human beings; and some of them certainly appear to be of a capricious and undetermined character. Or without considering human beings, watch the orbits of a group of flies as they play; they are manifestly not controlled completely by mechanical laws as are the motions of the planets. The simplest view of their activity is that it is selfdetermined, that they are flying about at their own will, and turning when and where they choose. The conservation of energy has nothing to say against it. Here we see free-will in its simplest form. To suppose anything else in such a case, to suppose that every twist could have been predicted through all eternity, is to introduce preternatural complexity, and is quite unnecessary. (Ebd., S. 384f.) Es sei noch einmal hervorgehoben, dass diese Worte von einem angesehenen Physiker geschrieben wurden. Lodge entwickelt ein interessantes Bild für die Schwierigkeit, sich hinter der Mechanik der Alltagswelt eine dieser Mechanik übergeordnete, sie beherrschende und mit dem freien Willen ausgestattete Persönlichkeit vorzustellen: In unserem Blut haben wir Milliarden weißer Blutzellen (Leukozyten), deren Aufgabe es ist, die für den Organismus unverträglichen Stoffe und Krankheitserreger (Bakterien, Viren, Tumorzellen, Würmer, Pilze usw.) unschädlich zu machen. Stellen wir uns vor, diese Leukozyten seien mit Wahrnehmungsorganen und Intelligenz ausgestattet. Wie sähe ihr Bild des Universums aus? Sie nehmen die zahlreichen Blutgefäße wahr und werden sich allmählich die Vorstellung eines übergeordneten Wesens machen, das aus diesen und womöglich anderen Elementen besteht, eines Wesens, zu dem sie gehören und dem sie dienen. Diese Vorstellung würde in etwa unserer Vorstellung der immanenten Gottheit entsprechen. Wenn sie aber weiterdenken und über diese positive Feststellung auch gewisse negative Urteile formulieren, wie z. B., dass dieses übergeordnete Wesen keine Persönlichkeit, keine Gefühle, keinen Geist, keinen Willen und keine Zwecke habe, die über ihre Welt hinausragen, dann würden sie sich gewaltig irren (S. 386). So ist es auch für den Menschen schwierig, sich eine ihm übergeordnete, ihn gewaltig übersteigende „ Persönlichkeit “ vorzustellen, die über Intelligenz, Willen und Zwecke verfüge. Diese Schwierigkeit besagt aber nichts: „ We are the white corpuscles of the cosmos, we serve and form part of an immanent Deity “ (ebd., S. 386). Lodge schließt sein Buch mit dem Appell, die einfache Wahrheiten, die er über die Gottheit und das Leben des Menschen nach dem Tode aufgezeigt habe, ernst zu nehmen und sie nicht wegen ihrer Einfachheit und ihre Vertrautheit für falsch zu halten: 36 Diese Worte wurden 1916 geschrieben, also lange bevor die Quantenmechanik mit ihrem Indeterminismus zur anerkannten Theorie avancierte! 814 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft To sum up: Let us not be discouraged by simplicity. Real things are simple. Human conceptions are not altogether misleading. Our view of the Universe is a partial one but is not an untrue one. Our knowledge of the conditions of existence is not altogether false - only inadequate. The Christian idea of God is a genuine representation of reality. Nor let us imagine that existence hereafter, removed from these atoms of matter which now both confuse and manifest it, will be something so wholly remote and different as to be unimaginable; but let us learn by the testimony of experience - either our own or that of others - that those who have been, still are; that they care for us and help us; that they, too, are progressing and learning and working and hoping; that there are grades of existence stretching upward and upward to all eternity; and that God Himself, though His agents and messengers, is continually striving and working and planning, so as to bring this creation of His through its preparatory labour and pain, and lead it on to an existence higher and better than anything we have ever known. (Ebd., S. 395f.) Würdigung Trotz der scharfen Zurückweisung seitens der wissenschaftlichen Gemeinschaft bekannte sich Lodge öffentlich zum Glauben an die Existenz einer geistigen Welt. Viel entschiedener als William James gab er sich dabei als Christ zu erkennen, wobei seine Aussagen von einer tief empfundenen persönlichen Verbundenheit zeugen. Geradezu warmherzig spricht er von der „ ineffable beauty of [Christ ’ s] life and teaching “ , von „ grace and truth which emanate from that divine Being “ und von Christs „ tender-hearted simplicity and love for man “ . Für seinen Bekennermut musste Lodge indes einen hohen Preis bezahlen: Sein wissenschaftliches Ansehen war fortan stark beschädigt. Allerdings ist überhaupt nicht ersichtlich, wie seine weltanschauliche Schlussfolgerungen durch das Tatsachenmaterial, das ihm zur Verfügung stand, begründet werden können. Es würde uns viel zu weit führen, die Einzelheiten aller Séancen, die Lodge in seinem Buch beschreibt, zu diskutieren, jedoch darf die kleine Stichprobe, die ich oben anfügte, als repräsentativ gelten. Und diese Probe zeigt, dass die Informationen über die Verstorbenen und ihre Welt äußerst dürftig, ja sogar trivial sind. Die medialen Mitteilungen geben kaum Auskunft über den (christlichen) Gott, über Christus, über Engel, also über das, was in der orthodoxen christlichen Vorstellung als „ Himmel “ bzw. „ Hölle “ bezeichnet wird. Lodge ist sich dieser Schwierigkeit bewusst und widmet ein ganzes Kapitel des dritten Teils des Buches ( „ On the Contention that all psychic communications are of a trivial nature and deal with insignificant topics “ , ebd., S. 349 - 354) der Entkräftung dieses Einwands. Lodge gesteht ein, dass ein Großteil der Gespräche lediglich von persönlicher Natur sei und die Brisanz durch das persönliche Band zwischen den an den Séancen teilnehmenden Personen und der mit ihnen kommunizierenden Persönlichkeit erlangen (ebd., S. 349). Er findet aber in der umfangreichen Literatur zu den Erfahrungen mit Medien durchaus auch tiefe Einsichten und zitiert einige entsprechenden Passagen (ebd., 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 815 S. 350 - 354). 37 Doch auch hier nimmt Lodge seine Ansicht weitgehend zurück, wenn er feststellt, dass sie wie die Wiedergabe sehr orthodoxer kirchlicher Predigten klingen (Lodge benutzt die Bezeichnung „ sermon-stuff “ (ebd., S. 354) und keine neuen Aufschlüsse über die übersinnliche Wirklichkeit geben. Ähnliches lässt sich über die Mitteilungen sagen, die in dem Buch versammelt sind. So lesen wir z. B. im Kapitel XX (welches gemäß Lodge unverifizierbare Kommunikationen beinhaltet) über Christus: „ Christ is everywhere, not as a personality. There is a Christ, and he lives on the higher plane, and that is the one I was permitted to see “ (ebd., S. 232). Oder die folgende Beschreibung des Verlassens des Leibes durch die Seele nach dem Tode: „ [A]n essence comes out of its body - oozes out [. . .], and goes into the other body which is being prepared “ (ebd., S. 196). Im Kapitel XXII, das wie bereits in Kapitel XX unverifizierbare Kommunikationen enthält, lesen wir von „ geistigen Sphären “ , die die Erde umgeben und mit ihr rotieren (ebd., S. 268). Derartige Mitteilungen sind zum einen selten und zum anderen nicht besonders aufschlussreich. Eine andere Gruppe von Mitteilungen nähren überdies Zweifel an der Zuverlässigkeit der Telepathie, nämlich jene, die den Eindruck erwecken, dass das Leben in der geistigen Welt im Wesentlichen dem Leben auf der Erde ähnelt. So lesen wir bei Lodge z. B., dass die Sterne „ dort “ mehr oder weniger wie „ hier “ aussehen (ebd., S. 200), dass die „ Geister “ wenn nicht fest schlafen, doch zumindest dösen (ebd., S. 236), dass es „ dort “ regnet (ebd., S. 236), Straßen und Häuser (ebd., S. 230) wie auch Blumen (ebd., S. 269) gibt usw. Kann man solchen Behauptungen wirklich Glauben schenken? Und wenn nicht, kann man anderen medialen Mitteilungen Glauben schenken? Weitere Unstimmigkeiten ergeben sich, wenn man diese Botschaften aus der Perspektive der Nahtoderlebnisse betrachtet, die in den 1970er-Jahren aufgezeichnet wurden. Bei Lodge fehlen paradigmatische Erfahrungen wie der Durchgang durch den „ Tunnel “ und die Begegnung mit dem Lichtwesen. Insgesamt stellt sich der Eindruck ein, dass Lodge und seine Mitstreiter vielleicht tatsächlich eine Spur von einer ungewöhnlichen Wirklichkeit erfahren haben, dass es aber fast unmöglich ist, daraus gesicherte Erkenntnisse über den wahren Charakter dieser Wirklichkeit zu gewinnen. Man muss ferner festhalten, dass die weltanschaulichen Schlüsse, welche Lodge aus seinen Erfahrungen zieht, eher durch die alte kirchliche Tradition als durch das ihm zur Verfügung stehende empirische Material beglaubigt ist. Zu behaupten, dass dieses Material seine Weltanschauung stützt, grenzt an Wunschdenken. Wenn man die geistige Welt wissenschaftlich erforschen will, so wird deutlich, wird man zu völlig anderen Methoden als der Kommunikation mit Verstorbenen durch Medien greifen müssen. 37 Ein Beispiel: „ God! Ye know Him not! One day, when the Spirit stands within the veil which shrouds the spirit world from mortal gaze, you shall wonder at your ignorance of Him whom you have so foolishly imagined! “ (ebd., S. 352). 816 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Alfred North Whitehead: Process and Reality. An Essay in Cosmology Biographische Anmerkungen 38 Alfred North Whitehead (1861 - 1947) ist vor allem als Mathematiker bekannt, der mit seinem Schüler und Freund Bertrand Russell zusammen zwischen 1911 und 1913 ein dreibändiges Standardwerk der Logik, die Principia Mathematica, veröffentlichte. Seine Interessen waren aber breiter. Er beschäftigte sich mit Wissenschaftstheorie und kam hier zu Ergebnissen, die denen von Thomas Kuhn und Paul Feyerabend ähneln. 39 Er kritisierte u. a. den „ Obskurantismus “ der modernen Wissenschaft, der sich vor allem in einer widersinnigen Leugnung der Zweckmäßigkeit der Natur äußere. In der 1920 publizierten Schrift The Concept of Nature, in der er die Grundzüge einer Naturphilosophie entwickelt, erhält der Begriff des „ real event “ (wirkliches Ereignis) zentrale Bedeutung, während die Kategorien von Subjektivität und Objektivität oder Wirklichkeit und Erscheinung keine Rolle spielen. Bereits 1903 wurde Whitehead zum Fellow der Royal Society of London gewählt, ein Privileg, das seit ihrer Gründung im Jahr 1660 nur 8000 Personen genießen durften. 1924 wurde er nach Harvard auf den Lehrstuhl für die Philosophie berufen und lehrte dort bis zu seiner endgültigen Pensionierung 1937. In dieser Zeit konnte sich Whitehead der Ausarbeitung seiner Philosophie widmen. In seinen späteren Lebensjahren galt er als einer der größten lebenden Philosophen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Nach Whiteheads Tod vernichtete seine Witwe Evelyn Ada Whitehead gemäß seinem Wunsch alle verbliebenen Manuskripte. Im Jahre 1927 erhielt er von der Universität Edinburgh die Einladung, die Gifford-Vorträge über natürliche Theologie zu halten. Sie fanden während des akademischen Jahres 1927 - 28 statt. Die ursprünglich 10 Vorträge erweiterte Whitehead zu 25 Kapiteln, die dann 1929 unter dem Titel Process and Reality. An Essay in Cosmology als Buch erschienen. Dieses Buch gilt als Whiteheads zentrales philosophisches Werk. Process and Reality. An Essay in Cosmology Whiteheads Philosophy wird oft als Prozessphilosophie bezeichnet. Interessanterweise nennt er selbst sein System häufiger „ philosophy of organism “ (Whitedead 1957, S. v, und passim). 40 Das aus ihr hervorgehende System solle 38 Als Quelle dient mir hauptsächlich die Biographie im Oxford Dictionary of National Biography (Whittaker, rev. Grattan-Guinness 2004) 39 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Alfred_North_Whitehead (heruntergeladen am 1. 6. 2013). 40 Whitehead verbindet die beiden Schlüsselbegriffe seines Denkens wie folgt: „ The notion of ‘ organism ’ is combined with that of ‘ process ’ in a two-fold manner. The community of actual things is an organism; but it is not a static organism. It is an incompletion in process of production. Thus the expansion of the universe in respect to actual things is the first meaning of ‘ process ’ ; and the universe in any stage of its expansion is the first 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 817 in der Lage sein, die Ideen und Probleme, welche die komplexe Struktur ( „ complex texture “ ) des „ zivilisierten Denkens “ hervorbringt, zu interpretieren (ebd., S. v f.). Ein zentrales Motiv seiner Philosophie ist es, die ästhetischen, moralischen und religiösen Interessen zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ins Verhältnis zu setzen (ebd., S. vi). Dabei richtet sich Whitehead unter anderem gegen das zeitgenössische Misstrauen gegenüber der spekulativen Philosophie und gegen das Vertrauen in die Sprache als adäquatem Ausdruck für Aussagen (propositions) (ebd., S. vii). Schließlich will er die Denkansätze von Henri Bergson, William James und John Dewey vor dem Vorwurf des Antiintellektualismus schützen (ebd., S. vii). Am Ende des Vorwortes formuliert Whitehead vier leitende Überzeugungen. Zum einen meint er, dass das philosophische Denken in den vergangenen zwei Jahrhunderten von der kritischen Betrachtung spezifischer Probleme dominiert war und dass man jetzt eine Phase des konstruktiven Denkens brauche. Zum zweiten äußert er die Überzeugung, dass die wahre Methode der philosophischen Konstruktion darin besteht, dass man ein Ideenschema entwickelt und unerschrocken untersucht, was die Folgen der Anwendung dieses System für die Interpretation der Erfahrung sind. Drittens behauptet Whitehead, dass jegliche Form des wissenschaftlichen Denkens von einem solchen Schema (oft uneingestanden) beeinflusst sei. Die Wichtigkeit der Philosophie bestehe darin, dass sie solche Systeme offenlegen könne und sie dadurch kritik- und verbesserungsfähig mache. Diese Überzeugung ist angesichts des etwa gleichzeitigen Aufkommens der antimetaphysischen Lehren des Wiener Kreises bemerkenswert. Sie deutet nämlich darauf hin, dass Whitehead anders als die Wiener, aber auch als Russell und der frühe Wittgenstein der Meinung war, dass es selbst in der Wissenschaft kein Entkommen von der Metaphysik gibt, womit er zugleich die viel späteren Denkansätze von Thomas Kuhn und Paul Feyerabend vorwegnimmt. Die vierte von Whiteheads Überzeugungen schließlich ist vielleicht die am meisten kontroverse. Whitehead behauptet, dass die bisherigen Versuche, die Natur der Dinge zu ergründen oberflächlich und unvollkommen waren. „ In philosophical discussion, the merest hint of dogmatic certainty as to finality of statement is an exhibition of folly “ , schreibt Whitehead (ebd., S. ix). Der Kontrast dieser Feststellung zum selbstsicheren Gestus von Wittgensteins Tractatus mit seiner Reihe von definitorischen Festlegungen und logischen Ableitungen, die Unhintergehbarkeit und Endgültigkeit suggerieren sollen, ist denkbar deutlich. Whiteheads Feststellung wirft aber auch ein interessantes Licht auf seine Haltung gegenüber der Naturwissenschaft. Er schreibt der Philosophie eine übergeordnete Rolle zu, insofern es ihre Aufgabe ist und nicht die der (Natur-)Wissenschaft, ein Denksystem auszuarbeiten, das sich meaning of ‘ organism ’ . [. . .] Secondly, each actual entity is itself only describable as an organic process. It repeats in microcosm what the universe is in macrocosm ” (ebd., S. 247f.). 818 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft für die „ interpretation of the ideas and problems which form the complex texture of civilized thought “ eignet (ebd., S. vf.). Leider hätten sich die „ modernen Philosophien “ als unfähig erwiesen, Licht auf die wissenschaftlichen Prinzipien zu werfen: It has been a defect in the modern philosophies that they throw no light whatever on any scientific principles. Science should investigate particular species, and metaphysics should investigate the generic notions under which those specific principles should fall. Yet modern realisms had nothing to say about scientific principles; and modern idealisms have merely contributed the unhelpful suggestion that the phenomenal world is one of the interior avocations of the Absolute. (Ebd., S. 137) Whiteheads Vorwurf, dass die bisherigen Versuche, „ to sound the depths in the nature of things “ , „ shallow, puny, and imperfect “ gewesen seien, richtet sich allerdings nicht nur an die Adresse der Philosophie, sondern auch an die (Natur-)Wissenschaft. Diese habe den Grund der Natur noch lange nicht erreicht, denn: „ The complexity of nature is inexhaustible “ (ebd., S. 127). Sicherlich würde Whitehead auch heute, trotz des wissenschaftlichen Fortschritts seit Erscheinen seines Werkes, diese Meinung vertreten. Wir haben bereits gesehen, dass Whitehead seine Kosmologie als eine Philosophie des Organismus betrachtet. Er wendet sich damit dezidiert gegen die reduktionistischen Tendenzen seiner Zeit. Die Natur ist nicht zurückführbar auf und/ oder ableitbar von irgendwelchen kleinsten Entitäten, seien es Atome oder Superstrings. Er betont stets, dass die natürliche Welt ein Organismus sei, dass die Natur jedes Einzeldinges nicht in diesem allein, sondern vielmehr in seinem Verhältnis zu anderen Dingen liegt: The causal laws which dominate a social environment are the product of the defining characteristic of that society. But the society is only efficient through its individual members. Thus in a society, the members can only exist by reason of the laws which dominate the society, and the laws only come into being by reason of the analogous characters of the members of the society. (Ebd., S. 109) Eine solche Gesellschaft ist aber ihrerseits eingebettet in eine noch umfangreichere Ganzheit: But there is no society in isolation. Every society must be considered with its background of a wider environment of actual entities, which also contribute their objectifications to which the members of the society must conform. (Ebd., S. 108) 41 Bezeichnenderweise beschränkt sich gemäß Whitehead diese „ soziale “ Natur der Einzeldinge nicht auf Menschen oder, allgemein gesprochen, Lebewesen, sondern gilt auch für die anorganische Natur und hier sogar für die Welt der Elementarteilchen. Auch die physikalischen Entitäten bilden Gesellschaften 41 Es ist aber an dieser Stelle nicht klar, wo dieser Prozess der progressiven Erweiterung des Bezugssystems enden soll. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 819 und sind das, was sie sind, erst kraft ihrer Einbettung in ein übergeordnetes Ganzes: Maxwell ’ s equations of the electromagnetic field hold sway by reason of the throngs of electrons and of protons. Also each electron is a society of electronic occasions, and each proton is a society of protonic occasions. These occasions are the reasons for the electromagnetic laws; but their capacity for reproduction, whereby each electron and each proton come into being, is itself due to these laws. (Ebd., S. 109) In Anbetracht dieses organismischen und holistischen Charakters seiner Kosmologie ist es nicht überraschend, dass Whitehead - in einer weiteren dezidierten Abweichung von der wissenschaftlichen Orthodoxie seiner Zeit - Finalursachen als Erklärungsprinzip zulässt. It is notable that no biological science has been able to express itself apart from phraseology which is meaningless unless it refers to ideals proper to the organism in question. This aspect of the universe impressed itself on that great biologist and philosopher, Aristotle. His philosophy led to a wild overstressing of the notion of final causes during the Christian middle ages; and thence, by reaction, to the correlative overstressing of the notion of ‘ efficient causes ’ during the modern scientific period. One task of a sound metaphysics is to exhibit final and efficient causes in their proper relation to each other. (Ebd., S. 101) 42 Whitehead geht aber noch weiter. Seine Kosmologie ist nicht nur holistisch, organismisch und teleologisch, sie trägt auch eindeutig die Spuren des platonischen Idealismus. Die natürlichen Entitäten entstehen kraft ihrer Entelechie, welche der natürlichen Welt transzendent ist. Anders als Platon versteht Whitehead die Bewegung zwischen der transzendenten und der immanenten Welt aber nicht als „ Einbahnstraße “ , sondern vielmehr als eine Interaktion. Er ist der Überzeugung, dass die transzendenten Entelechien durch ihre Verwirklichung in der natürlichen Welt auch die transzendente Welt selbst vorwärtsbringen. Den viel späteren Begriff der Autopoiesis (Maturana und Varela 1980, S. xvii und passim) vorwegnehmend, schreibt Whitehead: The world is self-creative; and the actual entity as self-creating creature passes into its immortal function of part-creator of the transcendent world. In its self-creation the actual entity is guided by its ideal of itself as individual satisfaction and as transcendent creator. The enjoyment of this ideal is the ‘ subjective aim ’ , by reason of which the actual entity is a determinate process. (Ebd., S. 103) Der Bezug auf eine wie auch immer verstandene transzendente Welt bringt Whitehead in die Nähe der Frage nach einem transzendenten Wesen, nach Gott. Nachdem er den Begriff der transzendenten Welt eingeführt hat, stellt Whitehead im Zuge einer kurzen Diskussion der drei Dimensionen einer realen Entität (ein wenig vereinfacht gesagt sind das ihre Vergangenheit, 42 Vgl. ebd., S. 124, 214, 243, 259, 260, 323. 820 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Gegenwart und ihre Zukunft) ohne Vorbereitung und Begründung fest: „ In the case of the primordial actual entity, which is God, there is no past “ (ebd., S. 105). Und unmittelbar darauf schließt er seine Ausführungen mit der folgenden knappen Formulierung: „ This is the conception of God, according to which he is considered as the outcome of creativity, as the foundation of order, and as the goal towards novelty “ (ebd., S. 106). Whitehead hatte sich immer für Theologie interessiert. Seine Familie war fest in der anglikanischen Kirche verankert: Sein Vater und Onkel waren Pfarrer, sein Bruder sollte Bischof von Madras werden. Whitehead selbst, vielleicht von seiner Frau und den Schriften von Kardinal Newman beeinflusst, neigte eher zum römischen Katholizismus. Dennoch bezeichneter er sich selbst vor dem Ersten Weltkrieg als Agnostiker. Erst später kam er zu einer Position, die - die Ansichten solcher prominenter Wissenschaftler wie Schaeffer und Collins vorwegnehmend - Gott eine zentrale Rolle im Universum zuschreibt. 43 Process and Reality ist als gereifter Ausdruck dieser Überlegungen betrachten. Und in unserem Kontext ist gerade dieser Aspekt seiner Philosophie - mehr noch als ihr organischer oder prozessorientierter Charakter - von zentraler Bedeutung. Die ausführlichste Behandlung dieses Themas finden wir im zweiten Kapitel des fünften und zugleich letzten Teils des Buches mit dem Titel „ God and the World “ (ebd., S. 403 - 413). Die Darstellung des Verhältnisses Gottes zur Welt mutet eher orthodox an, was angesichts der wissenschaftlichen Kultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings wiederum ziemlich revolutionär ist. Gott ist für Whitehead der Anfang und das Ende der Schöpfung (ebd., S. 406), perfekt (ebd., S. 407), das ewige Objekt der Sehnsucht (ebd., S. 407). Er ist aber auch mehr als diese Abstraktionen. Er ist ein persönlicher Gott, der die Welt richtet ( „ The consequent nature of God is his judgement on the world “ (ebd., S. 408). Sein Urteil ist aber nicht das des zornigen, strengen, strafenden alttestamentarischen Jehovas. Whitehead spricht zwar nicht explizit von Christus, noch führt er die Personen „ Gott Vater “ und „ Gott Sohn “ ein, stattet aber seinen Gott mit den christlichen Eigenschaften der Milde und des Mitleids aus: „ It is the judgement of tenderness which loses nothing that can be saved. It is also the judgement of a wisdom which uses what in the temporal world is mere wreckage “ (ebd., S. 408). Darüber hinaus zeichnet ihn Geduld aus: Another image which is also required to understand his consequent nature is that of his infinite patience. [. . . W]e conceive of the patience of God, tenderly saving the turmoil of the intermediate world by the completion of his own nature. The sheer force of things lies in the intermediate physical process: this is the energy of physical production. God ’ s role is not the combat of productive force with productive force, of destructive force with destructive force; it lies in the patient 43 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Alfred_Whitehead (heruntergeladen am 3. 6. 2013). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 821 operation of the overpowering rationality of his conceptual harmonization. (Ebd., S. 408) Whiteheads Gott trägt eindeutig die Eigenschaften von Christus, dem Erlöser der Welt: He saves the world as it passes into the immediacy of his own life. [. . .]He does not create the world he saves it: or more accurately, he is the poet of the world, with tender patience leading it by his vision of truth, beauty, and goodness. (Ebd.) Whitehead schreckt auch nicht davor zurück, die Vorstellung der Liebe Gottes zur Welt in sein System miteinzubeziehen. In den abschließenden Abschnitten seines Werkes spricht er von vier Phasen der Entstehung der Welt. In der letzten offenbare sich die Liebe Gottes zur und sein Mitleid mit der Schöpfung: There are thus four creative phases in which the universe accomplishes its actuality. There is the first phase of conceptual origination, deficient in actuality, but infinite in its adjustment of valuation, Secondly, there is the temporal phase of physical origination, with its multiplicity of actualities. In this phase full actuality is attained; but there is deficiency in the solidarity of individuals with each other. [. . .] Thirdly, there is the phase of perfected actuality, in which the many are one everlastingly, without the qualification of any loss either of individual identity or of completeness of unity. [. . .] In the fourth phase, the creative action completes itself. For the perfected actuality passes back into the temporal world, and qualifies this world so that each temporal actuality includes it as an immediate fact of relevant experience. For the kingdom of heaven is with us today. The action of the fourth phase is the love of God for the world. It is the particular providence for particular occasions. What is done in the world is transformed into a reality in heaven, and the reality in heaven passes back into the world. By reason of this reciprocal relation, the love in the world passes into the love in heaven, and floods back again into the world. In this sense, God is the great companion - the fellow-sufferer who understands. (Ebd., S. 413) Würdigung Whiteheads Philosophie wird oft als „ Prozessphilosophie “ bezeichnet. Dieses Etikett scheint mir den Kern seiner Ansichten nicht zu treffen. Seine späte Philosophie ist mehr als Betonung des Prozesses, der Dynamik der Wirklichkeit: Sie kulminiert in der Anerkennung der göttlichen Dimension der Welt und ist auf diese letztendlich ausgerichtet. So greift Whitehead am Schluss seines Werkes zu solch eminent religiösen und christlichen Begriffen wie „ Gott “ , „ Himmel “ , „ das Reich der Himmel “ , und er führt Gott als den verständnisvollen „ Mit-Leidenden “ des Menschen ein. Ich habe den Eindruck (um es so unbestimmt zu formulieren), dass Whiteheads Edinburgh- Vorträge und sein daraus entstandenes philosophisches Hauptwerk als Herausforderung, vielleicht sogar als Provokation der etablierten wissenschaftlichen und philosophischen Orthodoxie intendiert waren. Er konnte 822 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft sich eine solche Provokation durchaus leisten. Seine wissenschaftliche Karriere stand nicht mehr auf dem Spiel: Er war bereits hoch geachtet und darüber hinaus (er war zur Zeit der Vorträge 66 Jahre alt) bereits praktisch im Pensionsalter. Man würde gerne wissen, was sich in jenen Manuskripten verbarg, die Whiteheads Wunsch entsprechend von seiner Witwe vernichtet wurden. Man kann vermuten, dass seine Philosophie als „ Prozessphilosophie “ in die Geschichte eingegangen ist, um die eindeutig theistische und sogar christliche Dimensionen dieser Philosophie zu kaschieren. Carl Gustav Jung: Das Rote Buch Carl Gustav Jung (1875 - 1961) ist allgemein bekannt als Begründer der analytischen Psychologie. Mit ihm werden die Lehre vom kollektiven Unbewussten, der Archetypen und der psychologischen Typen (extravertiert/ introvertiert, kombiniert mit vier psychischen Funktionen: Denken, Fühlen, Intuition und Empfinden) verbunden. Aufgrund des hohen Bekanntheitsgrades Jungs kann hier auf eine Biographie verzichtet werden. Die allgemeinen Kenntnisse über sein Leben erwiesen sich jedoch 2009 als wesentlich unvollständig. In diesem Jahr ist nämlich Jungs Das Rote Buch erschienen, das seine mehr oder weniger geheim gehaltenen tagebuchartigen Aufzeichnungen enthält. Erst dadurch wurde allgemein bekannt, dass Jung bereits 1913 angefangen hatte, mit sich selbst zu „ experimentieren “ , dass diese Experimente, welche er als „ Auseinandersetzung mit dem Unbewussten “ bezeichnete, bis 1930 dauerten (Hoerni 2009, S. 9) und die Grundlage für seine oben erwähnten Theorien bildeten: „ Jung gewann nach eigener Aussage bei seiner ‚ Auseinandersetzung mit dem Unbewussten ‘ den Stoff, aus dem er sein Lebenswerk formte “ (ebd., S. 10). Das wunderschön von Jung illustrierte und mit größter Liebe und hohem Können kalligraphisch geschriebene und gestaltete Rote Buch 44 , im Folio-Format, blieb aber eigentlich unvollendet. In seinem 1958 aufgesetzten Testament formulierte Jung den Wunsch, das Rote Buch möge bei seiner Familie verbleiben. Es blieb dann tatsächlich mehr als 20 Jahre in seinem Studienzimmer, 1983 wurde es in einem Banktresor deponiert. Als sich nach 1990 der Abschluss der Gesammelten Werke abzeichnete, wurde alles bis dahin noch nicht publizierte Material sukzessiv gesichtet. Im Jahr 2000 beschloss die Erbengemeinschaft schließlich, nicht ohne Diskussion, das Rote Buch zur Publikation freizugeben (ebd., S. 9f.). Dank der Publikation wurde klar, dass C. G. Jung seine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere zumindest teilweise seinen spirituellen Erfahrungen verdankte. 44 Ich schreibe das Rote Buch nicht kursiv, wenn es sich um Jungs „ Tagebuch “ handelt. Der Name bezieht sich übrigens einfach auf den roten Ledereinband dieses Folio-Buches. Das Rote Buch hingegen gebrauche ich, wenn es sich um die Veröffentlichung dieses Dokuments handelt. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 823 Bevor wir auf das Werk eingehen können, einige Worte zu Jungs Archetypenlehre (vgl. z. B. Jung 2010). Nach Jung sind Archetypen universelle psychische Inhalte, die von Menschen, welche in unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Zeiten gleichermaßen erlebt werden können. Er schreibt auch explizit von dem „ faszinierenden Einfluss “ der Archetypen, von derer „ natürlichen Numinosität “ (ebd., S. 39) und von ihrer „ dominierenden Macht “ (ebd., S. 65). Er beschreibt ferner die „ ungeheuere Belebung “ , welche das Unbewusste unter dem Einfluss des bewussten Kontakts mit den Archetypen erfährt (Shamdasani 2009, S. 200). Dies alles scheint zunächst eine vielleicht interessante, wenn auch unorthodoxe Theorie, die Jung anhand der Erfahrungen mit seinen Patienten entwickelt zu haben schien. Erst die Veröffentlichung des Roten Buches machte deutlich, dass es sich keineswegs um eine theoretische Spekulation, sondern um eine authentische Erfahrung Jungs, um das Ergebnis seiner Konfrontation mit der seelisch-geistigen Wirklichkeit handelt. Die erste Begegnung mit dieser Wirklichkeit fand in Jungs vierzigstem Lebensjahr statt. Wie er im Roten Buch schreibt, hatte er bereits alles, was er sich je gewünscht hatte, erreicht: „ Ruhm, Macht, Reichtum, Wissen und jedes menschliche Glück “ (Jung 2009, S. 231). Das Begehren war zu einem Ende gelangt und „ Grauen “ überkam ihn (ebd.), begleitet vom Gefühl der Einsamkeit: Danach aber trat meine Menschliches vor mir und sprach: „ Welche Einsamkeit, welche Kälte der Verlassenheit legst du auf mich [. . .]! Bedenke die Vernichtung des Seienden und die Blutströme des ungeheueren Opfers, das die Tiefe fordert. “ (ebd., S. 230) In dieser Seelenlage überwältigt Jung eines Tages die folgende Vision: Es geschah im Oktober des Jahres 1913, als ich allein auf einer Reise begriffen war, dass ich untertags plötzlich von einem Gesicht befallen wurde: ich sah eine ungeheure Sintflut, die alle nördlichen und tiefgelegenen Länder zwischen der Nordsee und den Alpen bedeckte. Sie reichte von England bis nach Russland und von den Küsten der Nordsee bis fast zu den Alpen. Ich sah die gelben Wogen, die schwimmenden Trümmer und den Tod von ungezählten Tausenden. Dieses Gesicht währte an die zwei Stunden, es verwirrte mich und machte mir übel. Ich vermochte nicht, es zu deuten. Es vergingen darauf zwei Wochen, dann kehrte das Gesicht wieder, noch heftiger als zuvor. Und eine innere Stimme sprach: „ Sieh an, es ist ganz wirklich, und es wird so sein. Du kannst nicht daran zweifeln. Ich rang wiederum an die zwei Stunden mit diesem Gesicht, aber es hielt mich fest. Es ließ mich erschöpft und verwirrt. Und ich dachte, dass mein Geist krank geworden ist. Von da an kehrte die Angst vor dem ungeheuren Ereignis, das unmittelbar vor uns stehen sollte, wieder. Einmal auch sah ich eine Meer von Blut über den nördlichen Ländern. (Ebd., S. 230f.) Es folgen innere Erlebnisse, die nicht mehr prophetischen Charakter hatten, sondern eine Art intensiven Dialog mit den Tiefen seines Wesens darstellen. 824 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Im Kapitel „ Die Wiederfindung der Seele “ hält Jung diesen Dialog mit sich selbst in folgenden Worten fest: Das Gesicht der Sintflut erfasste mich, und ich fühlte den Geist der Tiefe, aber ich verstand ihn nicht. Er aber zwang mich mit unerträglicher innerer Sehnsucht, und ich sprach: „ Meine Seele, wo bist du? Hörst du mich? Ich spreche, ich rufe dich - bist du da? Ich bin wiedergekehrt, ich bin wieder da - ich habe aller Länder Staub von meinen Füßen geschüttelt und bin zu dir gekommen, ich bin bei dir, nach langer Jahre langer Wanderung bin ich wiederum zu dir gekommen. [. . .] Das Eine habe ich gelernt, dass man nämlich dieses Leben leben muss. Dieses Leben ist der Weg, der längst gesuchte Weg zum Unfassbaren, das wir göttlich nennen. 45 Es gibt keinen anderen Weg. Alle anderen Wege sind Irrpfade. Ich fand den rechten Weg, er führte mich zu dir, zu meiner Seele. [. . .] Und wie fand ich dich? Wie wunderlich war meine Fahrt! Mit welchen Worten soll ich dir beschreiben, auf was für verschlungenen Pfaden mich ein guter Stern zu dir geleitete? Gib mir deine Hand, meine fast vergessene Seele. Welche Wärme der Freude, dich wiederzusehen, dich längst verleugnete Seele. Das Leben hat mich dir wieder zugeführt. Wir wollen dem Leben danken, dass ich gelebt habe, für alle Heiterkeiten und für alle traurigen Stunden, für jegliche Freude und für jeglichen Schmerz. Meine Seele, mit dir soll meine Reise weitergehen. Mit dir will ich wandern und aufsteigen zu meiner Einsamkeit. “ Dieses zwang mich der Geist der Tiefe zu sprechen und zugleich zu erleben gegen mich selber, denn ich erwartete es nicht. Ich war damals noch ganz befangen im Geiste dieser Zeit 46 und dachte anders von der menschlichen Seele. Ich dachte und sprach viel von der Seele, ich wusste viele gelehrte Worte über sie, ich habe sie beurteilt und einen Gegenstand der Wissenschaft aus ihr gemacht. Ich bedachte nicht, dass meine Seele nicht der Gegenstand meines Urteilens und Wissens sein kann, vielmehr ist mein Urteilen und Wissen Gegenstand einer Seele. Darum zwang mich der Geist der Tiefe, zu meiner Seele zu reden, sie anzurufen als ein lebendiges und in sich gestehendes Wesen. Ich musste inne werden, dass ich meine Seele verloren hatte. Daraus lernen wir, was der Geist der Tiefe von der Seele hält: Er sieht sie an als ein in sich selber bestehendes lebendiges Wesen, und damit widerspricht er dem Geiste dieser Zeit, dem die Seele eine vom Menschen abhängige Sache ist, die sich beurteilen und einordnen lässt und deren Umfang wir begreifen können. Ich habe einsehen müssen, dass das, was ich zuvor meine Seele genannt habe, gar nicht meine Seele gewesen ist, sondern ein totes Lehrgebäude. Ich musste daher zu meiner Seele sprechen als zu etwas Fernem und Unbekannten, das nicht durch mich Bestand hat, sondern durch das ich Bestand habe. Wessen Begehren sich also von den äußeren Dingen abwendet, der gelangt an den Ort der Seele. Findet er die Seele nicht, so wird ihm das Grauen der Leere befallen 45 Der Herausgeber des Roten Buches, Sonu Shamdasani, vermerkt in einer Fußnote, dass sich diese Beteuerung häufiger in Jungs späteren Schriften findet (vgl. dazu Jane Pratt, „ Notes on talks given by C. G. Jung: ‚ Is Analytical Psychology a Religion? ’“ , in Pratt 1972, S. 148.) 46 Gemeint ist der „ normale “ , materialistische Geist der westlichen Kultur zu Anfang des 20. Jahrhunderts. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 825 und die Angst wird ihn mit vielfach geschwungener Geißel hinaustreiben in ein verzweifeltes Streben und in ein blindes Begehren nach den hohlen Dingen dieser Welt. [. . .] Der Hunger aber macht die Seele zur Bestie, die Unzuträgliches verschlingt und sich daran vergiftet. Meine Freunde, es ist weise, die Seele zu nähren, sonst züchtet ihr Drachen und Teufel in euren Herzen. (Ebd., S. 231f.) Jung hatte noch etwa zwölf weitere Visionen, die auf den bevorstehenden Krieg hinwiesen (ebd., S. 204). Jung hatte infolge derartigen Erlebnisse die Befürchtung, in den Wahnsinn abzugleiten. (Shamdasani ebd., S. 200). 47 Da es jedoch keine empirischen Anzeichen dafür gab, hatte Jung das Gefühl, er leide unter einer „ überkompensierten Psychose “ (ebd., S. 203). Jung suchte nach einem Weg, mit seinen inneren Bildern methodisch umzugehen. Bereits 1912 hatte er eine Reihe von lebhaften Träumen, die ihn zu der Überzeugung brachten, dass das Unbewusste nicht nur aus trägem Material bestehe, sondern dass es unter der Oberfläche des alltäglichen Bewusstseins etwas Lebendiges gibt (Shamdasani ebd., S. 200). Zunächst konnte er mit diesen Träumen nichts anfangen, abgesehen von der allgemeinen Beobachtung, dass das Unbewusste durch sie eine „ ungeheure Belebung “ erfuhr (ebd.). Später erkannte er dahinter eine aktive, mythenschaffende Funktion des Geistes (ebd., S. 201) und er entdeckte eine Methode, die ihm diese Erfahrung der Wachphantasien zu vertiefen ermöglichte: Er fantasierte absichtlich, akzeptierte aber diese Phantasie als vollkommen real. Das erste Experiment dieser Art fand am 12. Dezember 1913 statt (ebd.). Später fuhr Jung mit diesem Verfahren fort: Im Wachzustand konstruierte er Phantasien und schlüpfte dann in sie wie in ein Drama hinein. Dieses Vorgehen lässt sich als eine Art dramatisierendes Denken in bildlicher Form verstehen. 48 Bei der Interpretation seiner „ Phantasien “ griff Jung auf seine mythologischen Studien zurück (ebd., S. 202). Ab April 1917 wurden diese Übungen um weitere ergänzt. Jung nennt sie „ Übungen in Bewusstseinsleere “ (ebd.). Das Ziel des Verfahrens war es, psychische Inhalte spontan zum Vorschein kommen zu lassen, die unter der Bewusstseinsschwelle liegen. Manchmal schien es ihm, dass er etwas höre, manchmal, dass er sich selbst etwas zuflüstere. Später nannte er diese Methode „ Technik der aktiven Imagination “ (ebd., Fußnote 70). Zunächst war Jung nicht klar, ob die von ihm erlebten Bilder mehr sind als bloße subjektive oder gar pathologische Erlebnisse, Halluzinationen, die vielleicht Vorboten des baldigen Ausbruchs einer Psychose darstellen. Erst der Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 28. Juli 1914 zeigte Jung, dass seine (prophetischen) Visionen durchaus einer objektiven Wirklichkeit entspra- 47 Es kann jedoch vermutet werden, dass der Brief, den Jung am 27. Oktober 1913 an Freud schrieb und mit dem er die Beziehung zu Freud abbricht und als Herausgeber der Jahrbuch für Psychoanalytische und Psychopathologische Forschungen zurücktritt, im Zusammenhang mit diesen Erlebnissen stand (Jung 2009 S. 231, Fußnote 31). 48 Es erinnert auch an das, was später als „ luzide Träume “ bekannt wurde (vgl. den Abschnitt „ Charles Tart: Altered States of Consciousness “ ). 826 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft chen. Jung war um diese Zeit damit beschäftigt, einen Vortrag „ Über die Bedeutung des Unbewussten in der Psychopathologie “ für den Kongress der British Medical Association in Aberdeen vorzubereiten. Der Vortrag sollte vor allem über Schizophrenie handeln. Jung meinte, er werde über sich selbst sprechen und sehr wahrscheinlich nach dem Vortrag verrückt werden (ebd., S. 203). Unmittelbar nach seinem Vortrag am 31. Juli erfuhr er aus der Zeitung, dass der Krieg ausgebrochen war. Seine Reaktion auf dieses Ereignis ist sehr aufschlussreich: Endlich verstand ich. Und als ich am nächsten Tag in Holland vom Schiff ging, war niemand glücklicher als ich. Jetzt war ich sicher, nicht von einer Schizophrenie bedroht zu sein. Ich begriff, dass meine Träume und Visionen aus dem Untergrund des kollektiven Unbewussten zu mir kamen. Was mir nun zu tun übrig blieb, war, diese Entdeckung [des kollektiven Unbewussten, eigentlich der geistigen Welt] zu vertiefen und zu bestätigen. Und genau darum habe ich mich vierzig Jahre lang bemüht. (Ebd.) Die inneren Stimmen waren nicht Halluzinationen, sie erwiesen sich als Offenbarungen einer ihm völlig unbekannten Welt. Die Arbeit am neuen Werk, der neue Abschnitt in seinem Leben konnte beginnen. Jung bestellte beim Buchbinder den besagten Folioband, dessen Rücken den Aufdruck Liber Novus trägt. Dem ersten Buch gab Jung den Titel „ Der Weg des Kommenden “ und setzte einige Zitate aus dem Buch Jesaja und dem Johannesevangelium an den Anfang. Es entsteht der Eindruck, dass Jung dieses Buch als eine Art prophetische Schrift verstand (ebd., S. 205). Im Folgenden erlaube ich mir, den Anfang dieses Werkes wörtlich wiederzugeben. Wenn ich im Geiste dieser Zeit rede, so muss ich sagen: Niemand und nichts kann rechtfertigen, was ich euch verkünden muss. Rechtfertigung ist mir überflüssig, denn ich habe keine Wahr, sondern ich muss. Ich habe gelernt, dass außer dem Geiste dieser Zeit noch ein anderer Geist am Werke ist, nämlich jener, der die Tiefe alles Gegenwärtigen beherrscht. Der Geist dieser Zeit möchte von Nutzen und Wert hören. Auch ich dachte so. Aber jener andere Geist zwingt mich dennoch zu reden, jenseits von Rechtfertigung, Nutzen und Sinn. Erfüllt von menschlichem Stolze und verblendet vom vermessenen Geiste dieser Zeit suchte ich lange, jenen andern Geist von mir zu halten. Aber ich bedachte nicht, dass der Geist der Tiefe seit alters und in alle Zukunft hinaus die höhere Macht besitzt, als der Geist dieser Zeit, der mit den Generationen wechselt. Der Geist der Tiefe hat allen Stolz und allen Hochmut der Urteilskraft unterworfen. Er nahm den Glauben an die Wissenschaft von mir, er raubte mir die Freude des Erklärens und Einordnens, und er ließ die Hingabe an die Ideale dieser Zeit in mir erlöschen. Er zwang mich hinunter zu den letzten und einfachsten Dingen. Der Geist der Tiefe nahm meinen Verstand und alle meine Kenntnisse und stellte sie in den Dienst des Unerklärbaren und des Widersinnigen. Er raubte mir Sprache und Schrift für alles, das nicht im Dienste dieses einen stand, nämlich der Ineinanderschmelzung von Sinn und Widersinn, welche den Übersinn ergibt. (Jung 2009, S. 229) 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 827 Wir können uns an dieser Stelle keiner ausführlichen Analyse dieses zentralen und gleichzeitig bis heute praktisch unbekannten Werkes widmen. 49 Mir ging es nicht darum, Jungs Erfahrungen im Einzelnen zu analysieren, sondern darum, einen weiteren Beleg für die These zu liefern, dass ein erfolgreicher Wissenschaftler zu sein nicht bedeuten muss, ein Materialist zu sein. Denn dass Jung in der Phase seines Lebens, die mit den oben zitierten Erfahrungen begonnen hat, kein Materialist war, steht außer Zweifel. Er schreibt: So ist deine Seele dein eigenes Selbst in der geistigen Welt. Die geistige Welt aber ist als der Wohnort der Geister auch eine äußere Welt. Wie du auch nicht allein bist in der sichtbaren Welt, sondern umgeben von den Gegenständen, die dir gehören und nur dir gehorchen, so hast du auch Gedanken, die dir gehören und nur dir gehorchen. Wie du aber auch in der sichtbaren Welt von Dingen und Wesen umgeben bist, die weder dir gehören noch dir gehorchen, so bist du auch in der geistigen Welt von Gedanken und Gedankenwesen umgeben, die weder dir gehorchen, noch dir gehören. Wie deine leiblichen Kinder von dir gezeugt oder aus dir geboren sind, aufwachsen und sich von dir trennen, so zeugst oder gebierst du auch Gedankenwesen, die sich von dir trennen und ihr eigenes Leben leben. (Ebd., S. 287) Das Rätsel der verspäteten Veröffentlichung Man muss sich am Ende unserer Betrachtung des Roten Buches die Frage stellen, wieso Jungs Werk erst 2009 und nicht nach dem Ende der Niederschrift oder spätestens direkt nach seinem Tod erschienen ist. Die Frage ist um so berechtigter, als der Text des Buches durchaus den Anschein erweckt, dass es nicht als ein privates und vertrauliches Tagebuch angelegt war. Im Gegenteil, viele sprachliche Merkmale scheinen darauf zu deuten, dass er es (anders als die Schwarzen Bücher, die Jung als ein privates Protokoll seines Experiments dienten, vgl. Shamdasani ebd., S. 204). für ein breites Publikum konzipierte. Der potentielle Leser wird z. B. als „ Freund “ angesprochen (ebd., S. 233; dazu Shamdasani 2009, S. 204). Dennoch verschwinden viele dieser Hinweise im endgültigen Werk (Jung 2009, S. 229, Fußnote 5; S. 231 Fußnoten 23, 27; S. 232 Fußnote 43 usw.). Jung vertraute zwar seiner Frau und einigen weiteren eng mit ihm befreundeten Personen seine inneren Erlebnisse an (Hoerni 2009, S. 9), in der Öffentlichkeit ließ er aber wenig über seine Erfahrungen verlauten. Er stellt die Niederschrift des Buches um 1930 abrupt ein. Das Buch lag zwar in seinem Studienzimmer, die Arbeit an ihm sollte jedoch für Jahrzehnte ruhen. Um 1959 versuchte Jung den Text fertigzuschreiben und fing einen Epilog an. Aus unbekannten Gründen brechen aber sowohl der kalligraphische Text als auch der Epilog mitten im Satz ab. Jung erwog zwar eine Publikation des 49 Shamdasani stellt zusammenfassend fest, dass das Liber Novus die Wiedergeburt Gottes in der Seele und den Abstieg in die Hölle beschreibt (Shamdasani 2009, S. 204). 828 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Werkes, vollzog diesen Schritt aber nie. (Auch die 1916 verfasste Abhandlung „ Die transzendente Funktion “ , in welcher Jung seine Methode der „ aktiven Imagination “ beschreibt, blieb im Übrigen bis 1958 unpubliziert.) Die Zurückhaltung der Erbengemeinschaft hinsichtlich der Veröffentlichung ist verständlich. Sie ist einfach ein Zeichen der Treue. Warum ließ jedoch Jung selbst diese extreme Vorsicht walten? Eine gewisse Antwort gibt er mit dem Hinweis, dass das Rote Buch keinen wissenschaftlichen Charakter habe (Hoerni ebd., S. 9, Shamdasani 2009, S. 201). Im Rahmen des konventionellen Wissenschaftsverständnisses ist dieser Vorbehalt durchaus stimmig. Zumindest am Anfang seiner Arbeit am Roten Buch fühlt sich Jung allerdings getragen vom „ Geist der Tiefe “ , der nach tieferen und umfangreicheren Kriterien agiert als „ der Geist dieser Zeit “ , zu dem ja u. a. ebendiese Wissenschaft gehört. Dieser Geist der Tiefe „ nahm den Glauben an die Wissenschaft “ , raubte Jung „ die Freude des Erklärens und Einordnens “ und ließ „ die Hingabe an die Ideale dieser Zeit “ in ihm erlöschen. Nach seiner Entdeckung der Wahrhaftigkeit der Botschaften des „ kollektiven Unbewussten “ fühlte Jung in sich zudem eine Mission: „ Was mir nun zu tun übrig blieb, war, diese Entdeckung zu vertiefen und zu bestätigen “ (Shamdasani 2009, S. 203), und er meinte auch, er habe sich darum fast vierzig Jahre lang treu und ehrenhaft bemüht (ebd.). Shamdasani vermerkt, dass Jung zunächst auf wissenschaftliche Nachweise verzichtete, obgleich es von Zitaten und Bezugnahmen auf philosophische, literarische und religiöse Schriften „ nur so wimmelt “ (ebd., S. 204). „ Er hatte sich bewusst dafür entschieden, die Wissenschaft beiseitezulassen “ (ebd.). Später jedoch ließ er sein Rotes Buch ruhen, um seine wissenschaftliche Karriere fortzusetzen. Muss man nicht vermuten, dass er diese Entscheidung getroffen hat, weil er um seine Reputation als Wissenschaftler fürchtete? Wenn er diese Befürchtung hatte, dann sicher mit gutem Recht. So hat auch Whitehead seine unorthodoxe Überzeugungen erst publik gemacht, als er bereits so gut wie pensioniert war, und Oliver Lodges wissenschaftliche Karriere kam zu einem abrupten Ende, als er sich zu seinen unorthodoxen Überzeugungen bekannte. Fürchtete Jung ein ähnliches Schicksal? Es ist zu vermuten, dass Jung zur Zeit der Abfassung seines Testaments 1958 der Ansicht war, dass die wissenschaftliche Welt noch immer nicht bereit ist, die Botschaft seiner inneren Erfahrungen wahr- und ernst zu nehmen, und dass erst in einem anderen Wissenschaftsklima Das Rote Buch mit einer angemessenen Würdigung rechnen kann. Würdigung Carl Gustav Jung ist ein weiterer sehr bedeutender Wissenschaftler, der weit vom Materialismus entfernt war, obschon er seine Überzeugungen nicht ganz explizit kundtat. Wenn ich Jungs Beweggründe für das Zurückhalten der Publikation des Roten Buches richtig interpretiere, ist er eine tragische Figur, 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 829 die das Gefühl hatte, die wahren Quellen ihrer Einsichten verleugnen zu müssen, um ihren Status in der wissenschaftlichen Welt nicht zu verlieren. In einem Interview, das Jung der BBC im Oktober 1959, also am Ende seines Lebens, gewährte, antwortete er auf die Frage des Journalisten John Freeman „ Glauben Sie an Gott? “ : „ Ich glaube nicht, ich weiß “ . 50 Im Gegensatz zu Swedenborg, der seine wissenschaftliche Karriere aufgab, um sich dem Austausch mit der geistigen Welt zu widmen, verschwieg Jung seine Spiritualität und trieb weiter Wissenschaft. Was diesen Glauben betrifft, so hatte Jung jedoch einen langen Weg zurückgelegt. Noch 1917, also bereits einige Jahre, nachdem er angefangen hat, mit seinem Unbewussten zu experimentieren, galten Götter Jung als „ die Dominanten des absoluten Unbewussten “ (Jung 1917, S. 122; vgl. auch Jung 1918, S. 135). In Die Psychologie der unbewussten Prozesse schreibt er: Der Gottesbegriff ist nämlich eine schlechthin notwendige psychologische Funktion irrationaler Natur, die mit der Frage nach der Existenz Gottes überhaupt nichts zu tun hat. Denn diese letztere Frage gehört zu den dümmsten Fragen, die man stellen kann. Man weiß doch hinlänglich, dass man sich einen Gott nicht einmal denken kann, geschweige denn sich vorstellen, dass er wirklich existiere, so wenig wie man sich einen Vorgang denken kann, der nicht notwendig kausal bedingt wäre. Es kann theoretisch gar keine Zufälle geben, das ist ein für allemal klar. Dagegen stolpert man im praktischen Leben beständig über Zufälle. So ist es auch mit Gottesexistenz: sie ist für allemal ein absurdes Problem. Aber der concensus gentium spricht von Göttern seit Aeonen und wird noch in Aeonen davon sprechen. (Jung 1917, S. 91f.) 51 Interessanterweise heißt es in den späteren Ausgaben statt „ Denn diese letztere Frage gehört zu den dümmsten Fragen, die man stellen kann “ : „ Denn diese Frage kann der menschliche Intellekt niemals beantworten “ (Jung 1926, S. 103). Der Intellekt kann die Frage nicht beantworten, aber der Mensch kann doch wissen. Dies ist zumindest 1959 die Überzeugung Jungs. Nach dem 2. Weltkrieg Ich habe am Anfang dieses Kapitels geschrieben, dass ich die von mir zu behandelnden Autoren und ihre Werke in chronologischer Reihenfolge darstellen werde. Man mag darüber streiten, ob ich diesem Prinzip im Fall Jungs Genüge getan habe, denn er war zwar bereits vor dem 2. Weltkrieg aktiv, sein Rotes Buch ist jedoch erst 2009 erschienen. Jung bietet damit 50 http: / / www.psychologytoday.com/ blog/ the-consciousness-question/ 201202/ meeting -carl-gustavjung (heruntergeladen am 18. 7. 2011). Wörtlich lautete die Frage: „ Well, Dr. Jung, do you believe in God? “ und Jungs Antwort nach eine Pause: „ No, Mr. Freeman. I don't believe. I know. “ Vgl. auch http: / / videosift.com/ video/ Face-toFace-with-Carl-G- Jung (heruntergeladen am 18. 7. 2011). 51 Auch die zweite, 1918 veröffentlichte Auflage dieses Werkes enthält diese Stelle (Jung 1918, S. 101f.). 830 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft jedenfalls eine geeignete Klammer zwischen dem ersten und dem zweiten, mit Abstand umfangreicheren Teil des Kapitels. Diese Aufteilung ergibt sich daraus, dass nach meiner Einschätzung die materialismuskritischen Publikationen in der zweiten Jahrhunderthälfte stark zunahmen. Als erster Vorbote dieser „ neuen Zeiten “ kann der 1954 in England erschienene Essay The Doors of Perception von Aldous Huxley gelten (Huxley 2011, S. 41). Mit den Türen der Wahrnehmung schienen sich zugleich die Schleusen für weitere materialismuskritische Schriften geöffnet zu haben, so dass das Rinnsal der 60er Jahre nach der Jahrtausendwende zu einem mächtigen Publikationsstrom anschwellen konnte. Im Fall dieses Buches mache ich die zweite Ausnahme von meinem Versprechen, nur die Werke von Wissenschaftlern zu behandeln. Die Bedeutung Huxleys für die Literaturwelt seiner Zeit, wie auch die Tatsache, dass er durch seine Familienbande fest in der Wissenschaft verankert war, scheinen mir diese Ausnahme zu rechtfertigen. Aldous Huxley: The Doors of Perception Aldous Huxley (1894 - 1963), der Autor solcher berühmter Bestseller wie Brave New World, Eyeless in Gaza und Island wie auch des bedeutsamen religiös-philosophischen Werkes The Perennial Philosophy entstammt einer gutsituierten und einflussreichen Familie. Als Patriarch der Familie gilt Thomas Henry Huxley (1825 - 1895). Der Großvater von Aldous, ein bedeutender englischer Biologe, war aufgrund seines Einsatzes für die Verbreitung von Darwins Evolutionstheorie als „ Darwin ’ s Bulldog “ bekannt. Der ältere Bruder von Aldous, Julian Sorell Huxley (1887 - 1975), war wie sein Großvater Evolutionsbiologe und gewann u. a. die Darwin Medal der Royal Society (1956); er war Sekretär der englischen Zoological Society, wurde 1946 der erste Direktor der UNESCO und war 1961 Mitbegründer der World Wild Fund. Aldous Huxleys Halbbruder, Andrew Huxley (1917 - 2012), war ein berühmter englischer Physiologe und Biophysiker, der 1963 mit dem Nobelpreis für Physiologie und Medizin für seine Entdeckungen im Bereich der Übertragung der Impulse im Nervensystem ausgezeichnet wurde. Man darf aufgrund dieser familiären Verhältnisse davon ausgehen, dass Aldous Huxley mit der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Forschung bestens vertraut war. 52 Äußerlich betrachtet handelt Huxleys Buch von den Resultaten eines Experiments mit der Droge Meskalin. Es geht hier aber um viel mehr: Es ist wohl das erste Mal nach der einschneidenden Zäsur des 2. Weltkrieges, dass eine bedeutsame und durchaus auf der Grundlage des allgemein akzeptierten wissenschaftlichen (materialistischen) Paradigmas stehende Persönlichkeit von Erfahrungen berichtete, die dieses Paradigma sprengen, von Einblicken in die „ anderen Dimensionen “ des Daseins, von welchen früher innerhalb 52 Basiert auf den entsprechenden Einträgen in der englischen Wikipedia. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 831 verschiedener religiösen Traditionen berichtet wurde, welche aber seit dem Ausklingen der mittelalterlichen Mystik als für die direkte Erfahrung des Menschen praktisch verschlossen und bloss dem Glauben zugänglich galten. Der Titel des Buches ist dem Werk des berühmten englischen romantischen Dichters William Blake (1757 - 1827) The Marriage of Heaven and Hell (1789 - 1790) entnommen, das die Quintessenz von Blakes religiösen Überzeugungen, aber auch mystische Visionen enthält. Auf der 14. Seite seines Büchlein schreibt Blake: „ If the doors of perception were cleansed every thing would appear to man as it is, infinite. For man has closed himself up, till he sees all things thro ’ narrow chinks of his cavern. “ Huxleys „ Experiment “ bestand darin, dass er 0,4 Gramm Meskalin aufgelöst in einem Glas Wasser schluckte, um die Einwirkung dieser von den mexikanischen Indianer seit Jahrhunderten bekannten und benutzten Substanz am eigenen Leib zu erfahren. Das Büchlein beschreibt dann die Effekte, die die Droge auf Huxley hatte. Der Autor erwartete, dass er durch das Tor dieser Substanz zu den mächtigen visionären Welten gelangen werde, wie sie von William Blake und dem irischen Dichter und Mystiker George William Russell (Pseudonym: AE) (1867 - 1935) beschrieben wurden. Dies ist nicht geschehen. Dennoch waren die Veränderungen seiner Wahrnehmung einschneidend: Half an hour after swallowing the drug I became aware of a slow dance of golden lights. A little later there were sumptuous red surfaces swelling and expanding from bright nodes of energy that vibrated with a continuously changing, patterned life. At another time the closing of my eyes revealed a complex of gray structures, within which pale bluish spheres kept emerging into intense solidity and, having emerged, would slide noiselessly upwards, out of sight. But at no time were there faces or forms of men or animals. I saw no landscapes, no enormous spaces, no magical growth and metamorphosis of buildings, nothing remotely like a drama or a parable. The other world to which mescalin admitted me was not the world of visions [. . .]. (Huxley ebd., S. 4f.) In den folgenden Stunden hatte Huxley weitere Erlebnisse. Seinen Bewusstseinszustand kennzeichnet er daraufhin wie folgt: (1) The ability to remember and to “ think straight ” is little if at all reduced. (Listening to the recording of my conversation under the influence of the drug, I cannot discover that I was then any stupider than I am at ordinary times.) (2) Visual impression are greatly intensified and the eye recovers some of the perceptual innocence of childhood, when the sensum was not immediately and automatically subordinated to the concept. Interest in space is diminished and interest in time falls almost to zero. (3) Though the intellect remains unimpaired and though perception is enormously improved, the will suffers a profound change for the worse. The mescalin taker sees no reason for doing anything in particular and finds most of the causes for which, at ordinary times, he was prepared to act and suffer, profoundly uninteresting. He 832 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft can ’ t be bothered with them, for the good reason that he has better things to think about. (4) These better things may be experienced (as I experienced them) “ out there, ” or “ in here, ” or in both worlds, the inner and the outer, simultaneously or successively. That they are better seems to be self-evident to all mescalin takers who come to the drug with a sound liver and an untroubled mind. (Ebd., S. 9f.) Wichtiger als die Beschreibung der Effekte von Meskalin sind die Konsequenzen, die Huxley zieht. Die Einsicht, die sich ihm durch den Meskalinkonsum erschloss, erscheint ihm so wichtig und einschneidend, dass er dafür plädiert, eine neue Droge zu entwickeln, die die Menschheit befreit und tröstet, ohne die negativen gesundheitlichen und sozialen Nebeneffekte von Alkohol, Tabak, Opium, Kokain u. a. zu haben (ebd., S. 31). Huxley stellt allerdings heraus, dass die Effekte des Meskalins oder anderer Drogen nicht identisch mit der östlichen spirituellen Erleuchtung oder der christlichen Gottesschau ( „ beatific vision “ ) seien, erachtet aber die Meskalinerfahrung als etwas, was in der katholischen Kirche gratia gratis data genannt wird: Sie ist für die Erlösung zwar nicht nötig, aber hilfreich, und sollte mit Dankbarkeit entgegengenommen werden, denn: To be shaken out of the ruts of ordinary perception, to be shown for a few timeless hours the outer and the inner world, not as they appear to an animal obsessed with survival or to a human being obsessed with words and notions, but as they are apprehended, directly and unconditionally, by Mind at Large - this is an experience of inestimable value to everyone and especially to the intellectual. (ebd., S. 35f.) Dank solcher Erfahrungen werden die Menschen einfühlsamer, offener für die innere wie auch äußere Wirklichkeit, offener auch für den Geist und weniger anfällig für psychische wie auch physische Krankheiten, meint Huxley (ebd., S. 37). Am Schluss seiner Ausführungen erinnert er daran, dass Thomas von Aquin am Ende seines Lebens einer Gottesschau teilhaftig wurde, ein Erlebnis, dass auf den großen Kirchenvater so stark wirkte, dass er sich weigerte, an seinem damals noch nicht vollendeten letzten Werk weiterzuarbeiten. (ebd., S. 39). Huxley schließt mit der folgenden Bemerkung: [T]he man who comes back through the Door in the Wall will never be quite the same as the man who went out. He will be wiser but less cocksure, happier but less self-satisfied, humbler in acknowledging his ignorance yet better equipped to understand the relationship of words to things, of systematic reasoning to the unfathomable Mystery which it tries, forever vainly, to comprehend. (Ebd.) Zwei Jahre später ergänzte Huxley seine Ausführungen mit einem weiteren Büchlein, das er wiederum in Anspielung auf Blakes The Marriage of Heaven and Hell einfach Heaven and Hell betitelte. Darin versucht er eine systematische Darstellung von visionären und Drogenerlebnissen. In Heaven and Hell spricht Huxley u. a. einerseits von „ Landschaften von überragender Schönheit “ , deren Wahrnehmung für die visionäre Erfahrung aller Zeiten und aller 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 833 Religionen charakteristisch ist (Huxley 2011, S. 50f.), andererseits bemerkt er aber, dass sowohl die religiösen Visionen als auch die Meskalin-Erfahrung nicht nur schön und erhaben, sondern auch unter gewissen Umständen dunkel und bedrohlich sein können (daher der Titel, ebd., S. 67f.). Er unterscheidet überdies die visionäre von der mystischen Erfahrung: Diese transzendiere das Reich der Gegensätze ( „ realm of opposites “ ), während jene noch in diesem Reich verfangen sei (ebd., S. 69). Ergänzend ist zu sagen, dass Huxley im Oktober 1955 auch eine Erfahrung mit LSD machte, die er als viel weitgehender und tiefer erachtete als jene, die er in The Doors of Perception beschrieb. Er war durch diese Erfahrung dermaßen überwältigt, dass er seine früheren Erlebnisse in ihrem Lichte als bloße „ unterhaltsame Nebenvorstellungen “ betrachtete (Stevens 1998, S. 56 - 57). In einem Brief an den englischen Psychiater Humphry Osmond (1917 - 2004), der sich auf die Erforschung bewusstseinsverändernder Substanzen spezialisiert hatte (und den Begriff „ psychedelic “ erfand), schrieb Huxley, dass er dank LSD erfahren hat „ the direct, total awareness, from the inside, so to say, of Love as the primary and fundamental cosmic fact. [. . .] I was this fact; or perhaps it would be more accurate to say that this fact occupied the place where I had been. [. . .] And the things which had entirely filled my attention on that first occasion, I now perceived to be temptations - temptations to escape from the central reality into a false, or at least imperfect and partial Nirvana of beauty and mere knowledge “ (zitiert in Archera Huxley 1969, S. 139). Aldous Huxleys Bücher erzeugten eine große Resonanz, Wissenschaftler, Philosophen, und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens nahmen kontrovers Stellung. Das amerikanische literarische Wochenmagazin Saturday Review veröffentlichte ein Symposium, an dem neben Huxley auch J. S. Slotkin, Professor für Anthropologie, und der Arzt Dr. W. C. Cutting teilnahmen. Der bekannte wie auch umstrittene britische Spezialist für Schizophrenie William Sargant schrieb die Buchbesprechung des Werkes für das British Medical Journal. Der schottische Dichter Edwin Muir (1887 - 1959) bemerkte, dass Huxleys Experiment außergewöhnlich und schön beschrieben sei, Thomas Mann, der mit Huxley befreundet war, meinte hingegen, dass es von Huxleys Eskapismus zeuge. Die umfangreichste Stellungnahme kam von Robert Charles Zaehner (1913 - 1974), einem Spezialisten für östliche Religionen, der seit 1952 einen Lehrstuhl an der Universität Oxford innehatte und katholischer Konvertit war. Bereits 1954 veröffentlichte er den Artikel „ The Menace of Mescaline “ , in welchem er u. a. feststellte, dass die künstliche Manipulation des Bewusstseins nichts mit der christlichen Gottesschau zu tun habe. 1957 erweiterte er seine Kritik in dem Buch Mysticism Sacred and Profane, das er als eine theistische Riposte auf den (angeblichen) atheistischen Monismus Huxleys verstand und in dem er darauf hinwies, dass Huxleys Meskalinrausch kaum den Erfahrungen von Personen mit anderem kulturellen und Bildungshintergrund entsprechen würden. Huston Smith, ein 834 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft amerikanischer Religionsforscher und von 1958 bis 1973 Philosophie-Professor an der MIT, verteidigte Huxley mit dem Hinweis, dass der Gebrauch bewusstseinsverändernder Substanzen in manchen Religionen weit verbreitet ist. Von größerer Bedeutung ist in unserem Kontext die Frage, ob für Huxley die durch den Konsum von Meskalin und LSD hervorgerufenen Visionen von einer immateriellen Wirklichkeit zeugen oder ob sie seiner Meinung nach nur ein Effekt der chemischen Veränderungen im Gehirn sind. Huxley schreibt dazu in Heaven and Hell: [I]n one way or another, all our experiences are chemically conditioned, and if we imagine that some of them are purely ‘ spiritual ’ , purely ‘ intellectual ’ , purely ‘ aesthetic ’ , it is merely because we have never troubled to investigate the internal chemical environment at the moment of their occurrence. (Huxley 2011, S. 76f.) Diese Sichtweise gibt Huxley einen Freibrief, für die allgemeine Anwendung von Drogen zur Erleichterung und Vertröstung „ unserer leidenden Gattung “ zu plädieren, lässt aber auch den Anschein entstehen, dass Huxley die wohltuenden Folgen des Drogenkonsums als bloß physische (chemische) Veränderungen in unserem physischen Körper verstand. Dieser Eindruck täuscht jedoch. Zum einen spricht Huxley vom Gehirn wiederholt als von einem Reduktionsventil ( „ reducing valve “ ), also einer Vorrichtung, die das Bewusstsein nicht erzeugt, sondern herabsetzt (ebd., S. 8, 9, 71, 72, 74, 75, 76). Huxley beruft sich in diesem Zusammenhang auf den Cambridger Epistemologen, Wissenschafts- und Moralphilosophen C. D. Broad (1887 - 1971), der unter Berufung auf Henri Bergson meinte, dass die Funktion des Gehirns in Bezug auf das Bewusstsein nicht produktiv, sondern vielmehr eliminativ sei. Jedermann sei prinzipiell fähig, in jedem Moment alles, was im Universum passiert, wahrzunehmen, und die Funktion des Gehirns und des Nervensystems bestehe darin, uns davor zu schützen, durch die gewaltige Menge an prinzipiell zugänglicher Information überwältigt und verwirrt zu werden (ebd., S. 8). Huxley schreibt dann: According to such theory, each one of us is potentially Mind at Large. But in so far as we are animals, our business is at all costs to survive. To make biological survival possible, Mind at Large has to be funnelled through the reducing valve of the brain and nervous system. What comes out at the other end is a measly trickle of the kind of consciousness which will help us to stay alive on the surface of this particular planet. (Ebd.) Huxley geht jedoch weiter. In Heaven and Hell äußert er die Vermutung, dass das Bewusstsein den leiblichen Tod auf jedem Niveau des mentalen Lebens überdauere: „ on the level of mystical experience, on the level of blissful visionary experience, on the level of infernal visionary experience, and on the level of everyday individual existence “ (ebd., S. 69f.). Und eine Seite weiter hält Huxley fest, dass er von der Wahrheit des modernen Spiritualismus wie der alten spiritualistischen Traditionen überzeugt ist: 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 835 My own guess is that modern spiritualism and ancient tradition are both correct. There is a posthumous state of the kind described in Sir Oliver Lodge ’ s book, Raymond [s. oben]; but there is also a heaven of blissful visionary experience; there is also a hell of the same kind of appalling visionary experience as is suffered here by schizophrenics and some of those who take mescalin; and there is also an experience, beyond time, of union with the divine Ground. (Ebd., S. 70) Diese Auffassung bekräftigt Huxley einige Seiten später: If, as I myself believe, visionary experiences enter our consciousness from somewhere „ out there “ in the infinity of Mind-at-Large, what sort of an ad hoc neurological pattern is created for them by the receiving and transmitting brain? And what happens to this ad hoc pattern, when the vision is over? Why do all visionaries insist on the impossibility of recalling, in anything even faintly resembling its original form and intensity, their transfiguring experiences? How many questions - and, as yet, how few answers! (ebd., S. 73) Würdigung Aldous Huxley, in eins berühmter Schriftsteller und Mitglied einer äußerst einflussreichen englischen Wissenschaftlerfamilie, bekannte sich also in seinen beiden Schriften The Doors of Perception und Heaven and Hell öffentlich zu seiner Überzeugung von der Existenz einer realen geistigen Welt. Allerdings scheint sich bei näherem Hinsehen eine Inkonsistenz, ja sogar ein Widerspruch aufzutun: Wenn er behauptet, dass alle unsere Erfahrungen chemisch bedingt seien, wie kann er dann diese Erfahrungen auf die Einwirkungen einer hypothetischen immateriellen, geistigen Welt ( „ Mind-at- Large “ , oder sogar „ the One “ , ebd., S. 75) zurückführen? Im ersten Moment scheinen diese beiden Sichtweisen tatsächlich völlig unvereinbar und es besteht die starke Versuchung, Huxleys Aussagen als Bemerkungen eines phantasievollen Schriftstellers abzutun. Es gibt jedoch eine Lesart, die sie kompatibel macht. Denn indem man zustimmt, dass alle unsere Erfahrungen chemisch „ bedingt “ sind, stellt man nicht zwingend die These auf, dass sie chemisch verursacht sind. Die Richtung der Kausalität bleibt bei dieser Formulierung vage: Man kann Huxley so interpretieren, dass es sich um eine „ Bottom-up “ -Kausalität handle, also dass die chemischen Veränderungen die Bewusstseinsveränderungen verursachen. Die Formulierung lässt jedoch auch die Möglichkeit zu, dass sich die kausale Wirkung in umgekehrter Richtung vollzieht, dass also ein ursprünglicher immaterieller Einfluss sich in den chemischen Veränderungen im Gehirn manifestiert. Wenn die chemische Veränderung, z. B. durch den Konsum einer bestimmten Droge, zuerst zustande kommt, ist es sicherlich unplausibel, die nachfolgende Bewusstseinsveränderung einem geistigen Einfluss zuzuschreiben (die Ursache geht dem Effekt voraus, nicht umgekehrt). Dies schließt aber nicht aus, dass sich die Verhältnisse umkehren können. Schließlich ist nichts davon bekannt, dass die großen mittelalterlichen Mystiker und Visionäre Drogen 836 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft konsumierten. Es wäre aber auch bei ihnen möglich, chemische Veränderungen im Gehirn und vielleicht sogar in anderen Bereichen des Nervensystems infolge ihrer Erfahrungen nachzuweisen. Daneben gibt es einen anderen Weg, die beiden sich scheinbar ausschließenden Aussagen zu vereinbaren. Man könnte postulieren, dass gewisse chemische Veränderungen das Gehirn empfänglicher für die immateriellen Einwirkungen des „ Mind-at-Large “ machen. Huxley weist auf diese Möglichkeit hin: The various “ other worlds, ” with which human beings erratically make contact are so many elements in the totality of the awareness belonging to Mind at Large. Most people, most of the time, know only what comes through the reducing valve and is consecrated as genuinely real by the local language. Certain persons, however, seem to be born with a kind of by-pass that circumvents the reducing valve. In others temporary bypasses may be acquired either spontaneously, or as the result of deliberate “ spiritual exercises, ” or through hypnosis, or by means of drugs. (Ebd., S. 9) Und ein wenig weiter: [The] effects of mescalin are the sorts of effects you could expect to follow the administration of a drug having the power to impair the efficiency of the cerebral reducing valve. (Ebd., S. 10) Huxley schildert nicht im Detail, wie eine solche Wirkung vonstatten gehen könnte, die Richtung seines Denkens ist jedoch klar: So wie die Sonnenbrillengläser undurchdringlich für die Sonnenstrahlen sind, so macht die chemische Zusammensetzung unser Gehirn undurchdringlich für gewisse (vor allem spirituelle) Einflüsse. Durch eine geeignete Veränderung dieser chemischen Zusammensetzung kann das „ Glas “ unseres Gehirns von seiner Färbung befreit werden und „ klare Sicht “ auf die uns umgebende Welt geben. Unter dieser Perspektive ist die Gehirnchemie keineswegs der Erzeuger der mentalen Phänomene, sie bedingt jedoch ( „ conditions “ ) ihre Form im guten wie im schlechten Sinne. Huxley widerspricht sich also nicht, wenn er einerseits behauptet, dass „ all our experiences are chemically conditioned “ , andererseits aber feststellt, dass die visionären Erfahrungen Spuren der (immateriellen) Realität, des „ Mind-at-Large “ , des göttlichen Urgrundes des Seins sind. Und aus diesem Grund können sein Essay The Doors of Perception und das Büchlein Heaven and Hell als Wegweiser auf einem neuen Pfad, als die ersten Vorboten eines neuen Paradigmas erachtet werden. Alister Hardy: The Living Stream 1965 erschien das Buch The Living Stream. A Restatement of Evolution Theory and Its Relation to the Spirit of Man von Alister Hardy. Das Buch stellt die Druckfassung der ersten der zwei Gifford-Vortragsreihen dar, die Hardy 1963 - 64, und 1964 - 65 an der Universität Aberdeen gehalten hat. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 837 Biographie 53 Hardy (1896 - 1985) war ein Meeresbiologe, der auf den Gebieten Zooplankton und Meeresökosysteme tätig war. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges trat er freiwillig in die Armee ein und konnte als Tarnoffizier seine künstlerischen Fähigkeiten einbringen. Seine Kunstfertigkeit stellte Hardy später in den Dienst seiner wissenschaftlichen Arbeit: Er illustrierte seine New- Naturalist-Bücher 54 mit eigenen Zeichnungen, Karten, Diagrammen, Fotografien und Gemälden. Als Hardy Indien, Sri Lanka, Burma, Kambodscha, China und Japan bereiste, hielt er seine Eindrücke in Aquarellen fest. Viele von ihnen befinden sich heute in einer Sammlung der Universität von Wales. Hardy fühlte sich von der Wissenschaft und der Kunst gleichermaßen angezogen und empfand es als Segen, dass er die beiden Seiten seiner Persönlichkeit ausleben konnte „ [I was] equally drawn to science and art, and if the truth be known, I must confess that it is the latter that has the greater appeal. I am lucky in not having been torn between the two; I have managed to combine them. “ 55 Hardy war an der Forschungsreise der RRS Discovery in die Antarktis zwischen 1925 und 1927 beteiligt und studierte dabei Plankton und seine Beziehung zu Raubtieren. Er entwarf den sog. Continuous Plankton Recorder, ein Gerät, das Planktonproben sammelt und auf einem sich bewegenden Band aus Seide speichert. Die Proben werden später in Formalin präserviert. Hardys bahnbrechende Forschung über Planktonverteilung und -häufigkeit wird durch die Sir Alister Hardy Foundation für Ocean Science (SAHFOS) fortgeführt. Hardy war 1928 bis 1942 der erste Professor für Zoologie an der Universität von Hull. Im Jahre 1942 wurde er dann als Professor für Naturgeschichte an die Universität von Aberdeen berufen. 1946 erhielt er einen Ruf an die Universität Oxford, wo er bis zu seiner Pensionierung 1961 Zoologie lehrte. 1940 wurde Hardy zum Fellow der Royal Society ernannt und 1957 zum Ritter geschlagen. Hardy schrieb zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten über Plankton, Fische und Wale. Er schrieb auch zwei populäre Bücher in der New-Naturalist-Serie. Hardy hatte ein lebenslanges Interesse an geistigen Erscheinungen, er war sich aber bewusst, dass dies in der wissenschaftlichen Gemeinschaft wahrscheinlich ein negatives Echo finden würde, so dass er abgesehen von gelegentlichen Vorträgen seine Meinung bis zu seiner Pensionierung privat hielt. Im Jahr 1969 gründete er die Religious Experience Research Unit (später 53 Basiert auf http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Alister_Hardy (heruntergeladen am 7. 10. 2013). 54 Die New Naturalist Library ist eine von Collins in Großbritannien veröffentlichte Buchreihe, die eine Vielzahl von naturkundlichen Themen behandelt. 55 http: / / rstb.royalsocietypublishing.org/ content/ 364/ 1516/ 497.full (heruntergeladen am 7. 10. 2013). 838 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Religious Experience Research Centre) in Manchester College, Oxford (1989 - 1999 in Westminster College, Oxford, ab 2000 an der University of Wales, Lampeter angesiedelt). Für sein Engagement bei der Gründung des Religious Experience Research Centre erhielt Hardy kurz vor seinem Tod im Jahr 1985 den Templeton-Preis. The Living Stream. A Restatement of Evolution Theory and Its Relation to the Spirit of Man Hardy wurde eingeladen, 1963 - 64 und 1964 - 65 die prestigeträchtigen Gifford-Vorträge an der Universität Aberdeen zu halten. Darin behandelt er die Evolutionstheorie, signalisiert aber zugleich die Rückkehr zu seinen religiösen Interessen. Nachdem Hardy in den ersten Vorträgen die Hauptthemen von Darwins Theorie akademisch-orthodox vorgestellt hat, wendet er sich im achten Vortrag „ gewissen Problemen der gegenwärtigen Evolutionstheorie “ zu. Er behandelt z. B. das Rätsel der Entstehung der Beine an unterschiedlichen Segmenten der Wirbelsäure verschiedener Tiere (z. B. Salamander, Frosch, Eidechse, Mauerschwalbe, Taucher) (Hardy 1965, S. 215ff.) und macht geltend, dass es im Sinne der Evolutionstheorie unverständlich ist, warum homologe Organe bei verschiedenen Tierarten dermaßen unterschiedlichen Ursprung aufweisen. Aus Sicht der heutigen Molekularbiologie und Genetik müsste man das Problem so darstellen: Warum sind bei der Entstehung homologer Organe verschiedener Tierarten verschiedene Gene aktiv? Ferner diskutiert er das Problem des sog. Gießkannenschwamms (Euplectella aspergillum), einer Art aus der Klasse der Glasschwämme. Die Hauptstruktur dieses Tieres besteht aus drei Schichten von sechsstrahligen Skelettnadeln und Fasern aus Silikaten, die zu einer Gitterstruktur verschmelzen. Die Strukturen bestehen aus einem Material, das der kommerziellen Glasfaser ähnlich ist. Die einzelnen Fasern des Schwamms werden 5 bis 20 cm lang und sind etwa so dünn wie menschliches Haar. Der Korb des Schwamms ist radialsymmetrisch und zwischen 7,5 cm und 1,3 m hoch, in der Mehrheit zwischen 10 und 30 cm. Zwischen den Skelettnadeln liegt ein Gewebe aus weichen Zellen, die mit Flagellen versehen sind und Wasser durch den Schwamm strömen lassen. 56 Das komplexe und schöne Skelett des Tieres stellt eine perfekte Kombination von Härte und Leichtigkeit dar (ebd., S. 227). Das eigentliche Rätsel besteht jedoch darin, dass diese komplexe Struktur durch unzählige einzellige Organismen gebildet wird, von denen jede nur ein Element des Ganzen, eine Nadel (spicule) aus Kieselerde absondert. Hardy fragt: Wie wirken sie zusammen, um eine dermaßen komplexe Struktur aufzubauen? Die Frage ist noch heute durchaus berechtigt. Hardy behandelt dann einige Protozoen (Urtierchen) und insbesondere Amöben, also verhältnismäßig einfache, einzellulare Organismen. Die meis- 56 Basiert auf: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Gießkannenschwamm (heruntergeladen am 8. 10. 2013). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 839 ten von ihnen sind nackt, es gibt aber Arten, insbesondere die Foraminiferen, die eine Art äußeres Skelett aus Calciumcarbonat (Kalk) ausscheiden, das wunderschöne Formen aufweisen kann. Bereits dies wäre eine ungewöhnlich komplexe Leistung für ein einzellulares Wesen. Es gibt aber überdies Arten, welche ihr externes Skelett nicht aussondern, sondern aus Silikatnadeln herstellen, die von Schwämmen produziert wurden und die die Amöben vom Meeresboden auflesen. Diese Skelette weisen eine mehrschichtige und zugleich höchst geometrische Form auf (z. B. die eines langen Zylinders, oder einer Kugel). Hardy kommentiert diese erstaunliche Leistung folgendermaßen: To my mind these various astrorhizid foraminifera present one of the greatest challenges to the exponents of a purely mechanistic view of life. Here are minute animals, apparently as simple in nature as amoeba, without definite sense-organs such as eyes, and appearing as mere flowing masses of protoplasm, yet endowed with extraordinary powers; not only do they select and pick up one type of object from all the jumble of fragments of other sorts on the sea-bed, but they build them into a design involving a comparison of size. They build as if to a plan. Here is another mystery worth looking into. There must be an instinct of how to build and some sort of “ memory ” as to how far they have filled in the spaces and what sizes of spicules remain to be picked up to complete a section. (Ebd., S. 230f.) Rätselhaft ist, wo in diesem äußerst einfachen Organismus solche komplexen kognitiven Fähigkeiten zu orten sind. Am Ende seines Vortrages wendet sich Hardy einem Problem zu, das bereits von Alfred Russell Wallace in seinem Buch Tropical Nature geschildert wurde (ebd., S. 231). Es handelt sich um das komplexe Muster und die Färbung des Gefieders bestimmter Vögel, wie des Pfaus oder des Argusfasans. Darwin versuchte solche ästhetische Wunder dadurch zu erklären, dass die Weibchen die farbenfroheren Männchen bevorzugen, weshalb diese sich fortpflanzen. Wallace wandte ein, dass diese Erklärung nicht nur einen ästhetischen Sinn in den Weibchen voraussetzt, für den keine Evidenz besteht, sondern auch, dass dieser Sinn bei allen Weibchen der Gattung gleich ist und dass er konstant ist. Diese Annahmen fand Wallace unglaubwürdig. Hardy meint, dass obschon das Muster des Gefieders wie auch die instinktive Reaktion der Weibchen darauf sicherlich in der DNS kodiert ist, die Konstanz der beiden angesichts der Variabilität der genetischen Ausstattung rätselhaft bleibt (ebd., S. 233). Es ist völlig unklar, wie solche komplexen Muster in der DNS kodiert werden können. Noch unklarer ist, wie die „ instinktive Reaktion “ in ihr kodiert werden kann. Denn wir wissen heute, wie mager die genetische Ausstattung der Tiere und sogar des Menschen ist. Sie ist viel geringer als die genetische Ausstattung vieler Pflanzen. Es gibt schlicht nicht genug Gene für all die Strukturen, die komplexe Tiere aufweisen. Allein die Billionen der Verschaltungen zwischen einzelnen Neuronen des Gehirns (ca. 100 Milliarden Neuronen mit einige Tausenden Verschaltungen pro Neuron) mithilfe von ca. 22.000 bis 25.000 840 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Gene des menschlichen Genoms erklären zu wollen, scheint eine völlig unlösbare Aufgabe zu sein. 57 Der neunte Vortrag der Reihe trägt den Titel „ Biology and Telepathy “ . Hardy ist sich durchaus bewusst, wie kontrovers dieses Thema im Rahmen einer wissenschaftlichen Vortragsreihe ist, er will aber zeigen, dass die Erforschung der Telepathie wichtig für die Biologie im Allgemeinen und insbesondere für die Evolutionstheorie sein kann (ebd., S. 234). Er diskutiert zunächst die vier Gründe, welche seiner Meinung nach dazu beitragen, dass die meisten Wissenschaftler eine Aversion gegenüber dem Thema haben: Erstens können parapsychologische Experimente (experiments of psychical research) nicht beliebig wiederholt werden. Er pariert diesen Einwand mit dem Hinweis, dass auch im Bereich der Naturkunde viele Fakten nicht beliebig demonstriert werden können (z. B. ein bestimmtes Verhalten von Tierindividuen; ebd., S. 236). Zweitens ist die Möglichkeit des Betrugs groß. Hardy meint dazu, dass dieser Umstand einen Wissenschaftler nicht abschrecken darf (ebd., S. 237). Das dritte Problem ist das sog. Experimentatoreffekt: Die Forscher wollen ein bestimmtes Forschungsresultat, ihre Forschung ist also nicht unvoreingenommen. Hardy wendet ein, dass es absolute Unvoreingenommenheit nur in Bezug auf materielle Dinge oder physikalische und chemische Reaktionen gebe, dass aber bei Fragen, die unsere Stellung im Universum betreffen, eine neutrale Haltung unmöglich ist (ebd., S. 237f.). Viertens weigern sich einige Wissenschaftler, die Behauptung im Bereich der Parapsychologie ernsthaft zu überprüfen, weil sie sie für unmöglich halten. Aber selbst wenn die Parapsychologie nicht in das „ Rahmenkonzept “ der heutigen Wissenschaft hineinpasst, ist das für Hardy kein Grund, eine Untersuchung zu verweigern. Das wäre die Haltung jener, die Galileo für seine Experimente und seine Folgerungen verurteilt haben. Im Weiteren bezieht sich Hardy auf eine beeindruckende Reihe von prominenten Wissenschaftlern, die die Erforschung telepathischer Phänomene unterstützt bzw. selbst an ihr teilgenommen haben und die sich positiv über sie geäußert haben. So habe z. B. Henry Habberley Price (1899 - 1984), Professor für Logik an der Oxford Universität, in einem Artikel in einer philosophischen Zeitschrift (Hibbert Journal) 1949 festgestellt: Telepathy is something which ought not to happen at all, if the Materialistic theory were true. But it does happen. So there must be something seriously wrong with the Materialistic theory, however numerous and imposing the normal facts which support it may be. (Zitiert in ebd., S. 238f.) Gegen Ende seines Aufsatzes fügt er die folgende Bemerkung an: Certainly card-guessing does appear at first sight to be a rather trivial occupation. And if a few dreams turn out to be telepathic visions, why should anyone make such a fuss about it? On the contrary, these queer facts are not at all trivial, and it is 57 Vgl. dazu z. B. Lommel van 2009, S. 208. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 841 right to make the greatest possible fuss about them. Their very queerness is just what makes them so significant. (Zitiert in ebd., S. 238f.) Dem kann man nur beipflichten. „ Merkwürdige “ (queer) Fakten wie unerklärlich beleuchtete Fotoplatten, seltsame Resultate bei Experimenten im Bereich der Wärmeverlustes einiger Körper oder kaum beobachtbare Phänomene wie die Hintergrundstrahlung oder die zu große Geschwindigkeit der Expansion des Weltraums können weitestgehende Folgen für unser Weltbild haben. Ebenfalls 1949 schrieb C. D. Broad, Professor für Moralphilosophie an der Universität Cambridge (und wie Price auch Präsident der Society of Psychical Research), dass die Erforschung der paranormalen Phänomene höchst relevant für die Philosophie sei, gerade weil sie in Konflikt mit zentralen Prämissen der wissenschaftlichen Forschung zu stehen scheinen. Ein Jahr später stellte Dr. Matthews, der Dekan der St. Paul ’ s Cathedral, in einem seiner Vorträge fest: I believe it is foolish not to recognize that Psychical Research may have much to teach us about our mysterious selves. [. . .] The case for telepathy is so strong that one is tempted to say that the only way to retain disbelief in it is by steadily ignoring the evidence. (Zitiert in ebd., S. 240) Im weiteren Verlauf seines Vortrages beschreibt Hardy einige besonders spektakuläre Ergebnisse der Telepathie-Forschung, insbesondere die erfolgreiche Übertragung von Bildern von einer Person auf eine andere (bei einigen dieser Experimente war der „ Empfänger “ der Botschaft Gilbert Murray, seinerzeit die weltweit führende Autorität im Bereich der Sprache und Kultur des Alten Griechenlands; ebd., S. 245 - 250), wie auch seine eigenen Erfahrungen mit Personen, die über telepathische Fähigkeiten verfügten (ebd., S. 251f.). Menschen mit dieser Begabung bilden Risse in der materiellen Schale der Lebenswelt (ebd., S. 254): These unusual people with telepathic gifts may be presenting us with chinks in the material carapace of the living world through which we can probe bit by bit to find out a little more of what at present appears a mystery lying behind it. (Ebd., S. 254f.) Menschen haben keine Sinnesorgane, mit welchen sie magnetische Felder wahrnehmen können, und dennoch existieren diese Felder und üben einen Einfluss aus. Es gibt aber einige wenige Substanzen, wie z. B. den Magnetstein, welche die Wirkung dieser Felder offenbaren. Kann es nicht sein, dass telepathische Medien eine Art Magnetstein für gewisse noch nicht bekannte Felder sind? Hardy rückt diese Felder in die Nähe der platonischen Ideenwelt und des kollektiven Unbewussten von C. G. Jung (ebd., S. 257, 259) und mutmaßt, dass mittels ihrer die Formen der Organismen, aber auch die Verhaltensmuster zwischen Einzelexemplaren einer Art ausgetauscht werden können (ebd., S. 257). 842 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft To return to my speculative idea, it is this. If it is established that impressions of design, form and experience, such as those that we have discussed, can occasionally be transmitted by telepathy from one human individual to another, might it not be possible for there to be in the animal kingdom as a whole not only a telepathic spread of habit changes, but a general subconscious sharing of a form and behaviour pattern - a sort of psychic “ blueprint ” - shared between members of a species? (Ebd.). Geist (mind), so Hardy, ist nicht das Attribut einer Gruppe von Zellen, die zusammen das Gehirn bilden. Vielmehr kommt er der Gemeinschaft der Zellen, die den Leib bilden, zu. Er schlägt vor, für jede Tierart eine Art Gruppengeist (group mind) zu supponieren, der jene Genkomplexe, die seine beste Manifestation (expression) ermöglichen, selektioniert (ebd., S. 260). Der Artplan (species plan) spiegelt sich in jedem Individuum wider. Hardy greift dann zu einer Analogie, um seine Idee zu verdeutlichen: Der „ Gruppengeist “ ( „ group-mind “ ) kann mit einem Künstler oder Kunstkritiker verglichen werden, der Tausende mechanisch produzierte farbige Reproduktionen eines Bildes beurteilt. Die Reproduktionen werden aus einem Satz von Farbpigmenten (= Gene) hergestellt, wobei die Zusammensetzung jedesmal leicht variiert. Jede Reproduktion entfaltet sich automatisch gemäß dem DNS- Code, sie muss jedoch auf jeder Stufe dem unbewussten Artplan innerhalb gewisser Grenzen entsprechen und auch die selektionierenden Kräfte der Umwelt überleben (ebd., S. 260). Er schließt seinen Vortrag mit der folgenden Vermutung ab: I venture to think it possible that the biochemists are only analysing the “ pigments ” of nature ’ s pictures - wonderful as they are - and that it is the naturalists and the students of animal behaviour who will reveal to us the “ artists ” themselves and the true nature of their works. (Ebd., S. 261) Im letzten Vortrag des ersten Zyklus, „ The Place of Natural Theology in the Evolutionary Scheme “ , geht Hardy noch weiter. Er zitiert die Worte des berühmten englischen Autors und Journalisten John Eric Langdon-Davies (1897 - 1971) aus seinem Buch Man and his Universe (1930): The whole history of science has been a direct search for God, deliberate and conscious until well into the eighteenth century. [. . .] Copernicus, Kepler, Galileo, Newton, Leibnitz and the rest did not merely believe in God in an orthodox sort of way: they believed that their work told humanity more about God than had been known before. Their incentive in working at all was a desire to know God; and they regarded their discoveries as not only proving his existence, but revealing more and more of his nature [. . .]. (Ebd., S. 269) Hardy greift diesen Gedanken auf und formuliert eine für einen Wissenschaftler erstaunliche Forderung: „ We must get back to that spirit and not be too fascinated by the false gods of the DNA, exciting as they are “ (ebd., S. 269). Hardy erinnert daran, was William James im Nachwort zu The Varieties of 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 843 Religious Experience, über das Phänomen der „ andächtigen Kommunion “ (prayerful communion) schrieb: The appearance is that in this phenomenon something ideal, which in one sense is part of ourselves and in another sense is not ourselves, actually exerts an influence, raises our centre of personal energy, and produces regenerative effects unattainable in other ways. If, then, there be a wider world of being than that of our everyday consciousness, if in it there be forces whose effects on us are intermittent, if one facilitating condition of the effects be the openness of the ‘ subliminal ’ door, we have the elements of a theory to which the phenomena of religious life lend plausibility. I am so impressed by the importance of these phenomena that I adopt the hypothesis which they so naturally suggest. At these places at least, I say, it would seem as though transmundane energies, God, if you will, produced immediate effects within the natural world to which the rest of our experience belongs. (James 1941, S. 523f.) Religion, so heißt es im Weiteren, ist eine fundamentale Eigenschaft der menschlichen Natur, die ebenso mächtig wie jeder natürliche Trieb ist (ebd., S. 275), und das Gefühl für das Heilige ist vermutlich gleich alt wie das Bewusstsein selbst (ebd., S. 278). Seine Überlegungen gipfeln in dieser für einen Wissenschaftlern außergewöhnlicher Feststellung: I have suggested that the power we call God may well have some fundamental link with the process of evolution. In saying this I hope I shall not be thought to be belittling the idea of God; I would rather appear to be saying that the living stream of evolution is as much Divine as physical in nature, which is what I believe. (Ebd., S. 282f.) Hardy äußert die Vermutung, dass die Kraft, welche die Welt animiert, nicht die Kraft der blinden Evolution, sondern die der göttlichen Liebe ist: We remember the words of the author of the fourth gospel: God is love. Who knows? Perhaps all true love - animal, human or Divine - may be part of one tremendous „ force “ animating the organic world on the psychic side. [. . .] You will see that I am a biological heretic. I believe that the living world is as closely linked with theology as it is with physics and chemistry: that the divine element is part of the natural process - not strictly super-natural, but para-physical. (Ebd., S. 283f.). Zum Abschluss seiner Vortrages bringt Hardy die Hoffnung zum Ausdruck, dass eine neue, wahrere Biologie entstehen wird, welche ihre Seele nicht der Physik und Chemie um schneller Resultate willen verkauft, sondern diesen den ihnen angemessenen Platz zuweist (ebd., S. 284). Was könnte die Menschheit erreichen, wenn die Werkzeuge der modernen Wissenschaft mit dem Glauben und Inspiration der Schöpfer der großen mittelalterlichen Kathedralen gebraucht würden, fragt er rhetorisch und fordert zu Forschungsanstrengungen im Bereich des Glaubens auf. Wenn nur ein Prozent der finanziellen Mittel für die Forschung in physischen und biologischen Wissenschaften für die Erforschung der religiösen Erfahrung und der para- 844 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft normalen Phänomene verwendet würde, würde sich vielleicht bald ein neues Zeitalter des Glaubens entfalten (ebd., S. 285). Ein riesiges Reservoir der Weisheit und spirituelle Kraft könne auf diese Weise erschlossen werden (ebd., S. 285). Hardy schließt: We must have more studies of the nature of religious experience and more research into the psychic side of man. Let us go forward to reclaim the ground that has been lost in the world through a false belief that science points only to materialism. Let us have the faith of Lord Gifford and, making it alive with the spirit of experiment, show the way to a re-establishment of the idea of God as both a philosophical and a scientific Reality. (Ebd., S. 287f.) Würdigung Wie Whitehead war Hardy zur Zeit seiner Gifford-Vorträge bereits pensioniert. Da seine wissenschaftliche als auch gesellschaftliche Reputation damals sehr hoch stand (wir erinnern uns, dass er 1957 zum Ritter geschlagen wurde), konnte er sich ohne Weiteres einiges an Provokation leisten. Seine Vorträge nehmen im Grunde die Kernthesen jener Bewegung, die heute unter dem Namen Intelligent Design bekannt und verpönt ist, vorweg. Seine Hauptthese, dass Evolution ohne gleichsam telepathisch wirkende, formende spirituelle Einflüsse, letztendlich ohne göttliche Intervention grundsätzlich unerklärlich bleiben müsse, wirkt auch im heutigen, im Vergleich zu den 1960er-Jahren wesentlich „ weicheren “ Umfeld immer noch äußerst anstößig für ein wissenschaftlich geschultes Ohr. Es ist leider aus Platzgründen nicht möglich, auf die zweite Vortragsreihe, die 1966 unter dem vielsagenden Titel The Divine Flame veröffentlicht wurde, einzugehen. Darin untersucht Hardy die Natur der menschlichen Gotteserfahrungen und die Belege für solche Erfahrungen. Seine Vorträge waren eine Art Appell an die Theologie, im Sinne einer natürlichen Theologie die Erfahrung stärker einzubeziehen und die Ergebnisse und Methoden der Wissenschaft zu berücksichtigen. Hardy sah darin eine notwendig Reaktion gegen den Materialismus, den er als eine Bedrohung für künftige Generationen betrachtete (Hardy 1978). Im Rahmen des 1969 in Oxford gegründeten Religious Experience Research Unit, das Gotteserfahrungen gewöhnlicher Menschen untersucht, kam Hardy selbst diesem Auftrag nach. 1979 gab es ein Buch heraus, auf das wir unten eingehen werden. Ian Stevenson und Twenty Cases Suggestive of Reincarnation 1960 erschienen im Journal of American Society for Psychical Research zwei Artikel des renommierten Psychiaters Ian Stevenson mit dem Titel „ The Evidence for Survival from Claimed Memories of Former Incarnations “ , der erste mit dem Untertitel „ Review of the Data “ (Stevenson 1960), der zweite mit dem Zusatz „ Analysis of the Data and Suggestions for Further Investigations “ (Stevenson 1960 a). Diese Artikel wurden jedoch - bedeutend 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 845 erweitert - erst 1966 dem breiteren Publikum unter dem Titel Twenty Cases Suggestive of Reincarnation (University of Virgina Press) in Buchform zugänglich gemacht. 58 Biographie 59 Stevenson, 1918 in Ottawa geboren, war Sohn eines schottischen Anwalts, der als Kanada-Korrespondent für die Times arbeitete. Seine Mutter war an der Theosophie interessiert und hatte eine umfangreiche Bibliothek zu diesem Thema, was früh sein Interesse an paranormalen Phänomenen weckte. 1937 begann Stevenson ein Medizinstudium an der St.-Andrews-Universität, dass er 1943 an der McGill-Universität in Montreal mit der Auszeichnung für die höchste Gesamtnote abschloss (Kelly: Obit). Er arbeitete dann als Arzt zunächst in Kanada, dann in den Vereinigten Staaten und wurde 1949 amerikanischer Staatsangehörige. Bald war er vom Reduktionismus in der Medizin enttäuscht und entwickelte Interesse für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychoanalyse. 1949 - 1957 lehrte er an der Luisiana State University School of Medicine. In den 1950er Jahren begegnete er Aldous Huxley, der ihn zur Untersuchung der Wirkung von LSD und Mescalin anregte, wobei er anscheinend LSD selbst ausprobierte. Von 1951 bis 1958 studierte er Psychoanalyse am New Orleans Psychoanalytic Institute und am Washington Psychoanalytic Institute. 1957 wurde er zum Leiter des Abteilung für Psychiatrie an der Universität of Virginia berufen, eine Stelle, die er bis 1967 innehatte. Mit finanzieller Unterstützung von Chester Carlson, dem Erfinder der Xerographie, konnte er eine neue Abteilung innerhalb des Departments, die „ Division of Personality Studies “ (später „ Division of Perceptual Studies “ ), gründen. In seinem Testament hinterließ Carlson der Universität von Virginia 1 Million Dollar für die Fortsetzung der Forschungen, was an der Universität kontrovers aufgenommen wurde. Von 1968 bis 2002 war Stevenson Direktor der Abteilung. Er starb im Februar 2007. Er war Autor von über 300 wissenschaftlichen Publikationen, darunter 14 Bücher. 60 58 Die deutsche Übersetzung Reinkarnation. Der Mensch im Wandel von Tod und Wiedergeburt. 20 überzeugende und wissenschaftlich bewiesene Fälle, 6. Auflage, Braunschweig, 1992, die mir zugänglich war, ist ursprünglich 1976 erschienen und wurde anhand der 2., überarbeiteten und erweiterten Ausgabe von Stevensons Buch von 1974 erstellt. (Im Weiteren: Stevenson 1992) 59 Basiert auf http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Ian_Stevenson und http: / / www.medicine. virginia.edu/ clinical/ departments/ psychiatry/ sections/ cspp/ dops/ we_are-page#hi story (heruntergeladen am 15. 4. 2013). 60 http: / / www.medicine.virginia.edu/ clinical/ departments/ psychiatry/ sections/ cspp/ dops/ publicationslinks/ Stevenson-s-Obit-Emily.pdf/ view (heruntergeladen am 15. 4. 2013). 846 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Twenty Cases Suggestive of Reincarnation In der Einführung zur ersten Ausgabe seines bahnbrechenden Buches schreibt Stevenson, dass er ca. 600 Fälle gesammelt habe. Im Jahre 1973, als er die zweite, erweiterte Auflage des Buches vorbereitete, war diese Zahl bereits auf 1200 gestiegen (Stevenson 1992, S. 389), bis zum Ende seines Lebens waren es ca. 3000 Fälle. 61 Der allgemeine Muster dieser Fälle sieht folgendermaßen aus: Ein kleines Kind von zwei bis vier Jahren erzählt seinen Eltern oder Geschwistern von einem Leben, das es in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort geführt haben will. Davon geht meistens eine große Anziehungskraft auf das Kind aus, und es bedrängt seine Eltern, es zu seiner früheren Familie zurückkehren zu lassen. Nach anfänglichem Widerwillen versuchen diese, die Angaben zu verifizieren und treten mit der „ Herkunftsfamilie “ in Kontakt. Oft gelingt es dem Kind, die Orte, Gegenstände und Menschen seines früheren Leben wiederzuerkennen. Besonderes Augenmerk schenkt Stevenson in den Beschreibungen der ihm bekannten Fälle den Muttermalen und/ oder Geburtsdeformationen, welche eine Art physische Erinnerung an die frühere Inkarnation darstellen sollen (z. B. Stevenson 1992, S. 109ff., 169ff., 247 - 260, 263 - 282, 357 - 358, 383f. usw.). Stevenson berichtet z. B. vom Muttermal am Hals eines Jungen, das einer Narbe ähnlich sieht, die durch die Verletzung mit einem Messer entsteht - der Junge behauptet, er wurde in seiner früheren Inkarnation mit einem Rasiermesser ermordet (ebd., S. 109 - 111); oder von auffallend pigmentierten Muttermalen eines neugeborenen Kindes, die sich in gleicher Gestalt und an der gleichen Stelle des ersten Körpers fanden (ebd., S. 247f.). Am Ende seines Buches untersucht Stevenson einige Erklärungen der von ihm geschilderten Phänomene, die die Hypothese der Reinkarnation umgehen. Als Erstes kommt die Möglichkeit des Betrugs in Frage (ebd., S. 341 - 343); zweitens die Kryptomnesie, d. h. die Möglichkeit, dass das Kind ohne das Wissens seiner Eltern oder auch ihm selbst unbewusst die relevanten Informationen erhalten habe (ebd., S. 343 - 351); drittens erwägt Stevenson die Existenz eines „ genetischen Gedächtnisses “ , d. h. das unvermittelte Erinnern von Erfahrungen eines Vorfahrens (ebd., S. 351); ferner diskutiert Stevenson ausführlich die Möglichkeit der außersinnlichen Wahrnehmung und Identifikation, dass also das Kind ohne Vermittlung der gewöhnlichen Sinne und/ oder unter dem Einfluss der verstorbenen Person an die relevanten Informationen gelangen konnte, was aus den Beschreibungen der mediumistischen Phänomene bekannt ist (ebd., S. 352 - 376). Danach erwägt Stevenson Erklärungen, die das Leben nach dem Tode zulassen (ebd., S. 376 - 384), insbesondere die Möglichkeit der „ Besessenheit “ 61 http: / / www.medicine.virginia.edu/ clinical/ departments/ psychiatry/ sections/ cspp/ dops/ publicationslinks/ Stevenson-s-Obit-Emily.pdf/ view (heruntergeladen am 15. 4. 2013). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 847 einer lebenden durch eine bereits verstorbene Person. Unter Besessenheit versteht Stevenson entweder eine teilweise Beeinflussung der ursprünglichen Persönlichkeit, die aber noch eine gewisse Kontrolle über den physischen Leib behält, oder aber eine zeitweise, anscheinend vollständige Beherrschung des physischen Organismus mit späterer Rückkehr der ursprünglichen Persönlichkeit. (Ebd., S. 377) Aufgrund der Einzelheiten der ihm zur Verfügung stehenden Fälle lehnt Stevenson die Erklärungsmöglichkeit 1 als äußerst unwahrscheinlich ab, stimmt aber zu, dass die Ansätze 2 bis 4 einige seiner Fällen erklärlich machen könnten (ebd., S. 384f.). In Bezug auf den 5. Erklärungsansatz stellt er fest, dass die ihm bekannten Tatsachen zwischen den Fällen der Besessenheit und Reinkarnation nicht unterscheiden lassen, meint aber, dass die Kombination der Erinnerung an eine (angebliche) frühere Inkarnation mit den angeborenen Entstellungen oder Muttermalen eindeutig die Reinkarnationshypothese unterstützt (ebd., S. 385). Stevenson veröffentlichte eigens zu Letzteren übrigens 1997 ein zweibändiges Werk: Reincarnation and Biology: A Contribution to the Etiology of Birthmarks and Birth Defects. Volume 1: Birthmarks. Volume 2: Birth Defects and Other Anomalies. Stevenson bleibt jedoch in seinem methodischem Ansatz vorsichtig: Soweit wir uns um Beweise für das Überleben bemühen, sind wir nicht verpflichtet anzunehmen, dass jeder Fall, der an Reinkarnation denken lässt, auch als Beispiel für eine solche erklärt werden muss. Wir haben vielmehr zu fragen, ob es irgendwelche Fälle oder gar nur einen gibt, in dem keine andere Erklärung allen Tatsachen besser gerecht zu werden scheint als die der Reinkarnation. (Ebd., S. 385) Wir müssen an dieser Stelle die Frage, ob Reinkarnation Wirklichkeit oder Märchen ist, selbstverständlich unbeantwortet lassen. Wir werden aber an einer späteren Stelle auf sie zurückkommen. Abschließend möchte ich stattdessen auf einen konkreten Fall aus Stevensons erstem Buch aufmerksam machen, der uns für unsere spätere Erörterungen nützlich sein wird. Es handelt sich um den Fall eines indischen Jungen namens Jasbir (ebd., S. 51 - 70), der mit dreieinhalb Jahren an Pocken erkrankte und starb. Die Beisetzung sollte erst am nächsten Morgen stattfinden. Einige Stunden später bewegte sich der Körper und das Kind kehrte allmählich vollständig ins Leben zurück. Nach einigen Wochen konnte er sich wieder klar artikulieren. Nun kam eine erstaunliche Persönlichkeitsveränderung zum Vorschein: Er erklärte jetzt, er sei der Sohn von Shankar aus dem Dorf Vehedi und wolle dort wieder hin. Er wolle im Hause der Familie Jat [d. h. seines Vaters] kein Essen mehr zu sich nehmen, und zwar deswegen, weil er einer höheren Kaste angehöre, er sei nämlich ein Brahmane. (Ebd., S. 51) Der Junge fing an, Einzelheiten aus seinem früheren Leben in einer anderen Familie und in einem anderen Dorf zu erzählen. Auch seinen Tod beschrieb er ausführlich. Bei einer Hochzeitsprozession habe er einige vergiftete Süßig- 848 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft keiten gegessen, die ihm ein Mann reichte, der ihm Geld schuldete. Danach sei ihm schwindelig geworden, er sei vom Wagen gefallen, habe sich am Kopf verletzt und sei gestorben. Im Jahre 1957 stellte sich bei einem Besuch seiner angeblichen früheren Familie heraus, dass diese Einzelheiten genau mit den Umständen des Todes des damals 22-jährigen Sohns übereinstimmten (ebd., S. 52). Dieser Fall ist insofern interessant, als er eindeutig keine Reinkarnation darstellt, da sich die Person, die sich in Jasbir wiederverkörpert haben soll, zum Zeitpunkt der Inkarnation noch am Leben war. Man kann also in diesem Fall höchstens von einer „ Besessenheit “ Jasbirs sprechen. Ähnliche Fälle sind aus dem Umfeld des Mediumismus bekannt (vgl. dazu bes. ebd., S. 361 f, 363, 367 - 369; vgl. auch Nunn 2011). Wenn die Bessenheit nur eine gesteigerte Identifizierung mit einer anderen Person ist, liegt die Vermutung nahe, dass es sich auch im Falle der Reinkarnation vor der Geburt ihres „ Trägers “ um eine starke Beeinflussung handelt. Wir werden bei der Betrachtung von Pearsalls The Heart ’ s Code auf Tatsachen stoßen, die eine solche Vermutung unterstützen. Würdigung Stevensons Werk wurde in zahlreichen wissenschaftlichen Zeitschriften besprochen. 62 1977 widmete der Journal of Nervous and Mental Disease den Hauptteil einer Ausgabe Stevensons Forschung. Der Psychiater Harold Lief bezeichnete Stevenson als „ a methodical, careful, even cautious, investigator, whose personality is on the obsessive side [. . .]. Either he is making a colossal mistake, or he will be known [. . .] as ‚ the Galileo of the 20th century ‘“ (Lief 1977, S. 173). Dennoch ignorierte die Mainstream-Wissenschaft - die Stevenson von seinen Thesen überzeugen wollte - mit seltenen Ausnahmen seine jahrzehntelange Forschung oder wiesen sie sogar zurück. Von denen, die sich zu Wort meldeten, stellten einige seine Objektivität in Frage, andere behaupteten, er wäre leichtgläubig, noch andere meinten, er wäre zu wenig in den Kulturen und Sprachen seiner Forschungsobjekte versiert, um glaubwürdige Forschungen durchführen zu können. Stevenson erwiderte, dass seine Kritiker die Fälle selbst untersuchen sollten. Das ist nie geschehen. Allerdings muss festgehalten werden, dass die Fälle, auf die sich Stevenson stützt, auch anders als durch den Rückgriff auf die Hypothese der Reinkarnation erklärt werden können. Wir werden darauf im Kapitel „ Einige Erklärungen der Geisteswissenschaft “ zurückkommen. 62 American Journal of Psychiatry, British Journal of Psychiatry, British Journal of Medical Psychology, Journal of Nervous and Mental Disease, Bulletin of the Menninger Clinic, Medical Opinion and Review, Journal of Parapsychology, International Journal of Parapsychology, und Journal of the Society for Psychical Research. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 849 Celia Green: Out-of-the-Body Experiences Biographie 1968 erschien das Buch Out-of-the-Body Experiences (zu deutsch: Außerkörperliche Erfahrungen) von Celia Green (1935 - ), einer damals noch verhältnismäßig jungen Wissenschaftlerin mit einem eher ungewöhnlichen Werdegang. Mit 17 gewann Green das sog. Senior Open Scholarship für das Somerville College der Oxford Universität, wo sie zunächst Mathematik und Physik studierte. Ihre wissenschaftlichen Interessen verschoben sich jedoch nach einigen Jahren, so dass sie sich 1958 um ein Stipendium im Bereich der parapsychischen Forschung am Trinity College in Cambridge bewarb. 1960 schloss sie ihr Studium mit der Dissertation An Enquiry into Some States of Consciousness and their Physiological Foundation ab. Betreuer ihrer Arbeit war Henry Habberley Price (1899 - 1984) war, der besonders für seine Arbeit auf dem Feld der Philosophie der Wahrnehmung und Parapsychologie bekannt war. Kurze Zeit darauf gründete Green in Oxford das Institute of Psychophysical Research, das Forschungen im Bereich von Philosophie, Psychologie und theoretischer Physik zur Zielsetzung hatte. Die erste Frucht ihrer Arbeit war das Buch Lucid Dreams, das ebenfalls 1968 erschien. Out-of-the-Body Experiences Das Buch Out-of-the-Body Experiences, zu dem übrigens H. H. Price ein Vorwort beisteuerte, basiert auf Berichten von ca. 400 Personen über außerkörperliche Erfahrungen, darunter auch eigene. Das Material der Studie bestand aus schriftlichen Berichten und Antworten zu zwei Fragebögen (Green 1968, S. 13). Die Mehrheit (60,9 %, S. 22) der Auskunftspersonen berichtete von nur einer außerkörperlichen Erfahrung, 20 % von sechs oder mehr. Die Auswertung des Materials ergab, dass solche Erfahrungen offensichtlich in praktisch jedem Lebensabschnitt stattfinden können, ihre Häufigkeit nimmt aber mit zunehmendem Alter ab (ebd., S. 23). Im Folgenden möchte ich in knapper Form die wichtigsten Eigenschaften der außerkörperlichen Erfahrungen (im Folgenden: AKE) nach Green darstellen. Green unterscheidet zwei Typen von AKE: eine „ parasomatische “ ( „ parasomatic “ ) und eine „ asomatische “ ( „ asomatic “ ). Bei der ersten hat die Person das Gefühl, sie sei mit einem fremden Leib verbunden. Bei der zweiten hingegen ist sich die Person für zumindest eine begrenzte Zeit keiner Verbindung mit einem Leib oder einer sonstigen räumlichen Entität bewusst (ebd., S. 17). Green berichtet überraschenderweise, dass der Anteil der „ asomatischen “ AKE viel höher ist als derder „ parasomatischen “ . 80 % der Auskunftspersonen, die nur eine AKE erlebt haben, gehören zum zweiten Typ (ebd., S. 34). Als erstes Charakteristikum nennt Green, dass sich eine Person, die die AKE erlebt, keiner leiblichen Empfindungen bewusst ist. Sie fühlt sich 850 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft dissoziiert, abgetrennt von ihrem physischen Leib, obwohl diese Trennung nicht vollständig sein muss (ebd. S. 37ff.). Als eine der auffallendsten Eigenschaften der AKE nennt Green den Eindruck, den eigenen physischen Leib von außen zu beobachten (Green gebraucht in diesem Falle den terminus technicus „ autoscopy “ , sich selbst sehen). 81 % der Personen, die nur eine AKE hatten, berichten von einem solchen Phänomen (ebd., S. 42ff.). Eine weitere Eigenschaft der AKE ist ihr Wahrnehmungsrealismus. 89,3 % stellen fest, dass in diesem Zustand alles genau so wahrgenommen wird wie „ durch “ den physischen Leib (ebd., S. 71). Dies bezieht sich auch auf die Farben: Bei 82,3 % der Fälle einmaliger AKE und bei 91,7 % der Fälle mehrmaliger AKE wurden die Farben als identisch mit den gewöhnlichen, physischen Farben empfunden (ebd.). Es gibt aber auch Ausnahmen zu diesem Regel: Einige Personen berichteten, dass die Farben während der AKE leuchtender, heller, und lebendiger waren (ebd., S. 72). Dabei berichten 93,2 % der Auskunftgeber mit einmaliger AKE von Sichtwahrnehmung, 33,5 % von Hör- und 12,5 % von Tastwahrnehmungen (ebd., S. 67). Die Probanden berichten ferner, dass ihre intellektuellen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt waren, und einige stellten sogar fest, dass sie während der AKE gesteigert waren (ebd., S. 81ff.). Gefühle der Vollkommenheit (completeness), Wirklichkeit (reality), Leichtigkeit (lightness), Freiheit, Vitalität und Gesundheit überkamen sie (ebd., S. 85, 94, 106). Eine Person schreibt z. B., dass sie „ much delight at the weightlessness and freedom of the ‚ spiritual body ‘ in which I found my consciousness located “ spürte (ebd., S. 86), und eine andere: „ Then I suddenly felt filled with the utmost joy and happiness. I felt such great freedom, like a birt just being let out of cage for first time in life “ (ebd.). Einer spricht vom „ tremendous feeling of exhilaration “ (ebd., S. 87), und ein weiterer hält fest: „ My mind felt so free it was ecstasy and I told myself I could now go anywhere I wished “ (ebd., S. 86). Aber auch Überraschung (ebd., S. 88) und gegen Ende Angst (ebd.) treten auf. 63 Typisch ist darüber hinaus das Gefühl der Dissoziation vom Körper ( „ I cannot stress strongly enough the complete feeling of detachment I had “ ) (ebd., S. 94f., 102ff.), was aber nicht als beängstigend, sondern als beruhigend empfunden wird ( „ I looked at myself without concern “ , „ I was not the slightest afraid “ , „ I certainly was not worried “ (ebd., S. 94); „ It was as if all the worries of my life had left me “ (ebd., S. 98). Die Dissoziation kann sich bis zum Gefühl steigern, eine neue Person zu sein (ebd., S. 97) und das Gefühl der 63 Es gibt aber auch Abweichungen von dieser Regel. Die Angst kann auch am Anfang der AKE stehen. So berichtete z. B. eine Person, die einen AKE-Zustand während der Führerscheinprüfung hatte, von Angstzuständen: „ [A]s I settled myself, switched on the engine, let in the gear, I seemed to fill with horror because I simply wasn ’ t in the car at all, I was settled firmly on the roof watching myself and despite a fearsome mental struggle to get back into myself, I was unable to do so and carried our the whole test, (30 mins.? ) watching the body part of me making every sort of fool of myself that one could possibly manage in a limited time “ (ebd., S. 65). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 851 Überlegenheit gegenüber dem gewöhnlichen Selbst einschließen (ebd., S. 98f.). Über diese Aspekte der AKE hinaus gibt es einige, die viel stärker von unserem „ Normalzustand “ abweichen, die allerdings seltener auftreten. Green beschreibt sie in den vier letzten Kapiteln ihres Buches: XXIII Extra-Sensory Perception; XXIV „ Travelling Clairvoyance “ ; XXV Telepathy and Precognition; und XXVI Psychokinesis. Was die erste Gruppe dieser ungewöhnlichen Erfahrungen betrifft, so handelt es sich vor allem um das Gefühl, man habe Zugang zu zahlreichen Informationen, die einem im gewöhnlichen Zustand nicht zugänglich sind. Man hat manchmal sogar das Gefühl, dass man Antworten auf beliebige Fragen bekommen könnte, als ob man Zugriff auf die Quelle aller Weisheit hätte (ebd., S. 119). Obwohl es zumeist bei dem bloßen Gefühl des Allwissens bleibt, gibt es Fälle, in denen Personen tatsächlich Informationen gaben, die ihnen in ihrem Leib nicht zugänglich waren und die dann später bestätigt werden konnten. So berichtete z. B. eine Person von einer Ohnmacht im Krankenhaus, während der sie eine AKE hatte. Im Zuge dieser Erfahrung konnte sie andere Patienten beobachten, die von ihrem Bett aus nicht sichtbar waren, und die zuständige Krankenschwester bestätigte ihre Beschreibung (ebd., S. 121, vgl. auch S. 122 - 125). Unter „ travelling clairvoyance “ versteht Green Fälle, in denen die Untersuchungsperson das Gefühl hat, dass sie außerhalb des gewöhnlichen Körpers lange Distanzen zurücklegt und während dieser „ Reisen “ Informationen erhalte, welche ihr im verkörperten Zustand nicht zugänglich sind (ebd., S. 126). So beschreibt eine Person, dass sie in einer AKE-Phase einen Freund „ besuchte “ , dem sie zwei Jahre lang nicht begegnet war. In dieser Zeit hatte der Freund seine Wohnung gewechselt. Als sich die beiden Freunde sechs oder sieben Monate später zum ersten Mal im „ realen “ Leben trafen, konnte die Person die neue Wohnung beschreiben (ebd., S. 126). Eine andere Person konnte sogar eine Theateraufführung in einer 300 km entfernten Stadt wiedergeben (ebd., S. 129f.). Bei Telepathie und Präkognition handelt es sich darum, dass eine Person im AKE-Zustand Informationen an eine andere, physisch oft weit entfernte übermitteln kann bzw. vor oder während der AKE ein Bild (z. B. einen Traum) eines zukünftigen Vorfalls hat. So schilderte eine Frau, dass sie in der Badewanne in Ohnmacht fiel und zu ertrinken drohte. Sie verließ ihren Leib und wandte sich an ihren Mann im Wohnzimmer, um ihn auf ihren Zustand aufmerksam zu machen. Dieser sah sie nicht, fühlte aber eine Unruhe und ging zum Badezimmer, wo er seine Frau bewusstlos vorfand. Die Frau berichtete zudem, dass sie ihren Mann und seine Handlungen während ihres Zustandes beobachten konnte (ebd., S. 132f.). Bei den Psychokinese-Fällen ist auffällig, dass sich die Untersuchungspersonen unfähig fühlen, physische Veränderungen in ihrer Umgebung herbeizuführen, sei es die Bettdecke zu heben oder den Lichtschalter zu 852 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft betätigen (ebd., S. 135). In seltenen Fällen wird diese Regel durchbrochen und die sie schildern, wie sie physische Objekte beeinflussen können. So berichtete z. B. eine Person, dass sie während ihrer AKE eine Blume aus der Vase nahm, aber sofort fallen lassen musste. Am nächsten Morgen wurde diese Blume tatsächlich neben der Vase auf dem Boden gefunden, wobei sich kein Hausbewohner daran erinnern konnte, dass er die Blume aus der Vase nahm (ebd., S. 136). Würdigung Greens Buch mag heute, da wir von immer neuen Berichten über Nahtoderfahrungen, 64 die teilweise weit über Greens Fälle hinausgehen, fast überflutet werden, unspektakulär erscheinen. Die Bedeutung des Buches besteht jedoch darin, dass es zum ersten Mal in diesem Ausmaß Berichte über Erfahrungen dieser Art der breiten Öffentlichkeit präsentierte. Dazu schreibt H. H. Price in seinem Vorwort: „ Experiences of this kind have, of course, been reported before. But to the best of my knowledge, such reports have been rather infrequent in recent years “ (Price 1968, S. 7). Es ist für die Atmosphäre jener Zeit vielleicht charakteristisch, dass Green ihre Befunde kommentarlos darstellte. Das Buch ist eine sachliche und fast trockene, obschon selbstverständlich auch systematisierende und selektive Aufzählung der von den Auskunftspersonen eingereichten Berichte. Green unternimmt keinen Versuch, sie zu interpretieren, zu hinterfragen, nach den möglichen neurobiologischen Ursachen zu suchen oder umgekehrt metaphysische Schlussfolgerungen über die Existenz einer Seele und ihr Verhältnis zum Leib zu ziehen. Diese Enthaltsamkeit ist wohl nicht zufällig, denn Green betritt mit ihrer Forschung gefährliches Gelände. So überließ sie es ihrem Mentor H. H. Price, dem Doyen auf dem Felde der parapsychologischen Forschung, in seiner Vorrede zu ihren Befunden Stellung zu nehmen. Aber auch er ist äußerst vorsichtig und belässt es bei dem allgemeinen Hinweis, dass die von Green angeführten Berichte einerseits Ähnlichkeiten mit den Erfahrungen einiger Mystiker aufweisen, was die Empfindung von Freude, Freiheit und Allwissen betrifft (ebd., S. 9f.), und andererseits an die Erfahrungen mit Mescalin erinnern, was die gesteigerte Erlebnisintensität und die Farbigkeit der Bilder angeht (ebd., S. 10). Green äußert sich in ihrem Buch nicht gegen den Materialismus. Dennoch habe ich sie hier aufgeführt. Denn erstens sind die Phänomene, die sie beschreibt, nur schwer mit der materialistischen Ideologie zu vereinbaren, und zweitens stellt Greens Werk eine Pionierleistung auf einem Feld dar, das heute wissenschaftlich breit erforscht wird (vgl. z. B. Literaturliste in: Aspell und Blanke 2009, S. 85 - 88), aber auch große Aufmerksamkeit in den populären Medien findet, was wiederum zur Gründung zahlreicher Institutionen 64 Wir werden auf dieses Phänomen demnächst ausführlich eingehen. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 853 und Ausbildungszentren führte, die die Fähigkeit zu außerkörperlicher Erfahrung vermitteln wollen. Untersuchungen in den letzten Jahren scheinen zu zeigen, dass die AKE auf Störungen des Nervensystems (z. B. Persinger 2001; Blanke et al. 2004; Blanke und Arzy 2005) oder auf Störungen der normalen Wahrnehmungsprozesse (Ehrsson 2007; Lenggenhager et al. 2007) beruhen. Ich möchte hier nicht ausführlich auf diese kontroversen Forschungsresultate eingehen. Es scheint mir aber angebracht, darauf hinzuweisen, dass es erstens niemandem bis jetzt gelungen ist, im Labor Erfahrungen zu erzeugen, die alle oben genannten Elemente der außerkörperlichen Erfahrung enthält. Insbesondere ist es m. W. niemandem gelungen, die Erfahrung des Sich-selbst-von-der- Decke-aus-Beobachtens oder die Erfahrung einer „ Reise “ in Verbindung mit Hellsicht zu reproduzieren. Im Übrigen sagt der Umstand, dass eine einer bestimmten Lebenserfahrung ähnliche Erfahrung im Labor künstlich erzeugt werden kann, nichts darüber aus, wie die ursprüngliche Lebenserfahrung zustande gekommen ist. Der Autopilot kann ein Flugzeug erfolgreich landen, wir werden jedoch von der Funktionsweise des Autopiloten nichts darüber lernen können, aufgrund welcher mentalen (und möglicherweise neurobiologischen) Prozesse ein echter Pilot dies tut. Ebenso wenig können wir aus der Tatsache, dass es vor kurzem zum ersten Mal gelungen ist, ein Chromosom eines Bakteriums im Labor zu synthetisieren (Science, 28. 3. 2014), lernen, wie „ die Natur “ diese Leistung irgendwann in der Vergangenheit erbrachte. Charles Tart: Altered States of Consciousness Aldous Huxleys The Doors of Perception markiert den Anfang der Auseinandersetzung mit einem Phänomen, das später den Namen „ Altered States of Consciousness “ (veränderte Bewusstseinszustände, kurz ASC) erhielt. Bereits 1969 war diese Auseinandersetzung so weit gediehen, dass eine umfangreiche Sammlung wissenschaftlicher Artikel zu diesem Thema erschien, die von dem damals 32-jährigen Psychologen Charles T. Tart herausgegeben wurde. Der Sammelband Altered States of Consciousness wie auch Tarts zweites Buch Transpersonal Psychologies (1975) trugen maßgeblich dazu bei, dieses Thema in der Psychologie zu etablieren. In seiner Einführung weist Tart darauf hin, dass ASC in der westlichen Kultur sehr negativ besetzt ist (Tart 1969, S. 2), dass aber breite Schichten der Bevölkerung, insbesondere Studenten, Künstler und andere Intellektuelle, solche Zustände auf dem Wege von Meditationsübungen oder des Konsums bewusstseinsverändernder Substanzen aktiv suchen. Dieser gesellschaftliche Wandel werde auch Veränderungen in der Psychologie nach sich ziehen (ebd., S. 4). Denn junge Studenten erfahren einerseits durch Meditationsübungen oder psychedelische Substanzen überwältigende psychische Effekte, stellen aber andererseits fest, dass die akademische Psychologie dieses Gebiet vollständig ignoriert. „ The most important obligation of any science is that its descriptive and 854 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft theoretical language embrace all the phenomena of its subject matter; the data from ASCs cannot be ignored if we are to develop a comprehensive psychology “ (ebd., S. 5). Tarts Buch enthält Artikel zum sog. hypnagogischen Zustand, also dem Zustand vor dem eigentlichen Einschlafen (ebd., S. 73 - 112), zu allgemeinen Phänomenen des Schlafens und Träumens (ebd., S. 113 - 174), einschließlich des sog. luziden Traums (ebd., S. 150 - 158), und zum „ hohen Traum “ ( „ high dream “ , ebd., S. 169 - 174), den er folgendermaßen definiert: [I]t is an experience occurring during sleep in which you find yourself in another world, the dream world, and in which you recognize during the dream that you are in an altered state of consciousness which is similar to (but not necessarily identical with) the high induced by a chemical psychedelic. (Ebd., S. 172) 65 Ferner werden Meditation (ebd., S. 175 - 228), Hypnose (ebd., S. 229 - 320) wie auch recht ausgiebig unterschiedliche psychedelische Substanzen und ihre Effekte (allen voran Marihuana und LSD) behandelt (ebd., S. 321 - 484). Obwohl Tarts Buch bereits mehr als 40 Jahre alt ist, sind zumindest einige Passagen auch heute noch aktuell. Dazu zählen Milton H. Ericksons Beschreibungen von Aldous Huxleys Experimenten mit unterschiedlichen Bewusstseinszuständen (ebd., S. 45 - 71) 66 , Kilton Stewarts Beschreibungen der Trauminterpretation bei den Senoi auf der Malaiischen Halbinsel (159 - 167) und William James ’ Beschreibung seiner Experimente mit Distickstoffoxid (ebd., S. 359 - 363) 67 . Wenden wir uns diesen Aufsätzen zu. Erickson beschreibt seine Zusammenarbeit mit Huxley, welche bereits 1950, also noch vor dessen Experimenten mit Meskalin, stattgefunden hat. Was ihn besonders beeindruckte, war Huxleys Fähigkeit, den Zustand der „ Deep Reflexion “ willentlich zu entwickeln bzw. in diesen Zustand einzutreten (ebd., S. 47). Huxley empfand sich währenddessen als „ verschwunden in einem Meer der Farben “ , oder er spürt „ das Wesen der Farbe “ (ebd., S. 50); dabei ist er der sozialen Wirklichkeit entrückt, obwohl er (ohne sich daran später zu erinnern) in verhältnismäßig komplexen Situation (z. B. Annahme eines Pakets von einem Postboten) reagieren konnte. Seine Frau beschrieb sein Verhalten als „ automatic, like a machine moving precisely and accurately “ (ebd., S. 48). In diesem Trancezustand (ebd., S. 55), der übrigens in seiner Tiefe variieren konnte (Erickson spricht in diesem Zusammenhang von den Zuständen des leichten bis tiefen Trance (ebd., S. 56), war Huxley zu außergewöhnlichen Leistungen fähig. Er konnte z. B. die Seitenzahl einer Passage nennen, die ihm vorgelesen wurde (ebd., S. 56), und die ihm gelesene Passage dadurch fortsetzen, dass er die (lang zuvor gelesene) Seite des Buches „ halluzinierte “ (62). Mehr noch: Er war in der Lage, seinen Lebenslauf gleichsam fotografisch zu reproduzieren (ebd., S. 66 - 68), eine Fähigkeit, 65 Nach Tart ist der „ hohe Traum “ vom luziden Traum klar zu unterscheiden (ebd., S. 170). 66 Ursprünglich veröffentlicht in Amer. J. Clin. Hypn., Vol. 8, 1965, S. 17 - 33. 67 Ursprünglich veröffentlicht in Mind, Vol. 7, 1882, S. 186 - 208. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 855 die stark an das erst in der jüngsten Zeit erforschte Phänomen des Highly Superior Autobiographical Memory erinnert (s. oben: „ Empirische Rätsel der Naturwissenschaft “ ), wobei das HSAM allerdings im bewussten Zustand agiert. Kilton Stewarts Bericht über die Senoi ist nicht minder erstaunlich. Zur Zeit der Erforschung dieses Urwald-Volkes in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts lebten seine Mitglieder in einfachen Gemeinschaftshäusern. Sie ernährten sich vor allem vom Jagen und Fischen (ebd., S. 59f.). Verblüffend war, dass sie behaupteten, es habe seit mindestens 200 Jahren kein Gewaltverbrechen oder gesellschaftliche Konflikte gegeben. Dies verdankten sie der Weisheit und dem Einfallsreichtum ihrer Tohai also Priester bzw. Lehrer (ebd., S. 160). Die Weisheit dieser Lehrer gründete vor allem in der Interpretation und Verwertung der Träume. Träume wurden in der Senoi-Gemeinschaft so ernst genommen, dass sie die Kinder ermunterte, ihre Träume zu erzählen. Stewart schreibt: Breakfast in the Senoi house is like a dream clinic, with the father and older brothers listening to and analyzing the dreams of all the children. At the end of the family clinic the male population gathers in the council, at which the dreams of the older children and all the men in the community are reported, discussed, and analyzed. (Ebd., S. 161) Die „ Logik “ hinter der Analyse der Träume ist nach Stewart folgende: Der Mensch erschafft sich Repräsentationen der Außenwelt in seinem Geist. Einige davon stehen in Konflikt mit ihm und untereinander. Einmal verinnerlicht, wenden diese Feindbilder den Menschen gegen sich selbst und gegen seine Mitmenschen. In den Träumen hat der Mensch die Macht, diese Tatsachen seiner Psyche wahrzunehmen. Wenn das Individuum keine Hilfe durch Erziehung und Therapie erhält, bündeln sich diese Feindbilder in einer Weise, die ihn körperlich, sozial und psychisch belastet, ihn psychisch krank, abnormal macht. Mit Hilfe der Traumdeutung können diese psychologischen Repliken der soziophysischen Umgebung umgeleitet und reorganisiert und damit wieder nützlich für die Person werden. Die Senoi glauben - schreibt Stewart weiter - , dass jeder Mensch mit Hilfe seiner Mitmenschen alle Wesen und Kräfte seines Traumuniversums beherrschen und nützlich machen kann. Kooperiert man am Tage mit seinen Mitmenschen oder widersetzt man sich mit gutem Willen gegen sie, so werden ihre Bilder einem in den Träumen helfen (ebd., S. 161f.). 68 68 Im Original: „ Their psychology of dream interpretation might be summed up as follows: man creates features or images of the outside world in his own mind as part of the adaptive process. Some of these features are in conflict with him and with each other. Once internalized, these hostile images turn man against himself and against his fellows. In dreams man has the power to see these facts of his psyche, which have been disguised in external forms, associated with his own fearful emotions, and turned against him and the internal images of other people. If the individual does not receive social aid through 856 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Stewart erwähnt in seinem Aufsatz nichts von den religiösen Überzeugungen der Senoi, es ist aber aus seinen Zwischenbemerkungen ersichtlich, dass sie an die Wirklichkeit geistiger Kräfte glauben und überzeugt sind, dass man von der Hilfe dieser Kräfte profitieren könne. So berichtet Stewart von dem Vorfall, dass Senoi, welche die Ausrüstung seiner Expedition unter schwersten Bedingungen transportierten, ihre Tätigkeit demoralisiert aufgeben wollten. Ihrem Anführer, einem Schamanen, sei im Traum der Geist der leeren Kisten erschienen und gab ihm ein Lied ein. Dies sangen die Träger am nächsten Tag voll Begeisterung und sie behaupteten, die Kisten hätten ihr Gewicht verloren (ebd., S. 167). Die Erfahrung der äußerst gesunden und robusten sozialen Wirklichkeit des Senoi-Volkes bringt Stewart zur Überzeugung, dass unserer Kultur eine solche Verwertung des schöpferischen Potentials der Traumwelt fehle: My data on the dream life of the various Senoi age groups would indicate that dreaming can and does become the deepest type of creative thought. Observing the lives of the Senoi it occurred to me that modern civilization may be sick because people have sloughed off, or failed to develop, half their power to think. Perhaps the most important half. Certainly, the Senoi suffer little by intellectual comparison with ourselves. They have equal power for logical thinking while awake, considering their environmental data, whereas our capacity to solve problems in dreams is inferior compared to theirs. (Ebd., S. 166) Würdigung James behauptete, dass ihn die Inhalation von Lachgas in die Lage versetzte, die Stärken und Schwächen der Philosophie Hegels besser zu verstehen (ebd., S. 359). Es wäre interessant zu erfahren, ob eine Person ohne Hegel-Kenntnis ebensolche tiefen Einblicke in diese Philosophie beim Lesen von Hegels Werken erlangen könnte. Diese Frage wird in Tarts Buch erst gar nicht gestellt. Diese Bemerkung lässt sich verallgemeinern. Sein Buch unternimmt keinen Versuch, ein vertieftes Verständnis der Phänomene zu entwickeln, es enthält keine Antwort auf die Frage, wie unter dem Einfluss bestimmter Substanzen oder bestimmter Praktiken (Hypnose, Meditation) solch tiefgreifende Bewusstseinsveränderungen zustande kommen können und ob sie als inhäeducation and therapy, these hostile images, built up by man ’ s normal receptiveness to the outside world, get tied together and associated with one another in a way which makes him physically, socially, and psychologically abnormal. [. . .] With the help of dream interpretations, these psychological replicas of the socio-physical environment can be redirected and reorganized and again become useful to the major personality. The Senoi believe that any human being, with the aid of his fellows, can outface, master, and actually utilize all beings and forces in the dream universe. His experience leads him to believe that, if you cooperate with your fellows or oppose them with good will in the daytime, their images will help you in your dreams, and that every person should be the supreme ruler and master of his own dream or spiritual universe, and can demand and receive the help and cooperation of all the forces there “ (ebd., S. 161 f). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 857 rent wertvoll oder aber als eigentlich gefährliche Täuschungen zu betrachten sind. Im Falle von Huxleys „ tiefer Reflexion “ und seiner fotografischen Erinnerung wurden von ihm und Erickson Versuche unternommen, die Adäquatheit dieser Erinnerungen zu überprüfen, im Falle von James aber fehlt eine solche Überprüfung. Die Traumanalyse, die vom Senoi-Volk angewendet wird, scheint zumindest die Annahme zu bestätigen, dass die Berücksichtigung von veränderten Bewusstseinszustände (ASC) einen durchaus positiven Beitrag zu unserem „ normalen “ persönlichen und sozialen Leben leisten kann Tart erhob mit seinem Vorstoß auf das Gebiet der ASC zwar einen große Anspruch ( „ the data from ASCs cannot be ignored if we are to develop a comprehensive psychology “ ), die Resonanz war aber zunächst gering. Noch während meines Psychologiestudiums (1972 - 1978) bin ich dem Thema so gut wie nicht begegnet, weder in Polen (Warschau) noch in Australien (Sydney). Das Thema der Meditation wurde meines Wissens erst in den 80er- und 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem durch Jon Kabat- Zinns Programm „ Mindfulness-based stress reduction “ (MBSR) akademisch salonfähig. Dennoch ist die von Tart herausgegebene Aufsatzsammlung zweifelsohne bedeutsam, denn sie brachte den Ausdruck „ Altered States of Consciousness “ in Umlauf 69 und lenkte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese Phänomene. Dabei traf es sich mit dem Zeitgeist der 68er, insbesondere mit dem Drogenkonsum der Hippie-Bewegung, insofern es solche veränderten Bewusstseinszustände (und damit letztlich die Abweichung von der Norm überhaupt) wohlwollend behandelte und nicht als grundsätzlich pathologisch und/ oder minderwertig brandmarkte. In Verbindung mit der bereits Mitte der 50er Jahre formulierten Theorie Maslows von der Hierarchie der menschlichen Bedürfnisse, die vom elementaren physiologischen bis zum Bedürfnis nach Selbstverwirklichung reicht, 70 öffnete das Buch den Weg zur Einsicht, dass sich unter den „ veränderten “ Bewusstseinszuständen auch höhere als das Alltagsbewusstsein befinden. Wir werden auf Tart an einer späteren Stelle dieses Kapitels zurückkommen (vgl. Abschnitt „ Charles Tart: The End of Materialism “ ). 69 Der Begriff wurde allerdings bereits 1966 erstmals gebraucht (Ludwig, Arnold M. (September 1966). „ Altered States of Consciousness (presentation to symposium on Possession States in Primitive People) “ . Archives of General Psychiatry 15 (3). 225 - 234. 70 Vgl. Maslow 1954 und oben „ Intermezzo: Einige soziale Folgen der Verbreitung der materialistischen Ontologie in der Wissenschaft “ . Basiert auf http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Fritjof_Capra und http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Fritjof_Capra (heruntergeladen am 5. 11. 2013). 858 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Fritjof Capra: The Tao of Physics Biographie 71 1975 publizierte der erst 36-jährige Physiker Fritjof Capra ein Buch, das, obwohl zunächst in einem obskuren amerikanischen Verlag (Shambhala) erschienen, bald zu einem Weltbestseller wurde und inzwischen 43 Auflagen erlebte und in 23 Sprachen übersetzt wurde: The Tao of Physics. An Exploration of the Parallels Between Modern Physics and Eastern Mysticism. Capra, der in Wien geboren wurde, promovierte 1966 an der dortigen Universität in theoretischer Physik. Er forschte und lehrte von 1966 bis 1968 auf dem Gebiet der Hochenergiephysik an der Universität Paris, von 1968 bis 1970 an der University of California, Santa Cruz, 1970 am Stanford Linear Accelerator Center und von 1971 bis 1974 am Imperial College London. Anschließend war er von 1975 bis 1988 am Ernest Orlando Lawrence Berkeley National Laboratory der University of California tätig. Heute lehrt er am Center for Ecoliteracy in Berkeley, California, das er mitbegründete, und gehört zum Lehrkörper der Schumacher College, eines 1990 in Dartington und Totnes (Devon, England) gegründeten internationalen Zentrums, das Kurse in nachhaltigem Lebensstil anbietet. Neben Capra beteiligte sich eine Reihe hervorragender Forscher: David Abram, Patch Adams, Deepak Chopra, Stanislav Grof, Hazel Henderson, James Lovelock, Lynn Margulis, Humberto Maturana, Wolfgang Sachs, Arne Naess, Rupert Sheldrake, Vandana Shiva, Brian Goodwin und viele andere. The Tao of Physics Im Nachwort zu The Tao of Physics (Capra 1975, S. 303 - 307) äußert sich Capra zur Intention seines Buches: Er stellt fest, dass sich die klassische Physik sehr gut für die Beschreibung der alltäglichen physischen Phänomene eigne und sich als äußerst brauchbare Grundlage der Technik erwiesen habe. Sie ist jedoch inadäquat für die Beschreibung der physischen Phänomene im subatomaren Bereich. Dem mechanistischen Weltbild der klassischen Physik stellt Capra das „ organische “ Weltbild des Mystikers gegenüber, nach dem alle Phänomene des Universums integrale Teile eines unteilbaren, harmonischen Ganzes sind. Dieses Weltbild ergibt sich nicht aus physikalischen Experimenten und deren mathematischer und statistischer Verarbeitung, sondern aufgrund der mystischen Tradition der meditativen Bewusstseinszustände. Die Begriffe, die aus diesen Erfahrungen resultieren, eignen sich nicht zur wissenschaftlichen Beschreibung der makroskopischen Phänomene und oder für die Lösung der komplexen technischen Probleme in einer überbevölkerten Welt. 71 Basiert auf http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Fritjof_Capra und http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Fritjof_Capra (heruntergeladen am 5. 11. 2013). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 859 Im alltäglichen Leben können das mechanistische und das organische Weltbild nebeneinander existieren, da beide nützlich sind: jenes für Wissenschaft und Technik, dieses für ein harmonisches und erfülltes inneres Leben. Sobald man jedoch die Alltagserfahrung verlässt und sich auf die Ebene der subatomaren Phänomene begibt, verlieren die mechanistischen Begriffe ihre Gültigkeit und müssen durch solche ersetzt werden, die sehr an die Begriffe des Mystikers erinnern. Die Geschichte der Physik des 20. Jahrhunderts zeigt, dass sich die Begriffe des organischen Weltbildes, obwohl sie wenig brauchbar für Wissenschaft und Technik sind, bei der Betrachtung der atomaren und subatomaren Ebene gerade als äußerst nützlich erweisen. Und da sich die klassische Physik zwar von der Quantenmechanik ableiten lässt, nicht aber umgekehrt, ist das organische Weltbild fundamentaler als das mechanistische. Das Weltbild der modernen Physik wie das des östlichen Mystizismus ergeben sich aus einer grundlegenden Untersuchung der Natur der Dinge: der körperlichen Objekte in der Physik bzw. und des Bewusstseins im Mystizismus. Im Folgenden weist Capra auf signifikante Parallelen zwischen moderner Physik und Mystizismus hin: Erstens sind ihre Methoden durch und durch empirisch. Ein Physiker stützt sich auf seine Experimente, ein Mystiker auf Einsichten, welche er durch Meditation erlangte. Beide Vorgehensweisen stützen sich also auf Beobachtung, obwohl das Objekt der Beobachtung in beiden Fällen ganz unterschiedlich ist, und beide erkennen ausschließlich diese Beobachtungen als Quelle des Wissens an. In beiden Fällen findet die Beobachtungen in einem Bereich statt, der für die gewöhnlichen Sinne nicht zugänglich ist. In der Physik handelt es sich um Entitäten, die durch die moderne Forschungsinstrumente wie Teilchenbeschleuniger erschlossen werden, bei der Mystik um eine Wirklichkeit, die erst in verändertem Bewusstseinszustand zugänglich ist. In Anbetracht dieser und anderer Ähnlichkeiten könnte man die Frage stellen, ob die moderne Wissenschaft mit ihrer ganzen Technologie bloß das uralte Wissen wiederentdeckt, das bereits vor Jahrtausenden den östlichen Weisen bekannt war. Sollen vielleicht die Wissenschaftler aufhören, ihre wissenschaftlichen Methoden anzuwenden, und anfangen zu meditieren? Capra weist das zurück. Er meint, dass Wissenschaft und Mystik zwei komplementäre Manifestationen des menschlichen Geistes bilden: die rationale und die intuitive. Der moderne Physiker erfährt die Welt durch die extreme Spezialisierung der rationalen, der Mystiker durch die extreme Spezialisierung der intuitiven Fähigkeiten. Capra paraphrasiert zur Veranschaulichung einen alten chinesischen Spruch: Der Mystiker versteht die Wurzel des Dao, aber nicht seine Äste, der Wissenschaftler seine Äste, aber nicht die Wurzel. Erst beide zusammen bilden die Wirklichkeit und ermöglichen ein erfülltes Leben: 860 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Science does not need mysticism and mysticism does not need science; but man needs both. Mystical experience is necessary to understand the deepest nature of things, and science is essential for modern life. What we need, therefore, is not a synthesis but a dynamic interplay between mystical intuition and scientific analysis. (Ebd., S. 306f.) In einem späteren Interview erzählt Capra, dass seine Ideen in Bezug auf die Parallelen zwischen der Quantenphysik und dem Weltbild des östlichen Mystizismus unter den Physikern eigentlich nicht neu seien, und er verweist auf Niels Bohr und Werner Heisenberg, mit dem er ca. 1972, also noch etwa drei Jahre vor der Publikation seines Buches, einige Diskussionen führte: I lived in England then, and I visited him several times in Munich and showed him the whole manuscript chapter by chapter. He was very interested and very open, and he told me something that I think is not known publicly because he never published it. He said that he was well aware of these parallels. While he was working on quantum theory he went to India to lecture and was a guest of Tagore. He talked a lot with Tagore about Indian philosophy. Heisenberg told me that these talks had helped him a lot with his work in physics, because they showed him that all these new ideas in quantum physics were in fact not all that crazy. He realized there was, in fact, a whole culture that subscribed to very similar ideas. Heisenberg said that this was a great help for him. Niels Bohr had a similar experience when he went to China. 72 Auch Capras Buch ist, wie der Autor im Vorwort festhält, unter dem Eindruck einer mystischen Erfahrung entstanden. Capra schreibt, dass er während seines Physikstudiums Interesse für den östlichen Mystizismus entwickelte. Er fühlte sich besonders durch einige Aspekte des Zen-Buddhismus angezogen, die ihn an die Rätsel der Quantentheorie erinnerten. Zunächst war die Beschäftigung eine rein intellektuelle Übung, schreibt Capra, dann aber hatte er im Spätsommer 1969 das folgende Erlebnis: I was sitting by the ocean one summer afternoon, watching the waves rolling in and feeling the rhythm of my breathing, when I suddenly became aware of my whole environment as being engaged in a gigantic cosmic dance. [. . .] I ‘ saw ’ cascades of energy coming down from outer space, in which particles were created and destroyed in rhythmic pulses; I ‘ saw ’ the atoms of the elements and those of my body participating in this cosmic dance of energy; I felt its rhythm and I ‘ heard ’ its sound, and at that moment I knew that this was the Dance of Shiva, the Lord of Dancers worshipped by the Hindus. (Capra 1975, S. 11) 72 Fritjof Capra in einem Interview mit Renee Weber, abgedruckt in: The Holographic Paradigm, S. 217f. Quelle http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ The_Tao_of_Physics (heruntergeladen am 5. 11. 2013). Bohr nahm übrigens das Yin-Yang-Symbol in sein Familienwappen auf, als er im Jahr 1947 zum Ritter geschlagen wurde. Er erblickte in der Idee der Komplementarität, die es veranschaulicht, eine frappierende Ähnlichkeit mit dem von ihm entdeckten Welle-Teilchen-Dualismus. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 861 Capra schreibt weiter, dass diesem Erlebnis viele ähnliche folgten und dass er erkannte, dass die moderne Physik allmählich ein konsistentes Weltbild erscheinen ließ, dass mit der uralten östlichen Weisheit harmoniert. Wie wir sehen werden, sind solche mystischen Erfahrung unter Wissenschaftlern keineswegs selten. Würdigung Capras The Tao of Physics prägte sehr viele vor allem jüngere Menschen, darunter auch Wissenschaftler. B. D. Josephson, Professor für Physik an der Universität von Cambridge und Gewinner des Nobelpreises für Physik 1973, wird auf dem Umschlag des Buches mit den Worten zitiert, dass die von Capra eingeleitete Annäherung zwischen der modernen Physik und dem alten Mystizismus zu einem vertieften Verständnis der Rätsel der Universums beitragen könnte: Readers will find much of interest in Dr. Capra ’ s clear explanations of the basic ideas behind the various forms of Eastern mysticism, and of the paradoxes of modern physics which seem to have been anticipated in the paradoxes of mysticism. It is likely that when the relations between them are well understood, the time will be ripe for considerable advances in our comprehension of the universe. Es gab vonseiten der etablierten Wissenschaft aber selbstverständlich auch kritische Stimmen. So schrieb z. B. Jeremy Bernstein, Professor für Physik am Stevens Institute of Technology: At the heart of the matter is Mr. Capra ’ s methodology - his use of what seem to me to be accidental similarities of language as if these were somehow evidence of deeply rooted connections. [. . .] Thus I agree with Capra when he writes, „ Science does not need mysticism and mysticism does not need science but man needs both. “ What no one needs, in my opinion, is this superficial and profoundly misleading book. 73 Capras Buch traf wie das von Tart auf fruchtbaren Boden: Das Interesse an östlichem Mystizismus war Anfang der 70er Jahre unter den jungen Menschen sehr groß. Dieser spielt in der heutigen Jugendkultur keine besonders große Rolle mehr. Bereits Capras Buch The Web of Life. A New Synthesis of Mind and Matter (Capra 1997) erzeugte keine vergleichbare Aufmerksamkeit. War die Faszinationskraft dieses Buches also nur eine Modeerscheinung ohne tiefere Wurzeln? 73 Vgl. http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ The_Tao_of_Physics (heruntergeladen am 20. 3. 2013). 862 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Raymond Moody: Life after Life; Reflections on Life After Life Im selben Jahr wie The Tao of Physics erschien mit Life After Life ein weiterer internationaler Bestseller. Sein Autor war der 31 Jahre alte Philosoph und angehende Arzt Raymond A. Moody (geboren 30. Juni 1944). Life After Life öffnete den Weg für ein neues wissenschaftliches Forschungsfeld und setze einen neuen Begriff in die Welt: „ near-death experience “ (Moody 1975, S. 18). Das Buch gibt die Erlebnisse von ca. 150 Personen wieder (mit ca. 50 von ihnen führte Moody ausführliche Interviews) (ebd., S. 19), wobei sich drei Hauptgruppen unterscheiden lassen: 1) klinisch Tote, die erfolgreich reanimiert wurden; 2) Personen, die dem Tod nahekamen; 3) Personen, die im Sterben lagen und ihre Erlebnisse den Anwesenden erzählten (ebd.). Moodys Buch, das in gewisser Hinsicht eine Ergänzung zu Monroes Journeys out of the Body bildet, soll hier in einigen besonders prägnanten Aspekten dargestellt werden. Zum einen möchte ich daran erinnern, wie Moody überhaupt auf das Thema stieß, schließlich war es alles andere als ein anerkannter Forschungs- oder auch nur ein populärer Gesprächsgegenstand. Moody berichtet dazu, dass er 1965 während seines Philosophiestudiums an der Universität Virginia einem Professor für Psychiatrie begegnete, der zwei solcher Nahtoderlebnisse hatte und von ihnen berichtete. Moody war sehr beeindruckt, konnte aber mit dieser Erzählung nicht viel anfangen (ebd., S. 18). Einige Jahre später, als er in Nordkarolina dozierte, war das Thema einer seiner Lehrveranstaltungen Platons Phaidon, ein Dialog, der sich bekanntlich mit der Frage des Lebens der Seele nach dem Tod beschäftigt. Ein Student erzählte ihm in diesem Zusammenhang die Nahtoderfahrungen seiner Großmutter, wobei sich die Reihenfolge der Erlebnisse mit der des Professors deckte. Als Moody daraufhin Kurse zu diesem Thema anbot, meldeten sich immer wieder Studenten mit vergleichbaren Erfahrungen. Alle Berichte ähnelten sich, obschon sie von Personen mit ganz unterschiedlichen religiösem, sozialem und Bildungshintergrund stammten. Als Moody 1972 sein Medizinstudium anfing, hatte er bereits eine umfangreiche Sammlung solcher Berichte, die er in Gesprächen mit Mitstudenten und Dozenten zur Sprache brachte. Es kam zu einigen öffentlichen Vorträgen, bei denen sich, durch Ärzte und Medien aufmerksam gemacht, zahlreiche Menschen mit Nahtoderfahrungen einfanden und ihm berichteten (ebd., S. 20). Zum zweiten möchte ich den exemplarischen Verlauf einer „ Nahtoderfahrung “ mit den Worten Moodys wiedergeben: A man is dying and, as he reaches the point of greatest physical distress, he hears himself pronounced dead by his doctor. He begins to hear an uncomfortable noise, a loud ringing or buzzing, and at the same time feels himself moving very rapidly through a long dark tunnel. After this, he suddenly finds himself outside of his own physical body, but still in the immediate physical environment, and he sees his own 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 863 body from a distance, as though he is a spectator. He watches the resuscitation attempt from this unusual vantage point and is in a state of emotional upheaval. After a while, he collects himself and becomes more accustomed to his odd condition. He notices that he still has a „ body “ , but one of a very different nature and with very different powers from the physical body he has left behind. Soon other things begin to happen. Others come to meet and help him. He glimpses the spirits of relatives and friends who have already died, and a loving, warm spirit of a kind he has never encountered before - a being of light - appears before him. This being asks him a question, nonverbally, to make him evaluate his life and helps him alone by showing him a panoramic, instantaneous playback of the major events of his life. At some point he finds himself approaching some sort of barrier or border, apparently representing the limits between earthly life and the next life. Yet, he finds that he must go back to the earth, that the time for his death has not yet come. At this point he resists, for by now he is taken up with his experiences in the afterlife and does not want to return. He is overwhelmed by intense feelings of joy, love, and peace. Despite his attitude, though, he somehow reunites with his physical body and lives. Later he tries to tell others, but he has trouble doing so. In the first place, he can find no human words adequate to describe these unearthly episodes. He also finds that others scoff, so he stops telling other people. Still, the experience affects his life profoundly, especially his views about death and its relationship to life. (Ebd., S. 23 f; vgl. Moody 1978, S. 5f.) In dem 1977 publizierten Reflections on Life after Life (Moody 1978) fügt Moody noch einige wesentliche Elemente zu dieser allgemeinen Charakteristik hinzu, so das Gefühl, das ganze Wissen der Menschheit liege offen vor einem (Moody 1978, S. 9 - 14) und die Vision einer fernen „ Lichtstadt “ , die an das Neue Jerusalem aus der Offenbarung des Johannes erinnert (ebd., S. 15 - 18). Dabei hatten einige Auskunftspersonen den Eindruck, dass sie nicht mehr zu ihrem Leib zurückkehren könnten, wenn sie die Stadt beträten (ebd., S. 17). Ein drittes neues Element ist das „ Reich der verwirrten Geister “ (A realm of bewildered spirits) (ebd., S. 18). Die Auskunftspersonen hatten den Eindruck, dass einige der Verstorbenen, denen sie begegneten, nicht wussten, wer und wo sie waren (ebd., S. 20), dass sie ziellos umherwanderten, was sie einhellig darauf zurückführten, dass es ihnen nicht gelang, sich von der physischen Welt loszulösen (ebd., S. 18). Und viertens berichteten einige Auskunftspersonen, dass sie von einer übernatürlichen Macht aus einer im höchsten Maße lebensbedrohlichen und scheinbar aussichtslosen Situation gerettet wurden ( „ Supernatural rescues “ , ebd., S. 23 - 27). Alle diese Elemente, hebt Moody hervor, waren weit weniger allgemein als die eingangs erwähnten (ebd., S. 27f.) Moody betont, dass von den ihm zur Verfügung stehenden Berichten keine zwei völlig identisch waren, dass keine Beschreibung alle Elemente enthielt (einige Berichte wiesen aber immerhin 12 auf), dass kein einziges Element in allen Berichten auftrat und dass die Reihenfolge der Erlebnisse von Person zu Person variierte (Moody 1975, S. 24f.). Trotz dieser Variabilität 864 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft der Elemente lässt sich von einer hinreichenden Ähnlichkeit der Berichte sprechen, zumal ihre Aussagen bis heute durch mindestens einige Tausend weitere Fälle gestützt wurden. Tart schreibt dazu: The fact that Moody can construct a composite case [of NDE] that captures so much of actual NDE cases points out one of the things most important about NDEs: the enormous similarity of NDEs across a wide variety of people and cultures. If NDEs were nothing but hallucinatory experiences induced by a malfunctioning brain as a person dies, as materialists want to believe, then we would expect great variation from person to person, and the qualities of the experience would be largely determined by the culture and beliefs of each person experiencing the NDE. Instead, we have great similarity across cultures and belief systems, arguing that there ’ s something “ real ” about the NDE rather than its being nothing but a hallucination. Indeed aspects of the NDE often contradict the (previous) belief systems of the people experiencing them. (Former) atheists, for example, are embarrassed by meeting a being of light who ’ s so godlike, yet their descriptions of the being are very similar to those given by people with other beliefs. (Tart 2009, S. 229 - 230) Drittens will ich hervorheben, dass einige Elemente der Nahtoderfahrung, wie sie Moody schildert, bereits viel früher bekannt waren. Moody selbst zieht Parallelen zwischen den Berichten seiner Auskunftspersonen und der Bibel (Moody 1975, S. 79 - 82), Platon (ebd., S. 82 - 84), dem Tibetanischen Buch des Todes (ebd., S. 84 - 86) und Emanuel Swedenborg (ebd., S. 86 - 89). Man kann diese um einige weitere erweitern. So findet sich z. B. im Zentrum des berühmten Bildes Der Flug zum Himmel von Hieronymus Bosch eine Art Rohr, durch welches die Seelen der Verstorbenen zum Licht des Himmels gelangen. Dieses Rohr erinnert sehr stark an den Tunnel, der ein wichtiges Element der Nahtoderfahrung bildet. Das Motiv des Tunnels ist auch aus der mystischen Literatur des Orients bekannt. So schilderte z. B. Maharaj Jagat Singh den Übergang zum Leben nach dem Tode folgendermaßen: As the Soul hears the sound of the Bell and the Conch, it begins to drop off its impurities. The Soul then travels rapidly, and flashes of the distant Light begin to come into view. Connecting the two regions is an oblique passage, called the Curved Tunnel. Only after crossing this tunnel does the Soul reach the realm of the Creator. Here the attributes of the mind drop off, and the Soul ascends alone. Once it reaches its Home, it merges in it, thereby setting the Soul free. (Zitiert in Tart 2009, S. 226) Viertens möchte ich auf die lebensverändernden Folgen von Nahtoderfahrungen (Moody 1975, S. 64 - 70) aufmerksam machen. Zu den wichtigsten gehören: der Verlust der Angst vor dem Tod (ebd., S. 68); eine neue Vorstellung vom Charakter des Lebens nach dem Tod: an die Stelle von Belohnung und Bestrafung, wie von den dominierenden Religionen her bekannt, tritt die Vorstellung einer Weiterentwicklung der Seele, insbesondere der Liebesfähigkeit (ebd., S. 70); die Einsicht in die Wichtigkeit der 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 865 bedingungslosen Liebe im irdischen Leben (ebd., S. 67); die Einsicht in die Wichtigkeit der Suche nach Erkenntnis (ebd., S. 67). Würdigung: Nahtoderfahrungen als ein Feld der wissenschaftlichen Forschung Moodys Buch ist vor bald 40 Jahren erschienen. Seither sind zahlreiche zahlreiche Bücher veröffentlicht worden, die ähnliche Erfahrungen beschreiben oder sie reflektieren (vgl. Literaturliste Carter 2010, S. 283 - 296), und Nahtoderfahrungen sind zum Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung geworden. Es gibt mehrere Institutionen, die sich der Erforschung dieser Phänomene widmen. Die wohl größte von ihnen ist die International Association for Near-Death Studies, die u. a. Das Journal of Near-Death Studies und den vierteljährlichen Newsletter Vital Signs herausgibt und ein Archiv von Nahtod-Fallgeschichten besitzt. Eine weitere Forschungsinstitution ist die in Louisiana beheimatete Near Death Experience Research Foundation, die 1998 von dem Strahlenonkologen Jeffrey Long gegründet wurde. Diese Stiftung unterhält eine Website und die derzeit wohl größte Datenbank von Nahtodberichten mit mehr als 1600 Fällen. Auch an einigen Universitäten gibt es inzwischen Abteilungen, die sich der Untersuchung von Nahtoderlebnissen widmen, obwohl ihre Zahl immer noch gering ist. Dazu zählen die University of Connecticut (USA), die Abteilung für Perceptual Studies an der University of Virginia und die Universität Southampton (UK). Inzwischen gibt es auch wissenschaftliche Konferenzen, die sich mit dem Thema Nahtoderfahrung befassen. IANDS veranstaltet solche Konferenzen in regelmäßigen Abständen. Das erste Treffen war ein medizinisches Seminar an der Yale University, New Haven, im Jahr 1982. Ihm folgten 1984 die erste klinische Konferenz in Pembroke Pines (Florida) und die erste Fachkonferenz in Farmington (Connecticut). Seitdem finden fast jährlich Konferenzen in größeren Städten der USA statt. Die erste internationale medizinische Konferenz über Nahtoderfahrungen fand 2006 statt. Etwa 1500 Delegierte, darunter auch Betroffene, besuchten die eintägige Versammlung in Martigues, Frankreich. Unter den Forschern, die an der Konferenz teilnahmen, waren der Anästhesist und Intensivmediziner Jean-Jacques Charbonnier und Raymond Moody selbst. 74 2009 ist erstmals ein Jahrbuch erschienen: The Handbook of Near-Death Experiences. Thirty Years of Investigations (Hrsg. Janince Miner Holden, Edd Bruce Greyson, MD und Debbie James, MSN, RN). Es gibt selbstverständlich zahlreiche Versuche, die Nahtoderfahrungen materialistisch, durch verschiedenartige Anomalien der Gehirnfunktionen zu erklären. In einem 2012 erschienenen Buch, auf welches wir weiter unten 74 Basiert auf http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Near-death_studies (heruntergeladen am 21. 3. 2013). 866 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft ausführlich eingehen werden, 75 untersuchte der amerikanische Neurochirurg Eben Alexander neun derartige mögliche Erklärungen und wies sie allesamt zurück. Ich möchte auf derartige Erklärungen hier nicht weiter eingehen. Ich glaube im Exkurs „ Kann das Gehirn das Bewusstsein hervorbringen “ gezeigt zu haben, dass die für solche Versuche zentrale Annahme, dass das Gehirn (bzw. diese oder jene seiner Untersysteme) Bewusstsein erzeugen kann, unbegründet ist. Wir haben oben gesehen, dass es eine zentrale Eigenschaft von Nahtoderfahrungen ist, dass die betroffenen Personen eine veränderte Einstellung zum Leben und veränderte Wertvorstellungen haben. Auch Moody wurde durch seine Forschungen veranlasst, seine Lebenseinstellung grundlegend zu ändern. In einem späten Interview im Rahmen der Serie „ Thinking Allowed, Conversations On the Leading Edge of Knowledge and Discovery “ des amerikanischen Intuition Network erklärte er, dass er von der Wirklichkeit des Lebens nach dem Tode völlig überzeugt sei: I don ’ t mind saying that after talking with over a thousand people who have had these experiences, and having experienced many times some of the really baffling and unusual features of these experiences, it has given me great confidence that there is a life after death. As a matter of fact, I must confess to you in all honesty, I have absolutely no doubt, on the basis of what my patients have told me, that they did get a glimpse of the beyond. 76 Es ist ebenfalls erwähnenswert, dass Raymond Moody einen Online-Kurs entwickelt hat, der mit der Materie vertraut machen und entsprechende Fähigkeiten entwickeln will. Der Kurs wird auf seiner Website folgendermaßen vorgestellt: This self-directed online course, designed for serious inquirers and life-long learners, imparts a new system of principles for expanded logical thinking and perception of thought. It will awaken an unknown power within the mind. It will show how current thinking skills are limited in perception of the hereafter. Applying the philosophy taught in this course will result in pioneering approaches toward answering the unresolved questions of science and religion. By the course ’ s end, students will arrive with Dr. Moody at a definitive, logical conclusion to the most important question of humankind: “ Is there life after death? ” 77 Zum Schluss möchte ich kurz auf die Widmung von Moodys erstem und bahnbrechendem Buch eingehen. Sie lautet: „ To George Ritchie, M. D. and, through him, to the One whom he suggested “ (Moody 1975, S. 3). Bei „ the One whom he suggested “ handelt es sich zweifelsohne um Jesus, zu dem sich Ritchy in seinem späteren Leben öffentlich bekannte (Ritchie ebd., S. 122). Moodys selbst bekennt sich also nicht allein zum Glauben an die Existenz einer übersinnlichen Welt, sondern zum Glauben an Christus. 75 Vgl. Abschnitt „ Eben Alexander: Proof of Heaven “ . 76 http: / / www.intuition.org/ txt/ moody.htm (heruntergeladen am 21. 3. 2013). 77 http: / / raymondmoody.org/ (heruntergeladen am 29. 3. 2013). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 867 Popper und Eccles: The Self and Its Brain. An Argument for Interactionism Biographische Notiz 78 Als 1977 The Self and its Brain erschien, versetzte es die naturwissenschaftliche Gemeinschaft in Staunen. Zwei führende Wissenschaftler bekannten sich zu der Überzeugung, dass man die geistigen Phänomene des menschlichen Lebens nicht auf die Aktivität des Gehirns reduzieren kann. Die zwei Autoren des Buches waren Sir Karl R. Popper (1902 - 1994) und John C. Eccles (1903 - 1997). Popper ist einer der einflussreichsten Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Ich möchte mich hinsichtlich seiner Biographie hier auf den Hinweis beschränken, dass er 1928 in Psychologie promovierte (mit der Dissertation „ Die Methodenfrage der Denkpsychologie “ ) und erst seit 1949 als Lehrer für Logik und wissenschaftliche Methode (an der University of London) wirkte. John Carew Eccles war ein australischer Neurophysiologe, der 1963 gemeinsam mit Andrew Huxley und Alan Lloyd Hodgkin den Nobelpreis für Physiologie und Medizin für seine Arbeiten zur Synapse erhielt. Eccles studierte am Magdalen College in Oxford und promovierte dort 1929. 1937 kehrte er nach Australien zurück, wo er während des Krieges in die Militärforschung involviert war. Nach dem Kriege wurde er an die Universität von Otago in Neuseeland als Professor für Neurophysiologie berufen. 1952 erhielt er eine Professur an der John Curtin School of Medical Research der Australian National University. 1958 wurde Eccles von Königin Elizabeth II. für seinen Beitrag zur physiologischen Forschung zum Ritter geschlagen. Zahlreiche Auszeichnungen folgten. The Self and Its Brain. An Argument for Interactionism Popper und Eccles ’ Buch baut auf der von Popper in seinem 1972 erschienenen Werk Objective Knowledge: An Evolutionary Approach vorgeschlagenen Theorie der drei Welten auf (Popper 1979, S. 74, 106 - 150, 152 - 161). Unter Welt 1 versteht er darin die physische Welt oder die physikalischen Zustände; unter Welt 2 die Welt des Geistes oder seelische Zustände, Ideen und Wahrnehmungen und unter Welt 3 das menschliche Wissen in seinen vielfältigen Formen (Theorien, die Inhalte von Büchern, Sinfonien usw. (ebd., S. 116). Entscheidend für diese Ontologie ist, dass Welt 3 für Popper eine objektive, also von Menschen unabhängige Existenz hat (ebd., S. 156 - 158), wobei sie im Gegensatz zum klassischen Platonismus, der die Welt der Ideen als vom Menschen völlig unabhängig betrachtete, jedoch eine Schöpfung des Menschen ist: 78 Basiert auf http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Karl_Popper und http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ John_Eccles (heruntergeladen am 1. 4. 2013). 868 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft I suggest that it is possible to accept the reality or (as it may be called) the autonomy of the third world, and at the same time to admit that the third world originates as a product of human activity. One can even admit that the third world is man-made and, in a very clear sense, superhuman at the same time. It transcends its makers. (Ebd., S. 159. Vgl. auch S. 147) Popper argumentiert, dass die drei Welten kausal interagieren, obschon für die Interaktion zwischen Welt 3 und Welt 1 die Vermittlung von Welt 2 notwendig sei (ebd., S. 155). Dank einer solchen Vermittlung könne Welt 3 einen „ gewaltigen Einfluss “ auf Welt 1 ausüben (z. B. durch verschiedene vom Menschen erfundene Technologien) (ebd.). Um die Modalität des Verkehrs zwischen Welt 2 und Welt 3 erklärlich zu machen, bedient sich Popper interessanterweise der Metapher des Sehens: So wie der Mensch die Gegenstände der Welt 1 sehe, so „ sehe “ er z. B. auch mathematische oder geometrische Objekte, die zur Welt 3 gehören. Die Metapher des Sehens ist in der englischen Sprache sehr naheliegend, denn „ I see “ bedeutet „ Ich habe es verstanden “ (im Deutschen gibt es eine ähnliche Wendung: „ Er hat es eingesehen “ heißt in etwa „ Er hat verstanden “ ). Die Formulierung lässt aber das Verhältnis zwischen dem „ Geist “ (das englische „ mind “ ist viel angebrachter) (Welt 2) und dem Leib des Menschen (Welt 1) offen. Denn es ist zumindest theoretisch möglich, sich das Verhältnis so vorzustellen, dass das Mentale ein Produkt des Gehirns ist und dass die von Popper vorgeschlagene Interaktion zwischen Welt 3 und Welt 1 zwar unter der Vermittlung von Welt 2 stattfindet, dass aber Welt 2 keine eigentliche eigenständige kausale Rolle in dieser Interaktion spielt. Auch wenn Popper von der „ Interaktion “ zwischen Welt 1 und Welt 2 spricht (ebd., z. B. S. 155), könnte man versuchen, diese nur als Bottom-up- und nicht zugleich auch als Top-down-Kausalität zu verstehen, obschon Formulierungen wie „ all our actions in the first world are influenced by our second-world grasp of the third world “ (ebd., S. 149) praktisch nur noch die zweite Interpretation zulassen. In dieser Hinsicht ist The Self and Its Brain eine Klärung oder vielleicht auch eine Weiterführung von Poppers Position in Objective Knowledge. Denn erst in diesem Werk macht er endgültig klar, dass er, wie es der Titel vermuten lässt, den Geist des Menschen als eine ontologisch eigenständige und kausal wirksame Entität betrachtet. Im Abschnitt „ Self-Identity: The Self and Its Brain “ hält Popper unmissverständlich dafür, dass das Selbst des Menschen der Besitzer des Gehirns ist und nicht umgekehrt: I have called this section „ The Self and Its Brain “ , because I intend here to suggest that the brain is owned by the self, rather than the other way round. The self is almost always active. The activity of selves is, I suggest, the only genuine activity we know. The active, psycho-physical self is the active programmer to the brain (which is the computer), it is the executant whose instrument is the brain. The mind is, as Plato said, the pilot. It is not, as David Hume and William James suggested, the sum total, or the bundle, or the stream of its experiences: this suggests passivity [. . .]. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 869 I suggest that these considerations show that the self is not a „ pure ego “ [. . .]; that is, a mere subject. Rather, it is incredibly rich. Like a pilot, it observes and takes action at the same time. It is acting and suffering, recalling the past and planning and programming the future; expecting and disposing. It contains, in quick succession, or all at once, wishes, plans, hopes, decisions to act, and a vivid consciousness of being an acting self, a centre of action. And it owes the selfhood largely to interaction with other persons, other selves, and with World 3. And all this closely interacts with the tremendous „ activity “ going on in its brain. (Popper und Eccles 1979, S. 120) Es handelt sich hier offensichtlich um eine Form des Substanzdualismus, oder vielleicht sogar - wenn ich zu einem Neologismus greifen darf - um einen Substanztertialismus (wenn die Welt 3 über eigene, von der Substantialität der Welt 2 abweichende „ Substantialität “ verfügt), in welchem dem Selbst eine eigenständige, dem Leib eindeutig übergeordnete Existenz zukommt. Diese Position birgt die seit Descartes bekannten Schwierigkeiten, allen voran die der Erklärung, wie die beiden radikal voneinander verschiedene Substanzen überhaupt miteinander interagieren können. An einer späteren Stelle des Buches gibt Eccles eine Antwort auf diese Frage. Er erwägt, dass sich im Gehirn Gruppen von Neuronen befinden, derer Aktivität vom bewussten Selbst überwacht ( „ scan “ ) werden könne (Popper und Eccles 1979, S. 366 - 368). Wir werden auf dieses schwierige Thema hier nicht weiter eingehen. Ich möchte allerdings noch darauf hinweisen, dass Eccles Poppers Ansichten unterstützt. Auch für ihn ist das Selbst eine unabhängige Entität, welche die Aktivitäten des Gehirns überwacht und steuert und nicht durch sie hervorgebracht wird: Briefly, the hypothesis is that the self-conscious mind is an independent entity [. . .] that is actively engaged in reading out from the multitude of active centres in the modules of the liaison areas of the dominant cerebral hemisphere. The selfconscious mind selects from these centres in accord with its attention and its interests and integrates its selection to give the unity of conscious experience from moment to moment. It also acts back on the neural centres. [. . .] Thus it is proposed that the self-conscious mind exercises a superior interpretative and controlling role upon the neural events by virtue of a two-way interaction across the interface between World 1 and World 2. It is proposed that the unity of conscious experience comes not from an ultimate synthesis in the neural machinery but in the integrating action of the self-conscious mind and what it reads out from the immense diversity of neural activities in the liaison brain [. . .]. (Ebd., S. 355f.) Den Schluss des Buches bildet die Wiedergabe von 12 Dialogen zwischen den Autoren über die Themen des Werkes. Im 10. Dialog behauptet Popper gegen Eccles, dass nicht alle Objekte der Welt 3 in den Gehirnstrukturen abgebildet werden: „ The whole of World 3 is nowhere; it is only certain individual World 3 objects which are sometimes incarnated and thus localizable “ (ebd., S. 537f.). Popper lässt auch die Möglichkeit einer Interaktion zwischen Welt 2 870 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft und Welt 3 zu, an der Welt 1 (oder konkreter nur ein kleiner Ausschnitt aus ihr, und zwar das Gehirn) nicht beteiligt ist: It is perfectly true that in many of the interactions between World 2 and World 3, the brain is involved, and with it, World 1. But, especially in many creative acts involving World 2 and World 3, I think that World 1 is not necessarily involved [. . .]. By „ creative acts “ I mean such things as the discovery of new problems or the discovery of new solutions to our problems. (Ebd., S. 537f.) Im selben Dialog stellt er schließlich fest, dass die einzigen im eigentlichen Sinne aktiven Entitäten im Universum die Selbste seien. Weil die Tiere offensichtlich in einem dem Menschen ähnlichen Sinne aktiv sind, müsse man auch ihnen ein Selbst, obschon nicht zwingend ein selbstbewusstes Selbst, zuschreiben: Indeed, I want to conjecture that selves are the only active agents in the universe: the only agents to whom the term activity can properly be applied. [. . .] But since animals are active, they must have something like selves - they must be conscious, although not reflectively conscious of the fact they have selves. (Ebd., S. 538) Wo die Materialisten gerne von der Aktivität der Materie sprechen (erinnert sei an Büchners „ keine Kraft ohne Stoff - kein Stoff ohne Kraft “ ), schreibt sie Popper dem bewussten Selbst zu. Die Rezensionen zu seinem Werk waren denn auch eher verhalten (Zangwill 1978, und Mandler 1978). Während das Urteil von Nature noch recht positiv ausfiel, war der Ton des Science- Rezensenten durchaus beißend: Die Autoren griffen in ihrer metaphysischen Verzweiflung zu alten, abgestandenen und unbrauchbaren Rezepten, um einen Ausweg aus den zugegebenermaßen ernsten Schwierigkeiten des wissenschaftlichen Paradigmas zu finden. Once we know that the „ body “ and the „ mind “ are constructed human products, we can reject both Descartes's artificial dualism and the Popper-Eccles vague, backward-looking nostalgia for the human soul. Read the book and find what fascinating problems are still left, but remember that many of them are well on their way to some temporary solutions. (Mandler 1978, S. 1041) Man kann diesen Einwänden noch einen weiteren hinzufügen: Es ist schwer einzusehen, wie man die Objekte der Popper ’ schen Welt 3 ausschließlich als Produkte des „ menschlichen Geistes “ betrachten kann, wenn man berücksichtigt, dass der Mensch der Kreativität fähig ist. Denn nimmt man an, dass eine neuartige Idee ein objektives Sein hat, nachdem sie zum ersten Mal gedacht wurde, muss man sich die Frage stellen, wo sie davor war. Eine Idee ist ja nicht nur raumlos und deshalb, wie Popper zu Recht sagt, „ nirgends “ , sondern sie ist auch zeitlos (vgl. Majorek 2002, S. 340 - 342), und deshalb scheint es unsinnig zu behaupten, dass sie erst dann, wenn sie zum ersten Mal gedacht wird, anfängt zu existieren. Aber hier ist nicht der Ort, solche Einwände zu diskutieren. Denn ich habe Poppers und Eccles ’ Werk nur als ein weiteres Beispiel eines nichtmateria- 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 871 listischen Ansatzes vorstellen wollen. Ergänzend kann noch gesagt werden, dass Eccles zeit seines Lebens ein frommer Theist und zeitweise sogar ein praktizierender Katholik war. Er war zutiefst davon überzeugt, dass „ there is a Divine Providence operating over and above the materialistic happenings of biological evolution “ . 79 Poppers diesbezügliche Überzeugungen sind schwieriger zu eruieren. Einiges deutet jedoch darauf hin, dass auch er dem Glauben an einen persönlichen Gott zumindest nahestand. In einem Interview, das erst nach seinem Tode veröffentlicht wurde, sagte Popper: I don ’ t know whether God exists or not. [. . .] Some forms of atheism are arrogant and ignorant and should be rejected, but agnosticism - to admit that we don ’ t know and to search - is all right. [. . .] When I look at what I call the gift of life, I feel a gratitude which is in tune with some religious ideas of God. However, the moment I even speak of it, I am embarrassed that I may do something wrong to God in talking about God. (Zitiert in Zerin 1998) 80 Zehn Jahre nach dem Erscheinen von The Self and Its Brain verschärfte Eccles seine Thesen mit Evolution of the Brain: Creation of the Self. In der Einführung heißt es, er wolle die Ansicht verteidigen, dass der Kern des menschlichen „ Geistes “ die von Gott erschaffene Seele sei: This book has concentrated on the evolution of the human brain with the coming to be of consciousness and self-consciousness. It is recognized that there can be no physicalist explanation of this mysterious emergence of consciousness and selfconsciousness in a hitherto mindless world. They philosophical consideration of this problem in Chapters 8, 9, and 10 leads in Chapter 10 to a religious concept of the coming-to-be of the self-consciousness that each of us experiences. It is proposed that at the core of our mental world, the World 2 of Popper [. . .], there is a divinely created soul. (Eccles 1991, S. xiii) Und am Ende des 10. Kapitels formuliert er seine Ablehnung des wissenschaftlichen Materialismus in einer Form, die an der Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: Since materialist solutions fail to account for our experienced uniqueness, I am constrained to attribute the uniqueness of the Self or Soul to a supernatural spiritual creation. To give the explanation in theological terms: each Soul is a new Divine creation which is implanted in the growing foetus at some time between 79 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ John_Eccles (heruntergeladen am 1. 4. 2013). 80 Popper sprach in The Self and Its Brainwar von einem „ promissory materialism “ (Popper und Eccles 1979, S. 96 - 98), eine Formulierung, die später berühmt wurde. Er meinte damit einen Materialismus, der zwar konzediert, dass die materialistischen Erklärungen z. B. des Bewusstseins gegenwärtig unvollständig sind, der aber zugleich darauf verweist, dass dieses Ungenügen mit dem Fortschritt der Wissenschaft überwunden wird: „ [I]t seems that the new promissory materialism accepts that, at the present time, materialism is not tenable. But it offers us the promise of a better world, a world in which mental terms will have disappeared from our language, and in which materialism will be victorious “ (ebd., S. 97). Popper meinte, dass dieses Versprechen bzw. diese Prophetie grundsätzlich haltlos sei. 872 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft conception and birth. It is the certainty of the inner core of unique individuality [. . .] that necessitates the ‘ Divine creation ’ . I submit that no other explanation is tenable; neither the genetic uniqueness with its fantastically impossible lottery, nor the environmental differentiations which do not determine one ’ s uniqueness, but merely modify it. This conclusion is of inestimable theological significance. It strongly reinforces our belief in the human Soul and in its miraculous origin in a Divine creation. There is recognition not only of the Transcendent God, the creator of the Cosmos, the God in which Einstein believed, but also of the loving God to whom we owe our being. (Ebd., S. 237) Würdigung So positiv ich dem Grundanliegen von Popper und Eccles gegenüberstehe, so sehr muss ich doch zwei Vorbehalte zum Ausdruck bringen. Zum einen geht Eccles ’ Erklärung der Entstehung des Bewusstseins und des menschlichen Selbstbewusstseins nicht über das Schema „ God did it and his ways are mysterious “ hinaus. Eccles ’ Erklärung ist im Grunde keine, sondern ein Eingeständnis des Unvermögens, eine Erklärung zu finden. Zum anderen gibt uns Eccles keine Gründe für seine Überzeugung, dass die Seele bzw. das Selbst des Menschen mit der Empfängnis erschaffen wird. Diese Sicht führt zu offensichtlichen Schwierigkeiten im Hinblick auf die künstliche Befruchtung und Konservierung befruchteter Zellen. Eccles war hier nicht radikal genug. Die Möglichkeit, dass die Seele schon lange vor der Zeugung (bzw. Befruchtung) existiert, zieht er nicht in Erwägung. Alister Hardy: The Spiritual Nature of Man Im selben Jahr wie das Buch von Popper und Eccles ist ein weiteres wichtiges Werk erschienen, das mit dem materialistischen Dogma der Wissenschaft bricht: The Spiritual Nature of Man von Alister Hardy, dem wir in diesem Kapitel bereits begegnet sind (Hardy 1984). Wie wir oben gesehen haben, berichten die Biographen von Alister Hardy, dass er seit seiner Kindheit Interesse an „ geistigen Erscheinungen “ hatte. Sie berichten aber nichts über die Gründe für dieses für einen Wissenschaftler ungewöhnliche Interesse. In einer Art Vorwort zu The Spiritual Nature of Man legt Hardy diese Gründe offen. Er schreibt, dass er während seiner frühen Kindheit einige Mal intensiv fühlte, dass eine Macht für und um ihn herum wirke, in die er ein völliges Vertrauen haben könne. Er war noch zu jung, als dass er sie als göttliche Interventionen interpretieren hätte können (Hardy 1984, S. 1). Hardy beschreibt eine solche Erfahrung: One day as I was walking along Marylebone Road [in London] I was suddenly seized with an extraordinary sense of great joy and exaltation, as though a marvellous beam of spiritual power had shot through me linking me in rapture with the world, the Universe, Life with a capital L, and all the beings around me. All delight and power, all things living, all time fused in a brief second. (Ebd.) 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 873 Hardy war der Überzeugung, dass solche spirituellen Erfahrungen Manifestationen einer Wirklichkeit seien, stellte aber mit wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit fest, dass es nicht möglich sei, objektiv zu beweisen, dass sie nicht etwa nur aus dem Unterbewussten stammen. Er meint aber, dass man das Problem „ im Lichte der Erfahrung “ betrachten könne (ebd., S. 3). Hardy schreibt weiter, dass er immer der Überzeugung war, dass der Mensch von Natur aus religiös sei, dass aber die Sehnsucht des modernen Menschen nach einer „ spirituellen Philosophie “ frustriert worden sei, was ihn rastlos und unsicher mache (ebd.). Er weist ferner darauf hin, dass sich in der jüngsten Zeit eine Vorstellung der Wissenschaft entwickelt hat, die „ höchst schädlich “ für den Geist der Wissenschaft sei und den Seelenfrieden des Menschen störe, und zwar die Vorstellung, dass alles, was wirklich sei, letztendlich in der Begrifflichkeit der Physik und Chemie erklärt werden könne (ebd., S. 8). Hardy teilt diese Überzeugung nicht, und spricht von einer „ unbewiesenen Hypothese “ (unproven hypothesis), sogar vom Dogma des Materialismus (ebd., S. 9). Er stellt dann fest: On account of this mechanistic dogma an increasing number of people today regard the idea of spiritual or transcendental side of the universe as a pleasant illusion, as a myth remaining from a pre-scientific age which civilization must grow out of. (Ebd.) Gerade in Anbetracht dieses intellektuellen Klimas ist es seiner Ansicht nach von entscheidender Bedeutung, religiöse Phänomene wissenschaftlich zu untersuchen, denn sonst drohe, dass die Religion verschwindet, und es sei nicht auszuschließen, dass unsere Zivilisation diesen Verlustnicht überlebt: The bringing of the elements of religion into the realm of scientific thought may prove to be a vital issue: unless this can be done, religion as a moral force may disappear, and we cannot be sure that our civilization will survive without it. (Ebd., S. 8) Aufgrund solcher Überlegungen entstand bei Hardy die Idee, ein Zentrum zur Erforschung der religiösen Erfahrungen zu gründen, und aufgrund seines wissenschaftlichen Prestige erhielt er auch die nötige finanzielle und logistische Unterstützung. Diese Religious Experience Research Unit solle zur Erweiterung des akademischen Wissens und zum besseren Verständnis der spirituellen Natur des Menschen beitragen (ebd., S. 140), denn die heutige materialistische Gesellschaft brauche dringend eine spirituelle Philosophie (ebd., S. 44). Hardy sieht die Zukunft in der Ausbreitung eines „ experimentellen Glaubens “ (ebd., S. 139). Er versteht darunter keinen Glauben, der auf Experimenten basiert, sondern einen Glauben, der sich statt auf Autorität auf persönliche Erfahrung stützt ( „ experimental “ bedeutet laut Concise Oxford Dictionary: „ Based on experience, not on authority or conjecture “ ). Die Methode, die in dem 1969 gegründeten Forschungszentrum zur Datensammlung angewendet wurde, war denkbar einfach: Man gab in der britischen Tagespresse Inserate auf und verteilte Flugblätter, in denen um Zusendung von Berichten über persönliche Erlebnisse gebeten wurde 874 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft (ebd., S. 17ff.). In der zweiten Phase wurden Fragebogen an die ausgewählten Auskunftspersonen versandt, um gewisse Aspekte ihres Berichtes genauer beurteilen zu können (ebd., S. 21f.). Die Reaktion auf diese Appelle war durchaus positiv. In den ersten acht Jahren erhielt es 4000 Berichte (ebd., S. 1), einige kurz, auf einer Postkarte geschrieben, einige zwanzig maschinengeschriebene Seiten lang (ebd., S. 24). Hardy betont, dass sich die Auskunftspersonen aus allen Schichten der englischen Gesellschaft rekrutierten: von einfachen Hausfrauen und Handwerkern über Doktoranden (ebd., S. 147ff.) bis zu Geistlichen (ebd., S. 48) und Universitätsprofessoren (ebd., S. 83). Nur die ersten 3000 Berichte bilden die Grundlage des Buches (ebd., S. 25). 81 Die Auswertung der Berichte war viel komplizierter, als Hardy es sich vorgestellt hatte. Ein einfaches hierarchisches System nach dem Muster der biologischen Klassifikationen erwies sich bald als unmöglich (ebd., S. 23). Die Zahl der ursprünglich vorgestellten Klassen wuchs immer weiter und sie erwiesen sich als voneinander unabhängig. Bald zeigte sich auch, dass nur wenige Berichte lediglich zu einer Kategorie gehörten (ebd.). Es ergaben sich schließlich zwölf Hauptkategorien, wobei die meisten noch zahlreiche Unterabteilungen aufwiesen (insgesamt waren es 92; ebd., S. 23f.). Diese zwölf sind: 1. sensorische oder quasisensorische Erfahrungen: visuell; 2. sensorische oder quasisensorische Erfahrungen: auditiv; 3. sensorische oder quasisensorische Erfahrungen: Tasterfahrungen; 4. sensorische oder quasisensorische Erfahrungen: Gerucherfahrungen; 5. vermutete übersinnliche Wahrnehmungen; 6. Verhaltensveränderungen: gesteigerte oder „ übermenschliche “ Kräfte; 7. kognitive und affektive Elemente; 8. Entwicklung der Erfahrung mit der Zeit; 9. dynamische Muster in der Erfahrung; 10. Traumerfahrungen; 11. Vorläufer oder Auslöser der Erfahrung; 12. Folgen der Erfahrung (ebd., S. 24 - 29). Man bekommt eine Ahnung vom Charakter der Berichte, wenn man auf die Unterkategorien dieser Klassen eingeht. Unter 1. wurden folgende Klassen von Phänomenen eingeordnet: Visionen; Einbzw. Erleuchtungen (Illuminations); besonderes Licht; Gefühl der Einheit mit der Umwelt und/ oder mit anderen Menschen; außerkörperliche Erfahrungen ( „ Out-of-thebody “ ); ‚ Déjà-vu-Erfahrungen; Verwandlungen der Umgebung (Ebd., S. 26). Unter 2.: „ Stimmen “ beruhigend; „ Stimmen “ führend; Gefühl, jemand spricht durch einen, Gabe der Zungen; Musik oder andere akustische Wahrnehmungen (ebd.). Unter 3: Heilen; Trösten; Gefühle der Wärme usw.; Gefühl, geschlagen oder gestoßen zu werden u. a.; geführt werden (ebd.) Unter 5.: Telepathie; Vorherwissen (precognition); Hellsehen; behaupteter Kontakt mit den Verstorbenen; Geistererscheinungen (ebd.). Unter 6.: Trösten, Führen; Heilen; Exorzismus; Heroismus (ebd.) Kategorie 7. wurde in 22 Unterkategorien unterteilt (ebd., S. 26f.), z. B.: (a) Gefühl der Sicherheit, Geborgenheit, 81 Die Gründe für diese Begrenzung werden im Buch nicht erklärt. Es ist aber zu vermuten, dass die letzten Berichte das Forschungszentrum zu spät erreicht haben, um für die Publikation ausgewertet zu werden. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 875 des Schutzes, des Friedens; (b) Gefühl der Freude, des Glücks, des Wohlbefindens (well-being); (c) Gefühl einer neuen Kraft; (d) Gefühl, geführt zu werden, der Berufung, der Inspiration; (e) Ehrfurcht, Verehrung, Wunder; (i) Gefühl der Harmonie, Ordnung, Einheit; (j) Gefühl der Zeitlosigkeit; (k) Gefühl der Liebe, Zuwendung; (m) Gefühl der Vergebung, der Erneuerung; (v) Gefühl einer (nicht menschlichen) Präsenz. Ich werde auf die verbleibenden Unterkategorien nicht eingehen. Hardys Buch besteht zum größten Teil aus Beispielen zu den aufgelisteten Kategorien. Ich möchte hier, um ihren Charakter zumindest ein wenig zu konkretisieren, ein paar von ihnen im Wortlaut zitieren. When I was about 8 years old we were living in the country. At the foot of our garden was a very old large pear tree, which at the time was crammed with white blossom and at its summit a blackbird was singing, while beyond the tree a meadow sloped up to a marvellous sunrise. As I looked at this someone or something said to me: ‘ That is beautiful ’ , and immediately the whole scene lit up as though a bright light had been turned on, irradiating everything. The meadow was a more vivid green, the pear tree glowed and the blackbird ’ s song was more loud and sweet. A curious thrill ran down my spine. (Ebd., S. 39) About 20 odd years ago I was rather poorly and one evening felt so ill that I decided to go to bed. While in my room preparing I suddenly felt all round me a beautiful warm Presence so comforting that I said out loud ‘ Well Father if I have to be ill to feel you like that - I will be ill. ’ Then the room filled with triumphant music - so beautiful it conveyed to me that I had chosen aright and that there was rejoicing - then across the room came in large letters of gold LOVE. It all faded leaving a sense of wonderful peace. The most important part is that ever since than I have a sense of Peace - sometimes more, sometimes less, but I feel cared for and led. To pray is easy; I relax into the Presence (as I call it) and tell my problems or make requests and leave them there - the answer comes by events or leadings - petty jealousies and hurt feelings disappear - my little self is less important. Love and service is a joy. (Ebd., S. 41) My daughter Joan was killed by car when she was 7 years old. She and I were very close and I was grief-stricken. She was lying in her coffin in her bedroom. I fell on my knees by the bedside. Suddenly I felt as if something a bit behind me was so overcome with pity that it was consolidating itself. Then I felt a touch on my shoulder lasting only an instant, and I knew there was another world. (Ebd., S. 42) 82 All at once I felt someone near me, a Presence entered this little room, of which I became immediately conscious. Dazed, I knelt by the nearest chair and here is the physical phenomenon that has recurred many times since. Into my heart there came a great warmth. The only way I can describe it is in the words of the disciples on their way to Emmaus: ‘ Our hearts burned within us ’ . (Ebd.) Hier noch ein Bericht, der sich im Anhang II befindet, der Auskünfte von Doktoranden beinhaltet, die 1972 in einem Pilotprojekt von David Hay gesammelt wurden. 82 Es ist wichtig zu erwähnen, dass dieser Bericht von dem Vater, nicht der Mutter des verstorbenen Mädchens stammt. 876 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft A week after I met ____, we were sitting looking at each other ’ s eyes in a bedroom and there began to be a beam passing between our eyes and also a third eye in the middle of our foreheads. This lasted for about two hours and we didn ’ t say a word to each other. Towards the end of the two hours, and also it came and went in waves, and we began to know that we had known each other in a previous life. Because we had known each other, we knew each other. (Ebd., S. 151) Schließlich zwei beeindruckende Berichte aus der Kategorie 5, Telepathie; Vorherwissen (precognition); Hellsehen: In 1952 when out at work on a polio patient - my mind entirely taken up with work in hand - suddenly my mind seemed to go blank and I then saw ‘ in my mind ’ my son lying in a road run over - it was quite impossible to remove this from my mind and so I excused myself, went out to my husband who was waiting to drive me home, via his office. I insisted on going directly, very quickly, my husband being very annoyed about realising that something was really upsetting me - we arrived home in 25 minutes, but on arrival I said ‘ No, not here, take me to the market place ’ . As we drew up the school bus drove into the market place and my young son (who was standing by the door) opened the door and fell out of the bus, it hitting him and he lay exactly as I had seen him. How did I see something before it happened? My husband was speechless and will verify that this happened as I have said here. (Ebd., S. 46) I was a young married woman with a 6 month old baby daughter. My husband and I got an evening off to see a film at K___ about 6 miles away. One of the hotel staff had volunteered to baby sit and we set off. . . We had not been long seated in the cinema when a terrible uneasiness overcame me. I could distinctly smell burning. I fidgeted a lot and my husband asked what was the matter. I told him I could smell burning. He said I ’ d probably dropped a bit of my cigarette. I stooped and had a look on the carpet but no sign of any glow. The smell persisted and eventually I told my husband I was leaving. He followed me reluctantly, muttering something derogatory about women. As we boarded the bus for home I prayed for it to go faster; at each stop I almost died. At last we were sprinting down the lane leading to the cottage. The smell of burning was now very definite to me though my husband could not smell a thing. We reached the door which I literally burst in. As I did so the dense smoke poured out and a chair by the fire burst into flames. I rushed through to the bedroom and got the baby out while my husband dragged out the unconscious girl. She had fallen asleep in the armchair and dropped her lighted cigarette into the chair which had smouldered for hours. Yes, God sent me home to save my baby. God was with me telling me to hurry home; of that I am convinced and also my husband. (Ebd., S. 46 83 ) 84 83 Diese Erfahrungen erinnern an die „ supernatural rescues “ , von welchen einige von Moodys Auskunftspersonen berichteten (Moody 1978, S. 23 - 27). 84 Es wäre fast eine Verlogenheit, wenn ich verschweigen würde, dass auch ich zahlreiche Erfahrungen dieser Art hatte: Erfahrungen eines strahlenden Lichts, das das ganze Zimmer erfüllt, des Geruchs von Veilchen oder anderer Blumen, der nach einer intensiven Meditation das Zimmer durchsetzt, das Gefühl, von einer heiligen Präsenz 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 877 Zusammenfassend schreibt Hardy, dass die drei Elemente Aberglaube, Wunschdenken, und widersprüchliche theologische Theorien, die viele Intellektuelle von einer Erforschung religiöser Phänomene abgehalten hätten, in den gesammelten Berichten praktisch nicht vorhanden waren. Hardy betont auch, dass zwar der Gottesdienstbesuch für einige Auskunftspersonen eine tiefe Bedeutung habe, die institutionelle Religion aber in den meisten Berichten eine sehr untergeordnete Rolle spiele (ebd., S. 131f.). Zentral in ihnen ist vielmehr die Transzendenzerfahrung: das Gefühl, dass es eine andere Wirklichkeit gebe, welche außerhalb des bewussten Selbst zu existieren scheint und mit welcher die Auskunftsperson in einer alltäglichen Weise kommunizieren kann. Ein weiterer wichtiger gemeinsamer Nenner dieser Berichte ist, dass die religiösen Erlebnisse für die Auskunftspersonen eine entscheidende und dauerhafte Bedeutung in ihrem Leben hatten (ebd., S. 132). 85 Würdigung Die von Hardy und seinen Mitarbeitern gesammelten Berichte zeigen, dass die Erfahrung verschiedener Formen oder Aspekte der geistigen Wirklichkeit und ihrer Wirksamkeit unter ganz gewöhnlichen modernen Menschen recht verbreitet ist. Es besteht m. E. kein Grund, an der Aufrichtigkeit dieser Zeugnisse zu zweifeln. Die Befragten haben keinen finanziellen Gewinn davon, dass ihre Berichte veröffentlicht wurden. Sie konnten nicht einmal auf Berühmtheit hoffen: die Berichte wurden im Buch (selbstverständlich) anonym präsentiert. Anstatt also zu vermuten, dass es sich hier um erlogene Geschichten handle, ist vielmehr davon auszugehen, dass die „ Dunkelziffer “ solcher Erfahrungen in der Population sehr hoch ist, dass also viel mehr Menschen derartige Erlebnisse haben, ohne jemandem darüber zu berichten. Wenn man zu den von Hardys Forschungszentrum gesammelten Berichten auch die Nahtoderfahrungen als Begegnungen mit der übersinnlichen Wirklichkeit hinzuzählt (wir haben gesehen, dass Tart meint, dass bereits Millionen von Menschen solche Erlebnisse gehabt haben), so muss man schließen, dass heute sehr viele Menschen diese Wirklichkeit aus eigener Erfahrung kennen. Dennoch geriet Hardys wegweisendes Buch in Vergessenheit und wird heute m. W. kaum erwähnt. Wieso eigentlich? Wieso werden echte und durchaus wichtige menschliche Erlebnisse im heutigen wissenschaftlichen Diskurs ignoriert? Die Naturwissenschaft rühmt sich, ein empirisches Unternehmen zu sein: Sie gründe ihre Behauptungen auf Empirie, auf der Erfahrung also. Ist es dann berechtigt, gewisse Erfahrungen „ ohne Angabe von Gründen “ aus der wissenschaftlichen Untersuchung auszuschließen? sanft berührt zu werden, durch unsichtbare Helfer jeden Tag über mehrere Jahre unterstützt zu werden, das Gefühl, geführt zu werden usw. 85 Was selbstverständlich an eine der wichtigsten Eigenschaften der Nahtoderfahrungen erinnert (s. oben, Raymond Moody: Life after Life. Reflections on Life after Life). 878 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Soll man nicht vielmehr vermuten, dass der Ausschluss solcher Erfahrungen zwingend zu einer wissenschaftlichen Einseitigkeit führen muss? Dass die Wissenschaft, welche sie ignoriert, nie vollständige Erklärung vollständiger Wirklichkeit wird liefern können? Hillerdal und Gustafsson: Sie erlebten Christus 1973 wurde in Stockholm ein schmales, ca. 115 Seiten umfassendes Buch veröffentlicht, das erst 1979 unter dem Titel Sie erlebten Christus. Berichte aus einer Untersuchung des Religionssoziologischen Instituts Stockholm durch G. Hillerdal und B. Gustafsson übersetzt wurde und in einem wenig bekannten Verlag (Die Pforte, Basel) erschien. 86 Das Buch versammelt wie Hardys The Spiritual Nature of Man Berichte über religiöse Erfahrungen, allerdings mit dem Unterschied, dass die Erlebnisse von den Auskunftspersonen als Begegnungen mit Christus empfunden werden. Zur Entstehungsgeschichte bemerkt Hillerdal, er habe 1972 in seinem Buch „ Wer bist du, Jesus? “ geäußert, dass man heute eigentlich nicht wisse, wie Jesus von Nazareth aussah. Daraufhin meldeten sich Leser, die meinten, Jesus mit eigenen Augen gesehen zu haben (Hillerdal 1979, S. 16). Diese Hinweise ließen bei ihm die Frage entstehen, ob es sich bei diesen Visionen um ein verbreitetes Phänomen handelt. Auf eine Annonce hin erhielten die beiden Autoren innerhalb eines Jahres über 100 Dokumente (ebd., S. 17), praktisch ausschließlich aus Schweden, in denen sich Menschen aus allen Sozialschichten äußerten (ebd., S. 18). Hillerdal betont, dass das Buch ein wissenschaftlich-religionspsychologisches und damit ein aufklärerisches Ziel verfolgt. Die Auskunftspersonen hätten sich oft gescheut, sich mitzuteilen, „ weil das waltende Kulturklima so gewesen ist, dass sie nicht riskieren wollten, beim Erzählen als Sonderlinge betrachtet zu werden (ebd., S. 19). Hillerdal äußert die Überzeugung, dass die Widerlegung einer solchen Auffassung wichtig „ für die Förderung der Wahrheit “ sei und auch dem Leben der Kirche zuträglich sei (ebd.). Berichte Das Buch von Hillerdal und Gustafsson ist viel weniger differenziert als Hardys Werk. Es umfasst ca. 100 Berichte, Hardys 3000. Hillerdal und Gustafsson gliedern ihr Material lediglich in ein paar Kapitel, deren Titel den Charakter der in ihnen aufgelisteten Berichte wiedergibt: Der Herr ist nahe denen, die demütigen Geistes sind; Dies ist mein Leib! ; Christus erscheint bei der Abendmahlsfeier; War es Christus, der mich meine Kunst lehrte? [Berichte von Künstlern über ihre Christusbegegnungen]; Das Gesicht und die Gestalt. Ich werde im Folgenden wieder ein paar Erzählungen von diesen persönlichen Begegnungen mit Christus wortwörtlich und kommen- 86 Da dieses Buch erst 1979 einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, erwähne ich es erst an dieser Stelle meines Überblicks. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 879 tarlos zitieren, um dann erst im zweiten Schritt einige zusammenfassende Bemerkungen zu machen. Eine Frau, die, wie sie schreibt, zur Zeit ihrer Erfahrung keinen Glauben an Gott hatte, erzählt: Es war in den Tagen nach der Ermordung von John Kennedy. Mir war es, als ob alle Hoffnung für die Zukunft verloren gegangen wäre. Nicht in Bezug auf mich persönlich, sondern hinsichtlich der Möglichkeit für die Welt, für die Menschheit. [. . .] Am Samstag in der Woche nach der Ermordung ging ich zum ersten Mal in meinem Leben zu einem Abendgottesdienst. [. . .] In seiner Predigt erwähnte der Pfarrer mit wenigen Worten gerade das, was mich so sehr bewegte. Aber gerade dann überfiel mich eine Trauer, so dass ich gar nicht sagen kann, wie sehr es mich ergriff. Die Tränen strömten mir aus den Augen. [An diese Stelle bemerkt die Frau, dass sie früher nie öffentlich geweint habe, außer bei Begräbnissen von sehr nahestehenden und lieben Menschen.] Und in diesem Augenblick geschah dieses Eigentümliche, Unfassbare, aber Wundervolle. Plötzlich - und ich versichere, ganz und gar außerhalb aller Erwartungen oder Hoffnungen - empfand ich genau, dass Jemand neben mir stand. Jemand, der Trost und Kraft ausstrahlte. Und ich „ hörte “ , aber ohne Laute [. . .] ebenso klar und deutlich, als ob jemand buchstäblich zu mir gesprochen hätte: „ Verzweifle nicht. Du bist nicht allein. Ich lebe. “ (Hillerdal und Gustafsson 1979, S. 21f.) Eine andere Frau erzählt von einem Erlebnis, das sie mit ungefähr 16 Jahren hatte. Eines Abends erschien ihr wie von einer Wolke umgeben Jesu Angesicht. Sie sah nicht die ganze Gestalt, sondern nur das Gesicht und die Schultern. Die Frau schreibt: Er sah mich an. In seinem Blick lag nichts anderes als Verurteilung. Niemals hatte ich gedacht, dass ich sündig sei. Ich war ja in die Sonntagsschule gegangen und hatte gelernt, dass alle Menschen Sünder seien und Jesus die Schuld von uns allen auf sich genommen habe. Andererseits hatte ich ja nicht absichtlich gesündigt, ich wusste von nichts besonders Tadelswertem, weswegen ich Schuldgefühl oder Reue hätte fühlen müssen. Sein Blick bewirkte, dass ich mich mit seinen Augen sah. Nun erkannte ich, ich war nicht nur sündig, sondern ich war durch und durch nichts als Sünde. Als ich meine Sünde sah und mir bewusst wurde, dass mir seine Gnade fehlte, da entdeckte ich, dass die Verurteilung verschwunden war. Seine Augen strahlten jetzt tiefste Liebe, ein unfassbares Meer von Liebe aus. Den Blick werde ich nie vergessen. Als ich dies sah, sprach er: „ Ich habe mein Leben für dich hingegeben. Willst du deines für mich geben? “ (Ebd., S. 60) Im Weiteren erzählt die Frau von einem inneren Kampf: Ich stand auf aus dem Bett und fiel auf die Knie. Ich konnte nicht beten, denn mit meinen eigenen Worten hatte ich das noch nie getan. Im übrigen, was sagt ein Mensch, dem soeben Gott begegnet ist? Ich weinte nur ganz leise, in Worten zu denken war ich nicht fähig. (Ebd., S. 60f.) 880 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Eine Lehrerin, die zur Zeit der Begegnung unter einer schweren seelischen Last litt, erzählt: , was sich in einem recht abgelegenen Schulhaus in einem kleinen Walddorf zutrug: Plötzlich war mir, als hörte ich unten an der Haustür klopfen. Vielleicht hatte jemand aus der Nachbarschaft Mitleid mit mir. Ich ging nach unten, um zu öffnen, aber da war niemand. [. . .] Als ich das Gedicht gesprochen hatte, kam jemand in mein Zimmer. Ich wusste im Augenblick, wer das war, sank am Fensterbrett auf die Knie und wagte nicht, mich umzuwenden und Ihn anzusehen. Von ihm strömten ein Licht und ein Friede aus, der über allem Verstand ist. Ich fühlte deutlich die Berührung Seiner Hand, als Er sich bückte und mir eine Last abnahm - die Bürde, dass ich nicht zu Seinen Werkzeugen tauge. Wie lange ich an dem Fensterbrett auf den Knien lag, weiß ich nicht. (Ebd., S. 68) 87 87 Es wäre wiederum fast unaufrichtig, wenn ich verschweigen würde, dass ich ein ähnliches Erlebnis hatte. Ich wuchs in einer materialistischen Familie in Polen auf, meine Eltern waren engagierte Mitglieder der kommunistischen Partei in Polen (PZPR). Folglich hatte ich keine religiöse Erziehung, besuchte nie einen Gottesdienst und war wie meine Eltern ein überzeugter Materialist. Am Gymnasium bin ich sogar der polnischen kommunistischen Jugendorganisation (ZMS) beigetreten. Dank der Bekanntschaft mit einem Menschen, der eine völlig andere Weltanschauung als meine Eltern vertrat, hatte ich mit 17 Jahren ein Erlebnis, das mich von der Wirklichkeit der geistigen Welt überzeugte. Ich trat aus der ZMS aus und fing an, Bücher über östliche Esoterik zu lesen. 1972, als ich 18 Jahre war, habe ich das Buch des libanesischamerikanischen Philosophen und Dichters Khalil Gibran Jesus, Menschensohn geschenkt bekommen. Es ist eine Wiedergabe seiner Visionen der Begegnungen von Jesus Christus mit seinen Zeitgenossen, Begegnungen, die in den Evangelien nicht festgehalten sind. Eine der ersten Erzählungen in dem Buch ist die Beschreibung der Begegnung zwischen Jesus und Maria Magdalena, die in Gibrans Buch als eine Art reiches jüdisches Callgirl dargestellt wird, „ eine Frau, die von sieben Dämonen besessen “ ist (Gibran 2011, S. 23). Gibran schildert, dass Christus in ihr nicht eine gefallene Frau, sondern ein liebenswürdiges Menschenwesen, eine schöne, reine Seele erblickt. Er sagt zu ihr: „ Du hast viele Liebhaber, Miriam! Aber nur ich liebe dich. Die anderen Männern suchen sich selbst, indem sie dich lieben. Ich liebe dich um deinetwillen. Die anderen sehen in dir eine Schönheit, die schneller vergeht als ihre Jahre. Ich aber sehe in dir eine Schönheit, die niemals welken wird. [. . .] Ich allein liebe, was in dir ist und was man nicht sieht “ (ebd.). Maria Magdalena ist von der Begegnung mit Jesus Christus zutiefst erschüttert und durch sie verwandelt. Sie sagt: „ [A]n diesem Tag tötete der Sonnenaufgang in Seinen Augen den Drachen in mir. Ich wurde eine Frau; ich wurde Miriam, Miriam von Magdala “ (ebd., S. 24). Ich war von dieser Beschreibung zutiefst bewegt. Ich war wie überwältigt von dem Gedanken, dass es ein Wesen gibt, das uns Menschen tiefer und zugleich schöner, erhabener sehen kann, als wir selbst es vermögen. Dieser Gedanke war so stark, dass er mich zu Tränen rührte. In diesem Moment hatte ich den Eindruck, dass ein Wesen an mir vorbeiging. Ich sah dieses Wesen nicht, aber sein Schatten berührte mich leicht. Diese Berührung hatte eine eigentümliche Wirkung: Ich blieb stehen und fiel zugleich innerlich in tiefster Ehrfurcht auf meine Knie. So erhaben war diese Wesenheit, dass meine Seele, wie ohne mein Zutun, auf ihre Gegenwart reagierte. Ich, der nie in meinem bisherigen Leben in einer Kirche vor einem Altar oder einem heiligen Bild knien musste, fühlte, wie ich oder genauer meine Seele zu Boden ging. Von diesem Moment an 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 881 Ein Geschäftsmann, der in Schwierigkeiten geraten war, erhielt von seiner Frau den Rat, zu Jesus zu beten. Abends gegen 19.00 Uhr, er war hellwach, geschah das Folgende: Da sehe ich plötzlich ein Antlitz vor mir, obgleich es ganz dunkel im Zimmer war. Das Gesicht ist etwa fünfzig Zentimeter von mir entfernt, es ist etwa zwanzig Zentimeter hoch. Ich sehe es im Halbprofil. [. . .] Ich sehe alles so deutlich, dass ich die Poren in der Haut sehen kann wie auch die einzelnen Haupt- und Barthaare, obgleich es dunkel im Zimmer ist. Mir wurde keineswegs Angst bei dieser Erscheinung, im Gegenteil, mich überkam ein sehr schönes Gefühl der Geborgenheit. Das Bild glich nicht irgendeinem Traumbild, auch keiner Photographie. Es ist etwas Lebendiges, objektiv, außerhalb meiner selbst. [An dem Gesicht] war nichts Ungewöhnliches, ausgenommen die Augen. Oh, diese Augen, die strahlten von Liebe, wie ein Meer von Liebe. Und diese Liebe war es wohl, die Gott mir zeigen wollte. Seitdem kann ich nicht mehr an Gottes Liebe zu uns Menschenkindern zweifeln [. . .]. (Ebd., S. 63f.) In einem anonymen Bericht heißt es: Ich hatte lange in tiefer Sündennot gelebt. Ich glaubte, dass Gott einem so großen Sünder wir mir nicht vergeben könnte. Die anderen betteten für mich, aber da fühlte ich nichts. Aber eines Tages, etwa später, geschah etwas. Ich dachte bei mir: Wie wäre es, wenn Jesus jetzt hier auf Erden wandelte, und ich könnte ihn auf dem Weg treffen. Was würde er wohl dann zu mir sagen? Da war mir, als nähme mich jemand an der Hand und führte mich schnell wie der Blitz einen langen, langen Weg, bis wir nach Golgatha kamen. Da ließ die Hand mich los, und ich erblickte Jesus am Kreuz. Er wandte sein Haupt, sah mich an und lächelte, und seine Augen strahlten in unaussprechlicher Liebe. Da sah ich ein, dass ich es war, für den er starb, und dass es meine Sünden waren, die er trug. Da fiel meine schwere Sündenlast von mir ab, und ich fühlte mich unsagbar glücklich. Fast eine Woche lang hatte ich dieses Bild vor Augen, aber nach und nach verblasste es, um schließlich zu verschwinden. Aber da war ich ein neuer Mensch. Das Alte war vergangen, alles war neu geworden. Ich kann mit ganzem Herzen einstimmen in das Lied: „ Als er mich errettete, meine Sünde auf sich nahm, war es ein Wunder aus grenzenloser Gnade. “ (Ebd., S. 70f.) Würdigung Bei den Visionen, die in Sie erlebten Christus abgedruckt sind, handelt es sich ganz offensichtlich nicht um sinnliche Wahrnehmungen: Man „ sieht “ z. B. deutlich ein Gesicht in einem dunklen Zimmer. Aus einigen Berichten geht zumal hervor, dass die Erscheinung von Drittpersonen, die sich am gleichen wusste ich zweierlei: das Christus ein reales und immerwährend lebendes Wesen ist und dass ich nicht nur den Leib, sondern auch die Seele habe, die manchmal völlig andere Wege gehen kann als der Leib. Nachdem man solche Erfahrungen gemacht hat, ist es schlicht nicht möglich zu sagen, dass sie eine Illusion, ein Traum sind. Sie sind realer, lebendiger, auch wichtiger als irgendeine Erfahrung des wachen, sinnlichen Lebens. 882 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Ort befinden, nicht wahrgenommen wird (vgl. z. B. den Bericht einer Krankenschwester auf S. 69f.). Soll man sie für Halluzinationen halten? Die Autoren des Buches unterscheiden zwischen Erscheinungen eines gesunden religiösen Lebens, zu welchen sie offensichtlich die in ihrem Buche abgedruckten Berichte zählen, von den „ pathologischen Offenbarungen “ (Hillerdal 1979, S. 18). Sie weisen auf einige charakteristische Merkmale der gesunden religiösen Erlebnisse hin (Hillerdal und Gustafsson 1979, S. 110ff.): Die echte Vision oder Audition wird erstens als kostbar empfunden, sie wird nicht ohne Weiteres auf den Markt getragen. Sie ist zweitens oft einmalig und in jedem Fall nicht alltäglich. Drittens ist sie eine Antwort auf einen langwierigen - in Ausnahmefällen auch kurzen, aber heftigen - geistigen Kampf. Sie hat schließlich einen klaren religiösen Inhalt, der oft einen ethischen Charakter hat. Dies wie auch die Tatsache, dass die Erscheinungen fast ausnahmslos tiefgehende und bleibende positive Folgen hatten, lässt sich, scheint mir, kaum von Halluzinationen sagen. In einem gesonderten Kapitel halten Hillerdal und Gustafsson fest, was die Auskunftspersonen selbst an ihren Erlebnissen wichtig finden. Einige betonen die „ außerordentliche Durchschlagskraft “ der erlebten Vision (Hillerdal und Gustafsson 1979, S. 93, 98); mehrere heben den Wirklichkeitscharakter des Erlebnisses hervor, sie erlebten es als „ etwas Objektives, außerhalb von mir selbst “ (ebd., S. 93); viele weisen darauf hin, dass die Erfahrung ihnen eine dauerhafte religiöse Gewissheit gab (ebd., S. 94, 98), einige sprechen konkret von der Gewissheit, dass Gott existiere (ebd., S. 95) oder wir einen „ Meister “ mitten unter uns hätten (ebd., S. 96). Es ist auffallend, wie viele Auskunftspersonen von den besonderen liebeerfüllten, liebeausströmenden Augen der Gestalt, welcher sie begegnet sind, berichten. 88 Die sich offenbarende Gestalt erleben die Auskunftsper- 88 Einige Beispiele: „ Seine Gestalt war wie eine klare Lichterscheinung mit unendlich scharfen, durchdringendem Blick. Gleichzeitig entströmte seinen Augen eine unendlich große Liebe. Es waren also besonders seine Augen, die mich fesselten und die so unendlich liebevoll waren. Mit Worten kann man das nicht beschreiben, aber unendlich groß erschien mir seine Liebe, als stände man am Meer und sähe nirgends Land, als wollte er mit seinen Armen und Augen sagen: ‚ O wenn doch die ganze Welt zu mir kommen wollte, so würde ich sie alle aufnehmen! ‘“ (ebd., S. 60); „ Doch möchte ich seine Augen erwähnen. So mild und liebevoll, aber gleichzeitig so durchdringend “ (ebd., S. 61); „ An ihm war nichts Ungewöhnliches, ausgenommen die Augen. Oh, diese Augen, die strahlten von Liebe, wie ein Meer von Liebe “ (ebd., S. 64); „ Sein Aussehen kann ich nicht beschreiben, auch wurde es bedeutungslos im Augenblick der wunderbaren Augen, die er hatte. Groß, dunkel und erfüllt von unsäglicher Güte und Liebe “ (ebd., S. 65); „ Eine so schöne Gestalt in blauem Mantel und mit Augen, die ich nie vergessen werde oder will, so gute, strahlende Augen. Keine menschliche Zunge kann sie beschreiben “ (ebd.); „ Ich sah seine Augen - die waren so reich - nicht solchen gleich, die ich vorher gesehen. Seine Augen waren Liebe und Gnade, sie bezeugten Gott. “ (ebd., S. 66) „ Die Augen! So erfüllt von strahlender Liebe. So stark und durchdringend fest war der Blick! Jemand verweilte einen Augenblick schräg vor mir, zwischen meiner 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 883 sonen offensichtlich als außergewöhnlich, unvergleichbar, unbeschreibbar, „ nicht aus dieser Welt “ . Gibt es eine solche Gestalt in der „ anderen Welt “ ? Die Erfahrungen der schwedischen Auskunftspersonen ähneln verblüffend den Nahtoderfahrungen. Wir erinnern uns daran, dass viele von ihnen von einem „ Lichtwesen “ , das Liebe ausstrahlt, sprechen, obschon sie diese Gestalt nicht unbedingt als Christus bezeichnen, sondern abhängig von ihrem religiösen Hintergrund als Moses, Mohammed usw. Oder handelt es sich doch bloß um Illusionen? Diese Möglichkeit lässt sich sicher nicht ausschließen, immerhin waren die Auskunftspersonen zum Zeitpunkt ihrer Erscheinungen oft emotionalisiert und in ihrer Persönlichkeit destabilisiert. Es scheint mir sinnvoll, diese Frage hier offenzulassen und weitere Fakten zu sammeln. George G. Ritchie: Return from Tomorrow Bereits 1978 ist in Amerika ein Buch erschienen, das das Thema der Begegnung mit Christus auf eine ungewöhnliche Höhe treibt: George G. Ritchies Return from Tomorrow (Ritchie with Sherrill 2006). Es behandelt eine Nahtoderfahrung, die der Autor im Alter von ca. 20 Jahren hatte. Mir scheint dieses Motiv gegenüber dem der Christuserscheinung allerdings sekundär, weshalb ich das dünne Buch nach Sie erlebten Christus bespreche. Biographische Notiz George Ritchie (1923 - 2007) machte zunächst eine medizinische Ausbildung, beschloss aber mit vierzig Jahren, eine komfortable Stelle in Richmond (Virginia) aufzugeben, um sich als Psychiater in Charlottesville (ebenfalls Virginia) ausbilden zu lassen. Dort lernte er 1965 Moody kennen. 89 Später wurde Ritchie Chairman of the Department of Psychiatry im Towers Hospital in Charlottesville. Zur Zeit der Abfassung seines Buches Ende der 70er-Jahre war er also ein durchaus respektierter Mediziner, und auch nach der Veröffentlichung des Buches setzte sich seine steile professionelle Karriere fort. 90 Möglicherweise inspirierte ihn der Erfolg von Moodys Life after Life und Reflections on Life After Life, seine eigenen Nahtoderfahrung, die bereits 35 Jahre zurücklag, niederzuschreiben. Freundin und mir. Tränen traten mir in die Augen, ich saß wie scheintot. Aber in meinem Innern pulsierte warmes Leben “ (ebd., S. 69). 89 Moodys Feststellung, dass Ritchie damals „ clinical professor of psychiatry in the School of Medicine ” war, (vgl. oben Life after Life, S. 18), ist sicherlich nicht korrekt. 90 Weshalb es mir berechtigt scheint, ihn als Wissenschaftler (im erweiterten Sinne) zu betrachten. 884 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Return from Tomorrow Ritchie schildert in Return from Tomorrow, wie er in einem Militärausbildungslager in Texas an einer Lungenentzündung erkrankte und sich sein Zustand schnell verschlechterte (Ritchie with Sherrill 2006, S. 34). Als er geröntgt wurde, verlor er das Bewusstsein (ebd., S. 35). In diesem Zustand hatte er folgendes Erlebnis (ebd., S. 38): Er irrte im Krankenhaus umher, verließ das Gebäude und flog in eine ihm unbekannte Gegend, wobei ihm bewusst war, dass ein Mensch so etwas eigentlich nicht vermag (ebd., S. 38). Er sprach verschiedene Menschen an, ohne eine Antwort zu bekommen (ebd., S. 40, 45), fühlte sich fremd und einsam und bekam den überwältigenden Wunsch, zurück im Krankenhaus zu sein (ebd., S. 41), wohin er auch sogleich gelangte. Es konnte allerdings zunächst seinen Körper dort nicht finden. Endlich entdeckte er in einem kleinen Zimmer eine Gestalt, deren Gesicht mit dem Betttuch zugedeckt war: verstorben. Dann erkannte er an einem Ring, dass diese Gestalt er selbst sei (ebd., S. 46). Äußerlich betrachtet, hatte sich Folgendes ereignet: Ritchie wurde unbewusst vom Röntgen ins Isolationszimmer gebracht. 24 Stunden später stellte ein Krankenpfleger dort fest, dass Ritchie nicht atmete und keinen Puls und keinen Blutdruck hatte (ebd., S. 78). Er rief sofort den Bereitschaftsarzt herbei, der den Tod des Patienten feststellte und sein Gesicht mit dem Betttuch zudeckte. Ca. neun Minuten später kam der Krankenpflegehelfer in das Zimmer zurück, um den Leichnam für den Transport in die Leichenhalle vorzubereiten, und meinte zu sehen, wie der „ Verstorbene “ die Hand bewegte. Er eilte wiederum zum Bereitschaftsarzt, der erneut den Tod feststellte (ebd., S. 79). Der Krankenpfleger bat ihn nun darum, Adrenalin in den Herzmuskel zu spritzen (eine Methode, die damals angewandt wurde, um das Herz nach einem Stillstand wieder zum Schlagen zu bringen). Der Arzt willigte ein, Adrenalin wurde gespritzt und das Herz fing an zu schlagen (ebd., S. 80). Allmählich erholte sich Ritchie vollständig. Dr. Donald G. Fancy, der befehlshabende Offizier, bezeichnete die Heilung als „ the most amazing medical case I ever encountered “ , und er schrieb in einer beglaubigten Stellungnahme einige Jahre später: „ Private George G. Ritchie ’ s . . . 91 virtual call from death and return to vigorous health has to be explained in terms of other than natural means “ (zitiert in ebd., S. 81). Ich habe Ritchies Nahtoderfahrung bis jetzt vom Moment des Bewusstseinsverlusts bei der Röntgenaufnahme bis zur Rückkehr zu dem scheinbar toten Leib nacherzählt. Doch sie geht weiter: Ritchie versuchte das Betttuch vom Gesicht des regungslosen Körpers zurückzuziehen, um sich zu vergewissern, dass es tatsächlich seiner war. Alle seine Anstrengungen waren vergebens (ebd., S. 48). Da bemerkte Ritchie ein Licht in seinem Zimmer, das immer stärker wurde, bis es so stark war, dass Ritchie dachte, er müsse 91 Auslassung im Original. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 885 erblinden, wenn er Augen hätte (ebd.). Er erkannte jedoch alsbald, dass das Licht ein Mann war. In diesem Moment formte sich in seinem Geist der Befehl, mit einer Autorität, die seine Gedanken bisher nie hatten: „ Steh auf “ . Er stand auf und wurde von einer vollkommenen inneren Sicherheit überwältigt: „ You are in the presence of the Son of God “ (ebd., S. 49). Ritchie hatte den Eindruck, diese Person sei eine Inkarnation der Macht ( „ was power itself “ ). Zugleich wusste er, dass dieses Wesen ihn mit einer ihm völlig unbekannten bedingungslosen Liebe liebte. In dem Moment, als es in sein Zimmer eintrat, traten auch alle vergangenen Ereignisse seines Lebens ein und wurden wie in einem Panorama sichtbar (ebd., S. 50). Das Lichtwesen stellte Richie die Frage: „ What did you do with your life to show Me? “ (ebd., S. 54, kursiv im Original). Diese Frage verdichtete sich allmählich zu einer anderen: ob er intensiv und unbedingt geliebt habe, wie er selbst von ihm geliebt wird (ebd.). Ritchie rechtfertigte sich, es habe ihm niemand gesagt, dass dies der Sinn des Lebens sei. Worauf prompt die Antwort folgt: „ I told you by the life I lived. I told you by the death I died. And if you keep your eyes on Me, you will see more... “ (ebd., S. 55, kursiv im Original). Ritchie tat, wie ihm das Lichtwesen empfahl, und sie begaben sich auf eine Reise, die sich viel schneller vollzog und viel weiter führte als die erste. Einer der ersten Aufenthalte auf dieser Reise war ein Besuch in einer Kantine (ebd., S. 56). Dort sah Ritchie, wie eine Frau eine andere um eine Zigarette anflehte, als ob die Zigarette für sie das Wichtigste im Leben war. Diese reagierte nicht, zündete aber selbst eine Zigarette an, worauf die Bettlerin mit der Schnelligkeit einer angreifenden Schlange versuchte, die angezündete Zigarette aus dem Mund der Frau zu reißen. Dies gelang ihr aber trotz immer neuer Versuche nicht . . . (ebd., S. 57). Ritchie erkannte allmählich, dass die Frau tot war und daher keinen Zugriff auf die materielle Wirklichkeit hatte. Was ihr allein geblieben war, war das mächtige Verlangen nach Nikotin, eine Begierde, die sie vergeblich zu stillen versuchte. Sie wanderten weiter, von einer Stadt zu einer anderen in den Vereinigten Staaten oder auch in Kanada (ebd., S. 58). Überall sah Ritchie verstorbene Menschen, die Klage führten, weil sie nicht mehr Teil der Erde waren, aber ihr Herz immer noch dort war (ebd.). In einer schäbigen Bar in einem Marinestützpunkt entdeckte er wiederum lebende und verstorbene Menschen. Die Lebenden waren mit einer Lichtaura umgeben, den Toten (auch Ritchie) fehlte sie (ebd.). Die Verstorbenen waren unfähig, den vollen Becher an ihren Mund zu führen. Ein betrunkener Matrose, der bewusstlos wurde, verlor seine Lichtaura, und seine Schultern schienen sich von dem Leib abzulösen. Urplötzlich schlüpfte eine der substanzlosen Figuren, die um Ritchie herumstanden, in den bewusstlosen Mann herein. Wo früher zwei Personen waren, war jetzt nur eine: der an die Wand gestützte bewusstlose Matrose (ebd., S. 60). Ritchie erkannte allmählich, dass die Lichtaura wie eine Schutzschild um die lebenden Menschen wirkte. Sobald sie nicht mehr vorhanden war, konnten die Lebenden Beute der 886 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Verstorbenen werden, die nur in den Seelen der unter dem Einfluss des Alkohols stehenden (lebenden) Menschen ihre Begierde nach Alkohol stillen konnten. Ritchie erkannte, dass ein „ Leben “ in einem Zustand, in dem man eine brennende Begierde empfindet, die man nicht befriedigen kann, eine Form der Hölle sei (ebd., S. 61). Das Lichtwesen führte ihn weiter, wobei der Wechsel von Ort zu Ort keine Zeit in Anspruch zu nehmen schien (ebd., S. 63). Sie erreichten eine Ebene mit Horden von gespenstisch entkörperten Wesen. Es gab dort keine inkarnierten, mit der Lichtaura umgebenen Menschen mehr. Das Ganze sah wie ein Schlachtfeld aus: Gespenster kämpften miteinander. Es gab aber keine Waffen, keine Verletzten, kein Blut, keine Toten. Richie fragte sich, wie sie sich gegenseitig töten können, wenn sie bereits tot sind (ebd., S. 64). Sie waren dazu verurteilt, sich im Rausch impotenter Rage aufeinanderzustürzen, ohne ihrem (vermeintlichen) Feind den geringsten Schaden zuzufügen. Allmählich verdichtete sich Ritchies Vermutung zu Sicherheit: Dies war die Hölle (ebd.). Ritchie wunderte sich, wieso sich all diese Wesen an einem Ort zusammenfanden. Und er erkannte, dass es nach dem Tod keine Privatsphäre gebe, dass selbst die geheimsten Gedanken des Herzens allen instantan, durch eine Art Gedankenübertragung geoffenbart werden (ebd., S. 64, 65). Und dann fiel ihm der Grund für diese seltsame Versammlung ein: [Perhaps] there was a kind of consolation in finding others as loathsome as one ’ s self, even if all we could do was hurl our venom at each other. Perhaps this was the explanation for this hideous plain. Perhaps in the course of eons or of seconds, each creature here had sought out the company of others as pride-and-hate-filled as himself, until together they formed this society of the damned. (Ebd., S. 65f.) Ritchie betont in der Beschreibung dieser Szene, dass trotz der Abscheulichkeit ihrer Taten auf dem „ Schlachtfeld “ das Lichtwesen die Gespenster nicht verurteilte. Vielmehr hatte es grenzenloses Mitleid für sie (ebd., S. 65). Nach einer Weile bemerkte Ritchie, dass über der ganzen trostlosen Ebene unzählige andere Lichtwesen schwebten, die eine Art Schutzengel der Wesen zu sein schienen (ebd., S. 66). Und dann erkannte Ritchie, dass diese Lichtwesen, diese Engel auch an Orten anwesend waren, die er früher besucht hatte. Sie füllten die Städte und Dörfer, die Christus und Ritchie besuchten, sie waren anwesend auf den Straßen, in den Fabriken, in den Häusern, selbst in der schäbigen Bar, die Christus und Ritchie besuchten. Die beiden entfernten sich. Die Stimmung wurde heller, die Luftdurchsichtiger. Plötzlich befanden sie sich wie in einer sorgfältig geplanten Universität mit riesigen Gebäuden in einem schönen, sonnigen Park (ebd., S. 68). Darin war es still. Ritchie konnte vorübergehende Gestalten sehen, aber nicht erkennen, ob es Männer oder Frauen waren und jung oder alt, weil sie von Kopf bis Fuß in einen Umhang mit einer Kapuze gehüllt waren. Der Eindruck war, dass alle einer intensiven, selbstvergessenen Beschäftigung nachgingen, 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 887 deren Ziel sie überstieg (ebd., S. 69). Ritchie sah auch komplexe wissenschaftliche Instrumente, die er, trotz seiner wissenschaftlichen Ausbildung, nicht verstand (ebd., S. 70). Dann kamen sie in ein Gebäude mit Maschinen, daraufhin in eine seltsame sphärische Struktur (ebd., S. 71). Die stille und helle Atmosphäre hier schien ihm fast himmlisch. Die dort anwesenden Menschen hatten keine „ lärmenden “ Selbste, sie hatten auf Erden ihre selbstsüchtige Begierden hinter sich gelassen. Dennoch sahen sie Christus nicht. Es schien ihm, als ob ihr Durst nach Wahrheit sie von der Wahrnehmung der Wahrheit selbst abhielte. Er hatte den Eindruck, dass er noch nicht das Höchste gesehen habe. Dann verließen sie die Erde und befanden sich wie in einer Leere. In weiter Ferne erblickte Ritchie eine Stadt, eine leuchtende, scheinbar unendliche Stadt (ebd., S. 72) 92 , in der auch die Menschen leuchteten (sie glich dem Neuen Jerusalem Jerusalem, wie Richie erst Jahre später erfuhr.) Er fragte sich: Could these radiant beings [. . .] be those who had indeed kept Jesus the focus of their lives? Was I seeing at last ones who had looked for Him in everything? Looked so well and so closely that they had been changed into His very likeness? (Ebd., S. 73) Das Lichtwesen beantwortete diese Frage nicht. Statt sich nun der Lichtstadt weiter zu nähern, entfernten sie sich plötzlich mit einer gewaltigen Geschwindigkeit. Ritchie schrie voller Verzweiflung wegen des Verlustes, er wusste aber, dass seine unvollkommene Seele unfähig wäre, mehr als nur einen flüchtigen Blick dieses wahren, endgültigen Himmels zu ertragen. Bald schlossen sich um die beiden enge Wände und Ritchie bemerkte, dass er zurück in seinem kleinen Krankenzimmer war. Die Lichtgestalt machte ihm klar, dass er zu dem auf dem Bett liegenden Körper gehörte. Ritchie näherte sich ihm, dieser löschte die Lichtgestalt aus. Ritchie schrie verzweifelt, Christus möge ihn nicht verlassen, sondern ihn für die leuchtende Stadt bereitmachen. (ebd., S. 74). Aber noch während er Christus eindringlich anflehte, fühlte er, dass sein Bewusstsein sich vernebelte. Er öffnete die Augen, aber etwas versperrte seine Sicht. Er bemühte sich, dieses Etwas zu entfernen, aber seine Arme waren schwer wie bleierne Gewichte. Schließlich fanden seine beide Hände zueinander und er spürte seinen Ring. Er fing an, ihn langsam um seinen Finger zu drehen, und verlor das Bewusstsein (ebd.). Die ganze Nahtoderfahrung Ritchies dauerte lediglich wenige Minuten, veränderte sein Leben jedoch für immer. Noch im Krankenhaus fühlte er eine früher nie gekannte innere Freude, wenn ein Besucher in sein Zimmer kam (ebd., S. 82). Während er vor der Erfahrung eine schüchterne, introvertierte Person war, sehnte er sich jetzt nach der Gemeinschaft mit anderen Menschen und grüßte völlig fremde Menschen wie lebenslange Kumpel (ebd., S. 83). Diese Erfahrung der Gemeinschaft mit anderen Menschen vertiefte sich 92 Man erinnert sich an dieser Stelle an die Vision der leuchtenden Stadt, von der einige Auskunftspersonen von Raymond Moody berichteten (Moody 1978, S. 15 - 18). 888 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft später. Christus blickte ihn aus den Augen anderer an (ebd., S. 111), er erkannte, dass Jesus nicht im Himmel, sondern in den Menschen zu suchen ist (ebd.). Später begann Ritchie, vor einer breiteren Öffentlichkeit von seiner Nahtoderfahrung zu sprechen (ebd., S. 121), und auch hier zeigte er sich gewandelt.Früher hatte er es sehr schwierig gefunden, frei zu sprechen: „ I who could never string two words together found myself talking to youth groups, clubs, churches, anyone who would listen to the message that God is love, and all else is hell “ (ebd.). Er tat dies im Übrigen, obschon er der Überzeugung war, dass ein solches Bekenntnis das Ende seiner Karriere bedeuten würde (ebd.). Diese Befürchtung hat sich jedoch nicht bewahrheitet. Die ungewöhnlich tiefe Beziehung zu Christus hat Ritchie bis ins spätere Lebensalter bewahrt. Er schließt sein Buch mit den Worten: God is busy building a race of men who know how to love. I believe that the fate of the earth itself depends on the progress we make - and that the time now is very short. As for what we ’ ll find in the next world, here too I believe that what we ’ ll discover there depends on how well we get on with the business of loving, here and now. (Ritchie with Sherrill 2006, S. 124) Würdigung Wie alle Erzählungen von Nahtoderfahrungen ist auch das Erlebnis von George Ritchie für das moderne wissenschaftliche Bewusstsein entweder eine Unmöglichkeit oder eine Art Halluzination, und der Umstand, dass diese Halluzination von jemandem erlebt wurde, der als tot diagnostiziert wurde, kann einen Skeptiker nicht daran hindern zu behaupten, dass das ganze äußerst ausgedehnte Erlebnis Ritchies sich entweder in der Zeit zwischen dem Bewusstseinsverlust während des Röntgens und dem völligen Verlust der Körperfunktionen abspielte oder aber als die Körperfunktionen sich nach ca. neun Minuten allmählich wieder aufbauten, das Bewusstsein aber noch nicht vollständig wiederhergestellt war. Schließlich kennen wir aus unserem Traumleben die Erfahrung, dass auch äußerst komplexe Träume sich eigentlich in objektiv betrachtet kürzester Zeit - vielleicht Sekunden, vielleicht sogar Bruchteilen von Sekunden - abspielen können. Jemand, der weniger skeptisch gesinnt ist, wird eine solche Erklärung ablehnen und der Schilderung zumindest in Teilen Wahrheit zuschreiben. Die Frage: „ Halluzination oder Wirklichkeit? “ kann zu diesem Zeitpunkt unserer Betrachtungen nicht endgültig entschieden werden. Ich möchte jedoch auf drei Elemente von Ritchies Erlebnis an dieser Stelle aufmerksam machen. Zum einen ist offensichtlich, dass es - wie es bei den meisten Nahtoderfahrungen und AKE der Fall ist - bleibende (positive) Spuren in seinem Leben hinterlassen hat. Dies lässt sich von Träumen oder auch Halluzinationen sicherlich nicht sagen. Zweitens: Wir erinnern uns, dass Ritchie während seines Besuches in der übersinnlichen „ Universität “ sich plötzlich in einem runden Gebäude mit einem großen Wasserbehälter wieder- 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 889 fand, über dem eine Laufplanke lag (ebd., S. 71). 1952 las er in der Wochenschrift Life einen Artikel über den Prototyp des zweiten nuklearen Antriebssystems für amerikanische nukleare U-Boote. In der beigefügten Zeichnung erkannte Ritchie genau das Gebäude wieder, das er neun Jahre zuvor auf seiner Wanderschaft mit Christus betreten hatte (ebd., S. 119f.). Die Koinzidenz ist erstaunlich. Unterlag Richie nur einer Suggestion? Drittens: Wir erinnern uns, dass Ritchie ein Licht sah, das schnell an Stärke zunahm und sich bald als eine Person offenbarte, woraufhin er den inneren Befehl „ Stand up. You are in the presence of the Son of God “ vernahm und überwältigt von der Autorität des Wesens war. Diese Begegnung mit Christus mag zunächst als äußerst seltsam und unglaubwürdig erscheinen. Wir haben aber gesehen, dass viele Menschen unserer Gegenwart ähnliche, wenn auch nicht so umfangreiche Erfahrungen machen. Ich habe angedeutet, dass auch ich etwas Ähnliches erlebte. Ritchie selbst hat sich zu ihr noch als reife und wissenschaftlich geschulte Persönlichkeit vorbehaltlos bekannt. Ist das ein Ausdruck von Naivität oder Voreingenommenheit? Oder sollte man eine erfahrene Persönlichkeit und einen gestandenen Arzt ernst nehmen? Ritschies Nahtoderfahrung ist, wenn man sie mit den „ typischen “ derartigen Erfahrungen (Durchgang durch den Tunnel, Begegnung mit dem Lichtwesen) vergleicht, wie sie von Moody dargestellt wurden, außergewöhnlich komplex und vielseitig, und ein Schlüsselelement, die Begegnung mit den verstorbenen Verwandten, ist in ihr nicht vorhanden. Allerdings weist schon Moody darauf hin, dass sich einzelnen Nahtoderlebnisse deutlich unterscheiden können. Vielleicht war es Richie sogar vergönnt, besonders tief in die übersinnliche Wirklichkeit einzudringen? Dann aber sollten seine Erlebnisse denen von Swedenborg ähneln, der - wenn man seine Erfahrungen ernst nimmt - dessen Blick ungewöhnlich weit in die geistige Wirklichkeit hineinreichte. Allerdings zeigt schon ein oberflächlicher Vergleich der Berichte, dass sie keineswegs deckungsgleich sind. Haben Swedenborg und Ritchie also eine andere Wirklichkeit gesehen, oder waren die Bilder, die sie wahrgenommen haben, doch nur Produkte ihrer Phantasie? An einer späteren Stelle dieses Kapitels 93 werden wir eine weitere außergewöhnlich umfangreiche NTE betrachten, die diese Frage noch vertiefen wird. Rupert Sheldrake: A New Science of Life 1981 erschien ein Buch, das den Wissenschaftsbetrieb in seinen Grundfesten erschütterte. Der damalige Chefredakteur von Nature, John Maddox, charakterisierte die Stimmung in seinem Leitartikel wie folgt: This infuriating tract has been widely hailed by the newspapers and popular science magazines as the “ answer ” to materialistic science, and is now well on the way to being a point of reference for the motley crew of creationists, anti- 93 Vgl. den Abschnitt „ Eben Alexander: Proof of Heaven “ . 890 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft reductionists, neo-Lamarckians and the rest. [The] book is the best candidate for burning there has been for many years. (Maddox 1981, S. 245f.) Die Rede ist von Ruppert Sheldrakes Buch A New Science of Life. The Hypothesis of Formative Causation. Es ist sehr ungewöhnlich, dass ein Buch so starke emotionale Reaktionen bei sonst eher zurückhaltenden und rationalen Menschen erzeugt, zumal jedes Jahr unzählige Bücher publiziert werden, die kaum Resonanz erfahren, obwohl in ihnen (vermeintlich) Unsinn gepredigt wird. Warum also diese Empörung? Ich glaube, sie ist nicht so sehr in den Thesen des Werkes als vielmehr in der Person des Autors begründet. Rupert Sheldrake ist eben kein Romanautor, kein Journalist oder populärwissenschaftlicher Autor, sondern ein gestandener Wissenschaftler, „ by training a biochemist and by demonstration a knowledgeable man “ , wie John Maddox herausstellt (ebd., S. 245). Intellektuelle Biographie 94 Im Vorwort zu seinem neusten Buch (Sheldrake 2012), auf das wir später ausführlicher eingehen werden, belegt Sheldrake auf vier Seiten seine wissenschaftliche Legitimation. Er studierte in Cambridge Biochemie und später an der Harvard-Universität Geschichte und Philosophie der Wissenschaft. Wieder in Cambridge, machte er im Zuge seiner Promotion eine wichtige Entdeckung zur Rolle sterbender Zellen bei der Regulierung des Pflanzenwachstums. Seine Forschungen zu Pflanzenhormonen bildeten die Grundlage für die Arbeit im Bereich der Pflanzenpolarität. Mit finanziellen Unterstützung der Royal Society verbrachte Sheldrake ein Jahr an der Malaya- Universität und am Rubber Research Institute in Malaya, wo seine Forschungen ein neues Licht auf die Entwicklung der Kautschukmilchgefäße warfen. Nach seiner Rückkehr nach Cambridge entwickelte er eine neue Hypothese zum Alterungsprozess bei Pflanzen, Tieren und beim Menschen. Seine Hypothese des programmierten Zelltodes (die sog. Apoptose) wurde 1974 in einem Artikel in Nature veröffentlicht, woraufhin das Phänomen zu einem bedeutenden Forschungsfeld in der Biologie wurde. Anschließend arbeitete Sheldrake für das International Crops Research Institute for the Semi-Arid Tropics in der Nähe von Hyderabad, Indien, als leitender Pflanzenphysiologe und beschäftigte sich mit der Züchtung von Hochertragssorten und der Entwicklung von Anbausystemen. Nach der Rückkehr aus Indien Anfang der 80er-Jahre begann er neben seiner Forschung im Bereich der Pflanzenentwicklung, verschiedene ungewöhnliche Naturphänomene zu untersuchen, z. B. die Frage, wie Brieftauben und andere Tiere den Weg nach Hause finden, obwohl er oft Hunderte von Kilometern beträgt und über unbekannte Gegenden oder sogar übers Meer 94 Diese basiert auf Sheldrake 2012, S. 1 - 5. Da Sheldrakes Schilderung seines Lebens kurz ist, verzichte ich auf die Seitenangaben zu einzelnen Feststellungen. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 891 führt. 1994 veröffentlichte er das Buch Seven Experiments that Could Change the World (1994), in dem er preiswerte Experimente vorschlägt, deren Resultate unsere Vorstellungen über die Natur der Wirklichkeit ändern könnten. Die Resultate dieser Experimente wurden in der Ausgabe von 2002 und in den Büchern Dogs That Know When Their Owners Are Coming Home (1999) und The Sense of Being Stared At (2003) zusammengefasst. Sheldrake veröffentlichte insgesamt mehr als 80 Artikel in Peer-Review- Zeitschriften, darunter einige in Nature. Er ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlichen Gesellschaften, u. a. der Society for Experimental Biology und die Society for Scientific Exploration, und ist Fellow in der Zoological Society und der Cambridge Philosophical Society. Er gibt Seminare und hält Vorträge über seine Forschungen an zahlreichen Universitäten, Forschungsinstituten und wissenschaftlichen Konferenzen in der ganzen Welt. A New Science of Life Da Sheldrake bereits vor der Publikation seines „ anstößigen “ Buches ein renommierter Forscher war, konnte es die wissenschaftliche Gemeinschaft nicht einfach ignorieren und musste sich mit seinen Thesen auseinandersetzen. Zusammengefasst sind es die folgenden: Physiker können die Kristallstruktur oder molekulare Konfiguration einer chemischen Verbindung nicht allein aus ihrer atomaren Zusammensetzung berechnen. Ebenso wenig werden Molekularbiologen aus der genetischen Struktur eines Organismus die Phänotypen, die im Laufe der Entwicklung entstehen, herleiten können. Diese Schwierigkeit ist nicht nur rechnerischer Natur, denn schließlich enthalten alle Zellen, etwa von Armen, Beinen, Herz oder Gehirn, dieselbe DNS. Und wie kann es sein, dass die sehr ähnliche Genome von Menschen und Schimpansen markant unterschiedliche Phänotypen erzeugen, während bei der Drosophila-Fliege viel größere Unterschiede im Genotyp sehr ähnliche Formen hervorbringen? Zur Beantwortung dieser Frage postuliert Sheldrake „ morphogenetische Felder “ (Sheldrake 1985, S. 71, 116), die von außen auf der Organismen einwirken und die Entwicklung des Embryos steuern. Dies ist im Grunde die Hypothese einer Formursache ( „ hypothesis of formative causation “ , ebd., S. 71f.). Dabei hat ein Proton ein anderes morphogenetisches Feld als ein Stickstoffatom, dieses ein anderes als ein Wassermolekül, dieses wiederum ein anderes als eine Muskelzelle eines Regenwurms und diese ein anderes als die Nierenzelle eines Schafes (ebd., S. 72). Sheldrake betont, dass seine Theorie eine Erweiterung der bekannten physischen Wirkungsprinzipien bedeutet: Die morphogenetischen Felder sind nicht auf diese Wirkungsprinzipien reduzierbar (ebd., S. 92, 116), und er nimmt ein neues Wirkungsprinzip an, welche es ermöglicht, den bestehenden Formen einen Einfluss über Zeit und Raum hinweg auf die Entstehung neuer Formen auszuüben. Er 892 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft nennt dieses Prinzip in Analogie zum Einstellen eines Radioempfängers auf eine Frequenz „ morphische Resonanz “ (ebd., S. 95f., 117): What is being suggested here is that by morphic resonance the form of a system, including its characteristic internal structure and vibrational frequencies, becomes present to a subsequent system with a similar form; the spatio-temporal pattern of the former superimposes itself on the latter. (Ebd., S. 96) Sheldrake postuliert ferner, dass dort, wo komplexe, mehrstufige morphogenetische Prozesse stattfinden, diese durch eine Reihe von nacheinander wirkenden morphogenetischen Feldern gesteuert werden (ebd., S. 116). Sheldrakes Theorie beansprucht nicht allein, die Entwicklung der Formen der Organismen (Morphogenese) zu erklären, sondern auch die Vererbung der Formen (ebd., S. 121ff.) und der erworbenen Eigenschaften (ebd., S. 133ff.) sowie die Evolution der biologischen Formen (ebd., S. 137ff.) und sogar die Kontrolle der Bewegung von Pflanzen und Tieren (ebd., S. 152ff.). Man könne mittels seiner Hypothese, so Sheldrake, auch solche Phänomene wie Instinkt und Lernen (ebd., S. 170ff.) und die Vererbung und Evolution des Verhaltens (ebd., S. 183ff.) erklären, aber auch Jungs kollektives Unbewusste (ebd., S. 27f.) und die sog. paranormalen Phänomene (extrasensorische Wahrnehmung, Telepathie, Telekinese usw.) (ebd., S. 28f.). Würdigung Sheldrakes Ideen sind, was er offen zugibt, eigentlich nicht neu: Die Existenz morphogenetischer Felder wurde bereits von A. Gurwitsch 1922 und P. Weiss 1926 postuliert (ebd., S. 50), ähnliche Vorschläge haben aber auch A. N. Whitehead und H. Driesch gemacht (ebd., S. 49). Ich möchte trotz dieser „ Phalanx “ von Gewährsleuten dennoch kritische Einwände vorbringen. Zunächst macht sich Sheldrake des bekannten Fehlers des „ ignotum per ignotum “ schuldig: Er versucht unverständliche Phänomene durch die Annahme unverständlicher Phänomene erklärlich zu machen. Einerseits schreibt er seinen morphogenetischen Feldern die Fähigkeit zu, sowohl die anorganischen (Elementarteilchen, Atome, Moleküle usw.) wie auch organische Formen hervorzubringen, andererseits gibt er aber keinen Aufschluss darüber, wie die vermeintlichen Felder dieses Kunststück erbringen. Mehr noch: Die Hypothese der „ morphischen Resonanz “ erklärt zwar (einigermaßen), wie die bestehenden morphogenetischen Felder neue Formen hervorbringen, nicht aber, wie die ursprünglichen Felder entstanden sind. Dazu erwägt Sheldrake grundsätzlich die folgenden drei Möglichkeiten: Sie sind durch Zufall entstanden, sie können ein Produkt der der Materie immanenten Kreativität sein oder sie können ein Resultat der Aktivität eines „ transzendenten kreativen Agens “ sein (ebd., S. 117). Eine Entscheidung, welche Möglichkeit zutrifft, könne nur aufgrund metaphysischer Überlegungen gefällt werden (ebd.). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 893 Da Sheldrake postuliert, dass grundsätzlich jede bekannte Form die Auswirkung eines ihr entsprechenden morphogenetischen Feldes sei, dupliziert seine Hypothese nur die bekannte Welt, sie verschiebt also das Problem und widerspricht überdies dem wissenschaftlichen Sparsamkeitsgebot. Erklärt das allein aber schon den scharfen Protest der Wissenschaft? Ein Teil der Antwort auf diese Frage lieferte Colin Tudge, ein britischer Wissenschaftsjournalist, in einem Artikel für die populärwissenschaftlichen Zeitschrift New Scientist. Tudges Artikel wurde im Anhang zur zweiten Auflage von Sheldrakes Buch veröffentlicht (ebd., S. 209 - 211). Tudge schreibt, dass Sheldrakes Ideen aus der Sicht der konventionellen Wissenschaft selbstverständlich völlig verrückt ( „ scatty “ ) seien und direkt ad acta gelegt werden könnten, wären da nicht drei Punkte: Erstens ist Sheldrake ein seriöser Wissenschaftler. Zweitens sind seine Ideen eigentlich wissenschaftlich, weil er Experimente vorschlägt, mit denen seine Ideen überprüft werden können, 95 wohingegen die Annahme der modernen mechanistischen Wissenschaft, dass alle wichtigen Kräfte und Felder, die in der Welt wirksam sind, bereits identifiziert worden seien, nicht überprüfbar und folglich nach Popper (s. oben) unwissenschaftlich sei. Drittens legten einige Entdeckungen der modernen Physik die Möglichkeit morphologischer Felder nahe. Der wunde Punkt ist aber folgender: „ Rupert Sheldrake is about to publish a book that says, in arguments that could be refuted, that Western science has sadly misconstrued the world and all the creatures therein “ (ebd., S. 209). Sheldrakes Buch stellt nach Tudge also nicht nur eine neue Theorie vor, es ist eine Herausforderung für die ganze mechanistische Wissenschaft: To absorb what [Sheldrake] says involves what Thomas Kuhn off-puttingly termed a paradigm shift, which means putting aside assumptions on how the world works. This is an uncomfortable thing to do. (Ebd., S. 210) Sheldrakes Buch bedeutet einen Paradigmenwechsel, die Geburt einer neuen Wissenschaft des Lebens oder vielleicht einer neuen Wissenschaft überhaupt. Dagegen leisten die alten Kräfte Widerstand. Dieser Eindruck verstärkt sich, betrachtet man jene vier „ metaphysischen Theorien “ , die Sheldrake als mit seiner Hypothese kompatibel erachtet. Die erste bezeichnet er als „ modifizierten Materialismus “ (ebd., S. 200f.). Dabei handelt es sich im Grunde 95 Eines der Experimente, die seine Theorie bewahrheiten könnten, beschreibt Sheldrake auf S. 185ff. (andere in Sections 5.6 (S. 103 - 107: Kristallisation), 7.4 (S. 128 - 131), 7.6 (S. 132f.), und 11.4 (S. 194 - 6) vgl. S. 199). Und zwar handelt es sich um die Überprüfung, ob das Erlernen einer bestimmten Fähigkeit durch Tiere an einem Ort das Erlernen derselben Fähigkeit durch Tiere an einem anderen Ort oder zu einem späteren Zeitpunkt beschleunigen würde. Sheldrake weist darauf hin, dass ähnliche Experimente seine Theorie bestätigt haben (S. 186 - 189). Seit 1981 sind Ergebnisse andere Studien bzw. andere Phänomene dieser Art bekannt, welche die Hypothese der morphogenetischen Felder weiter bestätigen. Sie werden von Sheldrake in der Auflage von 2009 auf S. 222 - 226 geschildert. 894 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft genommen um den klassischen Materialismus, erweitert um eine neuartige Klasse von physischen Feldern, nämlich die morphogenetischen, deren Ursprung letztendlich auf den Zufall zurückzuführen sei. Innerhalb dieses Bezugsrahmens hat das Universum weder Ziel noch Ausrichtung und das menschliche Leben hat keinen anderen Zweck als die Befriedigung biologischer und sozialer Bedürfnisse. Die zweite metaphysische Option bezeichnet Sheldrake als „ das bewusste Selbst “ ( „ The conscious self “ ) (ebd., S. 202 - 205). Dies ist im Grunde eine dualistische Option. Sie setzt voraus, dass das „ bewusste Selbst “ unabhängig vom Leib existieren und mit ihm oder genauer gesagt mit den motorischen Feldern des Leibes interagieren kann. Diese Option erklärt zwar das Phänomen des „ freien Willens “ , kann jedoch nicht erklären, wie die Formen der Pflanzen oder Tiere entstanden (ebd., S. 205). Dies würde die dritte metaphysische Option leisten, die Sheldrake als die des „ kreativen Universums “ bezeichnet (ebd., S. 205f.). Sheldrake denkt hier an eine Hierarchie kreativer Entitäten, die zwar individuelle Organismen transzendieren, aber innerhalb der Natur als ganzer verbleiben und darin Bergsons élan vital ähneln (ebd.). Solche Entitäten würden neue morphogenetische und motorische Felder hervorbringen durch eine Art der Verursachung, welche der Verursachung des bewussten Selbst entspricht. Sheldrake resümiert: This metaphysical position admits the causal efficacy of the conscious self, and the existence of creative agencies transcending individual organisms, but immanent within nature. However, it denies the existence of any ultimate creative agency transcending the universe as a whole. (Ebd., S. 206) Die vierte metaphysische Option schließlich ist im Grunde die des Theismus: [T]his fourth metaphysical position affirms the causal efficacy of the conscious self, and the existence of a hierarchy of creative agencies immanent within nature, and the reality of a transcendent source of the universe. 96 (Ebd., S. 207) Es ist unübersehbar, dass wir uns an dieser Stelle weit von den Kernannahmen der orthodoxen Wissenschaft entfernt haben. Dass es sich bei Sheldrakes Buch um eine äußerst kontroverse, aber wichtige Erscheinung handelt, wird durch die Tatsache bezeugt, dass nach der Erscheinung des oben zitierten Leitartikels in Nature die Redaktion der Zeitschrift noch monatelang Briefe zu dem Thema veröffentlichte (ebd., S. 225) (Sheldrake zitiert einige wenige seine Ansichten unterstützende Leserbriefe auf S. 225 - 229), und die breitere Diskussion über die Thesen des Buches dauerte noch mindestens drei Jahre. Zeitungen, Zeitschriften und Büchern in Großbritannien, Australien, USA, Indien, Japan, Südafrika sowie West- und Osteuropa sowie Radio- und Fernsehsendungen in mindestens zehn Länder nahmen sich des Buches an (ebd., S. 232). In einer solchen Sendungen (The World Tonight, BBC Radio 4 am 30. 10. 1981) diskutierten 96 Sheldrake ist gläubiger Christ. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 895 Sheldrake und John Maddox direkt miteinander. Am Ende ihrer Diskussion stellte Maddox fest: Could I explain to Dr Sheldrake why I feel so strongly about his book? I do think these interesting questions you describe are actually non-questions. By that I mean that I know of no convincing evidence to suggest that the phenomena - the collective unconscious, the paranormal, and so on - that these are real phenomena. And while it is entirely right and proper that people in their arm-chairs should sit back and wonder how it is that this or that spoon bends in the hands of somebody, but not in the hands of somebody else, I do think it is the business of serious, sober scientists, if you like - and that is where I acknowledge that I am sounding a bit crusty - to concern themselves with the problems that are real. (Ebd., S. 224f.) Nur: Wer kann und soll entscheiden, was real ist und was nicht? John Maddox? Die Royal Society? Die American Academy for the Advancement of Science? Die Wissenschaft? Wir haben gelernt, dass scheinbar unbedeutende Abweichungen von einer Voraussage ein Weltbild stürzen können: Aufgrund solcher Abweichungen wurde das Ptolemäische Weltbild zugunsten des der sinnlichen Evidenz völlig widersprechenden kopernikanischen Weltbildes aufgegeben. Vor viel kürzerer Zeit haben wir gelernt, dass noch kleinere Abweichungen von den Erwartungen, die nur mit genauesten Instrumenten feststellbar sind, uns gezwungen haben, die Existenz der dunklen Materie und der dunklen Energie anzunehmen, die gemeinsam 95 % des bekannten Universums ausmachen sollen. Wir haben also gelernt, dass - bildlich gesprochen - unsere Vorstellung vom Universum bis vor kurzem zu 95 % falsch war! Die Abweichungen der theoretisch berechneten Geschwindigkeit, mit welcher sich einige Galaxien von der Erde entfernen, von dem beobachteten Wert waren erst am Ende der 90er-Jahre überhaupt feststellbar. Aus der Sicht des „ Mannes auf der Straße “ waren diese Phänomene völlig unwichtig, ja „ nicht real “ . Und dennoch zogen diese Entdeckungen eine wissenschaftliche, ja weltanschauliche Revolution nach sich. Aus welchem Grund maßt sich John Maddox die Fähigkeit an, zu entscheiden, welche Phänomene real bzw. wichtig und welche nicht real bzw. nicht wichtig sind? Vielleicht können solch recht direkt feststellbaren bzw. wahrnehmbaren Tatsachen wie telepathische Kräfte, wenn sie sich denn als Tatsachen erweisen, uns ebenso zum Umdenken zwingen wie die kaum feststellbare Tatsache, dass sich gewisse Galaxien von uns mit überraschend großer Geschwindigkeit entfernen. Man wird an dieser Stelle an den berühmten Dialog von Mephisto und Faust erinnert, in dem Mephisto behauptet, was Faust suche, werde sich als ein Nichts herausstellen, während Faust darin das Wichtigste zu finden hofft: Mephisto: Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne, Den Schritt nicht hören, den du tust, Nichts Festes finden, wo du ruhst. 896 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Faust: Nur immer zu! wir wollen es ergründen, In deinem Nichts hoff ich das All zu finden. (Faust. 2. Teil, 1. Akt, Finstere Galerie) Spricht aus Maddox die Stimme des Mephisto? Ist seine für einen Wissenschaftler doch ungewöhnlich emotionale Reaktion auf Sheldrakes Buch der Ausdruck der verdeckten Angst, dass sich Sheldrakes Weg als der richtige erweisen könnte, was Maddox in eine weltanschauliche Krise stürzen würde bzw. müsste? Es gibt aber auch eine Kehrseite der Medaille: Die Phänomene, die Sheldrake mit seiner Hypothese der formativen Verursachung erklären will, sind durchaus real. Insbesondere haben wir bereits oben (Exkurs: „ Können Gene die Morphogenese erklären? “ ) gesehen, dass die moderne Molekularbiologie weiterhin nicht imstande ist, die Morphogenese der Organismen verständlich zu machen. Es ist aber durchaus berechtigt zu fragen, ob der Weg, den Sheldrake zur Überwindung dieser eklatanten Schwächen vorschlägt, zielführend ist. Denn was er vorschlägt, schmeckt nach einem „ ignotum per ignotum “ , nach der Verdoppelung der Wirklichkeit um ein Element, dessen Natur völlig im Dunkel bleibt. Brauchen wir nicht etwas mehr als die „ morphogenetischen Felder “ , um die Phänomene, denen sich Sheldrake nähern will, wirklich verstehen zu können? John Barrow und Frank Tipler: The Anthropic Cosmological Principle und einige Folgeüberlegungen 1986 erschien bei Clarendon Press das über 700 Seiten starke und aufgrund seines Rückgriffs auf die höhere Mathematik höchst anspruchsvolle Werk The Anthropic Cosmological Principle (Barrow und Tipler 2006) von John D. Barrow, Dozent am Astronomy Centre, University of Sussex, und Frank J. Tipler, Professor für Mathematik und Physik an der Tulane University, New Orleans. Barrow hatte bereits zahlreiche bedeutende Beiträge auf dem Gebiet der Astrophysik und Kosmologie geleistet und Tipler war als Autor wichtiger Konzepte und Theoreme innerhalb der Allgemeinen Relativitätstheorie und Gravitationsphysik hervorgetreten (Wheeler 1986, S. viii). Das Werk bildete den Höhepunkt einer langen Diskussion, die bereits Ende der 50er-Jahre begonnen hatte, obschon der Begriff „ anthropisches Prinzip “ erst 1973 geprägt wurde (Carter 1974). Ausgangspunkt für die Formulierung des anthropischen Prinzips war die Beobachtung, dass zwar die allermeisten physischen Konstanten innerhalb einer Größenordnung um 1 liegen (genauer zwischen 0,1 und 10), es aber einige krasse Ausnahmen von dieser Regel gibt. So beträgt das Verhältnis der elektrischen wie auch der Gravitationskraft zwischen dem Proton und dem Elektron 10 40 , unabhängig von der Distanz zwischen beiden, die Zahl der Nukleonen im Universum ca. 10 80 , das Verhältnis der Wirkung im Universum zum Quantum der Wirkung ca. 10 120 usw. (Barrow und Tipler 2006, S. 219). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 897 Solche und ähnliche unerklärliche Koinzidenzen veranlassten Brandon Carter 1973, das anthropische Prinzip einzuführen und sich damit gegen das sog. kopernikanische Prinzip zu stellen, welches besagt, dass die Erde keine zentrale oder privilegierte Stellung im Universum einnimmt. Konkret stellte er infrage, dass das kopernikanische Prinzip herangezogen wird, um das sog. perfekte kosmologische Prinzip zu untermauern, nach dem alle große Regionen und Zeiträume des Universums statistisch gesehen identisch sein müssen. Carter formulierte zwei Versionen seines anthropischen Prinzips: die sog. „ schwache “ Version (WAP: „ Weak Anthropic Principle “ ), die ungefähr besagt, dass wir die Tatsache, dass wir heute auf der Erde existieren können, dem Umstand verdanken, dass die Naturkonstanten so sind, wie sie eben sind; und die „ starke “ Fassung (SAP: „ Strong Anthropic Principle “ ), nach der das Universum solche Eigenschaften haben muss, dass sich in ihm (intelligentes) Leben zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Evolution entwickeln kann (ebd., S. 21), oder spezifischer, dass in ihm intelligente Beobachter in einem bestimmten Zeitpunkt seiner Evolution erscheinen können (ebd., S. 248). Bereits Anfang der 80er-Jahre hat sich die Zahl unerklärlicher Koinzidenzen im Zusammenhang mit dem anthropischen Prinzip stark vermehrt. Das Verdienst der Autoren von The Anthropic Cosmological Principle besteht darin, diese bereits bekannten Fakten und Phänomene äußerst detailliert und kompetent darzustellen. Ich werde im Folgenden ein paar Beispiele nennen, und zwar vor allem anhand der Bücher The Probability of God von Hugh Montefiore (Montefiore 1985) und The Goldilocks enigma: why ist the universe just right for life? von Paul Davies (Der kosmische Volltreffer. Warum wir hier sind und das Universum wie für uns geschaffen ist) (Davies 2008), da sie dort zugänglicher und knapper und zugleich in gewissen Punkten umfangreicher als bei Barrow und Tiplers dargestellt werden (so war z. B. 1986 das Problem der sog. dunklen Energie noch nicht bekannt). Der Ursprung der chemischen Elemente Nach der geltenden Theorie sind die chemischen Elemente durch die Synthese der leichtesten Elemente Wasserstoff und Helium im Innern der Sterne entstanden. Die Sterne wiederum gewinnen den größten Teil ihrer Energie, welche für diese Synthese notwendig ist, aus der Umwandlung von Wasserstoff, der aus einem Proton und einem Elektron besteht, in Helium, dessen Kern aus zwei Protonen und zwei Neutronen besteht und das mit zwei Elektronen versehen ist. Da im Wasserstoffatom keine Neutronen vorhanden sind, fragt sich, woher die für die Kernfusion benötigten zwei Neutronen pro Heliumatom kommen. Unmittelbar nach dem Urknall schwirrten zwar sehr viele freie Neutronen - Produkte des Urknalls - umher (Davies 2008, S. 174), doch Neutronen sind instabil: Ihre Halbwertzeit beträgt lediglich 886 Sekunden. Als sich die Sterne bildeten, gab es also keine mehr; die für die 898 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Kernfusion benötigten mussten daher aus einem anderen „ Reservoir “ stammen. Dieses stellten die Protonen dar, aus denen sie unter Einwirkung der sog. schwachen Kraft (der schwachen Wechselwirkung) hervorgingen. Für die Entstehung eines Heliumatoms braucht man also nicht nur zwei, sondern vier Wasserstoffatome: zwei, die Protonen bleiben, zwei, die sich zu Neutronen wandeln. Die Heliumerzeugung verlangsamte sich im Vergleich mit den Bedingungen zur Zeit des Urknalls bedeutend. Damals war die Temperatur sehr hoch, und die Protonen konnten sich so nahe kommen, dass die sog. starke Kraft (starke Wechselwirkung), welche stärker als die elektromagnetische Kraft der Abstoßung ist, wirksam werden und sie aneinander binden konnte (die Wirkung der starken Kraft fällt bereits im Abstand von 10 - 13 Zentimeter, also auf einer Distanz, die in etwa dem Radius eines Atoms entspricht, auf null ab.). Die Verlangsamung des Prozesses, die die schwache Kraft mit sich brachte, entpuppte sich aber als ein Glücksfall, denn nur dank ihrer kann die große Mehrzahl der Sterne über eine sehr lange Zeit gleichmäßig leuchten und nur unter dieser Bedingung ist die Entstehung von (intelligentem) Leben überhaupt möglich (ebd., S. 174f.). Wie verhält es sich mit der Synthese von schwereren Elementen? Der nächste Schritt wäre die Erzeugung eines Lithiumkerns. Dazu muss dem Heliumkern ein weiteres Proton zugefügt werden. Das geht aber nicht, weil ein Lithiumkern mit drei Protonen und zwei Neutronen instabil ist und sofort nach der Entstehung wieder zerfällt. (Stabiles Lithium hat drei oder sogar vier Neutronen im Kern.) Man könnte sich als nächsten Schritt die Verschmelzung von zwei Heliumkernen zu Beryllium - 8, einem Isotop mit vier Protonen und vier Neutronen, vorstellen. Aber auch dessen Kern ist höchst instabil ist. (Die stabilen Berylliumisotope haben fünf Neutronen im Kern.) Das nächstschwerere Element hätte fünf Protonen (plus eventuell eine Anzahl von Neutronen) im Kern. Dieses Element, Boron, entsteht jedoch nicht innerhalb der Sterne, sondern ausschließlich unter der Einwirkung von kosmischer Strahlung auf ein Objekt, es ist folglich äußerst selten. Das nächste Element wäre ein Atom mit sechs Protonen im Kern und dies ist Kohlenstoff, der bekanntlich von entscheidender Bedeutung für die Entstehung des Lebens ist. Seine Synthese innerhalb der Sterne ist jedoch alles andere als einfach. Oberflächlich betrachtet sollte sie eigentlich kein Problem darstellen: Verschmelzen drei Heliumkerne (je zwei Protonen und zwei Neutronen) miteinander, sollte Kohlenstoff mit sechs Protonen und sechs Neutronen im Atomkern entstehen. Zwar sind in dem neuen Atom mehr Protonen als bei der Entstehung von Helium aus Wasserstoff vorhanden und daher die elektrische Abstoßungskräfte größer, aber im Sterninnern herrschen genügend hohe Temperaturen, um die nötige Reaktionsenergie aufzubringen. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass drei Heliumkerne gleichzeitig zusammenkommen, äußerst gering. Man kann sich zwar vorstellen, dass zunächst zwei Heliumkerne zusammenkommen und einen instabilen Berilliumkern bilden, auf den dann ein dritter Heliumkern prallt, ein solcher Berilliumkern zerfällt jedoch 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 899 zu schnell, als dass ein dritter Heliumkern sich zu ihm gesellen könnte (ebd., S. 176). Anfang der 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts kam nun der englische Astronom und Mathematiker Fred Hoyle (1915 - 2001) der Lösung auf die Spur. Den Ausgangspunkt seiner Überlegung bildete die recht alltägliche Beobachtung, dass es in der Natur das Phänomen der Resonanz gibt, also ein verstärktes Mitschwingen eines schwingungsfähigen Systems, wenn die Frequenz der Anregung der Resonanzfrequenz des Systems entspricht. Hoyle vermutete, dass sich unter bestimmten Bedingungen (angeregter Energiezustand der Atomkerne) die Atomkernansammlungen von Helium und Beryllium in Resonanz befinden, so dass die instabilen Berylliumkerne länger bestehen bleiben, was wiederum einem Heliumkern die Chance gibt, auf einen Berylliumkern zu treffen. Experimente bestätigten später die Vermutung: Durch die Resonanz wird die Lebenszeit eines Berylliumkerns auf ca. 10 - 16 verlängert, was die Verschmelzung mit einem dritten Heliumkern ermöglicht. Ist aber einmal Kohlenstoff entstanden, ist der Rest ein Kinderspiel und es gibt auf dem Wege der Synthese schwerer Elemente keine Engpässe mehr (ebd., S. 178). Was an Hoyles Resonanztheorie der Synthese des Kohlenstoffes auffällt, ist der Umstand, dass das Energieniveau der Kohlenstoffresonanz in einer ganz präzisen Weise durch das Zusammenspiel der starken Wechselwirkung mit der elektromagnetischen Kraft festgelegt wird. Wäre die starke Wechselwirkung nur um ein Prozent schwächer oder stärker, wäre die Resonanz nicht so perfekt und die Synthese des Kohlenstoffes käme nicht zustande. Das Leben im Universum wäre nicht möglich (ebd., S. 179). Die schwache Kraft und die Verteilung der schwereren Elemente im Universum Es ist anzunehmen, dass die chemischen Elemente, die für die Entwicklung des Lebens notwendig sind (Kohlenstoff, Sauerstoff, Magnesium, Kalzium usw.), im Innern der Sterne entstanden. Sie müssen irgendwie in die Weiten des Weltalls an einen kühleren Ort hinausgelangen, damit aus ihnen Leben entstehen kann. Man vermutet heute, dass sie in gewaltigen Explosionen aus den Sternen herausgeschleudert wurden. Eine solche Explosion bedeutet den Tod der massenreichen Sterne: Geht einem Stern der nukleare Brennstoff aus, kann er sich nicht mehr gegen die Wirkung seiner Schwerkraft wehren und fällt in sich zusammen. Bei der Implosion des Sterns stürzt die Materie der Sternoberfläche nach innen, gruppiert sich dabei neu und explodiert. Eine solche Explosion wird als Supernova sichtbar, wobei der sterbende Stern für ein paar Tage seine Galaxie überstrahlt. Bei dem Prozess der Neugruppierung der in Richtung Kern stürzenden Materie spielt die schwache Wechselwirkung eine entscheidende Rolle. Die Protonen werden nämlich unter dem Einfluss dieser Kraft in Neutronen verwandelt, wobei jedes „ sterbende “ Proton ein Neutrino aussendet. Das hat zur Folge, dass jeder implodierende 900 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Stern eine Flutwelle von Neutrinos erzeugt (ebd., S. 182). Die Neutrinos sind elektrisch neutral und treten unter normalen Umständen nicht mit anderen Teilchen in Wechselwirkung. Das führt dazu, dass sie durch die gewöhnliche Materie problemlos hindurchgehen, ohne eine Spur zu hinterlassen, was sie äußerst schwierig zu entdecken macht. Weil jedoch der in Entstehung begriffene Neutronenstern ungeheuer dicht ist, haben selbst die Neutrinos große Mühe, seine Materie zu durchdringen. Folglich erzeugen sie auf ihrem Weg vom Innern des Sterns an dessen Oberfläche einen ungeheuren Druck. Dieser Druck ist es, der das Oberflächenmaterial des Sterns, das nach innen stürzt, explosionsartig in den Weltraum schleudert. Wäre nun die schwache Wechselwirkung schwächer, als sie tatsächlich ist, würden die Neutrinos den Kampf mit der nach innen stürzenden Materie verlieren und es würde zu keiner Explosion kommen. Wäre sie stärker, als sie tatsächlich ist, würden die Neutrinos stärker mit dem Inneren des Sternes reagieren, sie würden überhaupt nicht nach außen dringen, und es würde auch in diesem Fall zu keiner Supernova-Explosion kommen. In beiden Fällen wäre die Verbreitung des Kohlenstoffes und der anderen schweren Elemente verunmöglicht oder zumindest stark eingeschränkt (ebd., S. 183). Die schwache Wechselwirkung im frühen Universum Die geltende Theorie besagt, dass direkt nach dem Urknall die Urmaterie eine gut durchmischte Masse aus Protonen, Neutronen, Elektronen und Neutrinos war. Diese Teilchen waren im „ thermodynamischen Gleichgewicht “ , d. h., sie hatten alle die gleiche Temperatur. Im Hinblick auf das künftige Leben ist besonders das Schicksal von Protonen und Neutronen relevant. Diese beiden Teilchen können sich ineinander verwandeln, indem sie Neutrinos bzw. Antineutrinos aussenden oder aufnehmen. Neutrinos sind dafür zuständig, die vorhandene Wärmeenergie „ gerecht “ zwischen Neutronen und Protonen zu verteilen. Neutronen sind etwa 0,1 Prozent schwerer als Protonen, benötigen also ein wenig mehr Energie zu ihrer Herstellung. Einige Mikrosekunden nach dem Urknall, als die Temperatur des Universums ca. eine Billion Grad betrug, spielte dieser Unterschied keine Rolle und das Verhältnis der entstehenden Protonen zu den Neutronen war 1 : 1. Bereits eine Sekunde nach dem Urknall aber hatte sich die Situation dramatisch verändert: Es stand bedeutend weniger Energie zur Verfügung, die Neutrinos konnten ihrer Aufgabe, die Energie zwischen Protonen und Neutronen gerecht zu verteilen, nicht mehr erfüllen, und das Proton-Neutron-Verhältnis veränderte sich schnell von 1 : 1 zu 6 : 1 (sechs Protonen zu einem Neutron), wobei es geblieben ist. Wäre die schwache Kraft schwächer, hätten die Neutrinos noch früher „ aufgegeben “ , was dazu geführt hätte, dass das heutige Universum viel mehr Neutronen und weniger Protonen hätte. Da die überzähligen Protonen aber zu Wasserstoff wurden, hätte es im heutigen Universum weniger von ihnen und dafür mehr Helium gegeben. (Wenn das 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 901 Proton-Neutron-Verhältnis bei 1 : 1 geblieben wäre, wäre sogar die gesamte Materie zu Helium geworden.) Ohne Wasserstoff könnten aber die Sterne nicht leuchten, da der Wasserstoff ihr Brennstoff ist, und es gäbe auch kein Wasser. Ohne Wasser aber gäbe es kein Leben (ebd., S. 185). Die Stärke der Schwerkraft Wenn die Schwerkraft doppelt so stark wäre, wie sie tatsächlich ist, würde unsere Sonne 100-mal heller strahlen. Das wiederum würde bedeuten, dass ihre Lebensdauer nicht wie heute berechnet 10 Milliarden, sondern lediglich 100 Millionen Jahre betragen würde. Diese Spanne wäre unzureichend gewesen, um (intelligentes) Leben entstehen zu lassen (ebd., S. 186). Feinabstimmung der Masse der Elementarteilchen Interessante Schlüsse ergeben sich aus der Betrachtung der relativen Größen verschiedener Elementarteilchen. Das Verhältnis der Masse des Protons zu der des Elektrons beträgt 1.836.1526675, das Verhältnis der Masse des Neutrons zu der des Protons wiederum 1.00137841870, d. h. ein Neutron ist - wie bereits erwähnt - um 0,1 Prozent schwerer als ein Proton. Weil die Masse des Neutrons ein wenig größer ist als die Gesamtmasse von Proton, Elektron und Neutrino, sind Neutronen instabil und zerfallen. Wären die Neutronen aber nur um ein oder sogar nur um ein halbes Prozent leichter, würde sich die Situation umkehren und die Protonen wären instabil, was für die Möglichkeit des Lebens katastrophale Folgen hätte, weil es ohne Protonen keine Atome und keine Chemie gibt (ebd., S. 187f.). Die Masse der Neutrinos Ein Neutrino hat keine elektrische Ladung und eine ungewöhnlich kleine Masse. Die Masse des Elektrons etwa ist bis zu eine Million Mal größer. Die Neutrinos sind jedoch im Universum äußerst zahlreich, man schätzt sogar, dass sie die am meisten verbreiteten Teilchen sind. Wäre ihre Masse nur geringfügig größer, wäre die Gravitationskraft im Universum so stark geworden, dass das Universum nicht expandieren, sondern sich kontrahieren würde (Montefiore 1985, S. 25f.). Verteilung der Gase im frühen Universum Nach den geltenden Theorien bildeten sich die Sternen und Galaxien aus ein gasförmigen Materie- „ Suppe “ . Vermutlich wies diese Suppe zufällige Fluktuationen in Form von Riffeln auf, welche es ermöglicht haben, dass sich unter Einwirkung der Gravitationskraft aus dem gleichförmigen Gas an einigen Stellen Sterne, dann Galaxien, schließlich Cluster von Galaxien gebildete haben, während an anderen die gasförmige Materie praktisch verschwand. 902 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Diese Störungen wurden während der Inflation des Universums durch geringfügige Quantenfluktuationen durch das vorübergehende Erscheinen von Teilchen aus dem leeren Raum hervorgerufen. Wären sie kleiner gewesen, hätten sich keine Sterne und Galaxien bilden könnten. Wären sie größer gewesen, wären die Galaxien dichter ausgefallen, was zu einer großen Zahl von Sternkollisionen geführt hätte, denen praktisch alle Planeten zum Opfer gefallen wären. Wären sie noch größer, hätten sich statt Clustern von Sternen riesige schwarze Löcher gebildet (Davies 2008, S. 188). Die „ zufällige “ Fluktuation der Dichte der ursprünglichen Gase war also genau richtig, damit die Materie weder kollabiert noch sich formlos zerstreut (vgl. Montefiore ebd., S. 24). Die Wärme des Universums Bekanntlich ist nach dem Urknall die sog. Hintergrundstrahlung geblieben. Ihre Temperatur beträgt 4° K. Wäre diese Temperatur höher, hätten sich keine Galaxien bilden können, weil die Gravitationskraft dieser Energie größer gewesen wäre als die Gravitationskraft der Materie. Doch auch wenn das Universum ursprünglich kälter gewesen wäre, hätten sich die Galaxien nicht bilden können, und zwar weil die Fluktuationen in der ursprünglichen „ Suppe “ zu klein gewesen wären. Wäre also weniger oder mehr Energie (Wärme) während des Urknalls entstanden, hätten sich die Galaxien nicht bilden und das Leben hätte nicht entstehen können (Montefiore ebd., S. 25). Der größte Trick des Universums Die Existenz der dunklen Energie wurde schon früher theoretisch vorausgesagt. Bereits Albert Einstein nahm an, dass es eine Antigravitationskraft geben muss, die der Gravitation entgegenwirkt. Er führte 1917 einen entsprechenden Term in seine Gleichungen ein, um - dem Stand des damaligen astronomischen und kosmologischen Wissens entsprechend - ein statisches (weder expandierendes noch kollabierendes) Universum zu erhalten. 1930 berichtete ihm der amerikanische Astronom Edwin Hubble (1889 - 1953), dass nach seinen Beobachtungen das Universum expandiert, woraufhin er die Korrektur aus seinen Gleichungen entfernte (ebd., S. 85f.). In den frühen 1980er-Jahren griff Alan Guth, ein theoretischer Physiker, der heute am MIT arbeitet, die Idee der Antigravitation auf. Er schlug vor, dass das Universum nach dem Urknall nicht gleichmäßig expandierte, sondern eine Phase des exponentiellen Wachstums, Inflation genannt, durchlief. Nach letzten Berechnungen expandierte das Universums innerhalb des Zeitintervalls von 10 - 36 bis zwischen 10 - 33 oder 10 - 32 Sekunden nach dem Urknall um einen Faktor von mindestens 10 78 seines Volumens. Um diese phänomenale Expansionsrate erklärlich machen zu können, nahm Guth an, dass es eine Antigravitationskraft, die „ dunkle Energie “ , gibt, die sie verursachen oder zumindest 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 903 aufrechterhalten kann (ebd., S. 82 - 84). Einige Jahre später ergaben Berechnungen, dass die Menge dieser Energie unglaublich groß sein müsse. Die Massendichte, die aus dieser Energie resultieren würde, beträgt 10 93 Gramm pro Kubikzentimeter, was die Dichte, welche man für die Neutronensterne berechnet hat, bei weitem übertrifft. Man mutmaßte, dass im Universum Kräfte wirken, welche die dunkle Energie aufheben und ihre Wirkung auf null reduzieren. Allerdings wurde in der Mitte der 90er Jahre die Existenz der dunklen Energie durch die Beobachtung der Bewegungen von Supernovas in entfernten Galaxien bestätigt. Nur stellte sich heraus, dass die Dichte der dunklen Energie um 120 Potenzen (also 10 120 ) kleiner ist als der Wert, den man aufgrund der rein theoretischen Überlegungen erhalten hatte. Ebendiese Tatsache, dass der Wert der dunklen Energie um über 119 Zehnerpotenzen vermindert, aber doch nicht gleich null ist, bezeichnet Davies den „ größten Trick des Universums “ (ebd., S. 192f.). Es ist selbstverständlich möglich, dass das ursprüngliche Resultat aufgrund eines völlig falschen Modells der Verhältnisse im Universum zustande kam (s. Davies, Fußnote 20 zur S. 190 auf S. 351), die Natur der dunklen Energie bleibt aber aus wissenschaftlichen Sicht ein völliges Rätsel. Diese kosmologische oder physikalische „ Koinzidenzen “ können um gewisse chemische „ Koinzidenzen “ erweitert werden. So weisen Barrow und Tipler auf die Besonderheiten des Wassers hin, das sie als „ one of the strangest substances known to science “ bezeichnen (Barrow und Tipler 1986, S. 524). Sie machen geltend, dass die spezifische Wärme des Wassers, seine Oberflächenspannung, der Schmelz- und Siedepunkt, die Verdampfungswärme u. a.Werte haben, welche abnorm höher oder tiefer liegen als die anderer Substanzen (ebd., S. 524f.). Die Tatsache, dass Wasser im festen Zustand leichter ist als im flüssigen, ist einzigartig. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts (Henderson, Fitness of the Environment 1913) wurde darauf hingewiesen, dass die besonderen Eigenschaften des Wassers es als Grundlage für lebende Organismen einzigartig geeignet machen (ebd., S. 524). Bereits die Tatsache, dass Eis leichter als Wasser ist, ist ein „ Glücksfall “ . Wäre es nämlich schwerer, würde es jeden Winter unter die Oberfläche der Flüsse, Seen und Meere sinken und könnte im Sommer nicht schmelzen. Allmählich würde somit praktisch alles Wasser nur in Form von Eis bestehen (ebd., S. 533). Wegen seiner hohen spezifischen Wärme vermag das Wasser als Wärmespeicher zu fungieren und so die Temperatur der Umwelt zu stabilisieren (ebd., S. 534). Die Tatsache, dass Wasser die höchste Verdampfungswärme aller Substanzen hat, macht es zu einem sehr guten Kühlmittel. Bekanntlich machen viele Lebewesen Gebrauch von diesem Kühlmechanismus (ebd., S. 537). Die sog. hydrophobische Bindung des Wassers schließlich ist für die Bildung der biologisch aktiven Formen von Enzymen oder Nukleinsäuren notwendig (ebd., S. 539). Barrow und Tipler weisen ferner auf die einzigartigen Eigenschaften von Wasser- und Sauerstoff (ebd., S. 541 - 545) sowie die anthropische Bedeutung 904 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft von Kohlenstoff, Kohlendioxid und Kohlensäure (ebd., S. 545 - 548), Stickstoff und anderen Elementen hin, welche für die Erhaltung des Lebens notwendig sind (ebd., S. 548 - 556). Auch klimatologische „ Koinzidenzen “ sind in diesem Zusammenhang erwähnenswert. James Lovelock gibt in seinem Buch Gaia. A new look at life on Earth (Lovelock 2000) aus dem Jahr 1979 97 folgende zusammenfassende Darstellung: Life first appeared on the Earth about 3,500 million years ago. From that time until now, the presence of fossils shows that the Earth ’ s climate has changed very little. Yet the output of heat from the sun, the surface properties of the Earth, and the composition of the atmosphere have almost certainly varied greatly over the same period. The chemical composition of the atmosphere bears no relation to the expectations of steady-state chemical equilibrium. The presence of methane, nitrous oxide, and even nitrogen in our present oxidizing atmosphere represents violation of the rules of chemistry to be measured in tens of orders of magnitude. Disequilibria on this scale suggest that the atmosphere is not merely a biological product, but more probably a biological construction: not living, but like a cat ’ s fur, a bird ’ s feathers, or a paper of a wasp ’ s nest, an extension of a living system designed to maintain a chosen environment. Thus the atmospheric concentration of gases such as oxygen and ammonia is found to be kept at an optimum value from which even small departures could have disastrous consequences for life. The climate and the chemical properties of the Earth now and throughout its history seem always to have been optimal for life. For this to have happened by chance is as unlikely as to survive unscathed a drive blindfolded through rushhour traffic (Lovelock ebd., S. 9f.). Lovelock vergleicht das tatsächliche Vorkommen verschiedener Substanzen in der Atmosphäre und den Ozeanen mit dem in einer hypothetischen „ Gleichgewichtswelt “ (ebd., S. 33): Hauptkomponente in Prozenten Substanz Wirklichkeitswelt Gleichgewichtswelt Luft Kohlendioxid 0,03 98 Stickstoff 78 1 Sauerstoff 21 0 Argon 1 0,1 Ozeane Wasser 96 85 Salz 3,5 13 97 Lovelock hatte seine Ideen zum ersten Mal bereits 1968 während einer Tagung in Princeton zum Ursprung des Lebens auf der Erde vorgestellt, er wurde aber damals nicht ernstgenommen (Lovelock 2000, S. 10). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 905 Auf der Venus wiederum sehen die Werte so aus: Kohlendioxid: 98 %, Stickstoff: 1,9 %; Sauerstoff: Spuren; Argon: 0,1 %; Oberflächentemperatur: 477°C (diese schätzte Lovelock für „ Erde ohne Leben “ auf 290°C +/ - 50°); Oberflächendruck: 90 Bar (diesen schätzte Lovelock für „ Erde ohne Leben “ auf 60 Bar, der tatsächliche Wert beträgt bekanntlich ca. 1 Bar) (ebd., S. 36). Lovelock weist ferner darauf hin, dass die uns bekannten Eiszeiten durch eine Verminderung der Wärmezufuhr um lediglich 2 % verursacht wurden. Es grenzt also an ein Wunder, dass die Erde in der Anfangsstadien nicht vollständig vereist war, da die Energieproduktion der Sonne damals schätzungsweise sogar um 30 % geringer war als heute (ebd., S. 22). Gleiches gilt für die Existenz der Ozonschicht, die uns vor der schädlichen Ultraviolettstrahlung schützt (ebd., S. 36f.). Barrow und Tipler schließen ihre Diskussion mit dem hochspekulativen Gedanken, dass die Entstehung intelligenten Lebens den Zweck haben könnte, die Zerstörung des Universums durch das „ Verdampfen “ der schwarzen Löcher aufgrund des sog. Hawking-Prozesses zu verhindern: However, if intelligent life were operating on a cosmic scale before any black holes approach their explosive state, [the intelligent] beings could intervene to keep the black holes from exploding by dumping matter down the black hole, at least in a short-lived closed universe. Thus ultimately life exists in order to prevent the Universe from destroying itself! (Ebd., S. 674) Dies ist zwar nur ein Gedankenspiel, aber grundsätzlich könne man sich vorstellen, so die Autoren, dass intelligentes Leben eine wichtige Rolle im Universum spielt (ebd., S. 674f.). Ein nicht weniger spekulativer Gedankengang beschließt das Buch. Die Idee der Multiuniversen aufgreifend, die wir bereits kurz diskutiert haben, 98 schreiben Barrow und Tipler: [I]f life evolves in all of the many universes in a quantum cosmology, and if life continues to exist in all of these universes, then all of these universes, which include all possible histories among them, will approach the Omega Point 99 . At the instant the Omega Point is reached, life will have gained control of all matter and forces not only in a single universe, but in all universes whose existence is logically possible; life will have spread into all spatial regions in all universes which could logically exist, and will have stored an infinite amount of information, including all bits of knowledge which it is logically possible to know. 100 And this is the end. (Ebd., S. 677) 98 Vgl. Abschnitt „ Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas “ . 99 Wenn ich sie richtig verstehe, meinen Barrow und Tipler mit „ Omega Point “ nicht das Gleiche wie Teilhard de Chardin, dessen Theorien sie früher diskutiert haben (ebd., S. 195 - 204), sondern nur den Endpunkt der Entwicklung des Universums unter der Annahme, dass das Leben bis zu diesem Punkt überdauert hat (vgl. ebd., S. 675). 100 An dieser Stelle fügen die Autoren die folgende Fußnote ein: „ A modern-day theologian might wish to say that the totality of life at the Omega Point is omnipotent, omnipresent, and omniscient! “ (ebd., S. 682). 906 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Man muss diesen Schlüssen nicht zustimmen. Man kann sie sogar mit Martin Gardner, einem popularwissenschaftlichen Autor, der Barrow und Tiplers Werk für den New Yorker Review of Books besprach (Gardner 1986), als „ Completely Ridiculous Anthropic Principle “ (abgekürzt: CRAP, also auf Deutsch etwa: „ Mist “ ) bezeichnen. Die von Barrow und Tipler minuziös besprochenen und von anderen Autoren ergänzten Koinzidenzen bleiben jedoch zweifelsohne rätselhaft. Paul Davies kommt zum Schluss, dass wir vor folgenden Optionen stehen (Davies 2008, S. 328 - 337): 1) Das Universum ist absurd: Es ist einfach so, wie es ist, man soll keine Warum-Fragen stellen. 2) Das Universum ist einmalig: Es gibt eine grundlegende Einheit in der Physik, die es erforderlich macht, dass das Universum so ist, wie es ist. Eine künftige „ Theory of Everything “ wird erklären, warum die verschiedenen Merkmale des Universums genau die Werte haben müssen, die festgestellt wurden. 3) Wir haben es mit einem Multiversum zu tun: Es existieren mehrere Universen, die alle möglichen Kombinationen von Eigenschaften aufweisen, und wir befinden uns zwangsläufig in einem Universum, das uns erlaubt zu existieren. 4) Ein intelligenter Schöpfer entwarf das Universum mit dem Zweck, die Komplexität zu unterstützen und die Entstehung von Intelligenz zu ermöglichen. 5) Es gibt ein Lebensprinzip: Ein dem Universum zugrunde liegendes Prinzip zwingt es, sich zum Leben und Geist zu entwickeln; 6) Das Universum ist selbsterklärend: Es gibt eine geschlossene Erklärungsschleife oder kausale Schleife. Davies meint, diese Option habe den Vorteil, dass sie den unendlichen Regress der Gründe und den Glaubensakt, der nötig ist, um einen „ letzten Grund “ zu postulieren, vermeide. Der Nachteil aber ist, dass wir immer noch mit der Frage konfrontiert bleiben, warum gerade dieses sich selbst erklärende/ erschaffende System existiert und nicht ein anderes, das sich selbst ebenfalls erklären/ erschaffen könnte. Eine mögliche Antwort auf diesen Einwand wäre, dass alle solche Universen existieren, aber wir nur in einem bestimmten von ihnen leben: eine neue Variante der Option 3) (ebd., S. 335) 101 . 7) Wir leben in einem simulierten Universum: in einer virtuellen Realität. 8) Nichts von alledem: Möglicherweise können die merkwürdigen Koinzidenzen auf eine ganz andere Art erklärt werden, als bisher erwogen (ebd., S. 336). Wir werden später auf diese Möglichkeit zurückkommen. Am Ende seines Buches stellt Davies fest, dass die meisten Wissenschaftler der Position 1) oder einer ähnlichen zuneigen und die Positionen 3), 4), 5) und 6) ablehnen. Er meint, dass sich hinter dieser Ablehnung außerwissenschaftliche Gründe verbergen. Es gebe eine beachtliche Gruppe von Wissen- 101 Diese Variante scheint dem sog. Participatory Anthropic Principle (PAP) von Wheeler zu entsprechen. In einem Radiointerview stellt Wheeler es wie folgt dar: We are participators in bringing into being not only the near and here but the far away and long ago. We are in this sense participators in bringing about something of the universe in the distant past and if we have one explanation for what.s happening in the distant past why should we need more? (http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ John_Archibald_Wheeler, heruntegeladen am 20. 4. 2013). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 907 schaftlern, die, vielleicht als Reaktion auf den klassischen Homozentrismus der traditionalen Religionen oder vielleicht aus Bestürzung über die Brutalität der Menschheit und die Zerstörung der Umwelt, die Bedeutung des Menschen herabmindern - und damit auch die Bedeutung menschlicher Qualitäten wie Intelligenz (ebd., S. 337). Es sei grundsätzlich eine Illusion anzunehmen, die Wissenschaft sei wertfrei: Man sagt oft, die Wissenschaft sei wertfrei (oder habe es zu sein). Gewiss ist die Wissenschaft, wenn man sie richtig betreibt, das Reich menschlicher Nachforschungen, das am wenigsten von Vorurteilen und Ideologien vorbestimmt sein sollte. Aber Wissenschaftler - ich eingeschlossen - werden unvermeidlich Meinungen äußern, die auf eine allgemeinere Weltsicht hinzielen und dabei persönliche, kulturelle und sogar religiöse Elemente mit einbeziehen. (Ebd., S. 336) Davies selbst tendiert zu den Möglichkeiten 5) und 6), wenn er sich, wie er schreibt, damit auch dem Vorwurf mancher Wissenschaftler aussetzt, aus Nostalgie einem theologischen Weltbild anzuhängen, und obwohl er nicht glaubt, dass der Homo sapiens mehr als das zufällige Nebenprodukt vom Zufall bestimmter natürlicher Prozesse sei (ebd., S. 337). Davies schreibt: Ich glaube aber, dass Leben und Geist tief im Gerüst des Kosmos verankert sind, vielleicht durch ein schattenhaftes, nur halb zu erkennendes Lebensprinzip, und ich will ehrlicherweise zugeben, dass ich diesen Ausgangspunkt mehr im Herzen als im Kopf spüre. Mag sein, dass das eine Art religiöse Überzeugung darstellt. (Ebd., S. 337) Würdigung Davies, Barrow/ Tipler und Lovelock stellen das materialistische Weltbild nicht explizit infrage. Indem sie aber auf seltsame Koinzidenzen unseres Universums hinweisen, werfen sie Fragen auf, die innerhalb des materialistischen Paradigma zumindest schwer zu beantworten sind. Meines Erachtens kann man aus der Betrachtung der „ glücklichen Koinzidenzen “ sogar durchaus den Schluss ziehen, dass sie unmöglich nur per Zufall entstanden sein können. Wenn man bedenkt, dass es etwa 10 500 Universen braucht, um die „ zufälligen “ Koinzidenzen unseres Universums erklärlich zu machen (Hawking und Mlodinov 2010, S. 119), wird man vielleicht doch geneigt sein, statt dieser die Existenz einer oder mehrerer Intelligenzen zuzulassen, 102 die dafür gesorgt haben, dass sich menschliches Leben auf Erden entfalten konnte. Diese Konsequenz zieht z. B. Hugh Montefiore. In The Probability of God, das zwar schon 1985, also vor der Veröffentlichung von The Anthropic Cosmological Principle, erschien, aber in Kenntnis der allermeisten in diesem Werk behandelten Tatsachen geschrieben wurde. Er kommt zu dem Ergebnis, die beste 102 Ich muss nochmals betonen, dass ich nicht Anhänger der Intelligent-Design-Bewegung bin. Was ich für eine adäquate Erklärung der Weltphänomene erachte, wird sich im Kapitel „ Einige Erkenntnisresultate der Geisteswissenschaft “ weisen. 908 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Erklärung der Koinzidenzen sei die Annahme der Wirksamkeit eines persönlichen und weisen Gottes: I have argued that the simplest explanation of what seems like extraordinary coincidences is that matter orders itself in a way that is optimal for life by the personal will of an omniscient and infinite God. I have considered other possible explanations, based on the so-called ‘ anthropic principle ’ , but these seem to me to be far less probable, because the multiply possible universes which are in principle unknowable and for which there is no evidence. It is possible, of course, that the universe is the way it is because, if there were an infinite number of universes, one would be like our own; but there is no proof of, or even evidence for an ensemble of universes, and without such an ensemble, it is highly improbable that our universe could have occurred without any ultimate explanation. So it seems to me far more likely that it exists the way it does by the personal will of God. (Montefiore 2005, S. 171) Elisabeth Kübler-Ross: On Life after Death Biographie 103 1991 wurde ein schmales Büchlein mit dem Titel On Life after Death veröffentlicht, das sicherlich im Ozean der Literatur und wohl auch im schnell anwachsenden Strom der Publikationen zu Nahtoderfahrungen untergegangen wäre, stammte es nicht aus der Feder der renommierten Autorin Elisabeth Kübler-Ross (1926 - 2004). Kübler-Ross schloss ihr Medizinstudium 1957 in Zürich ab, 1958 heiratete sie ihren Mitstudenten, Emanuel Ross, und siedelte mit ihm in die Vereinigten Staaten über. Da sie schwanger war, durfte sie eine Facharztausbildung in Pädiatrie nicht antreten. Sie entschloss sich deshalb zu einem Psychiatriestudium. Ihre professionelle Erfahrung brachte sie in Kontakt mit vielen sterbenden Patienten, und da sie von der Art, in welcher sie üblicherweise behandelt wurden, entsetzt war, widmete sie sich ihrem Schicksal. Die Frucht ihrer einfühlsamen Beschäftigung mit diesen damals aus dem öffentlichen Bewusstsein größtenteils verbannten Menschen und ihren Erfahrungen (Kübler-Ross war bereits Medical Director des Family Service and Mental Health Center of South Cook County in Illinois) war das 1969 veröffentlichte Buch On Death and Dying (Kübler-Ross 1970), das ihren Ruhm begründete. Darin unterscheidet sie fünf Phasen des Sterbens ( „ five stages of grief “ ): Nichtwahrhabenwollen und Isolation (denial and isolation) (Kübler-Ross 1970, S. 38 - 49), Zorn (anger) (ebd., S. 50 - 81), Verhandeln (bargaining) (ebd., S. 82 - 84), Depression (ebd., S. 85 - 111) und Akzeptanz (acceptance) (ebd., S. 112 - 137), wobei nicht jeder Sterbende alle Phasen (insbesondere nicht die letzte) durchlaufen muss. Das populäre Magazin Life bezeichnete das Buch als eine „ profound lesson for the living “ , die medizinische Zeitschrift Medical Opinion & Review schrieb: „ This remar- 103 Basiert auf http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Elisabeth_Kübler-Rossund http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Elisabeth_Kübler-Ross (heruntergeladen am 22. 4. 2013). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 909 kable book [. . .] can help us face, professionally and personally, the end of life “ (ebd. Umschlag), und das American Journal of Psychiatry stellte fest: „ Dr. Ross projects her warm understanding, sophistication, and sensitivity into every page. [. . .A]n excellent book on the management of the terminally ill. [. . . It] offers hope for the understanding of human strengths and weaknesses experienced during a very difficult time “ (ebd. Umschlag). Kübler-Ross war seither eine weltweit gefragte Referentin und erhielt zahlreiche Ehrendoktorate für ihr Werk. 1977 kaufte sie mit ihrem Mann 20 ha Land in Escondilo in der Nähe von San Diego, Kalifornien, wo sie „ Shanti Nilaya “ (Heim des Friedens), ein Pflegezentrum für Sterbende und ihre Familien, gründete. Ferner wurde sie Mitbegründerin der American Holistic Medical Association. Zu etwa der gleichen Zeit entwickelte Kübler-Ross auch Interesse an außerkörperlichen und Nahtoderfahrungen und für den Spiritualismus. Nach dem Krieg besuchte sie das Konzentrationslager Majdanek in der Nähe von Lublin in Polen. Dort sind ihr Bilder von Schmetterlingen aufgefallen, die von den Kindern mit bloßen Fingernägeln in die Wände der Baracken geritzt wurden. Sie sagte Jahre später, dass sie damals nicht wusste, was diese Bilder zu bedeuten haben. Erst später, als sie umfangreiche Erfahrungen mit sterbenden Kindern gesammelt hatte, erkannte sie, dass die Kinder im Konzentrationslager ihrem Glauben Ausdruck verleihen wollten, dass ihre Seele nach dem Tode den Leib verlassen wird wie der schöne Schmetterling seinen nutzlos gewordenen Kokon. 104 Der Schmetterling als ein Symbol des Übergangs von einer niedrigen zu einer höheren Form der Existenz hat eine große Bedeutung in On Life After Death (Kübler-Ross 1991, S. 10, 11, 30, 48, 62). On Life after Death Weil sie von ihrem Naturell her und aufgrund ihrer wissenschaftlichen Ausbildung eine skeptische Halbgläubige war, schreibt Kübler-Ross, interessierte sie sich zunächst überhaupt nicht für das Thema des Lebens nach dem Tod (Kübler-Ross 1991 S. 44). Im Zuge ihrer Arbeit mit sterbenden Patienten fielen ihr aber einige sich wiederholende Phänomene auf, die sie nachdenklich machten. So erlebte sie z. B., dass viele sterbende Personen Halluzinationen ihrer verstorbenen Verwandten hatten, mit welchen sie eine Art Kommunikation unterhielten. Auch machte sie die Erfahrung, wie selbst die schwierigsten, am meisten mit ihrem Schicksal hadernden Patienten kurz vor dem Tode entspannt und gelassen wurden. Nach dem Tod zeugten ihre Gesichter von Frieden und Gleichmut (ebd., S. 45). Schließlich hatte sie ein 104 Elisabeth Kübler-Ross: „ Dem Tod ins Gesicht sehen “ (2003) (Fontana-Film in Kooperation mit SF DRS) http: / / www.youtube.com/ watch? v=jgubKFrFj2E (heruntergeladen am 22. 4. 2013). (Die Äußerungen von Kübler-Ross in Bezug auf die Rolle des Bildes des Schmetterlings finden sich zwischen 55'20'' und 57'00''.) 910 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft einschneidendes Erlebnis mit einer Patientin, die ihr von einer Nahtoderfahrung erzählte (ebd., S. 46f.). Zehn Monate nach dem Tod der Patientin erschien Kübler-Ross, die damals aus Unzufriedenheit ihren Dienst quittieren wollte, die Frau bei Tageslicht im Spital. Kübler-Ross beschreibt diese Begegnung wie folgt: I looked at her, and I don ’ t know if I thought by then, “ It could be Mrs. Schwarz, ” I mean, this woman had been buried for ten months, and I didn ’ t believe in all this stuff. I finally got to my desk, I touched everything that was real. I touched my pen, my desk, my chair, and it ’ s real. I was hoping that she would disappear. But she didn ’ t. She just stood there and stubbornly, but lovingly said, “ Dr. Ross, do you hear me? Your work is not finished. We will help you, and you will know when the time is right, but do not stop now. Promise? ” (Ebd., S. 35f.) Kübler-Ross bat die Erscheinung, eine kurze Notiz zu schreiben, um einen Beweis für die Realität der Begegnung zu haben, was die Erscheinung auch tat. (Zur Zeit der Abfassung des Buches hatte Kübler-Ross diese Notiz noch immer.) Als sie der Erscheinung versprach, ihre Arbeit fortzusetzen, verschwand Mrs. Schwarz (ebd., S. 36). Kübler-Ross machte später weitere außergewöhnliche Erfahrungen, z. B. unter Laborbedingungen iatrogen induzierte außerkörperliche Erfahrungen, wobei sie von mehreren Wissenschaftlern beobachtet wurde (ebd., S. 64). Sie hatte auch mehrere mystische Erfahrungen (ebd., S. 64). Die wichtigste davon, die Erfahrung einer geistigen Wiedergeburt, beschreibt Kübler- Ross detailliert (ebd., S. 65 - 68). Diese kulminierte in einem Zustand, den die Autorin als „ die größte Ekstase der Existenz, die menschliche Wesen je auf diesem physischen Plane erfahren kann “ bezeichnet 105 : I was in total love and awe of all life around me. I was in love with every leaf, every cloud, every piece of grass, every living creature. I felt the pulsation of the pebbles on the path, and I literally walked above the pebbles, conveying to them: “ I cannot step on you, I cannot hurt you. ” (Ebd., S. 67) Kübler-Ross betont, dass diese Erfahrung ihr Leben entscheidend verändert habe (ebd., S. 68). Allmählich ist in ihr auch ein Wunsch erwachsen, diese und andere Erfahrungen mit anderen Menschen zu teilen. Sie war sich jedoch bewusst, dass ihre Auffassung vom Leben nach dem Tod an die Öffentlichkeit zu tragen ihre Reputation gefährden würde (vgl. ebd., S. 68). On Life after Death basiert auf einer großen Zahl fremder Nahtoderfahrungen (Kübler-Ross schreibt, dass sie 20.000 [ebd., S. 9] bzw. 25.000 [ebd., S. 47] Fälle von solchen Menschen studierte) und eigenen Erlebnissen 106 . Das nur 80 Seiten dicke Büchlein besteht aus drei öffentlichen Vorträgen, die sie 105 Im Original: „ the greatest ecstasy of existence that human beings can ever experience on this physical plane “ . 106 In einem Interview stellte Kübler-Ross fest, dass sie eine solche Erfahrung gemacht hat (http: / / www.youtube.com/ watch? v=8uNGhCBOmCg (heruntergeladen am 23. 4. 2013). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 911 zwischen 1977 und 1982 in Amerika (San Diego und Head Waters, Virginia) und in der Schweiz gehalten hat, und aus einem kurzen letzten Kapitel „ Death of a Parent “ . Sie fängt ihr Buch mit einer Art Rechtfertigung an: Many people say: “ Of course, Doctor Ross has seen so many dying patients. Now she starts getting a bit funny. ” The opinion which other people have of you is their problem, not yours. This is very important to know. If you have a clear conscience and are doing your work with love, others will spit on you and try to make your life miserable. Then, ten years later, you are honored with eighteen doctorates for the same work. This is the situation in which I find myself. (Ebd., S. 9) Diese Rechtfertigung ist bezeichnend. Sie zeugt davon, wie stark das öffentliche und insbesondere wissenschaftliche Vorurteil auch mehr als fünfzehn Jahre nach der Veröffentlichung von Moodys Life after Life gegenüber Thema und Haltung der Autorin war. Die Form von Kübler-Ross ’ Ausführungen in On Life after Death sind von einer bemerkenswerten Direktheit, die sich teilweise dadurch erklären lässt, dass es sich ursprünglich um Vorträge handelt. Kübler-Ross diskutiert auch nicht abstrakt die Argumente für und gegen die These, ob es ein Leben nach dem Tod gebe oder nicht. Vielmehr erzählt sie einfach, wie dieses Leben konkret aussieht, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre. Was sie erzählt, entspricht in groben Zügen dem, was wir bereits aus Moodys Schriften kennen: Sobald man den Leib nach dem Tod verlässt, schreibt sie, bemerkt man, dass man alles, was am Orte des Sterbens passiert, wahrnehmen kann. Man registriert diese Ereignisse mit einem anderen als dem irdischen Bewusstsein. Sie weist darauf hin, dass die menschlichen Sinne eingeschränkt sind: Wir können die Seele nicht sehen, sie uns aber schon. Folglich kann eine Mutter oder ein Vater in tiefem Komazustand hören, wenn man zu ihnen sagt: „ Es tut mir leid “ oder „ Ich liebe dich “ (ebd., S. 12). Waren die „ Verstorbenen “ behindert oder starben sie infolge einer Unfallverletzung, so stellen sie in der nun beginnenden zweiten Phase fest, dass sie gesund und unversehrt sind: Sie können hören, sehen, tanzen (ebd., S. 13f., 50). Für die „ Verstorbenen “ gibt es weder Zeit noch Distanz: Sie können besuchen, wen sie wollen (ebd., S. 14, 51). Sie werden von Wesenheiten, in erster Linie früher verstorbene Verwandten, empfangen (ebd., S. 14, 31, 50). Für Kübler-Ross handelt es sich um beglaubigte Tatsachen: We have verified this beyond a shadow of a doubt, and I say this as a scientist. There will be always someone to help you with this transition, Most of the time it is a mother or father, a grandparent, or a child if you have lost a child. (Ebd., S. 31) Die „ Verstorbenen “ entdecken auch, dass die Geschichten von den Schutzengeln der Wahrheit entsprechen: Sie begegnen Wesen, deren Liebe unbedingt ist. Ganz kleine Kinder sind sich oft dieser Wesen bewusst und nennen sie „ Spielkameraden “ ( „ playmates “ ) (ebd., S. 15). Die ersten Wesen, denen wir nach dem Tode begegnen, sind die Verstorbenen, welche uns während ihres Lebens am meisten liebten (ebd.). Was die religiösen Figuren betrifft, so 912 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft begegnet man solchen, welche mit eigener religiösen Überzeugungen im Einklang stehen, Protestanten begegnen z. B. nicht der Jungfrau Maria. Jeder befindet sich in einem solchen Himmel, welchen er oder sie sich zu Lebzeiten vorstellte (ebd., S. 16). Man erkennt ferner, dass das Sterben ein Übergang von einer zu einer anderen Lebensform ist. Bevor man den physischen Leib verlässt, durchläuft man eine Phase, die bildhaft einen Übergang darstellt: Durchgang durch einen Tunnel oder durch ein Tor, Überqueren einer Brücke. Nach diesem Durchgang wird man von einem strahlend weißen Licht umarmt, das unbedingte Liebe ausstrahlt (ebd., S. 16, 60). Bei einer Nahtoderfahrung kann man dieses Licht allerdings nur kurz genießen, dann muss man in den Leib zurückkehren. Man erlebt eine Präsenz, die viele Menschen als Christus oder Gott bezeichnen, als Liebe oder auch als Licht. Unter dem Einfluss dieses Wesens realisiert man, dass das ganze Leben auf Erden eine Schule war, die man absolvieren musste, um gewisse Prüfungen zu bestehen oder gewisse Lektionen zu lernen. Die wichtigste ist die der unbedingten Liebe (ebd., S. 17, 63). Darauf beginnt die dritte Phase der nachtodlichen Existenz: In der Gegenwart des Lichtwesens (des Gottes, des Christus) schaut man auf sein Leben zurück. Auf dieser Stufe hat man nicht mehr das Bewusstsein der ersten oder das erweiterte Bewusstsein der zweiten Phase, man hat jetzt das Wissen. Man erinnert sich an jede Tat, die man vollbrachte, und jedes Wort, das man sprach, aber man hat jetzt auch die Einsicht in die Konsequenzen dieser Taten und Worte (ebd., S. 17). Man entdeckt, dass jede Lebenssituation und jedes Schicksal eine Gelegenheit zum inneren Wachsen waren, selbst ein Herzinfarkt, der Verlust einer geliebten Person, eine Lebenskatastrophe sind Gelegenheit für das Wachsen an Liebe und Verständnis (ebd., S. 18), und man klagt sich selbst für das Nichtergreifen dieser Gelegenheiten an (ebd., S. 19). Kübler-Ross erzählt das alles mit größter Selbstverständlichkeit und einem Ton unwiderstehlicher Hoffnung und Zuversicht. Sie schließt dieses Kapitel mit folgenden Worten ab: I want to assure you that it is a blessing to sit at the bedside of a dying patient. Dying doesn ’ t have to be a sad and horrible matter. Instead, you can experience many wonderful and loving things. What you learn from dying patients you can pass on to your children and to your neighbors, and maybe our world would become a paradise again. I believe now is the time to start. (Ebd., S. 20) Die erste Hauptbotschaft ihres Buches ist, dass der Tod nicht existiere (ebd., S. 21), er sei ein Übergang von einer Form der Existenz in eine andere, schönere (ebd., S. 82). „ Death is simply a shedding of the physical body like the butterfly shedding its cocoon “ (ebd., S. 30). Denn neben dem sterblichen Leib haben wir Menschen auch ein unsterbliches Wesen, ein inneres, spirituelles Wesen, unseren Schmetterling, der nicht nur unsterblich, sondern auch allwissend sei, ein Wesen, zu welchem wir uns immer mit der Bitte um 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 913 Hilfe und Rat wenden können (ebd., S. 62). Wir entstammen alle einer [göttlichen] Quelle, sind aus Gott geboren und jeder ist mit einer Facette der Gottheit ausgestattet (ebd., S. 43). Die zweite Hauptbotschaft des Buches ist, die wichtigste Lehre unserer irdischen Existenz bestehe darin, unbedingte Liebe zu lernen (ebd., S. 63). Kübler-Ross drückt schließlich ihre Überzeugung aus, dass wir (1991) in einer neuen Epoche leben, dass wir den Übergang von der Epoche der Wissenschaft, der Technik und des Materialismus zu der neuen Epoche der authentischen Spiritualität geschafft haben, wobei sie damit ausdrücklich keine Religiosität meint (ebd., S. 42f.). Sie betont auch, dass sie ihre mystischen Erfahrungen mit den anderen Menschen teilen will, die ihr geholfen haben zu erkennen (nicht nur zu glauben), dass die Welten und Existenzen, welche jenseits unseres wissenschaftlichen Verständnisses des Universums liegen, real und allen Menschen zugänglich seien (ebd., S. 63; vgl. auch S. 68). Nebenbei möchte ich noch erwähnen, dass Kübler-Ross eine interessante Auffassung der menschlichen Natur formuliert. Ihrer Meinung nach ist der Mensch weder ein nur physisches Wesen noch die aus der westeuropäischen Tradition gut bekannte Dualität von Leib und Seele, noch ist er ein dreigliedriges Wesen aus Leib, Seele und Geist, als das ihn die Griechen verstanden. Nach Kübler-Ross setzt sich der Mensch aus einem physischen, emotionalen, intellektuellen und einem spirituellen „ Quadranten “ zusammen, die harmonisch zusammenarbeiten sollen (ebd., S. 63). Dieser Aspekt ihres Menschenbildes wird sich für uns später als relevant erweisen. Würdigung Was soll man von Kübler-Ross ’ Ausführungen und ihren Überzeugungen halten? Sie betont mehrfach, dass sie von einer eher skeptischen und wissenschaftlich distanzierten Haltung geprägt sei. Ihre Einlassungen weichen jedoch ziemlich weit von der heutigen wissenschaftlichen Orthodoxie ab, weshalb der von ihr am Anfang des Buches geschilderte Vorbehalt nicht weiter verwundert: „ Many people [will] say: ‚ Of course, Doctor Ross has seen so many dying patients. Now she starts getting a bit funny ‘“ . Ich glaube aber, dass der Weg von Kübler-Ross für das 20. Jahrhundert durchaus typisch ist. Sie ist in einer Zeit aufgewachsen, in der der christliche Glaube im öffentlichen Leben stark in den Hintergrund trat. Elternhaus und Schule erziehen zu einer skeptischen und im Grunde materialistischen Weltauffassung, die man als Kind und Jugendlicher mehr oder weniger unkritisch akzeptiert. Dann wird man mit andersartigen Erfahrungen konfrontiert. Menschen erzählen von Nahtoderlebnissen oder von „ Visionen “ ihrer verstorbenen Verwandten, und diese machen einen nachdenklich. Denn wenn sie von mehreren in ähnlicher Form erzählt werden, ist es schwierig, sie als bloße Phantasieprodukte abzutun. Vielleicht macht man selbst gewisse „ mystische “ Erfahrungen, die einen dann endgültig davon überzeugen, dass das, 914 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft was innerhalb der materialistischen Weltanschauung ein bloßer Traum ist, die Wirklichkeit, und das, was innerhalb dieser Weltanschauung die Wirklichkeit ist, in Wirklichkeit nur ein Traum ist. Wir sind diesem Muster im Falle von Elisabeth Kübler-Ross, aber auch schon bei Aldous Huxley, Alister Hardy, Ian Stevenson, Raymond Moody und George Ritchie begegnet, wir werden ihm auch noch mehrmals im Laufe der weiteren Ausführungen dieses Kapitels begegnen. Nach diesen Kübler-Ross unterstützenden Worten möchte ich noch einige skeptische Bemerkungen anfügen. Wir haben gesehen, dass sie drei Stufen des Lebens nach dem „ Tod “ unterscheidet, wovon die zwei ersten auch von Menschen beschritten werden, die nach einer Nahtoderfahrung zum Leben zurückkehren, die dritte aber jenen vorbehalten ist, die „ wirklich “ gestorben sind. Diese besteht vor allem in einer Art wertendem Rückblick auf das soeben abgeschlossene Leben. Man muss an diesem Punkt die Frage stellen: Woher weiß sie das? Die Zurückgekehrten haben die Phase nicht erreicht, und die Toten können keine Auskunft mehr geben. Kübler-Ross selbst äußert sich nicht zu den Quellen ihrer Einsicht, der Leser bleibt also im Dunkeln. Zu dieser offensichtlichen Schwierigkeit gesellt sich eine weitere. Wenn Kübler- Ross, wie sie schreibt, 20.000 oder sogar 25.000 Nahtoderfahrungen untersucht hat, 107 dann müsste sie festgestellt haben - was schließlich bereits Raymond Moody machte - dass die einzelnen Berichte oft weit voneinander abweichen. 108 Dann aber ergibt sich die Frage, inwiefern diese Beschreibung die Realität der geistigen Welt und der Erfahrung der Seelen nach dem Tode tatsächlich widerspiegeln. Was bei solchen Berichten zumal auffällt, ist, dass sie eine Welt schildern, die der irdischen, sinnlichen Welt sehr ähnlich ist. Ist sie wirklich so, oder nehmen die Überlebenden diese Wirklichkeit nur durch ihre persönliche „ Brille “ wahr? Bezeichnend ist in dieser Hinsicht die Bemerkung, dass der „ Himmel “ , in welchem sich die Menschen nach dem Tode befinden, ihren Vorstellungen des Himmels entspricht (ebd., S. 16). Gibt es in der nachtodlichen Welt nichts anderes als „ subjektive “ Vorstellungen? Gibt es dort keine „ objektive “ , allen Menschen gemeinsame Wirklichkeit? Wenn es keine solche gibt, dann ist diese „ Wirklichkeit “ nicht viel mehr wert als ein Traum. Gibt es sie, so fragt sich, woher wir die Zuversicht schöpfen können, dass die höchst individuellen und nur in groben Zügen übereinstimmenden Berichte über sie dieser Wirklichkeit entsprechen? Diesen Fragen werden wir uns später eingehend widmen. 107 Diese Zahl scheint mir übrigens recht hoch gegriffen, ich muss sagen, dass ich es als unwahrscheinlich erachte, dass sie mit so vielen Menschen, die solche Erfahrungen gehabt haben, persönlich gesprochen hat. Wenn sie diese Zahl ernst meinte, dann kannte sie wahrscheinlich viele dieser Fälle nur aus der Literatur. Dann aber sind die Möglichkeiten ihrer Untersuchung eingeschränkt. 108 Bereits früher machte Huxley darauf aufmerksam, dass die Visionen unter dem Einfluss von Drogen sehr unterschiedlich, ja einzigartig sind, dass man sie aber wie eine gemeinsame Gattung darstellt (Huxley 2011, S. 49). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 915 Paul Pearsall: The Heart ’ s Code. Tapping the Wisdom and Power of Our Heart Energy Biographie 109 1998 erschien ein Buch, das die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit auf bisher unbekannte und innerhalb des materialistischen Erklärungsparadigmas schwer erklärliche Phänomene lenkt: Paul Pearsalls The Heart ’ s Code. Tapping the Wisdom and Power of Our Heart Energy (Pearsall 1999). Paul Pearsall (1942 - 2007) studierte an der Wayne State University und an der University of Michigan. Er schloss sein Post-Graduate-Studium an der Harvard University und Albert Einstein School of Medicine ab. Pearsall wurde als klinischer Neuropsychologe an der University of Hawaii und beim Board of Directors des Hawaii State Consortium for Integrative Health Care lizenziert. (Er selbst stellt sich als Psychoneuroimmunologe vor, ebd., S. 8). Er arbeitete auf dem Gebiet der Herztransplantation an der University of Arizona School of Medicine und als Senior Research Advisor für die Human Energy Systems Laboratory an der University of Arizona. Daneben war er u. a. Präsident und CEO von Ho`ala Hou, eines gemeinnütziges Instituts in Hawaii, das sich der Untersuchung und Anwendung von alten hawaiianischen Prinzipien des gesunden Gleichgewichts im Leben, Lieben und Arbeiten widmet. Pearsall erhielt zahlreiche Auszeichnungen für seine Forschungen über die Beziehung zwischen Gehirn, Herz und Immunsystem und für seine bahnbrechenden Forschungen über den Weitergabe von Erinnerungen bei Herztransplantationen. Diese Forschungen führten zur Gründung des Heart- Mind-Programms der renommierten Cleveland Clinic, Cleveland, Ohio. Pearsall starb an einer spontanen Hirnblutung am 13. Juli 2007. Die Oxford Biobliographical Society zählt ihn zu den 1000 einflussreichsten Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts. Pearsall schrieb 18 Bestseller, die alle in mehrere Sprachen übersetzt wurden, und war auch ein begehrter Redner. The Heart ’ s Code. Tapping the Wisdom and Power of Our Heart Energy Pearsall beginnt sein Buch mit einer autobiographischen Geschichte: Zehn Jahre zuvor hatte er das unerklärliche Gefühl, dass ihm ein gesundheitlicher Kollaps drohe. Er wurde von vagen Gefühlen der Angst geplagt, sein Herz schien zu schreien, als wolle es ihm sagen, dass er im Begriff sei zu sterben sei. Seine Ärzte waren nach einigen Tests jedoch überzeugt, dass seine Befürchtungen „ nur im Kopf “ entstanden sind. Während einer schlaflosen Nacht haben sie sich dann zu einer konkreten Diagnose kristallisiert: Die verzweifelte Botschaft seines Herzens war, dass er an Krebs sterbe (Pearsall 1999, S. 2). Die Ärzte beruhigten ihn jedoch weiter. Nach einem emotionalen Gespräch mit seinem Hausarzt wurde schließlich ein Scan durchgeführt, der einen 109 Basiert auf http: / / www.paulpearsall.com/ info/ about.html (heruntergeladen am 30. 12. 2012). 916 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Tumor in der Hüfte ergab. Pearsall wurde außerdem mit einem Lymphom der 4. Stufe diagnostiziert. Da sich der Krebs bereits in seine Knochen ausbreitete, wurden Pearsall nur geringe Überlebenschancen eingeräumt. Er hat jedoch überlebt. Nach Monaten der Ganzkörper-Strahlungstherapie und einer Knochenmarktransplantation wurde Pearsall geheilt. Für ihn selbst waren jedoch noch andere Faktoren verantwortlich: During my subsequent treatment, my heart spoke to me more like a loving grandparent than a stern teacher. It told me that my wife ’ s and sons ’ hearts were sending energy that could help me heal. I could feel that energy whenever they were near me and often when they were not. My heart told me that, if I would let it, it could send energy into persons and things and extract energy from them. It told me which doctors and nurses had “ good hearts ” that could resonate with my own and warned me about those hearts that were not yet open or were sending a dissonant and disruptive energy that could interfere with my healing. [. . .] It told me that, despite what my brain said, I did not “ have ” cancer. It said my cells had lost their memory for how to multiply in a more connective, healthy way and, as a result, were engaging in a thoughtless “ cancering ” . It said my cells were not getting the right information to teach them how to stay in harmony with my other body cells because they had somehow become disconnected from their coordinator of healthy energy - the heart. My cancer seemed to be the result of cells that had become heartless. (Ebd., S. 2f.) Pearsall schreibt weiter, dass er für jede weitere Strahlungsbehandlung sein besorgtes Gehirn beruhigte, so dass es seinem Herzen erlaubte, eine energetische Verbindung mit der Bestrahlungsmaschine einzugehen (sic! Englisches Original: „ allowed my heart to establish a healing energy connection with the radiation device “ (ebd., S. 4). Diese positive Verbindung schien eine konkrete Wirkung gehabt zu haben. Ein Strahlungstechniker bemerkte: „ This is very, very strange, but you seem to get a much more measurable effect with much less dosage and time than most patients. What are you doing to our machine? “ (ebd.). Pearsall setzt seinen Bericht fort: When I sobbed in response to my brain ’ s sense of total isolation, my heart spoke again, telling me it could connect with my wife ’ s and sons ’ hearts no matter where they were and even though I was isolated from them by the lead walls that blocked the lethal radiation energy from escaping to affect other people ’ s cells. When I focused on my heart and transcended my brain ’ s fears about its body, I could feel the energy of those I loved enveloping, soothing, and healing me. I could feel the energy of my wife and sons no matter where they were and later could tell them where they had been and exactly what they had been doing while I was receiving my treatments even when their plans had suddenly changed and were unknown to my brain. My heart helped me to not only send energy to the machine but extract energy from those I loved. [. . .] As a cancer and bone marrow transplant survivor who has become emotionally close to hundreds of transplant patients and their donors ’ families, who has held a beating heart in his hand and felt its amazing spiritual essence, and who has not only read about but observed and taken part in experiments on invisible subtle 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 917 energy, I have little doubt that the heart is the major energy center of my body and a conveyor of a code that represents my soul. I don ’ t need much more convincing than my heart ’ s victory over my cancer has already provided, so my bias in favor of the heart is clearly evident. As a scientist and clinician, however, my brain demands more evidence, and that evidence is now emerging. (Ebd.) Im Hauptteil ist Pearsalls Buch eine Sammlung von Belegen für die These, dass das Herz viel mehr als eine organische Pumpe ist. Diese Belege gehen in zwei Richtungen: Einerseits handelt sich um konkrete Beispiele für Veränderungen von Nahrungsmittelpräferenzen, Träumen, Phantasien und sogar Persönlichkeitseigenschaften beim Herzempfänger, um die Übernahme von Eigenschaften des Spenders (vgl. ebd., S. 88ff., 123ff.). In diese Kategorie fällt die Geschichte einer 35-jährigen Frau, die das Herz einer 24-jährigen Prostituierten erhielt, die bei einer Messerstecherei getötet wurde. Sie erzählt: I never really was all that interested in sex. I never really thought about it much. Don ’ t get me wrong, my husband and I had a sex life, but it was not a big part of our life. Now, I tire my husband out. I want sex every night and I masturbate two to three times a day sometimes. I used to hate X-rated videos, but now I love them. I feel like a slut sometimes and I even do a strip for my husband when I ’ m in the mood. I would never have done that before my surgery. (Ebd., S. 89) Oder betrachten wir die Geschichte von zwei Männern, von denen der erste, Jim, das Herz und die Lungen von einem unbekannten Spender und der zweite, Fred, Jims Herz bekam. Während eines Treffens der beiden Ehepaare beschrieben die Frauen der beiden die Persönlichkeitsveränderungen ihre Ehemänner nach der Operation. Freds Frau, Karen, stellte fest: Fred has always been the most easy going, laid back, cool-headed, carefree man I have ever known. [. . .] But now I ’ d say Fred ’ s a real go-getter [. . .]. He ’ s moving all the time, and although he almost never did before, he loses his temper much more easily. I ’ d say he ’ s gone from a cool head to a hot head. (Ebd., S. 123) Darauf erwiderte Jims Ehefrau, Sandra: It looks like your husband got my Jim ’ s hot heart. [. . .] Even though he had trouble breathing and was sick a lot, Jim has always been like a buzz saw cutting through life. He would blow up at anybody who got in his way, drove his car like it was his weapon and hardly very had time for anything but work. Now I hardly know him anymore. [. . .] He is [. . .] much cooler and calmer. He does seem to get depressed much more and very suddenly without explanation. Of all things, he sends me flowers almost every month. He used to say flowers were a waste of good money, but now I think he likes them more than I do. (Ebd., S. 123f.). Karen sagte aber noch etwas Verblüffenderes: Ihr Mann sprach sie im Bett mit „ Sandy “ an: Nobody would believe it, but for months Fred would say the name Sandy when we made love. I could have killed him. He said I was hearing things and he still denies it, but when he was really passionate, he used to say Sandy. (Ebd., S. 124) 918 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Bald stellte sich heraus, dass Jim seine Frau Sandra im Bett mit „ Sandy “ angesprochen hatte, nach der Operation aber gar nicht mehr anredete. Kann es sein, dass das Herz nicht nur Charaktereigenschaften, sondern auch konkrete, auch intime Erinnerungen aufbewahren kann? Diese zunächst verrückt anmutende Vermutung wird durch viele Fallbeispiele belegt. Ich möchte zwei solcher Beispiele kurz referieren. Das erste ist die Begegnung der Witwe eines Herzspenders mit dem Empfänger seines Herzens. Während dieses emotionalen Treffens äußerte Glenda, die Witwe, den Wunsch, die Brust des Empfängers zu berühren. Der Empfänger willigte ein, worauf Glenda ihre Hand auflegte und sagte: „ I love you David. Everything is copacetic. “ Als die Mutter des Empfängers dies hörte, wies sie darauf hin, dass ihr Sohn seit der Transplantation oft das Wort „ copacetic “ gebrauche, der weder auf Englisch noch in ihrer Muttersprache Spanisch etwas bedeutet. Glenda hörte diese Bemerkung und sagte, dass dieses künstliche Wort ein geheimes Signalwort zwischen ihr und ihrem Mann gewesen sei, dass alles in Ordnung sei: „ Every time we argued and made up, we would both say that everything was copacetic “ (ebd., S. 76). Bereits dieser Fall grenzt an das in unserer Kultur Zumutbare bzw. Glaubhafte. Der nächste überschreitet diese Grenze deutlich. Pearsall schreibt, dass er einmal an einer internationalen Konferenz für Psychologen, Psychiater und Sozialarbeiter in Houston teilnahm und einen Vortrag über seine Ideen zu der Rolle hielt, welche das Herz in unserem seelischen Leben spiele. Darauf meldete sich eine Psychiaterin zu Wort: I have a patient, an eight-year-old little girl who received the heart of a murdered ten-year-old girl. Her mother brought her to me when she started screaming at night about her dreams of the man who had murdered her donor. She said her daughter knew how it was. After several sessions, I just could not deny the reality of what this child was telling me. Her mother and I finally decided to call the police and, using the descriptions from the little girl, they found the murderer. He was easily convicted with the evidence my patient provided. The time, the weapon, the place, the clothes he wore, what the little girl he killed had said to him [. . .] everything the little heart transplant reported was completely accurate. (Ebd., S. 7) Aufgrund solcher und ähnlicher Fälle kommt Pearsall zur Überzeugung, dass man von einer neuartigen Form der Energie sprechen müsse. Er stützt sich dabei auf die Arbeiten von Gary Schwartz, Professor für Psychologie, Neurologie und Psychiatrie und Direktor des Human Energy Systems Laboratory an der Universität Arizona, und seiner Mitarbeiterin Linda Russek, Forschungspsychologin beim Harvard University Student Health Service und Kodirektorin der Human Energy Systems Laboratory. Die von ihnen entwickelte Theorie ( „ dynamic systems memory theory “ ) postuliert, dass alle Systeme Energie austauschen, die Informationen beinhaltet, die die beteiligten Systeme verändert (ebd., S. 13). Pearsall nimmt ferner eine L-Energie an, wobei „ L “ für Leben oder genauer „ subtiles Leben “ (ebd., 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 919 S. 5) steht. Seiner Meinung nach legen die Forschungsresultate und Fallbeschreibungen, welche er in seinem Buch referiert, nahe, dass the heart thinks, cell remember, and that both of these processes are related to an as yet mysterious, extremely powerful, but very subtle energy with properties unlike any other known force. (Ebd., S. 4f.) Er spricht in diesem Zusammenhang vom „ Kode des Herzens “ (Heart ’ s Code - der Titel des Buches). Darunter ist eine Art individualisierte Form dieser Energie zu verstehen, die für jeden Menschen spezifisch ist und sich vom Herzen aus über den ganzen Körper und sogar darüber hinaus verbreitet: „ The heart ’ s code is recorded and remembered in every cell in the body as an informational template of the soul, constantly resonating within and from us, sent forth from our heart “ (ebd., S. 5). Pearsall verspricht sich von der Erforschung dieser Phänomene eine Annäherung zwischen moderner Medizin und traditionellen Heilungsmethoden: If the preliminary insights regarding these prospects continue to be verified, science may be taking the first tentative steps to understanding more about what shamans, kahuna 110 , priests, spiritual leaders, and healers from ancient traditional medicines have been teaching about for centuries - the energy of the human spirit and the coded information that is the human soul. (Ebd., S. 5) Pearsall ist sich selbstverständlich bewusst, dass ihn das Wort „ Lebensenergie “ ins Abseits des Vitalismus rückt (ebd., S. 39). Ihre Existenz quasi a priori auszuschließen, bedeute aber, dem eigenen Skeptizismus gegenüber nicht skeptisch zu sein, was das Lernen aus der Erfahrung verhindere. Er erinnert daran, dass noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Idee, dass uns winzige, für das Auge unsichtbare Lebewesen krank machen können, von den medizinischen Autoritäten als „ barer Unsinn “ abgetan wurde (ebd., S. 12). Deshalb könne auch die Existenz einer weiteren Naturkraft nicht ausgeschlossen werden: The possibility of a fifth force [in Ergänzung zu den vier bekannten Naturkräften: Gravitationskraft, elektromagnetische Kraft und die starke und schwache Nuklearkraft] should not be ruled out because of our current inability to directly measure it with our current instrumentation or to understand the nature of its encoded information. (Ebd., S. 41) Im Anschluss beschreibt Pearsall zwanzig Eigenschaften der von ihm postulierten „ L-Energie “ . Ich werde auf sie hier nicht ausführlich eingehen, will aber einige seiner Punkte herausgreifen. Unter Punkt 14 stellt Pearsall fest: „ Of all the forms of energy, ‘ L ’ energy is the one best and longest known and written about forms. It is described in ancient occult and spiritual documents as the intrinsic vial force of all creation “ (ebd., S. 58). 110 Hawaianische Heiler (vgl. ebd., S. 58). 920 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Einer seiner hawaiianischen Lehrer, ein Kahuna, d. h. Heiler, habe ihm gesagt: All healers know of the energy your are talking about. Our ancestors and their ancestors knew and taught of it. They called it “ mana ” coming from the “ na ’ au ” , or from your gut, and the pu ’ uwai, your heart. It is as real as the ocean, as powerful as the wind, and as infinite as the night sky. (Ebd., S. 58) Pearsalls Punkt 15 lautet: Two of the oldest established forms of medicine, Chinese and Japanese medicine, are based on subtle energy, which is calles “ Qui ” or “ Chi ” in China and “ Ki ” in Japan. (Ebd., S. 58) Punkt 16: So pervasive is “ L ” energy that indigenous peoples and ancient religious systems have given it over one hundred different names and base their healing systems on it. In India and Tibet, this energy is called “ prana ” . Polynesians call it “ mana ” , and the Sufis called it “ baraka ” . Jews in the cabalistic tradition call it “ yesod ” , the Iroquois call it “ orendam ” , the Ituraea pygmies call it “ megbe ” , and Christians call it the “ Holy Spirit ” . (Ebd., S. 59) Punkt 17: Many modern psychologists have dealt with and named “ L ” energy. They have used names such as “ the fifth force ” and “ X ” energy. Psychologist Wilhelm Reich called it “ orgon ” , Sigmund Freud called it “ libido ” , Franz Anton Mesmer (like biologist Lugi Galvani) called it “ animal magnetism ” . Karl von Reichenbach called it “ odic forcem ” . Psychologists in Russia used to call it “ bioplasma ” . (Ebd.) Punkt 19: One of the oldest sources of healing lessons, yoga literature, refers to centers of “ L ” energy as “ chakras ” , from the Sanskrit word for wheel, describing spinning vortices of energy. (Ebd., S. 60) Würdigung Ich möchte an dieser Stelle keine ausführliche Auseinandersetzung mit Pearsalls Ideen führen. Schon die These, dass (praktisch) alle alten Kulturen wie auch diverse Psychologien von dem Gleichen unter verschiedenen Namen gesprochen haben und dass dieses universelle Gleiche mit Pearsalls „ L-Energie “ identisch sei, ist selbstverständlich sehr umstritten. Mir geht es hier lediglich um die Darstellung des Denkansatzes eines führenden Wissenschaftlers der Gegenwart, der weit von der geltenden Orthodoxie abweicht, und sich dennoch nicht in müßigen Spekulationen verliert, sondern um das Verständnis konkreter empirischer Phänomene ringt, die gewöhnlich als unliebsame „ Anomalien “ unter den Teppich gekehrt werden. Die bereits erwähnten Gary Schwartz und Linda Russek halten in ihrem Vorwort dafür, dass Pearsalls Ansatz auf eine bevorstehende Revolution in unserem Denken 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 921 deutet. Und sie erinnern daran, dass Pearsalls Ideen das Schicksal vieler bahnbrechenden Entdeckungen teilen: On first hearing [what Pearsall is saying] may sound fantastic if not outlandish. However, the same was once said for the idea that the earth was round, and that the earth revolves around the sun. Today we know that there is more to life than our unenducated common sense teaches us. Science has taught us that the earth is not actually flat, it only appears that way until we look more closely. Science has taught us that the sun does not actually revolve around the earth, it only appears that way until we look more closely. And science is now teaching us that the heart is not without intelligence and wisdom, it only appears that way until we look more closely. (Schwartz und Russek 1999, S. xii) Abgesehen davon, dass es überhaupt nicht ersichtlich ist, wie sich seelische Eigenschaften eines Menschen in einer (oder mehreren) Zellen seines Leibes aufbewahren ließen, ergeben sich für diese Theorie auch andere gravierende Schwierigkeiten. Wäre sie die ganze Wahrheit, müsste man erwarten, dass schon beim Transfer einiger fremder Zellen in den Leib eines Menschen und zumal bei der Transplantation ganzer Organe (Leber, Niere) Persönlichkeitsveränderungen auftreten. Sie scheinen sich jedoch auf Herztransplantationen zu beschränken. Peter und Elisabeth Fenwick: Past Lives. An Investigation into Reincarnation Memories Nur ein Jahr nach Pearsalls Buch erschien ein weiteres Werk, das einen wesentlichen Beitrag zur Infragestellung des materialistischen Dogmas der Wissenschaft darstellt: Peter und Elisabeth Fenwicks Past Lives. An Investigation into Reincarnation Memories (Fenwick und Fenwick 2001). Das Buch widmet sich einer Thematik, die uns bereits aus dem Werk von Ian Stevenson bekannt ist: der Reinkarnation der menschlichen Seele. Biographien 111 Peter Fenwick ist Neuropsychiater, Fellow der Royal College of Psychiatrists in London und hat über Epilepsie und Ende-des-Lebens-Phänomene gearbeitet. Er ist Absolvent des Trinity College, Cambridge, wo er Naturwissenschaften studierte, und erhielt seine klinische Ausbildung am St. Thomas ’ Hospital in London. Er ist Dozent (senior lecturer) am King ’ s College, London, wo er als Berater am Institut für Psychiatrie tätig ist, zudem beratender Neuropsychologe am Maudsley und am John Radcliffe Hospital. Er arbeitet mit dem Mental Health Group an der University of Southampton, und hält eine Gastprofessur am Riken Neurosciences Institute in Japan. 1996 111 Basieren auf http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Peter_Fenwick_(neuropsychologist) und http: / / www.enlightennext.org/ magazine/ bios/ peter-fenwick.asp (heruntergeladen am 4. 12. 2012). 922 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft wurde Fenwick zum beratenden Neuropsychiater emeritus der Epilepsie- Abteilung am Maudsley Hospital ernannt, die er 20 Jahre geleitet hatte. Fenwick hat sich viele Jahre mit der Beziehung von Geist und Gehirn befasst. Er verfügt über umfangreiche Forschungserfahrung und veröffentlichte über 200 Arbeiten in medizinischen und wissenschaftlichen Zeitschriften über die Funktionsweise des Gehirns und auch einige Artikel über Meditation und veränderte Bewusstseinszustände. Er ist Mitglied der Redaktion einer Reihe von Zeitschriften, darunter des Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry, des Journal of Consciousness Studies und des Journal of Epilepsy and Behaviour, sowie Präsident der Horizon Research Foundation, einer Organisation, die Forschung im Bereich des Ende-des-Lebens-Erlebnisse unterstützt. Das Interesse des Autors an Nahtoderfahrungen wurde durch Raymond Moodys Buch Life after Life geweckt. Anfänglich reagiert Fenwick auf Moodys anekdotische Evidenz mit Skepsis. Das änderte sich durch ein Gespräch mit einem Patienten, der ihm von einer ähnlichen Nahtoderfahrung berichtete. Seitdem hat Fenwick mehr als 300 Beispiele von Nahtoderfahrungen gesammelt und analysiert. Elizabeth Fenwick ist Autorin zahlreicher Bücher über Gesundheit, Probleme der Familie, Schwangerschaft und Kinderbetreuung und war als Sexualberaterin für das Radio und die Zeitschrift Company tätig. Past Lives. An Investigation into Reincarnation Memories P. und E. Fenwick erinnern daran, dass die Idee der Reinkarnation in vielen alten Kulturen verbreitet war, und fragen, wieso wir heute keine Seele und kein Überleben der Seele nach dem Tode mehr zulassen (Fenwick und Fenwick 2001, S. 310). Ursächlich dafür sei der Weg, den das wissenschaftliche Denken unserer Kultur seit etwa dem 17. Jahrhundert genommen hat. Als richtungweisend erachten sie Galileo Galilei, der eine scharfe Trennung zwischen den Gegenständen der äußeren Welt und den inneren Vorstellungen dieser Gegenstände und die Trennung von primären und sekundären Qualitäten einführte (ebd., S. 311f.). 112 Zuvor war die Welt eine Einheit. Nun wurde sie zu etwas, was außerhalb des Menschen und ohne Zweck existiert: It was a dead world, a random world, a world without meaning and purpose. It was also a world which had no ethics and no moral values because those are purely subjective, secondary qualities, and the secondary-quality world of perception was unimportant and subordinate. (Ebd., S. 312f.) Dieser dualistische Ansatz erwies sich zweifelsohne als äußerst erfolgreich. Er erlaubte uns tiefe Einblicke in die Strukturen der Natur und ermöglichte 112 Vgl. die Diskussion der primären und sekundären Qualitäten oben, Kapitel „ Einzug der Materialismus in die Wissenschaft “ . 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 923 uns, die Funktionsweise des Gehirns zu verstehen und zahlreiche Korrelationen zwischen Bewusstseinszuständen (auch mystischer oder transzendenter Zustände) und der Gehirnaktivität nachzuweisen. Allerdings gibt es innerhalb dieses Forschungsrahmens keinen Übergang von der neurobiologischen Aktivität zur bewussten Erfahrung (ebd., S. 313): Die gängigen neurobiologischen Theorien handeln nicht vom Bewusstsein, sondern lediglich von den Korrelaten des Bewusstseins (ebd., S. 314). Ohne ein angemessene Verständnis der Natur des Bewusstseins muss aber die Frage nach der Existenz der Seele und der Möglichkeit der Reinkarnation offenbleiben (ebd., S. 313): Galilean science has told us almost everything about the nature of the world - and almost nothing about the nature of our own consciousness as, by definition, its theories exclude consciousness (secondary qualities). (Ebd., S. 313f.) Wir brauchen also eine neue Wissenschaft des Bewusstseins, eine Wissenschaft, die das Primat der bewussten Erfahrung anerkennt (ebd., S. 315). Diese Wissenschaft wird die objektive und die subjektive Welt als zwei verschiedene Sichtweisen des Gleichen erweisen (ebd.). Die Grundlagen für die Entwicklung einer solchen Wissenschaft erblicken die Autoren in der Quantenmechanik. Ein wichtiger Aspekt dieser Theorie sei nämlich das Postulat, dass der Zustand des Systems unbestimmt bleibt, bis die Eigenschaften des Systems gemessen werden. Der Kollaps der Wellenfunktion zu einem bestimmten physischen Zustand ist das Resultat der Messung. Der Messvorgang benötige aber das menschliche Bewusstsein (ebd., S. 316). Die Fenwicks erwähnen in diesem Zusammenhang die Theorie von Stuart Hammeroff und Roger Penrose, nach der es Orte im Gehirn gibt, an denen Quantenprozesse stattfinden. Man könne deshalb vermuten, dass das Gehirn als Ganzes wie ein quantenmechanischer Computer funktioniere (ebd., S. 317). Die Konsequenzen dieser Annahme seien weitreichend. Denn man könne vermuten, dass die Seele ein virtuelles Feld (analog zum morphogenetischen Feld Sheldrakes) sei, das an keinen bestimmten raumzeitlichen Ort gebunden ist. Interagiere dieses Feld mit einem Gehirn, so könne dieses unbestimmte Feld zu einer bestimmten Seele „ kollabieren “ . Nach dem Tode würde das Feld zu seiner ursprünglichen Form, jedoch bereichert um die Lebenserfahrungen, zurückkehren und infolge einer weiteren Interaktion mit einem weiteren Gehirn wieder zu einer neuen Seele werden. Auf diese Weise werde die Idee der Reinkarnation verständlich (ebd.). Die Autoren erwähnen die Tatsache, dass viele Personen, welche unter bestimmten Schädigungen des Gehirns leiden, von transzendenten Erfahrungen berichten: Sie erleben z. B. die Welt oft als aus Liebe bestehend und jedes ihrer Element als intrinsisch lebendig und bewusst (ebd., S. 319). Die Fenwicks schreiben, dass es zwei Möglichkeiten gibt, diese Fakten zu interpretieren: Man könne behaupten, dass das beschädigte Gehirn abnormale, pathologische Erfahrungen produziere, oder aber, dass die Schädigung das Fenster auf die wahre 924 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Wirklichkeit öffne 113 (ebd., S. 320). Wenn man einmal bereit ist, die Unabhängigkeit der Seele vom Gehirn zu akzeptieren, schreiben sie weiter, dann bleibt die konkrete Form ihrer Existenz eine Sache des persönlichen Geschmacks und dessen, was man als intellektuell am plausibelsten erachtet. Man könne die Überzeugung von der Existenz der Seele nach dem Tode auf zwei Arten gewinnen: durch eigene Erfahrung (z. B. Nahtoderfahrung) oder durch den Glauben: The fortunate few have some personal experience to guide them; for the rest of us there is only uncertainty. But perhaps we need some uncertainty about our chances of survival. As Martin Gardner 114 , in The Whys of a Philosophical Scrivener, points out: “ If we knew that the celestial Emerald City were around the bend of death, and knew it with the kind of certainty that we know the existence of London or Paris, our lives would be disrupted by our impatience to get there. You must travel a road to reach the end of it, but jumping out of a window will get you off the earth in just a few minutes. (Ebd., S. 321) Würdigung Ich will an dieser Stelle den theoretischen Unterbau Fenwicks für den Glauben an die Existenz der Seele unabhängig vom Gehirn und an die Reinkarnation nicht ausführlich diskutieren sondern nur festzuhalten, dass ihre Theorie (bzw. die von Hammeroff/ Penrose) wegen ihres spekulativen Charakters nur eine sehr bescheidene Unterstützung seitens der wissenschaftlichen Gemeinschaft, selbst in Kreisen, die für unorthodoxe Ideen in Bezug auf das Verhältnis Gehirn/ Bewusstsein offen sind, genießt. Eine Bemerkung will ich mir dennoch erlauben: Wenn es tatsächlich so wäre, dass die Überzeugung, dass die Seele nach dem Tod in einer viel schöneren als der irdischen Welt existiert, den Drang mit sich brächte, aus der Existenz im „ Tal der Träne “ möglichst bald auszubrechen, warum beobachtet man bei Menschen, welche Nahtoderfahrungen hatten und von der nachtödlichen Existenz in einer schönen, lichten Welt überzeugt sind, nicht einen markanten Anstieg der Suizidrate? Es ist nicht jener theoretische Unterbau, welcher mich dazu bewogen hat, das Buch der Fenwicks in meiner Überschau zu berücksichtigen. Viel wichtiger ist aus meiner Sicht der Umstand, dass wir es bei den Fenwicks, und insbesondere bei Peter Fenwick, mit gestandenen Wissenschaftlern zu tun haben, die es wagten, die Existenz der Seele und die Möglichkeit ihrer Reinkarnation öffentlich als ernstzunehmende weltanschauliche Optionen darzustellen. Interessanterweise stand Peter Fenwick zu diesem Zeitpunkt 113 Diese Interpretation läge auf der Linie von Interpretationen des Gehirns als einer „ reducing valve “ (s. oben), aber die Fenwicks erwähnen die entsprechenden Autoren James, Bergson und Huxley in ihrem Buch nicht. 114 Ein bekannter amerikanische Mathematik- und Wissenschaftsautor mit Interessen an Esoterik, der 1914 - 2010 lebte. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 925 seines Lebens kurz vor dem Pensionsalter (er war 64 im Jahre der Veröffentlichung des Buches). In dieser Hinsicht fügt er sich in die Reihe jener Wissenschaftler, die erst gegen Ende ihrer wissenschaftlichen Karriere ihren Überzeugungen kundtaten, Überzeugungen, welche sie vielleicht schon viel früher unterhielten. Muss man nicht daraus schließen, dass selbst noch am Ende des letzten Jahrhunderts die Angst vor möglichen nachteiligen Konsequenzen für die eigene Karriere zu groß war, als dass man diesen Schritt schon früher wagen wollte? Bruce Lipton: Biology of Belief. Unleashing the Power of Consciousness, Matter and Miracles Biographie 115 Bruce Harold Lipton, der Autor des im Folgenden behandelten Werkes Biology of Belief aus dem Jahr 2005, begann seine wissenschaftliche Karriere als Zellbiologe. 1966 erhielt er den B. A. in Biologie von C. W. Post Campus der Long Island University. 1971 erwarb Lipton seinen Doktortitel in der Entwicklungsbiologie an der Universität von Virginia in Charlottesville, 1973 wurde er an der Abteilung für Anatomie an der University of Wisconsin School of Medicine angestellt. Liptons Forschung über Muskeldystrophie wie auch an geklonten menschlichen Stammzellen konzentrierten sich auf die molekularen Mechanismen, die das Verhalten der Zelle steuern. Eine von ihm entwickelte Technik der Gewebetransplantation fand Anwendung in der Gentechnik. Seit 1982 beschäftigte sich Lipton mit den Prinzipien der Quantenphysik. Dabei stand für ihn die Frage im Vordergrund, wie sie sich für das Verständnis der Informationsverarbeitungssysteme der Zelle nutzbar machen lassen. Er veröffentlichte bahnbrechende Studien über die Zellmembran, die zeigten, dass sie das organische Äquivalent eines Computerchips ist. Seine Forschungen an der Stanford University School of Medicine zwischen 1987 und 1992 erbrachten, dass die Umwelt, welche über die Membran wirksam ist, das Verhalten und die Physiologie der Zelle kontrolliert und die Gene an- und ausschaltet. Diese Entdeckung, die im Widerspruch zu der etablierten wissenschaftlichen Ansicht standen, dass das Leben von den Genen gesteuert sei, war Vorbote der Epigenetik, die heute zu den wichtigsten Feldern der Forschung im Bereich der Biologie gehört. 2006 erhielte Liption den Best-Science-Book-Preis für The Biology of Belief (USA Book News) und 2009 den Goi-Peace-Preis 116 . Er ist derzeit Gastdozent 115 Basiert auf http: / / www.brucelipton.com/ about und http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Bruce_Lipton (heruntergeladen am 6. 12. 2012), wie auch auf der biographischen Information in seinem Buch (Lipton 2008, S. 203f.). 116 Die Goi Peace Foundation vergibt jährlich einen Friedenspreis zu Ehren von Einzelpersonen oder Organisationen, die in verschiedenen Bereichen zur Förderung des 926 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft am New Zealand College of Chiropractic, Auckland. Lipton war Gast in Hunderten von TV-und Radio-Shows und nahm als Keynote-Sprecher an zahlreichen nationalen und internationalen Konferenzen teil. Er hält Vorträge für konventionelle und komplementärmedizinische Fachleute und für Laien darüber, wie sich die Ergebnisse der Spitzenforschung mit der Geist-Körper- Medizin und spirituellen Prinzipien vereinbaren lassen. Biology of Belief. Unleashing the Power of Consciousness, Matter and Miracles Liptons Buch, von dem über 150.000 Exemplare verkauft wurden, ist, wie bereits der Titel vermuten lässt, kein fach-, sondern eindeutig ein populärwissenschaftliches Werk. Man kann deshalb nicht von ihm erwarten, dass es seine Hauptthese, dass das Bewusstsein die Gene beeinflussen kann, wissenschaftlich „ beweist “ oder in allen Einzelheiten belegt. Obwohl Lipton völlig Recht hat, wenn er feststellt, dass die von ihm eingeleitete Epigenetik zu einem zentralen Forschungsfeld avancierte - das ENCODE-Forschungsprogramm hat offenkundig gemacht, dass längst nicht alle Steuerungsmechanismen des Organismus sich in den Genen befinden 117 - , sind seine Vorstellungen von der Zellmembran als einer Art Gehirn der Zelle (Lipton 2008, S. 158) und insbesondere vom Einfluss des „ Geistes “ auf die Gene (ebd., S. 53f.) doch weit entfernt, in den Rang eines etablierten Wissens aufzusteigen. Liptons Buch ist auch weniger wegen seiner wissenschaftlichen Aussagen wichtig. Vielmehr interessiert es als Zeugnis des persönlichen Weges eines Gegenwartswissenschaftlers von der herrschenden materialistischen Orthodoxie zu tief spirituellen Ansichten. Schauen wir uns diesen Weg an. Lipton schildert, wie es in seinem Leben zu einer tiefen Krise kam: Die Ehe ging in die Brüche, er steckte in finanziellen Schwierigkeiten, war beruflich frustriert, was zu einem Nervenzusammenbruch führte (ebd., S. xxi). Seine ganze akademische Ausbildung und professionelle Karriere hatte er in sterilen, leblosen Klassenzimmer, Hörsälen, und Laboratorien verbrachte. Glücklicherweise bekam er in dieser Situation ein kurzfristiges Sabbatical an einer Medizinschule in der Karibik (ebd., S. xxii). Dort konnte er im Moment und für den Moment leben. Er hatte wieder Freude am Leben (ebd., S. xxiii). Lipton schreibt: „ I became more human and more humane while living in that island paradise. I also became a better cell biologist. “ (ebd.). Auf seiner Insel in Weltfriedens und der Menschheit beigetragen haben (http: / / www.goipeace.or.jp/ english/ aboutus/ index.html, heruntergeladen am 6. 12. 2012). 117 Interessanterweise ist 2005, als Lipton an seinem Buch arbeitete, in Nature ein Artikel erschienen, dessen Titel einen Aspekt dieser Einsicht prägnant zum Ausdruck brachte: „ It ’ s the Ecology, Stupid “ (Powell 2005). Vielleicht infolge einer reiner Koinzidenz, vielleicht unter dem Einfluss dieser Formulierung betitelte Lipton ein Kapitel seines Buches mit „ It ’ s the Environment, Stupid “ (ebd., S. 19). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 927 der Karibik tauchte er in die dortigen reichen Ökosysteme ein und fing an, die Natur als ein lebendes, atmendes, integriertes System statt als Ansammlung von unabhängigen und beziehungslosen Arten wahrzunehmen: Sitting quietly within garden-like island jungles and snorkeling among the jeweled coral reefs gave me a window into the island ’ s amazing integration of plant and animal species. All live in a delicate, dynamic balance, not only with other life forms but with the physical environment as well. It was life ’ s harmony - not life ’ s struggle - that sang out to me as I sat in the Caribbean Garden of Eden. I became convinced that contemporary biology pays too little attention to the important role of cooperation because its Darwinian roots emphasize life ’ s competitive nature. (Ebd., S. xxiii) Während seiner Anstellung als Anatomieprofessor an der St. George ’ s University School of Medicine auf Grenada machte Lipton 1985 die nach eigener Einschätzung bedeutsame Entdeckung, dass die Zellmembran mit ihren zahlreichen Rezeptoren wie ein Halbleiter (Transistor oder Computerchip) funktioniert (ebd., S. 61). Die Membran leitet Impulse von außerhalb der Zelle in das Zellinnere, und zwar nicht nur physische, sondern auch die von (z. B. elektromagnetischen) Feldern und Gedanken (ebd., S. 53). Dies bedeutet nach Lipton, dass die Gene durch die Umwelt an-, und abgeschaltet werden (ebd., S. xxiv), dass also die Funktionsweise der Zelle primär durch die Umwelt, nicht durch den genetischen Kode gesteuert wird (ebd., S. 56). Der Zellkern ist demnach nicht der Steuerungsmechanismus der Zelle, sondern nur eine Art Gedächtnis, das die DNS-Programme zur Produktion der Proteine enthält ( „ Double Helix Memory Disk “ ): I had been trained as a nucleus-centered biologist as surely as Copernicus had been trained as an Earth-centered astronomer, so it was with a jolt that I realized that the gene-containing nucleus does not program the cell. Data is entered into the cell/ computer via the membrane ’ s receptors, which represent the cell ’ s “ keyboard ” . Receptors trigger the membrane ’ s effector proteins, which act as the cell/ computer ’ s “ Central Processing Unit ” (CPU). The CPU effector proteins convert environmental information into the behavioral language of biology. (Ebd.) Die zweite Konsequenz dieser Einsicht ist für Lipton, dass wir nicht passive Opfer unseres genetischen Kodes sind, sondern unsere biologische Ausstattung zumindest in gewissem Rahmen gestalten können: „ We are the drivers of our own biology, just as I am the driver of this word processing program ” , schreibt er (ebd., S. 63). Dieser Schluss ergibt sich aus der Annahme, dass die Zellmembran die Information, welche sich in den Feldern außerhalb der Zelle befindet, und insbesondere die Inhalte unserer Gedanken in die Zelle leiten kann. Lipton zitiert in diesem Zusammenhang den berühmten Spruch Gandhis: Your beliefs become your thoughts Your thoughts become your words Your words become your actions 928 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Your actions become your habits Your habits become your values Your values become your destiny. (Ebd., S. 114) Lipton schreibt weiter, dass jener Moment auf Grenada nicht nur seine wissenschaftlichen, sondern auch seine weltanschaulichen Ansichten grundlegend veränderte: Er gewann die Überzeugung, dass ein ewiges Leben, das den Leib transzendiert, Realität ist: That Caribbean moment not only transformed me into a membrane-centered biologist, it also transformed me from an agnostic scientist into a card-carrying mystic who believes that eternal life transcends the body. (Ebd., S. 63) Es ist zunächst unerklärlich, wieso die Einsicht in die vermittelnde Rolle der Zellmembran zu der Überzeugung gelangen lässt, dass es ein „ ewiges Leben “ außerhalb der Leibes gebe. Man kann Liptons innere Verwandlung besser nachvollziehen, wenn man seine Beschäftigung mit der Quantenphysik berücksichtigt. Wir haben früher gesehen, dass man die Quantenphysik so interpretieren kann, dass sie den traditionellen Begriff der Materie als eines festen, undurchdringlichen, unzerstörbaren Stoffes hinfällig macht. Materie in diesem Sinne ist eine Illusion (ebd., S. 69ff.), Atome sind nicht die kleinsten, unzerstörbaren Teilchen, sondern im Grunde Energieformen (ebd., S. 70). Es ist dann naheliegend zu vermuten, dass das Leben nicht in diesen Energieformen erzeugt wird, sondern von außen (durch ein bestimmtes Feld) geprägt wird, und dass diese Energieformen durch menschliche oder sonstige Gedanken beeinflusst werden können. Auf diesem Hintergrund erscheint der menschliche Leib nicht mehr als der Produzent von Gedanken, sondern als eine Art Fernsehapparat, der lediglich Signale empfängt, die außerhalb seiner produziert werden (ebd., S. 160). Diese Sichtweise hat weitgehende Folgen. Das Selbst des Menschen, das normalerweise im Kopf lokalisiert wird, existiert außerhalb des Leibes (ebd., S. 161) und ist daher unsterblich: I ran wild-eyed into the medical library because the nature of the cell ’ s membrane that was “ downloaded ” into my awarness in the wee hours of the morning convinced me that we are immortal, spiritual beings who exist separately from our bodies. (Ebd., S. 154, vgl. S. 203) Lipton beruft sich in diesem Zusammenhang auf die Erfahrungen von Empfängern von Herztransplantaten und äußert die Vermutung, dass bei der Verpflanzung eines Organs, dessen Zellen ja mit den Identitätsbzw. Selbst-Rezeptoren (ebd., S. 159) des Spenders ausgestattet sind, die Information aus seinem Selbst, das sich im Umfeld befindet, in den Organismus des Empfängers übergehen (ebd., S. 162). Dies legt für Lipton wiederum den Gedanken der Reinkarnation nahe. Wenn man nämlich annimmt, dass irgendwann in der Zukunft ein Embryo zur Welt kommt, der mit den gleichen Identitätsrezeptoren ausgestattet ist wie ein jetzt lebender Mensch, dann wird der Körper dieses Embryos die gleiche Information aus der 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 929 Umwelt empfangen wie der jetzt lebende Körper, d. h. dieser künftige Körper wird dasselbe Selbst offenbaren (ebd.). Wenn man den Gedanke, dass unser Selbst sich in der Umwelt befindet, weiterverfolgt, dann gelangt man zumal zu der Vorstellung, dass wir Menschen „ earth-landers “ sind (ebd., S. 163). Wie wir einen Roboter auf einen Planeten schicken und fernsteuern können, um Informationen über diesen Planeten zu erhalten, so kann man sich vorstellen, dass wir Menschen dazu da sind, unsere irdischen Erfahrungen unserem unsterblichen Geiste, unserem eigentlichen Selbst zu übertragen (ebd.). Aus dieser Perspektive ergibt sich der Folgegedanke, dass Evolution ein Aufstieg zu höherem Bewusstsein ist: Die Erfahrungen des Lebens werden gesammelt, um das ewige, geistige Selbst zu bereichern (ebd., S. 166). Weil unsere Selbstrezeptoren nur einen kleinen Teil der Information, die in der Umwelt vorhanden ist, in einen bestimmten Körper leiten können, ist jeder Mensch nur ein kleiner Teil eines großen Ganzes, ein kleiner Teil Gottes (ebd., S. 162). Bei der Rückkehr an die Universität stieß Liptons intellektuelle Wende erwartungsgemäß auf Unverständnis: To the chagrin of my U. S. faculty colleagues, I returned to Wisconsin a screaming radical bent on challenging the sacred foundational beliefs of biology. I even began to openly criticize Charles Darwin and the wisdom of his theory of evolution. In the eyes of most other biologists, my behavior was tantamount to a priest bursting into the Vatican and claiming the Pope was a fraud. (Ebd., S. xxiii) Bald gab er seine Stelle in Wisconsin auf und bewarb sich nach einem Intermezzo als Rockmusiker um eine Anstellung an der School of Medicine in Stanford. Im Rahmen des Anstellungsinterviews hielt er einen Vortrag, in welchem er nicht nur Darwins „ Dog-eat-Dog “ -Auffassung der Evolutionin Frage stellte, sondern auch das Dogma der Biologie, dass die Gene das Leben kontrollieren. My outspoken challenge of the Central Dogma turned me into even more of a scientific heretic. Not only was I a candidate for excommunication, I was now suitable for burning at the stake! In a lecture during my interview at Stanford, I found myself accusing the gathered faculty, many of them internationally recognized geneticists, of being no better than religious fundamentalists for adhering to the Central Dogma despite evidence to the contrary. (Ebd., S. xxiv) Nach dem Vortrag brach der Hörsaal in Empörung aus und Lipton war überzeugt, dass dies das Ende seiner Bewerbung sei. Ihm wurde jedoch zu seinem Erstaunen die Stelle angeboten. Trotz der Unterstützung einiger Wissenschaftler in Stanford hatte Lipton das Gefühl, dass seine Botschaft auf taube Ohren stieß, und entschloss sich schließlich, die Universität für immer zu verlassen (ebd., S. xxiv). Seit dieser Zeit widmet sich Lipton, wie bereits in der biographischen Skizze angedeutet, der Aufgabe, eine Brücke zwischen der heutigen Wissen- 930 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft schaft und dem Spiritualismus zu bauen. Er meint, dass wir in einer Zeit wichtiger Entscheidungen leben (ebd., S. 155). Anstatt die Erde als einen lebenden Organismus zu verstehen, der vor menschlicher Gier und Ignoranz geschützt werden muss, hat sich die Wissenschaft vom Geist abgewandt und sucht die Kontrolle und Herrschaft über die Natur zu erlangen (ebd., S. 155f.). Dies führe dazu, dass wir ein Leben ohne eine moralischen Zusammenhang leben, dass die moderne Welt an die Stelle spiritueller Ziele den Krieg um materielle Güter setzt (ebd., S. 156). Die Zukunft liege jedoch nicht im Krieg, sondern in der Kooperation, welche bereits - entgegen Darwins Grundannahme - in der Natur herrsche (ebd., S. 13, 16). Gewalt sei kein notwendiger Teil unserer Biologie (ebd., S. 169), die neuste Forschung zeige, dass selbst die Menschenaffen, von denen man vermutete, dass ihre Sozialordnung auf dem Recht des Stärksten aufbaut, ohne Gewaltausübung auskommen (ebd., S. 170). Unsere Zukunft liege nicht im „ survival of the fittest “ , sondern im „ survival of the most loving “ (ebd., S. 169, 171). Am Ende seines Buches richtet sich Lipton mit einem leidenschaftlichen Appell an den Leser: Join communities of like-minded people who are working toward advancing human civilization by realizing that Survival of the Most Loving is the only ethic that will ensure not only a healthy personal life but also a healthy planet. [. . .] [. . .] Use the intelligence of cells to propel humanity one more rung up the evolutionary ladder where the most loving do more than just survive, they thrive. (Ebd., S. 171) Würdigung Man muss zunächst festhalten, dass Liptons Auffassung von der Rolle der Zellmembrane als eines Vermittlers der Steuerungssignale von außerhalb der Zelle eine unbewiesene Hypothese ist. Dass die Zellmembrane mit zahlreichen Rezeptoren ausgestattet ist, ist unbestritten, aber daraus lässt sich nicht die These ableiten, dass die Zellen von außen gesteuert werden. Lipton gibt dies auch zu: However, I concede that while science led me to my euphoric moment of insight, the experience resembled instantaneous conversions described by mystics. Remember the biblical story of Saul who was knocked off his horse with a lightning bolt? (Ebd., S. 154) Nüchtern betrachtet, zwingt uns unser heutiges Verständnis der komplexen Maschinerie der Zelle keineswegs zu den Ansichten, die Lipton vertritt. Und noch weniger zwingt es uns zu jenen Annahmen, die er in seinem Epilog „ Spirit and Science “ zum Ausdruck bringt: Wir seien unsterbliche Wesen, deren Selbst sich nicht im Körper, sondern in der Umwelt befinde; wir seien eine Art „ Erde-Landegeräte “ dieses Selbst, das ihm die Erfahrungen des irdischen Lebens übermitteln könne, dieses Selbst könne sich reinkarnieren, und das Ziel der Evolution sei die Entwicklung höherer Bewusstseinsstufen 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 931 und der Liebe. Es gibt keinen logisch gültigen Schluss (im Sinne der Formallogik), welcher es erlauben würde, aus Liptons Prämissen diese Schlussfolgerungen zu ziehen. Dennoch besagt dieselbe formale Logik, dass man durchaus zu den richtigen Schlüssen aus falschen Prämissen gelangen kann. Es ist also aus Sicht der formalen Logik nicht auszuschließen, dass Liptons Thesen wahr sind, selbst dann, wenn seine Urteilsgrundlage schlicht falsch oder zumindest höchst unsicher, sogar unwahrscheinlich ist. Das Phänomen der Konversion oder Bekehrung ist nicht nur innerhalb des religiösen Kontextes bekannt. Mit solchen Phänomenen hat sich bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Begriff des Gestaltwechsels auch die Gestaltpsychologie beschäftigt. Später hat Norwood Russell Hanson das Thema aufgegriffen und damit wiederum eine Folie für Kuhns The Structure of Scientific Revolutions geliefert. Diesem Ansatz zufolge verhält es sich mit einem Weltbild ähnlich wie mit einem Vexierbild, in dem der Betrachter einmal eine schöne, junge Frau, ein anderes Mal eine alte Hexe erblickt, ohne dass es sachliche Gründe für die ein oder andere „ Lesart “ gäbe. Ein solcher Gestaltwechsel liegt auch dem Übergang von der religiös dominierten zur materialistischen Weltauffassung zugrunde. Als sich dieser Übergang vollzog, gab es keine zwingenden empirischen Argumente für eine atomistische bzw. materialistische Interpretation der Tatsachen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass uns die Welt, die früher ein Ausdruck des Göttlichen, später der Weltseele war und uns heute als eine Art alte Hexe (ein sinnleeres, lieb- und gefühlloses Zufallsprodukt des Urknalls) gilt, irgendwann wieder in der ursprünglichen Gestalt erscheinen wird. Für eine gebührende Beurteilung von Liptons Ansichten muss allerdings die emotionale Komponente seiner „ Konversion “ berücksichtigt werden. Seine „ Entdeckung “ war von intensiven Glücksgefühlen begleitet und zog - was sie von üblichen Forschungserfolgen unterscheidet - eine dauerhafte Veränderung seines Lebens nach sich, eine Verbesserung seiner körperlichen Gesundheit und des Lebensgefühls (ebd. S. 204). Mir scheint durchaus verständlich, dass ein solcher Perspektivwechsel, der den Menschen als höheres geistiges Wesen begreift, über das der Tod keine Macht hat, ein Gefühl der tiefen und dauerhaften Freude mit sich bringt. Liptons Erfahrung ähnelt in dieser Hinsicht stark den Nahtoderfahrungen: Die Menschen mit solchen Erlebnissen berichten davon, dass ihr Leben durch diese Erfahrung erweitert und vertieft wurde (Moody 1975, S. 65), dass sie sich nicht mehr vor dem Tode fürchten (Moody ebd., S. 68, vgl. auch Lommel van 2009, S. 73f.), dass sie durch diese Erfahrung ein gesteigertes Selbstwertgefühl erlangen (Lommel van ebd., S. 79), dass das Leben für sie an Bedeutung gewonnen hat (ebd., S. 81) und, vielleicht besonders bemerkenswert, dass sie durch ihre Erfahrung einen Impuls erhalten haben, Mitgefühl und Liebe in den Vordergrund rückten (Moody ebd., S. 67, van Lommel ebd., S. 80, 401). Ist es möglich, dass Liptons „ Konversion “ durch eine Art Begegnung mit derselben Wirklichkeit bewirkt wurde, die auch in den Nahtoderfahrungen „ berührt “ wird? 932 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Lassen wir diese Frage an dieser Stelle offen. Nur kurz sei jedoch darauf hingewiesen, dass von einem Gefühl der Lebenssteigerung infolge einer Berührung mit der transzendenten Wirklichkeit auch die Mystiker berichten (van Lommel ebd., S. 348 - 370). Und auch bei solch „ orthodoxen “ Denkern wie Platon und Aristoteles gibt es Hinweise in diese Richtung: Die Sonne gibt dem Sichtbaren nicht nur die Fähigkeit, gesehen zu werden, sondern auch Werden, Wachstum und Nahrung, ohne selbst dem Werden unterworfen zu sein. [. . .] Also wird den Objekten der Erkenntnis vom Guten nicht nur Erkennbarkeit gegeben, sondern sie erhalten auch Existenz und Wesen von ihm, das nun nicht selbst ein Seiendes ist, sondern über das Sein an Erhabenheit und Kraft hinausragt. (Platon: Der Staat: 6. Buch 509 b, Platon 1994, S. 323) 118 Wenn das Glück ein Tätigsein im Sinne der Trefflichkeit ist, so darf darunter mit gutem Grund die höchste Trefflichkeit verstanden werden: das aber kann nur die der obersten Kraft in uns sein. Mag nun der Geist oder etwas anderes diese Kraft sein, die man sich gewiss als wesenhaft herrschend, führend, auf edle und göttliche Gegenstände gerichtet vorstellt - mag diese Kraft selbst auch göttlich oder von dem, was in uns ist, das göttlichste Element sein - das Wirken dieser Kraft gemäß der ihr eigentümlichen Trefflichkeit ist das vollendete Glück. Dass dieses Wirken aber ein geistiges Schauen [Theoria] ist, haben wir bereits festgestellt. (Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch X 1177a1 - 1177a16, Aristoteles 1994, S. 287f.) Hans-Peter Dürr, J. Daniel Dahm, Rudolf zur Lippe: Potsdamer Manifest 2005. „ We have to learn to think in a new way “ 2006 erschien eine kleine Schrift mit einer großen Sprengkraft: Potsdamer Manifest 2005 „ We have to learn to think in a new way “ . Sie wurde von Hans-Peter Dürr, J. Daniel Dahm und Rudolf zur Lippe verfasst (Dürr et al. 2006, S. 9). Der Titel und die Form der Schrift (die übrigens 2005 in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wurde) ist eine Anspielung auf das 1955 veröffentlichte Russell- Einstein-Manifest, das eindringlich vor den Folgen eines Einsatzes der Nuklearwaffen warnte und die Nuklearabrüstung forderte. Die Autoren des Manifests und der ihm zugrunde liegenden „ Denkschrift “ vertreten die Meinung, dass fünfzig Jahre nach dem Russell-Einstein-Manifest die Menschheit vor nicht weniger gravierenden Gefahren steht, die sie vor allem in der Eskalation von struktureller Gewalt und im globalisierten Kapitalismus erblicken. Sie äußern die Befürchtung, dass diese Entwicklung „ auf einen kalten Krieg gegen alle und alles hinausläuft, was zu Ressourcen für eine Steigerung materieller Bemächtigung gemacht werden kann oder solche Bemächtigung zu behindern scheint “ (ebd., S. 13). Die Hauptbotschaft der Autoren ist, wie der Untertitel der Schrift besagt, dass wir angesichts dieser Bedrohung lernen müssen, auf eine neue Art zu denken. 118 Vgl. auch das Höhlengleichnis: Der Staat 7. Buch 514 a - 518 b (Platon 1994, S. 327 - 332). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 933 Biographien 119 Hans-Peter Dürr (1929 - 2014) war von 1958 bis 1976 Mitarbeiter von Werner Heisenberg. 1978 wurde er dessen Nachfolger als Direktor des Max-Planck- Instituts für Physik und Astrophysik in München, was er mit Unterbrechung bis 1997 blieb. Im Jahre 2004 wurde ihm der Große Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen. J. Daniel Dahm, der 2003 mit einer Dissertation zum Thema „ Wechselspiel zukunftsfähiger Lebensstile “ promovierte, ist seit 1998 freier Mitarbeiter am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie. Rudolf Prinz zur Lippe ist ein bekannter deutsche Philosoph. Er habilitierte 1973 bei Theodor W. Adorno in Sozialphilosophie und Ästhetik, von 1971 bis 1976 lehrte er in Frankfurt Philosophie, zuletzt auch Soziologie. Von 1974 an war er Inhaber des Lehrstuhls für Ästhetik an der Universität Oldenburg. Potsdamer Manifest 2005 Die drei Autoren des Manifests äußern die Überzeugung, dass das materialistisch-deterministische Weltbild der klassischen Physik mit seinen starren Vorstellungen und reduktiven Denkweisen wesentlich das Denken und Handeln der gesellschaftlichen und politischen Eliten prägte (ebd., S. 16, 39). Dieses Bild sei für die Ausbreitung der alten Prinzipien zentralistischer Kontrolle, gewaltsamer Bemächtigung des Anderen, rücksichtsloser Zweckversetzungen, letztlich für die Machtstrategien, welche einerseits zur Kolonialpolitik, andererseits zur Monopolisierung und rücksichtslosen Ausbeutung der Ressourcen der Erde führte, verantwortlich (ebd., S. 39). Dieses Weltbild führte zu den mannigfaltigen Krisen, mit denen sich die Menschheit heute konfrontiert sieht: die Konflikte um die Verteilung von Wohlstand, um die Möglichkeiten des Zugangs zu öffentlichen Gütern (ebd., S. 14), die lebensbedrohenden Veränderungen des Klimas (ebd., S. 26). Bezeichnend für die Ausrichtung des Manifests ist die Behauptung, dass diese vielfältigen Krisen Ausdruck einer geistigen Krise im Verhältnis von Menschen zu der lebendigen Welt seien. Diese geistige Krise wiederum hängt nach der Meinung der Autoren eng mit dem weltweit favorisierten materialistischmechanistischen Weltbild und seiner Vorgeschichte zusammen (ebd., S. 14, s. auch ebd., S. 27): Aus dieser Bedrohung erwächst die Motivation der Schrift: Unsere tiefe Sorge, dass wir, als Angehörige der Species Homo sapiens, die lebendige Vielfalt unserer Erde und unsere kreativen Entfaltungsmöglichkeiten immer weiter reduzieren und unser Überleben in Frieden und gemeinsamem Austausch irreversibel gefährden, gibt uns den Mut zu dieser Schrift, und unsere Erkenntnis, neue Pfade einschlagen zu müssen, den Anlass dazu. (Ebd., S. 14) 119 Die Angaben basieren auf den kurzen Biographien der Autoren, welche in der Schrift enthalten sind (ebd., S. 117f.). 934 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Indessen entwickelt die neuere Physik, die Quantenphysik, ein völlig anderes Bild der Wirklichkeit, das aus der materialistisch-mechanistischen Weltvorstellung herausführt: Die Einsichten der modernen Physik, der ‚ Quantenphysik ‘ , legen eine Weltdeutung nahe, die grundsätzlich aus dem materialistisch-mechanischen Weltbild herausführt. Anstelle der bisher angenommenen Welt, einer mechanistischen, dinglichen (objektivierbaren), zeitlich determinierten ‚ Realität ‘ , entpuppt sich die eigentliche Wirklichkeit (eine Welt, die wirkt) im Grunde als ‚ Potenzialität ‘ , ein nichtauftrennbares, immaterielles, zeitlich wesentlich indeterminiertes und genuin kreatives Beziehungsgefüge, das nur gewichtete Kann-Möglichkeiten, differenziertes Vermögen (Potenzial) für eine materiellenergetische Realisierung festlegt. Die im Grunde offene, kreative, immaterielle Allverbundenheit der Wirklichkeit, erlaubt die unbelebte und auch die belebte Welt als nur verschiedene - nämlich statisch stabile bzw. offene, statisch instabile, aber dynamisch stabilisierte - Artikulationen eines ‚ prä-lebendigen ‘ Kosmos aufzufassen. (Ebd., S. 14f.) Der Dualismus von Materie und Geist sei damit überholt, aber noch nicht überwunden. Die Alternative des 19. Jahrhunderts hieß „ positivistische Naturerklärung “ oder „ christlicher Schöpfergott und Weltenherrscher “ , schreiben die Autoren: In beiden Denksystemen wurde der Mensch der Natur gegenübergestellt und war entweder durch göttliche Berufung oder durch evolutionäre Überlegenheit aufgefordert, sich die Natur untertan zu machen. Diese falsche Alternative müsse zugunsten eines Bewusstseins der Allverbundenheit aufgegeben werden, das sich aus der neueren Physik ergebe (ebd., S. 36). Auf der Grundlage ihrer revolutionären Einsichten bieten sich neue Richtlinien für das gesellschaftliche Handeln. Die menschlichen Gemeinschaften mit ihren geistigen und kulturellen Errungenschaften bilden nur eine, wiewohl eine besondere Sphäre der belebten Welt, mit welcher sie tief verbunden bleiben, wobei die „ belebte Welt “ auch die sog. „ unbelebte Welt “ umfasst, insofern ihr „ Prä-Lebendigkeit “ zukommt: „ Prä-Lebendigkeit ist ein Wesenszug von Allem, auch der dinglichen - gewöhnlich als ‚ tot ‘ begriffenen - Wirklichkeit “ (ebd., S. 16). Als Antwort auf die „ zahlreichen Krisen “ der Gegenwart fordern die Autoren also den Übergang vom materialistisch-mechanistischen Weltbild mit seinem (nur) „ behaupteten “ Prinzip der kausalen Geschlossenheit (ebd., S. 27) zum „ geistig-lebendigen “ Kosmos- Denken (ebd., S. 29). Das neue Bewusstsein kulminiere in einer Haltung, welche man mit Albert Schweitzers bekannter Maxime zum Ausdruck bringen könne: „ Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will “ (ebd., S. 59). 120 Zusammenfassend heißt es: Wie müssen fortfahren, neues Wissen zu schaffen, das Lebendigkeit vermehrt erblühen lässt. Wir können uns darauf verlassen, dass diese Kraft in uns wirkt. 120 Das Zitat ist Schweitzers Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben entnommen (Schweitzer 1954, S. 30). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 935 Denn die Allverbundenheit, die wir Liebe nennen können und aus der Lebendigkeit sprießt, ist in uns und in allem Anderen von Grund auf angelegt. (Ebd., S. 59, vgl. auch ebd., S. 38) Würdigung Das Potsdamer Manifest 2005 fügt sich eine Reihe von jüngeren Werken ein, welche für den Ausstieg aus dem materialistisch-mechanistischen Erklärungsparadigma bzw. Weltbild plädieren. Seine Aussagen sind eindeutig und bedürfen keiner Interpretation. Erwähnenswert ist die breite Zustimmung, die es fand: Es wurde von 131 namhaften Wissenschaftlern und Intellektuellen unterschrieben, darunter 60 Professoren aus aller Welt (darunter einige Nobelpreisträger). Unter den Unterzeichnern befanden sich auch 16 Träger des Alternativen Nobelpreises. Dies entspricht nicht unbedingt dem Bild, dass die wissenschaftlichen Zeitschriften und die Massenmedien vermitteln. Dürr, Dahm und zur Lippe fordern allerdings nicht die Enthronung der Materie und ihre Ersetzung durch Gott, Götter oder sonstige geistige Kräfte oder Wirksamkeiten, ihr Programm ist also (im Vergleich zu dem des Intelligent Design) - gemäßigt, was verhältnismäßig breite Zustimmung möglich macht. Noch 1981 aber haben selbst solch gemäßigte Töne, wie sie Sheldrake in seinem A New Science of Life formulierte, eine Welle der Entrüstung in der Wissenschaft verursacht. Noch Anfang der 90er-Jahre hatte Bruce Lipton das Gefühl, dass er seine Ansichten innerhalb der orthodoxen Wissenschaft nicht äußern darf. Zeugt die recht breite Zustimmung zum Potsdamer Manifest 2005 von einem nahenden Paradigmenwechsel? Francis S. Collins: The Language of God: A Scientist Presents Evidence for Belief Der Autor des nächsten Buches, Francis Sellers Collins, wurde 2009 von Präsident Obama zum Direktor der National Institutes of Health berufen. Er hat zahlreiche wichtige Beiträge zur Erforschung von Gendefekten und und zur Lokalisierung der Gene geleistet und u. a. das Human Genome Project geleitet. Collins ist Träger zahlreicher Auszeichnung, so des Prinz-von- Asturien-Preises, des William-Allan-Preises (die höchste wissenschaftliche Auszeichnung der American Society of Human Genetics) und der Presidential Medal of Freedom (die höchste zivile Auszeichnung der Vereinigten Staaten). 2010 erhielt er den Albany-Medical-Center-Preis, den höchstdotierten Medizinpreis der Vereinigten Staaten. Der Titel seines Buches: The Language of God: A Scientist Presents Evidence for Belief (Collins 2007) ist eine Anspielung auf eine Formulierung, die im Jahre 2000 der damalige Präsident der Vereinigten Staaten Bill Clinton in seiner Ansprache zum Abschluss des Human Genome Project gebrauchte. Clinton sagte u. a.: „ Today we are learning the language in which God created life. We 936 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft are gaining ever more awe for the complexity, the beauty, and the wonder of God ’ s most divine and sacred gift “ (Collins ebd., S. 2). Collins enthüllt, dass er den Redenschreiber des Präsidenten persönlich dazu animierte, diese Formulierung in die Ansprache einzubauen. Viele werde das verwundern, schreibt er, weil sie davon ausgehen, dass ein strenger Wissenschaftler unmöglich zugleich seriös an einen transzendenten Gott glauben könne. Sein Buch will dieses Vorurteil zerstreuen. Es will zeigen, dass der Glaube an Gott eine rationale Wahl sein könne und dass die Prinzipien des Glaubens mit den Prinzipien der Wissenschaft kompatibel seien (ebd., S. 3). Die zentrale Frage des Buches laute also: In this modern era of cosmology, evolution, and the human genome, is there still a possibility of a richly satisfying harmony between the scientific and spiritual worldview? (Ebd., S. 5f.) Collins Antwort auf diese Frage lautet: „ a resounding yes! “ (ebd., S. 6). Der Autor entwickelt eine Sicht der Welt, die er als „ theistische Evolution “ beschreibt und mit dem Namen „ BioLogos “ bezeichnet (ebd., S. 197). 121 Zentral für Collins Ansicht ist die Überzeugung, dass Gott die Quelle alles Lebens sei und dass das Leben den Willen Gottes ausdrücke. Der Name BioLogos bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass Wissenschaft und Glauben in Harmonie koexistieren können (ebd., S. 203). Collins formuliert die Kernüberzeugungen der theistischen Evolution folgendermaßen: Das Universum wurde vor etwa vierzehn Milliarden Jahren von Gott geschaffen. Die Eigenschaften des Universums wurden offenbar genau für das Leben eingestellt. Der genaue Mechanismus der Entstehung des Lebens auf der Erde ist noch unbekannt. Sobald aber das Leben einmal entstanden war, ermöglichten die Prozesse der Evolution und natürlichen Selektion die Entwicklung von Diversität und Komplexität. Mit Beginn der Evolution waren keine weiteren Interventionen von Gott erforderlich. Menschen sind Teil dieses Prozesses. Sie haben mit den Menschenaffen einen gemeinsamen Vorfahren. Menschen weisen Aspekte auf, die sich evolutionären Erklärungen widersetzen und auf unsere spirituelle Natur hindeuten. Dazu zählen Moralität (des Wissen von Recht und Unrecht) und die Suche nach Gott. (Ebd., S. 200) Zuvor setzt Collins sich im Kapitel „ The War of Worldviews “ (ebd., S. 33 - 54) mit zahlreichen Argumenten gegen die Existenz Gottes auseinan- 121 BioLogos ist auch der Name der Wissenschaft und Glaube Organisation, welche von Collins 2007 gegründet wurde. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 937 der (z. B. Wie kann Gott das Leiden, das im Namen der Religion verursacht wurde, zulassen? ; Wie kann ein liebender Gott überhaupt das Leid in der Welt zulassen? Kann eine rationale Person an Wunder glauben? ). Dann behandelt er die wissenschaftliche Interpretation der Entstehung des Lebens auf der Erde und die Rolle der DNS bei der Steuerung der Morphogenese. Ein eigenes Kapitel ( „ Deciphering God ’ s Instruction Book “ , ebd., S. 109 - 142) widmet er den Lehren aus dem Human Genome Project, einem Bereich, auf welchem er selbstverständlich eminent kompetent ist. Seine Schlussfolgerung ist, dass Evolution zwar unbestritten ist, weil ihre Spuren im genetischen Material unzweideutig nachweisbar sind, dass aber die DNS-Sequenz allein, selbst ergänzt um andere Komponenten der genetischen Information, nie die spezifisch menschlichen Eigenschaften und insbesondere unsere Einsicht in das Moralgesetz und die für die Menschheit so universale Suche nach Gott erklären wird können (ebd., S. 140). In den folgenden Abschnitten betrachtet Collins die Alternativen zur szientistischen Weltsicht: den Kreationismus (ebd., S. 171 - 179) und das Konzept des Intelligent Design (ebd., S. 181 - 195), um sich schließlich für die theistische Evolution zu entscheiden (ebd., S. 197 - 211). Ebenso interessant wie Collins ’ Argumente für die Möglichkeit einer Koexistenz zwischen dem Glauben an einen Schöpfergott und der Wissenschaft ist die Beschreibung des Weges, auf dem er zu seiner Überzeugung gekommen ist. Denn Collins wurde der Glaube an Gott nicht „ in die Wiege gelegt “ . Im Gegenteil: Seine Eltern waren Freidenker, für die der Glaube völlig unwichtig war (ebd., S. 11). Collins erwähnt stattdessen seine intensive Faszination für die Ordnung in der Natur, die er mit etwa vierzehn entdeckte, seine Begeisterung für die wissenschaftliche Methode und seinen Entschluss, Chemiker zu werden. Zu Beginn seines Chemiestudiums kam er, veranlasst durch Diskussionen mit seinen Kommilitonen, zur Überzeugung, dass die vielen religiösen Traditionen durchaus interessante kulturelle wie auch künstlerische Errungenschaften zu verzeichnen haben, aber auf keiner substantiellen Wahrheit fußen. Er beschreibt seine damalige Haltung als Agnostizismus (ebd., S. 15). Nach dem Abschluss seines Studiums entschied er sich für eine Promotion in physikalischer Chemie in Yale. Während dieser Zeit war er zutiefst bewegt von der Eleganz der Mathematik und sein intellektuelles Leben war auf die differentiellen Gleichungen der Quantenmechanik fokussiert. Seine Helden waren Albert Einstein, Niels Bohr, Werner Heisenberg und Paul Dirac und er kam allmählich zu der Überzeugung, dass alles im Universum auf der Grundlage der physikalischen Gleichungen erklärt werden könne. Dass Einstein nicht an den jüdischen Jahwe glaubte, bestärkte ihn in der Haltung, dass kein denkender Wissenschaftler ernsthaft an Gott glauben könne, ohne eine Art intellektuellen Selbstmord zu verüben. Daher entwickelte er sich vom Agnostiker zum Atheisten (ebd., S. 16). Collins beschreibt weiter, wie er Zweifel bekam, ob die Existenz eines Professors, der das Leben lang Vorträge über Thermodynamik usw. vor 938 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft gelangweilten Studenten halten muss, das sei, was er sich wirklich wünsche, eine Frage, die ihn schließlich kurz vor dem Abschluss seines Doktorats zum Entschluss brachte, ein Medizinstudium anzufangen. Medizin bot, so schien ihm, die Möglichkeit, zum Leben wirklicher Menschen einen wirklichen Beitrag zu leisten (ebd., S. 19). Bereits im dritten Jahr seines Medizinstudiums durfte er tief ergreifende Erfahrungen mit Patienten machen, insbesondere mit einer älteren, schwer kranken Frau, die ihm von ihrem starken christlichen Glaube erzählte (ebd., S. 20). Diese Erfahrung ließ ihn die Möglichkeit Gottes ernsthaft in Erwägung ziehen: Did I not consider myself a scientist? Does a scientist draw conclusions without considering the data? Could there be a more important question in all of human existence than “ Is there a God? ” And yet there I found myself, with a combination of willful blindness and something that could only be properly described as arrogance, having avoided any serious consideration that God might be a real possibility. Suddenly all my arguments seemed very thin, and I had the sensation that the ice under my feet was cracking. (Ebd.) Collins nennt diese Erfahrung durch und durch erschreckend ( „ thoroughly terrifying “ ). Er informierte sich über Religion und eine seiner Lektüren war das Buch Mere Christianity von C. S. Lewis. Collins beschreibt, wie beeindruckt er von der Breite und Tiefe von Lewis ’ Argumentation für das Christentum war. Einen besonderen Eindruck machte Lewis ’ Argument des Moralgesetzes auf ihn. Lewis konnte zeigen, dass die moralischen Normen in unterschiedlichen Kulturen und zu unterschiedlichen Zeiten ähnlich sind (ebd., S. 24). Die Existenz des Moralgesetzes ist etwas spezifisch Menschliches und lässt sich mit rein darwinistischen Überlegungen nicht erklären. Collins beschreibt dann das intellektuelle Dilemma, mit dem er sich zu jenem Zeitpunkt in seinem Leben (mit 26) aufgrund der „ Entdeckung “ der Realität des Moralgesetzes konfrontiert sah: If the Law of Human Nature [Moral Law] cannot be explained away as cultural artifact or evolutionary by-product, then how can we account for its presence? There is truly something unusual going on here. To quote Lewis, “ If there was a controlling power outside the universe, it could not show itself to us as one of the facts inside the universe - no more than the architect of a house could actually be a wall or staircase or fireplace in that house. The only way in which we could expect it to show itself would be inside ourselves as an influence or a command trying to get us to behave in a certain way. And that is just what we do find inside ourselves. Surely this ought to arouse our suspicions? ” (Ebd., S. 28f.) Collins schreibt weiter, dass er durch die Logik dieses Arguments verblüfft war. Er habe realisiert, dass er seine intellektuelle Reise mit dem Ziel angetreten hatte, seinen Atheismus zu bestätigen, dass er aber zu der Überzeugung gedrängt wurde, dass der Glaube an Gott rationaler sei als der Unglaube. Ferner wurde ihm deutlich, dass die Wissenschaft unmöglich die Frage nach der Existenz Gottes beantworten kann. Denn wenn Gott existiert, 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 939 muss er sich außerhalb der natürlichen Welt befinden, die Werkzeuge der Wissenschaft sind folglich machtlos. Die Antwort auf die Frage kann also nicht von außen kommen, sondern muss im Innern, im Herzen gefunden werden, sie muss sich auf Glauben, nicht auf Beweis stützen (ebd., S. 30). Das war also der Anfang seiner spirituellen Reise. An ihrem vorläufigen Ende steht Collins ’ Hoffnung, dass der Abgrund, der heute Wissenschaft und Religion trennt, überwunden werden könne: My prayer for our hurting world is that we would together, with love, understanding, and compassion, seek and find [divine] wisdom. It is time to call a truce in the escalating war between science and spirit. The war was never really necessary. Like so many earthly wars, this one has been initiated by extremists on both sides, sounding alarms that predict imminent ruin unless the other side is vanquished. Science is not threatened by God; it is enhanced. God is most certainly not threatened by science; He made it all possible. So let us together seek to reclaim the solid ground of an intellectuality and spirituality satisfying synthesis of all great truths. That ancient motherland of reason and worship was never in danger of crumbling. It never will be. It beckons all sincere seekers of truth to come and take up residence there. Answer that call. Abandon the battlements. Our hopes, joys, and the future of our world depend on it. (Ebd., S. 233f.) Würdigung Im Unterschied als einige andere Autoren in dieser Zusammenstellung hat Collins sich auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Laufbahn zu seinem Glauben geäußert und dafür auch keine „ Sanktionen “ erfahren. Im Gegenteil, er wurde von Präsident Barack Obama zum Direktor der National Institutes of Health berufen. 122 Soll man diese Nominierung als Zeichen eines Wandels der Wissenschaftskultur werten? Collins Ansicht, dass die Wissenschaft mit der Idee eines transzendenten Gottes gut leben kann, ist durchaus plausibel, insbesondere wenn ein solcher Gott deistisch verstanden wird, also als eine Entität, die der Welt den „ ersten Stoß “ gab, sich dann aber nicht weiter in ihre Geschicke einmischt. Dies besagt Collins vierte „ Prämisse “ . Er bezeichnet seine Position jedoch als „ evolutionären Theismus “ und nicht als „ Deismus “ , und in der Tat attestiert er Gott einen größeren Handlungsspielraum: We believe that God is directly involved in the lives of people today through acts of redemption, personal transformation, and answers to prayer. We believe that God typically sustains the world using faithful, consistent processes that humans describe as ‘ natural laws ’ . Yet we also affirm that God works outside of natural law in supernatural events, including the miracles described in Scripture. In both 122 Obschon manche Wissenschaftler beunruhigt waren und ihre Sorge zum Ausdruck brachten, dass sich seine Nominierung negativ auf die Wissenschaft auswirken könnte. Vgl. z. B. den redaktionellen Artikel in Nature immunology vom Mai 2010 (Nature immunology 2010). 940 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft natural and supernatural ways, God continues to be directly involved in creation and in human history. 123 Dies sind Behauptungen, die mit der heutigen Wissenschaft deutlich schwieriger zu vereinbaren sind. Mir scheint aber, dass Collins Ansatz, obschon durchaus gut und aufrichtig gemeint, unter anderen und wichtigeren Schwächen leidet. Bekanntlich gibt es auf der Welt nicht eine, sondern mehrere Religionen und wir müssen heute leider beobachten, dass die Anhänger dieser Religionen nicht nur friedlich koexistieren, sondern sich auch erbittert bekämpfen. Diese Religionen haben unterschiedliche Vorstel- 123 http: / / biologos.org (heruntergeladen am 2. 1. 2013). Anbei für den interessierten Leser der volle Text des Credos der Organisation BioLogos: 1) We believe the Bible is the inspired and authoritative word of God. By the Holy Spirit it is the “ living and active ” means through which God speaks to the church today, bearing witness to God ’ s Son, Jesus, as the divine Logos, or Word of God; 2) We believe that God also reveals himself in and through the natural world he created, which displays his glory, eternal power, and divine nature. Properly interpreted, Scripture and nature are complementary and faithful witnesses to their common Author; 3) We believe that all people have sinned against God and are in need of salvation; 3) We believe in the historical incarnation of Jesus Christ as fully God and fully man. We believe in the historical death and resurrection of Jesus Christ, by which we are saved and reconciled to God, 4) We believe that God is directly involved in the lives of people today through acts of redemption, personal transformation, and answers to prayer; 5) We believe that God typically sustains the world using faithful, consistent processes that humans describe as “ natural laws. ” Yet we also affirm that God works outside of natural law in supernatural events, including the miracles described in Scripture. In both natural and supernatural ways, God continues to be directly involved in creation and in human history; 6) We believe that the methods of science are an important and reliable means to investigate and describe the world God has made. In this, we stand with a long tradition of Christians for whom Christian faith and science are mutually hospitable. Therefore, we reject ideologies such as Materialism and Scientism that claim science is the sole source of knowledge and truth, that science has debunked God and religion, or that the physical world constitutes the whole of reality; 7) We believe that God created the universe, the earth, and all life over billions of years. God continues to sustain the existence and functioning of the natural world, and the cosmos continues to declare the glory of God. Therefore, we reject ideologies such as Deism that claim the universe is self-sustaining, that God is no longer active in the natural world, or that God is not active in human history; 8) We believe that the diversity and interrelation of all life on earth are best explained by the God-ordained process of evolution with common descent. Thus, evolution is not in opposition to God, but a means by which God providentially achieves his purposes. Therefore, we reject ideologies that claim that evolution is a purposeless process or that evolution replaces God, 9) We believe that God created humans in biological continuity with all life on earth, but also as spiritual beings. God established a unique relationship with humanity by endowing us with his image and calling us to an elevated position within the created order; 10) We believe that conversations among Christians about controversial issues of science and faith can and must be conducted with humility, grace, honesty, and compassion as a visible sign of the Spirit ’ s presence in Christ ’ s body, the Church (ebd.). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 941 lungen in Bezug auf die Natur der Welt und geben oft voneinander abweichende ethische Anweisungen z. B. zu solch aktuellen Fragen wie Schwangerschaftsabbruch oder Präimplantations-Diagnostik. Collins ’ Ansatz bietet, so scheint mir, keine Möglichkeit, solche Konflikte und Unstimmigkeiten zu überwinden, denn er nimmt zwar die Existenz einer göttlichen Macht an, stellt jedoch keine Erkenntnismittel zur Verfügung, mit welchen Glaubenskonflikte überwunden werden könnten. Mir scheint, dass er uns in die Anfangszeit der Wissenschaft zurückwirft, als Thomas Sprat schrieb: [N]ow men are generally weary of the relics of antiquity, and satiated with religious disputes: now not only the eyes of men, but their hands are open, and prepared to labour: Now there is a universal desire, and appetite after knowledge, after the peaceable, the fruitful, the nourishing Knowledge: and not after that of ancient sects, which only yielded hard indigestible arguments, or sharp contentions instead of food: which when the minds of men required bread, gave them only a stone, and for fish a serpent. (Sprat 1958, S. 152, Rechtschreibung modernisiert von mir, MBM) Aber Meinungsunterschiede entstehen bei weitem nicht nur zwischen verschiedenen Religionen oder verschiedenen Konfessionen innerhalb einer Religion, sie finden sich selbst innerhalb derselben Konfession. Schlimmer noch: Religiöse Meinungen leiden nicht selten unter offensichtlichen Widersprüchen. So kann man z. B. in der Bibel das Jesuswort lesen: „ Meint nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich sage ich euch: Bis der Himmel und Erde vergehen, wird nicht zergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist “ (Mt 5,17-18). Dieses „ Gesetz “ befiehlt aber u. a.: „ Wenn ein Mann mit einer Frau Ehebruch treibt, wenn ein Mann Ehebruch treibt mit der Frau seines Nächsten, müssen der Ehebrecher und die Ehebrecherin getötet werden “ (3. Mose 20,10), wie auch: „ Und wenn ein Mann bei einem Mann liegt, wie bei einer Frau, dann haben beide ein Gräuel verübt. Sie müssen getötet werden; ihr Blut ist auf ihnen “ (3. Mose 20,13). Dann muss man sich wundern, warum eigentlich die heutigen christlichen Kirchen nicht verlangen, dass Ehebruch oder Homosexualität mit dem Tod bestraft werden. Der gut gemeinte Ansatz von Collins bietet also eine gewisse Weitung des materialistisch-mechanistischen Weltbildes, er wird aber den Erkenntnishunger des modernen Menschen nicht stillen. 124 124 Ergänzend möchte ich auf zwei weitere Titel mit ähnlichen Schlussfolgerungen hinweisen: Roughgardens Evolution and Christian Faith (Roughgarden 2006) und Henry F. Schaefers III Science and Christianity: Conflict or Coherence (Schaeffer 2003). 942 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Pim van Lommel: Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung Eine besondere Stellung innerhalb der inzwischen reichhaltigen Nahtodliteratur kommt dem 2007 auf Holländisch und 2009 auf Deutsch erschienenen Buch des Kardiologen Pim van Lommel (Lommel van 2009) zu. Denn neben einem guten Überblick über die bis zur Zeit seiner Publikation veröffentlichten wissenschaftlichen Studien des Phänomens und einer Besprechung typischer Nahtoderfahrungen (auch von Kindern) bietet das Buch den Versuch, eine neuartige Theorie des Bewusstseins zu entwickeln. Ich möchte mich mit der im Titel des Werkes zum Ausdruck gebrachten These auseinandersetzen, dass das Bewusstsein nicht an Gehirnfunktionen gebunden, sondern räumlich und zeitlich endlos ist. Van Lommel stützt sich auf die uns bereits bekannte Vorstellung der Quantenmechanik, nach der die Elementarteilchen vor dem Messvorgang nur als Potentialität, als eine Wellenfunktion existieren und erst unter dem Einfluss des Messprozesses zu einer physischen Entität kollabieren (ebd., S. 261). Einige Quantenphysiker sind deshalb der Meinung, dass es die bewusste Wahrnehmung, also letztendlich das Bewusstsein ist, das die Aktualisierung der Potentialität bewirkt, dass man „ mit seiner Wahrnehmung aus einer unendlichen Zahl unbestimmter Möglichkeiten eine persönliche Welt erschafft “ (ebd., S. 253). Darüber hinaus nimmt van Lommel, wiederum gewissen Quantenphysikern folgend, an, dass sich die Wellenfunktionen bzw. Wahrscheinlichkeitswellen im sog. Phasen- oder nicht lokalen Raum befinden, der seinen Namen daher bezieht, dass er keine physische Wirklichkeit, sondern ein rein mathematisches Konstrukt darstellt. Einige Physiker bzw. Mathematiker (van Lommel nennt in diesem Zusammenhang John von Neumann, Eugene Wigner, Brian Josephson, John Wheeler und Henry Stapp) interpretieren dieses Konstrukt jedoch als einen metaphysischen Raum, in welchem Bewusstsein realen Einfluss ausüben kann (ebd., S. 263). Sie gehen davon aus, „ dass Bewusstsein im Universum von Anfang an existent ist und alle Materie subjektive Eigenschaften oder Bewusstsein aufweist. Bewusstsein ist demnach also nicht-lokal und fungiert als Ursprung oder ‚ Fundament ‘ aller Dinge “ (ebd., S. 263). Daraus ergibt sich der Kern der Theorie des endlosen Bewusstseins: Unser Bewusstsein ist intrinsisch mit dem nicht-lokalen Raum verbunden [. . .]. Der nicht-lokale Raum oder das Vakuum bildet demnach die Quelle sowohl der physischen Welt als auch des Bewusstseins, und das nicht-lokale Bewusstsein bildet die Quelle des Wachbewusstseins wie auch aller anderen Bewusstseinsaspekte. Das Bewusstsein und jedes seiner Teile ist unbegrenzt und endlos. (Ebd., S. 328) Van Lommel betont, dass seine Theorie keine Erklärung für die Entstehung des Bewusstseins biete, die vielmehr immer ein großes Mysterium bleiben werde (ebd.). Sie ermögliche jedoch, die Nahtoderfahrungen zu verstehen, da sie die Vorstellung zulässt, dass das Bewusstsein sowohl der Geburt voraus- 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 943 geht als auch den Tod überdauert (ebd., S. 400). Diesem allumfassenden Bewusstsein wurden in der Geschichte unterschiedliche Namen verliehen (höhere oder sogar höchste, das kosmische, oder gar das göttliche Bewusstsein, die reine Quelle usw.), die allesamt darauf hindeuten, dass es „ eine letzte Quelle des Bewusstseins und einen höher-dimensionalen Raum [gibt], und fast jeder Teil dieses endlosen und nicht-lokalen Bewusstseins [. . .] dem Menschen zugänglich [ist] “ (ebd., S. 328). Am Ende seines Buches hält van Lommel ausdrücklich fest, dass die von ihm entwickelte Theorie des Bewusstseins den Rahmen des heutigen wissenschaftlichen materialistischen Paradigmas sprengt: Dieses Buch musste ein rein materialistisches Paradigma als Grundlage der Wissenschaft in Frage stellen, denn es beschreibt Formen eines nicht-lokalen Bewusstseins, die die heutige westliche Wissenschaft nicht erklären kann. Aus diesem Grund sind außergewöhnliche Bewusstseinserfahrungen mit einem großen wissenschaftlichen Tabu belegt. Indem es wissenschaftlich plausibel macht, dass das Bewusstsein nicht-lokal und somit allgegenwärtig ist, kann dieses Buch hoffentlich zu einem neuen Verständnis des Bewusstseins beitragen. (Ebd., S. 399) Einen besonderen Beitrag zum Thema Nahtoderlebnisse stellt das 15. Kapitel seines Buches: „ Es gibt nichts Neues unter der Sonne “ dar (ebd., S. 348 - 370). In diesem Kapitel weist van Lommel darauf hin, dass die „ Entdeckung “ der Nahtoderfahrungen eigentlich eine Wiederentdeckung ist, denn in fast allen vergangenen Kulturen der Menschheit gab es Vorstellungen vom Leben nach dem Tod und vom Fortbestehen der Seele, z. B. im Hinduismus, im tibetanischen Buddhismus, in der jüdischen Mystik, im Christentums, im Islam und in der griechischen philosophischen Tradition (z. B. die Vision bzw. Nachtoderfahrung in Platons Der Staat (Platon 1994, 10. Buch 614 b - 621 d) (ebd., S. 369). Er gibt auch drei Beschreibungen von Nahtoderfahrungen aus dem 19. Jahrhundert wieder. Zusammenfassend schreibt er: Die NTE ist ganz offensichtlich kein Phänomen, das erst in den letzten dreißig Jahren beschrieben wurde, auch wenn das Interesse an Nahtoderfahrungen und die Beachtung, die diesem Phänomen zuteil wurde, mit dem Erscheinen von Raymond Moodys Buch Leben nach dem Tod im Jahr 1975 erheblich angestiegen ist. Es ist bemerkenswert, dass im Laufe der Geschichte immer wieder die gleichen Erfahrungen beschrieben werden. Erfahrungen, die in allen Religionen und Kulturen einen entscheidenden Einfluss darauf hatten, welche Vorstellungen man sich vom Tod und einem möglichen Leben nach dem Tod machte. (Ebd., S. 369) Würdigung Es ist zweifelsohne ein bedeutendes Verdienst van Lommels, die umfangreiche Literatur zum Thema Nahtoderfahrungen und die wichtigsten Phänomene aus diesem Bereich in seinem Werk kompetent und synthetisch dargestellt zu haben. In dieser Hinsicht kann es als eine wesentliche Ergän- 944 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft zung zu Moodys 1975 Publikation erachtet werden. Was seine Konzeption des Bewusstseins betrifft, so vertritt van Lommel im Grunde eine Form des Panpsychismus, der bereits in dem einflussreichen Buch The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory des in Australien geborenen und in Amerika lehrenden Philosophen David J. Chalmers (Chalmers 1996) entwickelt und später vom britischen Philosophen Galen Strawson aufgegriffen wurde (Strawson 2008). Van Lommels Versuch, den Panpsychismus in einer physikalischen Theorie zu begründen, führt jedoch zu ernsten Schwierigkeiten. Erstens ist nicht klar, was innerhalb seiner Theorie primär ist: Bewusstsein oder der „ nicht-lokale Raum “ . Denn die oben zitierten diesbezüglichen Aussagen auf S. 263 und 328 scheinen sich zu widersprechen. Diese behauptet, dass der nicht-lokale Raum (der mit dem Vakuum identifiziert wird, was das Rätsel vertieft) die Quelle „ der physischen Welt und des Bewusstseins “ bilde, jene dagegen stellt fest, dass das Bewusstsein als Ursprung aller Dinge fungiere. Unter der Voraussetzung, dass das Bewusstsein im Universum allgegenwärtig ist, ist es schwierig, sich dem Schluss zu entziehen, dass es in diesem Universum keine pure Potentialitäten der Wellenfunktionen geben kann, denn solche Potentialitäten würden zumindest gemäß einer Interpretation der Quantenmechanik 125 sofort überall durch die Allgegenwart des Bewusstsein zu physischer Realität „ kollabieren “ . Am Ende seines Buches schreibt van Lommel sehr schön von der Erfahrung der bedingungslosen Liebe, welche oft mit den Nahtoderlebnissen einhergeht und die zu wesentlichen Lebensveränderungen bei den betroffenen Personen führt: Die Veränderungen, die eine NTE bei vielen Menschen auslöst, entstehen aus der bewussten Erfahrung einer Dimension, in der Zeit und Distanz nicht von Bedeutung sind, in der man die Vergangenheit und die Zukunft sehen kann, in der man sich eins mit sich und geheilt fühlt, und in der man unendliches Wissen und bedingungslose Liebe erfahren kann. Diese Lebensveränderungen beruhen vor allem auf der Erkenntnis, dass Liebe und Achtsamkeit sich selbst, anderen und der Natur gegenüber zu den wichtigen Grundlagen des Lebens zählen. (Ebd., S. 401) Dies macht eminent Sinn, es ist aber überhaupt nicht einsichtig, was eine solche „ bedingungslose Liebe “ mit dem „ Phasenraum “ bzw. „ nicht-lokalen Raum “ oder mit dem Bewusstsein und seiner Funktion innerhalb der Quantenmechanik zu tun hat. Es ist mir nicht bekannt, dass bedingungslose Liebe ein Element der Theorien der Quantenphysik bildet. Wenn sie aber in diesen Theorien nicht vorkommt, bei Nahtoderfahrungen hingegen tatsächlich erlebt wird, so müsste man vielleicht doch davon ausgehen, dass die Theorien der Quantenphysik samt der in ihnen manchmal enthaltenen Vorstellung eines Bewusstseins doch eine andere Wirklichkeit beschreiben als die, welche die Wirklichkeit der Nahtoderfahrung ist. 125 Vgl. Abschnitt „ Die Rätsel der Quantenmechanik “ . 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 945 Die Liste der Unklarheiten in van Lommels Argumentation könnte man fortsetzen. Es ist daher festzuhalten, dass van Lommel zwar auf die Notwendigkeit des Ausbruchs aus dem materialistischen Paradigma hinweist, aber sein Weg nicht wirklich überzeugen kann. Kelly et al.: Irreducible Mind. Toward a Psychology for the 21st Century Ebenfalls 2007 ist in den USA ein fast 800 Seiten starkes Werk erschienen, das wegweisend für die künftige Psychologie sein will: Irreducible Mind. Toward a Psychology for the 21st Century (Kelly et al. 2010). Die Autoren des Buches sind Edward F. Kelly, Professor an der Abteilung für Psychiatrische Medizin der Universität von Virginia, Emily Williams Kelly: Assistenzprofessorin ebenda, Adam Crabtree: Mitglied des Lehrkörpers am Centre for Training in Psychotherapy, Toronto; Alan Gaul ehemaliger Assistent für Psychology, School of Psychology, Nottingham Universität; Bruce Greyson: Chester F. Carlson Professor für Psychiatrie und Direktor der Abteilung für Wahrnehmungsforschung, Virginia Universität, und Michael Grosso von der School of Continuing Education der Universität Virginia. Im Vorwort formulieren sie als Ausgangsthese ihres Buches, dass sie den in der Wissenschaft herrschenden materialistische Konsens für fundamental mangelhaft halten: This book originated from a seminar directed to theoretical foundations of scientific psychology, initiated in 1998 by Michael Murphy under the auspices of the Center for Theory and Research of Esalen Institute. By the year 2000 our discussions had advanced to the point where we believed we could demonstrate, empirically, that the materialistic consensus which undergirds practically all of current mainstream psychology, neuroscience, and philosophy of mind is fundamentally flawed. We therefore committed ourselves to developing a book-length presentation which would systematically articulate and defend this point of view. (Kelly et al. 2010, S. xiii) Und in der Einführung stellt Edward Kelly weiter fest, dass die Verfasser davon überzeugt sind, dass die Kernannahmen der heutigen materialistischen Theorie des menschlichen Geistes, obschon scheinbar durch unzählige empirische Fakten gestützt, doch letztendlich falsch seien: Mind and consciousness are entirely generated by - or perhaps in some mysterious way identical with - neurophysiological events and processes in the brain. Mental causation, volition, and the “ self ” do not really exist; they are mere illusions, byproducts of the grinding of our neural machinery. And of course because one ’ s mind and personality are entirely products of the bodily machinery, they will necessarily be extinguished, totally and finally, be the demise and the dissolution of that body. Views of this sort unquestionably hold sway over the vast majority of contemporary scientists, and by now they have also percolated widely through the public at large [Pinker in Newsweek]. They appear to be supported by mountains of evidence. But are they correct? 946 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft The authors of this book are united in the conviction that they are not correct - that in fundamental respects they are at best incomplete, and at certain critical points demonstrably false, empirically. These are strong statements, but our book will systematically elaborate and defend them. (Kelly 2010, S. xxi) Das Unbehagen am reduktionistischen Denkansatz der Gegenwartspsychologie wird inzwischen, so die Autoren, von vielen geteilt (xxi f.), wie auch die Bestandsaufnahmen von Koch und Leary 1985, Massaro 1995 und Solso 1997 zeigen (ebd., S. xxii). Kelly legt ferner gewisse methodologische Prinzipien fest, an welchen sich das Werk orientieren will. Das seiner Meinung nach wichtigste ist interessanterweise die Haltung der Bescheidenheit gegenüber dem gegenwärtigen Stand des wissenschaftlichen Wissens (ebd., S. xxiii). Wir haben sicherlich sehr viel gelernt durch die Anwendung wissenschaftlicher Methoden, die Selbstgewissheit oder sogar Arroganz mancher Forscher angesichts der zutiefst rätselhaften Phänomene des Bewusstseins halten die Autoren aber für völlig unbegründet und unangemessen (ebd., S. xxiii) Zweitens betont Kelly, dass Wissenschaft nicht in einer Ansammlung von Überzeugungen, sondern in gewissen Haltungen und Vorgehensweisen besteht. Die grundlegendste dieser Haltungen ist für Kelly das Prinzip, dass Theorien und Überzeugungen in Anbetracht neuer empirischer Tatsachen stets modifizierbar bleiben müssen. Er zitiert in diesem Zusammenhang den Ausspruch Bacons von 1620: „ The world is not to be narrowed till it will go into the understanding [. . .] but the understanding is to be expanded and opened till it can take in the image of the world as it is in fact “ (ebd., S. xxiii). Das Buch behandelt bekannte empirischen Phänomene, die von den Mainstream-Wissenschaftlern ignoriert bzw. bezweifelt werden, weil sie den dominierenden Ansichten widersprechen (ebd., S. xxiii). Kelly moniert, dass die Wissenschaft durch diese Haltung zu einem Dogma und zu einer Form des Fundamentalismus werde (ebd., S. xxiv). Er beruft sich dabei auf William James, der schrieb: [S]cience means, first of all, a certain dispassionate method. To suppose that it means a certain set of results that one should pin one ’ s faith upon and hug forever is sadly to mistake its genius, and degrade the scientific body to the status of a sect. (Zitiert ebd., S. xxiv) Wissenschaft basiert auf Tatsachen, aber nicht alle Tatsachen sind von gleichem Wert: Anomalien wie Radioaktivität oder der photoelektrische Effekt, also scheinbar unwichtige, zweitrangige Phänomene erwiesen sich für den Fortschritt der Wissenschaft von entscheidender Bedeutung. Deshalb ist für Kelly Unvoreingenommenheit gegenüber Abweichungen ein wesentliches Merkmal eines neuen Empirismus: Our own empiricism is [. . .] thorough-going and radical, in the sense that we are willing to look at all relevant facts and not just those that seem compatible, actually 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 947 or potentially, with current mainstream theory. Indeed, if anything it is precisely those observations that seem to conflict with current theory that should command the most urgent attention. (Ebd., S. xxv) Das bedeutet, die Phänomene, welche innerhalb der akademischen Psychologie marginalisiert bzw. völlig ausgeblendet werden, allen voran die sog. parapsychologischen Phänomene (außersinnliche Wahrnehmung (ESP) mit den Unterabteilungen Telepathie, Hellsehen, Präkognition und Psychokinese), ernst zu nehmen. (Ebd., S. xxvi). Er bezeichnet die Haltung der akademischen Psychologie ihnen gegenüber als „ irrationale Ungläubigkeit “ (irrational incredulity) und stellt fest, dass genügend qualitativ hochstehende empirische Nachweise für die Existenz dieser Phänomene vorhanden seien. Bei der Diskussion dieser Phänomene stützen sich die Autoren in erster Linie auf die Vorarbeiten von Myers 126 , dessen Leistungen wir bereits betrachtet haben. Sie weisen aber auch darauf hin, dass z. B. William James, dessen wissenschaftliche Autorität - im Gegensatz zu Myers ’ - kaum angezweifelt werden kann, die Erforschung der Psi-Phänomene sehr ernst genommen hat (Kelly 2010, S. xxvii). Kelly zitiert in diesem Zusammenhang James ’ Ausspruch: „ I believe there is no source of deception in the investigation of nature which can compare with a fixed belief that certain kinds of phenomena are impossible “ (ebd.). Kelly stellt aber zugleich fest, dass die Bezeichnung „ paranormal “ nicht dazu verleiten sollte, diese Phänomene als übernatürlich zu betrachten. Sie stehen nicht in Konflikt mit den uns bekannten Naturgesetzen und sind deshalb auch keine „ Wunder “ , sondern widerstreiten nur dem, was wir heute von der Natur verstehen. Schließlich wollen die Autoren des Werkes den Begriff der empirischen Forschung erweitern. Laborstudien mit Zufallsstichproben von Versuchspersonen, Kontrollgruppen und statistischen Datenverarbeitungsmethoden können sehr nützlich sein, schreibt Kelly, jedoch können sie leicht zu einer „ Methodolatrie “ verkommen. Die experimentellen Methoden müssen um detaillierte Studien außergewöhnlicher Individuen mit seltenen kognitiven Fähigkeiten oder neurologischen Defiziten erweitert werden. Die Untersuchungen von Forschern wie Luria und Sacks hätten bewiesen, wie nützlich die Erforschung solcher Einzelfälle sein könne (ebd., S. xxviii). Nach den einführenden Kapiteln, die den gegenwärtigen Stand der Debatten in der kognitiven Neurowissenschaft (Kapitel 1) und den Ansatz von Meyers zur Erforschung des Leib-Seele-Problems (Kapitel 2) darstellen, widmen sich die Autoren der Darstellung der Phänomene, welche sie für das Verständnis dieses Problems als zentral erachten. So stellt Emily Williams Kelly die Phänomene aus dem Bereich der psychophysiologischen Inter- 126 Die Autoren haben ihm sowie Ian Stevenson und Michael Murphy (ebd., S. iii) ihr Buch gewidmet. Den beiden ersten Persönlichkeiten sind wir in diesem Kapitel bereits begegnet, Murphy (geb. 1930) ist vor allem als Mitbegründer des Esalen-Instituts und eine Schlüsselfigur in der Human-Potential-Bewegung bekannt geworden. 948 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft aktion (Kapitel 3) dar, wobei sie sich auch nicht scheut, das Auftreten von Muttermalen und Geburtsfehlern bei Kindern zu diskutieren, die behaupten, sich an ihre frühere Inkarnation(en) erinnern zu können (sog. CORT-Fälle: cases of the reincarnation type; Kelly et al. ebd., S. 232 - 236). Alan Gould setzt sich mit dem Problem des Gedächtnisses auseinander (Kapitel 4), wobei er einen Schwerpunkt auf das Phänomen des Verbleibens der Erinnerungen auch in Fällen weitgehender Zerstörung des Gehirns legt (ebd., S. 297), sowie dem der Kommunikation von Medien mit Verstorbenen (ebd., S. 281 - 284) und ihrer Relevanz für die Frage des Überlebens der Person nach dem physischen Tod (ebd., S. 295 - 300). Adam Crabtree behandelt die Phänomene des Automatismus und der sekundären Zentren des Bewusstseins (Kapitel 5), auch bei Medien (ebd., S. 354 - 361). Emily Williams Kelly, Bruce Greyson, and Edward F. Kelly diskutieren die Bedeutung von Nahtoderlebnissen und verwandter Phänomene (außerkörperliche Erfahrungen, luzide Träume, Geistererscheinungen, Visionen im Sterbebett-Visionen, mystische Erfahrungen) für das Verständnis des Leib-Seele-Verhältnisses. Sie betonen, dass der Konflikt zwischen der gängigen neurobiologischen Orthodoxie und dem Nahtoderlebnis sei head-on, profound, and inescapable. In our opinion, no future scientific or philosophic discussion of the mind-brain problem can be fully responsible, intellectually, without taking these challenging data into account. (Ebd., S. 421) In Kapitel 7 behandeln Edward Kelly und Michael Grosso das Phänomen der Genialität und das Verhältnis zwischen Kreativität und Psi-Phänomenen (ebd., S. 483 - 484) sowie zwischen Genialität und mystischer Begabung (ebd., S. 484 - 491). Edward F. Kelly und Michael Grosso geht es in ihrem Beitrag um eine Aufwertung der mystischen Erfahrungen (Kapitel 8): Mystical and transpersonal experience is a real and vitally important facet of human psychology, and we must somehow come to terms with it. Restoring the mystical to its proper place will go far toward restoring the humanity of our science. The mystical roots of conscious experience also reveal a deep human identity, transcending all national, rational, personal, and theological differences. What better reason to investigate these remarkable, transformative experiences? (Ebd., S. 574) Im abschließenden 9. Kapitel „ Toward a Psychology for the 21st Century “ behandelt Edward Kelly die Perspektiven, welche sich für die künftige Psychologie aus der Berücksichtigung bislang vernachlässigter oder sogar verdrängter Phänomene des mentalen Lebens ergeben. Sie sind, allgemein gesprochen, antinaturalistisch: „ We believe that the empirical evidence marshaled in this book is sufficient to falsify all forms of biological naturalism, the current physicalist concensus on mind-brain relations. The mind is “ irreducible ” in a stronger sense than that intended by epiphenomenalists [. . .] “ (ebd., S. 605). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 949 Kelly geht in seiner Theoriebildung von Myers ’ Ansatz und insbesondere von seiner Theorie des „ subliminalen Selbst “ aus (ebd., S. 585 - 595), die er für durch manche empirische Befunde und insbesondere durch mystische Erfahrungen bestätigt, wenn auch keinesfalls bewiesen hält (ebd., S. 593, 595), wie auch von dessen Idee vom nachtodlichen Überleben eines psychischen Kerns (ebd., S. 595 - 599). Auch diese Vorstellung wird nach Kelly durch empirische Befunde zumindest unterstützt. Ferner betrachtet Kelly Myers „ Filtertheorie “ des Gehirns, nach der das Gehirn nicht Produzent des mentalen Lebens ist, sondern bereits existierende psychische Inhalte zum Bewusstsein des supraliminalen Selbst erhebt. Kelly erinnert in diesem Zusammenhang auch an den Begriff des „ Reduzierventils “ (reducing valve) von Aldous Huxley (ebd., S. 606) wie an seine spätere Metapher vom Gehirn als einem Fernsehgerät. Um diese Vorstellungen mit dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Denken in Einklang zu bringen, bezieht Kelly die quantenmechanische Vorstellung ein, dass das (menschliche) Bewusstsein für die Realisierung der physikalischen Potentialitäten unerlässlich ist. 127 Besonders hilfreich findet Kelly in diesem Zusammenhang die Feststellung des Physikers Henry Stapps, die Quantenmechanik habe die menschliche Erfahrung in die physikalische Theorie hineingewoben. Mit Niels Bohrs Worten: „ [I]n the great drama of existence we ourselves are both actors and spectators “ . Kelly selbst formuliert dieses Diktum folgendermaßen: „ Consciousness itself, in short, is needed to complete the quantum dynamics “ (ebd., S. 613). Dadurch ergibt sich ein Bild des Universums, das nach Kelly über den reduktionistischen Physikalismus (bzw. Materialismus) hinausgeht. Er bezeichnet es als ein nichtkartesianisches dualistisch-interaktionistisches Modell (ebd., S. 607). Den Gedanken der Interaktion versucht Kelly zu konkretisieren. 128 Zunächst lehnt er die gängige Lokalisierung der mentalen Funktionen im Gehirn mit der Begründung ab, dass erstens das Produktionsmodell des Gehirns weiterhin seiner Bestätigung harrt (ebd., S. 617) und zweitens der Einsatz bildgebender Verfahren (allen voran fMRI) gezeigt habe, dass die Assoziation zwischen der gewollten mentalen Aktivität und der Gehirnaktivität viel globaler ist, als dies bislang angenommen wurde (ebd., S. 621). Die in der Folge ausgearbeiteten „ Global-Workspace “ -Theorien stimmen recht gut mit den Ansichten von Myers und Bergson überein, nach denen das Gehirn eine im Zuge der Evolution entwickelte sensomotorische Vorrichtung ist, die dem Geist Informationen über die alltägliche physische Umgebung liefert und ihn befähigt, auf sie einzuwirken (ebd., S. 621). Damit scheint der Begriff der Seele auf den Plan gerufen zu sein, der von der gegenwärtigen Psychologie (und Wissenschaft im allgemeinen) zurück- 127 Vgl. meine obige Diskussion der Rätsel der Quantenmechanik. 128 Er weist dabei darauf hin, dass seine Ausführungen das Ergebnis einer intensiven Diskussionen unter allen Autoren sind und die Position einer großen Mehrheit widerspiegeln (ebd., S. 605, Fußnote 17). 950 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft gewiesen wird und den auch William James in seiner späten Phase als leer ablehnte: You see no deeper into the fact that a hundred sensations get compounded or known together by thinking that a “ soul ” does the compounding than you see into a man ’ s living eighty years by thinking of him as an octogenarian, or into our having five fingers by calling us pentadactyls. Souls have worn out both themselves and their welcome, that is the plain truth. Philosophy ought to get the manifolds of experience unified on principles less empty. Like the word “ cause ” , the word “ soul ” is but a theoretic stopgap - it marks a place and claims it for a future explanation to occupy. (James 1909, S. 221 zitiert in Kelly et al. ebd., S. 622f.) Kelly meint indes, dass die Psychologie eine solche oder ähnliche Entität zulassen müsse: [W]e think that psychology must postulate minds or psyches to explain some of its most significant mental and behavioral phenomena (including “ rogue ” phenomena of the sorts catalogued in this book), just as physics postulates unobservable entities and processes to help explain its observable phenomena. (Ebd., S. 623) Kelly geht sogar einen Schritt weiter und behauptet kühn, dass man annehmen müsse, dass die wichtigsten dispositionalen Eigenschaften des Geistes (mind) in einer psychischen Entität lokalisiert sind, welche sich zumindest teilweise außerhalb des Gehirns befindet (ebd.). Eine gute Metapher für das Verhältnis zwischen Psyche und Leib sei die einer chemischen Verbindung, da eine solche Verbindung gegenüber den Ausgangssubstanzen völlig neuartige Eigenschaften aufweist (wie z. B. Natrium und Chlorid im Falle des Kochsalzes) (ebd., S. 624). Eine weitere Folge dieses Ansatzes wäre, insbesondere unter Berücksichtigung des Phänomens der Reinkarnationserinnerung, dass die Psyche nicht nur in den Leib hineingehen, sondern sich auch aus ihm herausziehen könnte, was das Phänomen der sog. terminalen Klarheit erklären würde: Kurz vor dem Tode löst sich der Sterbende von dem erkrankten Gehirn, so dass die normalen mentalen Funktionen wieder möglich sind (ebd., S. 625). Nach Kelly deuten die Nahtoderlebnisse darauf hin, dass die normale Verbindung zwischen Psyche und Leib (bzw. dem Gehirn) unter bestimmten Umständen bedeutend modifiziert werden kann, so dass das mentale System in radikal neuartiger Weise funktioniert, was u. a. zu der gesteigerten kognitiven Leistung führen kann (ebd., S. 628). Die Stärke der Gehirn-Psyche Verbindung könnte auch zwischen verschiedenen Personen variieren, was wiederum die Phänomene des Mediumismus erklärlich machen würde (ebd.). Am Ende seiner Ausführungen gibt Kelly jedoch zu, dass dieser Ansatz zwar plausibel sei, aber die Autoren des Buches dennoch nicht vollständig zufrieden stelle (ebd., S. 629). Die klassischen Probleme des Dualismus: die Möglichkeit der mentalen Verursachung und die Erhaltung der Energie, scheinen zwar überwunden zu sein, aber andere Schwierigkeiten bleiben. So ist die Art des Verhältnisses zwischen den Gehirn- und den Geistprozessen 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 951 ebenso ungeklärt wie die Frage, wieso die Psyche in der individuellen Entwicklung wie auch in der Evolution der Gattung auftritt und wie das Bewusstsein überhaupt zustande kommt (ebd.). Diese Einwände scheinen es notwendig zu machen, einen anderen Weg zu beschreiten. Am Anfang dieses Weges steht die zweite fundamentale Einsicht der Quantenmechanik, dass es keine Materie im klassischen Sinne gibt. Kelly zitiert dazu Stapp: The physical world thus becomes an evolving structure of information, and of propensities for experiences to occur, rather than a mechanistically evolving mindless material structure. The new conception essentially fulfills the age-old philosophical idea that nature should be made out of a kind of stuff that combines in an integrated and natural way certain mind-like and matter-like qualities, without being reduced to either classically conceived mind or classically conceived matter. (Stapp 2004, S. 268, zitiert in Kelly et al. ebd., S. 631). Die moderne Physik ermöglicht uns, die Natur als in einem bestimmten Sinne durchgehend belebt zu verstehen (ebd., S. 633f.). Kelly verweist in diesem Zusammenhang auf Whitehead (s. oben), welcher „ re-situate[d] mind in matter as the fundamental factor by which determinate events emerge out of a background of possibilities “ (ebd., S. 634). Innerhalb dieses Ansatzes, den Kelly als das neutral-monistische Top-down-Modell bezeichnet (ebd., S. 630, 637), kann der menschliche Person als ein komplexes System verstanden werden, das aus einer Hierarchie von Schichten besteht, denen allen derselbe „ Stoff “ eignet (ebd., S. 637). Im letzten Abschnitt, „ Summary and Prospectus “ , stellt Kelly noch einmal heraus, dass das Beweismaterial gegen die physikalistischen Theorien des Geist-Gehirn-Verhältnisses erdrückend ist (ebd., S. 639). Er wendet sich explizit gegen Daniel Wegners, der in The Illusion of Conscious Will zu beweisen versuchte, dass wir einer Illusion aufsitzen, wenn wir unseren Willen als kausal effizient erleben. Kelly stellt fest, dass die Behauptungen Wegners auf eine reductio ad absurdum der materialistischen Position hinauslaufen: We believe that these extraordinary mainstream conclusions, so deeply at odds with the most fundamental deliverances of everyday experience, result from correctly perceiving what are in fact necessary consequences of the classical materialist-monist premises from which practically all of contemporary psychology, neuroscience, and philosophy derive. We further contend that disastrous consequences of this magnitude ought to be recognized by everybody for what they really are, a reductio ad absurdum of those materialist-monist premises themselves. The only possible justification for clinging to results so monstrous must be the belief that there is no alternative, no scientifically legitimate of avoiding them. But we have clearly shown, we submit, that this belief is mistaken. (Ebd., S. 641) Am Ende des Buches bringt Kelly die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Entwicklung einer erweiterten Psychologie, die auch und gerade die abweichenden Phänomene ernsthaft betrachtet, dazu beitragen wird, die großen 952 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft historischen Spaltungen innerhalb der Psychologie zu überwinden und Bereiche wie AKE, NTE, bewusstseinserweiternde Praktiken, Meditation und mystische Erfahrungen aufzuklären. Verbesserte transformative Praktiken könnten Werkzeuge für die Umgestaltung der eigenen Persönlichkeit bereitstellen, „ that will enable many more of us to draw more efficiently and systematically upon normally inaccessible interior resources of imagination, creativity, and spirituality “ (ebd., S. 642). Würdigung Die Quintessenz von Irreducible Mind lässt sich in einem Satz zusammenfasst: Die uns heute zugänglichen empirischen Tatsachen zwingen uns, das materialistische Erklärungsparadigma der Bewusstseinsphänomene aufzugeben. Es sei erwähnt, dass das Buch F. W. Myers „ a neglected genius of scientific psychology “ wie auch Ian Stevenson und Michael Murphy „ two modern bearers of his intellectual legacy “ (ebd., S. iii) gewidmet ist. Den ersten beiden sind wir in diesem Kapitel bereits begegnet: Murphy ist Mitbegründer des Esalen-Instituts und eine Schlüsselfigur der Human-Potential-Bewegung. Der Rückgriff von Kelly et al. auf Myers ist insofern aufschlussreich, als es heute offenbar wieder möglich, an eine Tradition anzuknüpfen, die am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts sehr lebhaft war, die aber seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend verdrängt wurde. Einige der Autoren des Buches stehen noch nicht am Ende ihrer wissenschaftlichen Karriere stehen. Es war mir nicht möglich, die genauen biographischen Angaben über sie ausfindig zu machen, ich konnte aber feststellen, dass Edward F. Kelly seinen B. A. in Psychologie 1972 erworben hat, also wahrscheinlich 1950 geboren wurde 129 , Emily Kelly erwarb ihren B. A. in Psychologie 1971, ist also wahrscheinlich etwa gleichen Alters. 130 Bruce Greyson 131 und Alan Gauld 132 sind dagegen bereits emeritiert. Soll man diesen Umstand als Hinweis darauf werten, dass die Schwelle für die Publikation der vom Materialismus abweichenden wissenschaftlichen Meinungen heute weniger hoch als noch vor 10 - 20 Jahren sind? Meines Wissens hat das Buch von Kelly et al., im Gegensatz zu Sheldrakes A New Science of Life etwa 25 Jahre früher, keine hohe Wellen in den wissenschaftlichen Zeitschriften geschlagen, jedenfalls habe ich keine Besprechung 129 http: / / www.medicine.virginia.edu/ clinical/ departments/ psychiatry/ sections/ cspp/ dops/ staff/ edbio-page (heruntergeladen am 14. 11. 2014). 130 http: / / www.medicine.virginia.edu/ clinical/ departments/ psychiatry/ sections/ cspp/ dops/ staff/ emilybio-page (heruntergeladen am 14. 11. 2014). 131 http: / / www.medicine.virginia.edu/ clinical/ departments/ psychiatry/ sections/ cspp/ dops/ staff/ biobruce-page (heruntergeladen am 14. 11. 2014). 132 http: / / rationalwiki.org/ wiki/ Alan_Gauld (heruntergeladen am 14. 11. 2014). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 953 in einer wichtigen Zeitschrift (Nature, Science) gesehen. Immerhin sind einige Stellungnahmen einiger namhafter Wissenschaftler auf dem Umschlag abgedruckt. Wenngleich diese Auswahl einseitig sein mag, möchte ist sie zitieren. So stellt z. B. David Presti, Professor für Neurobiologie an der University of California, fest: In the future history of the science of mind, Irreducible Mind may well prove a bool of landmark significance, one that helped spark a revolution in the scientific investigation of the nature of consciousness. . . .. In the arena of neuroscience of mind, it is the moste exciting reading to have crossed my path in years. Und Richard A. Shweder, Professor am Department of Comparative Human Development, University of Chicago schreibt: Brilliant, heroic, and astonishing . . . a scientifically rigorous and philosophically informed critique of various contemporary orthodoxies in mainstream psychology, especially the idea that the human mind (including consciousness and our sense of free will and personal agency) is nothing more than a material entity and can be fully explained in terms of brain processes. Möglicherweise hat sich das wissenschaftliche Klima in den letzten Jahren wesentlich zugunsten nichtmaterialistischer Ansichten geändert. Mario Beauregard und Denyse O ’ Leary: The Spiritual Brain. A Neuroscientist ’ s Case for the Existence of the Soul Ebenfalls im Jahr 2007 erschien das Buch des bedeutenden kanadischen Neurobiologen Mario Beauregard und der Wissenschaftsjournalistin Denyse O ’ Leary The Spiritual Brain. A Neuroscientist ’ s Case for the Existence of the Soul (Beauregard und O ’ Leary 2008). Nach den mir zugänglichen Informationen ist Dr. Mario Beauregard derzeit Professor an der Universität von Montreal in der Abteilung für Psychologie und Radiologie und arbeitet außerdem am Neuroscience Research Center. Nach seinem B. Sc. in Psychologie und seinem Ph. D. in Neurowissenschaften an der Universität von Montreal erhielt Beauregard zwei Postdoc-Stipendien für Forschungen auf dem Gebiet der Neuropsychologie, das erste an der Universität von Texas in Houston (1992 - 1994) und das zweite am Montreal Neurological Institute am McConnell Brain Imaging Center an der McGill University (1994 - 1996). Er ist Autor von über 100 Publikationen zu den Neurowissenschaften, Psychologie und Psychiatrie. Wegen seiner umfangreichen Forschungen im Bereich des Bewusstseins von der World Media Net wurde er zu einem der „ One Hundred Pioneers of the 21st Century “ gewählt. Beauregards bahnbrechende Arbeit über die Neurobiologie von Emotionen und mystischen Erfahrung an der Universität von Montreal rief eine umfangreiche internationale Berichterstattung in den Medien hervor. 2006 erhielt er die Joel-F.-Lubar-Auszeichnung für seine Beiträge auf dem Gebiet der Neurotherapie. Vor einigen Jahren 954 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft hat das National Film Board of Canada einen Dokumentarfilm über seine Arbeit unter dem Titel „ The Mystical Brain “ produziert. 133 Bereits in der Einführung zu seinem Buch greift Beauregard die heute in den Medien weitverbreiteten Erklärungen von Religion und Spiritualität in der Begrifflichkeit des „ Gottes- Genes “ an und bringt seine antimaterialistische Haltung zum Ausdruck: The fact is that materialism is stalled. It neither has any useful hypotheses for the human mind or spiritual experience nor comes close to developing any. Just beyond lies a great real that cannot even be entered via materialism, let alone explored. But the good news is that, in the absence of materialism, there are hopeful signs that spirituality can indeed be entered and explored with modern neuroscience. Nonmaterialist neuroscience is not compelled to reject, deny, explain away, or treat as problems all evidence that defies materialism. That is promising because current research is turning up a growing body of such evidence. [. . .] [. . .] Materialism is apparently unable to answer key questions about the nature of being human and has little prospect of ever answering them intelligibly. It has also convinced millions of people that they should not seek to develop their spiritual nature because they have none. (Beauregard und O ’ Leary 2008, S. xiv f.) Wenn Beauregard von einem „ growing body of evidence “ gegen den Materialismus spricht, so meint er vor allem drei Gruppen von Tatsachen: die sog. Psi-Phänomene (Pragnosie, Telepathie, Psychokinese usw.), den Placeboeffekt und die Nahtoderfahrungen (ebd., S. xiv f.), aber auch „ religious, spiritual, and/ or mystical experiences “ (RSMEs) (ebd., S. 40 und passim). Das Buch verfolgt drei Hauptziele: Zum einen will es zeigen, dass die nichtmaterialistische Interpretation des menschlichen Geistes auf eine reiche und lebhafte Tradition gründet und die Fakten viel besser erklärt als das gegenwärtig ins Stocken geratene materialistische Paradigma. Zweitens will Beauregard nachweisen, dass die nichtmaterialistische Interpretation des menschlichen Geistes praktische Vorteile hat und wesentlich zur Therapie von verschiedenen Erkrankungen beitragen kann. Und drittens will er deutlich machen, dass die beste Erklärung für die die lebensverwandelnde Kraft spiritueller Erfahrungen ist, dass die Menschen, die sie machten, tatsächlich einen Kontakt mit einer Wirklichkeit außerhalb ihrer selbst hatten, einer Wirklichkeit, die „ has brought them closer to the real nature of the universe “ (ebd., S. xvi). Diese drei Ziele lassen sich unter dem Titel des ersten Kapitels des Buches subsumieren: „ Toward a Spiritual Neuroscience “ . Beauregard diskutiert zunächst in gesonderten Kapiteln verschiedene materialistische Strategien, die religiöse bzw. mystische Erfahrung auf 133 http: / / www.nourfoundation.com/ speakers/ mario-beauregard-phd.html (heruntergeladen am 10. 1. 2014) und http: / / drmariobeauregard.com/ bio/ (heruntergeladen am 14. 11. 2014). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 955 Gehirnfunktionen zu reduzieren (Gottes-Programm, Gottes-Modul, Persingers Gotteshelm usw.). Anschließend behandelt er die Fragen, ob Geist und Gehirn identisch sind (seine Antwort auf diese Frage fällt negativ aus)und was mystische Erfahrungen auslöst. Das achte Kapitel ist der Frage gewidmet, ob die religiöse, spirituelle oder mystische Erfahrungen lebensverändernd wirken (seine Antwort ist ein eindeutiges Ja). Das neunte gibt eine Darstellung seiner berühmt gewordenen Studie zur Gehirnaktivität während des Gebets, die er an einer Gruppe von fünfzehn Karmeliterinnen durchgeführt hat und erstens zeigten, dass mystische Erfahrungen keineswegs mit der erhöhten Aktivität eines bestimmten „ Gotteszentrums “ assoziiert waren, sondern vielmehr mit der Aktivität vieler verstreuter Gehirnzentren, und zweitens, dass bei autobiographischen Erinnerungen die Gehirnaktivität eindeutig anders als während der mystischen Erfahrungen war (ebd., S. 274f.). Das letzte, zehnte Kapitel des Buches trägt einen absichtlich provokativen Titel: „ Did God Create the Brain or Does the Brain Create God? “ Darin lässt Beauregard die bisherigen Ergebnisse Revue passieren und schlussfolgert aus ihnen und den extremen Nahtoderfahrungen, dass Bewusstsein wie RSMEs auch dann stattfinden können, wenn das Gehirn funktionsunfähig ist. Dieser Befund bringt Beauregard zu der Aussage: These findings [. . .] indicate that RSMEs can occur when the brain is not functioning. Such findings lead me to posit that the transformative power of RSMEs arises from an encounter with an objectively real spiritual force that exists independently from the individuals who have the experience. (Ebd., S. 292) Beauregard weist darauf hin, dass dieser Befund im Einklang mit den Vermutungen von William James, Henri Bergson und Aldous Huxley steht, welche im Gehirn nicht den Erzeuger, sondern vielmehr einen Transmitter des Bewusstseins oder gar ein Ventil (s. oben) gesehen haben. Er schreibt: „ From this perspective, the brain can be compared with a television receiver that translates electromagnetic wavers (which exist apart from the TV receiver) into picture and sound “ (ebd.). The Spiritual Brain gipfelt im letzten Kapitel in einem Bekenntnis zur Annahme eines spirituellen Seinsgrundes: According to the nonmaterialistic view, the death of the brain does not mean the annihilation of the person, that is, the eradication of mind, consciousness, and self. Individual minds and selves arise from and are linked together by a divine Ground of Being (or primordial matrix). That is the spaceless, timeless, and infinite Spirit, which is the ever-present source of the cosmic order, the matrix of the whole universe, including both physis (material nature) and psyche (spiritual nature). Mind and consciousness represent a fundamental and irreducible property of the Ground of Being. Not only does the subjective experience of the phenomenal world exist within mind and consciousness, but mind, consciousness, and self profoundly affect the physical world. Normally, individual selves are not aware of this Ground of Being. However, under certain circumstances, usually involving altered states of consciousness, individual 956 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft selves can become aware of and even united with the Ground of Being, which underlies both the physical and psychological realms and constitutes the ultimate foundation of the self. (Ebd., S. 294) Diese Überzeugung, meint Beauregard, solle nicht nur seine private „ Religion “ bleiben; die Menschheit stehe vor der Notwendigkeit, das materialistischen Paradigma zu verlassen, wenn sie die Herausforderungen der Gegenwart meistern wolle: If we are to make significant breakthrough with regard to our understanding of human mind and consciousness as well as the development of the spiritual potential of humanity, we need a new scientific frame of reference. Such a frame will recognize that dogmatic materialist scientism is not synonymous with science. [. . .] There is a trend in human evolution toward spiritualization of consciousness. The proposed new scientific frame of reference may accelerate our understanding of this process of spiritualization and significantly contribute to the emergence of a planetary type of consciousness. The development of this type of consciousness is absolutely essential if humanity is to successfully solve the global crises that confront us [. . .] and wisely create a future that benefits all humans and all forms of life on planet earth. (Ebd., S. 293 - 5). Diese Zeilen erinnern stark an die Botschaft des Potsdamer Manifests, das wir oben behandelt haben. 2012 erschien ein weiteres Buch von Beauregard: Brain Wars. The Scientific Battle Over the Existence of the Mind and the Proof That Will Change the Way We Live Our Lives. In diesem Buch betrachtet er solche Phänomene wie den Placebo-Effekt, Neurofeedback, Neuroplastizität, Hypnose, Psi-Erscheinungen sowie Nahtod- und mystische Erfahrungen und kommt zu dem Ergebnis: The scientific evidence you have read about in this book makes two things clear: scientific materialism is just plain false, and we humans are not powerless, biochemical machines. Together with exciting possibilities of the quantum universe, this evidence tells us that it is time to enlarge our concepts of the natural world to reintegrate mind and consciousness. This emerging scientific model of reality - this new paradigm of what is possible - has far-reaching implications. Perhaps most important, it fundamentally alters the vision we have of ourselves, giving us back our dignity and power, as humans and as scientists. (Beauregard 2012, S. 213f.) Würdigung Die Behauptung eines Wissenschaftlers, dass der Materialismus einfach falsch sei und dass nicht das Gehirn Gott erzeuge, sondern vielmehr Gott der Schöpfer des Gehirns sei, ist auch heute noch ein mutiges Bekenntnis. Beauregard äußert diesen Gedanken ungeachtet möglicher Anfeindungen verhältnismäßig früh in seiner Laufbahn. Ich konnte das genaue Geburtstagsdatum nicht ausfindig machen, ich habe Beauregard aber vor ein paar Jahren auf einer wissenschaftlichen Konferenz in Stockholm kennengelernt 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 957 und würde sagen, dass er Mitte 40 war. Es ist für die Entwicklung der letzten Jahrzehnte bezeichnend, dass auch seine beiden Bücher nicht mit Entrüstung seitens des wissenschaftlichen Establishments aufgenommen, sondern „ einfach nur “ ignoriert wurden. Offenbar hat sich in den letzten Jahren genug „ kritische Masse “ gebildet, um eine reflexartige Ablehnung nichtmaterialistischer Sichtweisen zu verunmöglichen. Auf der anderen Seite muss festgestellt werden, dass Beauregard der materialistischen „ Erklärung “ des Bewusstsein eigentlich nichts Konkretes entgegenzustellen hat. Denn obschon es ein spiritualisiertes Weltbild erlaubt, die Nahtoderfahrungen mit ihren lebensverändernden Begegnungen mit verstorbenen Verwandten und geistigen Wesen (z. B. dem „ Lichtwesen “ ) und mystische Erfahrungen überhaupt als real und sinnvoll zu betrachten, liefert eine solche erweiterte weltanschauliche Perspektive per se noch keine Erklärung dieser Phänomene. Mit Beauregard sind wir an einen Punkt angelangt, wo wir mit Zuversicht behaupten können: „ Amerika existiert! “ Es muss aber noch ausgekundschaftet, erforscht werden. Für diese Aufgabe liefert uns Beauregard keine Anweisungen und keine Werkzeuge. Peter und Elizabeth Fenwick: The Art of Dying 2008 ist ein Buch des Ehepaars Peter und Elizabeth Fenwick erschienen, das viel bedeutender ist, als sein bescheidener Umfang vermuten lassen: The Art of Dying (Fenwick und Fenwick 2008). Der Titel des Buches ist eigentlich ein wenig irreführend: Man könnte meinen, es gehe in ihm um Ratschläge, wie sich der Mensch auf den Sterbeprozess vorbereiten soll, um ihn leichter zu bewältigen. Es handelt sich jedoch um eine Beschreibung der Phänomene, die mit dem Sterben verbunden sind. Geschichte der Erforschung der Ende-des-Lebens-Erfahrungen (ELE) Zunächst geben die Autoren einen geschichtlichen Abriss der Auseinandersetzung mit Ende-des-Lebens-Erfahrungen. Seit der Publikation von Moodys Life after Life 1975 wurde das Thema der Erfahrungen, die Menschen am Ende des Lebens bzw. im Komazustand durchmachen, allmählich „ salonfähig “ . Heute kann das Thema in Anbetracht der Fülle solcher Berichte nicht mehr ignoriert werden. In vielen Kulturen der Welt existieren darüber hinaus zerstreute Berichte oder Mythen, die von Erfahrungen im Angesicht des Todes handeln (Fenwick und Fenwick 2008, S. 1): Ein nordischer Kämpfer, der die schöne Walküre auf dem Schlachtfeld sieht, weiß, dass er bald sterben wird; in anderen Kulturen sind es Raben, Eulen, Amsel, Krähen, auf den Philippinen sogar schwarze Schmetterlinge, die als die Vorboten des nahen Todes betrachtet werden (ebd.). Die Visionen Sterbender wurden bis vor kurzem nur selten systematisch untersucht und das Urteil der Wissenschaftler über diese Phänomene war gewöhnlich abschätzig. So fand z. B. Sir William Barrett, Physik-Professor am 958 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Royal College of Science in Dublin, in seinem 1926 veröffentlichten Werk Deathbed Visions, dass sie nur Nebenprodukte des sterbenden Gehirns seien (ebd., S. 5). Eine erste objektive Untersuchung der Visionen Sterbender wurde 1961 von Karlis Osis und Erlendur Haraldsson unternommen. Sie schickten Fragebogen an 5.000 Ärzte und 5.000 Krankenschwester zum Thema „ Halluzinationen von todkranken Patienten “ . Sie erhielten nur 640 Antworten (ebd.). Das Paar führte ähnliche Untersuchungen 1961 - 1964 in den Vereinigten Staaten und 1972 - 1973 in Indien durch (ebd.). Eine nationale Meinungsbefragung in den Vereinigten Staaten ermittelte 1973, dass 27 % der Amerikaner „ im Kontakt mit jemanden, der gestorben ist “ , gewesen waren (ebd., S. 120). Eine ähnliche Untersuchung, die 1996 durchgeführt wurde, fand heraus, dass der Anteil der Personen, die Kontakt mit Verstorbenen hatten, etwa 20 % betrug. Hingegen ergab eine entsprechende Untersuchung Haraldssons in Island 1976 einen Anteil von 31 %. In Großbritannien wurde eine erste vergleichbare Befragung 1971 von Dewi Rees, einem walisischen Hausarzt, durchgeführt. Er befragte 227 Witwen und 66 Witwer und fand heraus, dass fast die Hälfte von ihnen „ Halluzinationen “ ihrer verstorbenen Ehepartner gehabt hatten (ebd., S. 120). Seine Untersuchung erschien im renommierten British Medical Journal unter dem bezeichnenden Titel „ The hallucinations of widowhood “ (ebd., S. 245). Informationsquellen Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, an Berichte über Ende-des-Lebens- Erfahrungen (kurz ELE) zu kommen: Man kann das Pflegepersonal oder aber die Verwandten des Verstorbenen befragen. Die Fenwicks kombinierten beide Strategien in ihrer Untersuchung. Einerseits verließen sie sich auf die Berichte der Familienmitglieder, die den Sterbenden in seinen letzten Tagen und Stunden begleiteten. Die Fenwicks schreiben, dass sich bei den Vorträgen immer wieder Menschen unter den Zuhörern fanden, die von solchen Erfahrungen in ihrer Familie erzählen wollten (ebd., S. 15). Daneben griff das Ehepaar auf die Erfahrungen des Pflegepersonals der Alters- und Pflegeheime zurück (ebd., S. 17): Ärzte, Krankenschwester, Betreuer, auch Seelsorger, die oft Dutzende von Menschen in ihren letzten Tagen und Stunden begleitet haben. Die Fenwicks haben Interviews mit 40 Pflegepersonen durchgeführt (ebd., S. 18), wobei die Gespräche zunächst retrospektiven Charakter hatten. Nach einem Jahr führten die Fenwicks nochmals Interviews mit dem Personal durch (ebd.). Diese prospektiven Studien, also Untersuchungen auf der Grundlage der erhöhten Sensibilisierung für das Phänomen, sollten genauere Erkenntnisse zur Häufigkeit von ELE liefern (ebd.). Wichtig ist zu betonen: Das Pflegepersonal war sich sicher, dass die Erfahrungen der Sterbenden nicht durch Medikamente induziert wurden (ebd., S. 19). Zwar konnten von den verabreichten Medikamenten einige auch 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 959 Halluzinationen hervorrufen, diese waren für die Erlebnisse der betroffenen Personen, darunter Visionen, nach Meinung des Pflegepersonals aber nicht verantwortlich. Die Visionen der Sterbenden hatten einen völlig anderen Charakter (ebd., S. 90). Die Phänomene Die Fenwicks gliedern die ELE in zwei Kategorien: 1) Visionen (ebd., S. 23 - 46) und 2) Koinzidenzen (ebd., S. 47 - 76), wobei sie auch einen gesondertes Kapitel den Visionen von Licht und Nebel widmen (ebd., S. 151 - 172). Visionen Hierbei handelt es sich vor allem um „ Besuche “ von verstorbenen Verwandten bei der sterbenden Personen oder um die Visionen einer schönen Welt nach dem Tod. Ihr emotionaler Ton erinnert stark an Nahtoderfahrungen. So beschreibt eine Frau einen der letzten Besuche bei ihrer sterbenden Mutter: Suddenly she looked up at the window and seemed to stare intently up at it [. . .]. She suddenly turned to me and said, ‘ Please, Pauline, don ’ t ever be afraid of dying. I have seen a beautiful light and I was going towards it [. . .] it was so peaceful I really had to fight to come back. ’ (ebd., S. 37f.) Wir erinnern uns, dass Menschen, welche ein Nahtoderlebnis gehabt haben, fast ausnahmslos über das schöne, ergreifende Licht berichten, das sie nach dem Durchgang durch den „ Tunnel “ erlebt haben. Oft sind die Visionen aber konkreter und beinhalten - wiederum ähnlich wie die Nahtoderfahrungen - eine Begegnung mit verstorbenen Verwandten. Im Bericht von Sheena Harden über den Besuch bei ihrer schwerkranken Mutter heißt es: When I visited her one afternoon she started to talk to me about what I should do after she had gone, how to look after her family, etc. I asked her where she was going and she said she was going to die - all her family had come to visit her that afternoon (her mother, brother and sister had all died within the last eight years) and they were ready for her in heaven and it was her time to go. Her father had [. . .] promised to return ‘ very soon ’ to get her. She described them as standing in a semicircle and all looking very happy. She was excited about seeing them. [. . .] My mother died very suddenly in the early hours of the next morning! (Ebd., S. 12f.) (Ähnliche Berichte: ebd., S. 5, 9, 10, 31, 37, 38, 40, 41, 41f., 42, 43, 225). Die Besucher geben dem Sterbenden zu verstehen, dass er bald auf eine „ Reise “ mitgenommen werde (ebd., S. 45). Das Ziel scheint zu sein, die sterbende Person für diese Reise vorzubereiten, wobei die Ankündigung gewöhnlich ungefähr ein Tag vor dem Tod erfolgt. Manchmal geben die „ Besucher “ eine Zeit an, die sich im Nachhinein oft als überraschend präzis herausstellt. Dazu ein Beispiel: Ein älteres Ehepaar in Manchester wird in 960 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft einen Autounfall, der Mann erliegt seinen Verletzungen. Die Krankenschwester wird instruiert, die unter Schock stehende, aber nicht schwer verletzte Ehefrau nicht zu benachrichtigen. Sie erzählt: I went to her bedside and asked if she would like a cup of tea. She excitedly told me that her husband had just been to see her and told her he would come back at 4 a. m. and they would go home together. I thought that she was still affected by shock. Her blood pressure suddenly began to fall about 3.30 a. m. and the Staff Nurse sent for the doctor. [The lady] was still watching the door intently, waiting for her husband. The doctor saw she was deteriorating fast and did all he could to save her. She was smiling and watching for someone before she passed quickly into the spirit. Death was noted at 4 a. m. (Ebd., S. 224) In diesem Beispiel wird nicht der Sterbende von bereits verstorbenen Verwandten besucht, sondern umgekehrt, die kürzlich verstorbene Person erscheint einem (gesunden) Verwandten oder einer ihr emotional nahestehenden Person. Aileen Wright beschreibt das folgende Ereignis, dass sich zwei Tage nach dem Besuch bei ihrem schwer kranken Schwiegervater im Krankenhaus ereignete: Around 1.30 in the early hours of the night I awoke around 1.30 in the early hours of the night, I awoke in a sweat - my father-in-law was standing by our bed. He was asking me to wake John [ihr Mann], because he wanted to say ‘ Goodbye ’ . But I let my father-in-law down, because I felt too afraid to do so and buried myself away from what seemed to be a very real person in our room! I replied that I was too afraid to do so. Kindly, he seemed to accept my let-down - I sensed he understood my fear - and conveyed ‘ Never mind ’ . . . Then my father-in-law faded away. A few minutes later [. . .] John awoke and asked what went wrong. When I told him that I had just seen his dad, he replied, ‘ OK ’ , as if I had dreamt it, and then returned to his slumbers. But I definitely did not have a dream! The next morning the telephone rang at around 8 a. m. It was John ’ s mother to say that his father had died in the night. The time given - 1.30. (Ebd., S. 72) (Ähnliche Berichte ebd., S. 63, 64, 66, 69 f, 72f., 74, 75, 107) Manchmal erscheinen die Verstorbenen einem Verwandten nicht im Wachen, sondern im Traum (ebd., S. 52, 59, 61), wobei die Entfernung vom Ort des Sterbens eines Verwandten keine Rolle zu spielen scheint. Ein Mitglied der Besatzung eines U-Bootes berichtet von einem Traum dieser Art, den er 60 m unter dem Meeresspiegel in einem U-Boot mitten auf dem Atlantik hatte (ebd., S. 60f.). Die Fenwicks schreiben, dass zwei Drittel ihrer Auskunftspersonen von einem „ Besuch “ im Traum, beim plötzlichen Erwachen oder zwischen Wachen und Schlafen berichteten und nur ein Drittel von einem Besuch im Wachzustand (ebd., S. 48). Eine weitere Kategorie ist das „ plötzliche Erwachen “ , bei dem ein Verwandter einer sterbenden Person mitten in der Nacht mit dem Gefühl aufwacht, dass sein Verwandter anwesend ist und ihm seinen Namen zuruft.Im Nachhinein stellt sich heraus, dass der Verwandte ungefähr zur 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 961 Zeit des Erwachens starb (ebd., S. 53, 65, 66, 67, 68). Das Rufen des Verstorbenen scheint u. U. auch im Wachzustand eines Verwandten wahrnehmbar zu sein (ebd., S. 8). Koinzidenzen Ein sich in den Berichten oft wiederholendes Thema sind Koinzidenzen, also Ereignisse, die „ zufälligerweise “ mit der Zeit des Todes zusammenfallen. Besonders stark vertreten ist das unerklärliche Anhalten einer Uhr zum Zeitpunkt des Todes (ebd., S. 71, 133f., 134, 135, 136, 137, 137f.). 134 Auch von anderen unerklärlichen mechanischen Störungen wie dem Ausfall des Fernsehgeräts oder der Alarmanlage (ebd., S. 132) oder gar eines ganzen militärischen Radarsystems (ebd., S. 132f.) wird berichtet. Eine andere und vielleicht bedeutsamere Klasse von Koinzidenzen bilden Erlebnisse, bei denen der Verwandte eines Sterbenden deren physische und psychische Symptome miterlebt: gewöhnlich zunächst Schmerzen, dann Erleichterung und tiefe Ruhe oder sogar Frieden (ebd., S. 48, 54f., 55, 55f.). Ein entsprechender Bericht lautet: After visiting him on 26th May I had a few beers as normal at my local [pub] before retiring to bed, falling sound asleep. [. . .] The next thing I remember was waking up with pains in my chest and trouble with my breathing. I tried to reach the light switch but could not because of the pains. I remember looking at the clock at the side of my bed and believe it was 4.15 a. m. The pains were now intense and I was fighting for my breath. I remember grabbing my mouth, forcing it open to help me to breathe. I was fighting for all I was worth but the pains were now unbearable. Then the pains subsided and I was overwhelmed with feelings of great peace and love. All the pain had gone. I cannot possibly describe the feeling of love and great peace I experienced. I did not want the feelings to end, and wherever I was or was going to I wanted that. I did not want to come back to my body or this world. I awoke with a start with someone knocking on the door at about 7 a. m. It was a neighbour on his way to work who had kindly agreed to take any telephone messages from the hospital (we did not have a phone). I knew of course before I opened the door what he was going to say - that my father had passed away during the night. [. . .] (ebd., S. 56). Lichtvisionen Eine besondere Stellung innerhalb der Visionen nehmen die Lichterscheinungen ein, die von Sterbenden und den sie begleitenden Personen berichtet werden. Diese ähneln stark den Nahtoderfahrungen. In der Studie der Fenwicks berichten 70 % der Gesprächspartner von einer solchen Erfahrung (ebd., S. 151). Hier der Bericht von Diane Brown über ihren Mann, der infolge 134 Vor kurzem hat BBC von einem ähnlichen Fall berichtet: „ Church clock stopped ‚ at exact time carer died ’“ . (http: / / www.bbc.co.uk/ news/ uk - 26082723, heruntergeladen am 7. 2. 2014). 962 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft eines Abszessen in der Wirbelsäule und Septikämie unter so unerträglichen Schmerzen litt, dass er zu Gott gebeten hat, ihn sterben zu lassen. Suddenly, he began seeing the most fantastic colours, more beautiful than he had ever experienced before; he found himself floating and the colours changed to a blindingly bright white fluffy light (his words). All his pains were gone and then the clouds parted and hands were beckoning him. He went forward, he wanted to go forward with all of his might. He did not give a thought to me or our children, he just wanted to go towards the light. Then, in his words, ‘ Some bastard kicked me in the back and I was back in my bed. ’ Oh, he was very angry. (Ebd., S. 152) (Ähnliche Berichte: ebd., S. 5, 9, 151, 152, 153). Überraschender sind allerdings die Lichterscheinungen der begleitenden Personen. Das Licht scheint dabei dem Kopf oder der Brust der Sterbenden zu entströmen: There was what I can only describe as a white light or form around the top of her head and face area. Her face looked so radiant in all that very bright light. I felt unable to move any further to be closer to her; I ’ m not sure if this was because I physically could not, or perhaps because I knew that this was such a special, significant and sacred moment, that it would be wrong of me to intrude. Something deep within me told me that this was the moment she was taking her ‘ leave ’ of this world. I knew that I was probably witnessing the ‘ moment ’ , her spirit or soul, her inner being, leaving her body! (ebd., S. 158f.) (Ähnliche Berichte: ebd., S. 10, 153, 154 (drei), 155, 155f., 157, 158). Der nachfolgende Bericht der Verwandten eines Sterbenden stellt eine andere und besondere Facette dieser Lichterscheinung heraus: Three days later he slipped into a coma. [. . .] [O]n his last exhalation he turned his head towards the window, slowly opened his eyes, the colour of which was the most piercing luminescent blue I have ever seen, after a few seconds the colour slowly faded back to normal and he slowly closed his eyes again. (Ebd., S. 31) 135 135 Das oben beschriebene Erlebnis erinnert mich an eine Erfahrung, die ich bei der Geburt meines ersten Sohnes machen durfte, bei der ich meine Frau unterstützte. Die Geburt war nicht leicht, meine Frau musste Schmerzmittel nehmen. Ich hatte keine Ahnung, wie ein neugeborenes Kind eigentlich aussieht, meine Erwartungen waren vor allem durch die Bilder, die man in den Medien sieht, geprägt. Endlich war das kleine, unansehnliche, bläulich-weiße Baby da, ich durfte es kurz in meinen Händen halten. Ich schaute in die geöffneten Augen meines Sohnes und war zutiefst schockiert von dem, was ich in ihnen sah. Ich erwartete vielleicht den naiven Blick eines unschuldiges kleinen Kindes, vielleicht sogar einen Ausdruck der Schläfrigkeit, vielleicht der Erschöpfung nach der Anstrengung. Stattdessen ist mir aus seinen tief violetten, unheimlich dunkel anmutenden Augen der Blick eines unendlich alten, weisen Mannes entgegengekommen, der mit unerschütterlicher Ruhe nicht den Kreißsaal, sondern etwas wie eine andere Welt betrachtete. Der Blick war nicht nach vorne, sondern eher - wenn ich so sagen darf - nach hinten, oder vielleicht in die Vergangenheit gerichtet. Als ich nach einigen Stunden meinen Sohn erneut sah, war dieser Ausdruck völlig verschwunden und seine Augen hatten ihre „ normale “ bläulich-graue Farbe. Leider war es mir nicht möglich festzustellen, ob dies eine häufiger oder regelmäßig gemachte Erfahrung ist. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 963 Visionen des Nebels, Erfahrungen des Windes Eine weitere Kategorie von Visionen stellen Nebel-, Wolken- und Windwahrnehmungen dar. Hier ein typisches Beispiel. Gill Fernley beschreibt den Moment des Todes ihres Vaters: As he died, something which is very hard to describe because it was so unexpected and because I had seen nothing like it, left up through his body and out of his head. It resembled distinct delicate waves/ lines of smoke (smoke is not the right word but I have no good comparison) and then disappeared. I was the only one to see it. It left me with such a sense of peace and comfort. [. . .] I do not believe in God. But as to an afterlife, I now really do not know what to think. (Ebd., S. 161) (Ähnliche Berichte: ebd., S. 161 f, 162, 163, 164. Die Erfahrungen eines Windes oder einer Brise: 164f., 165, 166f., 167). Friede, Versöhnung Ein weiteres Phänomen, dass das Sterben begleitet, ist die Erfahrung des Friedens. Sehr oft tritt zwei bis drei Tage vor dem Tod Frieden ein und der Besucher hat im Zimmer des Sterbenden das Gefühl von Liebe. Dies ermöglicht es den Familienangehörigen, Konflikte zu beseitigen und Versöhnung zu erwirken (ebd., S. 222). Versöhnung scheint ein starkes Bedürfnis vieler Sterbender zu sein. Wer in Frieden sterben will, muss den anderen vergeben und die Vergebung anderer suchen (ebd., S. 221). Ein schönes Beispiel ist der Bericht von Les Wilson. Er verließ seine Eltern mit 16 Jahren, da er sich mit seinem Vater nicht verstand, und besuchte sie nie. Fünf Jahre nach der Trennung änderte er auf dem Weg zur Arbeit unvermittelt die Fahrtrichtung und fuhr zum Haus seiner Eltern: I could not reason with this, other than I found a sudden urge to visit my home in Yorkshire. I just felt a sudden need to do this. When I arrived at my parents ’ front door, Mum came rushing out in tears and threw her arms around me saying. ‘ Thank God you ’ re here. . .we hadn ’ t a clue where to get in touch, but your dad is dying of cancer and you ’ re the only one left to see him. ’ I went upstairs and made my peace with my dad, who said that now he had seen all his family he was ready to go, and, next morning, when my elder brother called to see him, he was dead in his bed. I could not explain this phenomenon and it has troubled me ever since. (Ebd., S. 221f.) Dies könnte in Verbindung mit der oben beschriebenen Erscheinung darauf deuten, dass sowohl am Anfang, wie auch am Ende des Lebens des Menschen eine Welt in den Augen des Neugeborenen kurz aufleuchtet oder sich zum Ausdruck bringt, die er vor der Geburt erlebte bzw. nach dem Tode erleben wird. 964 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft ELF und NTE Die Fenwicks fassen ihre Gespräche in drei Punkten zusammen. 136 Zum einen waren die beschriebenen Erfahrungen tröstend für die Sterbenden wie auch für diejenigen, die sie begleiteten. Zweitens waren sich die Auskunftspersonen sicher, dass ihr Erlebnis kein Wunschdenken, keine Einbildung und keine Halluzination war (ebd., S. 12). Drittens stellte sich bei Auskunftspersonen nach dem Interview ein Gefühl der Erleichterung ein, da sich ihnen das erste Mal die Gelegenheit bot, über ihre Erfahrungen zu sprechen (ebd., S. 12). Fenwicks weisen auch auf Ähnlichkeiten zwischen den Ende-des-Lebens- und den Nahtoderfahrungen hin. Die Erfahrung des Lichtes, das Begrüßtwerden von den verstorbenen Verwandten, das Gefühl des Friedens und der Liebe sind weitgehend identisch. Eine andere frappierende Parallele ist, dass die Verstorbenen ohne die physischen Beeinträchtigungen bzw. Behinderung sind, die sie zu Lebzeiten gewahrten (z. B. Verlust eines Auges oder eines Armes). Sie erscheinen gewöhnlich auch „ in der Blüte des Lebens “ (ebd.). Allerdings gibt es von Sterbenden keine Berichte über außerkörperliche Erfahrungen (während sie in ungefähr 30 % der Nahtoderfahrungen auftreten) und keine über Tunnelvisionen, die für Nahtoderfahrungen typisch sind (ebd.). Die verblüffenden Ähnlichkeiten unterstützen nach Ansicht der Autoren die These, dass es eine einheitliche transzendente Wirklichkeit gibt, die von den Sterbenden betreten wird (ebd.). Wissenschaftliche Erklärungen taugen nicht Die Fenwicks stellen fest, dass es schwierig wäre, innerhalb der gegenwärtigen Wissenschaft einen spezifischen Gehirnmechanismus zu finden, der die Erlebnisse der Sterbenden erklären könnte. In Anbetracht der Fülle dieser Berichte müsse man deshalb akzptieren, dass die mechanistische Sicht der Gehirnfunktionen unzureichend ist, diese Erfahrungen zu erklären, Erfahrungen, die „ a wider and greater meaning to both life and death “ nahelegen (ebd., S. 91). Für einige Begleiter kann diese Erfahrung lebensverwandelnd wirken. „ Ali “ , dessen Bericht über seine sterbende Großtante wir bereits zur Kenntnis genommen haben, stellt fest: 136 Das Buch enthält auch Berichte über Reaktionen von Tieren, vor allem Haustiere, auf den Ton ihren Herrchen (ebd., S. 140 - 149). Diese habe ich in meiner Zusammenfassung ausgeklammert. Der Leser sei aber auf einen besonders interessanten Fall einer Katze aufmerksam gemacht, die in einem Pflegeheim untergebracht war den Zeitpunkt des Todes einer Bewohnerin sehr präzis vorausahnte (ebd., S. 141). Dieser Fall wurde übrigens zuerst in einer angesehenen medizinischer Zeitschrift (New England Journal of Medicine) beschrieben (Dosa 2007). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 965 This whole experience - if indeed, this is the right word to use - has given so much more meaning to my life now. [. . .] I know now that there is nothing to fear, it [death] is such a peaceful and graceful moment, and it has proved to me, beyond a doubt, that the spirit or soul does exist, outside of the body; I saw it! (ebd., S. 242) Die Fenwicks, ihrem wissenschaftlichen Hintergrund treu, äußern sich vorsichtiger, wenngleich sie in dieselbe Richtung tendieren: In the last resort, without a soul we are merely mechanical entities, receptacles for the brief flame of life, responsible only to our biology and to our culture. Listening to people who are dying, or who have been with the dying and have reported these ‘ soul sightings ’ , is probably the nearest any of us are going to get to a proof that we are more than just mechanical automatons. Personal experience will not provide objective scientific proof, but it does suggest a way of understanding death. (Ebd., S. 183f.). Das Autorenpaar ist sich jedoch auch der Grenzen des gegenwärtigen wissenschaftlichen Paradigmas sehr bewusst. Es erinnert daran, dass Thomas Kuhn in seinem bahnbrechenden Werk The Structure of Scientific Revolutions zeigte, dass Wissenschaft durch die Kultur, in welcher sie praktiziert wird, bedingt ist (ebd., S. 187). So wurde Benjamin Franklin für seine Idee des Blitzableiters von der Royal Society als Träumer ausgelacht. Die Edinburgh Review schrieb 1803 über Youngs Wellentheorie des Lichts: „ containing more fancies, more blunders, more unfounded hypotheses, more gratuitous fiction from the fertile yet fruitful brain [. . .] of Dr Young “ . Die gleiche Edinburgh Review empfahl der Öffentlichkeit, Thomas Gray in eine Zwangsjacke zu stecken, als er Eisenbahnen als Ersatz für den Kutschenverkehr vorschlug. Der berühmte britische Chemiker und Erfinder Humphrey Davy lachte über die Vorstellung, das London je mit Gas beleuchtet sein werde. Als Stevenson die Nutzung von Lokomotiven vorschlug, lieferten zahlreiche Gelehrte Beweise, dass es unmöglich sei, dass sie auch nur mit einer Geschwindigkeit von 12 Meilen pro Stunde fahren. Die französische Akademie der Wissenschaften verspottete den großen Astronomen Arago, als er das Thema des elektrischen Telegraphen zur Sprache bringen wollte (ebd., S. 188f.). Die Fenwicks äußern die Überzeugung, dass die Wissenschaft nicht mehr als der ultimative Schiedsrichter darüber, wie die Welt funktioniert, angesehen werden könne, weil die Wissenschaftler in ihrer lokalen Kultur eingebettet seien und diese ihr Verständnis von Wissenschaft präge. Es gebe nicht nur ein Weltbild, sondern viele, und um diese Vielfalt zu erklären, brauchen wir womöglich viele Wissenschaften. Ein „ Paradigmenwechsel “ sei nötig, denn um die Phänomene, die sie in ihrem Buch behandelt haben, verstehen zu können, müssen wir unseren gegenwärtigen wissenschaftlichen Bezugsrahmen erweitern (ebd., S. 241). Am Ende ihres Buches stellen sie fest, dass wir vermutlich doch mehr als unser Gehirn sind und dass wir im Tod zu unserer geistigen Heimat zurückkehren: 966 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft The evidence points to the fact that we are more than brain function, more than just a speck in creation, and that something, whether we regard it as soul or consciousness, will continue in some form or another, making its journey to ‘ Elsewhere ’ . It suggests that when we enter the light we are coming home, that we do indeed touch the inner reaches of the universe that is composed of universal love. This is the territory of the dying. (Ebd., S. 242) Würdigung: Das Rätsel der westlichen Kultur Dass das Buch der Fenwicks ein weiteres und wichtiges Argument gegen die Vorherrschaft des Materialismus in der Wissenschaft darstellt, ist offensichtlich und muss hier nicht eigens betont werden. Ich möchte vielmehr anlässlich dieses Buches auf ein interessantes Rätsel aufmerksam machen. Wir haben bereits eine Reihe der Phänomene betrachtet (Nahtoderfahrungen, religiöse bzw. transzendente Erlebnisse von Menschen in Großbritannien, die Begegnungen mit Christus in Schweden, die Phänomene, die eine Herztransplantation begleiten, die Ende-des-Lebens-Erfahrungen, das Gefühl, angestarrt zu sein, die Fähigkeit der Tiere, die Zeit des Ankommens des Herrchens vorauszuahnen, die Phänomene der Kohäsion zwischen unterschiedlichen Personen usw.), die ernsthafte Probleme für das derzeitige Erklärungsparadigma aufwerfen. Einige dieser rätselhaften Phänomene werden wie die von den Fenwicks behandelten Erfahrungen Sterbender von den sie erlebenden Personen als außergewöhnlich wichtig und tiefgreifend, ja als lebensverändernd empfunden. Und doch sind diese Phänomene und Erfahrungen in unserer Kultur mit Ausnahme der Nahtoderfahrungen noch immer relativ unbekannt und werden kaum zum Thema wissenschaftlicher Forschung gemacht. Diese Tatsache ist für mich das eigentliche Rätsel der westlichen Kultur. Wieso ignorieren wir solche Erfahrungen, wenn sie doch unsere Stellung zu Welt und Natur, unsere grundsätzliche Orientierung im Leben radikal verändern könnten? Es ist richtig, dass nicht alle Menschen solche Erfahrungen machen. Nicht alle Menschen, die aus dem Koma erwachen, berichten von NDEs, nicht alle sterbenden Menschen erhalten Besuch von verstorbenen Verwandten, nicht alle Verwandten, die ihre Geliebten beim Sterben begleiten, berichten von Lichtvisionen und haben die Empfindung eines tiefen Friedens, einer tiefen Liebe. Aber ihre Zahl ist groß genug, um diese Phänomene ernst zu nehmen. Charles T. Tart: The End of Materialism. How Evidence of the Paranormal Is Bringing Science and Spirit Together 2009 ist ein wichtiges Werk des uns bereits bekannten Charles T. Tart erschienen: The End of Materialism. How Evidence of the Paranormal Is Bringing Science and Spirit Together (Tart 2009). Das Buch ist der Höhepunkt einer langen wissenschaftlichen Laufbahn. So schätzt auch Tart selbst es ein, wenn er auf seiner Website schreibt: „ I am proud to finally announce the 2009 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 967 publication of what may be my most important book. “ Die Abfassung des Buches habe drei Jahre in Anspruch genommen, aber er habe darin mehr als fünfzig Jahre Vorbereitung investiert. 137 Prof. Tart, ein Gründungsvater der transpersonalen Psychologie (Tart 2009, S. 23), war zu diesem Zeitpunkt 72 und hatte mehr als 250 Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften, viele davon in Science und Nature, wie auch mehrere Bücher veröffentlicht. In The End of Materialism erntet er nun die reichen Früchte seines langen Forscherlebens. Die Kernbotschaft des Buches lautet: Die empirischen Forschungsergebnisse machen den Schluss unumgänglich, dass die materialistische Metaphysik der Wissenschaft grundlegend falsch ist. Wir haben bereits zahlreiche Werke betrachtet, die diese Schlussfolgerung zumindest nahelegen. Keines formuliert sie jedoch so radikal wie Tart. Bereits am Anfang seines Buches greift Tart die materialistische Metaphysik frontal an, indem er sie durch die Form seiner Darstellung als ein Glaubensbekenntnis zu erkennen gibt: I BELIEVE - in the material universe - as the only and ultimate reality - a universe controlled by fixed physical laws - and blind chance. I AFFIRM - that the universe has no creator - no objective purpose - and no objective meaning or destiny. I MAINTAIN - that all ideas about Got or gods - enlightened beings - prophets and saviors - or other nonphysical beings or forces - are superstitions and delusions - . Life and consciousness are totally identical to physical processes - and arose from chance interactions of blind physical forces - . Like the rest of life - my life - and my consciousness - have no objective purpose - meaning - or destiny. I BELIEVE - that all judgments, values, and moralities - whether my own or others ’ - are subjective - arising solely from biological determinants - personal history - and chance - . Free will is an illusion - . Therefore, the most rational values I can personally live by - must be based on the knowledge that for me - what pleases me is good - what pains me is bad - . Those who please me or help me avoid pain - are my friends - those who pain me or keep me from my pleasure - are my enemies - . Rationality requires that friends and enemies - be used in ways that maximize my pleasure - and minimize by pain. I AFFIRM - that churches have no real use other than social support - that there are no objective sins to commit or be forgiven for - that there is no divine retribution for sin - or reward for virtue - . Virtue for me is getting what I want - without being caught and punished by others. I MAINTAIN - that the death of the body - is the death of the mind - . There is no afterlife - and all hope of such is nonsense. (Ebd., S. 28; 296) Materialistisch gesinnte Leser werden einwenden, dass der materialistische Glaube nicht zwingend den extremen Egoismus, der in diesem Bekenntnis zum Ausdruck kommt, impliziere, obschon selbst sie zugeben werden müssen, dass die Entstehung von Kooperation und Fürsorge, die über das eigene Nachkommen hinausgehen, sei es in menschlichen, sei es in tierischen 137 (http: / / www.issc-taste.org/ index.shtml (heruntergeladen am 21. 3. 13). 968 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Gemeinschaften, im Licht der Evolutionstheorie rätselhaft bleibt. 138 Ich habe darüber hinaus im „ Intermezzo “ zu zeigen versucht, dass materialistische Ontologie, konsequent durchgedacht, fast unweigerlich zu einer grundsätzlich egoistischen Einstellung führt. Es ist das große Verdienst von Tarts „ Western Creed “ , dass es deutlich macht, dass Wissenschaft keineswegs nur auf wissenschaftlichen Tatsachen oder Forschungsresultaten basiert, sondern einen Glaubensartikel darstellt. Wissenschaft ist eine (verfehlte) Metaphysik, oder, um Rudolf Steiners Formulierung zu gebrauchen, eine „ weltliche Religion “ (Steiner GA182, S. 12f.). Was bewegt Tart dazu, den Materialismus zu einer Metaphysik zu erklären? Wie wir bereits in Irreducible Mind gesehen haben, stützt er sich auf die Ergebnisse der parapsychologischen Forschung (u. a. auch seiner eigenen Experimente) vor allem in den Bereichen, die er als die „ großen fünf “ bezeichnet (ebd., S. 12; 89): Telepathie, Hellsichtigkeit, Präkognition, Psychokinese und psychisches Heilen. Sie sind allesamt durch strenge Experimente belegt (ebd., S. 291), so dass sie eine „ solid and firm foundation for opening us to the spiritual possibilities of people “ darstellen (ebd., S. 169f.). Die Überprüfung der Resultate der empirischen Erforschung dieser Phänomene führt Tart zum Schluss, dass [. . .] rigorous essential science has collected hundreds of experimental findings showing that human beings can sometimes show mind-to-mind communication, clairvoyantly know about distant aspects of the physical world, precognize the future, and affect both nonliving and living things by willing alone. That is, humans are the kind of creatures that we might describe as having qualities of a spiritual nature. (Ebd., S. 13; vgl. auch S. 240 - 242, 291) Weitere Kapitel beschäftigen sich mit AKE (ebd., S. 189 - 224), Nahtoderfahrungen (ebd., S. 225 - 242), Nach-Tod-Kommunikation (ebd., S. 243 - 276) und Reinkarnation (ebd., S. 277 - 288). Hinsichtlich des Realitätsgehalts dieser Gruppe von Phänomenen gibt sich Tart allerdings - einigermaßen überraschend - unsicher, weil sie nach seiner Einschätzung noch zu wenig erforscht seien (ebd., S. 13 f; 291). Insbesondere AKEs und Nahtoderfahrungen deuten nach Tart allerdings darauf hin, dass wir eine Art Seele haben (ebd.), dass es einen nichtphysischen Aspekt in uns gibt, der in Leib, Gehirn und Nervensystem eingebettet ist und mit diesen interagiert (ebd., S. 292). Was die Möglichkeit anbetrifft, dass dieser Kern den Tod des Leibes überlebt, so meint Tart, dass die AKE und Nahtoderfahrungen, obschon sehr beeindruckend, keine abschließende Antwort zulassen, da die Auskunftgeber eben nicht gestorben sind. Er wendet sich deshalb den Phänomenen Nahtod- Kommunikation und Kommunikation mit Verstorbenen über Medien zu, um von hieraus eine Antwort zu versuchen (ebd., S. 292). Er hält fest, dass das Gefühl, von dem Toten „ kontaktiert “ worden zu sein, für die trauernden 138 Vgl. oben, Abschnitt „ Empirische Rätsel der Wissenschaft “ . 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 969 Verwandten zwar beruhigend und tröstend sein mag, unserem „ wissenschaftlichen “ Verstand (the scientific parts of our minds) aber als Beweis nicht ausreichend. Die Fälle der mediumistischen Kommunikation mit den „ Verstorbenen “ , die z. T. äußerst präzis und nachweislich korrekt sind, bieten schon stärkere Belege, aber auch diese reichen Tart noch nicht aus, um auf diesem Felde Sicherheit zu haben. Er erlaubt sich deshalb nur eine persönliche Stellungnahme: Er würde nicht überrascht sein, wenn er nach dem Tode das Bewusstsein wiedererlangte, obschon dieses Bewusstsein wahrscheinlich eine andere Form haben werde als unser gewöhnliches inkorporiertes Bewusstsein (ebd.). Darüber hinaus ist sich Tart ziemlich sicher, dass die für unser verkörpertes Bewusstsein charakteristische Ich-Wahrnehmung mit dem Tod eine Veränderung erfahren werde (ebd., S. 293). Was schließlich die Möglichkeit einer neuen Verkörperung bzw. der Reinkarnation in einem neuen Leib nach dem Tode anbetrifft, so meint Tart, dass wir genügend Belege haben, um eine solche Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Es sei „ einfach verrückt “ , dass wir keine große Anstrengungen unternehmen, um diese Möglichkeit zu erforschen (ebd.). Tart bedauert im Allgemeinen den Mangel an Interesse für die Erforschung der Fragen der Möglichkeit des Aufrechterhaltens des Bewusstseins und der Eigenschaften des Lebens nach dem Tode, den er als eine bedauerliche Schwäche unserer modernen Kultur einschätzt. Als einen möglichen Grund führt er die weit verbreitete Furcht vor dem Tod an: [T]he fact that we don ’ t support any research to speak of that deals with the reality or lack of it of postmortem survival and the nature of afterlife is an incredible lack in modern culture. Probably our fear of death has a lot to do with this total avoidance, but pretending that problems aren ’ t there has never been a very useful way to solve them. (Ebd.) Bereits an einer früheren Stelle wies Tart auf eine andere Quelle für das Desinteresse hin: die szientistischen Ausrichtung unserer Kultur: [S]cience apparently tells us that there ’ s nothing but material reality. Ideas of the spiritual are superstitions and delusions from earlier times, perhaps needed by the dumb and cowardly who can ’ t face reality, but certainly not be intelligent, educated modern people. Because we like to be considered intelligent, educated, and modern, and since science has been so enormously successful in so many other areas of life, we can ’ t help but take this objection to spirituality quite seriously. That ’ s just as a conscious level. Semiconsciously and unconsciously, we ’ ve all been subjected to great amounts of belittlement of spirituality by scientists and other prestigious thinkers, so there ’ s unconscious, as well as conscious, resistance to spirituality and the emotional issues around it. So here we are, spiritual creatures in historical and experiential senses - people who do have spiritual experiences, whether they ’ re considered nonsense or not - who doubt, suppress, ridicule, and “ explain away ” many of our own deepest experiences. 970 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft With deeper inquiry into essential scientific method, we saw that the problem is not a conflict between science per se and spirituality, but between scientism and spirituality. 139 Scientism, attached to the enormous success of the physical sciences, presumes a philosophy of total, materialistic monism. Everything can and will be fully explained by studying space, time, matter, and energy with physical instruments, and we can dismiss the spiritual a priori without wasting our time by looking at it seriously. Essential, genuine science, radical empiricism, insists, though, that we look at all data, all experience, not just those things that make us happy because they fit the beliefs and theories we ’ ve already adopted. People have always had and keep right on having experiences that simply do not fit into current materialistic frameworks or reasonable extensions of them. [. . .T]he interested reader can find literally thousands and thousands of such experiences from intelligent, educated people. My TASTE website, The Archives of Scientists ’ Transcendent Experiences [. . .] describes many such experiences that living scientists have had. When we apply the methods of essential science to look at these kinds of experiences, which are ignored in materialistic scientism, we discover paraconceptual phenomena, paranormal phenomena as they ’ re usually called, apparent transcendences of the usual limitations of space and time that happen to so many ordinary people that the “ normal ” in paranormal is actually misleading. If what happens to a majority of people is “ normal ” , then those who haven ’ t personally had some sort of paranormal experience are not up to normal; they are subnormal or abnormal. (Ebd., S. 289 - 291) Würdigung Die Zahl der bekannten Fälle paranormaler Erfahrung ist heute schlicht erdrückend. Allein Nahtoderfahrungen sind wahrscheinlich bereits von Millionen von Menschen gemacht worden (ebd., S. 14; 228). Doch selbst wenn man die szientistischen Vorurteile fallen lässt, bleibt die Schwierigkeit, wie man gewisse von Tart aufgeworfenen Fragestellungen erforscht werden können, z. B. ob ein geistiger Kern des Menschen den Tod des Leibes überlebt und sich später in einem anderen Leib inkarniert. Wie Tart selbst herausstellt, sind für einen Skeptiker alle Erzählungen vonKontakten mit Verstorbenen oder Berichte von einem früheren Leben einschließlich der nachprüfbaren leiblichen Auffälligkeiten der inkarnierten Person nicht ausreichend, um die nachtodliche Existenz des geistigen Kerns des Menschen oder gar dessen Reinkarnation zu beweisen. Es ist jedoch schwierig, sich Beweismaterial vorzustellen, welches noch schlagkräftiger ist als die bekannten Phänomene, und es ist ebenso schwierig, sich Experimente oder sonstige empirische Forschungsmethoden auszudenken. Zu diesem Problem werden wir bald zurückkehren (s. unten, Kapitel „ Übersinnliche Erkenntnismethoden. . . “ ). 139 An einer anderen Stelle stellte Tart fest, dass der Konflikt nicht zwischen der Wissenschaft und Spiritualität bestehe, sondern zwischen „ second-rate spirituality and secondrate science “ (ebd., S. 6). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 971 An dieser Stelle möchte ich aber auf zwei Vorzüge von Tarts Werk aufmerksam machen. Zum einen erachte ich es als wichtiges Verdienst, dass er die negativen Auswirkungen der reduktionistischen materialistischen Überzeugungen nicht nur theoretisch darstellt, sondern auch praktisch erfahrbar macht. Dazu hat er eine Übung entwickelt, welche 15 - 20 Minuten in Anspruch nimmt. Sie besteht darin, dass man die Worte des Credo laut wiederholt, während man die rechte Hand wie bei einem Gelübde über dem Herzen hält (ebd., S. 23) und auf seine Empfindungen achtet. Der zweite Schritt besteht darin, die eigenen Gefühle und Empfindungen zu reflektieren (ebd., S. 23f.). 140 Tart schreibt, dass er in den Jahren, in welchen er in seinen Klassen und anderen Situationen diese Übung durchgeführt hat, einen reichen Schatz an Erfahrungen gesammelt habe (ebd., S. 29). Eine kleine Gruppe, ca. 5 % oder weniger, berichtete, dass sie das Credo genossen, dass es ihnen ein Gefühl großer Erleichterung gab. Die überwiegende Mehrheit stimmte die Übung traurig (ebd., S. 30). Tart zitiert einige typische Reaktionen von Studenten, welche für die Online-Version der Übung gefilmt wurden: I noticed that the part early on, when we heard that there ’ s no God, made very sad. And then, by the end, I found myself wondering, if people really believe this way, why do they stay alive? I feel as if I don ’ t even want to be in this body; it seems pointless. I ’ d just rather not be a part to this reality. I have a sunken feeling in my stomach; it feels weird there. And there was a point during the exercise when my mind refused to accept those words. [. . .] I feel very unmotivated. And I feel very selfish. (Ebd., S. 30) An einer späteren Stelle des Buches fasst Tart den Effekt der materialistischen Überzeugungen auf den Menschen folgendermaßen zusammen: [M]ost forms of sceintism have a psychopathological effect on too many people by denying and invalidating the spiritual or transpersonal longings and experiences that they have. This produces not just unnecessary individual suffering but also attitudes of isolation and cynicism that worsen the state of the world. (Ebd., S. 241f.) Das andere wichtige Verdienst Tarts ist die Einrichtung des Archives of Scientists ’ Transcendent Experiences, kurz: TASTE 141 , eine Sammelstelle für mystische Erfahrungen von Wissenschaftlern (ebd., S. 290, 366f.). Die Website beinhaltet fast 100 Berichte, wobei man berücksichtigen muss, dass seit November 2008 aus Zeitmangel keine neuen aufgenommen wurden (ebd., S. 367). Selbst Wissenschaftler sind also nicht gegen mystische Erfahrungen gefeit. Abschließend muss betont werden, dass Tart trotz seiner scharfen Kritik an der Auswüchsen des Szientismus in seiner Haltung ein Wissenschaftler 140 Vgl. auch www.alternativedesignsolutions.com/ itp/ Tart; auch: http: / / www.abovetopsecret.com/ forum/ thread787852/ pg1 (heruntergeladen am 21. 3. 2013). 141 www.psychology.ucdavis.edu/ tart/ taste, oder: www.issc-taste.org (heruntergeladen am 21. 3. 2013). 972 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft bleibt und keineswegs für die Aufgabe der wissenschaftlichen Methodologie oder Denkweise plädiert. Im Gegenteil schreibt er, dass es für ein erfülltes und interessantes Leben sowohl wissenschaftliches Orientierung als auch spirituelles Suchen braucht. Sein Buch verfolge den Zweck, diese beiden Aspekte zusammenzuführen: I ’ ve written this book to help those who ’ ve experienced conflicts between their spiritual and scientific sides, or who are simply interested in aspects of science and the spiritual. In my own life I ’ ve not only finally become comfortable with (and proud of! ) being both scientist and spiritual seeker, but I also have a dream that some day these two aspects of human life will help each other rather than be in conflict. (Ebd., S. 6) Deepak Chopra und Leonart Mlodinov: War of the Worldviews. Science vs. Spirituality 2011 ist ein Buch erschienen, dass mir ein bedeutendes Zeichen der Zeit scheint: Chopra und Mlodinows World of the Worldviews. Science vs. Spirituality (Chopra und Mlodinov 2011). Das Buch ist eine Art Diskussion zwischen den beiden Autoren zu den wichtigsten weltanschaulichen Fragen der Gegenwart: Wie ist das Universum entstanden? (Chopra und Mlodinov 2011, S. 23ff.); Ist das Universum bewusst? (ebd., S. 39ff.); Durchläuft das Universum eine Entwicklung? (ebd., S. 54ff.); Was ist die Natur der Zeit? (ebd., S. 65ff.); Ist das Universum lebendig? (ebd., S. 79ff.); Was ist Leben? ((ebd., S. 93ff.); Hat das Universum einen Plan? (ebd., S. 107ff.); Was macht unsere Menschlichkeit aus? (ebd., S. 121ff.); Wie funktionieren die Gene? (ebd., S. 135ff.); Was ist die Verbindung zwischen dem Gehirn und Geist? (ebd., S. 173ff.); Ist Gott nur eine Illusion? (ebd., S. 245ff.); Welche Zukunft hat der Glauben? (ebd., S. 259ff.), um nur einige der Themen zu erwähnen. An dem Buch sind einerseits die Kontrahenten der „ Diskussion “ bemerkenswert, andererseits der Ton, in dem diese „ Diskussion “ stattfindet. Zunächst ein Wort zu den Kontrahenten. Deepak Chopra (1946 - ), stammt aus Indien und lebt seit längerer Zeit in Kalifornien. Er studierte Medizin und wurde Internist und Endokrinologe, interessierte sich aber stets für alternative Heilmethoden und gründete 1996 zusammen mit dem Neurologen David Simon das Chopra Center for Wellbeing in San Diego. Seine Weltanschauung ist durch seine Religion, den Hinduismus, geprägt. Er ist einer der bekanntesten (und auch reichsten) Persönlichkeiten der Holistic-Health-Bewegung. Er ist Autor von mehr als 60 Büchern, darunter mehrere Bestseller, die in mehr als 85 Sprachen übersetzt wurden. 142 - Leonard Mlodinov (1954 - ) hat in Berkeley promoviert und ist Buchautor. Bereits während seiner Promotion entwickelte er eine Störungstheorie für Eigenwert-Probleme in der Quantenmechanik. Später erhielt er ein Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und arbei- 142 Basiert auf http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Deepak_Chopra (heruntergeladen am 20. 6. 2014) und Buchumschlag. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 973 tete am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching bei München, wo er zusammen mit Mark Hillery grundlegende Forschungen zur Quantentheorie von dielektrischen Stoffen durchführte. Zwischen 2008 und 2010 arbeitete er mit Stephen Hawking an dem einflussreichen Buch The Grand Design. Zurzeit ist Mlodinow Gastdozent am California Institute of Technology (Caltech), einer privaten Forschungsuniversität in Pasadena, Kalifornien. 143 Ich möchte auf eine Besprechung des Buches von Chopra und Mlodinov verzichten und nur auf eines hinweisen: Chopra und Mlodinov schreiben im Vorwort ihres Buches: „ Each of us believes in the worldview he represents. We have written fiercely but respectfully to define the truth as we see it “ (ebd., S. xix). Gerade dies ist bemerkenswert. Wir haben gesehen, dass es noch in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts den pensionierten Doyens der Wissenschaft vorbehalten war, sich über die Grenzen des materialistischen Paradigmas zu wagen, und diese sahen sich dafür der Nichtbeachtung oder aber schärfster Kritik seitens des wissenschaftlichen Establishments ausgesetzt. Es sagt eine Menge über den kulturellen Wandel der letzten Jahrzehnte, dass nun ein renommierter Wissenschaftler bereit ist, mit einem anerkannten „ New-Age-Guru “ respektvoll und in aller Öffentlichkeit die zentralen Fragen der menschlichen Existenz zu diskutieren. 144 Dass dies immer noch nicht ganz zur Selbstverständlichkeit geworden ist, kann man den Protesten entnehmen, die die amerikanische Society for Neuroscience erntete, als sie den Dalai Lama als Gastredner für die Vortragsreihe „ Dialogues Between Neuroscience and Society “ einlud. Daraufhin ging eine Petition ein, in der es u. a. hieß: Inviting the Dalai Lama to lecture on Neuroscience of Meditation is of poor scientific taste because it will highlight a subject with largely unsubstantiated claims and compromised scientific rigor and objectivity at a prestigious meeting attended by more than 20,000 neuroscientists. [. . .] It is ironic for neuroscientists to provide a forum for and, with it, implicit endorsement of a religious leader whose legitimacy relies on reincarnation, a doctrine against the very foundation of neuroscience. The present Dalai Lama explicitly claims the separation of mind and body, which is essential to the recognition of the Dalai Lama as both a religious and political leader. It would serve the interests of SfN as well as the public to cancel the talk. 145 143 Basiert auf http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Leonard_Mlodinow (heruntergeladen am 20. 6. 2014) und Buchumschlag. 144 Ich habe Chopra und Mlodinov persönlich anlässlich einer Konferenz in Stockholm erlebt. Sie haben während einer Podiumsdiskusiion tatsächlich sehr respektvoll miteinander diskutiert. 145 http: / / www.petitiononline.com/ sfn2005/ petition.html (heruntergeladen am 21. 6. 2014; vgl. auch Beauregard und O ’ Leary 2008, S. 256). 974 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Eben Alexander: Proof of Heaven. A Neurosurgeon ’ s Journey into the Afterlife Biographie Als im Oktober 2012 das Buch Proof of Heaven. A Neurosurgeon ’ s Journey into the Afterlife (Alexander 2012) erschien, stieg es schon bald auf Platz 1 der Bestsellerliste der New York Times. Der Autor Eben Alexander hatte zunächst Chemie studiert und wurde dann Neurochirurg. Während seiner insgesamt elfjährigen Facharztausbildung spezialisierte er sich in Neuroendokrinologie. Es folgte ein Forschungsstipendium in zerebrovaskulärer Neurochirurgie in Newcastle-Upon-Tyne in Großbritannien und fünfzehn Jahre Praxis als Associate Professor für Chirurgie mit Spezialisierung in Neurochirurgie an der Harvard Medical School. Während dieser Jahre operierte er zahlreiche Patienten, darunter viele mit schweren Hirnerkrankungen. Er führte auch wissenschaftliche Forschungsarbeiten durch, unter anderem im Bereich der Entwicklung technischer Verfahren wie der stereotaktischen Radiochirurgie und der Magnetresonanztomographie, die bei der Behandlung von schweren Gehirnerkrankungen wie Tumoren und Gefäßerkrankungen zur Anwendung kommen. Während dieser Jahr war er (Ko-)Autor von mehr als 150 Beiträgen in medizinischen Peer-Review-Zeitschriften und präsentierte seine Forschungsergebnisse auf mehr als 200 medizinischen Konferenzen in der ganzen Welt. Proof of Heaven. A Neurosurgeon ’ s Journey into the Afterlife Alexander beschreibt in seinem Buch eine eigene Nahtoderfahrung. Am 10. November 2008, im Alter von 54, erkrankte er schwer. Er meinte zunächst, er habe eine Grippe, sein Zustand verschlechterte sich jedoch zusehends. Innerhalb von ein paar Stunden verlor er das Bewusstsein und bekam epileptische Anfälle. Man diagnostizierte eine bakterielle Meningitis. Trotz sofort eingeleiteter Maßnahmen verschlechterte sich sein Zustand zusehends. Alexander blieb sieben Tage lang im Koma. Als die behandelnden Ärzte schon jegliche Hoffnung aufgegeben hatten und im Begriff waren, die lebenserhaltende Maschinen abzuschalten, erwachte Alexander völlig unerklärlich (ebd., S. 112f.). Innerhalb von einigen Monaten hatte er seine leiblichen und intellektuellen Fähigkeiten völlig wiedererlangt, was aus medizinischen Sicht fast einem Wunder gleichkommt (ebd., S. 144., vgl. auch den Bericht seines behandelnden Arztes ebd., S. 182f.). Während seines Komas machte Alexander eine außergewöhnlich komplexe Nahtoderfahrung, die ihn von der Wirklichkeit der geistigen Welt und des Lebens nach dem Tode überzeugte. Er erwachte als neuer Mensch (ebd., S. 124, 140) und entnahm dieser Erfahrung die Aufgabe, die wissenschaftliche Welt vom Wahrheitsgehalt und der Lebenswichtigkeit der NTE zu überzeugen (ebd., S. 125, 135, 139, 170). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 975 Alexanders Buch verbindet die Erzählung des Geschehens im Krankenhaus, die er von seinen Familienmitglieder im Nachhinein erfahren hat, und die Beschreibungen seiner Erlebnisse während des Komas. Im Folgenden werde ich mich auf die Nahtoderfahrung konzentrieren. Diese ist in mancher Hinsicht ungewöhnlich und bildet eine wesentliche Ergänzung zu den bekannten Berichten. Auffallend an Alexanders Erfahrung ist, dass er keine Wahrnehmung der Umgebung, des Personals, der Familienangehörigen, und der medizinischen Maschinen hatte. Auch das Lebenspanorama (ebd., S. 77) und die Tunnelvision fehlten. Die erste Empfindung beschreibt Alexander als „ im Schlamm versunken zu sein “ (ebd., S. 29). Er glaubt sich in einer „ Underworld “ (ebd., S. 28), im „ Realm of the Earthworm ’ s-Eye View “ (ebd., S. 30), wobei er auch taktile und Hörwahrnehmungen hatte: [A] deep, rhythmic pounding, distant yet strong [. . .] like the sound of metal against metal, as if a giant, subterranean blacksmith is pounding an anvil somewhere in the distance: pounding it so hard that the sound vibrates throught the earth, or the mud, or wherever it is that you are. (Ebd., S. 29) Alexander betont, dass er sich, obwohl er zu jener Zeit durchaus bewusste Erlebnisse hatte, nicht an seine irdische Existenz und an seine irdische Identität (Persönlichkeit) erinnerte (ebd., S. 29, 31). Er war sich nicht bewusst, wie lange er in dieser Welt war (ebd., S. 29), schreibt aber, dass er mit der Zeit Bewusstsein von gewissen Gegenständen in seiner Umgebung erlangte: They were a little like roots, and a little like blood vessels in a vast, muddy womb. Glowing a dark, dirty red, they reached down from some place far above to some other place equally far below. In retrospect, looking at them was like being a mole or earthworm, buried deep in the ground yet somehow able to see the tangled matrixes of roots and tress surrounding it. (Ebd., S. 30) Alexander schreibt, dass er sich nicht als menschliches Wesen, sondern als ein einsamer Bewusstseinspunkt in einem zeitlosen rotbraunen Meer fühlte (ebd., S. 31). Er war nicht Teil dieser unterirdischen Welt, sondern in ihr gefangen. Ihm erschienen groteske Tiergesichter, die aus dem Dreck hervorsprudelten, stöhnten oder schrien und immer hässlicher und bedrohlicher erschienen. The rhythmic pounding off in the distance sharpened and intensified as well - became the work-beat for some army of troll-like underground laborers, performing some endless, brutally monotonous tasks. The movement around me became less visual and more tactile, as if reptilian, wormlike creatures were crowding past, occasionally rubbing up against me with their smooth or spiky skins. (Ebd., S. 31) 146 146 Die Stelle erinnert an Bilder von Hieronymus Bosch, insbesondere an die rechte Tafel des Triptychons Der Garten der Lüste. 976 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Dann wurde er sich auch einiger Gerüche bewusst: Es roch nach Kot, Blut und Erbrochenem, nach Tod, nicht nach Leben (ebd., S. 31f.). Er bekam Panik: Er gehörte nicht hierher und musste diesen Ort verlassen, aber wie sollte er ihn verlassen und wohin sollte er gehen? Völlig unerwartet näherte sich ihm aus der Dunkelheit ein Wesen (entity), das im Gegensatz zu seiner Umgebung unaussprechlich schön war (ebd., S. 32). Er vernahm einen hellen Klang und erblickte ein reines, weißes Licht, das hier und da mit einem Hauch von Gold versehen war und sich von oben herabsenkte und das mechanische Hämmern, das seine Umgebung bis dahin gewesen war, auslöschte (ebd., S. 38). Er schaute durch das Licht hindurch und bewegte sich schnell nach oben. Er ging durch eine Öffnung hindurch und fand sich in einer völlig neuen Welt, der seltsamsten, schönsten Welt, die er je gesehen hat (ebd.). Alexander nennt diese Welt „ Tor “ (engl.: „ Gateway “ ) und schreibt, dass in ihr zu erscheinen sich wie geboren zu werden anfühlte. Er flog durch diese Welt hindurch. Unter ihm war eine Landschaft mit Feldern, Bächen, Wiesen, Menschen und Kindern, die sangen und tanzten (ebd., S. 39). Es war eine wunderschöne Traumwelt, nur war sie kein Traum, schreibt Alexander, sie war durch und durch real. Nach einer unbestimmten Zeit des Fliegens (die Zeit dort ist nicht unsere lineare Zeit, schreibt er, ebd., S. 40), erkannte er, dass er nicht mehr allein war. Neben ihm war ein schönes Mädchen, gekleidet in Bauernkleidern. Sie befanden sich auf einer kunstvoll gemusterten Fläche, die in unbeschreibbar lebendigen Farben leuchtete: auf einer Art Schmetterlingsflügel (ebd., S. 40). Das Mädchen schaute ihn an mit einem Blick voller Liebe an, doch war diese Liebe völlig anders als auf der Erde. Das Mädchen sprach zu ihm ohne Worte, die Botschaft durchdrang ihn wie ein Wind und er wusste sofort, dass die Botschaft wahr war. In die irdische Sprache übersetzt (Alexander betont, er müsse das „ Gehörte “ „ übersetzen “ , ebd., S. 41), lautete die Botschaft etwa so: „ Du bist geliebt und geschätzt, teuer, für immer. Du hast nichts zu befürchten. Es gibt nichts, was du falsch machen kannst “ (ebd.). Das Mädchen gab ihm zudem zu verstehen, dass man ihm manche Dinge in jener Welt zeigen werde, dass er aber zurückgehen müsse. Nun folgt der „ Kern “ (engl.: Core) der Erfahrung (ebd., S. 45): Alexander befand sich in den Wolken. Unermesslich weit über sich sah er durchsichtige Sphären oder schimmernden Wesen, die sich am Himmel wölbten. Er war sich nicht sicher, ob diese Wesen Vögel, oder Engel waren, sie waren anderes als alles, was er auf Erde je gesehen hat, höher als irdische Wesen. Es schien, als ob diese Wesen einen herrlichen, mächtigen Gesang anstimmten, er konnte die visuelle Schönheit ihrer silbrigen Leiber hören (sic! ) und er konnte die freudevolle Perfektion dessen sehen, was sie sangen (ebd.). Alle Einzelheiten dieses Bildes waren deutlich unterscheidbar, jedoch fühlte sich alles wie ein Teil von allem anderen an, wie ein reiches Muster auf einem Perserteppich oder wie ein Schmetterlingsflügel (ebd., S. 46). Er fühlte eine göttliche Brise, welche alles um ihn herum änderte, als ob sie es um eine Oktave erhöht. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 977 Hinter der Brise oder in ihr spürte er ein göttliches Wesen wirken, und er fing an, Fragen an dieses Wesen zu stellen: Was für ein Ort ist es? , Wer bin ich? , Warum bin ich hier? Diese Fragen wurden sofort beantwortet in einer „ Explosion des Lichtes, der Farben, Lieben, and Schönheit “ (ebd.) und ebenso schnell verstanden: Thoughts entered me directly. But it wasn ’ t thought like we experience on earth. It wasn ’ t vague, immaterial, or abstract. These thoughts were solid and immediate - hotter than fire and wetter than water - and as I received them I was able to instantly and effortlessly understand concepts that would have taken me years to fully grasp in my earthly life. (Ebd.) Alexander bewegte sich weiter vorwärts und betrat eine Leere, die unendlich groß, völlig dunkel, zugleich aber unendlich tröstend war. Obwohl dieser Ort absolut schwarz war, quoll er vor Licht über, das aus einer leuchtenden Sphäre auszugehen schien, die er neben sich fühlte. Seine Situation war die eines Fötus im Mutterleib, mit dem Unterschied, dass seine „ Mutter “ der Schöpfergott war (ebd., S. 47). Dieses Wesen, der Schöpfer des Universums, schien ihm ganz nah zu sein, jedoch spürte er zur gleichen Zeit die unendliche Größe des Schöpfers, im Vergleich zu dem er absolut klein war. Er nennt dieses Wesen „ Om “ . Das Wesen kommunizierte mit Alexander, wobei die leuchtende Sphäre eine Art Übersetzer seiner Botschaften war (ebd.). Er hatte gleichwohl den Eindruck, mit Gott direkt zu kommunizieren (ebd., S. 48), durch Gedanken, die wie Wellen durch ihn hindurchgingen (ebd., S. 160). Dieser Gott war immer präsent, allwissend, allmächtig, aber auch persönlich, sogar menschlich (ebd., S. 86) und liebte bedingungslos (ebd., S. 161). Durch die leuchtende Sphäre teilte Om Alexander mit, dass es nicht nur ein Universum, sondern viele gebe, dass aber im Zentrum jedes dieser Universen Liebe sei. Das Universum sei ewig, es gebe aber immer neue Universen, die Om schaffe, um immer neue Wesen an seiner Herrlichkeit teilhaben zu lassen. Der sog. Urknall war auch ein solches „ Satzzeichen “ (punctuation mark) (ebd., S. 157). Alexander sah eine Überfülle von Leben, darunter auch solches, dessen Intelligenz weit fortgeschrittener als die Intelligenz der Menschheit war. Er sah zahllose höhere Dimensionen und realisierte, dass unsere irdische Welt eng mit diesen höheren Welten verbunden sei. Diese Welten waren von unserer Welt nicht völlig getrennt, denn alle Welten waren Teil einer übergreifenden göttlichen Wirklichkeit. Die wichtigste Lehre, schreibt Alexander, die er aus seiner Nahtoderfahrung zieht, ist die Einsicht in die Bedeutung der bedingungslosen Liebe im Universum. „ Love is, without a doubt, the basis of everything, “ stellt Alexander fest (ebd., S. 71). Diese Lehre ist seiner Ansicht nach keine nur emotionale, sondern auch die allerwichtigste wissenschaftliche Wahrheit (ebd.). Om habe ihm aber auch mitgeteilt, dass das Böse notwendig sei, weil ohne es freier Wille unmöglich sei, und ohne den freien Willen gebe es keine Verwandlung, keinen Fortschritt, keine Chance, dass die Menschen 978 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft werden, wie Gott es sich wünsche (ebd., S. 48). Unsere Aufgabe sei es, zum Göttlichen emporzuwachsen (ebd., S. 84). Alexander realisierte, dass obschon das Böse manchmal in unserer Welt allmächtig erscheint, in der großen Welt die Liebe überwältigend sei und letztendlich triumphieren werde (ebd.). Gott liebe und sorge sich um uns (ebd., S. 9), der Preis des freien Willens sei es jedoch, von seiner Liebe und bedingungslosen Akzeptanz abgefallen zu sein (ebd., S. 84). Om wisse aber, was wir vergessen haben, und habe Mitleid mit uns (ebd., S. 86), und unser Gefühl, Waisenkinder zu sein, sei unberechtigt (ebd., S. 170). Unser wahres Selbst sei völlig frei.Es brauche sich vor der irdischen Welt nicht zu fürchten und habe folglich nicht nötig, sich durch Ruhm, Reichtum oder Eroberung aufzuplustern (ebd., S. 85). Wir seien alle dazu bestimmt, dieses wahre, spirituelle Selbst wiederzuerlangen (ebd.). Im Anschluss daran beschreibt Alexander, wie er sich vom „ Kern “ entfernte (ebd., S. 68) und sich erneut in „ The Realm of the Earthworm ’ s- Eye View “ wiederfand, wobei es nicht mehr bedrohlich war. Mit geringer Anstrengung konnte er sich sogar wieder in die höheren Sphären erheben (ebd., S. 69). Er schaffte den Übergang von diesem dunklen Raum zu dem Raum des Gateway und sogar dem des Kerns mehrmals (ebd., S. 70). Allerdings konnte er diesen Bereich nicht mehr betreten, das Tor des Himmels war geschlossen. In diesem Moment spürte er eine immense Traurigkeit (ebd.). Dann hatte er das Gefühl, sich durch riesige Wolken hindurch nach unten zu bewegen, wo Hierarchien von Wesen für ihn beteten (ebd., S. 103). Als er immer weiter nach unten kam, wurde er sechs Gesichtern gewahr, die ihm vertraut waren (ebd., S. 109). Es waren die Gesichter von Familienmitglieder und einiger anderer Personen, die auf der Intensivstation bestanden. Als die Ärzte im Begriff waren, die lebenserhaltenden Maschinen abzuschalten, öffnete er die Augen, setzte sich auf und sagte mit einem ruhigen, freudigen Lächeln: „ All is well “ (ebd., S. 113). Aus methodologischer Sicht ist wichtig zu erwähnen, dass Alexander seine Erfahrung aufschrieb, bevor er sich mit der NTE-Literatur beschäftigte, so dass seine Erinnerung nicht beeinflusst wurde (ebd., S. 127 - 128). Sein Buch enthält jedoch manche Aussage, die eher eine Deutung der Erfahrung als diese Erfahrung selbst zu sein scheint, da sie z. B. in dem Teil des Buches stehen, der die Zeit nach dem Erwachen Alexanders aus dem Koma behandelt. Die beiden Aspekte sind sicherlich nicht scharf voneinander getrennt. So schreibt z. B. Alexander in Ergänzung zu seiner Beobachtungen über die essentiell spirituelle Natur des Menschen, dass er überzeugt sei, dass wir alles in unserer Macht unternehmen sollen, um mit ihr in Kontakt zu bleiben, denn sie sei unser wahres Wesen, das zu ergreifen uns von Gott bestimmt ist. Wir können uns diesem unserem wahren spirituellen Selbst durch Taten der Liebe und des Mitleids nähern. Liebe und Mitleid seien nicht Abstraktionen, für welche manche von uns sie halten, sie seien real und konkret, sie bilden das Gefüge der geistigen Welt (ebd., S. 85). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 979 Alexander macht darüber hinaus interessante Beobachtungen über das Denken. Er schreibt, dass er durch seine Erfahrung gelernt habe, dass das Denken nicht ein Produkt des Gehirns sei (ebd., S. 84). Wahres Denken sei vorphysisch (pre-physical), es sei ein Denken-hinter-dem-Denken (ebd.). Diese Denken sei nicht von linearen Deduktionen abhängig, sondern bewege sich schnell wie ein Blitz (ebd.). Das Denken außerhalb des Gehirns zu erleben, heiße, eine Welt der unmittelbarer Verbindungen zu betreten, die unser gewöhnliches Denken hoffnungslos schläfrig und verkrampft (plodding) erscheinen lässt. Ebenso wertvoll sind Alexanders Bemerkungen zu seiner früheren Haltung gegenüber dem Phänomen der Nahtoderfahrungen. Die Jahrzehnte seiner akademischen Ausbildung und die Praxis in der Neurochirurgie riefen in ihm tiefste Zweifel hervor (ebd., S. 34). Schließlich sagt die moderne Neurobiologie, dass das Gehirn das Bewusstsein produziert. Wie die meisten Menschen, welche mit sterbenden Patienten und ihren Familien arbeiten, habe er über die Jahre von manchen unerklärlichen Phänomenen gehört, oder solche sogar persönlich miterlebt (ebd., S. 34f.). Er habe sie aber stets in die Schublade „ unbekannt “ gesteckt, in der Überzeugung, dass sich irgendwann eine naturalistische Erklärung für sie werde finden lassen (ebd., S. 35). Wie manche andere Ärzte hat er nie Zeit investiert, um sie Phänomene ernsthaft zu untersuchen (ebd., S. 132): Like many other scientific skeptics, I refused to even review the data relevant to the questions concerning these phenomen. I prejudged the data, and those providing it, because my limited perspective failed to provide the foggiest notion of how such things might actually happen. Those who assert that there is no evidence for phenomena indicative of extended consciousness, in spite of overwhelming evidence to the contrary, are willfully ignorant. They believe they know the truth without needing to look at the facts. (Ebd., S. 153) 147 Mit dieser Haltung begegneten seine Kollegen auch ihm. Sie wiegelten ab: „ Es ist schon gut. Es ist wunderschön, dass du jetzt gesund bist, du weißt selber, was das Gehirn alles hervorbringt, wenn es so krank ist “ (ebd., S. 125) oder sie waren beunruhigt (ebd., S. 162). Die Ärzte waren dabei die ärgsten Skeptiker (ebd., S. 125), während er es als seine Aufgabe ansah, von seiner Erfahrung zu berichten: Once I realized the truth behind my journey, I knew I had to tell it. Doing so properly has become the chief task of my life. That ’ s not to say I ’ ve abandoned my medical work and my life as a neurosurgeon. But now that I have been privileged to understand that our life does not end with death of the body or the brain, I see it as my duty, my calling, to tell people about 147 Anlässlich der Besprechung von Fenwicks The Art of Dying habe ich gefragt: Weshalb sind Werke wie dieses in unserer Kultur so wenig bekannt? Warum sind sie so wenig präsent in den Medien? Ich vermute, die Antwort liegt in dem, was Alexander gesagt hat: Man beschäftigt sich mit diesen Phänomenen nicht, man schaut weg. 980 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft what I saw beyond the body and beyond this earth. I am especially eager to tell my story to the people who might have heard stories similar to mine before and wanted to believe them, but had not been able to fully do so. (Ebd., S. 10). Er betont aber, dass die Erkenntnisse, die er gewonnen hat, wissenschaftliche Validität haben (ebd., S. 162). Da er Betroffener und Neurochirurg in einer Person ist, sei er in der privilegierten Position, das beurteilen zu können. Er sei überzeugt, dass Wissenschaft und Spiritualität koexistieren können (ebd., S. 73). Seine Entdeckungen öffneten eine Tür zu einem neuen Universum des wissenschaftlichen Verständnisses. Bewusstsein erweise sich als mehr denn eine Funktion des Gehirns, nämlich als die wichtigste Entität in der ganzen Existenz (ebd., S. 162). Als praktizierender Neurochirurg sei er in einer besonders günstigen Lage, die Auswirkungen seiner Entdeckung beurteilen zu können. Und diese seien unbeschreibbar gewaltig (ebd., S. 9), sie seien lebensverändernd (ebd., S. 141). Als Wissenschaftler und als Arzt, dessen Berufung es sei, den Menschen zu helfen, habe er die Pflicht, von seiner Erfahrungen zu erzählen (ebd., S. 170, 171). Er erachte diese Pflicht auch als seine gegenwärtige Berufung (ebd., S. 10). In seiner Person hätten sich zwei Elemente vereinigt: wissenschaftliche Ausbildung und Erfahrung der Wirklichkeit der geistigen Welt. Diese Koinzidenz ermögliche es ihm, den naturwissenschaftlichen Reduktionismus, mit Gründen zu widerlegen. Er sei der lebende Beweis, dass die Welt mehr als die Welt der Materie sei (ebd., S. 171). Er müsse nicht mehr an Gott glauben, er kenne ihn (ebd., S. 148). Alexander stellt auch fest, dass man nicht warten müsse, bis man stirbt, um einen Einblick in die Welt, die hinter dem Schleier der materiellen Wirklichkeit liegt, zu erlangen. Man könne dies bereits im irdischen Leben erreichen, und zwar auf dem Wege der meditativen Arbeit (ebd., S. 158). Würdigung Hat Alexanders Nahtoderlebnis einen Wahrheitsgehalt oder ist es nur ein Resultat organischer Prozesse? Alexander betrachtet im Anhang B (ebd., S. 185 - 189) in wissenschaftlicher Manier neun weitere neurobiologischen Hypothesen, die seine Erfahrung erklären könnten, und formuliert jeweils Einwände: 1) primitives Hirnstammprogramm, das zur Erleichterung der Todesschmerzen vom Organismus aktiviert wird. Ein solches Programm würde den Reichtum seiner Visionen nicht erklären (ebd., S. 185). 2) Verzerrter Rückruf von Erinnerungen aus den tieferen Arealen des limbischen Systems. Auch diese Theorie würde den Reichtum seiner Erfahrung nicht erklären (ebd.). 3) Endogene Glutamat-Blockade mit Exzitotoxizität, welche die Wirkung des halluzinogenen Narkosemittels Ketamin imitiert. Die Halluzinationen, die durch Ketamin evoziert werden, sind gewöhnlich äußerst chaotisch und unangenehm, sie entsprechen also überhaupt nicht seiner Erfahrung (ebd., S. 186). 4) N,N-Dimethyltryptamine(DMT)-Ausschüttung der Zirbeldrüse. DMT ist ein natürlich vorkommender Serotonin- 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 981 Agonist, der lebhafte Halluzinationen und einen traumähnlichen Zustand hervorruft. Der auditorische und der visuelle Kortex, auf den DMT wirkt, waren jedoch während des langen Komazustandes nachweislich ausgeschaltet (ebd.). 5) Die isolierte Aufrechterhaltung einiger kortikaler Areale könnte gewisse Aspekte seiner Erfahrung erklären, eine solche ist jedoch äußerst unwahrscheinlich in Anbetracht der Schwere der Meningitis (ebd., S. 187f.). 6) Um die frappierende Realitätsnähe seiner Erfahrung zu erklären, betrachtete Alexander auch noch die Hypothese, dass primär die inhibitorischen neuronalen Schaltkreise von der Meningitis betroffen waren, so dass die exzitatorischen Schaltkreise die hyperrealistische Erfahrung generieren konnten. Alexander weist auch diese Möglichkeit zurück, und zwar aufgrund der Tatsache, dass die inhibitorischen und exzitatorischen Schaltkreise recht gleichmäßig über die ganze Dicke des Neokortex verteilt sind und weil aufgrund der Dauer und Schwere seiner Meningitis anzunehmen ist, dass auch die tieferen Schichten des Neokortex betroffen waren (ebd., S. 187f.). 7) Einige Kollegen schlugen vor, dass die subkortikalen Elemente des Gehirns (Thalamus, Basalganglien, Hirnstamm) zum hyperrealistischen Charakter der Erfahrung beigetragen haben. Schließlich stimmten jedoch alle überein, dass keine von diesen Regionen solche Erfahrung ohne den Kortex evoziert haben konnte (ebd., S. 187f.). 8) Eine weitere Möglichkeit wäre, Alexanders Nahtoderfahrung als eine Art Neustart (engl.: „ reboot “ ) zu verstehen: ein zufälliger Schub von unzusammenhängenden alten Erinnerungen, welche beim Neustart des Neokortex aktiviert werden. In Anbetracht der Komplexität seiner Erfahrung wirkt jedoch auch diese Erklärung äußerst unwahrscheinlich, stellt Alexander fest (ebd., S. 188). 9) Schließlich könnte man vorschlagen, dass sein Erlebnis durch archaische visuelle Verbindungen des Mittelhirns generiert wurden, was bei Vögeln oft vorkommt, aber nur selten bei Menschen beobachtet wurde. Auch diese Hypothese würde aber den extrem realistischen Charakter der Erfahrung und die Verbindung von visuellen und auditiven Aspekten der Erfahrung nicht erklären (ebd.). Es scheint also, dass es keine naturalistische Erklärung der Phänomene gibt. Alexander jedenfalls kommt zu dem Schluss, dass das Gehirn nicht ihr Produzent ist, sondern vielmehr ein Instrument, das den Zugang zur übersinnlichen Wirklichkeit gerade blockiert (ebd., S. 72, 80), also die Rolle eines Filters spielt (ebd., S. 72, 81). Diese Reduktion der geistigen Wirklichkeit ist nach Alexander notwendig, denn das ständige Bewusstsein der Herrlichkeit und Unermesslichkeit der geistigen Welt würde unsere Tatkraft im irdischen Leben paralysieren und uns daran hindern, freie Entschlüsse zu fassen und freie Handlungen zu unternehmen (ebd., S. 81). Dies alles klingt sehr überzeugend, und dennoch bleiben Fragen offen. Ich habe bereits auf Unterschiede zwischen den Erfahrungen von Alexander und den typischen NTE- Erlebnissen aufmerksam gemacht: Es fehlt bei Alexander die Beobachtung seiner physischen Umgebung im Spital von außerhalb des Leibes, der Durchgang durch den „ Tunnel “ , das Lebenspanorama “ , die Begegnung 982 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft mit dem Lichtwesen (er hatte aber das Gefühl, mit Gott gesprochen zu haben). Schließlich fehlt auch die Begegnung mit den verstorbenen Verwandten, die ihn auf den Weg zurück zum Leib weisen (wobei dieser Punkt zu relativieren ist: Vier Monate nach seiner Genesung erhielt Alexander von seiner leiblichen Familie - er wuchs als Adoptivkind auf, was er auch wusste - das Foto seiner früh verstorbenen leiblichen Schwester, die er nie im Leben gesehen hat, und erkannte, dass „ das Mädchen auf dem Schmetterlingsflügel “ die Gesichtszüge seiner verstorbenen Schwester hatte [ebd., S. 165, 168f.]). Der wichtigste Unterschied zwischen Alexanders und einer „ durchschnittlichen “ NTE besteht jedoch zweifelsohne darin, dass Alexanders Erfahrung unvergleichbar reicher und komplexer ist. Dieser Umstand lässt sich durch die Dauer seiner Erfahrung erklären: Es kann vermutet werden, dass Patienten, die lediglich einige wenige Minuten im Komazustand waren, schlicht nicht die Zeit haben, all das zu erleben, wovon Alexander berichtet. Auf der anderen Seite stellt Alexander fest, dass die Zeit in dieser Wirklichkeit völlig anders als in der gewöhnlichen irdischen Erfahrung abläuft, nämlich nichtlinear (ebd., S. 143), und er bemerkt, dass es ihm unmöglich war abzuschätzen, wie lange (in gewöhnlichen Sinne) ein bestimmtes Erlebnis dauerte (ebd., S. 29f., 69). Warum etwa fehlen bei Alexander die üblichen Charakteristika der Nahtoderfahrung wie der Durchgang durch den Tunnel, das Lebenspanorama, die Begegnung mit dem Lichtwesen (er hatte allerdings das Gefühl, mit Gott gesprochen zu haben) und die Begegnung mit den verstorbenen Verwandten, die ihn auf den Weg zum Leib zurückführen. Der wichtigste Unterschied besteht jedoch zweifelsohne in der Komplexität von Alexanders NTE. Dieser Umstand ließe sich durch die Dauer des Komas erklären, doch stellt Alexander ja fest, dass die Zeit in der NTE anders als im natürlichen Leben abläuft und er deshalb auch nicht abzuschätzen konnte, wie lange ein bestimmtes Erlebnis andauerte (ebd., S. 29f., 69). Doch mehr noch: Alexander versichert uns, er habe im „ Kern “ so viel gelernt, dass es das ganze Leben in Anspruch nehmen werde, diese Lehren zu verstehen. Ich habe versucht, Alexanders Botschaft möglichst genau wiederzugeben. Ohne im Geringsten den Wert und die Wichtigkeit des von ihm Niedergeschriebenen schmälern zu wollen, verstehe ich nicht, warum man das ganze Leben braucht, um diese Lehren zu begreifen (vielleicht braucht man das ganze Leben, um sie umzusetzen, in Einklang mit ihnen zu leben). 2014 veröffentlichte Alexander ein weiteres Buch, Map of Heaven (Alexander 2014), das auf ca. 160 von den Gaben (engl. „ gifts “ ) der geistigen Welt spricht: der Gabe des Wissens, der Bedeutung, der Vision, der Stärke, der Zugehörigkeit, der Freude und der Hoffnung. Das sind zweifelsohne wichtige Einsichten, braucht man aber wirklich das ganze Leben, um sie zu begreifen? Oder haben wir es hier nicht mit dem aus dem Drogenkonsum wohlbekannten, von Huxley in The Door of Perception beschriebenen Phänomen zu tun, dass unter dem Einfluss bestimmter Substanzen eine recht prosaische Erfahrung die Ausmaße der wichtigsten Wahrheit der Welt annimmt? Kamen 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 983 Alexanders Erlebnisse vielleicht doch durch Ausschüttung bestimmter Substanzen (z. B. Botenstoffe) im Gehirn zustande, als er auf dem Weg aus dem Koma war? Dieses Erwachen war zweifelsohne medizinisch betrachtet (fast) ein Wunder, es musste aber eine gewisse Zeit in Anspruch genommen haben und niemand weiß ganz genau, was währenddessen in Alexanders Gehirn vor sich ging. Ist es nicht möglich, dass beim „ Rebooten “ des Neokortex Erlebnisse erzeugt wurden, die subjektiv betrachtet eine sehr lange Zeit dauerten (vgl. oben Hypothese 8)? Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass die Schilderung durch den Bericht über die Geschehnisse im Krankenhaus und in seiner Familie unterbrochen werden. In Anbetracht der Tatsache, dass Träume, die objektiv betrachtet einige wenige Minuten dauern, aber subjektiv als eine Ewigkeit erlebt werden, ist jedoch nicht auszuschließen, dass Alexanders ausgedehntes Erlebnis in Wirklichkeit nur einige wenige Minuten beanspruchte und sich ereignete, als er aus dem Koma erwachte. Gegen eine solche Möglichkeit sprechen jedoch mindestens drei Faktoren. Auch ganz nüchtern und mit Abstand betrachtet sind die Erkenntnisse, die er uns vermitteln will, alles andere als trivial. Sie bedeuten tatsächlich, wie Alexander betont, eine radikale „ Umwertung aller Werte “ in unserer zutiefst materialistischen und auf den äußeren Erfolg orientierten Zivilisation. Es wäre höchst merkwürdig, wenn solche tiefe Wahrheiten nur durch den Einfluss irgendwelcher halluzinogener Substanzen zustande kommen könnten. Zweitens stimmt Alexanders Botschaft im Kern mit unzähligen Berichten von Nahtoderfahrungen überein. Alle Zeugen glauben sich im Kontakt mit einer objektiven geistigen Wirklichkeit, betonen die zentrale Rolle der Liebe in dieser Wirklichkeit und erleben eine „ Umwertung der Werte “ : Erfolg, Karriere, Geld hören auf, Bedeutung zu haben, und an ihre Stelle treten zwischenmenschliche Beziehungen, Mitleid, Taten der Liebe. Ist es möglich, dass all diese Menschen ihre im Kern übereinstimmenden Erfahrungen nur durch eine zufällige Einwirkung von irgendwelchen Substanzen erlangt haben? Und schließlich: Obwohl die halluzinogenen Wirkungen gewisser Substanzen (wie auch anderer Einwirkungen auf das Gehirn, z. B. durch magnetische Stimulation) seit Jahren wohlbekannt sind, ist überhaupt nicht klar, wie diese Wirkungen zustande kommen. Wir haben bereits im Exkurs „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ gesehen, dass es streng genommen nicht statthaft ist, aus der Tatsache, dass die Einnahme einer bestimmten Substanz gewisse mentalen Phänomene zur Folge hat, zu schließen, dass die Substanz die Phänomene verursacht hat. Der Weg von der Einnahme der Substanz zur „ Halluzination “ kann (mindestens) ebenso komplex sein wie der Weg vom Drehen des Zündholzschlüssels zum Anlassen des Automotors: Die scheinbare Unmittelbarkeit verdeckt zahlreiche Zwischenstationen, von welchen der Autofahrer oft keine Ahnung hat. Auch im Falle der chemisch evozierten Halluzinationen kann sich erweisen, dass die chemische Substanz nur ein Element auf einem komplexen Wege und nicht die Ursache dieser Phänomen ist. Schließlich ist bis heute völlig 984 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft rätselhaft, wie die „ Rechenoperationen “ der Nervenzellen überhaupt Bewusstsein erzeugen können. Alexander hofft, dass sein Buch dem Materialismus endgültig die Grundlage entziehen werde. Ich bin nicht dieser Meinung. Sein Buch ist zweifelsohne ein wichtiger Beitrag in der laufenden Diskussion, man soll sich aber keinen Illusionen hingeben, dass seine Erfahrungen alle Skeptiker überzeugen werden. Es werden sich sehr viele Wissenschaftler finden, die sagen werden: „ Mag sein, dass wir diese Erfahrungen gegenwärtig nicht naturalistisch erklären können, aber vielleicht in fünf oder zehn, oder fünfzig Jahre werden wir sicher so weit sein. “ Der Glaube an den Primat der Materie ist eben eine Form des Glaubens und keine rationalen und/ oder empirischen Argumente können Glauben schlagend widerlegen. Der Widerstand innerhalb der Wissenschaft gegen jegliche Öffnung gegenüber einer spirituellen Erklärung des Universums ist weiterhin gewaltig. 1981 schlug der damalige Chefredakteur von Nature vor, das soeben erschienene Buch von Sheldrake verbrennen zu lassen. 2012 hat Daniel Sarewitz, Kodirektor des Consortium for Science, Policy and Outcomes an der Arizona State University, in dem kurzen Artikel „ Sometimes science must give way to religion “ in der gleichen Nature die Ansicht zum Ausdruck gebracht, dass die wissenschaftliche Erklärung der Wirklichkeit nicht der Weisheit letzter Schluss sei. Er wies darauf hin, dass für diejenigen, welche die entsprechende Mathematik nicht verstehen, die Annahme eines Higgs-Bosons ein Akt des Glaubens und nicht der Vernunft sei, und schrieb: Challenges to the cultural and political authority of science continue to rise from both ideological and religious directions. It is tempting to dismiss these as manifestations of ignorance or scientific illiteracy. But I believe instead that they help to show us why it will always be necessary to have ways of understanding our world beyond the scientifically rational. I am an atheist, and I fully recognize science ’ s indispensable role in advancing human prospects in ways both abstract and tangible. Yet, whereas the Higgs discovery gives me no access to insight about the mystery of existence, a walk through the magnificent temples of Angkor offers a glimpse of the unknowable and the inexplicable beyond the world of our experience. (Sarewitz 2012, S. 431) Selbst diese sehr zarte Infragestellung des Primats der materialistischen Wissenschaft hatte unter den Lesern der Zeitschrift einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Das Internet-Diskussionsforum über den Artikel war voll beißender Kommentare erboster Wissenschaftler, 148 das Gleiche lässt sich über die an die Redaktion geschickten Briefe sagen (Nature correspondence 2012). Es scheint, dass sich in den 30 Jahren seit Erscheinen von Sheldrakes New Science of Life und trotz unzähliger weiterer Publikationen, die an den Grundsätzen der materialistischen Wissenschaft mächtig rütteln, in gewissen 148 http: / / www.nature.com/ news/ sometimes-science-must-give-way-to-religion - 1.11244 (heruntergeladen am 20. 11. 2013). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 985 Bezirken der „ wissenschaftlichen Gemeinschaft “ leider nicht viel geändert hat. Auf der anderen Seite stellen manche Wissenschaftler fest, dass man die Frage „ Gibt es eine geistige Welt, die man nach dem Tode betritt? “ in Anbetracht der Fülle der Erkenntnisse mit einem dezidierten „ Ja “ beantworten könne. Einige von ihnen haben wir hier bereits kennengelernt. Zu diesem Chor möchte ich noch eine prägnante Stimme hinzufügen: Neal Grossman, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität von Illinois in Chicago, schrieb 2010 in seinem Vorwort zu Chris Carters Buch Science and the Near-Death Experience. How Consciousness Survives Death, dass die heutige Beweislage zugunsten der Annahme der Existenz der geistigen Welt eindeutig sei: [The scientific evidence against materialism, and hence in support of the hypothesis that consciousness is independent of matter has been steadily accumulating for over one hundred years. [. . .] Today the collective evidence is conclusive. I know of no responsible investigator who has concluded otherwise. [. . .] [I]t is only because the materialist is deeply ignorant of the empirical data that have decisively refuted his or her cherished beliefs that he or she is able to sustain belief in what is false. The situation for the materialist is logically the same as that of the creationist. Both materialist and creationist must ignore, debunk, and ridicule the scientific findings that have refuted their beliefs. (Grossman 2010, S. x f.). Die heutige Situation wurde m. E. treffend von der Rezensentin von Alexanders neustem Buch, Patricia Pearson, charakterisiert. Auf der wichtigen amerikanischen Nachrichten und Kommentar Website The Daily Beast schrieb sie am 8. 10. 2014: One side of the readership [of Alexander ’ s book] has their ears perked up; they know what Alexander - who had a Near-Death Experience in 2008 - is exploring. They have had a spiritual or numinous or paranormal experience at some point in their own lives. And, actually, they cross every demographic line you can name. They aren ’ t the Christian right. They aren ’ t the “ wishful ” grieving. They aren ’ t some special group of American Stupid. They include scientists and doctors, as Alexander himself is. They feature philosophers, and journalists, and engineers, and musicians. They just happen to have encountered something singular and startling, not materially explicable - which we might once have called an intimation of the Divine. Statistically, this group touches roughly 50 percent of Americans, at least in terms of the research I ’ ve surveyed on extraordinary perceptions around death or dying. The number who have had Near-Death Experiences (NDE), as defined according to the Greyson Scale (developed by psychiatrist Bruce Greyson at the University of Virginia to demarcate agreed-upon characteristics of NDE), sits at around 17 percent, no small figure. So, there ’ s that curious and eclectic audience, on the one hand. And on the other are the folk, numbers unknown, who would pretty much say to Alexander, WTF are you talking about? There is no God, there is no Flying Spaghetti Monster, belief is not 986 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft an evidentiary bedrock you can stand on, look at all the crazy shit happening in the world today as a result of religion. Sod off with your silly map of heaven. 149 Pearson ist nicht sicher, wie groß die Gruppe derjenigen Menschen ist, welche Alexanders Darstellung widersprechen werden. Mir scheint es jedoch zumindest berechtigt anzunehmen, dass sie heute bedeutend kleiner ist als noch vor 25 Jahren ist. Es scheint deshalb auch berechtigt, ein wenig in die Zukunft schauend, sich Grossman, Alexander, Beauregard, Tart, Kelly et al. anzuschließen und anzunehmen, dass diese Erfahrungen doch real sind. Dann aber muss man sich eine wichtige Frage stellen. Angenommen, dass die geistige Welt eine Realität ist: Entsprechen Alexanders Erfahrungen dieser Wirklichkeit? Oder anders gesagt: Seine Erfahrungen müssen nicht zwingend (objektive) Erkenntnisse sein. Schließlich werfen seine Schilderungen eine Menge von Fragen auf. Was ist das „ Realm of the Earthworm ’ s View “ (Alexander 2012, S. 29f.), was sind die Wesen, die Alexander dort wahrzunehmen vermeinte? Warum solche seltsamen, abscheulichen Geruchswahrnehmungen? Wie ist es möglich, von dieser Welt in die Welt des „ Gateways “ überzugehen (ebd., S. 38ff.)? Was ist die Rolle der himmlischen Melodie, die ihn von der niederen zu der höheren Welt „ beförderte “ ? Was für eine Melodie ist es, woher kommt sie? Was soll man von denen halten, die er zu sehen vermeinte? Was soll man von den tanzenden, musizierenden Menschen halten? Was ist das Verhältnis dieser Welt zu der Welt der „ Earthworm ’ s View “ ? Was ist das Verhältnis dieser Welt zu der höheren Welt des „ Kerns “ ? Entspricht der „ Kern “ dem, was man in der christlichen Tradition als „ Himmel “ bezeichnet? Entspricht die Welt der tanzenden Menschen dem, was man traditionell als „ Paradies “ bezeichnet? Sind die Lehren, die Alexander vom „ Om “ erhalten hat, wahr? Warum ist er mit einer Ausnahme keinem verstorbenen Verwandten begegnet? Warum ist er nicht anderen verstorbenen Menschen (Milliarden von ihnen) begegnet? Die Fragen nehmen kein Ende, und man sucht vergeblich Antworten in Alexanders Buch. Chris Carters „ Trilogie “ zu paranormalen Phänomenen Zwischen 2007 und 2012 hat Chris Carter drei Werke zum Thema Wissenschaft und paranormale Phänomene veröffentlicht: Science and Psychic Phenomena. The Fall of the House of Skeptics (Carter 2007), Science and the Near-Death Experience. How Consciousness Survives Death (Carter 2010), Science and the Afterlife Experience. Evidence for the Immortality of Consciousness (Carter 2012). Ich werde auf Carters Trilogie hier nicht ausführlich eingehen, sondern nur zwei Passagen erwähnen. Carter vergleicht einigermaßen frech die heutige 149 http: / / www.thedailybeast.com/ contributors/ patricia-pearson.html (heruntergeladen am 14. 11. 2014). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 987 Wissenschaft mit der Kirche, wobei uns die Wissenschaft allerdings Ideen aufzwingt, die eine Leere in der Seele hinterlassen: Science itself became, for many individuals, a new religion, with its own saints, blasphemers, and cherished dogmas. Materialism, once a mere hypothesis, became one of these cherished dogmas, the unquestioning acceptance of which seemed crucial if the human race were not to regress to an earlier age of superstition and religious persecution. It is this attitude that accounts for the continuing refusal to accept the considerable evidence that proves materialism false. The psychology of this reaction to the evidence is perhaps understandable. But it has also left a void in the human psyche. (Carter 2012, S. 327) Carter hält dafür, dass wir nicht gezwungen sind, zwischen blinder Religion und dogmatischer Wissenschaft zu wählen. Ein dritter Weg stehe uns offen: [I]f there is one thing this book should have made clear, it is that the modern choice is not between blind religious faith and the pseudoscientific ideology of materialism. There is a third alternative, one that requires neither a leap of faith nor the denial of evidence. Our science and philosophy have evolved to the point at which they can finally come to grips with some of the deepest questions the human race has struggled with in the dark for thousands of years. Dawn ’ s early light has appeared on the horizon, and the answers we have begun to glimpse appear breathtaking. (Ebd., S. 327f.) Ich teile diese Meinung, obschon ich den „ dritten Weg “ anders als Carter sehe, der ihn, allgemein gesprochen, in einer unvoreingenommenen Untersuchung der paranormalen Phänomen (inklusive Telepathie, Reinkarnationserinnerungen, NTE, AKE und ELE) erblickt. Mehr darüber werden wir im Kapitel „ Übersinnliche Erkenntnismethoden. . . “ erfahren. Alexander Moreira-Almeida und Franklin Santana Santos (Hrsg.): Exploring Frontiers of the Mind-Brain Relationiship 2012 ist im renommierten Wissenschaftsverlag Springer ein Buch erschienen, das eine stringente Diskussion des Problems des Gehirn-Geist-Verhältnisses unter Einbezug einer möglichst breiten Palette an empirischen Befunden sein will (Moreira-Almeida und Santos (Hrsg.) 2012). Das Buch basiert auf den Vorträgen, welche 2010 während eines internationalen Symposiums zum Thema „ Exploring the Frontiers of the Mind-Brain Relationship “ in S-o Paulo gehalten wurde (ebd., S.xvii). Es sprachen zahlreiche führende Forscher und Denker, auch viele, die wir bereits in diesem Kapitel kennen gelernt haben, z. B. Mario Beauregard, Deepak Chopra, Peter Fenwick und elf andere. Das Vorwort zu dem Buch (Cloninger 2012) stammt von dem amerikanischen Psychiater und Genetiker Claude Robert Cloninger (1944 - ), der für seine Forschungen über die biologischen, psychologischen, sozialen und spirituellen Grundlagen psychischer Gesundheit bekannt ist. Er hält die Wallace-Renard-Professur für Psychiatrie, ist Professor für Psychologie und Genetik und Direktor des Center for Well-Being an der Washington Uni- 988 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft versity in St. Louis. 150 In seinem Vorwort weist Cloninger u. a. darauf hin, dass die Erfahrungen des Transzendenten weit verbreitet seien (Cloninger 2012, S. vii) und dass die westliche materialistische Grundhaltung atypisch für andere moderne Kulturen sei. Er hebt ferner hervor, dass die Forschung zeige, dass die Menschen allgemein mehr Zeit ihres Lebens mit Meditation verbringen, als sie für den Sexualverkehr aufbringen, was darauf hindeutet, dass Meditation und Gebet ein stärkeres Bedürfnis des Menschen als Sexualleben seien. Empirische Forschung zeige außerdem, dass die mangelhafte Fähigkeit zur Selbsttranszendenz mit Unglücklichsein, reduziertem Selbstwertgefühl, dem Gefühl der Leere und der Entfremdung von anderen Menschen und der Welt korreliere (ebd., S. ix). Aus diesen Beobachtungen schlussfolgert Cloninger, dass die Untersuchung solcher Phänomene und die Wiederherstellung eines Bandes zwischen Wissenschaft und Spiritualität (ebd., S. viii) wichtig für das rationale und umfassende Verständnis der Menschheit und der Welt sei (ebd.). Cloningers Bemerkungen ergänzend stellen Moreira-Almeida (Professor für Psychiatrie an der Universität von Juiz de Fora und Gründer und Direktor der Research Center in Spirituality and Health, Brazil) und Santos (Professor für das Postgraduate-Programm der Universität von S-o Paulo und Forscher am Psychiatrischen Institut der Universität von S-o Paulo) fest, dass die Ablehnung der empirischen Daten über transzendente Erfahrungen und ihrer Implikationen für das Verständnis des Verhältnisses von Gehirn und Geist aus der Verwechslung von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit und der metaphysischen (nicht wissenschaftlichen) Position des Szientismus und Materialismus resultiere (Moreira-Almeida und Santos 2012, S. xvi). Diese zwei müssen jedoch klar auseinandergehalten werden, denn der Glauben an materialistische Metaphysik sei „ not a scientific statement but a profession of faith “ (ebd., S. xvi). Die beiden Herausgeber plädieren zudem für die Erweiterung der empirischen Basis für die Erforschung der spirituellen Dimensionen der menschlichen Erfahrung, auch wenn die empirischen Beobachtungen nicht in den gegenwärtigen philosophischen Rahmen passen. Sie fordern wissenschaftliche Strenge, aber auch intellektuelle Bescheidenheit auf diesem Gebiet (ebd.). Das Werk ist in vier Teile gegliedert. In den drei Kapiteln des ersten Teils, der der Philosophie und Geschichte der Auseinandersetzung zwischen den materialistischen und nichtmaterialistischen Auffassungen des Verhältnisses Gehirn/ Geist gewidmet ist ( „ Philosophy and History “ ), zeigt zunächst Saulo de Freitas Araujo, Professor für Geschichte und Philosophie der Psychologie an der Universität von Juiz de Fora, dass die Identifizierung von Materialismus und Wissenschaftlichkeit historisch gesehen falsch ist, und er weist darauf hin, dass die Argumente, die von heutigen materialistisch gesinnten 150 Basiert auf http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ C._Robert Cloniger (heruntergeladen am 5. 6. 2013). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 989 Forschern gegen andere Auffassungen der Natur des Menschen vorgebracht werden, im Grunde Wiederholungen von Argumenten aus dem 18. und 19. Jahrhundert sind. Im zweiten Kapitel diskutiert Robert Almeder, Professor emeritus für Philosophie an der Universität von Georgia, die Hauptargumente des reduktiven Materialismus gegen eine dualistische Auffassung des Geist-Leib-Verhältnisses und zeigt, dass sie verfehlt sind. Im dritten Kapitel erinnert Carlos S. Alvarado (Assistenzprofessor an der Universität von Virginia) an die herausragenden Wissenschaftler, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts der Erforschung paranormaler Phänomene widmeten. Im zweiten Teil ( „ Physics “ ) diskutieren Chris Clarke (früher Professor für angewandte Mathematik an der Universität von Southampton, jetzt freischaffend) wie auch Stuart Hameroff (Professor für Anästhesie und Psychologie, Direktor des Center for Consciousness Studies an der Universität von Arizona) und Deepak Chopra (s. oben) die Implikationen der Quantenmechanik für das Verständnis des Gehirn-Geist-Verhältnisses. Der dritte Teil ( „ Functional Neuroimagining “ ) stellt bildgebende Studien zur Gehirnaktivität bei Mediation und spirituellen Erfahrungen vor, die auf einen Einfluss des Bewusstseins auf die Gehirnaktivität hindeuten. Im vierten Teil ( „ Human Experiences as Promising Lines of Investigation of Mind-Brain Relationship “ ) wird schließlich die Frage behandelt, welches Licht die Phänomene der Nahtoderfahrungen (Peter Fenwick [s. oben]), der Ende-des-Lebens-Erfahrungen (derselbe mit Franklin Santana Santos), des Mediumismus (Alexander Moreira-Almeida) und schließlich die Reinkarnationsberichte (Erlendur Haraldsson, Professor emeritus, Universität von Island) auf die Gehirn-Geist- Debatte werfen. Es ist nicht nötig, auf die Einzelheiten dieser Beiträge einzugehen, denn die in ihnen vorgebrachten empirischen Fakten wie auch die aus ihnen abgeleiteten Argumente sind uns bereits aus den vorausgehenden Abschnitten dieses Kapitels bekannt. Ich möchte deshalb nur auf die zentrale These des Werkes hinweisen, um zu seinen Schlussfolgerungen übergehen zu können. Dieses zentrale These lautet, dass die vorliegenden empirischen Daten, z. B. der Einfluss der bewussten Intention auf die Gehirnaktivität (Beauregard 2012, S. 130), eine ausgeprägte Nahtoderfahrung im Zustand des nachgewiesenen Fehlens jeglicher Gehirnaktivität (ebd., S. 131), Nahtoderfahrungen allgemein (Fenwick 2012, S. 143), Ende-des-Lebens-Erfahrungen (Santos und Fenwick 2012, S. 187), bestätigte Kontakte von Medien mit Verstorbenen (Moreira- Almeida 2012, S., 208), bestätigte Reinkarnationsberichte (Haraldsson 2012, S., 230), unmöglich innerhalb des materialistischen Paradigmas erklärt werden können. Dazu die Herausgeber in ihrem Schlusswort: The empirical data and the arguments presented and discussed in this work represent a serious challenge to the reductionist materialist approaches proposed to explain mental phenomena and their relationship with the brain. The main purpose of this work was to put together arguments and empirical data from a wide variety of perspectives. 990 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Throughout the book the severe limitations of reductionist materialist perspectives were explored. (Moreira-Almeida und Santos 2012 a, S. 233) Die Herausgeber erblicken den Hauptbeitrag des Buches zum laufenden Diskurs über das Bewusstsein darin, dass es Erfahrungen zur Sprache bringt, die gegenwärtig ausgegrenzt bzw. vernachlässigt werden. Sie betonen, dass diese Berichte in einer Zeitspanne von über einhundert Jahren und oft von den besten Forschern ihrer Zeit gesammelt wurden und daher vertrauenswürdig sind. Jeglicher Erklärungsversuch des Bewusstseins müsse imstande sein, die ganze Palette der relevanten Daten erklären zu können: Perhaps, the main contribution of this book, in addition to putting together a wide range of perspectives, is to bring to the current debate about the mind-brain problem a variety of old, widespread, and common human experiences that have been currently neglected or dismissed in the discussion. As in earlier scientific revolutions in other areas of science, we think that this enlarged empirical basis may decisively advance the debate that has been in stalemate for a long time. If a paradigm is proposed to explain mind and its relationship with the body, it must explain the whole range of human experiences, otherwise it would be, at least, incomplete. The evidence summarized in this book is based on more than one century of investigations, some of them performed by a number of the brightest scientific minds of their times. The available evidence point to the existence of an irreducible and nonmaterial aspect of mind that interacts with and influences material aspects of nature, thereby allowing downward causation. (ebd., S. 233f.) Die Herausgeber bringen dann ihre Präferenz für eine Theorie des Bewusstseins zum Ausdruck, die der Auffassung von William James entspricht (Gehirn als ein Organ, das das Bewusstsein, das woanders erzeugt wird, begrenzt) 151 (ebd., S. 235) und äußern zum Schluss ihre Hoffnung, dass wir ein viel tieferes Verständnis des Bewusstseins und unserer Natur insgesamt werden erreichen können, wenn wir die Beschränktheit unseres bisherigen Verständnisses in Bescheidenheit anerkennen und zugleich in unserer Suche nach Antworten mutig und kreativ weiterschreiten: If we humbly recognize our very limited knowledge about consciousness, and, at the same time, we boldly, rigorously, and creatively face the mind-body problem, we as human beings, may march to a deeper understanding of our own nature. This is undoubtedly a tough and challenging enterprise, however it is definitely a path worthwhile trailing [. . .]. (Ebd., S. 236) Würdigung Moreira-Almeida und Santos schreiben in einer Passage ihres Buches, sie wollten die empirische Basis der Wissenschaften ebenso vergrößern, wie dies in „ earlier scientific revolutions in other areas of science “ (ebd., S. 233) 151 Vgl. oben, Abschnitt „ William James: The Varieties of Religious Experience “ . 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 991 geschehen sei, und suggerieren damit, dass auch wir uns an der Schwelle einer wissenschaftlichen Revolution befinden, nämlich des Verständnisses der Natur des Bewusstseins und somit des Menschen. Mir scheint es in der Tat berechtigt zu behaupten, dass ihr Buch, vielleicht mehr als irgendein anderes, das in diesem Kapitel behandelt worden ist, einen Paradigmenwechsel einläutet. Denn während die bisherigen materialismuskritischen Werke zwar von Wissenschaftlern verfasst wurden, sich aber eher an das breite Publikum richteten und typischerweise in nichtwissenschaftlichen Verlagen erschienen, 152 ist Exploring Frontiers of the Mind-Brain Relationship für Fachleute geschrieben und von einem renommierten wissenschaftlichen Verlag veröffentlicht worden. Es ist meines Wissens das erste Mal, dass in einer derartigen Publikation explizit behauptet wird, dass der „ promissory materialism “ 153 gescheitert sei (Moreira-Almeida und Santos 2012, S. xiv) und dass „ his Highness, The Materialistic Emperor, is wearing no clothes “ (Cloninger 2012, S. ix). Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass Cloninger in seiner Vorrede mehrmals von „ mutigen “ ( „ courageous “ ) Wissenschaftlern spricht (ebd., S. viii, ix, x). In der Tat ist Mut immer noch nötig, um aus dem Materialismus der Wissenschaften auszubrechen, dessen Dominanz noch immer nicht gebrochen ist. Bezeichnend mag sein, dass weder Nature noch Science bis heute eine Buchbesprechung des Werkes von Moreira-Almeida und Santos veröffentlicht haben. Man ist vielleicht zunächst geneigt, dies damit zu erklären, dass einige Autoren wenig prominent sind. Dies gilt aber nicht für Almeder, Beauregard, Fenwick oder Haraldsson. Es ist ein unbestreitbares Verdienst von Moreira-Almeidas und Santos ’ Buches, dass es eine reichhaltiges „ empirisches “ Material zusammenträgt. Was die vorgeschlagenen Problemlösungen betrifft, so scheinen sie mir allesamt unbefriedigend zu sein. So schlagen z. B. Hameroff und Chopra in ihrem Beitrag „ The ‚ Quantum Soul ‘ : A Scientific Hypothesis “ (Moreira- Almeida und Santos (Hrsg.) 2012, S. 79 - 93) eine Lösung des Bewusstseinsproblems mithilfe der bereits 1985 von Penrose und Hameroff formulierten Theorie der „ orchestrated objective reduction “ ( „ Orch OR “ ) vor. Gemäß dieser Theorie resultiert das Bewusstsein aus Quantenkomputationsprozessen, welche in den subzellularen Strukturen der Neuronen (den sog. Mikrotubuli, das sind röhrenförmige Mikrofilamente aus Proteinen, die zusammen mit den Intermediärfilamenten und den Aktinfilamenten das Cytoskelett eukaryotischder Zellen bilden) stattfinden sollen: 152 Es gibt auch Ausnahmen: Poppers und Eccles ’ Buch The Self and Its Brain ist ebenfalls im Springer Verlag erschienen, Barrow und Tiplers Anthropic Cosmological Principle bei Clarendon Press, aber es war nicht explizit materialismuskritisch, und Irreducible Mind wie auch Exploring Frontiers richten sich an ein akademisches Publikum. 153 Vgl. oben, Abschnitt „ Popper und Eccles: The Self and Its Brain. An Argument for Interactionism “ . 992 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft [C]onsciousness depends on quantum computations in structures called microtubules inside brain neurons, occurring concomitantly with and supporting neuronal-level synaptic computation [. . .]. (Ebd., S. 85) Die Orch OR Theorie, erweitert im gegenwärtigen Beitrag zur Hypothese einer „ Quantenseele “ , will dann z. B. die Nahtoderfahrungen als Verschiebung der Information aus dem sterbenden Gehirn in das nichtlokale Universum der Quantentheorie begreifen: In the Orch OR context, consciousness occurs as a process at the level of fundamental space-time geometry. When the brain is under duress, it is conceivable [that] quantum information processes constituting consciousness dissipate to the nonlocal universe at large. A dualist perspective, in which a separate, as yet undefined spiritual information field constitutes awareness outside the body, may not be necessary. An afterlife, an actual soul-as-quantum information leaving the body and persisting as entangled fluctuations in multiple scales, or planes in quantum space-time geometry, may be scientifically possible. (Ebd., S. 90) Solche wilden Spekulation sind offensichtlich nicht imstande, wichtige Aspekte der Nahtod- oder der Ende-des-Lebens-Erfahrungen zu erklären, z. B. Begegnungen mit den verstorbenen Verwandten, Begegnung mit dem Lichtwesen oder auch die Möglichkeit der Kommunikation mit Verstorbenen durch ein Medium. Aber auch die von den Herausgebern bevorzugte Theorie eines allgemeinen Bewusstseins, das durch das Gehirn gleichsam „ verengt “ wird, kann unmöglich solche konkreten, lebensverändernden Erfahrungen erklärlich machen. Denn dieses Erfahrungen deuten unmissverständlich auf die Existenz nicht nur eines abstrakten Informationsfeldes oder eines abstrakten Bewusstseins außerhalb des Leibes, sondern auf das Fortdauern der individuellen menschlichen Person nach dem Tod und auf die Existenz übermenschlicher Wesen in einer Welt, die unserem gewöhnlichen Bewusstsein nicht zugänglich ist. Wir brauchen offensichtlich ein viel robusteres, konkreteres Verständnis der Welt, um mit dem Reichtum des „ empirischen Materials “ in einer wirklich zufriedenstellenden Weise fertig zu werden. Eine solche wirklich zufriedenstellende Erklärung dieser Phänomene wird möglicherweise von der von Cloninger geäußerten Annahme Abschied nehmen müssen, dass der Mensch sich an fünf Hauptgegebenheiten seines Lebens adaptieren müsse: sexuelle, materielle, emotionale, intellektuelle und schließlich spirituelle. Von diesen fünf „ adaptiven Situationen “ erachtet er die Spiritualität als die zuletzt entwickelte und deshalb vielleicht bei einigen Menschen noch nicht vollständig entfaltete Fähigkeit: Among these five adaptive situations, spirituality is the most recently evolved and its evolution may be incomplete, thereby resulting in marked differences between different people in traits like altruism and gifts like clairvoyance or extrasensory perception. (Cloninger 2012, S. vii) Cloninger bietet keine Begründung für seine Annahme an. In Anbetracht der Tatsache, dass Religion ein uralter Begleiter der menschlichen Kultur ist, 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 993 scheint sie zumindest zweifelhaft zu sein. Wenn sich aber erweisen sollte, dass Spiritualität nicht die jüngste, sondern die älteste menschliche Fähigkeit ist, dann ließe sich vermuten, dass z. B. die medialen bzw. hellsichtigen Fähigkeiten nicht noch nicht vollständig entfaltete, sondern bereits fast ausgestorbene Fähigkeiten sind. Die Medien wären nicht die Vorläufer bzw. Vorläuferinnen einer glorreichen Zukunft, sondern vielmehr die „ Dinosaurier “ der menschlichen Entwicklung. Und wenn man sich auf diesen Gedanken einlässt, muss man wohl folgern, dass die Erforschung der bei Moreira-Almeida und Santos diskutierten Phänomene nicht auf dem Wege des Mediumismus und der Hellsichtigkeit, sondern wenn überhaupt nur mit anderen Methoden gelingen kann. Rupert Sheldrake: Science Delusion. Freeing the Spirit of Enquiry: Ein Frontalangriff auf das Selbstverständnis der Wissenschaft 2012 veröffentlichte Rupert Sheldrake Science Delusion. Freeing the Spirit of Enquiry, das womöglich noch skandalöser als seine früheren Publikationen war und dennoch oder gerade deshalb auf ungemein breites mediales Echo stieß (Sheldrake 2012). Bald nach der Veröffentlichung des Buches folgten größtenteils positive Buchbesprechungen in praktisch allen wichtigsten englischen Zeitungen und einigen Zeitschriften, die oft von prominenten Persönlichkeiten verfasst wurden: am 6. 1. 2012 in Financial Times von Crispin Tickell unter dem Titel: „ Morphic Man. Rupert Sheldrake presents a challenge to science ’ s core beliefs in ‘ The Science Delusion ’“ (Tickell 2012); am gleichen Tag in The Independent von Colin Tudge: „ The Science Delusion. Freeing the Spirit of Enquiry by Rupert Sheldrake “ (Tudge 2012); am 14. 1. 2012 in The Spectator von James Le Fanu: „ More big questions “ (le Fanu 2012); am 27. 1. 2012 in The Guardian von Mary Midgley: „ The Science Delusion by Rupert Sheldrake - review “ (Midgley 2012); am 19. 2. 2012 in The Sunday Times von Bryan Appleyard: „ Rupert Sheldrake ’ s Alternative Science “ (Appleyard 2012), um nur die wichtigsten zu nennen. Es folgten öffentliche Vorträge (z. B. am 6. 2. 2012 in der Temenos Academy, Ashford, Kent 154 oder am 20. 4. 2012 an der Universität Groningen) 155 wie auch Radioauftritte (z. B. am 2. 1. 2012 in BBC Radio 3). 156 Diese Aufmerksamkeit mag erstaunen, bedenkt man den wissenschaftlichen Status des Verfassers. Bryan Appleyard bemerkte dazu treffend: Richard Dawkins will barely give him the time of day and many other scientists hint darkly that he has gone mad. Since 1981, when a leader in the journal Nature accused him of “ pseudoscience ” and “ finding a place for magic within scientific 154 http: / / presentations.thelincolncentre.co.uk/ temenos/ 20120206-video.html (heruntergeladen am 17. 3. 2014). 155 http: / / sggroningen.nl/ en/ rupert-sheldrake (heruntergeladen 17. 3. 2014). 156 http: / / www.bbc.co.uk/ programmes/ b018nsjk (heruntergeladen am 17. 3. 2014). 994 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft discussion ” , Rupert Sheldrake has been outlawed by the science establishment. (Appleyard 2012) Im Gegensatz zu der breiten Resonanz in der Öffentlichkeit verzichteten denn auch die wichtigsten naturwissenschaftlichen Zeitschriften (Nature, Science, PNAS) gänzlich auf Rezensionen (allerdings auch auf den Spott der früheren Jahre). In knapper Form lässt sich Sheldrakes Anliegen vielleicht mit dem Untertitel dieses Abschnitts wiedergeben: Es stellt einen Angriff auf das Selbstverständnis der Wissenschaft dar: 157 The ‘ scientific worldview ’ is immensely influential because the sciences have been so successful. [. . .] Yet in the second decade of the twenty-first century [. . .] unexpected problems are disrupting science from within. Most scientists take it for granted that these problems will eventually be solved by more research along established lines, but some, including myself, think they are symptoms of a deeper malaise. In this book, I argue that science is being held back by centuries-old assumptions that have hardened into dogmas. The sciences would be better off without them [. . .]. The biggest scientific delusion of all is that science already knows the answers. The details still need working out but, in principle, the fundamental questions are settled. Contemporary science is based on the assumption that all reality is material or physical. There is no reality but material reality. Consciousness is a by-product of the physical activity of the brain. Matter is unconscious. Evolution is purposeless. God exists only as an idea in human minds, and hence in human heads. These beliefs are powerful not because most scientists think about them critically but because they don ’ t. The facts of science are real enough [. . .]. But the belief system that governs conventional scientific thinking is an act of faith, grounded in a nineteenth-century ideology. This book is pro-science. I want the sciences to be less dogmatic and more scientific. I believe that the sciences will be regenerated when they are liberated from the dogmas that constrict them. (Sheldrake 2012, S. 6f.) In der modernen Wissenschaft, so Sheldrake, haben sich jahrhundertealte Annahmen zu Dogmen verfestigt: 1) Alles im Universum, auch die Lebewesen, ist grundsätzlich ein Mechanismus. 2) Materie ist unbewusst. 3) Die Gesamtmenge von Materie und Energie bleibt konstant (mit Ausnahme des Urknalls). 4) Naturgesetze sind unveränderlich. 5) Natur ist zwecklos und Evolution hat keine Richtung und kein Ziel. 6) Vererbung hat eine materielle Grundlage, die DNS und andere Strukturen. 7) Geist ( „ mind “ ) ist nichts 157 Ich habe den Titel in Anlehnung an ein Interview der Monatszeitschrift Gehirn & Geist mit Prof. Wolf Singer und Prof. Thomas Metzinger gewählt, das unter der Überschrift „ Ein Frontalangriff auf unser Selbstverständnis und unsere Menschenwürde “ veröffentlicht wurde (Gehirn und Geist 2002). Darin ging es um die Bedeutung der neusten Entdeckungen der Neurobiologie für das Selbstverständnis des Menschen. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 995 anderes als eine Gehirnaktivität. 8) Erinnerungen werden als materielle Spuren im Gehirn aufbewahrt und erlöschen mit dem Tod. 9) Unerklärliche Phänomene wie z. B. Telepathie sind Illusionen. 10) Mechanistische Medizin ist die einzige Form der Medizin, die wirklich wirksam ist (SD: 7f.). Diese Überzeugungen werden im Zuge der wissenschaftlichen „ Sozialisation “ wie durch eine intellektuelle Osmose aufgenommen und nicht kritisch hinterfragt: Together, these beliefs make up the philosophy or ideology of materialism, whose central assumption is that everything is essentially material or physical, even minds. This belief-system became dominant within science in the late nineteenth century, and is now taken for granted. Many scientists are unaware that materialism is an assumption: they simply think of it as science, or the scientific view of reality, or the scientific worldview. They are not actually taught about it, or given a chance to discuss it. They absorb it by a kind of intellectual osmosis. (Ebd., S. 8) Sheldrake will „ im Geiste des radikalen Skeptizismus “ (ebd.) in den zehn nachfolgenden Hauptkapiteln seines Buches die zehn von ihm genannten wissenschaftlichen Dogmen in Frage stellen. Und zwar ganz wortwörtlich: Er verwandelt eine entsprechende Behauptung in eine Frage, um so Raum für eine kritische Betrachtung der Argumente für, vor allem aber gegen die fragliche Behauptung zu schaffen. Es würde uns hier zu weit führen, seine durchaus interessante Argumentation detailliert wiederzugeben. Da ich manche Probleme und Rätsel der gegenwärtigen Wissenschaft bereits ausführlich behandelt habe, werde ich mich im Folgenden auf eine recht kursorische Darstellung der wichtigsten Punkte beschränken, um dem Leser den Flair des Buches zumindest einigermaßen zu vermitteln. Sheldrake beginnt mit einem Prolog unter dem Titel „ Science, Religion and Power “ (ebd., S. 13 - 27). Darin weist er u. a. darauf hin, dass das Streben nach Macht über die Natur eine wesentliche Rolle in der Entwicklung der Wissenschaft seit ihrem Beginn im 17. Jahrhundert ist. Er erinnert an das berühmte Motto Bacons „ Knowledge is power “ (ebd., S. 15) und an sein Ideal eines wissenschaftlichen Priestertums unter dem Patronat des Staates. In dieser Hinsicht waren Bacons Vorstellungen prophetisch, schreibt Sheldrake weiter, denn heute gibt es keine Trennung zwischen Staat und Wissenschaft und die Wissenschaftler spielen die Rolle von Priestern, die staatliche Entscheidungen beeinflussen (ebd.). Im nächsten Abschnitt widmet sich Sheldrake den „ Fantasien der Allwissenheit “ , wofür ihm der berühmte Dämon von Laplace als Beispiel dient, 158 der die Vergangenheit und die Zukunft errechnen kann. Bereits Thomas Henry Huxley formulierte die logische Konsequenz, dass dann auch die Biosphäre völlig berechenbar wäre (ebd., S. 17). Aus diesem mechanistischen Determinismus folgt zwangsläufig, dass der freie Wille eine Illusion sei - eine heute in der Wissenschaft weit 158 Laplace selber spricht nicht von einem Dämon, sondern lediglich von einer „ Intelligenz “ (Laplace 1932, S. 4). 996 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft verbreitete Meinung. Diese Meinung stützt sich nach Sheldrake jedoch nicht auf wissenschaftliche Belege, sondern nur auf die Annahme, dass alles vollständig determiniert durch mathematische Gesetze sei (ebd.) Indessen habe die Entwicklung der Quantenmechanik gezeigt, dass der Indeterminismus in der physischen Welt fest verankert sei. Der Determinismus habe sich als Einbildung entpuppt, die Wissenschaft habe jedoch den Schock dieser Einsicht bestens verkraftet, was zuversichtlich im Hinblick auf einen Abschied von anderen Dogmen stimme: The belief in determinism, strongly held by many nineteenthand early-twentiethcentury scientists, turned out to be a delusion. [. . .] The sciences have not come to an end by abandoning [it]. Likewise, they will survive the loss of the dogmas that still bind them; they will be regenerated by new possibilities. (Ebd., S. 19) Im nächsten Abschnitt erinnert Sheldrake daran, dass die führenden Wissenschaftler „ der ersten Stunde “ (Kepler, Galileo, Descartes, Bacon, Boyle, Newton u. a.) praktizierende Christen waren (ebd., S. 20) und dass der Materialismus und Atheismus erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wissenschaft eroberte (ebd., S. 22). 159 Er stellt fest, dass seit dieser Zeit der Glaube an den Materialismus sehr effizient durch die Medien und das Erziehungssystem verbreitet wurde: Since the nineteenth century, a belief in materialism has indeed been propagated with remarkable success: millions of people have been converted to this ‘ scientific ’ view, even though they know very little about science itself. They are, as it were, devotees of the Church of Science, or of scientism, of which scientists are the priests. (Ebd., S. 26f.) Das erste Hauptkapitel des Buches (ebd., S. 28 - 55) stellt die Frage: „ Ist Natur ein Mechanismus? “ Sheldrake weist darauf hin, dass der Ausgangspunkt der (neuzeitlichen) Wissenschaft der Abschied von der organischen Sicht des Universums und der Übergang zur mechanistischen Auffassung war (ebd., S. 28). Er meint aber, dass es heute unmöglich sei, ein konsequenter Materialist und Vertreter der mechanistischen Sichtweise zu sein (ebd., S. 36). 160 Pflanzen und Tiere verändern sich spontan und nicht durch den Druck der Umgebung (ebd., S. 43). Man hat gehofft, Biologie auf Chemie und letztendlich auf Physik reduzieren zu können, heute aber verfügt die Physik anstatt über einige wenige Elementarteilchen über einen wahren Partikelzoo, und dieser sei weit davon entfernt, die Form einer Orchidee erklären zu können (ebd., S. 46). Umgekehrt spricht Richard Dawkins von „ selbstsüchtigen Genen “ , er stattet somit Gene mit Leben und Intellekt aus, das sei nichts anderes als eine Art molekularer Vitalismus (ebd., S. 47). Man spricht heute 159 Wir haben uns bereits ausführlich mit dieser Entwicklung im Kapitel „ Einzug des Materialismus in die Wissenschaft “ beschäftigt. 160 Vgl. dazu ausführlich den Exkurs „ Können Proteine die Leistungen erbringen, die ihnen zugeschrieben werden “ , für die ursprünglich Fassung vgl. Majorek 2008. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 997 gern in Analogie zum Computerprogramm vom „ genetischen Programm “ . Aber jene wurden vom Menschen geschrieben, sie sind intelligent und zielorientiert. Die Rede vom „ genetischen Programm “ ist also nichts anderes als ein weiterer Weg, intelligentes Design in die chemischen Gene einzuschleusen (ebd., S. 48). Sheldrake schließt dieses Kapitel mit der Behauptung, dass die Maschinenmetapher ausgedient habe, das Universum erweise sich vielmehr als ein Organismus. Das Gleiche gelte für Erde, Eichen, Hunde, aber auch uns Menschen (ebd., S. 53). Das zweite Kapitel des Buches (ebd., S. 56 - 83) behandelt das Energieerhaltungsgesetz und stellt gleich zu Beginn fest, dass diese vermeintliche Gesetz von Anfang an kein Gesetz, sondern eine Annahme war (ebd., S. 57). Er weist darauf hin, dass die Urknall-Theorie dem Erhaltungsgesetz radikal widerspreche, denn sie setzt voraus, dass die Gesamtmenge der Energie und Materie des heutigen Universums aus dem Nichts entstanden ist. Sheldrake zitiert in diesem Zusammenhang den amerikanischen Philosophen Terence McKenna (1946 - 2000), der treffend beobachtete: „ What orthodoxy teaches about time is that the universe sprang from utter nothingness in a single moment [. . .]. It ’ s almost as if science said, ‚ Give me one free miracle, and from there the entire thing will proceed with a seamless, causal explanation ’“ (zitiert ebd., S. 65). Sheldrake weist ferner darauf hin, dass heute allgemein angenommen wird, dass etwa 27 % des Universums aus der sog. dunklen Materie bestehen, deren Natur immer noch völlig unverstanden ist, was jegliche definitive Aussagen bezüglich des Erhaltungsgesetzes schwierig, weil empirisch unüberprüfbar macht (ebd., S. 67f.). Das Problem verkompliziert sich weiter, wenn man bedenkt, dass nach heutiger Einschätzung ca. 68 % des Universums aus der sog. dunklen Energie bestehen, deren Natur noch weniger verstanden wird. Wie kann man behaupten, dass die Gesamtmenge der Energie und Materie konstant bleibt, wenn man so wenig über einen so großen Teil des Universums weiß? Es kann schließlich nicht ausgeschlossen werden, dass die Menge der dunklen Energie zu- oder abnimmt (ebd., S. 69). Dann macht Sheldrake darauf aufmerksam, dass der Status des Erhaltungsgesetzes in der Biologie noch unklarer ist. Die ersten Versuche, bei denen die Menge der Energie, die z. B. ein Mensch innerhalb einer gewissen Zeit aufnimmt, mit der Menge der Energie, die er abgibt (an Wärme, Arbeit usw.) verglichen wurde, schienen das Gesetz zu bestätigen. Genauere Untersuchungen in den 1970er-Jahren lieferten weniger eindeutige Resultate (ebd., S. 76f.). Heute sind zudem zahlreiche Fälle von Menschen bekannt, welche monate- oder gar jahrelang praktisch ohne Nahrungsaufnahme lebten. Gewöhnlich werden die Berichte über solche Menschen als Betrug abgetan, Sheldrake rät jedoch, solche Fälle ohne Vorurteile zu untersuchen. Vielleicht könnten wir von solchen Menschen etwas Wichtiges lernen? (ebd., S. 81). Im dritten Kapitel (ebd., S. 84 - 108) geht Sheldrake der Frage nach, ob die Naturgesetze tatsächlich konstant sind. Die meisten Wissenschaftler setzen das als selbstverständlich voraus, es sei aber eindeutig nur eine theoretische 998 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Annahme, nicht eine empirische Beobachtung. Schließlich beobachten wir das Universum mit ausreichender Präzision lediglich seit ca. 200 Jahren, wie könne man aufgrund von solchen eingeschränkten empirischen Proben Urteile über die Ewigkeit fällen (ebd., S. 84)? Macht diese Annahme überdies Sinn, wenn man berücksichtigt, dass sich das Universum in Entwicklung befindet? Ist es nicht plausibler anzunehmen, dass die Naturgesetze sich mit dem Universum entwickeln? (ebd.). Im Weiteren behandelt Sheldrake die Frage der sog. Naturkonstanten und weist darauf hin, dass es sich bei ihnen nur um Annahmen, nicht um empirische Beobachtung handelt. Denn erstens erhalte man bei der Messung der Naturkonstanten immer ein wenig voneinander abweichende Ergebnisse und wähle dann aus der empirischen Vielfalt „ die besten Werte “ aus (ebd., S. 89). Ferner zeigt sich bei der Messung der Gravitationskonstante G wie auch der Lichtgeschwindigkeit c, dass diese scheinbar systematischen Veränderungen unterworfen seien. So wurde der Wert von c 1927 mit 299.796 km/ s festgestellt, zwischen 1928 und 1945 wurden 20 km/ s weniger gemessen und ab den späten 1940er Jahren wurden wiederum höhere Wert eruiert, bis schließlich 1972 die Lichtgeschwindigkeit per Definition fixiert wurde (ebd., S. 92f.). Bei G wurden sogar Veränderungen innerhalb eines Tages festgestellt (ebd., S. 90f.). Sind also die Naturkonstanten wirklich konstant? Dann geht Sheldrake auf die Multiversen- Theorie als eine Antwort auf das Problem des anthropischen Prinzips ein (ebd., S. 94), also auf die Frage, warum in unserem Universum genau die Naturgesetze herrschen, die intelligentes Leben auf der Erde ermöglichen. Eine Lösungsvariante ist es zu postulieren, dass eigentlich nicht ein, sondern sehr viele Universen vorhanden sind und jedes eine eigene zufällige Kombination von Naturgesetzen aufweist. Wir Menschen leben demnach einfach zufälligerweise im „ richtigen “ Universum. Dies ist theoretisch möglich, aber es wurde berechnet, dass die Entstehung des zu uns passenden Universums auf dem Wege derartigen Zufalls die Existenz von insgesamt 10 500 anderen Universen voraussetzt (ebd.). Sheldrake bezeichnet diesen Gedanken als „ ultimate violation of Occam ’ s Razor “ (ebd., S. 12) und fügt hinzu, dass erstens keine empirischen Belege der Existenz dieser fast unendlichen Zahl von Universen gefunden wurden und zweitens das Problem ungelöst bleibt. Wir wissen nämlich nicht, wie die Naturgesetze einem Universum aufgestülpt werden (ebd., S. 95). (Man könnte auch sagen, wir wissen nicht, wie so etwas wie ein Naturgesetz überhaupt zustande kommt. Warum gibt es im Universum Ordnung und nicht nur Chaos? ) Im vierten Kapitel (ebd., S. 109 - 129) widmet sich Shaldrake der Frage, ob Materie wirklich unbewusst ist. Wenn Materie die einzige Wirklichkeit ist, sollte Bewusstsein eigentlich überhaupt nicht existieren, was es aber offensichtlich tut (ebd., S. 109). Sheldrake erblickt in dieser Haltung das Paradox des Geistes, der seine eigene Existenz negiert ( „ mind that denies its own reality “ ). Schließlich befasst sich Sheldrake mit den Konsequenzen der berühmten Experiments von Libet für das Problem des freien Willens. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 999 Sheldrake erinnert daran, dass Libet vom sog. „ free won ’ t “ , dem freien Entschluss, eine Handlung nicht auszuführen, sprach, der auch dann bestehe, wenn diese durch die Aktivierung des Bereitschaftspotentials scheinbar bereits begonnen habe. Libet meinte, dass eine solche Unterbrechung der sich in Entwicklung befindenden (neurobiologisch bereits veranlagten) Handlung ein Resultat der Einwirkung des „ Conscious Mental Field “ (bewusstes mentales Feld, CMF) sein könnte, das aus der Gehirnaktivität resultiere, aber durch diese nicht physisch determiniert sei und sie beeinflussen könne (ebd., S. 124). 161 Dieses Feld hat nach Libet die Fähigkeit, die subjektive Erfahrung nach hinten zu verschieben, was das rätselhafte Phänomen erklärt, dass die subjektive Erfahrung eines Ereignisses (Stimulation der Gehirnrinde) als vor dem Zustandekommen der dieser Erfahrung scheinbar zugrunde liegenden neuronalen Aktivität erlebt wird. Sheldrake schlägt nun vor, dass, wenn ein solches Feld existiere und scheinbar die Fähigkeit habe, die gewöhnliche kausale Richtung von der Vergangenheit in die Zukunft zu durchbrechen und von einem bestimmten Zeitpunkt rückwärts zu wirken, es nicht auszuschließen sei, dass dieses Feld auch die Fähigkeit habe, das Bereitschaftspotential (quasi rückwirkend) zu produzieren (ebd., S. 124). Ein interessanter Gedanke, auf welchen wir später 162 zurückkommen werden. Das nächste Kapitel (ebd., S. 130 - 156) behandelt die Frage, ob die Natur tatsächlich ziellos sei. Die aristotelische Idee der finalen Ursachen wurde bereits im 17. Jahrhundert aufgegeben, schreibt Sheldrake. Seit dieser Zeit lässt die Wissenschaft grundsätzlich nur mechanische Ursachen zu. Dieses Dogma werde jedoch den Tatsachen nicht gerecht, weshalb die Wissenschaft immer wieder neue „ getarnte Zwecke “ erfinde: „ This four-hundred-year-old doctrine is still an article of faith in the creed of science, but it does not fit the facts, therefore scientists keep reinventing ends or goals in disguised forms “ (ebd., S. 131). 163 Welche Fakten meint Sheldrake? Er weist darauf hin, dass sich nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und sogar Pflanzen zumindest zielorientiert zu verhalten scheinen. Vögel bauen Nester, Termiten Hügel und Bienen Waben. Libellenembryos und Plattwürmer können vollständige Organismen hervorbringen, auch wenn sie stark beschädigt (im Falle des Plattwurms sogar zerstückelt) sind. Das Gleiche gilt für Weidenableger, aus denen ein Baum wachsen kann (ebd., S. 133). Selbst einzelne Zellen zeigen erstaunliche regenerative Fähigkeiten. Die einzellige Alge Acetabularia mediterranea kann sich aus einem Teil des Organismus vollständig regenerieren, und das sogar, wenn das genetische Material im Nukleus entfernt wird (ebd., S. 135). Sheldrake erinnert aber auch daran, dass ähnliche Probleme bereits 161 Vgl. Libet 2003. 162 Im Kapitel „ Einige Erklärungen der Geisteswissenschaft “ . 163 Man kann in diesem Zusammenhang z. B. an Dawkins „ selbstsüchtige Gene “ erinnern, eine Vorstellung, die offensichtlich einen „ Handlungszweck “ voraussetzt (ebd., S. 131). 1000 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft auf der Ebene der Proteinfaltung zum Vorschein kommen. Es gilt die Auffassung, dass die tertiäre Form der Proteine energetisch am günstigsten ist. Das energetische Minimum könnte aber in mehreren Zustände erreicht werden, und es ist auch nicht klar, warum das Molekül so schnell den „ idealen “ Zustand erreicht. In Anbetracht der Komplexität der Proteinmoleküle würde das nur zufällige „ Ausprobieren “ aller möglichen Konformationen 10 26 Jahre in Anspruch nehmen. In Wirklichkeit dauert dieser Prozess nur ca. zwei Minuten (ebd., S. 144). 164 Sheldrake weist im Weiteren darauf hin, dass allgemein die reduktionistische Erklärungsstrategie der materialistischen Wissenschaft nicht zielführend sei. Es sei einfach, das Ganze in Stücke zu zerteilen, unvergleichbar schwieriger aber, aus diesen Stücken das Ganze wieder aufzubauen. Man könne die Architektur eines Hauses nicht aus der chemischen Analyse seiner Trümmerteilen rekonstruieren, das Vermögen der Tauben, den heimischen Schlag wiederzufinden, lasse sich nicht auf die Moleküle ihres Körpers zurückführen, die Gene erlauben uns nicht, die Struktur der Organismen vorherzusagen (ebd., S. 146). Wir leben in einem unvorstellbar großen Universum, dessen Kerneigenschaften Fruchtbarkeit, Vielfalt und Kreativität sind, schreibt Sheldrake weiter. Keine von diesen Eigenschaften war beim Urknall vorhanden. Er schließt daraus, dass die materialistische Erklärung des Wunders des Universums in der Begrifflichkeit der Energie, Naturgesetze und des Zufalls nichts anderes als Vertrauensbeweis ( „ act of faith “ ) sei (ebd., S. 151). Das sechste Kapitel (ebd., S. 157 - 186) ist der Frage gewidmet, ob die ganze biologische Vererbung materiellen Charakter hat. In diesem Kapitel diskutiert Sheldrake mehrere Tatsachen und Argumente, welche ich bereits im Exkurs „ Können Gene die Morphogenese erklären? “ behandelt habe. Ich finde es dennoch relevant, zumindest kursorisch auf seine Ausführungen einzugehen. Sheldrake weist in diesem Kapitel zunächst darauf hin, dass heute mindestens zwei Formen der nichtgenetischen Vererbung bekannt sind, und zwar die sog. zytoplasmatische und die epigenetische Vererbung, die besonders seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts an Bedeutung gewonnen hat (ebd., S. 158), und er erinnert daran, dass nichtmaterialistische Vorstellungen der Vererbung in der Antike weit verbreitet waren (Platons Ideen, die aristotelischen Formen) (ebd., S. 158f.). Vom 17. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war die Biologie in zwei Lager gespalten: Mechanisten und Vitalisten, schreibt Sheldrake weiter. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts ist der Vitalismus verschwunden und an seine Stelle ist die Vorstellung getreten, 164 Vgl. in diesem Zusammenhang den vor kurzem in Nature erschienenen Artikel von Rouskin et al., die feststellen, dass der Endzustand wenn nicht der Proteine, dann zumindest der RNS nicht zwingend dem energetischen Minimum entspricht. Rouskin et al. schreiben: „ Our studies broadly enable the functional analysis of physiological RNA structures and reveal that, in contrast to the Anfinsen view of protein folding whereby the structure formed is the most thermodynamically favourable, thermodynamics have an incomplete role in determining mRNA structure in vivo “ (Rouskin et al. 2014, S. 701). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 1001 die Vererbung könne auf die Gene reduziert werden (ebd., S. 162). Es gebe aber eine tiefe Kluft zwischen der Rhetorik über die Macht der Gene und dem, was sie tatsächlich imstande sind zu leisten. Einer der Vorläufer der modernen Genetik, August Weismann (1834 - 1914) hat das Keimplasma, dessen Existenz er postulierte, mit den Eigenschaften der Seele ausgestattet. „ Genetische Programme “ und „ selbstsüchtige Gene “ seien in ähnlicher Weise mit vitalen Kräften, d. h. Fähigkeiten, die Materie umzuformen und Formen zu schöpfen, ausgestattet (ebd., S. 163). Dawkins ’ Metaphern seien höchst irreführend, ihre ganze Kraft stütze sich auf anthropomorphen Vorstellungen. Dawkins sei ein Vitalist in molekularem Gewand ( „ vitalist in molecular clothing “ ) (ebd., S. 164). Eine zusätzliche Schwierigkeit für den genetischen Reduktionismus habe sich aus den Ergebnissen des Human Genome Project ergeben. Wir mussten konstatieren, dass wir Menschen überraschend wenige Gene haben, nicht viel mehr als ein Wurm. Es ist deshalb genetisch unerklärlich, warum wir uns so deutlich von den Affen unterscheiden (ebd., S. 167). Die Rolle der Gene relativierte sich auch durch die Anerkennung der Existenz der epigenetischen Vererbung (ebd., S. 172). Mit ihr wurde Lamarcks Idee der Vererbung erworbener Eigenschaften wieder salonfähig (ebd., S. 175). Aber auch die epigenetische Vererbung bilde noch keine eigentliche Herausforderung für die Idee, dass die Vererbung insgesamt materiell verankert sei. Epigenetische Merkmale beeinflussen Gene und Proteine, aber diese können weder die Morphogenese noch instinktives Verhalten erklären, stellt Sheldrake fest. Zusammenfassend schreibt Sheldrake, dass die Gene erstens nicht selbstsüchtig seien, weil sie bei der Entstehung der Organismen zusammenarbeiten, und dass sie zweitens höchstens ein Teil der Vererbung erklären, denn die Pflanzen und Tiere seien mit ihren Vorfahren in erster Linie nicht durch die Gene, sondern durch die morphischen Felder verbunden (ebd., S. 185; vgl. dazu oben). Die verbleibenden vier Hauptkapitel - 7. Are Memories Stored as Material Traces? (ebd., S. 187 - 211); 8. Are Minds Confined to Brains? (ebd., S. 212 - 230); 9. Are Psychic Phenomena Illusory? (ebd., S. 231 - 259); und 10. Is Mechanistic Medicine the Only Kind that Really Works? (ebd., S. 260 - 290) - scheinen mir für das Verständnis von Sheldrakes Anliegen weniger bedeutend zu sein. Wie vorherzusehen, beantwortet er alle vier Fragen mit „ Nein “ und zitiert viele empirische Forschungsergebnisse, die seine Behauptungen stützen (u. a. nennt er Fälle von Menschen, die völlig normal mit nur rudimentären Gehirn funktionieren, vgl. dazu den Exkurs „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ ) (ebd., S. 193f.), wie auch zahlreiche paranormale Phänomene, welche wir bereits anhand der Bücher von Myers (The Human Personality), Tart (Altered States of Consciousness und The End of Materialism), Moody (Life after Life), Fenwick und Fenwick (The Art of Dying) usw. ausführlich behandelt haben. Das Buch schließt mit zwei Kapiteln, die stärker theoretischen Charakter haben. Kapitel 11: „ Illusions of Objectivity “ (ebd., S. 291 - 317) ist eine Kritik 1002 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft der Wissenschaft im Geiste des Programms der Social Studies of Science; 165 es beinhaltet auch einen Abschnitt, der dem Problem des wissenschaftlichen Betrugs gewidmet ist (ebd., S. 309 - 312) 166 . Das abschließende Kapitel 12: „ Scientific Futures “ (ebd., S. 318 - 342) stellt eine Wissenschaft in Aussicht, welche die heutigen wissenschaftlichen Dogmen überwunden hat und sich durch Pluralität der Meinungen und Einbezug der Einsichten nichtwestlicher Kulturen und die religiöser Überzeugungen auszeichnet. Die Wissenschaften der Gegenwart sei in eine neue Phase ihrer Entwicklung eingetreten: The sciences are entering a new phase. The materialist ideology that has ruled them since the nineteenth century is out of date. All ten of its essential doctrines have been superseded. The authoritarian structure of the sciences, the illusions of objectivity and the fantasies of omniscience have all outlived their usefulness. (Ebd., S. 318) Die Rede von Wissenschaften ist kein Zufall. Sheldrake ist überzeugt, dass die Zeit der mechanistischen Wissenschaft mit einer reduktionistischen Methodologie abgelaufen sei. Die zunehmende Komplexität der erforschten Phänomen erfordere eine Pluralität von Disziplinen und eine Pluralität je besonderer Methoden, experimentelle Überprüfung ebenso wie mathematische Demonstration. In fast allen Bereichen des sozialen Lebens gebe es nicht einen, sondern mehrere Gesichtspunkte: mehrere Sprachen, Kulturen, Religionen, politische Parteien, Lebensentwürfe usw. Nur in der Wissenschaft sei es anders: Only in the realm of science can we still find the old ethos of monopoly, universality and absolute authority that used to be claimed by the Roman Catholic Church. [. . .] At the Reformation [. . .] the Roman Catholic Church lost its monopoly; now many other churches and ideologies coexist with it, including atheism. But there is still only one universal science. (Ebd., S. 326) Den Grund für den absolutistischen Anspruch der Wissenschaft erblickt Sheldrake darin, dass sich die Wissenschaftler als objektive Beobachter verstehen. In dieser ausgezeichneten Position seien allein sie in der Lage, die platonische Höhle zu verlassen und unanfechtbare Fakten zu liefern (ebd., S. 327; vgl. ebd., S. 295 - 297). Dieses autoritäre Gebaren seitens der etablierten Wissenschaft sei besonders in ihrer Haltung gegenüber den paranormalen Phänomenen und der alternativen Medizin ausgeprägt (ebd., S. 327). Sheldrake vermutet, dass das Streben der Wissenschaft nach absoluter Wahrheit und absoluter Autorität ein Überbleibsel aus der Epoche des Absolutismus sei, in welcher die Wissenschaft geboren wurde: „ Much of the hypocrisy of science comes from assuming the mantle of absolute truth, which is a relic of the ethos of absolute religious & political power when mechanistic science 165 Vgl. oben, Abschnitt „ Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung “ . 166 Vgl. oben, Abschnitt „ Image Probleme der Naturwissenschaft: Betrug, Mangel and Reproduzierbarkeit, unterdrückte Daten “ . 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 1003 was born “ (ebd., S. 328). Selbstverständlich gebe es unterschiedliche Meinungen auch innerhalb der Wissenschaft und die Wissenschaft verändere und entwickele sich kontinuierlich, aber das Monopol auf die Wahrheit bleibe ihr Ideal, abweichende Stimmen werden als häretisch behandelt, faire öffentlichen Debatten seien der Wissenschaft fremd (ebd.). Sheldrake plädiert deshalb für den Rückkehr zu den ursprünglichen aufklärerischen Idealen und Werten: In the Enlightenment ideal, science was a path to knowledge that would transform humanity for the better. Science and reason were in the vanguard. These were, and still are, wonderful ideals, and they have inspired scientists for generations. They inspire me. I am all in favour of science and reason if they are scientific and reasonable. But I am against granting scientists and the materialist worldview an exemption from critical thinking and sceptical investigation. We need an enlightenment of the Enlightenment. (Ebd., S. 328) Sheldrake schlägt vor, öffentliche Debatten über Themen wie „ Kann das Leben in der Begrifflichkeit der Physik erklärt werden “ oder „ Ist Wissenschaft objektiv? “ oder auch über die Gegenstände seines Buches zu führen (ebd., S. 328f.). Solche Debatten würden das Ansehen der Wissenschaft in der Öffentlichkeit verbessern. Dieses sei gegenwärtig tatsächlich stark angeschlagen. Sheldrake weist in diesem Zusammenhang auf eine im Jahre 2000 durchgeführte Befragung hin, die zutage gebracht habe, dass die meisten Befragten Wissenschaft für ein vom Business getrieben hielten ( „ at the end of the day it ’ s all about money “ , ebd., S. 330). 167 Schätzungsweise 7 Millionen Wissenschaftler in der Welt produzieren 1,58 Millionen Publikationen pro Jahr (ebd., S. 341). Sheldrake schlägt deshalb vor, dass ein kleiner Teil der riesigen Ressourcen der Erforschung den neuen Fragen gewidmet werde, denn der Irrglaube, dass die Wissenschaft bereits alle fundamentale Fragen beantwortet habe, ersticke den Forschergeist (ebd.). Einen wesentlichen Schwachpunkt der Wissenschaft sieht Sheldrake in der Behandlung der „ subjektiven “ Aspekte der Wirklichkeit: des Dufts einer Rose oder des Sounds einer Band. Hier könne die Wissenschaft von anderen Kulturen lernen. In Jäger-und-Sammler-Gesellschaften gebe es Spezialisten für die Kommunikation mit Pflanzen und Tieren, welche imstande seien, mit ihnen zu in Verbindung zu treten und nützliche Informationen von ihnen zu erhalten. Gewöhnlicherweise werde solches Wissen als „ Schamanismus “ abgetan und als Irrtum oder Zufall abgelehnt. Diese Haltung sei aber nichts 167 Es handelt sich tatsächlich um sehr viel Geld. Laut Wikipedia gaben allein die „ Top- Ten “ -Länder der Welt (in der Reihenfolge der Höhe der Ausgaben: USA, China, Japan, Deutschland, Südkorea, Frankreich, Großbritannien, Indien, Kanada und Russland) 2010 insgesamt 1150 Milliarden $ für Forschung und Entwicklung aus. http: / / en. wikipedia.org/ wiki/ List_of_countries_by_research_and_development_spending (heruntergeladen am 17. 11. 2014). 1004 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft anderes als Arroganz gegenüber den vorwissenschaftlichen Kulturen (ebd., S. 337): The materialist agenda was once liberating but is now depressing. Those who believe in it are alienated from their own experience; they are cut off from all religious traditions; and they are prone to suffer from a sense of disconnection and isolation. Meanwhile the power unleashed by scientific knowledge is causing the mass extinction of other species, and endangering our own. The realisation that the sciences do not know the fundamental answers leads to humility rather than arrogance, and openness rather than dogmatism. (Ebd., S. 341f.) Sheldrake fordert daher die Öffnung der Wissenschaft für die Erfahrungen anderer Kulturen, und er plädiert für einen Dialog mit den gesellschaftlichen Kräften, insbesondere mit der Religion. Er äußert die Überzeugung, dass wir nach einer langen Zeit erbitterter Konflikte und gegenseitigen Misstrauens in eine Ära eintreten, in welcher Wissenschaft und Religion imstande sein werden, sich durch gemeinsame Forschungen gegenseitig zu bereichern (ebd., S. 340). Die Kernbotschaft Sheldrakes gibt m. E. am besten eine Formulierung wieder, die er an den Anfang seines Buches stellt: Materialism provided a seemingly simple, straightforward worldview in the late nineteenth century, but twenty-first-century science has left it behind. Its promises have not been fulfilled, and its promissory notes 168 have been devalued by hyperinflation. I am convinced that the sciences are being held back by assumptions that have hardened into dogmas, maintained by powerful taboos. These beliefs protect the citadel of established science, but act as barriers against open-minded thinking. (Ebd., S. 12) Im Sinne Sheldrakes sei hinzugefügt: Diese Überzeugungen, dieser Irrglaube sollte im Interesse der freien Forschung aufgegeben werden. Würdigung Es ist dem Leser sicherlich nicht entgangen, dass Sheldrake in seinem Werk viele Anliegen und Urteile formuliert, die auch dem Autor dieser Schrift sehr am Herzen liegen. Dementsprechend bereitete mir das Erscheinen des Buches große Freude. Denn zweifelsohne bildet es eine wesentliche Unterstützung für das vorliegende Werk. Wichtiger als meine persönliche Einschätzung sind aber die Reaktionen des breiten Publikums, und diese waren - wenn man die Stimmen der Autoren der Buchbesprechungen von Sheldrakes Werk als Gradmesser betrachten darf - positiv. So schrieb z. B. Crispin Tickell, Fellow der Oxford Martin School, deren Mission es ist, „ to foster innovative thinking, 168 Anspielung auf Poppers berühmte Formulierung „ promissory materialism “ (Popper und Eccles 1977, S. 96). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 1005 interdisciplinary scholarship and collaborative activity to address the most pressing risks and realize new opportunities of the 21st century “ , in der Financial Times: Whether or not the theory of morphic resonance can provide a framework for answers, Sheldrake raises questions that are useful in themselves. The hostility with which his ideas have been received in some quarters may itself be a recommendation. Whatever else, he cannot be dismissed as a nutcase. Certainly we need to accept the limitations of much current dogma and keep our minds as open as we reasonably can. Sheldrake may help us to do so through this well-written, challenging and always interesting book. (Tickell 2012) Und Mary Midgley, eine bekannte englische Moralphilosophin, die bis zu ihrer Pensionierung Philosophie an der Newcastle University lehrte, meinte im Guardian: The unlucky fact that our current form of mechanistic materialism rests on muddled, outdated notions of matter isn ’ t often mentioned today. It ’ s a mess that can be ignored for everyday scientific purposes, but for our wider thinking it is getting very destructive. We can ’ t approach important mind-body topics such as consciousness or the origins of life while we still treat matter in 17th-century style as if it were dead, inert stuff, incapable of producing life. And we certainly can ’ t go on pretending to believe that our own experience - the source of all our thought - is just an illusion, which it would have to be if that dead, alien stuff were indeed the only reality. (Midgley 2012) Der bekannte englische Wissenschaftsjournalist Colin Tudge betonte in The Independent Sheldrakes fachliche Kompetenz und begrüßt seine Hinterfragung der Fundamente der heutigen Wissenschaft: If Rupert Sheldrake was simply a commentator, sniping from a distance, his arguments might be swept aside. But he is a scientist himself, through and through: a botanist with a double first from Cambridge; a Fellowship at Clare College; a Royal Society Fellowship. For some years he was principal physiologist at the International Crops Research Institute for the Semi-Arid Tropics (ICRISAT) in Hyderabad, India, where he helped to develop new varieties of pulses, key sources of protein. He could, if he had stayed on track, been professor of this and director of that, on every high-flown committee. But he went from ICRISAT to an ashram, and instead began to take a bird ’ s-eye view. He is a loss to research and particularly to agriculture, but we should be grateful nonetheless for his change of course. Other philosophers, like Bruno Latour, challenge the overall stance of science. Many bold scientists prod away at the premises of their own discipline. Very few are equipped to do as Sheldrake does, and examine the deep roots in detail. But as the world plunges into crisis and science - at least of particular kinds! - grows in influence and expense, such examination has become a matter of urgency. (Tudge 2012) 1006 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Die Beispiele könnten fortgesetzt werden. Sie entsprechen der wissenschaftskritischen Haltung, die in einer von Sheldrake erwähnten Meinungsumfrage in Großbritannien zum Ausdruck kam: Viele Menschen sind besorgt über den Zustand der Wissenschaft und die Richtung, die sie verfolgt. Dies ist an sich nichts Neues. Bereits nach dem Ersten Weltkriege wurden Stimmen laut, die vor den Abgründen der Wissenschaft warnten. Denn der Krieg mit seinen chemischen Waffen, Maschinengewehren und Panzern hatte überdeutlich gezeigt, dass Wissenschaft nicht nur rettet, sondern auch tötet. Die Stimmung nach dem zweiten Weltkrieg war dagegen eine ganz andere: Man war fortschritts- und wissenschaftsgläubig. Spätestens als auch Russland die Atombombe besaß, wurde dann klar, dass diese höchst wissenschaftliche Waffe eine akute Bedrohung der Menschheit darstellt, was 1955 im Russell- Einstein-Manifest auch deutlich zum Ausdruck gebracht wurde. 1958 kamen in Deutschland erste missgebildete Kinder zur Welt, deren Mütter das hochgepriesene und auf Nebenwirkungen negativ getestete Schlafmittel Contergan benutzten. 1962 wurde in Amerika Rachel Carsons Buch Silent Spring veröffentlicht, das darauf aufmerksam machte, dass das gefeierte und als unbedenklich verkaufte DDT eine akute Bedrohung für das Ökosystem bedeutet. In den 70er Jahren wurde die Umweltverschmutzung unübersehbar, man erkannte den Artenschwund und in den 80er Jahre dann das Problem der Klimaerwärmung. Diese Probleme wurden sicherlich nicht von der Wissenschaft verursacht, doch hatte die durch die Wissenschaft forcierte Technik dazu wesentlich beigetragen. Am 26. April 1986 kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zum GAU, dessen Folgen nicht nur in der Ukraine, sondern praktisch in ganz Europa spürbar wurden. Spätestens mit der Katastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima im März 2011 musste die Welt endgültig realisieren, dass die moderne Technik Risiken beinhalten, die eben nicht nur nicht die „ Russen “ , sondern auch sie selbst nicht im Griff hat. Viele Missstände im Wissenschaftsbetrieb sind auf die Professionalisierung und damit Kommerzialisierung der Forschung im 19. Jahrhundert zurückzuführen. Die Wissenschaft, die bis dahin das Privatvergnügen einiger weniger begüterter Personen war, wurde allmählich zum recht gut bezahlten und prestigeträchtigen Beruf, in dem wie anderswo auch nach den bekannten Spielregeln Karriere gemacht werden konnte. Mit der zunehmenden wirtschaftlichen Verwertung des Wissens entstand ein Druck zu immer größerer Wissensproduktion in immer kürzerer Zeit, und dieser erzeugt selbstverständlich Anpassung und Regelkonformität. Widerstand bedeutet das Ende der Karriere. Dies macht vermutlich verständlich, wie wir gesehen haben, dass etwa 50 % der Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten „ an Gott oder eine höhere Gewalt “ glaubt, aber kaum 50 % der wissenschaftlichen Publikationen auf solche „ Variablen “ zurückgreift - die Zahl liegt eher bei 0 %. Beunruhigend ist überdies die unverbesserliche Naivität vieler Wissenschaftler. Sheldrake schildert, wie in den 60er-Jahren Francis Crick, der 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 1007 Mitentdecker der DNS, und Sydney Brenner, ein südafrikanischer Biologe, der 2002 den Nobelpreis in Physiologie und Medizin erhielt, in privaten Gesprächen behaupteten, dass es nur noch zwei große ungelöste Probleme der Biologie gebe, Morphogenese und Bewusstsein, die aber binnen 10 bis 20 Jahren gelöst würden. Fünfzig Jahre später sind die Probleme bekanntlich immer noch ungelöst (ebd., S. 9). Als am 26. Juni 2000 Bill Clinton und Tony Blair bekannt gaben, dass das Human Genome Project abgeschlossen sei, glaubte man, diese Errungenschaft werde eine neue Ära in der Vorbeugung, Diagnose, Behandlung und Heilung von Krankheiten einläuten. 169 Vierzehn Jahre später sind wir nicht besonders viel weiter. Heute hofft man dank der „ big data “ auf neue Durchbrüche. 170 Ich habe im Kapitel „ Empirische Probleme der Wissenschaft “ zu zeigen versucht, dass es in der Wissenschaft trotz der unbestrittenen Fortschritte und wöchentlich neuer und wesentlicher Errungenschaften immer noch vor offenen Fragen wimmelt. Was gaukelt den Wissenschaftlern immer wieder vor, dass sie schon fast alles verstanden haben, wenn doch die Natur mit jeder neu gewonnenen Erkenntnis nur noch komplexer und rätselhafter erscheint? Woher kommt der Drang, die Komplexität auf das Einfache (Einfachste) reduzieren? Die Antwort auf diese Fragen gab wohl schon Descartes: weil unser Verstand so funktioniert, dass er nur das Einfache vollständig begreift und das Komplexe erst dann, wenn es auf das Einfache reduziert wird. Muss sich aber die Natur an die Gesetzmäßigkeiten unseres Verstandes halten? Oder müsste man nicht viel mehr andere Wege des Verständnisses der Natur suchen, um ihr in ihrer Eigenart näherzukommen? Sheldrakes Kritik zielt, wie wir gesehen haben, gegen den Materialismus in der Wissenschaft. Es ist nicht schwierig, den Zusammenhang zwischen der materialistischen Ideologie und der Hybris der Wissenschaft zu erkennen. Denn dadurch, dass der Materialismus die geistige Welt mit ihrer Wesenheiten (inklusive Gott) abschafft, wird die Annahme unausweichlich, dass der (heutige) menschliche Verstand die höchste Erkenntniskraft besitzt. Bevor der Materialismus seinen Siegeszug in der Wissenschaft (und in der Gesellschaft) feierte, lebten die Menschen Jahrtausende lang in der Überzeugung, dass über ihnen andersartige, dem Auge unsichtbare und ihnen überlegene Wesen stehen. Gibt man den Materialismus auf, so ändert sich dieses Bild radikal: Existieren Wesen, die höher als der Mensch stehen, erscheint es natürlich zu akzeptieren, dass auch höhere als menschliche Erkenntniskräfte möglich sind. Daraus resultiert eine Art intellektuelle Bescheidenheit, die einsieht, dass unsere heutigen Erkenntnismöglichkeiten begrenzt sind. Mit 169 http: / / web.ornl.gov/ sci/ techresources/ Human_Genome/ project/ clinton1.shtml (heruntergeladen am 20. 3. 2014). 170 Vgl. dazu z. B. die Sendung des Schweizer Radios SRF 2 vom 15. 3. 2014 (http: / / www.srf. ch/ player/ radio/ wissenschaftsmagazin/ audio/ riesenfaultiere, heruntergeladen am 20. 3. 2014) 1008 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft ihr erwacht aber auch die Hoffnung, dass sie in der Zukunft gesteigert werden können. So betrachtet erweist sich der Materialismus, der dem Menschen vorgaukelt, dass er bereits heute oder spätestens in allernächster Zukunft alle Rätsel des Universums werde lösen können, als ein Stolperstein auf dem Weg zu wahrer Erkenntnis. Wir haben bereits mehrmals festgestellt, dass der Materialismus kein Ergebnis wissenschaftlicher Forschung, sondern ein unbegründetes Dogma ist. Er darf und muss aufgegeben werden. Fazit Wir haben in diesem Kapitel mehr als vierzig Werke von über vierzig Autoren mehr oder weniger ausführlich betrachtet. Zahlreiche andere, die ebenfalls eine Besprechung wert gewesen wären, konnte ich in dieser Überschau nicht berücksichtigen. Einige Publikationen möchte ich aber wenigstens nennen (in chronologischer Reihenfolge des Erscheinungsdatums): Beyond Death: Evidence for Life after Death (Almeder 1987) von Robert Almeder, Vorsitzender der Charles S. Pierce Society und Präsident der Georgia Philosophical Association; Sources of the Self. The Making of the Modern Identity (Taylor 1989) von Charles Taylors, einem der bedeutendsten kanadischen Philosophen der Gegenwart; The Mysterious Flame. Conscious Minds in a Material World (McGinn 1999) von Colin McGinn, der sich vor allem mit der Philosophie des Geistes beschäftigt; Jenseits des Materialismus (Kutschera von 2003) von Franz von Kutschera, einem der Doyens der deutschen Philosophie; The Myth We Live By (Midgley 2004), der oben bereits erwähnten Moralphilosophin Mary Midgley; Der letzte Gottesbeweis (Spaemann 2007) von Robert Spaemann, einem der bekanntesten deutschen Philosophen der Gegenwart; The Waning of Materialism (Koons und Bealer [Hrsg.] 2010), in dem 23 Gegenwartsphilosophen die materialistische Doktrin untersuchen und sie als unbefriedigend zurückweisen 171 ; sowie Mind and Cosmos. Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature Is Almost Certainly False (Nagel 2012), von Thomas Nagel, einem der einflussreichsten amerikanischen Philosophen der Gegenwart. Ich möchte zum Abschluss dieses Kapitels auf drei Punkte aufmerksam machen. Erstens ist es auffallend, welche Popularität Bücher wie Moodys Life after Life oder Alexanders Proof of Heavengenießen. Diese Popularität scheint mir davon zu zeugen, dass sehr viele Menschen ein tiefes Bedürfnis, ja Sehnsucht nach Kontakt mit der „ anderen Welt “ haben. Es scheint mir offensichtlich, dass für sehr viele unserer Zeitgenossen das trostlose Bild einer Welt, die vom Zufall regiert wird und keinen Sinn hat, 172 wie es die 171 Auf dem Umschlag des Buches heißt es: „ Twenty-three philosophers examine the doctrine of materialism and find it wanting. “ 172 Um an die bereits früher zitierten Worte von Steven Weinbert zu erinnern: „ The more the universe seems comprehensible, the more it also seems pointless “ (Weinberg 1977, S. 154). 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 1009 moderne Wissenschaft entwirft, unbefriedigend ist. Sie sehnen sich nach mehr. Zweitens ist gemessen an dieser Sehnsucht auffällig, wie wenig Werke der Art, wie wir sie in dem vorliegenden Kapitel betrachtet haben, in den Massenmedien und vor allem in den (natur-)wissenschaftlichen Zeitschriften präsent sind. Veröffentlichungen wie die von Moody, Alexander oder Sheldrake sind sicherlich nicht ganz unbemerkt geblieben. Manchmal werden Autoren sogar im Fernsehen interviewt. Und dennoch: Betrachtet man die Welt durch die Brille der Tagespresse und anderer tagesaktueller Medien und vor allem durch die der (natur-)wissenschaftlichen Fachzeitschriften, so wird man nicht fündig. Ja, man gewinnt den Eindruck, dass sie, weil unliebsam, bewusst gemieden werden. Und drittens scheint mir angesichts der Beweislast der in diesem Kapitel vorgebrachten, vor allem empirischen Argumente gegen den Materialismus die Behauptung gerechtfertigt, dass die sichtbare, materielle Welt die Wirklichkeit nicht ausschöpft, sondern dass es darüber hinaus eine unsichtbare, nichtmaterielle, geistige Welt gibt, die sich in zahlreichen Phänomenen in der sichtbaren Welt offenbart und ihre Wirksamkeit in dieser Welt manifestiert. Diese Annahme hat selbstverständlich weitestgehende Konsequenzen für unser Weltbild und für die Wissenschaft. Denn sie impliziert, dass die heutige Wissenschaft radikal unvollständig sein könnte. Möglicherweise hat sich die Wissenschaft bis jetzt nur mit der sprichwörtlichen Spitze des Eisbergs statt mit diesem selbst beschäftigt. So vermutet man, dass das sichtbare Universum nur 5 % des ganzen Universums einschließlich der dunklen Energie und dunklen Materie ausmacht. Unter der weiteren Annahme, dass diese übersinnliche Wirklichkeit nicht nur, wie von den Deisten vermutet, die Entwicklung der materiellen Welt in Gang gesetzt hat, um sich danach nicht mehr in sie „ einzumischen “ , sondern dass sie (nach Art von Sheldrakes morphogenetischen Feldern oder van Lommels unendlichem Bewusstsein) beständig in ihr wirksam ist, kann die Erklärung der Phänomene der sinnlich wahrnehmbaren Welt ohne Einbezug der übersinnlichen Welt nicht vollständig sein. Der Anteil der Weltwirksamkeiten, die wir bis jetzt kennengelernt und erforscht haben, an der Gesamtheit der Weltwirksamkeiten dürfte nur etwa 5 % betragen. Wenn man aber bereit ist, nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch die Wirksamkeit der geistigen Welt zuzugeben, dann ergibt sich eine weitere Frage: Ist diese geistige Welt überhaupt erforschbar und erkennbar? Wir mussten mehrmals im Laufe dieses Kapitels erkennen, dass die uns verfügbaren Mittel unzulänglich sind, um einen Blick in die Welt „ hinter dem Schleier der Sinne “ zu erhalten. Die Berichte von Medien, die Visionen Sterbender wie auch die Erzählungen von Nahtoderfahrungen ergeben kaum ein einheitliches Bild des „ Jenseits “ , ja, sie erscheinen oft widersprüchlich. Sie können uns daher zwar die Zuversicht geben, dass eine solche Welt existiert, sie stellen aber noch keine verlässliche Erkenntnis dieser Welt dar. 1010 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft Besteht die Hoffnung, dass eine solche Erkenntnis erworben werden kann, oder muss man sich damit abfinden, dass die geistige Welt für uns immer jenseits bleiben wird? Sind wir also zum Glauben „ verdammt “ ? Mit diesen für die Zukunft der Wissenschaft zentralen Fragen werden wir uns insbesondere im Kapitel „ Übersinnliche Erkenntnismethoden der Imagination, Inspiration und Intuition und die Frage nach der Objektivität ihrer Erkenntnisresultate “ beschäftigen. 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft 1011 9 Neue Sicht der alten Geschichte: die alten Mysterien als ein Suchen nach dem Verkehr mit der geistigen Welt Rupert Sheldrakes zehn Dogmen der modernen Wissenschaft ist m. E. mindestens ein weiteres hinzuzufügen, nämlich die heute allgemeine und unhinterfragte Annahme, dass die Evolution des Menschen von Adam, Lucy bzw. AL 288 - 1 (Australopithecus afarensis) oder wer auch immer der erste Mensch war, über den Neandertaler bis zum heutigen Menschen immer nur in eine Richtung führte, und zwar aufwärts. Der Astronom Martin Lord Rees schrieb dagegen vor kurzem, dass wir uns von unseren entferntesten Vorfahren nicht wesentlich unterscheiden: We humans haven ’ t changed much since our remote ancestors roamed the African savannah. Our brains evolved to cope with the human-scale environment. So it is surely remarkable that we can make sense of phenomena that confound everyday intuition: in particular, the minuscule atoms we ’ re made of, and the vast cosmos that surrounds us. (Rees 2012) Er meint, dass unsere allgemeinen kognitiven Fähigkeiten (insbesondere unsere Sinnesorgane und auch unsere emotionale Empfindlichkeit) konstant geblieben sind, wenn auch die Intelligenz, die Denkfähigkeit doch markant gestiegen ist, so dass wir heute auf dem Mars landen können, während unsere afrikanischen Vorfahren mit Speer und Feuersteinklingen ausgestattet durch die Savanne streiften. Wir Menschen sind also in mancher Hinsicht immer besser geworden. Dieser Schluss ergibt sich aus der Grundannahme der allgemeinen Evolutionslehre: Nur der am besten Angepasste überlebt. Die natürliche Selektion sorgt dafür, dass die ganze natürliche Evolution der Gattungen einen eindeutigen Tendenz aufweist, die Evolution des Menschen selbstverständlich ebenfalls. Mir scheint jedoch, dass wir, sobald wir uns von den materialistischen Annahmen verabschieden, imstande sein werden, einige längst bekannte Fakten und Phänomene mit anderen Augen zu betrachten, die sich bis jetzt einer wissenschaftlichen Erklärung entzogen haben und darauf hinweisen, dass die Menschen der Vorzeit in gewisser Hinsicht über höhere kognitive Fähigkeiten verfügten als wir heute. Platon lässt in seinem Timaios einen namentlich nicht genannten ägyptischen Gelehrten gegenüber Solon (ca. 640 - ca. 560 v. Chr.), der immerhin zu den sieben Weisen Griechenlands zählte, das Wissen der Vorfahren rühmen: Ach, Solon, Solon! Ihr Hellenen bleibt doch immer Kinder, zum Greise aber bringt es kein Hellene. [. . .] Jung in den Seelen [. . .] seid ihr alle: denn ihr hegt in ihnen keine alte, auf altertümliche Erzählung gegründete Meinung noch ein durch die Zeit ergrautes Wissen. (Timaios 22 b, in Platon 1994 d, S. 21). Herodot berichtet in seinen Historien, die Ägypter behaupteten, ihre Lehrer seien zunächst Götter, erst dann Menschen gewesen (Herodot 2004, S. 167). Der biblische Prophet Bilean sagte von sich, dass er über höhere Erkenntnisfähigkeiten ( „ geöffnete Auge “ ) verfügte, welche ihm Einblick in das Göttliche ermöglichen: Es spricht Bilean, der Sohn Beors, und es spricht der Mann mit geöffnetem Auge. Es spricht, der die Worte Gottes hört, der die Erkenntnis des Höchsten besitzt, der ein Gesicht des Allmächtigen sieht, der da liegt mit enthüllten Augen [. . .]. (4. Mose 24,15-16) Auch das frühmittelalterliche altsächsische Epos Heliand erzählt davon, dass die drei Könige, welche das neugeborene Kind Jesus besuchten, Vorfahren hatten, die unendlich viel weiser waren als sie Ein Wissender darunter, Erfahren und weise, war in früher Zeit Unser Ahn im Osten; kein andrer seitdem War der Sprachen so kundig: er kannte Gottes Wort, Denn verliehen hatt ihm der Leute Herr, Dass er von der Erde aufwärts vernahm Des Waltenden Wort: drum war das Wissen groß In des Degens Gedanken. (Heliand, Kapitel 11) 173 Die Beispiele könnte man fast beliebig vermehren. Die englische Historikerin Frances Amelia Yates (1899 - 1981) weist in ihrem einflussreichen Werk Giordano Bruno and the Hermetic Tradition darauf hin, dass bis zum Renaissance die Meinung vorherrschte, dass die Vergangenheit höher als die jeweilige Gegenwart stand: The great forward movements of the Renaissance all derive their vigour, their emotional impulse, from looking backwards. The cyclic view of time as a perpetual movement from pristine golden ages of purity and truth through successive brazen and iron ages still held sway and the search for truth was thus of necessity a search for the early, the ancient, the original gold from which the baser metals of the present and the immediate past were corrupt degenerations. Man ’ s history was not an evolution from primitive animal origins through ever growing complexity and progress; the past was always better than the present, and progress war revival, rebirth, renaissance of antiquity. (Yates 1991, S. 1) Wie Shapin schreibt, war Francis Bacon der Ansicht, dass Adam vor dem Fall über „ pure and uncorrupted natural knowledge “ verfügte; Galileo meinte, dass Salomon und Moses „ knew the constitution of the universe perfectly “ , und Boyle and Newton glaubten, dass es eine Erkenntniskette geben könne, 173 http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ der-heliand - 4496/ 11 (heruntergeladen am 18. 11. 2014). 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1013 welche von der Antike bis in in ihre Gegenwart reiche. Die gigantischen Bauten der Ägypter und Römer, die durch keine damals bekannte Technologie wiederholt werden konnten, schienen die Auffassung von der Überlegenheit der Alten zu stützen (Shapin 1996, S. 74). Fara weist darauf hin, dass noch im Europa des 17. Jahrhunderts das antike Griechenland als „ das Land der Heroen “ galt und viele Gelehrte meinten, dass die klassische Welt den Gipfel der Zivilisation erreicht habe, welche nicht überboten werden könne (Fara 2009, S. 37). Solche Vorstellungen müssten im Rahmen des herrschenden materialistischen Erklärungsparadigmas als Märchen, Mythen, Fantasien, freie Erfindungen usw. betrachtet werden. Sobald man sich jedoch vom materialistischen Dogma verabschiedet und die Existenz einer geistigen Welt mit ihren Wesenheiten ( „ Göttern “ ) zulässt, aus der der Mensch herausgeboren wurde, ergibt sich die Möglichkeit, dass die Menschen der Frühzeit ihrem Geburtsort näherstanden als wir heute und einen intimeren Kontakt mit ihrer geistigen Heimat haben konnten. Die monumentalen Bauwerke der Menschheit deuten tatsächlich darauf hin, dass die ursprünglichen Möglichkeiten und Fähigkeiten des Menschen paradoxerweise höher als die späteren waren. So überragen z. B. die Pyramiden von Giseh in ihren Ausmaßen bei weitem jeden späteren ägyptischen Bau und insbesondere die mächtigen Tempel der Neuen Reiches. Diese Pyramiden stehen aber am Anfang, nicht am Ende der ägyptischen Kultur. Die ägyptischen Tempel des Neuen Reiches sind wiederum unvergleichbar größer als die um fast 1000 Jahre jüngeren griechischen Tempel. Das mächtige Stonehenge, das um 3000 v. Chr. errichtet wurde, wurde später nirgendwo auf den britischen Inseln nachgebaut. Auch der Göbekli-Tepe-Komplex ist Ausdruck einer frühen Hochkultur. Die seit Mitte der 1990er-Jahre an dieser Stätte durchgeführten Ausgrabungen haben ergeben, dass bereits in der ersten Phase der Nutzung der Anlage, die bis in das 10. Jahrtausend v. Chr. zurückreicht, dort ca. 20 megalithische Kreisanlagen bestanden, deren mit Reliefs geschmückte T-förmige Pfeiler, von denen es ursprünglich wohl 200 Stück gab, bis zu 6 Meter hoch und 20 Tonnen schwer waren. 174 Die Berichte über die Kommunikation mit den geistigen Wesenheiten bzw. Göttern standen in der griechischen Antike oft in Zusammenhang mit den „ Mysterien “ , mit bestimmten Orten und den dort stattfinden Praktiken, Ritualen usw., welche der Pflege dieser „ Kommunikation “ besonders gewidmet waren. Es herrschte der Glaube, dass die Mysterien von den Göttern selbst gestiftet worden seien und sich die Götter, welche dem Menschen in den Mysterien besonders zugänglich waren, auch sonst aktiv in die Geschicke der Menschen einmischten. Man glaubte z. B., dass die Mysteriengottheiten von Eleusis auf Seiten der Griechen in die großen Auseinandersetzung mit den Persern eingriffen. Der entscheidende Seesieg von Salamis (480 v. Chr.) 174 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Göbekli_Tepe (heruntergeladen am 5. 12. 2013). 1014 9 Neue Sicht der alten Geschichte sei ihnen zu verdanken, sie hätten ihn angekündigt (Herodot 2004, S. 65). Dazu schreibt Teichmann: Die alten Mysterienstätten sind diejenigen Orte, an denen, auf verschiedenen Wegen, einzelne ausgewählte Menschen zu wahren Gottesbegegnungen geführt wurden. Es waren Orte der Schulung, niemals bloße Lehrstätten, obwohl dort auch Wissen vermittelt wurde. Sie blieben von außen verborgen, aber jede Kultur wurde von einem solchen Geisteszentrum aus begründet und gelenkt. (Ebd., S. 32) Diese Vorstellungswelt fand selbstverständlich auch literarischen Niederschlag. Bruno Snell weist in seinem prägenden Werk Die Entstehung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen u. a. anhand der Odyssee nach, dass sich die Menschen jener Zeit nicht als Individuen verstanden, die unter Lenkung eines Ich stehen und über ihre Handlungen entscheiden, sondern vielmehr als eine Art Ansammlung von einigermaßen autonomen Teilen, die unter dem Einfluss äußerer Kräfte, insbesondere Götter, agieren (Snell 1975, S. 13 - 39). Nach Snell hat eine Anzahl prominenter Philosophen dieses Thema aufgegriffen (Schmitz 1969, S. 9 - 19; Wilkes 1988, S. 200 - 208; Feyerabend 1990, S. 138 - 140). Nachdem er eine Rede Poseidons aus der Ilias (15.187ff.) zitiert hat, beschreibt etwa Feyerabend die frühgriechischen Verhältnisse folgendermaßen: Demnach wäre die natürliche Welt, genau so wie die politische Welt, in Regionen aufgeteilt, die verschiedenen (Natur-)Gesetzen unterworfen sind. [. . .] Innerhalb seiner Region ist die Herrschaft des Gottes unumstritten, doch darf er deren Grenzen nicht überschreiten, wenn er nicht einem dadurch beleidigten Widerstand (nemésis) begegnen will. Die Welt in ihrer Gesamtheit wird also als Aggregat betrachtet, über dessen verschiedene Teile jeweils verschiedene Gottheiten herrschten [. . .]. Der Aggregatcharakter der homerischen Welt war nicht auf das Große beschränkt - er findet sich auch in ihren kleinsten Teilen. Es gibt keine Begriffe, die aus dem menschlichen Leib und der menschlichen Seele eine Einheit schmieden könnten [. . .]. Sowohl begrifflich als auch optisch sind Menschenwesen wie Stoffpuppen konstruiert, zusammengenäht aus einzelnen, relativ isolierten Elementen (Oberarm, Unterarm, Rumpf, Hals und Kopf mit einem Auge [. . .]) und bloße Durchgangsstationen für Ereignisse (Gedanken, Träume, Gefühle), die anderswo entstehen und sich nur kurz mit einem besonderen Menschen vereinigen. Aktives Handeln existiert in dieser Welt nicht; ein Heros entscheidet sich nicht dafür, ein bestimmtes Ereignis zu bewirken [. . .]. (Feyerabend 1990, S. 139) Erst allmählich wurde die Quelle des Handelns im Menschen verortet. Dieser Prozess, den der deutsche Philosophen Hermann Schmitz als Introjektion bezeichnet, kam in der Zeit Platons zum Abschluss (Schmitz 1969, S. 14). Die Bedeutung der Mysterien wurde auch zum wichtigen Thema von solch prominenten Vertretern des deutschen Idealismus wie Johann Gottlieb Fichte und allen voran Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. In den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters (Fichte 1956) entfaltet Fichte eine Theorie der Entwicklung der Menschheit zur Freiheit in fünf Stufen, deren erste die der 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1015 „ instinktiven Vernunft “ , der Unschuld des Menschen gewesen sei. Schelling dachte darüber nach, wie sich eine solche Entwicklung im Einzelnen vollzogen haben konnte. Sein „ U-Modell “ der Entwicklung setzt mit einer hohen Stufe ein, auf welcher der schöpferische Geist sich vollständig, aber unbewusst in der Natur offenbart, woraufhin sich ein allmählicher Abstieg bis zu einem Tiefpunkt vollzieht, dem wiederum ein Aufstieg zu einem neuen Zenit folgt, an dessen Ende „ Gott sein wird “ . In Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge (Schelling 2005) schildert Schelling die Mysterien als eine Anstalt, in der die Teilnehmer an den Ritualen durch Reinigung der Seele zur Wiedererinnerung an die vormals geschauten Ideen des an sich Wahren, Schönen und Guten und dadurch zur höchsten Seligkeit geführt werden (Schelling ebd., S. 23). Er schreibt: „ [D]ie Lehre der Mysterien [. . .] ist nichts anderes als die erhabenste, heiligste und vortrefflichste, aus dem äußersten Altertum überlieferte Philosophie gewesen “ (ebd.). In der Schrift Über die Gottheiten von Samothrake als Beilage zu den Weltaltern beschreibt er detailliert die samothrakischen Mysterien. Die zwei Grundgesetze der Mysterien, die Schelling hier herausarbeitet, kann man mit Teichmann folgendermaßen formulieren: 1. Die Mysterien hatten die Aufgabe, diejenigen Menschen, die sie in ihre Schulung aufnahmen, nach vorangegangener Reinigung des Seelenlebens einzuführen in das Schauen der geistigen Welt. Das geschah durch die Einweihung. 2. Die Mysterien hatten die nicht minder schwierige Aufgabe, die Eingeweihten erdentüchtig zu machen, sie zu veranlassen, die zu ihnen gehörenden Kulturen zu begründen, zu leiten und zu fördern und die dazu nötigen äußeren Techniken zu erfinden. (Teichmann, S. 23) Griechische Mysterien 2010 ist ein Buch erschienen, das wesentliche Aufschlüsse über den Charakter der griechischen Mysterien liefert: Mystery Cults in the Ancient World (Bowden 2010). Bowden, Dozent für Alte Geschichte am renommierten King ’ s College in London und ein ausgewiesener Experte für antike Religionen, betont bereits am Anfang seines Buches, dass Religion im antiken Mittelmeerraum sich wesentlich von dem unterscheidet, was wir heute unter diesem Begriff verstehen. Es existierten keine heiligen Texte wie die Bibel oder der Koran und es gab auch keine zentrale Autorität, die über die Auslegung der Lehre entschied (Bowden 2010, S. 6f.). Das Verhältnis zu den Göttern war gleichwohl von essentieller Bedeutung für Mensch und Gesellschaft: Every individual and every community in the ancient world had to concern themselves with their relationship to the invisible supernatural beings whose actions were believed to determine the course of their lives. Although the powers themselves were invisible, their effect on communities was easily seen: gods were held responsible for the success or failure of the harvests, for storms and earth- 1016 9 Neue Sicht der alten Geschichte quakes, diseases and their cures, and for victory or defeat in wars. All the areas of life beyond human control were considered to be the realm of gods. (Ebd., S. 7) Die Götter dienten dabei nicht bloß als rationale Erklärungen für Naturereignisse, sondern wurden als existenzielle Wesen erlebt. Man fühlte ihre Gegenwart und reagierte emotional auf sie (ebd). Weil die Götter als wirksame, ja mächtige Kräfte verstanden wurden, die dem Menschen Schaden zufügen, aber auch Glück bringen konnten, musste man sie sich durch Opfergaben und Feste wohlgefällig machen (ebd. S. 11f.). Um den Willen der Götter zu erkunden, mussten die Menschen zumal in irgendeiner Form mit ihnen kommunizieren. Dies geschah durch die sog. Mantik: Man suchte etwa anhand der Innereien von Opfertieren festzustellen, ob das Opfer von einem Gott wohlwollend angenommen wurde (ebd. S. 13). Daneben gab es die Orakel, deren berühmtestes wohl das von Delphi war, durch welche die Gottheiten ihren Willen oder ihre Weisheit offenbarten (ebd. S. 14). Schließlich konnte man mit den Göttern durch die Mysterien in Kontakt treten (ebd.). Ihre Praktiken und Lehren waren streng geheim (ebd., S. 24), sogar die Namen einiger Gottheiten wurden geheim gehalten (ebd. S. 23) und der Verrat dieser Geheimnisse stand unter strenger Strafe (ebd. S. 23, 38f.). Es ist aber so viel bekannt, dass der Gegenstand der Mysterienkulte sehr oft das Leben nach dem Tod war (ebd. S. 22). Charakteristisch dafür sind Texte auf einer dünnen Goldfolie, die in zahlreichen Gräbern in Thessalien im Norden Griechenlands, auf Kreta, Sizilien und in Süditalien gefunden wurden. Es wird angenommen, dass die Personen, in deren Gräbern sich solche Blättchen befanden, in einen Mysterienkult initiiert worden waren (ebd. S. 148). Assmann bezeichnet diese Goldblättchen als „ Totenpässe “ (Assmann 2002, S. 74). Das älteste Beispiel eines solchen Textes, das zugleich eines der klarsten und längsten ist, wurde in dem Grab einer Frau in Hipponion in Süditalien gefunden und wird auf 400 v. Chr. datiert, die verbleibenden 38 bis heute ausgegrabenen Goldblättchen stammen aus der Zeit zwischen dem 4. und 1. Jahrhundert v. Chr. (Graf und Johnston 2007, S. 5 - 49). Der Text lautet: This is sacred to Memory: when you are about to die you will find yourself at the House of Hades; on the right there is a spring, by which stands a white cypress. Descending there, the souls of the dead seek refreshment. Do not even approach this spring; beyond you will find from the Pool of Memory cool water flowing; there are guards before it, who will ask you with clear penetration what you seek from the shades of murky Hades. Say: ‘ I am a son of earth and star-filled Heaven, I am dry with thirst and dying; but give me swiftly cool water flowing from the Pool of Memory. ’ And they will take pity on you by the will of the Queen of the Underworld; and they will give you water to drink from the Pool of Memory; and moreover you will go on the great Sacred Way along which the other famed mystai and bakkhoi make their way. (Graf und Johnston 2007, Text 1, S. 5) 175 175 Mystai ist eine technische Bezeichnung für eine bestimmte Form der Initiation. Es scheint, dass man, um vollständig initiiert zu werden, die Mysterien zweimal erleben 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1017 Zum einen ist hier die Vorstellung interessant, dass die Seele nach dem Tod dürstet. Dieser Gedanke findet sich auch in anderen sakralen Texten. So tragen z. B. fünf Goldblättchen, die auf Kreta gefunden wurden und auf das 3. Jahrhundert v. Chr. datiert werden, die folgende Inschrift: l „ I am burning with thirst and am dying, but give me to drink water from the ever-flowing spring, on the right where the cypress is. “ l „ Who are you? Where do you come from? “ l „ I am the son of earth and starry heaven. “ (Graf und Johnston 2007, Texte 10 - 14, S. 21 - 25) Ein ähnliches Motiv befindet sich übrigens im Kapitel 58/ 59 des Ägyptischen Totenbuchs (Burkert 2002, S. 6) 176 . Die Idee des Durstens nach dem Tode kann man offensichtlich nicht in einem trivialen Sinne verstehen: Es geht nicht bloß um die naive Vorstellung, dass die Seele des Toten, weil sie keine Nahrung mehr hat, durstet. Denn wenn es so wäre, müsste man auch vom Hunger sprechen, was nicht der Fall ist. Es handelt sich vielmehr um eine Art geistigen Durst. Man erinnert sich in diesem Zusammenhang selbstverständlich an den Ausspruch von Jesus, dass er die Quelle des „ lebendigen Wassers “ sei (Joh. 4,14, 7,37-8). Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen zeitlich doch weit auseinander liegenden Phänomenen? Es ist ferner im obigen Text nicht verständlich, warum eine Frau sich als „ Sohn “ bezeichnet. Drittens bleibt dunkel, warum man ein Abkömmling der Erde und des Himmels ist, eine Vorstellung, die sich auch in anderen Texten findet. Einen noch direkteren Bezug zwischen den Mysterien und dem Leben nach dem Tode finden wir im sog. Homerischen Hymnus auf Demeter, in welchem der Dichter beschreibt, wie die eleusinischen Mysterien den Sterblichen von Göttern gegeben wurden, und dann kommentiert: Selig der Erde bewohnende Mensch, der solches gesehen! Doch wer die Opfer nicht darbringt, oder sie meidet, 177 wird niemals Teilhaft solches Glücks; er vergeht in modrigem Düster. (Homerische Hymnen 1989, S. 33) Daraus folgt, dass das nachtodliche Schicksal eines Menschen, der an Mysterien teilgenommen hat, jenem ähnelt, der im Leben den Göttern besonders nahestand, z. B. dadurch, dass er einen Abkömmling der Götter als Ehepartner hat. So wird in der Odyssee König Menelaos versprochen, dass musste: einmal als mystes, dann als epoptes. Das Wort mystes leitet sich vom Verb myo, ein Auge schließen, ab, während epoptes „ Betrachter “ bedeutet. epoptes war somit vielleicht jemand, der betrachten konnte, was ein mystes, ohne zu „ sehen “ , erfahren hat (Bowden 2010, S. 44). Der Begriff bakkhoi wiederum bezieht sich auf eine Gruppe von Männern oder Frauen, die eine Gottheit, insbesondere Dionysos (Bakchos ist einer der Beinamen von Dionysos), verehrt oder ihr folgt, was oft mit ekstatischen Praktiken verbunden ist (Bowden ebd., S. 110, 112). 176 Wir werden weiter unten auf dieses Werk ausführlicher eingehen. 177 Die englische Übersetzung hat hier: „ whereas he that is uninitiated in the rites, or he that has no part in them “ (vgl. Bowden 2010, S. 22). 1018 9 Neue Sicht der alten Geschichte ihm nach dem Tod nicht das erbärmliche Schicksal eines gewöhnlichen Sterblichen widerfahren wird. Stattdessen werde er zu den elysischen Gefilden geführt werden, wo ruhiges Leben die Menschen immer beseligt: (Dort ist kein Schnee, kein Winterorkan, kein gießender Regen; Ewig wehn die Gesäusel des leiseatmenden Westens, Welche der Ozean sendet, die Menschen sanft zu kühlen.) (4: 565 - 8) Dies alles dank des Umstandes, dass er Helena zu Frau hat, dass er also der Schwiegersohn von Zeus ist. Das Leben, das dem Initiierten nach dem Tode versprochen wird, ähnelt dem, das Menelaos zuteilwird, und zwar aus dem gleichen Grund: Beide stehen im engen Kontakt mit einem Gott. Aus einigen kultischen Texten geht hervor, dass der Mensch, der durch die Mysterien hindurchgeht, Gott gleich werde. So heißt es z. B. an einer Tafel aus Thessalien: ‚ but my race is heavenly ‘ (Graf und Johnston 2007, Text 29, S. 41), und auf einer Tafel, die auf einem Grabhügel in Thurio in Süditalien gefunden wurde, lesen wir: ‚ Happy and blessed one! You shall be a god instead of a mortal. ’ (Graf und Johnston 2007, Text 5, S. 13). Und in einem anderen Text, der in der gleichen Region gefunden wurde, wird festgehalten: Rejoice enduring what is to be endured! This you have never before experienced. You have become a god instead of a man. You have fallen as a kid into milk. (Graf und Johnston 2007, Text 3, S. 9) Bereits das Ägyptischen Totenbuch spricht von einem verstorbenen Menschen als von einem Gott (Osiris). Von dieser Überlegung ist es nur ein Schritt zu der Einsicht in die wohl wichtigste Dimension der antiken Mysterien. Ich erreichte den Grenzbereich des Todes, ich trat auf die Schwelle der Persephone, ich fuhr durch alle Elemente und kam zurück; mitten in der Nacht sah ich die Sonne in weißem Licht funkeln; den Göttern der Unterwelt und den Göttern des Himmels trat ich unmittelbar gegenüber und betete sie aus nächster Nähe an. Siehe, da habe ich dir berichtet, was dir notwendigerweise doch unbekannt bleibt, auch wenn du es gehört hast. (Zitiert in Burkert 2002, S. 21) Lucius, die Hauptfigur des lateinischen Romans Der Goldene Esel von Apuleius (ca. 125 - 180 n. Chr.), beschreibt die durch Fasten und Reinigungen vorbereitete Initiation in den Kult der Isis in Korinth mit folgenden Worten: Ich ging bis zur Grenzscheide zwischen Leben und Tod. Ich betrat Proserpinas Schwelle, und nachdem ich durch alle Elemente gefahren war, kehrte ich wiederum zurück. Zur Zeit der tiefsten Mitternacht sah ich die Sonne in ihrem hellsten Licht leuchten; ich schaute die Unter- und Obergötter von Angesicht zu Angesicht und betete sie in der Nähe an. (Apuleius 2009, S. 249) Diese Erfahrung wurde nach Bowden von Tausenden von Menschen der griechisch-römischen Welt gemacht, und zwar nicht nur innerhalb des Isis- Kults, sondern etwa auch im Rahmen der kultischen Handlungen zu Ehren von Dionysos und der eleusinischen Mysterien zu Ehren der Göttinnen 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1019 Demeter und Kore sowie einer Anzahl anderer Mysterienkulte (ebd.). Dabei bildete die Begegnung mit den Göttern „ von Angesicht zu Angesicht “ , von der auch Lucius spricht, das Zentrum des Kults: It is this idea, that mystery cults offered those who took part in them the opportunity to experience direct, unmediated contact with the divine, that makes best sense of what we know about them. (Ebd., S. 21) Auch für Platon ist ein solcher Kontakt zwischen Mensch und Gottheit nichts Ungewöhnliches. Im Timaios finden wir die folgende Passage: Über die übrigen Götter zu sprechen, um ihre Erzeugung nachzuforschen, übersteigt unsere Kräfte, vielmehr müssen wir denen Glauben beimessen, die früher darüber gesprochen haben, da sie, ihrer Behauptung nach, Abkömmlinge der Götter waren und doch wohl genau ihre eigenen Voreltern kannten; sonach ist es unmöglich, den Göttersöhnen den Glauben zu verweigern; wir müssen ihnen den Gesetzen gehorchend glauben, obgleich sie ihre Reden nicht durch wahrscheinliche und schlagende Gründe unterstützen, sondern ihnen Wohlbekanntes zu verkündigen behaupten. (40 d-e, in Platon 1994 d, S. 40f.) Das Wissen der „ Abkömmlinge der Götter “ ist nach Platon höher als das diskursive Wissen, das durch „ wahrscheinliche “ oder „ schlagende “ Argumente unterstützt wird. Im Phaidros stellt Platon heraus, dass jede Seele vor ihrer Inkorporation das Seiende seiner Natur nach geschaut habe, woran sie sich allerdings wegen dessen unaussprechlicher Schönheit im irdischen Leben nur sehr schwer zu erinnern vermag: [W]enige also bleiben übrig, denen die Erinnerung stark genug beiwohnt. Diese nun, wenn sie ein Ebenbild des Dortigen sehen, werden entzückt und sind nicht mehr ihrer selbst mächtig, was ihnen aber eigentlich begegnet, wissen sie nicht, weil sie es nicht genug durchschauen. Denn der Gerechtigkeit, Besonnenheit, und was sonst den Seelen köstlich ist, hiesige Abbilder haben keinen Glanz, sondern mit trüben Werkzeugen können unter Mühen von ihnen nur wenige jenen Bildern sich nahend des Abgebildeten Geschlecht erkennen. Die Schönheit aber war damals glänzend zu schauen, als mit dem seligen Chore wir dem Jupiter, andere einem andern Gotte folgend, des herrlichsten Anblicks und Schauspiels genossen und in ein Geheimnis geweiht waren, welches man wohl das allerseligste nennen kann, und welches wir feierten, untadelig selbst und unbetroffen von den Übeln, die unserer für die künftige Zeit warteten, uns so auch zu untadeligen, unverfälschten, unwandelbaren, seligen Gesichten vorbereitet und geweiht in reinem Glanze, rein und unbelastet von diesem unserm Leibe, wie wir ihn nennen, den wir jetzt eingekerkert wie ein Schaltier mit uns herumtragen. (250 a-c, in Platon 1994 b, S. 571f.) Es stellt sich allerdings die Frage, woher Platon von der Seele, wie sie „ rein und unbelastet von diesem unserm Leibe “ war, weiß. Erinnert er sich der Zeit vor seiner Geburt, oder resultiert seine Einsicht aus einer Erfahrung, die er oder eine ihm bekannte Persönlichkeit in den Mysterien gemacht hat? 1020 9 Neue Sicht der alten Geschichte Die Menschen im antiken Griechenland, so das Zwischenfazit, glaubten an die Möglichkeit der Begegnung mit den Göttern, und die Rituale der Mysterien dienten vermutlich dazu, sie herbeizuführen. Durch sie wurde der Initiierte gleichsam vergöttlicht, und dies hatte u. a. zur Folge, dass sich sein Schicksal nach dem Tode anders als das Schicksal eines durchschnittlichen Sterblichen gestaltete. Der Kontakt mit den Göttern war allerdings nicht ungefährlich. Einen urbildlichen Ausdruck dieser Vorstellung finden wir im Mythos von Semele, der Tochter von Harmonia und Kadmos, des Gründers von Theben. Semele war so schön, dass Zeus sich in sie verliebte, weshalb er ihr als Sterblicher erschien, um sie für sich zu gewinnen. Er zeugte mit ihr Dionysos. Die eifersüchtige Hera überredete Semele, Zeus darum zu bitten, sich ihr in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Zeus bemühte sich, ihr diesen Wunsch auszureden, aber vergeblich. Als er sich ihr schließlich in seiner wahren Gestalt zeigte, wurde Semele von seinem Glanz vernichtet, wie jeder irdische Körper, der der Sonne zu nahe kommt (vgl. Bowden ebd., S. 21). Eine ähnliche Vorstellung findet sich auch in der jüdischen Tradition: Jahwe warnt die Israeliten, sich dem Berg Sinai zu nähern, denn wer den Berg berührt, der wird sterben. Nur Moses hat Zutritt und kann mit Jahwe sprechen (2. Mose 19,12). Aber auch ihn warnt Jahwe, dass er zwar seine Herrlichkeit, nicht aber sein wahres Gesicht betrachten kann: „ Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht! “ (2. Mose 33,20). Auf der anderen Seite erlaubte Athena Diomedes die Götter zu sehen, die für die Trojaner gegen die Griechen kämpften (Bowden ebd., S. 21, Bezug auf Illias 5.124 - 31), und Demeter zeigte ihre wahre Gestalt im Haus von König Keleos von Eleusis (Homerische Hymnen 1989, S. 21f.). Um der Gottheit ansichtig zu werden, bedurfte es einer Vorbereitung der kultischen Handlungen (Bowden ebd., S. 32). Nach Apuleius ’ Metamorphosen bzw. Der Goldene Esel (XI. Buch) beinhaltete diese zehn Tage währende Periode sexuelle Enthaltsamkeit (diese Bedingung wird auch in zahlreichen anderen Quellen erwähnt (vgl. Quack 2002, S. 106), Fasten, eine Art Lebensbeichte sowie Reinigungen und Besprengung mit Wasser (ebd., S. 95). Die Begegnung mit den Göttern war für die Menschen der Antike keineswegs nur symbolischer Art, sondern sie wurde als authentisch erlebt: At one level the Eleusinian Mysteries were an occasion on which the city of Athens honoured the goddesses who guaranteed the harvests and the grain the city needed in order to survive [. . .]. But in the middle of these public festivities was a sequence of events in which the personal experience of individuals was central. Behind the walls of the sanctuary at Eleusis they met the goddess and experienced her grace and power at first hand. (Bowden ebd., S. 48) But mystery cults were about more than disorientation [produced in the course of the rites]. Participants understood themselves to be meeting the gods - the same gods who were the recipients of other forms of religious cult. Mystery cults were not isolated from the rest of the religious practices of the Mediterranean world, and 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1021 worshippers brought to them an understanding of the nature of the gods no different from the one they brought to public festivals and private devotions. If we are to understand more fully the experience of those who took part in these cults, we have to start from this point. (Ebd., S. 216) Doch was wurde dabei erlebt? Dies ist aufgrund der großen zeitlichen Distanz nur schwer zu sagen. Im Schlusskapitel seines Buches Finding the Sacred versucht Bowden eine Annäherung. Er schreibt: More than 1,600 years of religious and intellectual development separate us from the world in which mystery cults flourished, and that is too vast a gap to bridge. For that reason, we will never be able to experience the closeness to the gods that initiates found in those cults. For most people, the gap between the modern world and Appalachian Mountain religion [Bowden nimmt hier Bezug auf christliche Sekten, die mit Schlangen hantieren, um die Stärke ihres Glaubens zu demonstrieren] is also too great to cross. But not for all. Dennis Covington is a journalist and writer from Alabama, brought up in a Southern Methodist tradition, who became interested in snake-handling churches. Open to the possibility that their members might indeed be moved by the Holy Spirit, he was accepted into churches and drawn into their practices. His account can stand at the end of this book to show that what the fictional Lucius [s. oben Der Goldene Esel von Apuleius] experienced when he was initiated into the cult of Isis can still be felt today: I turned to face the congregation and lifted the rattlesnake up toward the light. It was moving like it wanted to get up even higher, to climb out of that church and into the air. And it was exactly as the handlers had told me. I felt no fear. The snake seemed an extension of myself. And suddenly there seemed to be nothing in the room but me and the snake. Everything else disappeared. Carl, the congregation, Jim - all gone, all faded to white. And I could not hear the earsplitting music. The air was silent and still, and filled with that strong, even light. And I realized that I, too, was fading into white. I was losing myself by degrees, like the incredible shrinking man. The snake would be the last to go, and all I could see was the way the scales shimmered one last time in the light, and the way the head moved from side to side, searching for a way out. I knew then why the handlers took up serpents. There is power in the act of disappearing; there is victory in the loss of self. It must be close to our conception of paradise, and it ’ s like before you ’ re born or after you die. (Bowden ebd., S. 221) Wir sind dieser Art der mystischen Ekstase bei der Lektüre von Huxleys The Door of Perception begegnet. Huxley meinte, dass das Höchste die Überwindung des lästigen Selbst sei. Es ist kein Geheimnis, dass dies auch das Ziel der meditativen Praktiken des Ostens ist. Der Buddhismus betrachtet das Selbst als eine Illusion, die es zu überwinden gilt. Entspricht aber das in der obigen Passage beschriebene Erlebnis dem der antiken Mysterienkulte? In einem wichtigen Punkt unterscheiden sich beide: Im scharfen Kontrast zu den antiken Eingeweihten scheint Covington keine Begegnung mit einer Gottheit erlebt zu haben. Vielleicht liegt der Grund für diesen wesentlichen Unterschied darin, wie Bowden meint, dass es heute nicht mehr möglich ist, die Nähe der Götter zu erleben. Hat er Recht? 1022 9 Neue Sicht der alten Geschichte Ägyptische Mysterien? Gab es für die griechischen Mysterien und Mysterienkulte Vorläufer im Alten Ägypten? Es ist gut dokumentiert, dass die Griechen einen großen Respekt für die ägyptische Kultur hatten. Bereits Pythagoras war nach Ägypten gereist, um von der dortigen Weisheit zu lernen (vgl. z. B. Burkert 2002, S. 19). Platons Timaios stellt, wie obiges Zitat zeigt, die Überlegenheit der ägyptischen Weisheit heraus. Der umfangreichste literarische Text des Hellenismus, die Bibliotheke historike des Diodor, eine Weltgeschichte in 40 Bänden, beginnt bezeichnenderweise mit Ägypten. Im ersten Band findet man u. a. die folgenden Passagen: Orpheus habe das meiste seiner mystischen Weihen und das, was im Hades ist, aus Ägypten geholt. (Burkert ebd., S. 18) Melampus aber, sagt man, habe aus Ägypten die Weihen mitgebracht, die man nach dem Brauch bei den Griechen für Dionysos feiert, und was der Mythos von Kronos erzählt und vom Titanenkampf und überhaupt die Geschichte von den Leiden der Götter. (Ebd.) Die Vermutung liegt also nahe, dass die Mysterien und Mysterienkulte von Ägypten nach Griechenland „ importiert “ wurden, zumal es als gesichert gilt, dass die griechische Demeter eine Aneignung der ägyptischen Isis (vgl. z. B. Burkert, ebd., S. 16, 20; Quack 2002, S. 107) und der griechische Dionysos eine Umbenennung des ägyptischen Osiris ist (Burkert ebd., S. 16, 18). Gleichwohl ist die These vom ägyptischen Ursprung der griechischen Mysterien in der Ägyptologie umstritten. Schließlich könnten die Berichte, die das behaupten, nur in die Welt gesetzt worden sein, um der eigenen Kultur zusätzliche Würde und Respekt zu verleihen. 1999 sind unabhängig voneinander zwei Bücher bedeutender Ägyptologen zu dem Thema erschienen, die genau gegensätzliche Auffassungen dazu vertraten. Erik Hornung meinte in Das esoterische Ägypten: das geheime Wissen der Ägypter und sein Einfluß auf das Abendland (Hornung 1999), dass die ägyptischen Mysterien nichts weiter als eine griechische Projektion seien, die mit ägyptischen Institutionen so gut wie nichts zu tun habe, 178 während Frank Teichmann in Die ägyptischen Mysterien. Quellen einer Hochkultur (Teichmann 1999) die These vertrat, dass sie eine authentische altägyptische Tradition darstellen. Die Jahrestagung der deutschsprachigen Ägyptologie, die im Juli 2000 in Heidelberg stattfand, nahm dies zum Anlass, sich mit dem Thema vertieft auseinanderzusetzen. Die Beiträge wurden in einem Sammelband abgedruckt (Assmann und Bommas 2002). Die Mehrheit der Vortragenden vertrat die Meinung, dass 178 Vgl. auch Assmann zu diesem Thema: „ Die ‚ ägyptischen Mysterien ‘ , das ist wohl in der Ägyptologie allgemeiner Konsens, sind eine Erfindung der Griechen, die ihre eigenen Begriffe von Mysterien, d. h. Kulten, an denen man nur unter den Bedingungen der Einweihung teilnehmen konnte und über die man nach außen Stillschweigen zu bewahren hatte, in die ägyptische Religion hineinprojizierten “ (Assmann 2002, S. 59). 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1023 es durchaus plausibel sei, von einer ägyptischen Mysterienkultur zu sprechen. Im Folgenden werde ich die wichtigsten Argumente für diese These kurz zusammenzufassen. Man muss zunächst die Frage stellen, was unter einer „ Mysterienreligion “ genau zu verstehen ist. Das Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe nennt als prägende Merkmale für eine Mysterienreligion Initiation, Arkandisziplin und fakultativ zusätzlich die Vereinigung mit der Gottheit (S. 169 von Lieven in Assmann 2002, S. 47). Der klassische Einstieg ist noch heute, wie Quack feststellt, der Bericht über die Isis-Weihe des Lucius im XI. Buch von Apuleius ’ bereits oben erwähntem Roman Der Goldene Esel (Quack 2002, S. 95). Dieser Bericht stellt die ausführlichste Schilderung einer Initiation in die Mysterien in der gesamten Antike dar (ebd.). Apuleius ’ Bericht enthält zwar die gesuchten Elemente, aber auch sein Buch, das erst im 2. Jahrhundert n. Chr. verfasst wurde, kann eine Projektion sein. Die Frage ist also, ob sich die gewünschten Elemente in der ursprünglichen ägyptischen Tradition finden lassen. Diese Frage beantwortet Alexandra von Lieven anhand einer Reihe von bekannten ägyptischen Originaltexten positiv: In allen näher untersuchten Kompositionen haben sich mehr oder weniger deutlich die Elemente Arkandisziplin und Initiation abgezeichnet, in der Sonnenlitanei sogar die Vereinigung mit der Gottheit. (Lieven von 2002, S. 56) Von Lieven beruft sich z. B. auf die 7. Litanei aus der Sonnenlitanei 179 , in welcher der Sprecher jubelt: Wahrlich, ihr habt mich zu dieser Treppe aufsteigen lassen, zu der ihr aufsteigt, zu der die Götter gerufen werden, die im Gefolge des Re und des Osiris sind! Wahrlich, ihr habt mich zu diesem geheimen Schrein aufsteigen lassen, der verborgen ist für Osiris Nehi, den Herrn der Jahre, den die beiden Genossinnen hüten! Wahrlich, ihr habt mich aufsteigen lassen zu der Kammer, die die Geheimnisse verbirgt, in der Osiris sich befindet! [. . .] Möget ihr mir aufdecken, was ihr verborgen habt [. . .] (Zitiert nach Lieven von 2002, S. 54) Nach von Lieven wird dem Sprecher Einlass zu einer normalerweise nicht zugänglichen Kammer gewährt, in der sich ein Kultobjekt oder Bildnis des Osiris befindet. Diese Kammer wird vermittels einer nach oben führenden Treppe erreicht, die sich in einigen Tempeln tatsächlich finden lässt (ebd.). Somit sind zumindest einige Merkmale einer „ Mysterienreligion “ erfüllt. 179 Als Sonnenlitanei wird ein religiöser Text und Bilderzyklus bezeichnet, der sich als Dekoration in Königsgräbern im Tal der Könige findet. Die ältesten Belege für diesen Text finden sich im Grab des Wesirs Useramun (um 1515 - um 1449 v. Chr. und im Grab von König Thutmosis III. Seit Sethos I. gehört die Sonnenlitanei zum Standardprogramm fast aller ägyptischen Königsgräber (http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Sonnenlitanei, heruntergeladen am 10. 12. 2013). 1024 9 Neue Sicht der alten Geschichte Terence DuQuesne führt die folgende Stelle aus Amduat 180 an 181 : (This is) the select vade-mecum - the secret writing of the netherworld Nobody among all humankind knows it except for the select one This guidance is made manifest in the hidden (realm) of the netherworld Not to be seen - not to be gazed upon The one who knows these guides is accomplished and enlightened He is used to entering into and coming out of the netherworld 182 He is used to speaking with the living 183 And has been truly proven countless times. (Zitiert nach DuQuesne 2002, S. 40) Es handelt sich um einen Hinweis auf initiatorische Anweisungen oder Belehrungen, die nur Auserwählten zugänglich sind, womit eins der wesentlichen Kriterien einer Mysterienreligion erfüllt ist. Die Vorstellung des Abstiegs in die Unterwelt und der Rückkehr zu den Sterblichen ist übrigens nach DeQuesne in der ägyptischen Literatur öfters dokumentiert (ebd., S. 43). Er macht auf weitere Indizien aufmerksam: Gewisse Passagen des Totenbuches beinhalten Handlungsanweisungen, welche vor dem Ableben auszuführen waren (ebd., S. 38), und im Papyrus Vandier, der allerdings erst auf das Ende des 7. bzw. den Anfang des 6. Jahrhundert v. Chr. datiert wird, ist von einem Magier des Königs Sisobk die Rede, der fähig war, mit den Gottheiten direkt zu sprechen (ebd., S. 44). DeQuesne erinnert ferner im Anschluss an den bedeutenden Ägyptologen F. Daumas daran, dass sich im Totenbuch auch Zaubersprüche mit initiatorischem Charakter befinden, die also nicht ausschließlich für die Bestattung dienten (ebd., S. 42). Schließlich macht DeQuesne geltend, dass den Ägyptern psychotropische Substanzen (zumindest Opium und Kannabis) bekannt waren und der „ göttliche Rausch “ als eine Methode zur Erlangung des Zugangs zu den anderen Welten erachtet wurde (ebd., S. 45). Er resümiert: The above are just some indications that certain people in pharaonic Egypt engaged in forms of religious practice which could be described as ‘ mystical ’ . In other words, there is evidence for a belief in the accessibility of the divine in heaven and on earth. (Ebd., S. 46) 180 Das Amduat (Untertitel in Kurzform: „ Die Schrift der verborgenen Kammer “ ) gilt als ältestes altägyptisches Literaturwerk der Gattung Jenseitsbücher. Das Jenseitsbuch „ Das, was in der Duat ist “ ist zum ersten Mal im Grab KV20 des Thutmosis I. (ca. 1504 bis um 1492 v. Chr.) bezeugt und in den Königsgräbern des Neuen Reiches als teilweise vollständige Darstellung in Kurz- und Langfassung erhalten. 181 DuQuesnes Beitrag ist auf Englisch abgedruckt, ich zitiere also seine englische Übersetzung des ägyptischen Textes. 182 Vgl. Joh 10,9. 183 DeQuesne kommentiert in einer Fußnote (32, S. 40), dass dieser Begriff sowohl auf lebende wie auch auf scheinbar tote Personen anwendbar war. Wie oft in ägyptischen Texten sei die Mehrdeutigkeit vielleicht beabsichtigt. 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1025 Alexandra von Lieven wiederum lenkt die Aufmerksamkeit auf das Buch vom Tag und von der Nacht 184 , das wegen seiner häufigen nichtfunerären Bekundungen eine sehr interessante Quelle darstellt. Sie weist darauf hin, dass man unter dem in Kolumnen geschriebenen Text in einer über die gesamte Textbreite reichenden Zeile die Feststellung findet: „ Ich bin darin eingeweiht. Sprich nicht (darüber), so dass irgendein Normalmensch es hört “ (Lieven von 2002, S. 52), woraus sie schließt: „ Zumindest für dieses Himmelsbuch ist eine Deutung als ‚ esoterisches Wissen ‘ unumgänglich “ (ebd.). Auch gab es eine Redewendung, die den Zustand des Eingeweihtseins zum Ausdruck brachte. Wörtlich übersetzt lautet sie: „ Ich bin in sein Inneres eingetreten “ . Himmelsschau Auf das Vorhandensein einer Mysterienreligion bzw. -kultur deuten auch die Texte, in denen von einer mystischen Himmelsschau gesprochen wird. Am schönsten wird eine solche Schau wohl im Krönungstext Thutmosis III. bezeugt: [Er tat m]ir die Tore der Himmels auf, er öffnete mir die Türen seines Horizontes. Ich flog empor zum Himmel als göttliche Falke, damit ich sein himmlisches Geheimbild [[. . .]] 185 sähe, damit ich seine Majestät anbete, [. . .] Ich sah die [[. . .]] Formen des Horizontischen auf seinen verborgenen Wegen im Himmel. Re selbst setzte mich ein [[. . .]]. Ich wurde ausgezeichnet mit den Kronen, die auf seinem Haupt sind, seine Uräusschlange nahm Platz auf [meinem Haupt]. [. . .] Ich wurde [ausgestattet] mit all seiner [[. . .]] Fähigkeit, Ich wurde gesättigt mit dem Wissen der Götter [. . .] (Zitiert nach Quack ebd., S. 99) Quack kommentiert, dass alles in diesem Text auf eine echte visionäre Entrückung hindeutet und dass für die gelegentlich von Ägyptologen geäußerte Meinung, es handle sich dabei um die Schilderung eines Traumerlebnisses, jeder positive Hinweis fehlt (Quack ebd., S. 100). Götterschau Neben Fragmenten, die eine Himmelsschau erkennen lassen, gibt es solche, in denen einer Person (entweder dem König oder einem Priester) die Götter- 184 Ein Teil der sog. „ Bücher des Himmels “ , die das Jenseits thematisierten und seit Ramses IV. an den Decken der Königsgräber angebracht wurden. 185 Die [. . .] markierten Auslassungen im Original. [[. . .]] bezeichnen Stellen, an denen ich auf die Wiedergabe der ägyptischen Schriftzeichen in lateinischen Buchstaben verzichtet habe. 1026 9 Neue Sicht der alten Geschichte schau anvertraut wird. Selbst Assmann, der der These von der Existenz einer Mysterienreligion in Ägypten eher skeptisch gegenübersteht, zitiert Stellen, die deutlich in diese Richtung zu interpretieren sind. Betrachten wir z. B. den folgenden Text zur Priesterweihe, der auf Tempelstatuen angebracht war: Amun hat mich zum Öffner der Himmelstüren ernannt, damit ich seine Gestalt im Horizont erblicke; er hat mich eingeführt in den Palast in seiner Heiligkeit, damit ich Horus erblicke in seiner Geburt. Ich erhielt Zutritt zum Gott als trefflicher Jüngling. Ich wurde eingeführt zum Horizont des Himmels, damit ich das Geheimnis dessen, der in Theben ist, heilige und ihn zufrieden stelle mit seinen Opferspeisen. Nachdem ich aus dem Urwasser (dem heiligen See) gekommen war und das Unreine an mir beseitigt hatte, nachdem ich das Schlechte mit der Reinheit vertauscht und Kleider und Salbe abgelöst hatte entsprechend der Reinigung der beiden Herren, trat ich vor an den heiligen Ort, wobei ich mich sehr fürchtete wegen seiner Erhabenheit. Ich erhielt Zutritt zum Gott, damit ich jene heilige geheime Gestalt des Schöpfers der Götter sehe. [. . .] 186 (Zitiert nach Assmann 2002, S. 72f.) Der Text bringt zum Ausdruck, dass der eingesetzte Priester die Fähigkeit erlangt hat, die geistige Seite der Wirklichkeit (der Horizont des Himmels) und den höchsten Gott zu schauen. In den sog. Priesterannalen von Karnak aus der 21. und 22. Dynastie heißt es entsprechend: Tag der Einführung des Propheten des Amonrasohnther, des Vorstehers der Stadt, Wezir. . . 187 in die große und heilige [[. . .]] 188 Kapelle [[. . .]] des Amun durch den Ersten Propheten des Amun und Vorsteher von Oberägypten Harsiese [. . .] in ihm, damit er Amun in dieser seiner erhabenen [[. . .]] Gestalt [[. . .]] erblickt, die vor den Göttern verborgen ist. ‚ Mein Herz, mein Herz! Was du erfleht hast, ist geschehen. Ich habe die Gestalt dessen, der in Theben ist, erschaut [[. . .]]. Ich habe Wirkmächtiges [[. . .]] erblickt [. . .] Stätten in der Art seiner Sonne am Himmel. Ein großes Amt hat sich an meine Glieder geheftet, es soll nicht fortgenommen werden in Ewigkeit . . . ‘ . “ (Zitiert nach Quack ebd., S. 105) 186 Der Text geht noch weiter. 187 Die weitere Titulatur mit Name und Filiation wird von Quack weggelassen. 188 Vgl. Fußnote 6. Die [. . .] markieren Auslassungen im Original. [[. . .]] deutet auf die Stellen, an welchen die Wiedergabe der ägyptischen Schriftzeichen in lateinischen Buchstaben von mir weggelassen wurden. 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1027 Quack resümiert, dass in der ägyptischen Priesterweihe wichtige Aspekte der Mysterien aufzufinden sind, u. a. die direkte Vision der Gottheit (Quack ebd., S. 108). Vereinigung mit der Gottheit: unio mystica Gewisse Textstellen deuten auf eine noch weiter gehende Erfahrung: die Vereinigung mit der Gottheit, der unio mystica (Quack ebd., S. 103, 108). So findet sich z. B. in PGM 189 VIII 36 - 38 die folgende Passage: „ Denn du bist ich und ich bin du. Dein Name ist mein Name und meiner deiner. Denn ich bin dein Abbild “ (zitiert ebd., S. 103). Und weiter (PGM VIII 49f.) heißt es: „ Ich kenne dich, Hermes, und du mich. Ich bin du und du bist ich “ (zitiert in ebd., S. 103). Obwohl sich die angeführten Stellen in einem späten griechischsprachigen Papyrus befinden, sind derartige Identifizierungen mit der Gottheit in der ägyptischen Tradition verankert und bereits aus relativ frühen Epochen belegt (ebd., S. 103). Quack zitiert eine Stelle aus einem unpublizierten Fragment des sog. Brooklyner illustrierten magischen Papyrus, das sich in Kopenhagen befindet. Dort heißt es vom Pharao: „ Er ist dein [Gottes] Abbild, das auf Erden ist “ und weiter: Sein Fleisch ist dein Fleisch - und umgekehrt Seine Knochen sind deine Knochen - und umgekehrt Seine Gl[ieder sind deine Glieder - und umgekehrt] (Zitiert nach Quack ebd., S. 104) Jüngst entdeckte Papyri zeigen, dass der Pharao während der Krönungszeremonie Isis anrief: „ Komm zu mir, meine Mutter Isis! “ (ebd., S. 99). Auch in der bereits erwähnten Sonnenlitanei gibt es Elemente, welche auf die Vorstellung einer Vereinigung mit der Gottheit hinweisen (von Lieven ebd., S. 56). Bloße Symbolik und Hyperbel? Eine Interpretation der oben zitierten Passagen ( „ Ich flog empor zum Himmel als göttlicher Falke “ , „ Amun hat mich zum Öffner der Himmelstüren ernannt, damit ich seine Gestalt im Horizont erblicke “ , „ Er [der König] ist dein [Gottes] Abbild, das auf Erden ist “ ) erblickt in ihnen das Echo einer echten Erfahrung: einer Vision oder sogar Vereinigung mit der Gottheit. Diese Interpretation erscheint vor dem materialistischen Hintergrund der Gegenwart und der Tatsache, dass uns solche Erfahrungen nicht bekannt sind, äußerst gewagt, obschon sie durchaus auf der Linie der oben zitierten Feststellung Bowdens liegt, dass die Menschen der griechischen Antike, die an den Mysterien teilgenommen haben, von der Authentizität ihrer Erfahrungen überzeugt waren. Einer anderen Interpretation zufolge handelt 189 PGM = Papyri Graecae Magicae (http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Greek_Magical_Papyri, heruntergeladen am 12. 12. 2013). 1028 9 Neue Sicht der alten Geschichte es sich weder um Träume noch um visionäre Entrückungen, sondern um kultische Floskeln oder symbolische, zumal hyperbolische Umformungen konkreter physischer Handlungen. Betrachten wir z. B. die folgenden Fragmente aus den Priesterannalen von Karnak: Ich bin aufgestiegen auf seinen (des Sonnengottes? ) geheimen Wegen im Himmel vor dich, auf dass er (der Sonnengott? ) eure Bitten erhöre. (Fragment 23, zitiert nach Assmann 2002, S. 72) Ich sehe Schu (die Sonne) in ihm (dem Himmel), während du triumphierst, so wie ich seine großen Statuen gesehen habe in allen Königsstädten Unterägyptens. (Fragment 7, zitiert nach ebd.) Assmann deutet diese Texte folgendermaßen: Die Einführung in die geheimen Bereiche des Tempels wird beschrieben und erfahren als ein Himmelsaufstieg, ein Übergang in jenseitige Bereiche der Welt. Diese Form der Einweihung war den Priestern, sehr hohen Beamten und den Königen vorbehalten. (Assmann ebd., S. 74) Ähnlich interpretiert von Lieven die Stelle „ Wahrlich, ihr habt mich zu dieser Treppe aufsteigen lassen, zu der ihr aufsteigt, zu der die Götter gerufen werden, die im Gefolge des Re und des Osiris sind! “ . Sie meint, die Stelle nehme ganz konkret Bezug auf eine Zeremonie, welche sich tatsächlich auf einer nach oben führenden Treppe abspielt, wie sie sich in einigen Tempeln finden (Lieven von ebd., S. 54). Es ist schwer, sich dem Eindruck zu entziehen, dass solche Deutungen aus den groben materialistischen Hintergrundannahmen der Interpreten resultieren. Sie können sich nicht vorstellen, dass jemand auf „ Treppen “ in die geistige Welt aufsteigt (vgl. den berühmten Traum von Jakob (1. Mose 28,10-13) und fühlen sich gezwungen, anstatt die offensichtliche Bedeutung des geistigen Aufstiegs in Betracht zu ziehen, nach baulichen Korrelaten des hier angedeuteten geistigen Erlebnisses zu suchen. Geht man - bewusst oder unbewusst - von der Annahme aus, dass die geistige Welt bloß eine Projektion menschlichen Geistes ist, ist eine solche Fehldeutung praktisch unumgänglich: Es kann sich bei solchen Beschreibungen bzw. Erfahrungen um nichts anderes als Fantasieprodukte oder kultische Dichtungen handeln. Sie können keiner Wirklichkeit entsprechen. Akzeptiert man auf der anderen Seite, wie wir es am Ende des vorigen Kapitels gemacht haben, dass die geistige Welt eine Realität ist, kommt man nicht einmal in Versuchung, die Beschreibungen der erhabenen geistigen Erlebnisse auf eine solch grobe Art zu verflachen. Denn unter dieser Annahme erscheinen die obigen Texte als zwar erstaunliche, aber doch mögliche Wiedergabe einer echten, realen Erfahrung. Andere aus dem alten Ägypten erhaltene Texte sind in ihrer Aussage noch erstaunlicher als die bis jetzt betrachteten. Sie wurden offensichtlich während der oben erwähnten Jahrestagung der deutschsprachigen Ägyptologie in Heidelberg nicht berücksichtigt. In ihnen wird die Abstammung des Königs oder der Königin von Gott behauptet. So verkündet zum Beispiel Thutmo- 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1029 sis III. den versammelten Großen seine Erwählung zum König mit den Worten: ‚ Amun, mein Vater ist er, ich bin sein Sohn, er befahl mir, dass ich auf seinem Thron sei, als ich noch einer war, der in seinem Nest ist ‘“ (zitiert in Teichmann 2002, S. 53). Und die Erwählung Hatschepsuts zur Königin wird in den folgenden Worten beschrieben: „ Da ging sie dem Herrn der Götter in Lobpreisungen entgegen. Danach warf sie sich nieder vor seiner Majestät und sprach: ‚ Wieviel größer ist dies, als es die Gewohnheit deiner Majestät ist, du mein Vater, der alles Seiende ersinnt, was ist es, von dem du wünschst, dass es geschieht? Ich werde gewiss nach deinen Plänen handeln! ‘“ (Zitiert nach Teichmann ebd., S. 89) Ähnliche Feststellungen finden wir auch in den sog. Pyramidentexten, die dem toten König als Begleitwort dienten. Der Pyramidenspruch 222 verkündet: ‚ Du hast deine Reinigung empfangen im Gau von Heliopolis, von deinem Vater Atum. Du hast dich verwandelt, du bist würdig geworden, du bist Ach geworden . . . Atum! Lass diesen König zu dir aufsteigen . . . dein Sohn ist er von deinem Leibe. ‘ (Zitiert nach Teichmann ebd., S. 116f.) Im Pyramidenspruch 217 heißt es: ‚ Re-Atum! Es kommt zu Dir dieser König, ein unvergänglicher Ach . . . Es kommt zu Dir Dein Sohn, Es kommt zu Dir dieser König, damit ihr durchschreitet den Weg, vereint in der Finsternis, damit ihr aufleuchtet im [Ost-]Horizont, an dem Ort, wo es euch gefällt . . . Re-Atum! Es kommt zu Dir dein Sohn, es kommt zu Dir dieser König! Schließe ihn in Deine Umarmung! Dein Sohn ist er, von Deinem Leibe ewiglich! ‘ (Zitiert nach Teichmann ebd., S. 226) Im Pyramidenspruch 373 heißt es auf Englisch: Oho! Oho! Rise up, O Teti! Take your head, collect your bones, Gather your limbs, shake the earth from your flesh! Take your bread that rots not, your beer that sours not, Stand at the gates that bar the common people! The gatekeeper comes out to you, he grasps your hand, Takes you into heaven, to your father Geb [Gott der Erde]. He rejoices at your coming, gives you his hands, Kisses you, caresses you, Sets you before the spirits, the imperishable stars . . . The hidden ones worship you, 1030 9 Neue Sicht der alten Geschichte The great ones surround you, The watchers wait on you, Barley is threshed for you, Emmer is reaped for you, Your monthly feasts are made with it, Your half-month feasts are made with it, As ordered done for you by Geb, your father, Rise up, O Teti, you shall not die! 190 Eine ähnliche Botschaft vermitteln Texte, welche die Geburt des Königs beschreiben: ‚ Du Re, du formst mich, du lässt mich entstehen wie du selber (dich entstehen lässt) . . . Meine Geburt ist die Geburt Res im Westen - und umgekehrt. Meine Geburt im Himmel ist die Geburt des Ba des Re im Himmel - und umgekehrt. Mein Leben ist das Leben des Ba des Re - und umgekehrt. Das Atmen meines Körpers ist das Atmen des Körpers des Re - und umgekehrt. (Zitiert nach Teichmann 1999, S. 225) Teichmann schreibt über die altägyptischen Glauben an die Gotteskindschaft des Pharaos: In verschiedenen Versionen wurde [dieser Mythos] mündlich tradiert, ehe er zu Beginn des Neuen Reiches seine kanonische Darstellung fand und an den Wänden mancher Tempel in längeren Szenenfolgen abgebildet wurde. Der Mythos nimmt seinen Ausgang von einer Szene, in der Amun der Göttergesellschaft seinen Plan verkündet, einen neuen König zu zeugen. Diesem wird eine Herrschaft verheißen, die mit den Göttern in Einklang steht und demzufolge eine ungeheure Segensfülle auf das Land herableitet. Amun nähert sich der Königin in Gestalt ihres Gatten und zeugt mit ihr den Sohn. Dabei gibt er sich in seiner wahren Gestalt zu erkennen, so dass die Königin von der göttlichen Zeugung weiß. Jetzt erst wird der Leibesbildner Chnum beauftragt, den Leib mitsamt dem Ka des Kindes zu plastizieren, und ein göttlicher Bote (Thoth) wird zur Königin geschickt, der ihr die Geburt des Kindes verkündet. Es folgt die Hauptszene, die eigentliche Geburt unter dem Beistand von Isis, Nephthys und anderen helfenden Göttern, und die Aufzucht und Pflege des Kindes. Schließlich wird es den Göttern präsentiert und von Amun öffentlich anerkannt, indem er spricht: ‚ Mein geliebter leiblicher Sohn, den ich eines Leibes mit mir (= mir zum Bilde) gezeugt habe. ‘ Nach der Beschneidung und der Reinigung mit Lebenswasser folgt dann überall ein Zyklus mit Szenen der Krönung und Thronerhebung [. . .]. Und in der Tat handelt es sich bei der Zeugung und der Geburt des Gotteskindes ja nicht um eine äußere Tatsache, sondern um eine geistige, die aber in ein sachgemäßes Bild verschlüsselt wird. (Teichmann ebd., S. 252f.) 190 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Pyramid_Texts (heruntergeladen am 12. 12. 2013). 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1031 Auf eine besonders enge Beziehung des Königs zu den Göttern weisen auch jene Texte, welche die Einsetzung des neuen Königs dem Willen Gottes zuschreiben: Re hat den König Amenophis eingesetzt auf der Erde der Lebenden für unendliche Zeit und unwandelbare Dauer zum Rechtsprechen den Menschen, zum Zufriedenstellen der Götter, zum Verwirklichen der Wahrheit (M ’ at), zum Vernichten der Sünde; er gibt den Göttern Opferspeisen und den Verklärten Totenopfer. (Zitiert nach Teichmann ebd., S. 88) Ähnlich heißt es in einem Hymnus von Ramses III.: Du selbst bist es, der mich auf den Thron Ägyptens gesetzt hat als Statthalter für deine Länder, die du in deine Hand genommen hast. Nichts habe ich getan ohne dein Wissen, du bist es, der befiehlt, und ich führe es aus, indem ich eingedrungen bin in deine Ratschlüsse. (Zitiert nach Teichmann ebd., S. 88) Die Überzeugung, dass es die Aufgabe des Königs ist, den Willen Gottes getreu auszuführen, wird von vielen weiteren Texten bezeugt, etwa dem Bericht über die Einsetzung von Königin Hatschepsut ( „ Ich werde gewiss nach deinen Plänen handeln! “ ). Dazu schreibt Teichmann: Der vom Geiste recht erleuchtete König empfand sich nicht wie ein heutiger Mensch. Zwar konnte auch er denken und sich im Alltag behelfen, zumal in kriegerischen Situationen, aber niemals hätte er das Gefühl gehabt, ‚ ich denke ‘ , ‚ ich bin ein eigenes Wesen ‘ . Jedesmal, wo wir heute so empfinden, erlebte der Pharao die Wirkung Gottes in sich. ‚ Das ließ Gott durch mich getan sein ‘ 191 ist die Grundlage des alten Gottkönigtums. (Teichmann ebd., S. 125) Von einer ungewöhnlicher Nähe des Königs bzw. der Königin zu den Göttern zeugt schließlich dieser Text aus der Hathorkapelle der Hatschepsut in Deirel-Bahari: Ich bin zu dir gekommen, meine geliebte Tochter Hatschepsut, um deine Hand zu küssen und deine Glieder zu lecken, um deine Majestät mit Leben und Heil zu vereinen, wie ich es für Horus getan habe im Papyrusdickicht von Chemmis. Ich habe deine Majestät gesäugt an meiner Brust, ich habe dich erfüllt mit meinem Lichtglanz, mit jenem meinem Wasser des Lebens und des Heils. 191 Fragment einer Inschrift Sethos I. im Tempel von Wadi Mia. 1032 9 Neue Sicht der alten Geschichte Ich bin deine Mutter, die deinen Leib aufzog, ich habe deine Schönheit geschaffen. Ich bin gekommen, dein Schutz zu sein und dich von meiner Milch kosten zu lassen, auf dass du lebest und dauerst durch sie. (Zitiert nach Teichmann ebd., S. 77) Angesichts unserer heutigen Geistesverfassung liegt nahe, diese Aussagen als Zeugnisse eines ungeheuren Hochmuts, ja des Größenwahns zu deuten. 192 Wir haben aber auch gesehen, dass die Pharaonen sich nicht als absolutistische Alleinherrscher im Stil von Ludwig XIV., sondern als Diener der Götter verstanden haben. Hatschepsut bringt dies sehr deutlich zum Ausdruck, indem sie sich vor der Majestät Gottes untertänig niederwirft und spricht: „ Wie viel größer ist dies, als es die Gewohnheit deiner Majestät ist, du mein Vater, der alles Seiende ersinnt, was ist es, von dem du wünschst, dass es geschieht? Ich werde gewiss nach deinen Plänen handeln! “ Wir haben es hier einerseits mit dem Bewusstsein der Verwandtschaft mit Gott zu tun, andererseits aber auch mit dem Bewusstsein der unendlichen Erhabenheit Gottes. Teichmann arbeitet diese feine Unterscheidung wie folgt heraus: Während seines Mysterienweges konnte der ägyptische Eingeweihte eine Entwicklungsstufe erreichen, die ihn wie einen Gott unter Göttern erscheinen ließ. Zwar war es sich stets bewusst, nur die Kindheitsstufe dieses höheren Daseins erlangt zu haben, doch immerhin, den Sonnengott vermochte er schließlich von Angesicht zu Angesicht zu schauen. (Teichmann ebd., S. 246) Entspricht diese Haltung bzw. Erfahrung nicht der Haltung von Jesus Christus, der sich einerseits als Gottessohn ( „ Jesus aber antwortete ihnen: ‚ Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke ‘ (Joh 5,17), 193 andererseits aber auch als der Vollstrecker des Willens des Vaters ( „ Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich selbst tun, außer was er den Vater tun sieht; denn was der tut, das tut ebenso der Sohn “ (Joh 5,19)) empfand? Gerade deshalb kann man jedoch aus christlicher, aber auch jüdischer oder islamischer Perspektive an der Haltung der ägyptischen Pharaonen Anstoß nehmen. Denn man könnte argumentieren, dass sie einer Götterlästerung gleichkomme. Indem sich die Pharaonen den Status von Göttersöhnen (bzw. -töchtern) anmaßten, machten sie sich der Lästerung schuldig, denn dieser Status könne ausschließlich dem Gottessohn Jesus Christus zugesprochen werden. Darauf könnte man jedoch entgegnen, dass in einer so orthodoxen christlichen Urkunde wie dem Evangelium des Johannes auch das Versprechen formuliert wird, dass diejenigen, welche an Christus glauben 192 Teichmann weist darauf hin, dass diese Auffassung weit verbreitet sei, lehnt sie jedoch ab (Teichmann ebd., S. 62, 225). 193 Vgl. auch die berühmten Schilderungen der Taufe Jesus im Jordan: „ [U]nd der Heilige Geist in lieblicher Gestalt stieg wie eine Taube auf ihn herab und eine Stimme aus dem Himmel kam: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden “ (Lk 3,22; vgl. Mt 3,17; Mk 1,11). 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1033 und ihn „ aufnehmen “ , das Recht bekommen, Gottes Kinder zu werden (Joh 1,12). Handelt es sich bei der Gottessohnschaft der ägyptischen Pharaonen nicht um die gleiche oder zumindest eine ähnliche Erfahrung? Und heißt das nicht umgekehrt, weil die innige Verwandtschaft mit der Gottheit heute allen Menschen zugänglich ist, anzuerkennen, dass wir auch alle dazu berufen sind, diese oder zumindest sehr ähnliche Erfahrung zu machen? Und dass wir danach streben sollen, weil erst diese Erfahrung unserer wahren Natur würdig ist, diese wahre Natur offenbart? Fazit Dieser Abschnitt beschäftigte sich mit der Frage, ob man die Erfahrungen der Initiierten im alten Ägypten nicht einfach als Fantasiegebilde oder als eine kultische Überformung und Stilisierung abtun kann. Oder diente die Religion der Legitimation von Herrschaft, gar als ein Instrument der Repression? Angesichts des gewaltigen Aufwands, der für die religiösen Kulte betrieben wurde, und insbesondere der monumentalen Bauten, die für das jenseitige Leben des Herrschers errichtet wurden, scheint es mir ausgeschlossen, die altägyptische Religion auf den Machthunger einer Priesterkaste und die geschickte Manipulation der Massen reduzieren zu können. Die Initiationserlebnisse der Mysterien, in Ägypten wie in Griechenland, mussten vielmehr gewaltige, lebensverändernde Erfahrungen gewesen sein, deren Ausstrahlungskraft auch für die außenstehende Personen wahrnehmbar war. „ Nach der Rückkehr von einer solchen Initiation war der Eingeweihte ein anderer Mensch, ein Verwandelter. Von nun an interessierten ihn andere Gebiete als vorher, von nun an wusste er sich von einem anderen Dasein getragen, und von nun an hatte er andere Aufgaben zu ergreifen als vorher “ (Teichmann ebd., S. 246). Wer wurde eingeweiht? Wir haben bis jetzt Texte betrachtet, die darauf hinweisen, dass die Initiation in Ägypten im Wesentlichen den Königen und Königinnen vorbehalten war. Lässt sich der anfängliche Eindruck bestätigen, oder war der Zugang zur Einweihung doch breiter? Oder müssen wir die Zeremonien nach verschiedenen „ Zielgruppen “ (König, Priester, Beamte u. a.) unterscheiden? Assmann schlug vor, dass die „ kosmographischen “ Texte als exklusives Wissen des Königs zu deuten seien, während andere Forscher die Meinung vertreten, dass selbst zu dieser hohen Lehre prinzipiell jeder Zugang erwerben konnte, vorausgesetzt dass er sich den entsprechenden Riten unterzog (von Lieven ebd., S. 47). Eine interessante Position nimmt in dieser Diskussion Quack ein. Er vermutet, dass manche Elemente des Kultus, die zunächst ausschließlich für den König galten, später auch bei Priestern angewendet wurden (Quack ebd., S. 107). Überdies glaubt er, dass in Griechenland die „ Zugangsberechtigung “ zu den Mysterien viel breiteren Kreisen offenstand. So mutmaßt er, 1034 9 Neue Sicht der alten Geschichte dass in Ägypten der Isis-Kultus nur für den König und die Priester der höheren Ränge zugänglich war, während in Griechenland und in Rom eine große Gruppe von Einweihungswilligen zu den Mysterien zugelassen wurde (ebd., S. 108). Für die Exklusivität der Initiation im alten Ägypten spricht gewiss der Umstand, dass sich die oben zitierten Texte, die von der Gottessohnschaft handeln, ausschließlich in Dokumenten befinden, welche von Erfahrungen der Könige handeln. Zudem wurde dem König ein Wesensmerkmal zugeschrieben, das einfachen Menschen und selbst den Adligen fehlte: Während der gewöhnliche Mensch aus dem physischen Leib, Ka, besteht, einer Art Lebenskraft, die den Leib formt (vgl. Teichmann ebd., S. 100 - 109), und ferner aus Ba, der Seele, die dem Menschen das Bewusstsein verleiht (vgl. ebd., S. 109 - 115), schrieb man dem König auch noch Ach, Geist, zu (vgl. ebd., S. 115 - 125). Teichmann bemerkt dazu: [Der König] hat nämlich - und das unterscheidet ihn von den übrigen Ägyptern - ein ‚ Wesensglied ‘ mehr, eine ‚ Substanz ‘ , die der normale Mensch erst nach dem Tode erlangt. Durch einen Einfluss der Götter wird ihm schon zu Lebzeiten der ‚ Ach ‘ verliehen, seine ‚ Strahlkraft ‘ , sein ‚ Geist ‘ , und dieser ist es, der ihm dann ermöglicht, die Götter kennen zu lernen, mit ihnen zu sprechen und von ihnen zu erfahren, wie er sein Land zu führen hat. Diese außergewöhnliche Tatsache ist von der allergrößten Bedeutung und sollte sorgfältig beachtet werden. An ihr hängt die ganze ägyptische Kultur, dann ohne sie gäbe es kein Gott-Königtum der Pharaonen, keine geistige Führung und keine neuen Impulse. (Ebd., S. 115) Diese herausragende Bedeutung des Ach geht aus zahlreichen Texte hervor: Du hast deine Reinigung empfangen im Gau von Heliopolis, von deinem Vater Atum. Du hast dich verwandelt, du bist würdig geworden, du bist Ach geworden . . . Atum! Lass diesen König zu dir aufsteigen . . . dein Sohn ist er von deinem Leibe. (Pyramidenspruch 222, zitiert nach Teichmann ebd., S. 116f., vgl. auch oben) Re-Atum! Es kommt zu Dir dieser König, ein unvergänglicher Ach . . . Es kommt zu Dir Dein Sohn [. . .]. (Pyramidenspruch 217, zitiert nach Teichmann ebd., S. 226, vgl. auch oben) Demgegenüber bleibt selbst einem hohen Priester nur der fromme Wunsch, einmal den Ach zu erlangen. In einem der Mumie beigefügten Schriftstück eines Priesters des Amun-Ra zur Zeit von König Thutmosis III. heißt es in diesem Sinn: Mögest du geben, dass mein Gesicht geöffnet sei auf dem Wege der Finsternis, dass ich mich vereinige mit deinem Gefolge in der Dat. Mögest du meinen Ba zu einem Ach machen, so dass ich göttlich bin und dich anbeten kann inmitten der Götter [. . .]. (Zitiert nach Teichmann ebd., S. 116) 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1035 Aus diesem Text geht übrigens auch hervor, dass Ba als ein göttliches Glied des Menschen betrachtet wurde. 194 Teichmann beschreibt die Verwandlung, welche während der Einweihung in die höchsten Geheimnisse vom König erlebt wurde, folgendermaßen: Jedesmal, wo wir heute [uns als aus unserer Individualität handelndes Wesen] empfinden, erlebte der Pharao die Wirkung Gottes in sich. ‚ Das ließ Gott durch mich getan sein ‘ [Aus einer Inschrift Sethos I. im Tempel von Wadi Mia, S. Schott, Kanais, Göttingen 1961, S. 183] ist die Grundlage des alten Gottkönigstums. Es ist nicht nur ein Titel oder ein bloßer Name, der als Sohn-des-Re-Name dem König bei der Krönung verliehen wurde; er lebte auch danach und war sich des göttlichen Geschenks, des Ach, stets bewusst. Sein himmlisches Wesen hatte sich durch die Krönung auf ihn herabgesenkt, hatte ihn durchdrungen und zu einem anderen Menschen gemacht. Als solcher hatte er sich in Wesenseinheit mit dem Sonnengott gewusst, ‚ als ob Re (selber) in ihm König wäre ‘ . [Urk. IV, S. 1246, 12. = Aussage Thutmosis III.] Das Wirken und Handeln der Pharaonen ist nirgends aus bloß äußeren Veranlassungen zu verstehen, wo man etwa durch die Sakramentalmagie vor Ritualen eine im Amt begründete Gottähnlichkeit herstellte, dergleichen wäre absurd; sie sind Menschen, deren Wesen so von sonnengöttlicher Substanz durchdrungen war, dass sie die Kultur Ägyptens schöpferisch gestalten konnten. (Teichmann ebd., S. 125) Einen weiteren Hinweis darauf, dass die höchste Einweihung ausschließlich dem König vorbehalten war, kann man in der unterschiedlichen Ausstattung der königlichen und der Adelsgräber erblicken. In den letzteren wurden die oberen, öffentlich zugänglichen Räume mit Bildern des Alltagslebens versehen, die tief im Felsen liegende Sargkammer hingegen, zu der ein enger Schacht hinunterführt, wurde einfach zugeschüttet und endgültig verschlos- 194 Bereits Aristoteles hatte die Vorstellung eines göttlichen „ Gliedes “ der menschlichen Wesenheit. Im Zuge der Frage nach der Natur des Glücks stellte er in der Nikomachischen Ethik fest: „ Wenn das Glück ein Tätigsein im Sinne der Trefflichkeit ist, so darf darunter mit gutem Grund die höchste Trefflichkeit verstanden werden: das aber kann nur die der obersten Kraft in uns sein. Mag nun der Geist oder etwas anderes diese Kraft sein, die man sich gewiss als wesenhaft herrschend, führend, auf edle und göttliche Gegenstände gerichtet vorstellt - mag diese Kraft selbst auch göttlich oder von dem, was in uns ist, das göttlichste Element sein - das Wirken dieser Kraft gemäß der ihre eigentümlichen Trefflichkeit ist das vollendet Glück. “ (1177a15 - 1177a16, in Aristoteles 1994, S. 287f.). Diese höchste Glück ist für Aristoteles das „ geistige Schauen “ , denn: „ Und doch ist es eine allgemeine Annahme, dass die Götter leben und folglich auch, dass sie wirken. Denn man kann sich nicht denken, dass sie schlafen wie Endymion. Wenn man nun aber einem lebenden Wesen das Handeln und mehr noch das Hervorbringen nimmt [was man, wie er früher bewiesen hat, in Bezug auf die Götter tun muss], was bleibt dann anderes übrig als die reine Schau [theoria]? So muss denn das Wirken der Gottheit, ausgezeichnet durch höchste Seligkeit, ein reines Schauen sein. Und folglich hat jenes menschliche Tun, das dem Wirken der Gottheit am nächsten kommt, am meisten vom Wesen des Glücks in sich “ (1178b17 - 1178b27, in Aristoteles ebd., S. 293). 1036 9 Neue Sicht der alten Geschichte sen. In den Königsgräbern indessen gab es keine oberirdischen Räume; vielmehr führten enge Gänge über steile Stufen durch mancherlei Räume hindurch tief in den Berg bis zur Sargkammer, die gewöhnlich ein großer, hallenartiger Raum war. Auch in diesem Raum wurden alle Wände mit Bildern bedeckt, allerdings begegnet man dort keinen Szenen des (königlichen) Alltags, sondern Bildern von Göttern, die den König empfangen, ihn geleiten, beschützen und mit Wohltaten begaben, ferner Bilder des Königs, der diese Götter anbetet, ihnen Opfergaben darbringt, heilige Handlungen für sie vollzieht, Sprüche rezitiert, und sich schließlich in ihre Gemeinschaft einreiht (vgl. Teichmann ebd., S. 47f.). Das lässt vermuten, dass sich in der altägyptischen Vorstellung das nachtodliche Leben des Königs weit von dem eines Adeligen, geschweige dem eines einfachen Bürgers unterschied. Da der ägyptische Herrscher anders als die mittelalterlichen Könige seine herausragende Stellung nicht der Abstammung, sondern der Erwählung durch die Gottheit verdankt, ist der Schluss plausibel, dass eine solche Einweihung lediglich dem König zugänglich war. Nur er durfte schon zu Lebzeiten die Gesellschaft der Götter genießen. Zweifel an dieser Auffassung entstehen allerdings aufgrund folgender Überlegung: Die Einweihung eines Anwärters setzt die Anwesenheit von Personen voraus, welche die vermutlich sehr komplexen Vorgänge kompetent leiten konnten. Wie konnte man aber die dazu nötige Kompetenz anders als eben durch die Einweihung erlangen? Wenn aber Eingeweihte die Einweihungsprozeduren begleiten mussten und wenn wir ferner annehmen, dass nur der Pharao den höchsten Grad der Einweihung erlangen konnte, so würde daraus folgen, dass nur der Pharao seinen Nachfolger einweihen durfte. Plausibler scheint da, dass der König durch gewisse Zeremonien bzw. Rituale Initiation erlangte, und diese wurden wiederum von Personen überwacht (höchstwahrscheinlich hohe Priester), die selbst initiiert waren. Vielleicht war also der Kreis der Eingeweihten doch etwas größer. Allerdings gibt es keine Urkunden, die diese Vermutung belegen. Es ist deshalb weise Vorsicht, die Teichmann dazu bewegt, wenn er von ägyptischen Eingeweihten und nicht ausschließlich vom König spricht und schreibt. „ Während seines Mysterienweges konnte der ägyptische Eingeweihte eine Entwicklungsstufe erreichen, die ihn wie einen Gott unter Göttern erscheinen ließ “ (Teichmann ebd., S. 246, vgl. auch oben). Mindestens ein weiterer Umstand spricht gegen eine exklusive Einweihung des Königs. Während sich die Ritualtexte des dem Alten Reich zuzuordnenden Ägyptischen Totenbuchs einzig auf den (verstorbenen) König beziehen, der zur Würde des Gottes Osiris erhoben wird, findet im Laufe der 18. Dynastie (1550 - 1292 v. Chr.) und vor allem seit der Zeit von Tutmosis II. (1493 - 1479) eine Art Demokratisierung der Bestattungsrituale statt. Der Kreis der im nachtodlichen Leben privilegierten Personen erweitert sich innerhalb einer recht kurzen Zeit auf zahlreiche 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1037 Hofdignitare. 195 Dies mag ein indirekter Hinweis darauf sein, dass auch diese Würdenträger nun zur Einweihung zugelassen wurden. Das Totenbuch der Ägypter Die bekannteste Quelle für den ägyptischen „ Mysterienkult “ ist das Ägyptische Totenbuch bzw. das Totenbuch der Ägypter (so der Titel der modernen Übersetzung von Erik Hornung [Hornung 2004]), eine Sammlung von Inschriften, die an den Wänden einiger altägyptischer Gräber, auf Sarkophagen oder auf Papyrusrollen gefunden wurden. Diese Inschriften beschreiben Riten des „ Übergangs “ der menschlichen Seele von der irdischen Existenz in das Leben nach dem Tod und stellen recht detailliert dar, was die Seele des Verstorbenen im Jenseits erwartet und was sie unternehmen soll, um ihr Überleben in der Welt der Toten zu gewährleisten. Dies ist nicht der Ort, uns auf eine detaillierte Untersuchung dieser Texte einzulassen, aber eine Frage muss für uns von Bedeutung sein: Woher haben die alten Ägypter ihre Vorstellungen über den Übergang und das Leben nach dem Tod genommen? Eine mögliche Antwort auf diese Frage wäre, dass sie Produkte einer lebhaften Vorstellungskraft waren, die sich über Jahrhunderte entwickelten oder ansammelten und zur Zeit des Neuen Reiches ihren endgültigen Komplexitätsgrad erreichten. Oder um es direkter zu formulieren: Wenn man will, dass die Leute für die Durchführung von Bestattungsriten bezahlen, muss man sicherstellen, dass sie das Gefühl haben, dass sie etwas Wertvolles dafür bekommen. Folglich macht es Sinn, eine Geschichte zu entwickeln, die die Anwesenheit und Aktivität eines gut qualifizierten und folglich gut bezahlten (und hoch angesehenen) Priesters rechtfertigt. Diese Denkweise wird es allerdings schwer haben, die Tatsache zu erklären, dass der Inhalt des Totenbuchs der Ägypter in sehr aufwendiger und komplexer Form bereits in den ältesten uns bekannten Quellen vorhanden war. Wie Wallis Budge im Vorwort zu seiner berühmten Übersetzung der sog. thebanischen Rezension des Totenbuchs der Ägypter feststellte, war dieser Text „ old even in the reign of Semti, a king of the First Dynasty, and was, moreover, so long at that time as to need abbreviation [. . .] “ (Budge 1986, S. xvi). 196 Budge weist ebenfalls darauf hin, dass der Text des Totenbuchs mit der Zeit nicht länger und komplexer, sondern im Gegenteil zunehmend abgekürzt wurde und dass man den Eindruck gewinnt, dass die späteren Schriftgelehrten und/ 195 Mündliche Mitteilung von Dr. Faried Adrom, Ägyptologie, Abteilung Altertumswissenschaften, Philosophisch-Historische Fakultät der Universität Basel, 12. 12. 2013. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass einige der Bilder im jüngst entdeckten Grab des „ Vorstehers der Bierproduktion “ unter Amenhotep III. (1386 - 1349 v. Chr.) ganz dem Bildprogramm eines Königs entsprechen. Vgl. http: / / www.bbc.co.uk/ news/ world-middle-east - 25593526 (heruntergeladen am 4. 1. 2014). 196 Die erste Dynastie herrschte von ca. 3050 - 2890 v. Chr. Aus früherer Zeit sind keine bedeutenden Dokumente erhalten. 1038 9 Neue Sicht der alten Geschichte oder Kalligraphen (bereits zur Zeit der 18. Dynastie, also 1550 - 1292 v. Chr.) die Bedeutung des Textes nicht mehr vollständig verstanden (ebd., S. xlviii f.). Wenn das Totenbuch der Ägypter aber in dynastischer Zeit alt und komplex war, ist der These kaum Glauben zu schenken, dass es eine Ansammlung von cleveren Ideen darstellt, die Generationen von schlauen Priester zum eigenen Vorteil angesammelt haben. Betrachten wir nun eines der ersten Ereignisse, die im Totenbuch der Ägypter dargestellt werden (Abb. 11). Es handelt sich um eine Gerichtsszene. Darin wird über den Verstorbenen ein Urteil gefällt wird, indem die guten Taten gegen die schlechten aufgewogen werden: Abb. 11: Das Wiegen des Herzens, in: Budge 1986, S. 23. (Abgedruckt mit Genehmigung von Taylor & Francis Group) Sie sehen als Zweiten von links auf der untersten Ebene den Verstorbenen, gefolgt von seiner Frau. Der Tote ist Ani, ein Schreiber am Hof des Pharao. Er betritt die Halle des Gerichts. Über ihm befindet sich eine Reihe von auf Thronen sitzenden Gottheiten, die an der Urteilszeremonie teilnehmen werden. Was aber aus unserer Sicht wichtiger ist, ist das Bild von der Waage in der Mitte mit einer Reihe von Figuren in ihrer Nähe und einer auf ihrer Spitze. Die große kniende Figur (mit dem Schakal-Kopf) zeigt Gott Anubis, der die Zunge der Waage überprüft. Gegenüber Anubis befindet sich eine Figur, welche Anis Glück darstellt, und direkt darüber eine Art Schachtel mit einem menschlichen Kopf, die vermutlich Anis Geburtsort darstellt. Zwei Figuren links von Anis „ Glück “ befinden sich die Göttinnen Meshkenet und Renenet, die Geburt, Geburtsort und frühe Bildung verkörpern. Die Figur rechts oberhalb der beiden Göttinnen repräsentiert die Seele von Ani in Form 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1039 eines Vogels mit menschlichem Kopf, der auf einem Pylon steht. Auf der rechten Seite von Anubis befindet sich der ibisköpfige Thoth. Er ist der Schreiber der Götter und der Vermittler zwischen Gut und Böse. Hinter ihm steht ein Ungeheuer, das den Namen Amam, „ der Verschlinger “ , oder Ammit, „ der Esser der Toten “ , trägt. Die Komplexität und Raffinesse der Urteilsszene ist, so viel lässt sich schon zu diesem Zeitpunkt sagen, erstaunlich: Sie schließt nicht nur eine Vielzahl von Gottheiten ein, die jeweils spezifische Funktionen erfüllen, sondern sie enthält auch Spuren von solch komplexen Ideen wie Vererbung und Erziehung (oder in modernen psychologischen Begriffen „ nature und nurture “ ) sowie (möglicherweise) die eines Karma, eines Einflusses des früheren Leben auf den Schicksalslauf in der letzten Verkörperung (in Gestalt des „ Glücks “ der verstorbenen Person). All diese Faktoren sind bei der Urteilsfällung zu berücksichtigen. Von besonderem Interesse für unseren Zusammenhang ist nun aber das mittlere Bild. Was wird auf der Waage gewogen? Dazu die folgende Detaildarstellung: Abb. 12: Das Wiegen des Herzens: Detail. Auf der linken Skala ist ein kleiner Behälter zu sehen, in dem das Herz des Verstorbenen aufbewahrt ist, auf der rechten eine Straußenfeder. Die Feder ist das wichtigste Attribut von Ma ’ at, der Göttin der Wahrheit und Gerechtig- 1040 9 Neue Sicht der alten Geschichte keit. Nun werden Sie den Namen der ganzen Zeremonie verstehen: das Wiegen des Herzens. Was ausgeglichen wird, sind nicht die guten Taten des Verstorbenen gegen die bösen, sondern das Herz der Person gegen die Feder der Gerechtigkeit und der Wahrheit. Was für ein erstaunliches Bild! Zunächst einmal es ist bemerkenswert, dass das Herz und nicht der Kopf als der Sitz der Vernunft, Erkenntnis und Einsicht galt (Brunner 1977, S. 1158f.). Daraus ergibt sich allerdings die Merkwürdigkeit, dass das Herz leichter als eine Feder (die Gerechtigkeit) sein musste, wenn die Seele des Verstorbenen die Prüfung bestehen sollte. Diese Idee ist sicherlich kontraintuitiv, denn im Sinne der oben skizzierten Geschichte würden wir erwarten, dass das Gute der Person schwerer als das Böse wiegt. Es ist hier nicht der Ort, mögliche Begründung für diese Vorstellung zu diskutieren; für unsere Zwecke genügt es, zu sehen, dass ein solches Bild kaum eine Folge der spekulativen Träumereien von Priestern sein kann, die nach Wegen suchen, um Kunden für ihre Dienste zu gewinnen. Ebenso unwahrscheinlich ist das Schicksal der Seele, die das Urteil nicht bestanden hat. Die ägyptische Vorstellung war nicht die, dass sie in die ewige Verdammnis in die Hölle geworfen wurde. Sie wird vielmehr von Ammit verschlungen und so für immer vernichtet! Im Fortgang des Totenbuchs stößt man auf eine Reihe von weiteren markanten und kontraintuitiven Bildern. Einige dieser „ Sprüche “ möchte ich zitieren: „ Spruch 2: Spruch, am Tag herauszugehen und zu leben nach dem Sterben “ (Hornung 2004, S. 45); „ Spruch 21: Spruch, um dem NN den Mund zurückzugeben im Totenreich “ (ebd., S. 84); „ Spruch 26: Spruch, um das Herz dem NN (zurück) zu geben im Totenreich “ (ebd., S. 89), „ Spruch 27: Spruch, zu verhindern, dass das Herz des NN ihm fortgenommen wird im Totenreich “ (ebd., S. 91); „ Spruch 31: Spruch, um das Krokodil zu vertreiben, das herankommt, um den Zauber des NN von ihm fortzunehmen im Totenreich “ (ebd., S. 98); „ Spruch 33: Spruch, um jegliche Schlange zu vertreiben durch den NN (im Totenreich) “ (ebd., S. 101); „ Spruch 44: Spruch, nicht noch einmal zu sterben im Totenreich “ (ebd., S. 119); „ Spruch 61: Spruch, zu verhindern, dass der Ba eines Mannes ihm geraubt wird im Totenreich “ (ebd., S. 131). Diese Titel suggerieren keineswegs eine willkürliche Sammlung von pfiffigen Ideen, sondern vielmehr eine genaue Beschreibung einer äußerst komplexen und präzise geschilderten Reise durch die Unterwelt, einer Reise voller Schwierigkeiten und Gefahren. Eigentlich ist bereits der Name dieser Sammlung von Texten eine Herausforderung für unsere rationalen Erwartungen. Der Titel Das Totenbuch der Ägypter ist eine bequeme Fiktion, die unserem ratlosen Verstand entgegenkommt. Die wörtliche Übersetzung aus dem Altägyptischen lautet dagegen in etwa: „ Kapitel über Herauskommen am Tage “ (Budge ebd., S. xxiii). Was sollte durch diese Wortwahl vermittelt werden? Der Inhalt des Totenbuches wird noch weniger als ein Ergebnis des Zusammenstöpselns cleverer Ideen von verschiedenen Priestern erscheinen, wenn man berücksichtigt, dass es trotz verschiedener Änderungen und 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1041 Emendationen im Laufe der fast 3000 Jahre zwischen der ersten Dynastie des Alten Reiches und der christlichen Ära in seinem Kern überraschend stabil geblieben ist (ebd., S. xxxvi, liv f.). Das ist wirklich bemerkenswert, denn wir wissen, dass Werke der Fiktion kommen und gehen mit dem sich ändernden Geschmack der Zielgruppen. Wer würde sich heute damit plagen, Dante, Chaucer, Bunyan, Milton oder Defoe zu lesen? Es gibt sicherlich einige Spezialisten, die das tun, aber die breite Öffentlichkeit interessiert sich kaum mehr für sie, geschweige, dass sie sie als „ Vademecum “ durchs Leben betrachtet. (Shakespeare ist hier eine offensichtliche und seltene Ausnahme, aber selbst er ist von uns nur durch vierhundert Jahre getrennt.) Wenn aber dieses bemerkenswerte Dokument keine Zusammenstellung von Fantasien von Generationen von Priestern ist, wie ist es dann entstanden? Interessanterweise rätseln heutige Gelehrte darüber noch ebenso wie Wallis Budge in seiner Zeit. Diese Unsicherheit ist verständlich, wenn man berücksichtigt, dass die einfachste Erklärung nicht einmal berücksichtigt wird, nämlich die Möglichkeit, dass sie auf mehr oder weniger wahrhaftigen Einblicken in die geistige Welt beruhen. Lewis wies darauf hin, dass „ [t] he belief in the possibility of communication with the spirit world has been held in most of the societies about which we have records “ (Lewis 2003, S. 94). Ist es nicht möglich, dass sich dieser anhaltende Glaube auf Realität stützt? Diese Möglichkeit wird von den heutigen Gelehrten nicht ernsthaft in Betracht gezogen, weil es in unserem tief materialistischen Zeitalter absurd scheint, über die geistige Welt als Realität zu sprechen, und noch absurder, darüber im Sinne einer konkreten Welt von Wesen und Ereignissen zu denken. Doch wir befinden uns an einem „ religiösen Wendepunkt “ (Manoussakis und Panteleimon [Hrsg.] 2006). Die Hoffnung von Generationen von materialistischen Denkern, dass sich die Schwaden des „ Opiums für das Volk “ durch den frischen Wind des wissenschaftlichen Fortschritts verziehen werden, ist inzwischen von der realen Entwicklung überholt. Immer mehr Menschen berichten, dass siereligiöse oder mystische Erfahrungen haben. Während es im Jahr 1962 nur etwa 22 % der Erwachsenen in den USA waren, stieg ihre Zahl im Jahr 2009 auf 48 % (Pew Forum 2009, S. 12). Vielleicht wird eine solche „ klimatische “ Veränderung dazu beitragen, die Vorstellung ernst zu nehmen, dass die geistige Welt eine Realität ist, die von realen Wesen „ bevölkert “ ist, die wirklichen Taten ausführen. Hatte die Vorzeit Einsicht in die Welt des Geistes? Spuren der Kommunikation mit der geistigen Welt Die Realität der geistigen Welt mit ihren Wesen und ihren Taten vorausgesetzt, fragt sich natürlich, wie man Einblick in sie erlangen konnte. Die Moderne hat diese Möglichkeit pauschal zurückgewiesen. Aber selbst das tief religiöse Mittelalter hat mit der Lehre von den zwei Erkenntnisarten einen Riegel vor ein solches Wissen geschoben. Thomas von Aquin unterschied eine 1042 9 Neue Sicht der alten Geschichte natürliche Erkenntnis (Wissen), die sich auf die Tatsachen der Naturwelt bezieht und der menschlichen Vernunft zugänglich ist, von einer offenbarten (Glauben), die sich auf spirituelle Wahrheiten (die Wahrheiten der Heiligen Schrift) bezieht und den Menschen durch göttliche Gnade zuteilwird. 197 Die Behauptung, menschliche Erkenntnisfähigkeit sei notwendigerweise begrenzt, 198 kann man mit dem Hinweis bezweifeln, dass es im Mittelalter absurd schien zu behaupten, dass man Zellen, subzelluläre Strukturen oder Moleküle wie auch entfernte Galaxien und Planeten beobachten kann, während dies für uns wissenschaftliche Selbstverständlichkeiten sind. Was im Mittelalter nur dem „ Glauben “ zugänglich schien, kann also sehr wohl später der Vernunft zugänglich werden. Allerdings liegt die Sache im Fall der ägyptischen Mysterien anders. Während es plausibel scheint zu behaupten, dass die kognitiven Fähigkeiten des Menschen der Verfeinerung zugänglich sind, fordern uns jene zur gegenteiligen Annahme heraus, dass eine Fähigkeit im Laufe der Geschichte verkümmert ist. So ist ziemlich sicher, dass die alten Griechen keine genauen Kenntnisse über das Schicksal der menschlichen Seele nach dem Tod (mehr) hatten, wie sie das ägyptische Totenbuch bezeugt. Die Anweisungen in Bezug auf das Leben im Jenseits, die z. B. auf die Goldblättchen geschrieben wurden, sind jedenfalls, wie wir gesehen haben, ziemlich allgemein und detailarm gehalten. Diese Schwierigkeit wiederum ist in unserer am Anfang dieses Kapitels bereits erwähnten tiefen Überzeugung verankert, dass die Evolution der menschlichen Spezies eine progressive Entwicklung von dem primitiven Zustand unseres Vorfahren Australopithecus africanus über Homo habilis, Homo erectus, Homo neanderthalensis zum Homo sapiens sei und dass diese Entwicklung im Zusammenhang mit der Zunahme der Gehirngröße oder wenigstens der Größe des Gehirns bezogen auf die Masse des gesamten Körpers stehe. Mit dieser Entwicklung, so die geltende Meinung, hängt die allmähliche Steigerung der menschlichen kognitiven Fähigkeiten bis heute zusammen. Innerhalb einer solchen Geschichte gibt es einfach keinen Platz für überlegene kognitiven Fähigkeiten unserer Vorfahren. Aber wir leben in postmodernen Zeiten, in der wir die „ Metaerzählungen “ (Lyotard 1999, S. 13, 54) der Vergangenheit mit Vorsicht genießen sollten, und so ist es vielleicht gerechtfertigt, dass man auch ein wenig Abstand zu dieser besonderen Metaerzählung gewinnt. 199 197 „ It was necessary for man ’ s salvation that there should be a knowledge revealed by God besides philosophical science built up by human reason. “ Thomas Aquinas: Summa Theologica, First Part. Treatise on Sacred Doctrine, Question 1(http: / / www.ccel.org/ ccel/ aquinas/ summa.html, heruntergeladen am 11. 12. 2013). 198 Eine Behauptung, die bekanntlich im 18. Jahrhundert von Immanuel Kant erneuert und bekräftigt wurde. 199 Lyotard verwendete den Begriff „ Metaerzählungen “ , um alte philosophische, vor allem metaphysische Systeme zu bezeichnen, und kontrastiert diese mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ich meine aber, es ist zulässig, seine Verwendung des Begriffs zu 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1043 Die Nahtoderfahrungen (NTE) und der Einblick in die Welt des Geistes Müssen unsere kognitiven Fähigkeiten mit unserem Gehirn und seiner Größe zusammenhängen und von ihm bzw. ihr abhängig sein? Ich habe bereits im Exkurs „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ dargelegt, dass wir auch ohne die wesentliche Teile des Gehirns wie z. B. nach einer Hemisphärektomie oder in extremen Fällen der Hydrocephalie, oder sogar gänzlich ohne Gehirnfunktion wie bei Nahtoderfahrungen Bewusstsein, ja sogar erweitertes Bewusstsein haben können. Wenn man bereit ist, die materialistischen Annahmen der Gegenwart aufzugeben, wird die geistige Welt wie selbstverständlich als der Ort erscheinen, zu welchem der Mensch nach dem Tod gelangt, und fast ebenso selbstverständlich als der Ort, aus welchem er in seine irdische Existenz geboren wird. Es wird ferner recht offensichtlich sein, dass „ tote “ Menschen Bewusstsein ihrer Existenz in der geistigen Welt nach dem Tod haben. Die Erzählungen von dem, was mit dem Menschen passiert, nachdem seine Seele den Körper verlassen hat, sind in allen Kulturen so weit verbreitet, dass es kaum Sinn macht, ihre grundsätzliche Adäquatheit - zumindest in allgemeinen Umrissen - in Frage zu stellen. So scheint es, dass wir hier mit einem Rätsel zu tun haben: Während seiner physischen Existenz hat der Mensch keine konkreten Wahrnehmungen der übersinnlichen Welt, 200 nach seinem Tode aber doch. Um Bewusstsein von der jenseitigen Welt des Geistes zu gewinnen, muss man folglich dem Tod so nah wie möglich kommen. Und dann wird man auch fähig, die sog. Nahtoderfahrungen mit anderen Augen zu sehen. Plötzlich wird die Existenz solcher Erfahrungen nur natürlich und logisch. Und dennoch bleibt einer gewisse Schwierigkeit bestehen. Was die Menschen berichten, welche durch solche Erfahrungen gegangen sind, wird sicherlich subjektiv als sehr wichtig erlebt und verändert oft radikal ihr Leben, aber es sagt uns eigentlich nicht viel über die Welt des Geistes. Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, beinhalten diese Erfahrungen meist einen Durchgang durch einen Tunnel. Dann sieht man den eigenen Körper von außen umgeben, von einem Reanimationsteam, den Chirurgen, die eine Operation durchführen usw., dann folgt die Begegnung mit einem Lichtwesen, eine Art Panoramablick auf das eigene vergangene Leben, ein Treffen mit anderen spirituellen Wesen oder sehr oft mit einem oder mehreren verstorbenen Verwandten. Aber dann steht man vor einer Art Grenze, vernimmt ein Verbot, weiterzugehen, oder hört Wesen, die zur Rückkehr in den Körper auffordern, woraufhin man schließlich wieder das Bewusstsein erlangt und sich im eigenen Leib vorfindet (vgl. Moody 1975). Zwar gewinnt erweitern und zumindest einige, besonders umfassende wissenschaftliche Theorien ebenfalls unter diesem Begriff zu subsumieren. 200 Man kann dennoch Ahnungen oder Lichtblitze von ihr oder auch die oben erwähnten „ religiösen oder mystischen Erfahrungen “ haben. 1044 9 Neue Sicht der alten Geschichte man so die Gewissheit, dass eine geistige Welt existiert, und diese Erfahrung ist existenziell bedeutsam, aber darüber hinaus bleibt diese Welt im Dunkeln. 201 Wenn dies alles wäre, was man zu erkennen erhoffen darf, waren die Geschichten des Ägyptischen Totenbuches Erfindungen und Fantasien. Wenn sie aber irgendwelchen Realitäten entsprechen sollten, müsste man tiefer in die übersinnliche Wirklichkeit eindringen können, als dies bei den Nahtoderfahrungen möglich ist. Die Frage ist: Wie? Die gesellschaftliche Stellung der Einweihungserlebnisse in alten Kulturen. Die Cheops-Pyramide, das Newgrange in Irland, das Hypogäum von Ħ al-Saflieni auf Malta Unsere bisherige Diskussion der ägyptischen Einweihungspraktiken und der griechischen Mysterien konnte den Eindruck erwecken, dass es sich bei der Einweihung um ein „ Privatvergnügen “ Einzelner handelte, die um ihr Wohlergehen nach dem Tod besorgt waren. Es ist sofort nachvollziehbar, dass eine solche Erfahrung auch für das hiesige Leben von einschneidender Bedeutung gewesen sein musste. Hatte die Initiation aber auch gesellschaftliche „ Relevanz “ , eine Bedeutung für das soziale Umfeld des Initiierten? Diese Annahme liegt zumindest nahe, wenn man den Aufwand an Zeit, Arbeit und Ressourcen bedenkt, den die alten Kulturen bereit waren in angemessene Bauten zu investieren. Die bisherigen Betrachtungen haben womöglich die Vorstellung erweckt, dass die Einweihungspraktiken einfach in den entsprechenden Tempeln durchgeführt wurden, z. B. in der Tempelanlage zu Eleusis oder in dem einen oder anderen der zahlreichen Tempel rund um das heutige Luxor. Man wird eventuell auch zu der Meinung neigen, dass solche Einweihungspraktiken eine Art Nebenbeschäftigung der Tempel bildeten. Diese seien vor allem Kultstätten, die der Ausübung der Rituale und der Verehrung der Gottheiten dienten. Diese Vorstellung wird jedoch durch einige besonders imposante Bauten der alten Kulturen in Frage gestellt. Die Errungenschaften der vergangenen Zeiten üben eine starke Faszination auf die Gegenwart aus. Die Warteschlangen zu den wichtigsten Museen der Welt werden von Tag zu Tag länger, und unzählige Touristen strömen zu den Zentren der vergangenen Kulturen wie die Akropolis in Athen, Angkor Thom in Kambodscha oder Machu Picchu in Peru. Unter den zahlreichen Denkmälern vergangener Herrlichkeit stechen vielleicht drei heraus: die Große Pyramide von Giseh, das Newgrange-Komplex in der Nähe von Dublin, und das Hypogäum in Paola, in der Nähe von Valetta auf Malta. Es ist nicht zu leugnen, dass diese Strukturen mit enormen Aufwand an sozialen und materiellen Ressourcen errichtet wurden. Der Aufwand, der für 201 Die Erfahrungen von George Ritchie und Eben Alexander (vgl. das Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ ) bilden hier eine Ausnahme. Aber auch sie berichten von einer Welt, die der hiesigen erstaunlich ähnlich ist. Sind diese Berichte vertrauenswürdig? 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1045 den Bau dieser Denkmäler betrieben wurde, ist gemessen an den Mitteln und technischen Möglichkeiten, die den jeweiligen Gesellschaften zur Verfügung standen, gewiss vergleichbar mit der Errichtung einer ganzen Stadt von Wolkenkratzern von der Dimension des Burj-Khalifa-Hochhauses von Dubai. 202 So muss die Frage gestellt werden, welchem außergewöhnlichen Zweck diese atemberaubende Monumente dienten, dass in ihnen so viel investiert wurde. Jedes Kind lernt in der Schule, dass die Pyramiden von Giseh Gräber der Herrscher des alten Ägyptens waren. Auch das Hypogäum soll eine Grabanlage gewesen sein, schließlich wurden dort die Überreste von nicht weniger als 7000 Menschen gefunden. Newgrange war nach überwiegender Meinung ein „ Ganggrab “ , d. h. ein Grab, in dem die eigentliche Grabkammer über einen ziemlich langen Durchgang erreicht wird. Aber waren diese monumentale Bauten tatsächlich Gräber? Sobald man die Bauten mit Augen erforscht, die durch die vorherrschenden Theorien über ihre Funktion ungetrübt sind, entdeckt man eine Reihe von Eigenschaften, die zumindest rätselhaft erscheinen. Da ich nicht davon ausgehen kann, dass alle Leser dieser Zeilen mit den Monumenten vertraut sind, möchte ich Sie zu einer kleinen virtuellen Führung durch diese Bauten einladen, so dass ich auf ein paar Details ihrer inneren Konstruktion hinweisen kann, die eine andere Sprache als die eines Friedhofs zu sprechen scheinen. 203 Die Rätsel der Cheops-Pyramide Lassen Sie mich mit der Großen Pyramide anfangen. Sie betreten sie durch einen Eingang, der im 9. Jahrhundert eingebaut wurde und vermutlich nicht dem ursprünglichen entspricht (vgl. „ Eingang “ und „ Gewaltsam aufgebrochener heutiger Eingang “ in Abb. 13 unten). Das Herz der Pyramide ist der sogenannte Königskammer, wo sich der große Granitsarkophag befindet (Abmessungen: 2,28 m [Länge] x 0,98 m [Breite] x 1,04 m [Höhe]), der die Mumie von König Cheops enthalten haben soll. Es soll an dieser Stelle vermerkt werden, dass es keinen Deckel auf dem Sarkophag gibt, und keiner ist jemals gefunden worden. Der Zugang zu dieser Kammer ist überraschenderweise nicht nur sehr lang (ursprünglich führte sogar die erste Strecke dieses Ganges unerklärlicherweise nach unten, vgl. Abb. 13), sondern besonders am Anfang des Weges äußerst eng und beschwerlich. Immerhin musste durch ihn die Mumie des Königs und alle 202 Der Leiter der Ausgräbungen in NewgrangeO ’ Kelly schätzt, dass die Erbauer dieses Monumentes etwa 30 Jahren oder mehr brauchten, um es zu konstruieren (O ’ Kelly 1998, S. 118). 203 Es gibt viel mehr faszinierende Merkmale beider Denkmäler, als ich sie hier behandeln kann. Ich möchte im Folgenden die Aufmerksamkeit des Lesers aber lediglich auf eine Handvoll Eigentümlichkeiten lenken, die in unserem Zusammenhang relevant sind. 1046 9 Neue Sicht der alten Geschichte Gegenstände, die die Mumie ins Jenseits begleiten sollten, wie auch Dutzende von Priestern und Trägern gelangen. Nach einer kurzen Passage durch einen eher schmalen Korridor befinden Sie sich in einer etwas größeren Originalpassage, die ziemlich steil nach oben aufsteigt (vgl. den aufwärtsführenden Gang, Abb. 13). Diese Passage ist immerhin noch so eng und niedrig, dass Sie sich etwas bücken müssen, um nicht mit dem Kopf gegen die niedrige Decke zu stoßen, und insbesondere zu schmal für den Sarkophag. Überhaupt: Wie konnte eine würdige Bestattungsprozession in solcher Enge stattfinden? Abb. 13: Die Cheops Pyramide, in: Goyon 1990, S. 174. Daraus folgt, dass der Granitsarkophag bereits während des Baus, als die Pyramide noch „ offen “ war, an seinem Bestimmungsort platziert worden sein musste. Dies ist durchaus eine plausible Idee, aber die Passage ist selbst für den Holzsarg mit der Mumie des Pharaos kaum weit genug. Es ist bekannt, dass die Mumie nicht in einem, sondern in einer ganzen Reihe von Holzsärgen enthalten war, wobei das Ganze ein bisschen wie die russische Babuschka konstruiert war. Das wohl berühmteste Beispiel für diese Anordnung sind die Särge, in welche die Mumie von Tutenchamun gelegt wurde. Diese ganze „ Garnitur “ von Särgen wurde dann in einem Steinsarkophag 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1047 platziert, der mit einem Steindeckel abgedeckt wurde. Trotz der Passgenauigkeit der einzelnen Holzsärge ist der letzte im Falle von Tutenchamun über einen Meter breit, was bedeutet, dass der Transport zumindest des größten Holzsarges durch den genannten schmalen Durchgang sehr schwierig oder sogar einfach unmöglich war. Es scheint aber nicht sinnvoll anzunehmen, dass auch diese Särge in die Königskammer transportiert wurden, während die Pyramide gebaut wurde. 204 Selbst wenn man sich aber vorstellen wollte, dass die Mumie des verstorbenen Königs ohne Särge in die Königskammer getragen wurde, ist ein solches Vorgehen kaum mit der Breite der Gänge vereinbar. Diese lassen nämlich nicht zu, dass zwei Personen nebeneinander gingen. Man müsste sich also vorstellen, dass die Mumie auf eine Art Bahre zwischen lediglich zwei Personen, einer vorne und einer hinten, getragen wurde - eine wegen des Gewichts der Mumie recht anspruchsvolle und vor allem unedle Art, den großen König zu seiner letzten Ruhestätte zu befördern. Weitere Rätsel erwarten uns. Nach rund 30 Metern recht beschwerlichem Klettern entlang des schmalen und niedrigen Durchgangs erleben Sie einen Schock: Der enge Tunnel öffnet sich völlig unerwartet auf eine große Kammer oder Halle (s. Abb. 13). Heute ist diese Kammer, in der Regel Große Galerie genannt, durch elektrisches Licht beleuchtet, so dass Sie sofort ihre Größe erkennen können. Als die Pyramide gebaut wurde, musste es in ihr ziemlich dunkel gewesen sein. Fackeln, mit denen man sie vielleicht beleuchtete, konnten wegen des Sauerstoffmangelsnicht lange brennen. Die Ausmaße der Großen Galerie sind wirklich beeindruckend: Sie ist über 46 m lang, 8,5 m hoch und mehr als 2 m breit (Goyon ebd., S. 173f.). Diese Größe und insbesondere die Höhe sind für die Archäologen bis heute ein Rätsel (ebd., S. 174). Wie man der Abbildung 13 entnehmen kann, ist die Galerie steil nach oben geneigt (im Winkel von 26°, also wie der Gang, der zu ihr führt) und ihr Steinboden ist glatt poliert. Es wäre deshalb zu erwarten, dass einige Stufen in diese glatte Oberfläche geschnitten worden wären, um das Tragen der Mumie zu erleichtern, aber es gibt keine. Für die zahlreichen Touristen, welche heute die Pyramide besuchen, wurde eine Holzrampe auf dem Steinboden platziert, welche mit einigen Holzstufen oder vielmehr einfach dicken Holzschwellen versehen ist, damit die Füße leichter Halt finden. Es überrascht (vor allem, wenn man die reich verzierten Gräber im Tal der Könige vor Augen hat), dass es keine Dekorationen oder Beschriftungen an den Wänden oder der Decke der Galerie gibt. Die Wände sind völlig kahl und dunkel. Es gibt jedoch noch eine weitere architektonische Besonderheit der Großen Galerie, die sich einer einfachen Erklärung entzieht. Entlang der 204 Das hier geschilderte Problem setzt selbstverständlich voraus, dass die Bestattungsbräuche zur Zeit von Cheops und insbesondere der Brauch, die Mumie des Königs in ineinander verschachtelte Holzsärge zu legen, denen zur Zeit der Herrschaft Tutenchamuns ähnlich sahen. 1048 9 Neue Sicht der alten Geschichte gesamten Länge der beiden Wände laufen zwei Rampen, jede etwa 50 cm breit. Sie steigen im gleichen Winkel wie der Boden der Galerie auf. Es ist schwer zu verstehen, für welchen Zweck sie errichtet wurden, wenn man annimmt, dass die Große Galerie einfach einen prachtvollen Zugang zur Königskammer bildet. Man könnte sich zwar vorstellen, dass die Grabprozession eine „ Verschnaufpause “ in der Großen Galerie brauchte, nachdem sie die engen Passagen durchquerte, wir haben aber bereits gesehen, dass es kaum möglich ist, sich eine geordnete Prozession von Menschen mit Objekten in den engen Passagen vorzustellen, und überdies machen die Rampen, welche den Raum enger machen, das Verschnaufen schwierig. Darüber hinaus wurden entlang dieser Rampen Löcher gefunden (Goyon 1987, S. 175), 205 in die möglicherweise Gegenstände gestellt wurden, deren Zweck und Funktion uns allerdings völlig unbekannt ist. Wenn Sie bis zum Ende der Großen Galerie geklettert sind, sind Sie im Begriff, die Königskammer zu betreten. Doch bevor Sie das tun können, müssen Sie einen anderen unerklärlich schmalen und niedrigen Gang durchqueren. Er ist, wieder einmal, zu schmal, um durch ihn den Sarkophag in die Kammer zu tragen. Diese Tatsache verblasst jedoch zur Bedeutungslosigkeit, sobald Sie sehen, was sich hinter der schmalen Öffnung befindet. Wenn Sie durch den schmalen Eingang getreten sind, befinden Sie sich in einem kleinen Vorraum, der Reste einer eigenartigen Konstruktion bzw. Einrichtung enthält. Es scheint, dass dort ursprünglich ein System von Fallgittern mit drei massiven Granitplatten angebracht war, die auf Seilen angehoben oder abgesenkt werden konnten, so dass, wenn sie abgesenkt wurden, der Eingang zu der Königskammer völlig (und dreifach! ) blockiert war (vgl. Abb. 14). Diese Einrichtung wirft neue Fragen auf. Denn obwohl es verständlich ist, dass man den Eingang zur Königskammer blockieren wollte, nachdem die Mumie des toten Pharaos dort platziert wurde, wird nicht klar, warum sich die Erbauer der Pyramide die Mühe gegeben haben, ein (dreifaches) Tor zu der Kammer zu konstruieren, das nach oben und unten bewegt werden konnte (also nicht nur gesenkt, sondern auch angehoben werden konnte). Eine viel einfachere Methode, die ewige Ruhe der Mumie zu gewährleisten, wäre gewesen, einfach schwere Granitplatten im Eingang zu platzieren. Da die Ägypter bekanntermaßen fähig waren, riesige Granitblöcke aus dem Fels zu schlagen, sollten sie keine Schwierigkeiten bei der Herstellung eines solchen Granit- „ Stöpsels “ gehabt haben, der groß genug ist, um den Durchgang für immer zu blockieren. Aus unbestimmten Gründen hatten sie jedoch das Bedürfnis, den Eingang zur Königskammer mit einer „ Tür “ zu versehen, welche nicht nur geschlossen, sondern auch geöffnet werden konnte. Warum? 205 Vgl. Foto 37 auf der Website „ Journey Through the Cheops Pyramid “ (http: / / earthmilkancientenergy.com/ ch3.htm, heruntergeladen am 20. 11. 2014). 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1049 Abb. 14: Eingang zu der Königskammer, in: Goyon 1990, S. 176. Von diesem Vorraum geht ein sehr schmaler Gang ab (1,08 m x 1,05 m, vgl. Goyon ebd., S. 176.) Wie konnten die hölzernen Särge durch eine so schmale Öffnung in die Kammer getragen werden? Wenn man diese Hindernis überwunden hat, wird man mit einer weiteren Überraschung konfrontiert: Man befindet sich plötzlich in einem weiteren großen Raum (10,5 m lang, 5,2 m breit, 5,8 m hoch vgl. ebd., S. 177). Die Wände, der Boden und die Decke dieses Raumes sind aus Granitmonolithen, die aus einem Steinbruch in Assuan, etwa 966 km südlich von Giseh, auf dem Nil herbeigeschafft wurden. Wie in der Großen Galerie gibt es auch hier keine Inschriften oder Verzierungen an den Wänden oder der Decke der Kammer. Das einzige Objekt, das dort je gefunden wurde, ist der Sarkophag, der in einer Ecke der Kammer steht. Es steht offen, einen Deckel gibt es nicht. Doch was vielleicht noch rätselhafter ist, ist der Umstand, dass weder im Sarkophag noch in der Kammer je irgendwelche Gegenstände gefunden wurden: keine Mumie, keine Särge, kein Schatz. Es heißt, dass Al Mamun, ein Kalif von Kairo aus dem 9. Jahrhundert, der den neuen Eingang schlagen ließ und die erste Person war, die in der Neuzeit die Pyramide betrat, nichts in ihr vorfand. Um seine Arbeiter zu beschwichtigen, soll er in der Nacht einen „ Schatz “ in die Pyramide transportieren lassen haben (West 1987, S. 113). Sollen wir daraus schließen, dass antike Räuber Kenntnis von dem ursprünglichen Eingang zur Pyramide hatten und unbemerkt eindrangen, um sich der in ihr befindlichen Schätze zu bemächtigen? Dann gibt es einige andere rätselhafte Merkmale der Konstruktion der Kammer. Darunter sind zwei erst lang nach dem Betreten der Pyramide in der Neuzeit entdeckte, die für den gewöhnlichen Besucher überhaupt nicht 1050 9 Neue Sicht der alten Geschichte sichtbar sind. Das erste ist eine seltsame Konstruktion direkt über der Königskammer ( „ Entlastungskammern “ in Abb. 13), das zweite sind zwei Luftkanäle bzw. Schächte ( „ Belüftungsschacht “ in Abb. 13), welche die Pyramide in ganzer Länge durchqueren; sie enden direkt in der Königskammer, der eine führt direkt dorthin, der andere macht einen „ Umweg “ vorbei an der Großen Galerie. Abb. 15 ist eine detaillierte Ansicht der „ Entlastungskammern “ , Abb. 16 stellt den Verlauf der beiden Belüftungsschächte bei der Könnigskammer in Detail dar. Abb. 15: Entlastungskammern, in: Goyon 1990, S. 165. 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1051 Abb. 16: Der Verlauf der Belüftungsschächte bei der Königskammer, in: West 1987, S. 116. Wie Sie Abbildung 15 entnehmen können, gibt es oberhalb der Granitplatten, welche die Decke der Königskammer bilden, weitere vier Schichten von riesigen Granitblöcken, die übereinander platziert sind und durch eine Art dreieckigen Dachraum aus riesigen Kalksteinplatten gekrönt werden. Diese Struktur wird nach dem Entdecker Davidson-Kammer genannt. Davidson hatte bemerkt, dass oben ein Echo entsteht, wenn man in der Königskammer ruft. Die Gründe, warum eine solch komplexe Struktur erstellt wurde, sind unbekannt, es scheint aber geradezu absurd zu postulieren, dass ihre einzige Motivation darin bestand, die von Davidson bemerkte akustische Wirkung zu erzeugen. Eine Theorie geht dahin, dass diese Konstruktion den Druck von 1052 9 Neue Sicht der alten Geschichte den Schichten der Steine oberhalb der Königskammer auf die Decke mindern sollte. Zur Entlastung wären aber die schrägen Platten, welche an der Spitze der Struktur sichtbar sind, ausreichend gewesen. Außerdem verfügt die Königinnenkammer, die viel tiefer in der Pyramide als die Königskammer liegt und folglich viel größerer Last ausgesetzt ist, über keine entsprechende Entlastungsstruktur (vgl. Abb. 13). Die Decke dieser Kammer ist zwar schräg, um Entlastung zu garantieren, aber es fehlen die Schichten aus Granitplatten. Was könnte wiederum die Funktion der Luftschächte gewesen sein? Der zusätzliche Aufwand, der erforderlich war, um eine Schacht durch Dutzende von Schichten aus Steinblöcken zu schlagen, ist immerhin beträchtlich. Eine weit verbreitete Theorie besagt, dass diese Luftschächte der Versorgung der zahlreichen Arbeiter dienten, die mit der Herstellung und Ausgestaltung der Kammer beschäftigt waren. 206 Die Theorie wirkt zunächst plausibel, bei genauerem Hinschauen ergeben sich aber sofort Schwierigkeiten. Zum einen: Warum gibt es keine entsprechenden Luftschächte zur Großen Galerie? Schließlich ist sie viel größer als die Königskammer und es benötigte folglich mehr Arbeiter, sie herzustellen. Sie befindet sich auch nicht viel näher zum Eingang der Pyramide als die Königskammer, die natürliche Luftversorgung musste also auch hier mangelhaft gewesen sein. Ferner wurden der Boden, die Wände und die innere Ausgestaltung der Königskammer wohl fertiggestellt, bevor man die Kammer mit den Deckenplatten zuschloss und die oben erwähnte Davidson-Kammer errichtete. Diese Vorgehensweise ist sogar zwingend, wenn man berücksichtigt, dass die Steinplatten der Wände der Königskammer so groß sind (die Höhe ist gleich der Höhe der Kammer, also 5,8 m, Breite 2 m), dass sie unmöglich durch die schmale Tür in die Kammer und die schmalen Gänge, welche zur großen Galerie führen, hereingeschleppt werden konnten. Wennman jedoch davon ausgeht, dass die Königskammer mehr oder weniger fertig ausgestaltet und der große Granitsarkophag in sie gestellt wurde, bevor die Decke der Kammer gelegt wurde, dann entfällt selbstverständlich die Notwendigkeit, komplexe technische Maßnahmen zu ergreifen, um die Frischluftzufuhr für die Arbeiter sicherzustellen. Eine andere Theorie behauptet, dass diese Schächte als „ Auferstehungsmaschine “ für den toten König gedacht waren, damit seine Seele durch sie in den Himmel aufsteigen konnte. The Egyptians believed the dark area of the night sky around which the stars appear to revolve was the physical gateway into the heavens. One of the narrow shafts that extends from the main burial chamber through the entire body of the Great Pyramid points directly towards the centre of this part of the sky. This 206 Mündliche Mitteilung: Dr. Faried Adrom, Ägyptologie, Departement Altertumswissenschaften, Philosophisch-Historische Fakultät, Universität Basel, 12. 12. 2013. 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1053 suggests the pyramid may have been designed to serve as a means to magically launch the deceased pharaoh ’ s soul directly into the abode of the gods. 207 Es ist eine ziemlich seltsame Vorstellung, dass man eine Art Rohr für die Seele braucht, durch welches sie aus der Pyramide entkommen kann. Schließlich wird die Seele in der Regel als ein immaterielles Ding gedacht und als solches selbstverständlich mit der Fähigkeit ausgestattet, durch physische Hindernisse wie Türen oder auch dicke Wände hindurchzugehen. Auch aus einem weiteren Grund kann diese Hypothese nicht überzeugen. Wenn die Schächte dazu bestimmt waren, die Seele des Pharaos in den Himmel aufsteigen zu lassen, würde man erwarten, dass sie direkt über dem Sarkophag angebracht sind, so dass die Seele sie einfach finden kann, wenn sie den toten Körper verlässt. Aber die Öffnungen der Schächte befinden sich nicht über dem Sarkophag: Einer befindet sich in der (südlichen) Seitenwand der Königskammer, aber seltsamerweise etwa auf der Höhe der oberen Kante des Sarkophags, der andere in der gegenüberliegenden Wand neben dem Eingang zur Königskammer, ebenfalls auf der Höhe der oberen Kante des Sarkophag. Es ist dieser Belüftungsschacht, der auf den nördlichen Himmel ausgerichtet ist und damit - nach dieser Theorie - von der Seele des verstorbenen Königs genutzt wurde, um den „ Wohnsitz der Götter “ zu erreichen. Aber wie Sie deutlich in Abb. 16 sehen können, zielt dieser Schacht nicht direkt auf den Himmel, sondern verläuft zunächst von der Königskammer horizontal etwa auf der Höhe der Granitplatten, die den Zugang zur Kammer blockieren, und erst von dort aus steigt er nach oben auf. Warum steigt die Seele nicht direkt nach oben? Auch geht man in der Regel davon aus, dass die Seele den Körper der toten Person ziemlich bald nach dem Tod verlässt. Aber die Beerdigung des Pharaos konnte erst eine ziemlich lange Zeit nach seinem Tod stattfinden, wenn man bedenkt, dass man etwa 70 Tage benötigt, um seine Überreste zu mumifizieren. Es ist schwer zu glauben, dass die Ägypter die Vorstellung hatten, dass die Seele des Toten in oder in der unmittelbaren Nähe der Mumie so lange nach dem Tod verharren würde. Daher ist die Theorie, dass die Schächte, welche die Pyramide in ganzer Länge durchqueren, als „ Auferstehungskanäle “ für die Seele des toten Königs bestimmt waren, m. E. nicht stichhaltig. Eine weitere mögliche Erklärung wäre, dass die Belüftungsschächte für jene Menschen errichtet wurden, welche die Mumie und die Begräbnisbeigaben in die Kammer trugen. Aber warum gibt es solche Schächte nicht in anderen Pyramiden? Man könnte vermuten, dass diese Schächte eine Art Vorsichtsmaßnahme waren, die sich später erübrigte, weil man erkannte, 207 Zitiert aus dem Artikel „ Egyptian pyramids “ http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Egyptian_pyramids (heruntergeladen am 20. 11. 2014). 1054 9 Neue Sicht der alten Geschichte dass auch ohne sie genügend frische Luft im Innern der Pyramiden für alle Teilnehmer der Begräbnisprozession vorhanden war. Vielleicht rechnete man im Falle von Cheops wegen der Länge der Gänge auch mit einer besonders langen Prozession. Vielleicht . . . Die Rätsel von Newgrange Wenden wir unsere Aufmerksamkeit der „ Grabstätte “ von Newgrange etwa 50 km nördlich von Dublin zu. Ich habe mir erlaubt, das Wort „ Grabstätte “ in Einführungszeichen zu setzen, denn wie bald ersichtlich wird, ist es fragwürdig, ob dies die richtige Bezeichnung für den Zweck dieser imposanten Anlage ist. Newgrange ist viel weniger bekannt und spektakulär als die Cheops- Pyramide. 208 Von außen betrachtet, handelt es sich um einen annähernd runden Hügel aus einer Mischung von Steinen und Erde, dessen Durch- Abb. 17: Das Newgrange-Monument heute. (Wikipedia, CC by 2.5 PL) 208 Die Einzelheiten über die genauen Dimensionen und die Konstruktion der Anlage sind dem maßgeblichen Handbuch über Newgrange entnommen. Dessen Verfasser Michael J. O ’ Kelly leitet seit 1962 die Ausgrabungen (O ’ Kelly 1998). 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1055 messer ungefähr 80 m auf Erdniveau (genauer: 78,6 m in NW-SO-Richtung und 85,3 m in NO-SW-Richtung) und ca. 32 m an der Oberfläche beträgt. Das Monument wurde zur Hauptsache aus mittelgroßen, durch die Einwirkung des Wassers abgerundeten Steinen mit einem Durchmesser von 15 - 22 cm, welche mit Torfschichten durchsetzt sind, erbaut. Wie man jedoch dem nachfolgenden Foto entnehmen kann, besteht die äußere Schicht des Baus aus wunderschön glänzenden weißen Quarzsteinen. In Abb. 17 kann man vielleicht erahnen, dass das Monument an seiner Basis mit einem Gürtel von großen Steinblöcken umgeben ist. Die insgesamt 97 Blöcke sind 1,7 bis 4,5 m lang und durchschnittlich 1,2 m hoch, also äußerst massiv. Zugleich sind sie kunstvoll mit geometrischen Motiven dekoriert, welche mit erstaunlichen Genauigkeit in sie eingemeißelt wurden (vgl. Abb. 18 für ein Beispiel eines solchen Steinblocks). Das Monument steht auf dem höchsten Punkt eines langen, tiefen Kamms rund 61 m über dem Meeresspiegel, ca. 1 km nördlich des Flusses Boyne. Den neuesten Schätzungen zufolge wurde es um 3200 v. Chr. errichtet und ist damit älter als Stonehenge und Avebury sowie um einige Jahrhunderte älter als die ägyptischen Pyramiden (Renfrew 1998, S. 7). Da die nachfolgende Beschreibung ein wenig kompliziert ist, möge die folgende Draufsicht bei der Orientierung helfen: Abb. 18: Verzierter Stein, in: O ’ Kelly 1998, S. 19. (Abgedruckt mit Genehmigung von Eve O ’ Kelly) 1056 9 Neue Sicht der alten Geschichte Abb. 19: Sicht des Newgrange-Monuments von oben, in: O ’ Kelly 1998, S. 15. (Abgedruckt mit Genehmigung von Eve O ’ Kelly) Im Inneren des Hügels befindet sich der sogenannte „ Grabgang “ , ein fast 19 m langer Korridor, der auf jeder Seite mit senkrecht stehenden Felsbrocken oder Orthostaten (22 im Westen und 21 im Osten) ausgekleidet ist, die durchschnittlich 1,5 hoch beim Eingang betragen und sukzessive anwachsen, bis sie schließlich bei der zentralen Kammer die Höhe von 2 m erreichen (vgl. Abb. 20 unten). Der Gang ist mit massiven Platten gedeckt, welche quer gelegt entweder direkt auf den Orthostaten oder auf den Kragsteinen liegen, die von den Orthostaten gestützt werden. Die mittlere Kammer ist kreuzförmig und hat drei Seitenkammern. Ihre Länge beträgt 5,25 m vom Eingang zu der hinteren Seite der Nordbzw. Mittelkammer und 6,55 m von der Rückseite der West- 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1057 und der Rückseite der Ostkammer. Im Mittelpunkt des Kreuzes, das sich aus der Linie des „ Grabganges “ und der imaginären Linie, die die Rückwände der linken und der rechten Kammer verbindet, ergibt, verwandelt sich das Flachdach des „ Grabganges “ in ein Kraggewölbe [corbelled vault], dessen Höhe 6 m erreicht und das von einem einzigen Schlussstein verschlossen wird. Nachdem man den engen und niedrigen „ Grabgang “ passiert hat, stellt sich das Gefühl eines enormen Raumes ein, dessen Spitze im Halbdunkel der Kammer fast unsichtbar ist. Jede der drei Kammern ist verziert, die rechte Kammer enthält zwei Beckensteine. Abb. 20: Sicht des „ Grabgangs “ von der Seite und von oben, in: O ’ Kelly 1998, S. 22. (Abgedruckt mit Genehmigung von Eve O ’ Kelly) Das größte Rätsel dieses Monuments bildet die sogenannte Dachschachtel (Abb. 20, untere Zeichnung, rechts; Abb. 18 oberhalb des dekorierten Steinblocks). Es handelt sich um eine Öffnung in der Vorderwand des Monuments direkt beim Haupteingang (gestützt teilweise auf der ersten, teilweise auf der zweiten Dachplatte des „ Grabganges “ ) mit einem Dachstein oder einem Oberbalken, der an der vorderen Kante kunstvoll verziert ist. Der Zweck dieser Einrichtung ist immer noch unklar. Es wurde zunächst spekuliert, dass sie als eine Art Seelenöffnung gedacht war, durch welche die Geister der Toten kommen und gehen konnten (O ’ Kelly 1998, S. 123). In der Gegend war der Glaube verbreitet, dass die aufgehende Sonne den mit drei Spiralen verzierten Stein auf der Rückseite der mittleren Kammer oder Nische 1058 9 Neue Sicht der alten Geschichte beleuchtete. Die Archäologen beschlossen, diese Möglichkeit zu untersuchen, und wählten für ihr Experiment den Sonnenaufgang zur Zeit der Wintersonnenwende. Am 21. Dezember 1969 zeichneten sie die folgenden Beobachtungen auf Tonband auf: At exactly 8.54 hours GMT the top edge of the ball of the sun appeared above the local horizon and at 8.58, the first pencil 209 of direct sunlight shone through the roofbox and along the passage to reach across the tomb chamber floor as far as the front edge of the basin stone in the end recess. As the thin line of light widened to a 17 cmband and swung across the chamber floor, the tomb was dramatically illuminated and various details of the side and end recesses could be clearly seen in the light reflected from the floor. At 9.09 hours, the 17 cm-band of light began to narrow again and at exactly 9.15 hours, the direct beam was cut off from the tomb. For 17 minutes, therefore, at sunrise on the shortest day of the year. direct sunlight can enter Newgrange, not through the doorway, but through the specially contrived slit which lies under the roof-box at the outer end of the passage roof. (O ’ Kelly ebd., S. 123f.) Spätere Untersuchungen haben zweifelsfrei ergeben, dass die Ausrichtung von Newgrange und damit das oben beschriebene Phänomen beabsichtigt war. 210 Wie aber konnte das Phänomen erzielt werden? Das Geheimnis liegt in der Tatsache, dass der Boden des „ Grabganges “ ziemlich steil ansteigt (es besteht ein Unterschied von etwa 2 m zwischen Eingang und mittlerer Nische) und dass der Durchgang nicht exakt gerade, sondern leicht gebogen ist (vgl. Abb. 10). Dadurch wird der Sonnenstrahl, der in das Monument durch die oben erwähnte Öffnung eindringt, auf die Dicke eines Bleistifts eingeengt und als sich der hinteren Kammer allmählich nähernd wahrgenommen. Um einen solch subtilen Effekt zu erzielen, war selbstverständlich eine genaue Planung und Ausführung (mit sehr schweren Steinen und sehr primitiven Werkzeugen! ) erforderlich. Was könnte der Zweck gewesen sein, all diese Mühe auf sich zu nehmen? O ’ Kelly vermutet, dass das Monument nicht nur ein Grab, sondern auch ein „ Haus für die Toten “ war, in dem die Geister geschützt vor Nässe und bei gleichmäßiger Temperatur leben sollten (O ’ Kelly ebd., S. 126). Aber welche Logik besagt, dass der Aufenthaltsort der Geister trocken bleiben muss? Schließlich müssen sich Geist und Seele mit einer ziemlich nassen „ Wohnung “ während der Lebensdauer einer Person begnügen: Unser Körper ist zu mindestens 80 % Wasser. Warum sollten sie sich wünschen, an 209 Gemeint ist der „ Bleistift des Lichts “ ( „ pencil of light “ ): Der sichtbare Sonnenstrahl ist zunächst nur so dick wie ein Bleistift. 210 Man hat festgestellt, dass ein direktes Sonnenlicht in der Woche vor und nach dem 21. Dezember in die hintere Kammer eindringt. Die „ Ganggräber “ sind relativ häufig in Irland. Rund 150 Beispiele sind noch vorhanden (O ’ Kelly ebd., S. 122). Und auch wenn die Größe und die Exzellenz seiner Ornamente Newgrange von anderen Bauten absetzt und die „ Dachschachtel “ von Newgrange einzigartig ist, ist es denkbar, dass andere Ganggräber ähnlich konzipiert waren (ebd., S. 125). 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1059 einem trockenen Ort zu bleiben, nachdem sie sich von ihrem feuchten Lebensraum getrennt haben? Um es endlich gemütlich zu haben? Und warum benötigt der Geist ein Loch in der Wand, um den Hügel zu verlassen? Schließlich gibt es eine ziemlich alte Vorstellung, dass Wände und Türen für Geister und Seelen keine Hindernisse darstellen. Eine Idee, nebenbei bemerkt, die in der für ihre „ Geisterhäuser “ und „ -schlösser “ berühmten englischen Kultur recht lebhaft ist. Noch tiefer gehende Fragen ergeben sich, wenn man bedenkt, dass Newgrange in einer Weise gebaut wurde, die das oben beschriebene Lichtspektakel ermöglichte. Denn welchen Nutzen könnten die sterblichen Überreste der Toten aus diesem Schauspiel ziehen? Wäre es nicht eher sinnvoll, den Zugang des Sonnenlichts zur inneren Kammer zu blockieren, um den Geistern der Toten ihre Ruhe zu lassen? Darüber hinaus gibt es Anzeichen (Kratzspuren auf dem Boden der Dachschachtel) von periodischer Rückkehr zumindest zur Vorderseite des Newgrange (ebd., S. 123). Wie kann man dies mit der Behauptung vereinbaren, dass die Toten in Ruhe gelassen werden sollten? Überdies ist darauf hinzuweisen, dass Newgrange eigentlich ein moderner Name für das Monument ist. Es hieß ursprünglich An Brug, Wohnsitz oder Herrenhaus, und wurde dem höchsten aller Götter, An Dagda, dem Guten Gott, und seinem Sohn Oengus zugeschrieben (ebd., S. 123; vgl. auch ebd., S. 126f.). Mindestens bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. war es ein Ort, an dem reiche Opfergaben gebracht wurden (ebd., S. 127). Es scheint also nicht einfach ein „ Haus der Toten “ gewesen zu sein. Überhaupt: Wissen wir wirklich, dass es jemals ein Grab war? Einige menschliche Überreste aus der Frühzeit des Monuments wurden dort zweifelsohne gefunden. Kann man aber sicher sein, dass sie von Menschen stammen, die dort begraben wurden? Konnten sie nicht erst später dort hineingelegt worden sein? Und schließlich: Welche Funktion erfüllt die reiche Ornamentierung der Steine? O ’ Kelly stellt fest, dass sie angesichts der Menge der aufgewendeten Arbeit eine Bedeutung für die Menschen gehabt haben muss, vermutet aber, dass wir nie wissen werden, welche (ebd., S. 127). Das Rätsel des Hypogäums von Ħ al-Saflieni Ein weiteres Rätsel bilden die Monumente der Megalithkultur auf Malta. Diese kleine Insel kann sich einer erstaunlich großen Zahl solcher Monumente rühmen. Während der Endphase der Jungsteinzeit wurden auf Gozo 6 und auf Malta 22 große megalithische Tempel errichtet, von denen noch 6 so gut erhalten sind, dass sie die UNESCO in das Weltkulturerbe aufgenommen hat: den Ggantija-Tempel auf Gozo sowie die Tempelanlagen Ta ’ Hagrat, Skorba, Mnajdra, Hagar Qim und Tarxien und schließlich das Hypogäum von Ħ al-Saflieni in Paola auf Malta. Nach dem heutigen Stand des Wissens wurden diese Monumente zwischen 3800 und 2500 v. Chr., also in einem Zeitraum von nur ca. 1300 Jahren, errichtet. Die überirdischen bestehen aus großen, bis zu 20 Tonnen schweren Kalksteinquadern. Die älteste dieser 1060 9 Neue Sicht der alten Geschichte Anlagen, der Ggantija-Tempel 211 , ist so gewaltig, dass bei den Bewohnern von Gozo die Meinung herrschte, sie wurden von vorsintflutlichen Riesen errichtet (von Reden 1982, S. 80). Sogar L. Mazzara, der 1827 eine Beschreibung publizierte, bezeichnete ihn als „ vorsintflutlichen Tempel der Riesen “ (von Reden 1988, S. 14). Da bisher auf den beiden Inseln keine Tempel gefunden wurden, die jünger als 4.500 Jahre sind, gehen die Forscher davon aus, dass die Megalithkultur auf Malta plötzlich, möglicherweise infolge von Erschöpfung des Ackerbodens oder Dürren, zugrunde ging. Auffallend an diesen Monumenten ist, dass keines von ihnen auf einem geometrischen Plan (Quadrat oder Rechteck), wie z. B. die Pyramiden oder ägyptischen bzw. griechischen Tempel, errichtet ist, sondern vielmehr aus einer Anzahl mehr oder weniger elliptischer oder fast nierenförmiger Teile besteht (wobei Abb. 21: Plan der Tarxien Tempelanlage. (Abgedruckt mit Genehmigung von Malta Heritage) 211 Es wird geschätzt, dass dieses Monument zwischen 3600 und 2500 v. Chr. errichtet wurde. Es ist somit nach den heutigen Erkenntnissen nach Göbekli Tepe in der Türkei, dessen Entstehung auf das 10. Jahrtausend v. Chr. datiert wird, das zweitälteste Bauwerk. 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1061 manchmal drei von ihnen aneinandergrenzen und dem Ganzen die Form eines Kleeblattes verleihen), welche gewöhnlich von einer Steinmauer umgeben sind. Die Grundrisse einzelner Monumente unterscheiden sich wesentlich voneinander, so dass man keineswegs von einer Wiederholung eines einzigen Musters sprechen kann, und sie scheinen mit der Zeit an Komplexität zu gewinnen. Die jüngste dieser großen Anlagen, die Tempelanlage von Tarxien (ca. 3300 - 2500 v. Chr.) weist schließlich einen fast verwirrend komplexen Grundriss auf (vgl. Abb. 21 unten). Vermutlich waren mindestens einige der heute offenen Räume der Tempelanlage ursprünglich von einer komplexen Steinkonstruktion bedeckt. Darauf deuten einerseits gewisse Einzelheiten der erhalten gebliebenen Strukturen, andererseits das sog. Tempelmodell von Ta ’ Hagrat, das einen überdachten Tempel in Miniatur darstellt. Sicher ist, dass sich an einigen Steinen der Monumente komplexe Verzierungen befanden, die oft organische Formen (z. B. Spiralen, ähnlich wie in Newgrange) oder gar Abbildungen von Tieren oder Fischen aufwiesen. Einige der so verzierten Steine sind bis heute erhalten. Außerdem wurden in diesen Anlagen auch kleine, zierlich im Stein gehauene Skulpturen gefunden, die von hohen manuellen Fertigkeiten wie auch vom künstlerischen Sinn ihrer Schöpfer zeugen. Zu den berühmtesten dieser Objekte gehört neben dem oben erwähnten Tempelmodell von Ta ’ Hagrat die sog. schlafende Frau (s. Abb. 22 unten), die im Hypogäum von Ħ al- Saflieni gefunden wurde. Abb. 22: „ Schlafende Frau “ , Postkarte. (Abgedruckt mit Genehmigung von Malta Heritage) 1062 9 Neue Sicht der alten Geschichte Das Hypogäum von Ħ al-Saflieni, auf dessen Beschreibung ich mich im Folgenden beschränken werde, wurde - angesichts seiner Größe muss man sagen: erstaunlicherweise - erst 1902 entdeckt. Die ersten Ausgrabungen dauerten bis 1906, 1908 wurde der Komplex dann Besuchern zugänglich gemacht. 1952 wurden weitere Untersuchungen unternommen, und zwischen 1990 und 1993 fanden unter der Leitung von Anthony Pace, der auch den offiziellen Führer zur Anlage verfasste (Pace 2004), neue Ausgrabungen statt. Da der Aufbau der Anlage viel komplexer ist als der von Newgrange und hinsichtlich der Anzahl der unterirdischen Kammern und Säle selbst den der Cheops-Pyramide übertrifft, kann ich nur auf einige Aspekte eingehen. Die architektonischen Formen dieser unterirdischen Kultanlage entsprechen denen der oberirdischen Tempelkomplexe auf Malta oder Gozo; vielleicht ahmen sie sie sogar nach. Diese Ähnlichkeit ist besonders auffällig, wenn man in die sog. Zentralkammer oder in das sog. Allerheiligste ( „ Holy of Holies “ ) schaut (vgl. Abb. 23 und 24 unten) Abb. 23: Zentrale Kammer, Postkarte. (Abgedruckt mit Genehmigung von Malta Heritage) Während man es aber in den oberirdischen Tempelanlagen mit nebeneinander- oder aufeinandergelegten Steinen (Kalkquadern) zu tun hat, wurden diese Strukturen im Falle des Hypogäums aus dem Fels herausgehauen. Allein dies ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Erbauer nach heutigen Erkenntnissen unter Tage und somit bei schlechter Beleuchtung 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1063 arbeiten mussten, vor allem aber über keine Metallwerkzeuge verfügten. Sie haben also die Säulen, Querbalken und andere Elemente mit Steinwerkzeugen herausgemeißelt (Pace 2004, S. 14). 212 Diese Leistung ist umso höher zu bewerten, wenn man die Größe der Anlage berücksichtigt. 213 Dabei ist allerdings in Rechnung zu stellen (ich finde diese Annahme allerdings nirgends offiziell formuliert 214 ), dass etwaige Hohlräume im Fels genutzt werden konnten. Das Staunen wächst zusehends, wenn man sieht, wie präzis die Formen der Anlage aus dem Fels herausgemeißelt wurden. Wie Abbildung 14 erahnen lässt, waren einige von ihnen fast perfekt glatt poliert. Von Reden beschreibt die künstlerische Qualität der Ausführung dieser Räume folgendermaßen: Abb. 24: „ Das Allerheiligste “ Postkarte. (Abgedruckt mit Genehmigung von Malta Heritage) 212 Von Reden vermutet, dass Rinderhörner und Hirschgeweihe bei der Gestaltung der Anlage benutzt wurden (von Reden 1982, S. 101). 213 Ihre Länge beträgt ungefähr 34 m, die Breite ca. 23 m (laut Plan in Neubert 1988, S. 155) und die Höhe der größten Säle schätze ich auf gut 5 m. 214 Von Reden spricht in diesem Zusammenhang lediglich von der „ günstigen Beschaffenheit des Felses “ . Der Globigerinen-Kalk vor Ort ist im feuchten Zustand ziemlich weich und kann mit einfachen Werkzeugen wie „ Ziegenhörnern, zugespitzten Knochen, Klingen und Schabern aus Feuerstein “ bearbeitet werden (von Reden 1988, S. 17). 1064 9 Neue Sicht der alten Geschichte Die kunstvolle Ausarbeitung dieser Architektur bezeugt Meisterschaft. Alle Linien sind mit größter Präzision gezogen, die geglätteten Flächen des Gesteins zeigen nicht die leiseste Unebenheit. Trotz ihrer Massigkeit wirkt die Fassade elegant (von Reden 1988, S. 18) Es fällt zudem auf, dass die Räume entweder kreisförmig, oval oder ovalähnlich sind. Quadrate oder Rechtecke sind im Plan der Anlage nirgends zu erkennen. Dies erinnert stark an die oben kurz angesprochenen Baupläne der oberirdischen Tempelanlagen Maltas, umso mehr, als die drei Nebenräume des Hauptsaals hinter der Zwischenmauer 19 auf der Abbildung unten in der auch bei manchen oberirdischen Anlagen vorzufindenden Kleeblattform angelegt sind. Abb. 25: Plan der Anlage, in: Pace 2004, S. 49 - 50. Die Kreisform des Bodenplans wiederholt sich auch in den Gewölben der jeweiligen Räume. Einige von ihnen sind folglich als eine Art Kraggewölbe aus dem Fels herausgemeißelt (s. Abb. 24 oben). Der Abbildung 26 kann man entnehmen, dass die ganze Anlage auf mehreren Ebenen angelegt ist. Man unterscheidet drei solcher Ebenen: Die erste befindet sich ca. 3 m unter dem heutigen Bodenniveau, die zweite liegt 4 bis 8 m unter diesem Niveau und die dritte befindet sich ca. 10 m darunter (Pace 2004, S. 24). Der oben abgebildete Plan der Anlage (Abb. 25) umfasst lediglich das zweite bzw. mittlere Niveau, das aber das bei weitem kom- 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1065 plexeste und wichtigste der drei ist. Wir werden uns deshalb mit der ersten und letzten Ebene der Anlage nicht befassen. Abb. 26: Das Kraggewölbe, in: Pace 2004, S. 35. (Abgedruckt mit Genehmigung von Malta Heritage) Ferner fällt auf, dass die Wände und Decken einiger Räume mit kunstvollen Fresken bedeckt sind. Diese wurden in rotem Ocker ausgeführt und umfassen vor allem drei Arten von Motiven: erstens regelmäßige Polygone, zweitens 1066 9 Neue Sicht der alten Geschichte Spiralen (wobei auch einige der Polygone mit Spiralen versehen wurden), und drittens verschiedene pflanzenförmige Muster (ebd., S. 37). Diese Malereien sind ein weiterer Gegenstand des Staunens, schließlich mussten sie unter recht schlechten Lichtverhältnissen ausgeführt werden. Was die Lichtverhältnisse im Hypogäum betrifft, so geht man davon aus, dass die Anlage ursprünglich teilweise durch das Tageslicht beleuchtet wurde. Das Tageslicht konnte offensichtlich in die oberste Ebene eindringen und sich von dort durch die zahlreichen Öffnungen und Zwischenräume auch in die tiefer liegenden Strukturen ausbreiten. Die Lichtverhältnisse variierten jedoch stark. Dazu Pace: In reality, the level of light penetration would have varied from one area to another, on account of a number of factors. For instance, the difference in height between the Middle Level entrance and the floor of the level ’ s interior would have influenced the angle at which light would have penetrated into the inner reaches of the monument. There is then the different angel at which the external and interior entrances of the transitory level leading down to the Middle Level had originally been cut, an arrangement that may have served to filter light penetration. The scale of the openings and their strategic positions linking interior spaces would have facilitated illumination, even if at a reduced level. The large circular hole leading into the Main Chamber enabled a higher level of light to enter this area. The carved entrance located opposite to this circular viewing point would have in turn facilitated the illumination of the inner chamber, the so-called “ Holy of Holies ” . Similarly, two rectangular apertures cut into the dividing wall between the Main Chamber and the Painted Chamber [20 auf dem Plan], would have diverted indirect light into Zone B [etwa die Mitte des obigen Planes]. Zone C [die rechte Seite des obigen Planes], lying perpendicular to the main axis of the internal lobby space, would have had the weakest illumination. (Pace 2004, S. 27) Am Ende dieser knappen Einführung sollte noch etwas zum Alter der Anlage gesagt werden. Man geht davon aus, dass gewisse Elemente des heutigen Hypogäums bereits ca. 4000 v. Chr., wenn nicht sogar noch früher, benutzt wurden, da man Überreste von Töpferwaren aus dieser Periode in der Anlage ausgegraben hat (ebd., 23). Die erste Ebene der Anlage wurde in der Ggantija- Phase (3600 - 3000 v. Chr.) ausgestaltet (ebd., 23, 25). Die mittlere und die tiefere Ebene datieren aus der sog. Tarxien-Phase (3000 - 2500 v. Chr.) (ebd., 23). Man geht daher davon aus, dass das Hypogäum über mehrere Jahrhunderte benutzt und während dieser Zeit mehrmals erweitert wurde, „ to accept more and more burials “ , wie Pace schreibt (ebd., S. 23). Pace beantwortet damit zugleich die Frage nach dem Zweck des Hypogäums. Er sieht in ihm grundsätzlich ein Grab, obschon es für ihn im Gegensatz zur Cheops- Pyramide und Newgrange eher eine Art Massenfriedhof ist (Pace ebd., z. B. S. 19, 23). Er weist darauf hin, dass es im Mittelmeerraum in prähistorischen Zeiten üblich war, die Toten in einer in den Fels geschlagenen unterirdischen Nische zu begraben: 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1067 [T]he emergence of underground rock-cut burials is a central Mediterranean cultural phenomenon, with Malta and Gozo being among the places where the oldest examples of this rite were performed. The phenomenon is essential for understanding the origins of the Hypogeum. (Pace ebd., S. 12) Mit wachsender Bevölkerung entstand nach Pace die Notwendigkeit, statt in den Fels gemeißelter individueller Gräber eine gemeinschaftliche Grabanlage zu konstruieren, die hunderte oder sogar tausende Leichname aufnehmen konnte. Darüber hinaus bot eine solche große gemeinschaftliche Grabanlage die Möglichkeit, die Begräbnisse festlicher zu gestalten: Small rock-cut chamber tombs, measuring just a metre across, could cater for a small number of individual burials. Communal needs would have required more space. In addition, small tombs lacked a sense of the monumental, which is very often an element of remembrance. The type of small tombs used during [a later] phase may have therefore become less fashionable. Larger burial spaces may have steadily acquired more importance. [. . .] At the Hypogeum, the refashioning of the Upper Level followed a deliberate expansion of existing burial space. (Ebd., S. 17f.) War der ursprüngliche Zweck des Hypogäums tatsächlich der eines Friedhofs? Bereits eine flüchtige Betrachtung des obigen Plans der Anlage lässt Zweifel aufkommen. Und dies nicht nur deshalb, weil wir auf ihm neben Räumen, in denen die sterblichen Überreste aufgebahrt werden konnten, auch erstaunlich aufwendige Repliken der oberirdischen megalithischen Tempel finden. Im Sinne der obigen Theorie könnte man diesen Umstand damit erklären, dass man den Begräbnissen eben einen festlichen Charakter verleihen wollte. Aber wo konkret sollten in dieser Anlage die Toten aufgebahrt werden? Ich habe keine Informationen darüber, wo sich die angeblich ca. 7000 menschlichen Überreste (von Reden 1982, S. 104) konkret befanden, die bei den Ausgrabungen entdeckt wurden. Dies ist aber auch nicht wesentlich, denn man kann sich gut vorstellen, dass der ursprüngliche Zweck des Baus ein völlig anderer war und die Leichen dort erst in viel späterer Zeit deponiert wurden. Nur eine genaue Datierung der Überreste mit der Radiokarbonmethode könnte darüber abschließend Auskunft geben, was allerdings voraussetzt, dass sie noch nicht vernichtet sind. Wenn man jedoch den obigen Plan des mittleren Niveaus der Anlage mit einer anderen gut bekannten Nekropolis auf Malta, den St.-Pauls-Katakomben in Rabat, vergleicht, so fallen bedeutende Unterschiede auf. Die St.-Pauls- Katakomben wurden zugegebenermaßen viel später als das Hypogäum erbaut (sie werden auf das 4. bis 9. Jahrhundert n. Chr. datiert), sie geben aber einen guten Aufschluss darüber, wie man eine unterirdische Begräbnisstätte zweckmäßig konzipiert. Sie bestehen hauptsächlich aus einer Reihe niedriger Gänge, an deren beiden Seiten sich zahlreiche Nischen befinden, in denen die Leichname aufgebahrt wurden (s. unten, Abb. 27). 1068 9 Neue Sicht der alten Geschichte Abb. 27: St.-Pauls-Katakomben in Rabat: ein Gang. (Quelle: Internet. Autor: Mboesch 215 ) Die Nischen sind zumal so gestaltet, dass sie den Körpermaßen des Menschen entsprechen und mehrere nebeneinanderliegende Leichen aufnehmen können (Abb. 28). Abb. 28: St.-Pauls-Katakomben in Rabat: Detail. (Quelle: Internet 216 ) 215 Quelle: http: / / www.tripadvisor.com/ Attraction_Review-g190326-d2624344-Reviews- St_Paul_s_Catacombs-Rabat_Island_of_Malta.html#photos (heruntergeladen am 15. 12. 2013). 216 https: / / www.google.ch/ search? q=St.-Pauls-Katakomben+in+Rabat&biw=1343&bih= 885&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ei=txcVVbCeOM34atC2gYgH&ved=0CE YQsAQ (heruntergeladen am 15. 12. 2013). 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1069 Abb. 29: St.-Pauls-Katakomben in Rabat: Versammlungsort. (Quelle, s. Abb. 28) Nur in einigen wenigen Punkten weiten sich die Katakomben aus, um eine Art Versammlungsplatz zu bilden, an dem Zeremonien abgehalten werden konnten (Abb. 29) oder die Eingang zu mehreren sich verzweigenden Korridoren gewährten. Am Hypogäum fällt dagegen auf, dass es zum größten Teil aus recht großen, offenen Räumen besteht, die man spontan eher als Versammlungsplätze denn als Leichenhallen deuten würde. Nur an wenigen Punkten (vgl. Abb. 25: „ Allerheiligstes “ (25), die Räume links von der „ Trennmauer “ (19), der Raum rechts von der sog. „ bemalten Kammer “ (20), der Raum 14 unten in der Mitte des Bildes oder die Räume ganz rechts unten im Bild) befinden sich intimere, einigermaßen abgeschlossene Seitenkammern, von welchen man sich spontan vorstellen könnte, dass man dort die Überreste der Verstorbenen für die „ letzten Ruhe “ legte. Aber auch diese sind für einen solchen Zweck eigentlich recht seltsam konstruiert, denn - mit- Ausnahme der Kammern links von der „ Trennmauer “ 19 - verfügen sie anstatt eines breiten Eingangs, der einen einfachen Zugang für die sich wiederholenden Begräbnisprozessionen gewähren würde, jeweils nur über ein schmales Fensterchen etwa 60 cm über dem Boden. Warum sollte man sich den Transport der Leichname in diese Kammer dermaßen erschweren? Rätselhaft ist ebenfalls, dass die Kammern auf der untersten Ebene keine Spuren von Bestattungen aufweisen, obschon sie die für Gräber typische Backofenform haben (von Reden 1982 S. 101). Die ursprüngliche Verwendung dieser Räume bleibt unklar (Neubert 1988 S. 19). Überdies bildet die oben 1070 9 Neue Sicht der alten Geschichte erwähnte meisterhafte Ausführung der meisten Räume des Hypogäums einen starken Kontrast zur recht kruden Form der St.-Pauls-Katakomben, die schließlich mehr als 3000 Jahre später und mit eisernen bzw. Stahlwerkzeugen erbaut wurden und dennoch für den Zweck der Bestattung offensichtlich als ausreichend erachtet wurden. Galt die fast unglaubliche Perfektion der Ausführung des Hypogäums also wirklich den Toten? Die Vermutung liegt nahe, dass es zunächst eher als Tempel denn als Grabstätte diente. So schreibt z. B. die englische Wikipedia: „ Thought to have been originally a sanctuary, [das Hypogäum Ħ al-Saflieni] became a necropolis in prehistoric times “ . 217 Von Reden scheint eine Variante zu bevorzugen, die beide Funktionen, Tempel und Grabstätte, gleichzeitig zulässt. Sie bezeichnet das Hypogäum zwar als eine Nekropole (z. B. von Reden 1982, S. 99; 101; 104), vermutet jedoch, dass zumindest ein Teil seiner Räumlichkeiten, die „ sakrale Zone “ (ebd., S. 99), einem Geheimkult der chthonischen Mächten diente (ebd., S. 99): Das Hypogäum von Ħ al-Saflieni kann niemals, wie die großen oberirdischen Sanktuarien, der Schauplatz eines öffentlichen Kultes gewesen sein. Außer der Priesterschaft stiegen vermutlich nur wenige Bevorzugte zu rituellen Handlungen besonderer Art in seine düsteren Hallen hinab, um Totenopfer darzubringen, die Ahnengeister und chthonischen Gottheiten anzurufen oder Orakel zu empfangen und geheilt zu werden. An keinem anderen Ort kam man den Unteren Mächten näher als in der heiligen Höhle. (Ebd., S. 102) Sie äußert die Vermutung, dass es sich bei diesen rituellen Handlungen auch um „ hypnotischen Schlaf “ gehandelt haben konnte, während dessen die schlafende Person „ bedeutungsvolle Träume “ empfing, die eine Art Zwiegespräch mit den unteren Mächten waren (ebd., S. 102). Sie stützt diese These darauf, dass es in griechischen und römischen Heiligtümern eine besondere Art des Orakels gab, die sog. Inkubation, bei dem die Priester oder Priesterinnen in einem verborgenen Raum, meistens eine Höhle oder Grotte, schliefen, um anhand ihrer dort empfangenen Träume weissagen zu können. Aus dem alten Ägypten ist zudem der Brauch des Tempelschlafs (Enkoimesis) zum Zweck der Heilung von einer Krankheit bekannt. 218 Von Reden beruft sich in diesem Zusammenhang auch auf Elisabeth Lenk, welche in ihrem prägenden Werk Die unbewusste Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum (Lenk 1983) zur Rolle des Traumes in früheren Kulturen feststellt: Der Mensch konnte nur als Träumender, also nur in imaginärer, wechselnder, unwandelbarer Gestalt direkt mit den heiligen Wesen verkehren, als Individuum, im Wachen, lebte er in der profanen Stammesgesellschaft. Die sakrale Welt war am Tage unsichtbar. Die sichtbare Welt war von der unsichtbaren Welt umgeben, wie 217 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Hal_Saflieni_Hypogeum (heruntergeladen am 15. 12. 2013). 218 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Enkoimesis (heruntergeladen am 15. 12. 2013). 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1071 neben der Sonne Millionen Sterne existieren, die man am Tage nicht sieht. Die außermenschlichen Personen traten also nicht nur in Mythen, sondern auch in Träumen auf, ja, der Traum war der Mittler zwischen der profanen Welt des Alltags und der sakralen Welt, insofern nur er eine intime Beziehung jedes Einzelnen zu jener Welt zu stiften vermochte. (Lenk 1983, S. 95) Ferner stützt von Reden ihre Vermutung darauf, dass man im Hypogäum von Ħ al-Saflieni zwei Figuren fand, welche eine schlafende Frau darzustellen scheinen (von Reden 1982, S. 102, vgl. Abb. 22). Von Reden vermutet, dass diese Figuren abbilden, was im Hypogäum tatsächlich stattgefunden hat. Das Hypogäum weist daneben mindestens zwei weitere Besonderheiten auf, welche auf den sakralen Charakter der in ihnen abgehaltenen Zeremonien deuten. Zum einen handelt es sich um das bereits erwähnte sog. Allerheiligste. Dies ist eine kleine Kammer, die sich hinter der imposanten „ Tempelfassade “ (24 auf dem obigen Plan, Abb. 25) befindet und im Gegensatz zu deren Perfektion recht grob, fast unvollendet wirkt (Pace ebd., S. 47). Von Reden spricht sogar von einer „ improvisiert wirkenden Anlage “ (von Reden 1982, S. 101). An der hinteren Wand dieses Raumes befindet sich eine Art Tisch oder Altar mit einer runden Vertiefung in der Mitte, darüber eine schmale Felsnase mit einem Loch, in dem ein hängender Gegenstand befestigt werden konnte. Die Kalkquader, die sich auf beiden Seiten des Eingangs zu diesem Raum befinden, weisen Löcher auf, in welchen vermutlich eine Tür oder eine andere Vorrichtung, die den Raum abschließen konnte, befestigt wurde (von Reden ebd., S. 101; von Reden 1988, S. 18; Pace ebd., S. 32, 47). Pace weist in diesem Zusammenhang auf ein interessantes und rätselhaftes Detail hin: Die Positionen der Löcher am Eingang zum „ Allerheiligsten “ deuten darauf, dass die allfällige Tür nur von innen verschlossen werden konnte: Why does the doorway have tie-holes on the inside only? Was it meant to be closed off from within and isolate ist occupants? Or were these features a later addition linked to a ritual? (Pace ebd., S. 32) Ich erinnere daran, dass der Eingang zur Königskammer der Cheops- Pyramide ebenfalls (allerdings eher von außerhalb) verschlossen werden konnte, und zwar mit einer steinernen Trippeltür. Soll man auch im Fall des „ Allerheiligsten “ des Hypogäums davon ausgehen, dass sich in ihm Riten vollzogen, die von der Außenwelt abgeschirmt werden sollten? Die zweite Besonderheit des Hypogäums, auf welche ich die Aufmerksamkeit lenken will, hat ebenfalls gewisse Ähnlichkeiten mit der Cheops- Pyramide. Wie in der Davidson-Kammer tritt ein eigenartiger Halleffekt auf: In der Wand der „ Halle der roten Spiralen “ (unten rechts auf dem obigen Plan) befindet sich eine kleine Öffnung (29 auf dem Plan in Abb. 25). Wenn man in sie hineinspricht, hört man den Ton mit starken Resonanz durch die Gewölbe rollen (von Reden 1982, S. 104; Pace ebd., S. 47). Wer in diese Höhlung spricht, erschrickt „ von dem Widerhall, der bis in die fernsten 1072 9 Neue Sicht der alten Geschichte Räume als geisterhafte Stimmer dringt “ (von Reden 1988, S. 18), weshalb von Reden fragt: „ Erreichten von hier aus die Worte eines Priesters oder einer Seherin, aus denen die Gottheit sprach, die Eingeweihten? “ (ebd.). Das ganze Hypogäum strahle, so von Reden, etwas Besonderes, fast Heiliges aus: Wenn die lärmenden Touristengruppen das Hypogäum verlassen haben, scheint es, als sei die Stille von raunenden Stimmen, von Erinnerungen an Visionen, Ekstase und Träume belebt. Jeder Laut löst ein murmelndes Echo aus, das den dunklen Mündern der Grabzellen entsteigt. (Von Reden 1988, S. 18) Schließlich gibt es im Zusammenhang mit dem Hypogäum noch eine kleine Besonderheit, die uns zurück zu den „ schlafenden Damen “ führt. Neben diesen Statuen wurde nämlich in einem der Räume auch die Statue eines schlafenden Fisches gefunden (von Reden 1982, S. 104). Niemand hat eine Ahnung, welche Bedeutung diesem Fund beizumessen ist. Er lässt sich jedoch kaum mit der Vorstellung vereinbaren, dass die Funktion des Hypogäums hauptsächlich oder gar ausschließlich die eines Friedhofs war. Eine letzte Überlegung: Aus den oben erwähnten Dimensionen der Anlage (Gesamtlänge 34 m, Gesamtbreite 23 m) ergibt sich unter Abzug der Fläche der Wände und des nicht bearbeiteten Felsens eine Gesamtfläche von grob geschätzt 400 m 2 . Angesichts der aufgefundenen Überreste von bis zu 7000 Menschen ergibt sich ferner eine Verteilung von 17,5 Menschen pro m 2 . Angenommen, dass die bestatteten Personen in ihrer Größe ungefähr der Größe des heutigen Menschen entsprachen, also ca. 170 cm groß waren, lässt das ca. 10 cm Breite pro Skelett unter der unrealistischen Annahme, dass der ganze verfügbare Boden dicht mit Skeletten besetzt war. Die Verstorbenen wurden also sehr wahrscheinlich in mehreren aufeinanderliegenden Schichten begraben. Das aber würde bedeuten, dass sie nicht ordentlich und feierlich bestattet, sondern eher unzimperlich hingeworfen wurden. Wie kann man dieses Szenario mit der Vorstellung eines äußerst sorgfältigen, fast perfekt ausgestalteten unterirdischen Tempels vereinbaren? Eine Hypothese Um auf diese Frage eine Antwort zu geben, müssen wir zu Abb. 1 zurückkehren. In der Mitte des Fotos findet sich links unter der monumentalen Pseudofassade eines Tempels ein ungleichmäßiges Loch, das die Symmetrie des Designs dieser Wand offensichtlich stört. Es ist zu vermuten, dass dieses Loch nach der Fertigstellung des sorgfältig geplanten und ausgeführten Saales entstand. Es ist mir aber nicht gelungen, eine Erklärung dieser Störung in den mir zur Verfügung stehenden Unterlagen über das Hypogäum zu finden. Mir scheinen zwei Erklärungsansätze möglich: Entweder ist dieses Loch durch einen natürlichen Prozess (Erosion, Erdbeben usw.) entstanden, oder es wurde absichtlich hergestellt, um z. B. den Zugang zur unteren Ebene der Anlage zu erleichtern. Ist das Zweite der Fall, kann man davon ausgehen, dass spätere Generationen, die die Anlage möglicherweise neu entdeckten, 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1073 nachdem sie aufgegeben worden war, sie für eigene, nämlich Bestattungszwecke nutzten. Ich habe hier lediglich drei besonders auffallende Bauten behandelt. Man könnten noch zahlreiche andere zu dieser Liste hinzufügen, die möglicherweise auch Eigenschaften aufweisen, die dafür sprechen, dass sie viel mehr als bloß wie auch immer komplexe Gräber waren. Allein in Europa und innerhalb der Megalithkultur kämen hier mindestens die folgenden Bauten in Betracht: das Felsgrab S. Andrea Priu (von Reden 1982, S. 129ff.) und Nuraghen Losa (von Reden ebd., S. 140ff.) auf Sardinien, das Ganggrab von Kercado in der Bretagne (ebd., S. 217ff.), das Kuppelgrab von Los Millares in Spanien (ebd., S. 251ff.), die Cueva del Romeral in Portugal (ebd., S. 269ff.) und das Kuppelgrab von Maes Howe auf Mainland, einer der Orkney-Inseln (ebd., S. 293ff.). Die Zahl der „ verdächtigen “ Monumente außerhalb Europa ist selbstverständlich viel länger. Ich habe die obigen Bauten gewählt, weil ich sie kenne und ihre Eigenschaften zumindest einigermaßen studieren konnte. Diese Eigenschaften lassen erahnen, dass es sich nicht um bloße Gräber handelt, sondern - zumindest auch - um Tempel, die der Anbetung der Götter und der Ausführung bestimmter Rituale dienten. Das bedeutet, dass sich Menschen wiederholt in ihnen aufhielten, vielleicht zu bestimmten Zeiten des Jahres, und sie auch wieder verließen. Was die Cheops-Pyramide betrifft, würde diese Hypothese erklären, warum keine Spuren von einem Begräbnis gefunden wurden: Es gab einfach nie eine Beerdigung in der Pyramide. Sie würde auch die Existenz der Granitfalltüren in der Vorkammer der Königskammer erklären: Sie wurde geschlossen, damit die Zeremonie ungestört ablaufen konnte, aber natürlich musste sie wieder geöffnet werden können, um den Teilnehmern anschließend das Verlassen zu ermöglichen. Diese Hypothese würde auch die Existenz der Schächte erklären: Sie waren notwendig, um die Anwesenden mit frischer Luft zu versorgen. Und sie würde auch einen Anhaltspunkt für den Zweck der Großen Galerie geben: Vielleicht fand in ihr ein Teil der oben genannten Rituale statt, ggf. unter Beteiligung von vielen Menschen, daher ihre überraschende Größe. Die Hypothese könnte sogar für die Davidson-Kammer mit ihrem Widerhall aufkommen: Vielleicht waren gewisse seltsame akustische Effekte in der Tat ein notwendiger Teil dieser Rituale. Was das Newgrange-Monument betrifft, so würde meine Hypothese erklären, warum es so konstruiert wurde, dass die aufgehende Sonne zur Zeit der Wintersonnenwende in die innerste Kammer eindrang: Das Erscheinen des Lichtstrahls nach einer langen Zeit der vollständigen Dunkelheit konnte ein Zeichen dafür sein, dass die Zeremonie, welche jedes Jahr zur gleichen Jahreszeit stattfand, beginnen soll oder abgeschlossen war. Meine Annahme könnte auch dazu beitragen, die Existenz der imposanten Mittelkammer des Monuments zu erklären: Vielleicht war sie wie die Große Galerie 1074 9 Neue Sicht der alten Geschichte in der Cheops-Pyramide ein Ort, wo Rituale stattfanden, in die ganze Gruppen von Menschen involviert waren. 219 Was schließlich das Hypogäum von Ħ al-Saflieni betrifft, so würde meine Hypothese erstens erklären, weshalb man sich die Mühe gemacht hat, einen unterirdischen Tempel mit großen „ Versammlungsräumen “ vor dem Portal zu schaffen: Der Tempel war nötig, um in bzw. vor ihm heilige Rituale abzuhalten, an welchen mehrere Personen teilnahmen, Rituale, die zutiefst geheim bleiben mussten und zu gleicher Zeit Ruhe und Abgeschiedenheit verlangten. Die Hypothese würde auch erklären, warum das „ Allerheiligste “ nur von innen geschlossen bzw. geöffnet werden konnte: Wie in der Cheops- Pyramide und in Newgrange verlangten die wichtigsten Rituale absolute Ruhe. Erst nachdem abgeschlossen wurde, was nur von den unmittelbar an ihnen beteiligten Personen beurteilt werden konnte, konnte der Zugang zu diesem Raum geöffnet werden. Es stellt sich die weitere Frage, welcher Art die Rituale gewesen sein könnten. Sie mussten gewiss einen Beigeschmack des Makabren gehabt haben, denn sie haben (durch Grab und Sarkophag) wohl Assoziationen des Begrabenwerdens oder des Todes hervorgerufen. Möglicherweise wurde eine solche Nähe bei gewissen Zeremonien gezielt hergestellt, um eine Aura der geistigen Welt zu schaffen und die Begegnung mit den Göttern zu erleichtern. Gegen diese Hypothese spricht allerdings die Tatsache, dass, soweit wir wissen, bei den griechischen Mysterien solche komplexe Einrichtungen nicht nötig waren, um den Zweck der Einweihung zu erzielen. Oder verfolgten sie einen anderen Zweck? Zu dieser Frage werden wir am Ende dieses Buches zurückkehren. 220 Der Zweck der Einweihung Hält man die Monumente für Einweihungstempel, so stellt sich uns angesichts der unerhörten Mühen, die auf sie verwendet wurden, die Frage nach dem individuellen und insbesondere nach gesellschaftlichen Nutzen, den man sich von der Einweihung versprach. Der subjektive Wert dieser Erfahrungen, die Himmels- oder Götterschau, die Vereinigung mit der Gottheit, das Gefühl der Gottessohnschaft, ist sofort einsichtig und erscheint durchaus erstrebenswert. Hinzu kommt die Vorstellung der Erlösung von der Todeswelt (die etwa dem griechischen Hades entsprechen würde), in welcher man ein Schattendasein führt (Assmann 2002, S. 75), und die Aufnahme in eine 219 Vgl. Teichmann: „ Es ist kaum anzunehmen, dass eine solche dramatische Einrichtung geschaffen worden wäre, ohne dass es einen Beobachter gegeben hätte, um sie wahrzunehmen. Dies ist wohl der offensichtlichste Grund, warum man bei diesen Bauten [gemeint ist vor allem die Anlage von Newgrange] nicht nur an ihre Funktion als Grab denken darf, sondern darüber hinaus auch an irgendwelche rituellen Aufgaben im Sinne eines Tempels “ (Teichmann 1983, S. 105; vgl. ebd. S. 109). 220 Im Kapitel „ Einige Erklärungen der Geisteswissenschaft “ . 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1075 „ elysische “ Welt, die als „ Haus des Osiris “ , „ Barke der Millionen “ , „ Binsengefilde “ usw. umschrieben wird (ebd., S. 75), in der man ein neues, ewiges Leben genießt (ebd.), ein Gedanke, der nach Assmann fest im Weltbild der Ägypter verankert war und zum normalen Totenkult gehörte. Eines der Ziele der Einweihungsprozeduren wäre also der Erwerb der Unsterblichkeit (ebd., S. 74), worauf auch diese Passage aus dem Goldenen Esel des Apuleius hindeutet: In den Händen der Isis läge überhaupt das Leben eines jeden Menschen, lägen die Schlüssel zum Reich der Schatten; in ihren Mysterien würde Hingebung zu einem freiwillig gewählten Tod und Wiedererlangung des Lebens durch die Gnade der Göttin gefeiert und vorgestellt. Auch pflege die Göttin nur solche zu erwählen, die sich nach vollbrachter Lebenszeit am Rand des Grabes befänden, weil denen die großen Geheimnisse der Religion am sichersten könnten anvertraut werden. Durch ihre Allmacht würden dieselben dann gleichsam wiedergeboren und zu einem neuen Leben zurückgeführt.(Apuleius 2009, S. 247) Die Einweihung bedeutet eine Vorwegnahme des Todes, kommentiert Assmann diese Passage, und fügt hinzu: „ Durch diesen freiwillig gestorbenen symbolischen Tod qualifizierten sich die Mysten dafür, am Tage ihres wirklichen Todes von Isis ins Leben zurückgebracht zu werden “ (Assmann ebd., S. 67). Dies alles klingt plausibel, rechtfertigt aber allein nicht den Aufwand der Gemeinschaft, der notwendig war, um solche Erfahrungen möglich zu machen. Der König als Vermittler zu Gott Ein Hinweis darauf, dass zumindest in der altägyptischen Kultur der Einweihung eine gesellschaftliche Bedeutung beigemessen wurde, geben die erst vor kurzem entdeckten Fragmente des Papyrus pCarlsberg 658. Darin heißt es u. a.: „ Die Reinheit des Pharao ist die Reinheit des Horus [. . .]. Pharao ist rein auf dem Thron des Horus “ (Quack 2002, S. 99). Einweihung ist demnach ein Mittel, die Reinheit des Königs zu sichern. Das macht gesellschaftlichen Sinn. Wenn durch die Vorbereitungen, die eine unerlässliche Bedingung für die ägyptische Einweihung bildeten, gewährleistet werden konnte, dass der Herrscher rein, selbstverständlich vor allem im moralischen Sinne, wurde, dann konnte man sich als Gemeinschaft erhoffen, dass er seinen Verpflichtungen würdevoll nachkommt. Eine moralische Reinigung und Veredelung des Herrschers oder auch der Priester oder Beamten würde also sicherlich einen Gewinn für die Gemeinschaft bedeuten. Eine unio mystica, also das subjektive Gefühl des Einswerdens mit der Gottheit, hatte sicherlich eine ebensolche Wirkung: Ein Mensch, der sich selbst für einen kurzen Moment als von einer Gottheit durchglüht fühlt, wird sich im Leben vermutlich anders verhalten als ein Mensch, der diese Erfahrung nie machen 1076 9 Neue Sicht der alten Geschichte durfte, und es ist auch anzunehmen, dass diese Erfahrung die des Nahtodes an Eindringlichkeit weit übertrifft. Auch ein Ausspruch von Königin Hatschepsut lässt diese gesellschaftliche Relevanz erkennen. Mit Bezug auf Amun sagt sie: „ Ich bin sein Sonnenglanz [. . .], wenn ich eintrete wie ein erhabener Gott [. . .]. Ich strahle für euch auf der Erde [. . .] “ (zitiert nach Teichmann, S. 56). Darin liegt zweierlei: Einerseits zeugt das Zitat von dem bereits erwähnten Bewusstsein der Königin, dass sie gottgleich ist, andererseits macht es deutlich, dass diese Gottähnlichkeit nicht als Grund erlebt wurde, sich selbstherrlich zu gebaren, sondern eine der Gemeinschaft dienende Funktion hatte. Die Königin vermittelt den Erdenmenschen gleichsam die Strahlkraft des Gottes. Sie ist nicht die Sonne selbst, sondern, um im Bild zu bleiben, der Mond. Aber indem sie den Menschen das Licht der Sonne vermittelt, hat sie eine quasi befruchtende, belebende Kraft für ihre Untertanen. Dies mag für unsere Ohren zunächst befremdlich klingen. Wir sind jedoch mit einem Phänomen sehr gut vertraut, das als ein schwacher Abglanz der Ausstrahlung eines ägyptischen Pharaos auf die Mitmenschen betrachtet werden kann, nämlich die Faszination von „ Promis “ . Ob es sich um William und Kate, Roger Federer, den Papst oder Lady Gaga handelt: Tausende, ja Millionen von Menschen fühlen sich von diesen Personen „ magisch “ angezogen, durch ihre Anwesenheit belebt. Das Phänomen ist durchaus etwas Reales, wobei anzunehmen ist, dass die Ausstrahlung, die von einem ägyptischen König auf seine Zeitgenossen ausging, unvergleichbar stärker war als die heutiger „ Stars “ , zumal am Ursprung der ägyptischen Kultur. Die verfügbaren Dokumente vermitteln den Eindruck, dass sich der Ägypter am Anfang der geschichtlichen Zeit (ca. 3000 v. Chr.) als ausführendes Organ des königlichen Willens verstand. Helck charakterisiert diese seelische Lage folgendermaßen: Die zu Beginn der geschichtlichen Zeit entwickelte Ausrichtung ganz Ägyptens auf den König, der das absolute Recht (Maat) verkündet und durchsetzt, lässt zunächst für den Menschen allein die Rolle des von dieser Macht bewegten Werkzeugs übrig. Das Wort des Königs setzt ihn in Bewegung, ein überwiesener Teil königlicher Allmacht lässt ihn aktiv werden. Noch in den Autobiographien der 5. Dynastie fehlt in keinem Satz die Nennung des Königs als bewegender Macht. (Helck 1977, S. 55f.) Diese Situation ändert sich nach Helck erst am Ende des Alten Reiches (ca. 900 Jahre später), als sich der Mensch allmählich als Motor seines Lebens verstand, der über sich selbst entscheiden kann (ebd., S. 56). Die Nähe des Pharaos zu Gott bildete also die Gewähr, dass sein Land mit der belebenden Kraft Gottes versorgt wurde. Der Pharao war gleichsam der irdische Abglanz der Sonne, der Garant, dass ihre belebende Macht den Menschen zukommen wird. Die Gottesnähe war für die Menschen auch der Garant dafür, dass das Land im Sinne Gottes, im Einklang mit seinem Willen regiert wurde, was wiederum als Conditio sine qua non des Gedeihens 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1077 empfunden wurde. Um glaubhaft zu sein, mussten die Pharaonen allerdings den Willen bzw. Pläne Gottes in Erfahrung bringen können. Genau dazu bedurfte es der Einweihung, aus der Strahlkraft und die Befähigung zur Führung hervorgehen. Teichmann bringt dies sehr schön in einem kurzen Abschnitt zum Ausdruck: Ein Pharao konnte in beiden Welten leben, in der hiesigen Alltagswelt und in der jenseitigen Geisteswelt, wobei das Jenseits nicht völlig von dem Diesseits getrennt war. Aus der Kenntnis der ‚ beider Länder ‘ schöpfte er dann seine Kraft und seine Befähigung, die Ägypter führen zu können. Was einen solchen König auszeichnet, ist nicht seine Machtfülle, es ist viel mehr, als wir uns heute vorstellen können, die innere Autorität, welche dann ganz selbstverständlich Macht und Kraft ausstrahlte. Die ‚ Strahlkraft ‘ eines Cheops muss ungeheuer groß gewesen sein, sie nimmt dann bei den Nachfolgern allmählich ab, wirkt aber noch nach bis zu den bedeutenden Pharaonen des Neuen Reiches. (Teichmann 1999, S. 56) Erst angesichts eines solch hohen Stellenwerts der Einweihung des Königs für das Glück des Staates werden die außergewöhnlichen gesellschaftlichen Anstrengungen für den Bau einer Pyramide vom Ausmaß der des Cheops verständlich. Und das Gleiche lässt sich auch von den anderen behandelten Kulturen sagen: Auch in ihnen herrschte die Überzeugung, dass ihre Führer der Einweihung etwas für diese Gesellschaften ungemein Wertvolles entnehmen konnten. Wir haben gesehen, dass die Einrichtungen aller drei oben besprochenen Bauten darauf hinweisen, dass die Rituale, die sich in ihnen abspielten, regelmäßig stattfanden. Wenn man davon ausgeht, dass nur der König die Einweihung empfangen durfte, zugleich aber vermutet, dass die entsprechenden Riten zumindest mehrmals in der Cheops-Pyramide abgehalten wurden, ergibt sich der Schluss, dass der König sich ihnen öfter unterzog. Das scheint aber eher unwahrscheinlich. Diese Erfahrung war in ihrer Wirkung zu einschneidend, als dass man sie wiederholen musste. Deshalb neige ich zu der Ansicht, dass auch andere Personen zur Einweihung zugelassen wurden. Was aber versprach man sich von der Einweihung dieser Menschen? Der kulturelle Sprung und die kulturstiftende Rolle der Einweihungserfahrungen Wir haben oben zwei Funktionen der Einweihung diskutiert, zunächst eine auf die Person des Eingeweihten bezogene: die Orientierung auf das nachtodliche Leben, zum anderen die Begegnung mit den Göttern, durch die der Eingeweihte selbst vergöttlicht wurde. Darüber hinaus haben wir auch vom gesellschaftlichen Nutzen der Einweihungserfahrungen gesprochen: Der Herrscher erwarb eine außerordentliche ethische Reinheit und kam in eine Nähe zu den Gottheiten, was wiederum von entscheidender Bedeutung für die Lenkung und das Wohl des Staates war. Die Einweihung in die Geheimnisse der geistigen Welten stattete den Eingeweihten darüber hinaus aber 1078 9 Neue Sicht der alten Geschichte auch mit praktischen, kulturstiftenden Fähigkeiten aus, die historisch durchaus greifbar wird: Ägypten verwandelte sich im 3. Jahrtausend v. Chr. in verhältnismäßig kurzer Zeit von einer Ansammlung von Dörfern, in welchen Ackerbau und Viehzucht in kleinem Rahmen betrieben wurden, in einen Staat mit einheitlicher Verwaltung, Sprache und Kultur, deren markantester Ausdruck monumentale Steinbauten wie die Stufenpyramide von Djoser war. Jan Assmann hat diese sprunghafte Entwicklung wie folgt charakterisiert: „ Mit Anbruch der Geschichte ist die ägyptische Lebensordnung mit allen politischen, sozialen, religiösen und ökonomischen Institutionen in vollkommener Ausbildung da und wird im Laufe der Geschichte lediglich getreulich reproduziert “ (Assmann 1988, S. 106). 221 Und ähnlich urteilt etwa Erik Hornung: „ [D]och scheint es nach wie vor, dass sich hier innerhalb eines relativ eng begrenzten Zeitraumes ein ‚ Sprung ‘ in der Entwicklung der Menschheit vollzogen hat “ (ebd.). Interessanterweise kann man von einem ähnlichen Sprung in der Entwicklung der Megalithkultur auf Malta sprechen. Pace schreibt dazu: The construction of so many megalithic buildings, almost in a sudden development, still begs explanations. The limited number of radiocarbon dates makes the phenomenon look even sharper than it may have been in reality. What seems to be missing is evidence for a longer tradition of architectural construction. (Pace 2004, S. 19; vgl. ebd., S. 18) Nichts anderes lässt sich auch aus Irland berichten. Auch dort finden wir keine langsame Entwicklung von ganz kleinen zu größeren „ Grabanlagen “ , die schließlich in jener von Newgrange gipfeln, sondern dieses scheint sich wie aus dem Nichts zu erheben. Auch bei Göbekli Tepe haben wir keine Hinweise auf kleinere Vorbilder. Zwar relativiert Pace diesen Befund ( „ The picture is distorted because of the uneveness of evidence “ , Pace ebd., S. 19), aber vielleicht liegt der Schluss näher, dass der Entwicklungssprung eher eine Regel als eine Ausnahme ist. Wenn dies tatsächlich der Fall ist, dann muss man sich die Frage stellen, wo die Quellen solcher Entwicklungssprünge liegen. Woher schöpften die Baumeister von Göbekli Tepe, des Hypogäums von Ħ al-Saflieni, von Newgrange und schließlich jene der Pyramiden die Fähigkeit, sie zu entwerfen und die ungeheuer komplexen Arbeiten zu koordinieren? Für Teichmann ist die Antwort auf diese Frage, zumindest in Bezug auf Altägypten, eindeutig: „ Mit dem Einblick in die Geisterwelt ist für den Pharao der Erwerb schöpferischer Fähigkeiten verbunden “ (Teichmann 1999, S. 56), schreibt er und betont, dass diese Fähigkeiten als eine Folge des „ geistigen Schauens “ und nicht einer klugen Berechnung verstanden wurden: 221 Später hat Assmann seine Meinung geändert und die übliche Darstellung des sprunghaften Anfangs der ägyptischen Kultur als „ Verklärung des Anfangs “ bezeichnete (Assmann 1996, S. 90, zitiert in Teichmann 1999, S. 38). 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1079 Wo sollten denn sonst die überragenden Fähigkeiten, die zum Beispiel beim Bau der Pyramiden vonnöten waren, urständen, wo die Überschaukräfte und die enorme Lernfähigkeit während des Bauens herkommen, wenn nicht aus jenen Welten, die im Zusammenhang leben? Hier verwundert es nicht, wenn wir lesen, dass Imhotep, der leitende „ Architekt “ und oberste Baumeister des Königs Djoser, mit seinem vornehmsten Titel „ der Größte der Schauenden “ genannt wird, ein Titel, der auf den Sonnengott von Heliopolis bezogen ist. Auch da wird wieder deutlich, dass ein Eingeweihter nicht nur ein Mensch ist, der tiefere Einblicke in geistige Welten hat als ein normaler Priester, sondern auch ein Mensch, der tüchtiger als andere ins praktische Leben eingreifen kann. (Teichmann ebd., S. 247) Auch Assmann, der von der verwandelnden Kraft der Einweihung nicht ganz überzeugt ist, muss zugeben, dass den Erbauern der Pyramiden von ihren Zeitgenossen übermenschliche Kräfte zugeschrieben wurden: Die Erfindung des monumentalen Steinbaus unter König Djoser ist eine Wende von allergrößter kultureller Bedeutung. Djoser blieb wegen dieser Leistung bis in die Spätzeit in Erinnerung, er wurde in Sakkara als Gott verehrt, Besucher bedeckten seine Denkmäler mit Graffiti, und er erhielt den Beinamen ‚ Öffner des Steins ‘ . Der Wesir und Architekt Imhotep [der Baumeister der Pyramide] wurde sogar vergöttlicht und als Sohn des Ptah kultisch verehrt. [. . .] Mit Djoser beginnt eine Art Megalith-Zeitalter in Ägypten, das schon sehr bald nach ihm, mit Snofru, Cheops und Chephren in den absoluten, später nie wieder erreichten Zenit tritt. Die Stufenpyramide des Djoser in Sakkara ist das Symbol einer kulturellen Wende. “ (Assmann 1996, S. 69, zitiert in Teichmann 1999, S. 39) Teichmann versteht die Bezeichnung „ Größter der Schauenden “ so, dass Imhotep ein Eingeweihter war, der in die geistige Welt schauen konnte. 222 Warum sollten dann nicht auch die Erbauer anderer Kolossalbauten der Frühzeit die Einsicht und die Kraft, welche für die Durchführung dieser komplexen Konstruktionen nötig waren, aus ihrer Einsicht in die geistige Welt schöpfen? Klaus Schmidt, ein deutscher Archäologe, der seit 1996 die Ausgrabungen der Anlage von Göbelkli Tepe leitet, hat die provokative These formuliert: „ Zuerst kam der Tempel, dann die Stadt “ (Schmidt 2000). Vielleicht muss man diese Behauptung ganz ernst und ganz wörtlich nehmen: Es ist nicht so, wie es sich Karl Marx und nach ihm zahlreiche Materialisten vorgestellt haben, dass sich die Menschen im Zuge der Entwicklung ihrer Kulturen die Götter erdachten, sondern umgekehrt: Jegliche ursprüngliche menschliche Kultur fängt mit dem Kontakt zur geistigen Welt an, wird von der geistigen Welt gleichsam inspiriert. Somit würde sich die am Anfang dieses Kapitels zitierte Behauptung Teichmanns bestätigen: 222 Die von Assmann erwähnte Tatsache, dass Imhotep als Sohn des Ptah und als Seher gefeiert wurde, wirft übrigens ein neues und wichtiges Licht auf die oben aufgeworfene Frage, ob die Einweihung oder zumindest deren höchster Grad in Ägypten nur den Königen vorbehalten war. Wir haben es hier - so scheint es - mit einer weiteren Spur zu tun, die darauf deutet, dass die ägyptische Einweihung nicht nur für den König bestimmt war. 1080 9 Neue Sicht der alten Geschichte Die alten Mysterienstätten sind diejenigen Orte, an denen, auf verschiedenen Wegen, einzelne ausgewählte Menschen zu wahren Gottesbegegnungen geführt wurden. Es waren Orte der Schulung, niemals bloße Lehrstätten, obwohl dort auch Wissen vermittelt wurde. Sie blieben von außen verborgen, aber jede Kultur wurde von einem solchen Geisteszentrum aus begründet und gelenkt. (Teichmann 1999, S. 32) Der Fall Imhoteps deutet jedoch auf ein ernstes Problem der hier vorgeschlagenen Interpretation. Wenn Imhotep seine Fähigkeit, die Djoser- Pyramide zu entwerfen, seiner Einweihung in die Geheimnisse der geistigen Welt verdankte, dann benötigte seine Einweihung der Pyramide gar nicht. Sie konnte nicht in der Pyramide stattfinden, weil diese noch nicht existierte. Wenn sie also überhaupt stattfand, dann musste die Einweihung woanders abgehalten worden sein. Ist meine Interpretation der Funktion des Hypogäums, von Newgrange oder der Cheops-Pyramide als Einweihungsorte hinfällig? Ein solcher Schluss wäre verfrüht. Denn mindestens die folgenden zwei Möglichkeiten der Erklärung bieten sich an, selbst dann, wenn man konzediert, dass die Einweihung auch ohne solche besonderen baulichen Konstruktionen möglich ist: Erstens ist denkbar, dass unsere Vorfahren auf einer bestimmten Stufe ihrer Kulturentwicklung zur Überzeugung gelangten, dass den Einweihungszeremonien eine ihnen angemessene und würdige bauliche Schale verliehen werden muss. So wie die späteren Menschen Tempel und noch späteren Kirchen als Kultstätten errichtet haben, in welchen die Anwesenheit der göttlichen Wesen besonders gefühlt und Kontakt mit ihnen besonders gepflegt werden konnte, so errichteten die frühgeschichtlichen Menschen besondere Stätten, an denen Opfergabe und Gebet gepflegt wurden, aber auch Zeremonien zur „ Vergöttlichung “ besonderer Individualitäten stattfanden. Denkbar ist zweitens, dass die Beziehung der Menschen zu den übersinnlichen Wesen in der „ goldenen “ Frühzeit noch so intim war, dass sie keine besonderen Vorrichtungen benötigte. So heißt es in Hesiods Werke und Tage (vor 700 v. Chr.): Willst du, so werd ’ ich sogleich ein anderes Wort noch berichten Klar und mit Kunst; du aber erfass es mit willigem Herzen, Wie aus dem selbigen Grund aufsprossten die Götter und Menschen. Vorerst schufen ein goldnes Geschlecht hinfälliger Menschen Sie, die unsterblichen Götter, olympische Häuser bewohnend. Ihnen gebot noch Kronos, indem er den Himmel beherrschte. Diese nun lebten wie Götter, von Sorgen befreit das Gemüte, Fern von Mühen und fern von Trübsal; lastendes Alter Traf sie nimmer; an Händen und Füßen die nämlichen immer, Freuten sie sich bei Gelagen, entrückt stets jeglichem Übel. Wie vom Schlummer bezwungen verschieden sie; keines der Güter Missten sie; Frucht gab ihnen das nahrungsspendende Saatland 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1081 Gern von selbst und in Hülle und Fülle; und ganz nach Belieben Schafften sie ruhig das Werk im Besitze der reichlichsten Gaben, Wohl mit Herden gesegnet, den seligen Göttern befreundet. (106 - 121) 223 Für Hesiod „ sprossten “ die ersten Menschen also „ auf dem selbigen Grund “ wie die Götter „ auf “ und sie waren mit ihnen befreundet. Und noch Platon sah in den Heroen Halbgötter, die gezeugt wurden, als „ Eros entweder einen Gott einer Sterblichen oder eine Göttin einem Sterblichen zuführte “ (Kratylos 398 c - d, in Platon 1994 c, S. 35). Erst mit der Zeit wurde das Verhältnis von Mensch und Gott distanzierter, und schließlich mussten komplexe Methoden entwickelt werden, um den Kontakt mit der göttlichen Welt herbeizuführen. Und diese Methoden verlangten für ihre Ausführung besonders eingerichtete architektonische „ Gefäße “ , eben die Monumentalbauten. Fazit Wohin haben uns die Betrachtungen dieses Kapitels geführt? Zum einen haben wir, so hoffe ich, die Überzeugung gewonnen, dass die sog. „ Mysterien “ der Antike Realitäten waren: im alten Griechenland, aber auch im alten Ägypten und höchstwahrscheinlich in noch älteren Kulturen ebenso. Wir haben ferner gesehen, dass das Hauptziel der Mysterien die Einweihung war, d. h. ein Geflecht von Erfahrungen, das einerseits vertiefte Einsicht in die übersinnliche Welt, andererseits eine Begegnung mit den Gottheiten „ von Angesicht zu Angesicht “ ermöglichte und dadurch einen Wandel der Persönlichkeit und der Lebensführung initiierte. Es herrschte zumal die Überzeugung, dass eine solche Begegnung von entscheidender Bedeutung für das nachtodliche Schicksal der betreffenden Person war. Wir haben ferner gesehen, dass die von uns betrachteten Kulturen bereit waren, sehr große Ressourcen zu investieren, um monumentale Bauten wie das Hypogäum von Ħ al-Saflieni, die Anlage von Newgrange oder die Cheops-Pyramide zu erstellen. Bei diesen Anlagen handelt es sich vielleicht gar nicht oder nicht hauptsächlich um Gräber, sondern vielmehr um Tempel, die Einweihungserlebnisse ermöglichten. Angesichts des betriebenen Aufwandes liegt die Vermutung nahe, dass die Einweihung vor allem als gesellschaftlich nützlich erachtet wurde: Sie „ reinigte “ den König und andere führende Persönlichkeiten der Gesellschaft und brachte sie in die Nähe zur Gottheit, die die Geschicke des Landes lenkte. Sie vermittelte aber auch kulturstiftende Fähigkeiten, welche den zivilisatorischen Fortschritt ermöglichten. Stimmen diese Vermutungen, dann müssen wir die Menschheitsgeschichte anders schreiben, als dies bis heute innerhalb des materialistischen Erklärungsparadigmas geschieht. Wir sind nicht von den Bäumen, sondern 223 http: / / www.gottwein.de/ Grie/ hes/ ergde.php (heruntergeladen am 23. 11. 2014). 1082 9 Neue Sicht der alten Geschichte aus der geistigen Welt auf die Erde herabgestiegen. Unsere Vorfahren waren nicht die wilden und dummen „ Jäger und Sammler “ , sondern vielmehr Menschen, welche zwar nicht über unsere heutige Technologie, aber dafür über einen uns unvorstellbar intimen und lebhaften Kontakt mit der Welt ihres und unseres Ursprungs, mit der geistigen, göttlichen Welt verfügten. Aus dieser Einsicht ergibt sich sachgemäß die Frage: Kann man auch heute noch einen solch intensiven Kontakt mit der geistigen Welt pflegen? Und ferner: Könnte aus einem solchen Kontakt - so wie das in der vorgeschichtlichen Gesellschaften der Fall war - individueller, aber vor allem sozialer Nutzen erwachsen? 9 Neue Sicht der alten Geschichte 1083 10 Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals 224 Wie wir im Kapitel „ Was ist Wissenschaft “ gesehen haben, zielt eine der zentralen Forderungen der Wissenschaft auf die Objektivität der Forschungsresultate. Allerdings haben wir gravierende Zweifel an der Fähigkeit der Wissenschaft angemeldet, diese Objektivität zu gewährleisten. So meinen z. B. viele Soziologen der Wissenschaft, dass die heutige Wissenschaft viel weniger objektiv sei, als sie vorgibt. Mehr noch: Im Abschnitt „ Feministische Wissenschaftstheorie “ haben wir gesehen, dass manche Philosophinnen die gewöhnlichen Konnotationen des Objektivitätsbegriffs (Distanziertheit, Unterdrückung der Gefühle, Eliminierung der Individualität des Forschers/ der Forscherin aus dem Forschungsresultat) grundsätzlich in Frage stellen, und im Abschnitt „ Das Paradigma der qualitativen Forschung “ haben wir zur Kenntnis genommen, dass manche Denker die Objektivität der Forschungsergebnisse für grundsätzlich unmöglich, aber auch für unerheblich erachten. Aber auch einige orthodoxe Wissenschaftstheoretiker äußern sich kritisch, indem sie darauf hinweisen, dass Objektivität wohl nicht darin bestehen könne, sich dem Forschungsobjekt gegenüber völlig unpersönlich und distanziert zu verhalten, denn eine solche Haltung würde jegliche Motivation für die Forschungstätigkeit nehmen und sie paralysieren. So schreibt z. B. Rosenberg: Objectivity cannot after all be a matter of complete disinterestedness, value neutrality, or detachment of the scientist from the object of inquiry. For if this were so, there would be no motivation, in judgements of significance, for the inquiry to begin with. (Rosenberg 2012, S. 270) Paul Feyerabend sah im Ideal der Objektivität ein geradezu gefährliches Ziel: For is it not possible that science as we know it today, or a „ search for the truth “ in the style of traditional philosophy, will create a monster? Is it not possible that an objective approach that frowns upon personal connections between the entities examined will harm people, turn them into miserable, unfriendly, self-righteous mechanisms without charm or humor? (AM 2010, S. 156) Auf der anderen Seite haben wir jedoch auch Denker vorgestellt, die die Möglichkeit, objektive Erkenntnis zu erreichen, für unerlässlich halten und in 224 Dieses Kapitel gibt in wesentlich umgearbeiteter Form die Überlegungen aus meiner Dissertation wieder (Majorek 2002, S. 73 - 205 und 275 - 353). der gegenteiligen Behauptung ein Paradebeispiel für einen Selbstwiderspruch erblicken. Wie kann man diese widersprüchliche Ansichten und Anliegen harmonisieren? Kann man das überhaupt? Ein notwendiger Schritt in Richtung der Vereinheitlichung dieser divergierenden Meinungen liegt darin, sich darüber Rechenschaft abzugeben, was unter Objektivität überhaupt zu verstehen ist. Ich habe bereits einige Kriterien, die mit ihr gemeinhin assoziiert werden, genannt: Unabhängigkeit von den Präferenzen, Neigungen, Vorurteilen usw. einzelner Forscher, Unabhängigkeit von sozialen und kulturellen Prägungen, Ausgewogenheit der Urteile usw. Hinzu kommen folgende Merkmale: Objektive Forschung ist eine Forschung, welche sich auf präzise Instrumente, genaue Messmethoden und mathematische Verarbeitung der Daten stützt. Objektiv ist, was sich überprüfen, reproduzieren lässt. Diese alltäglichen Assoziationen werden sehr schön in der Definition der englischsprachigen Wikipedia formuliert: Objectivity in science is a value that informs how science is practiced and how scientific truths are discovered. It is the idea that scientists, in attempting to uncover truths about the natural world, must aspire to eliminate personal biases, a priori commitments, emotional involvement, etc. Objectivity is often attributed to the property of scientific measurement, as the accuracy of a measurement can be tested independent from the individual scientist who first reports it. It is thus intimately related to the aim of testability and reproducibility. To be properly considered objective, the results of measurement must be communicated from person to person, and then demonstrated for third parties, as an advance in understanding of the objective world. Such demonstrable knowledge would ordinarily confer demonstrable powers of prediction or technological construction. 225 In dieser Definition wird Objektivität explizit als eine Eigenschaft der wissenschaftlichen Messung verstanden. Wenn diese Interpretation richtig wäre, dann können die Ergebnisse der qualitativen Forschung tatsächlich unmöglich als objektiv gelten, und man müsste sie als unwissenschaftlich abstempeln. Aber nicht nur sie. Schließlich gibt es zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen, die nicht auf Messung und mathematische Verarbeitung von Daten zurückgreifen, wie etwa das weite Feld der sog. Geisteswissenschaften. Wenn also Objektivität der Erkenntnisresultate zwingend von Messung usw. abhängig ist und Objektivität der Forschungsresultate eine Bedingung sine qua non ihrer Wissenschaftlichkeit darstellt, so müssten auch diese als unwissenschaftlich gelten. Ist dieses Ergebnis tatsächlich unvermeidlich? 225 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Objectivity_(science) (heruntergeladen am 27. 11. 2014). 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1085 Hinterfragt man derartige alltäglichen Assoziationen des Objektivitätsbegriffs, so stößt man auf Überraschungen. Betrachten wir ein ganz konkretes Beispiel. Nehmen wir an, dass ich die Länge des Tisches, vor welchem ich stehe, feststellen möchte. Ich nehme einen Maßstab und komme zu dem Ergebnis, dass sie 120 cm beträgt. Nehmen wir ferner an, dass eine zweite Person den gleichen Tisch misst und zu einem anderen Ergebnis kommt, sagen wir 119 cm, und dass eine dritte Person das Resultat 121 cm erhält. Bei einer solchen Streuung von Messresultaten, die natürlich auch im Physiklabor vorkommt, entsteht zwangsläufig die Frage, was eigentlich stimmt. Der Tisch kann nur eine, nicht drei Längen haben, also können nicht alle drei Messungen richtig sein. Man ist vielleicht zunächst geneigt, die Frage „ Was stimmt? “ in die Frage „ Was ist objektiv, was ist subjektiv? “ umzuwandeln. Betrachten wir das genauer und nehmen wir an, dass dieser konkrete Tisch in Wirklichkeit genau 120 cm lang ist. Bei zehnmaliger Messwiederholung ist man acht Mal auf 120 cm gekommen, und nur zwei Messungen ergaben abweichende Resultate. Würden wir dann sagen, dass diese abweichenden Ergebnisse (119, 121) subjektiv seien? Wir würden dem Autor des falschen Ergebnisses vielleicht sagen: „ Du hast dich getäuscht, du hast den Tisch falsch gemessen “ , wir würden sagen: „ Dein Ergebnis ist falsch “ , wir würden jedoch nicht sagen: „ Dein Ergebnis ist subjektiv. “ Zwischen „ falsch “ und „ subjektiv “ gibt es einen sehr bedeutenden Unterschied. Dies lässt sich an einer mathematischen Operation verdeutlichen: Wie viel ist 5 x 12? Wir brauchen nicht einmal zwei Sekunden, um auf das Ergebnis 60 zu kommen. Stellen wir uns aber vor, dass ein Kind in der zweiten Klasse, das überdies mathematisch nicht sonderlich begabt ist, diese Rechnung durchführt und zum Ergebnis kommt, dass diese Multiplikation 58 ergibt. Wir werden dann nicht sagen: „ Schau mal, dein Ergebnis ist subjektiv “ , sondern: „ Das ist falsch, du hast dich verrechnet, rechne noch einmal nach, dann kommst du schon auf das Richtige! “ Wenn es also heißt, dass Messung die Objektivität der Forschung ausmacht, so stimmt dies nicht mit unserem Sprachgefühl überein, denn eine Messung ist zwar richtig oder falsch, nicht aber objektiv oder subjektiv. Dasselbe lässt sich auch von den Ergebnissen mathematischer Operationen sagen: Sie können richtig oder falsch, nicht aber objektiv oder subjektiv sein. Dies gilt im Übrigen auch für einen komplizierten mathematischen Beweis. Während man also gewöhnlich sagt: „ So viel Objektivität in der Wissenschaft wie Mathematik in ihr “ , so legt unsere Beobachtung den Schluss nahe, dass die Mathematik nur richtig oder falsch, aber nicht objektiv oder subjektiv ist. Ist es also richtig zu behaupten, dass Objektivität „ die Eigenschaft der wissenschaftlichen Messung “ ist? Und wenn nicht, was ist sie dann genau? In der wissenschaftlichen Literatur findet man etwa folgende Erläuterung: Worauf diese „ wissenschaftliche Objektivität “ hinauswill, ist klar: Sie dient dazu, sich dagegen abzusichern, dass in das Wahrgenommene menschliche oder übernatürliche Motive oder Emotionen oder vorgefasste Meinungen hineinprojiziert 1086 10 Das Wesen des Objektivitätsideals werden, die nicht in der ‚ Tatsache ‘ vorhanden sind und daher auch nicht gesehen werden sollten. (Maslow 1977, S. 147) Schon eine kursorische Durchsicht der relevanten Literatur genügt aber, um festzustellen, dass der Objektivitätsbegriff nicht einheitlich ist, sondern eine Mannigfaltigkeit mehr oder weniger subtil voneinander abweichender Merkmale beinhaltet, so dass man nur von einem roten Faden sprechen kann, der die verschiedenen Auffassungen verbindet (einer Familienähnlichkeit im Sinne von Wittgenstein [Wittgenstein 1984 a, § 67]). Daston beschreibt den Gebrauch dieses Begriffs sogar als „ hoffnungslos verworren “ (Daston 1992, S. 597). Schlimmer noch, wenn man den „ roten Faden “ genauer unter die Lupe nimmt, gewinnt man den Eindruck, dass sich hinter der Fassade der Gemeinsamkeit oft beunruhigende Ungereimtheiten verbergen. Ich habe die verwirrende Vielfalt der Konzeptionen ausführlich in meiner Dissertation diskutiert (Majorek 2002, S. 77 - 100) und werde hier deshalb nur das Nötigste zusammenfassen. Einen guten Überblick über den gegenwärtigen Gebrauch des Objektivitätsbegriffs bietet die von Megill herausgegebene Aufsatzsammlung Rethinking Objectivity (Megill 1994), da in ihr verschiedene Autoren ihre Auffassung unabhängig voneinander formulieren. Betrachten wir einige dieser Formulierungen genauer. Andy Pickering schreibt Folgendes: The everyday connotations of ‚ objectivity ‘ are straightforward. They reflect the conviction that some body of knowledge is not the product of the whims or artifices of individuals or groups. To affirm the objectivity of scientific knowledge is to affirm that it is not, for example, a projection of human fantasy. Instead, the production of scientific knowledge is disciplined by its subject matter, the material world, and this is what gives it its objective quality, its otherness from us. (Pickering 1994, S. 109) Einige Seiten später formuliert Mary E. Hawkesworth ihre Sicht des Problems wie folgt: [A]n objective account implies a grasp of the actual qualities and relations of objects as they exist independent of the inquirer ’ s thoughts and desires regarding them. In the spheres of ethics, law, and administration, objectivity suggests impersonal and impartial standards and decision procedures that produce disinterested and equitable judgements. Objectivity, then, promises to free us from distortion, bias, and error in intellectual inquiry and from arbitrariness, self-interest, and caprice in ethical, legal, and administrative decisions. (Hawkesworth 1994, S. 151f.) Wieder einige Seiten später schreibt Theodore M. Porter Folgendes: Objectivity in science has for the most part been treated as synonymous with realism, a question of the correspondence between knowledge and the world. But the social meaning of objectivity is at least as interesting, though it has rarely been investigated systematically. With this in mind, it is advantageous not to assign the term a strong, metaphysical significance, but to treat it simply as the opposite of subjectivity. Subjectivity refers to actions and decisions that are fundamentally 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1087 personal and often, from the standpoint of an outsider, arbitrary. (Porter 1994, S. 197) Im gleichen Band formuliert Barbara Herrnstein Smith ihre Auffassung des Problems folgendermaßen: A major project of classic epistemology has been to ground - justify and underwrite - the claims of some judgements to objective validity. ‚ Objective ‘ , in this tradition, is understood to mean independent of particular historical, cultural, or circumstantial conditions, and independent, also, of the perspectives of particular persons. (Herrnstein Smith 1994, S. 289) Man könnte diese Aufzählung verlängern, aber schon die angeführten vier Beispiele machen deutlich, dass, obwohl gewisse Überschneidungen zwischen den Autoren durchaus vorhanden sind, ihre Meinungen im Einzelnen deutlich auseinandergehen. Die bereits früher erwähnte hochgeachtete Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie schließlich schreibt Objektivität nicht nur epistemischen Aussagen, sondern auch Haltungen oder sogar Ereignissen zu: [D]ie philosophische Terminologie seit A. G. Baumgarten [versteht] unter Objektivität eine Ereignissen, Aussagen oder Haltungen (Einstellungen) zuschreibbare Eigenschaft, die vor allem ihre Unabhängigkeit von individuellen Umständen, historischen Zufälligkeiten, beteiligten Personen etc. ausdrücken soll. Objektivität kann daher häufig als Übereinstimmung mit der Sache unter Ausschaltung aller ‚ Subjektivität ‘ , d. h. als ‚ Sachgemäßheit ‘ oder ‚ Gegenstandsorientiertheit ‘ charakterisiert werden. (Thiel 2004, S. 1053) Kann man wirklich von Objektivität von Haltungen und/ oder Ereignissen sprechen? Im Weiteren hebt diese Definition auch die „ Alltagskonnotationen “ von Objektivität (Wertfreiheit, Unparteilichkeit) hervor: Im Bereich der Texte gilt das ‚ objektive Urteil ‘ im Sinne einer sachlichen und wertfreien Aussage traditionell als Musterbeispiel einer wissenschaftlichen Aussage, und die objektive (im Sinne von: neutrale, nicht wertende) Einstellung bei der Behandlung von Problemen, der Durchführung von Beobachtungen oder der Überprüfung von Aussagen als Kennzeichen einer wissenschaftlichen Haltung, die im Falle ihrer Anwendung auf soziale Probleme durch Unparteilichkeit zugleich Gerechtigkeit verbürge. (Thiel ebd.) Die wissenschaftliche Literatur trägt also eher zur Verwirrung bei, als dass sie sie auflöst. Objektivität als intersubjektive Übereinstimmung Die Lage wird noch verwickelter, wenn Objektivität mit intersubjektiven Übereinstimmung oder anders gesagt Intersubjektivität gleichgesetzt wird. So meint z. B. Richard Rorty: „ Der Gebrauch solcher Ehrentitel wie ‚ objektiv ‘ und ‚ kognitiv ‘ ist nie mehr als der Ausdruck der Übereinstimmung von 1088 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Forschern untereinander (oder der Hoffnung auf solche Übereinstimmung) “ (Rorty 1987, S. 365) 226 . Ähnlich sieht Nicholas Rescher das Problem: Physicists see objectivity as a matter of the invariance of results under changes of an observer-correlative coordinate system. Analogously, we may regard cognitive objectivity in general as a matter of an invariance of result under changes of an opinion-correlative system of personal or communally held prejudices, preferences, biases, or the like. An objective judgement is one that abstracts from personal idiosyncrasies or group parochialisms. [. . .] Objective judgements are those that have a cogency compelling for everyone alike (or at least all normal and sensible people), independently of idiosyncratic tendencies and inclinations. (Rescher 1997, S. 7) Auch Donald Davidson scheint dieser Sichtweise geneigt zu sein: „ And objectivity itself we have traced to the intersection of points of view; for each person, the relation between his own reactions to the world and those of others “ (Davidson 1996, S. 174) 227 , und Jürgen Habermas meint: „ Objektivität von Erfahrungen besteht nun darin, dass sie intersubjektiv geteilt werden können “ (Habermas 1994, S. 386). Betrachtet man das Kriterium der intersubjektiven Übereinstimmung, zeigt sich bald, und zwar trotz des beträchtlichen Gesamtgewichts der sie stützenden philosophischen Ansichten, dass sie unsere Intuitionen nicht zu befriedigen vermag. Die genauen Konsequenzen dieses Kriteriums sind zwar von seiner konkreten Formulierung abhängig, welche kaum je vorliegt, ich glaube aber, dass nur schwer eine Formulierung zu finden ist, welche sich mit unseren Sprachintuitionen vollständig decken würde. Das zentrale Problem dieses Kriteriums bezieht sich auf die Grenzen der Gemeinschaft, welche eine Auffassung bzw. eine Überzeugung teilen soll, um ihr den Status der Objektivität zu verleihen. Die meisten Philosophen versäumen es, diese Grenzen explizit zu machen, lediglich Rescher identifiziert sie mit „ allen normalen und vernünftigen Menschen “ 228 , und bei Habermas lässt sich vermuten, dass er die Gemeinschaft mit der Gruppe der Menschen mit normalen Sinnesorganen identifiziert. Interpretiert man die postulierte 226 Auf der anderen Seite kann man in seinen neueren Publikationen (z. B. Wahrheit und Fortschritt, Rorty 2000) Spuren des Zugeständnisses finden, dass die beiden Begriffe nicht zusammenfallen. In seiner Diskussion einer möglichen Kultur, die verschiedene gleichberechtigte Beschreibungen der Welt zulassen würde, schreibt er: „ Ein solcher Wandel unserer geistigen Gewohnheiten hätte zumindest zwei weitere spezifische Vorteile. [. . .] Zweitens würde es uns dabei helfen, dass wir aufhören, uns Sorgen um die Objektivität zu machen, indem er es uns gestattete, mit Intersubjektivität vorliebzunehmen “ (Rorty ebd., S. 15). Diese Feststellung kommt der Anerkennung gleich, dass eine stärkere Auffassung von Objektivität als bloße Intersubjektivität durchaus denkbar, aber unnötig sei. 227 Auch ebd.: „ A community of minds is the basis of knowledge; it provides the measure of all things. “ 228 Seine „ first-person plural “ oder „ FPP “ -Gruppe (Rescher 1997, S. 14). 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1089 Gemeinschaft in einem schwächeren Sinne als große Gruppe von Menschen, welche eine bestimmte Meinung (ich klammere jetzt die Habermas ’ sche Sicht als idiosynkratisch aus) teilen, müsste man schließen, dass Aussagen wie „ Die Erde ist flach “ , „ Die Sonne dreht sich um die Erde “ , „ Gott schuf die Welt in sieben Tagen “ , „ Juden und Slawen sind Untermenschen “ usw. objektiven Charakter haben, da sie (zu einer bestimmten Zeit) von sehr vielen Menschen anerkannt wurden. Dieses Resultat ist offensichtlich unbefriedigend. Eine solche Auffassung der Objektivität würde zulassen, dass bloß sozial, geschichtlich und kulturell bedingte Überzeugungen den Status der Objektivität erlangen oder zumindest beanspruchen können, sobald sie nur genügend weit verbreitet sind. Es würde auch bedeuten, dass etwas, was heute objektiv ist, es morgen nicht mehr sein muss. Objektivität ist hier zu billig zu haben. Schon Nagel stellte 1986 unmissverständlich fest, dass Intersubjektivität (in dem gegenwärtigen schwachen Sinne) kein ausreichendes Kriterium der Objektivität sein kann: „ The idea of objectivity always points beyond mere intersubjective agreement “ (Nagel 1986, S. 108). Später äußerte Brandom gleiche Vorbehalte. Er nennt die Schwäche, die der Auffassung der Objektivität als Intersubjektivität in ihrem schwachen Sinne inhäriert, die „ globale Privilegierung der Gemeinschaft “ (Brandom 1994, S. 599), weil sie ex definitione ausschließt, dass die ganze Gemeinschaft falsche Überzeugungen hegen kann: The identification of objectivity with intersubjectivity so understood is defective in that it cannot find room for the possibility of error regarding that privileged perspective [Perspektive der Gemeinschaft]; what the community takes to be correct is correct. The community, it may be said, is globally privileged. (Brandom ebd.) 229 Erweitert man die Gemeinschaft, welche für den Status der Objektivität notwendig wäre, auf „ alle normalen und vernünftigen Menschen “ , was ursprünglich von Kant vertreten wurde (Kant 2001, § 19, S. 63f.) und heute z. B. von Rescher (Rescher 1997, S. 8) und Bell (Bell 1992, S. 310) geteilt wird, wird man mit dem entgegensetzten Problem konfrontiert: Objektivität wird zu teuer. Sie wird unerreichbar. Denn die vernünftigen (alten) Griechen hatten ganz andere Vorstellungen vom Ursprung der Welt als wir, was bedeuten würde, dass weder ihre noch unsere Vorstellungen den Status der Objektivität beanspruchen könnten. Rettet man sich aus dieser Falle dadurch, dass man die „ vernünftige Gemeinschaft “ z. B. auf unsere Gegenwart beschränkt, hat man mindestens drei Probleme: Erstens ist man eine Begrün- 229 Interessanterweise gibt selbst Rorty zu, dass der Begriff der Wahrheit einen absoluten Charakter habe, weil die Äußerungen der Art „ wahr für mich, aber nicht für dich “ , „ wahr in meiner Kultur, aber nicht in deiner “ , „ damals wahr, aber nicht heute “ „ befremdlich und witzlos “ seien (Rorty 2000, S. 8). Es ist durchaus plausibel, dass er das Gleiche zu dem Begriff der Objektivität sagen würde, weshalb er beide Begriffe (Wahrheit und Objektivität) aus dem Diskurs eliminieren möchte (ebd., S. 10, 15). 1090 10 Das Wesen des Objektivitätsideals dung dafür schuldig, weshalb unser Zeitalter in Sachen Objektivität privilegiert sein soll. 230 Zieht man als Unterstützung für diese These das Argument heran, dass wir erst jetzt über eine objektive Wissenschaft verfügen, entpuppt sich das Argument als zirkulär; lässt man hingegen den Status der Wissenschaft gegenüber der Objektivität offen, zeigt es sich als leer: Wir haben vorerst keine Gründe zu behaupten, dass unsere Vernunft vernünftiger als die altgriechische (oder die altägyptische etc.) Vernunft ist. Zweitens wäre die Menge der so bestimmten „ objektiven Urteile “ beschränkt. Es gibt nämlich lebende und anscheinend vernünftige Menschen, welche Propositionen wie „ Die Welt besteht nur aus Materie “ , oder „ Die Welt ist mit dem Urknall entstanden “ oder „ Der Mensch hat sich aus dem Affen entwickelt “ usw. nicht teilen. Nach dem Kriterium „ Objektiv sind Aussagen, welche von allen lebenden vernünftigen Menschen akzeptiert sind “ , wären somit viele wichtige wissenschaftliche Behauptungen als „ subjektiv “ einzustufen. Die Verfechter eines solchen Kriteriums wollen jedoch gerade diese Konsequenz vermeiden. Ein möglicher Ausweg aus dieser Schwierigkeit ist die Begrenzung der Menge der „ lebenden vernünftigen Menschen “ auf diejenige, welche „ unstrittige “ (allgemein akzeptierte) wissenschaftliche Behauptungen akzeptieren. Es ist aber sofort ersichtlich, dass dieser Ausweg ebenfalls zirkulär ist: Vernünftigkeit würde mit gängiger Wissenschaft identifiziert. Drittens gehen die Meinungen bezüglich der Frage, was ein angemessenes Kriterium für eine begründete/ gerechtfertigte Aussage ist, auch heute weit auseinander, 231 was nach der „ starken “ Auffassung der Intersubjektivität bedeutet, dass es heute keine objektiven Überzeugungen gibt, was wiederum selbstwidersprüchlich ist. Der Versuch, Objektivität mit intersubjektiver Übereinstimmung der Überzeugungen zu identifizieren, muss somit als gescheitert betrachtet werden. Absolute Übereinstimmung ist unerreichbar, aber wir reden schon jetzt von objektiven Urteilen, Ansichten usw. und müssen von ihnen reden. Die Verfechter der begrenzten Übereinstimmung sind uns ein annehmbares Kriterium der Grenzen der Mustergemeinschaft schuldig, was bis jetzt nicht geleistet wurde und aller Voraussicht nach nicht geleistet werden kann. Es ist aber möglich, die Intersubjektivität der Meinung als ein notwendiges (wenn eben nicht hinreichendes) Kriterium ihrer Objektivität zu erklären. Es scheint vorerst tatsächlich schwierig, sich eine Situation vorzustellen, in welcher eine von niemandem geteilte Meinung für objektiv gehalten würde. Wollte man diese Option wählen, bliebe jedoch die heikle Aufgabe, die Grenzen der Gemeinschaft, welche eine Meinung teilen müsste, festzulegen. Es bliebe 230 Vgl. Reschers „ kognitiver Kopernikanismus “ Problem, s. oben, Kap. „ Was ist Wissenschaft . . . “ . 231 Ich setze an dieser Stelle voraus, dass die Begründung bzw. Rechtfertigung einer Aussage ein notwendiges, wenn nicht hinreichendes Kriterium ihrer Objektivität ist. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1091 darüber hinaus die Aufgabe, die hinreichenden Kriterien der Objektivität zu bestimmen. Objektivität als Nachprüfbarkeit Ein weiteres oft genanntes Kriterium der Objektivität ist Nachprüfbarkeit, ein Kriterium, das auch mit Wissenschaftlichkeit als solcher assoziiert wird. Bereits in den 30er-Jahren identifizierte Karl Popper die Objektivität einer Aussage mit ihrer Nachprüfbarkeit: „ Die Objektivität der wissenschaftlichen Sätze liegt darin, dass sie intersubjektiv nachprüfbar sein müssen “ (Popper 1966, S. 18). Vor einigen Jahren griff Drieschner diese Idee auf: „ Eine Beschreibung ist objektiv, wenn jedermann zu jeder Zeit - jedenfalls im Prinzip - selbst nachprüfen kann, ob [sie] richtig ist “ (Drieschner 1997, S. 346). 232 Poppers Formulierung ist offensichtlich eine Variante des Intersubjektivitätskriteriums und schon aus diesem Grund unbefriedigend. Drieschners Formulierung umgeht diese Falle dadurch, dass sie nicht - explizit - auf Intersubjektivität rekurriert. Eine genauere Analyse zeigt aber, dass auch Drieschner ohne den Rückgriff auf intersubjektive Kriterien der Geltung einer Aussage nicht auskommen kann. Erstens bedarf seine Formulierung einer Korrektur, ohne welche sie die unerwünschte Konsequenz hätte, dass manche wissenschaftlichen Bona-fide-Aussagen ihren Objektivitätsstatus einbüßen müssten. Man darf sich nämlich nicht der Illusion hingeben, dass z. B. die Resultate eines Experiments der Teilchenphysik in einem Beschleuniger „ von jedermann zu jeder Zeit “ (auch nicht „ im Prinzip “ ) nachgeprüft werden können. Sie können - und das oft nur mit einer Prise Glück - lediglich von hochqualifizierten Wissenschaftlern, die über die notwendigen Geräte verfügen, überprüft werden. Nach Drieschners Formulierung wären wir dann mit dem Paradox konfrontiert, dass eine wissenschaftliche Aussage nicht objektiv ist, weil sie ein Hans Meier nicht überprüfen kann. Das gleiche Problem stellt sich selbstverständlich auch in Bezug auf theoretisches Denken: Ich bin der höheren Mathematik leider nicht mächtig, kann also nicht hoffen, je die komplexen Deduktionen eines Prof. Weinberg oder Prof. Hawking prüfen zu können. Ich bin jemand, also gibt es jemand, der sie nicht nachprüfen kann, also sind sie nicht objektiv, was offensichtlich eine Absurdität wäre. Wenn mit „ jedermann “ „ jedermann, der entsprechend ausgebildet ist und über die notwendigen Mittel verfügt “ gemeint ist, entfällt das Problem; deshalb müsste m. E. Drieschners Formulierung des Nachprüfbarkeitskriteriums dahingehend modifiziert werden. Vollzieht man aber eine solche Korrektur, erweist sich das Kriterium sofort als kultur- und zeitrelativ: Nur diejenigen Menschen können eine Aussage prüfen, die entsprechend 232 Es muss hinzugefügt werden, dass seiner Ansicht nach dieses Verständnis des Objektivitätsideals eigentlich eine Verzerrung bedeutet und der Objektivierung der Wirklichkeit gleichkommt (ebd., S. 343f.), obschon er sich auch positiv zu der Rolle dieses Ideals in der Wissenschaft äußert (vgl. ebd., S. 346, 347). 1092 10 Das Wesen des Objektivitätsideals ausgebildet sind, das heißt aber, die die Gültigkeit der Prüfungsarten/ Kriterien der Objektivität bereits akzeptiert haben. 233 Nach der genannten Korrektur reduziert sich das Kriterium der Nachprüfbarkeit auf die Aussage: „ Objektiv ist, was die geltende Wissenschaft als objektiv erachtet “ , was selbstverständlich allen oben diskutierten Schwächen des Intersubjektivitätskriteriums unterliegt und Brandoms „ globale Privilegierung der Gemeinschaft “ (in diesem Falle der „ gegenwärtig als wissenschaftlich “ geltenden Gemeinschaft) zur Folge hat. Es ist unter dieser Voraussetzung unmöglich zu behaupten, dass eine Aussage, welche die gegenwärtig als wissenschaftlich geltenden Prüfungsarten bestanden hat, dennoch nicht objektiv sei. Es ist aber eine Binsenweisheit, dass manche Aussagen, welche in der Vergangenheit als in diesem Sinne wissenschaftlich galten, heute längst verworfen sind. 234 Die Nachprüfbarkeit - auch in der Version von Drieschner - erweist sich somit als eine Variante des Intersubjektivitätskriteriums, das bereits als unzureichend zurückgewiesen worden ist. Das Kriterium der Nachprüfbarkeit zeigt darüber hinaus noch weitere Schwächen. Erstens verwehrt es naturwissenschaftlichen Aussagen den Status der Objektivität, die sich nicht auf Regelmäßigkeiten beziehen. In der Wissenschaft wie im alltäglichen Leben hat man es jedoch oft mit einzigartigen, nicht wiederholbaren Ereignissen bzw. Situationen zu tun (Supernova-Explosion, Vulkanausbruch, Erdbeben, eine bestimmte Theateraufführung usw.), über die man kognitiv signifikante (objektive) Aussagen machen will. Das Spezifische dieser Vorgänge ist gerade das Interessante (z. B. „ Dieses Erdbeben, obschon lediglich von der Stärke 6,0 auf der Richter-Skala, hat besonders große Schäden verursacht “ ). Obwohl manche Aspekte dieser Ereignisse allgemeinen Gesetzmäßigkeiten unterliegen können, lässt sich das Einmalige an ihnen, gerade weil es einmalig ist, nicht wiederholen, und insbesondere nicht unter kontrollierten Laborbedingungen. Die Aussagen über solche Ereignisse lassen sich also prinzipiell nicht nachprüfen, es scheint aber völlig unangebracht, ihnen aus diesem Grund die Möglichkeit der Objektivität abzusprechen. Zweitens blockiert dieses Kriterium die Möglichkeit der Objektivität von Aussagen, welche sich auf interne subjektive Zustände beziehen ( „ Ich habe Kopfweh “ , „ Ich habe Angst vor dieser Spinne “ usw.; vgl. dazu Nagel: „ There must be a notion of objectivity which applies to the self, to phenomenological qualities, and to other mental categories, for it is clear that the idea of a mistake with regard to my own personal identity, or with regard to the phenomenological quality of an experience, makes sense “ 233 Es ist selbstverständlich durchaus denkbar, dass jemand, der eine konventionelle wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen hat, dennoch die Gültigkeit der wissenschaftlichen Methoden nicht akzeptiert. Er hat aber dann vorerst keine Methode, um den Objektivitätsstatus einer Aussage zu verifizieren. 234 Laudan 1981, S. 33 listet Theorien auf, die einmal als bestätigt galten, später aber verworfen wurden. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1093 (Nagel 1986, S. 36 235 ). Drittens schließt das Kriterium die Möglichkeit der Objektivität des Expertenwissens aus. Wenn zwei Personen, ein Gelegenheitskinobesucher und ein professioneller Filmkritiker, denselben Film gesehen haben und die erste Person im Nachhinein feststellt: „ Mir hat dieser Film nicht gefallen “ , der Kritiker aber urteilt: „ Das war der beste Dokumentarfilm, den ich dieses Jahr gesehen habe “ , dann wollen wir die Möglichkeit haben, den kognitiven Wert dieser beiden Aussagen hinsichtlich ihrer Objektivität anders beurteilen zu können. Wir nehmen spontan an, dass das Urteil eines Experten objektiver ist als das Urteil eines Laien. 236 Es ist jedoch vorerst überhaupt nicht einsichtig, wie solche Expertenurteile allgemein nachprüfbar sein könnten; die Annahme des Nachprüfbarkeitskriteriums hätte also die unerwünschte Folge, dass diesen Urteilen die Möglichkeit der Objektivität prinzipiell abgesprochen werden müsste. Differenzierungen des Begriffs Manche Autoren weisen darauf hin, dass der Objektivitätsbegriff überhaupt nicht einheitlich verwendet wird. Ließen sich solche Unterschiede in der Gebrauchsweise tatsächlich nachweisen, würden sie die Schwierigkeiten in der Festsetzung der Kriterien der Objektivität erklärlich machen. Diese wären dann darauf zurückzuführen, dass verschiedene Autoren verschiedene Aspekte des Begriffs vor Augen haben, wenn sie ihre Kriterien beschreiben. Richard Rorty unterscheidet in seinem bekannten Buch Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie zwei Arten der Verwendung dieses Begriffs. Nach seiner Meinung kann das Prädikat „ objektiv “ erstens bedeuten: „ charakteristisch für die Auffassung, zu der jeder gelangen würde, der sich an Argumente hielte, bei denen keinerlei irrelevante Überlegungen den Ausschlag geben “ (Rorty 1987, S. 363), also eine Art der Übereinstimmung der rationalen Geister im Peirce ’ schen Sinn; zweitens: Objektive Erkenntnis „ stellt die Dinge so dar, wie sie in Wirklichkeit sind “ (ebd.), also eine Art Korrespondenz zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit. Hilary Putnam (Putnam 1990 a, S. 184) unternimmt eine andere Aufteilung. Er unterscheidet zwar auch nur zwei Bedeutungen des Begriffs, die er entsprechend epistemologische und ontologische Objektivität nennt, seine Trennungslinie liegt jedoch ganz 235 Die Möglichkeit, dass den ontologisch subjektiven Zuständen epistemische Objektivität zukommen kann, betont auch Bell: „ It is worth noting that an entity that is O-subjective can be the subject of E-objective judgements and beliefs “ (Bell 1992, S. 310). 236 Bereits Aristoteles differenziert im Bereich von lebenspraktischen Entscheidungen zwischen dem „ durchschnittlichen Wissen “ und dem „ Expertenwissen “ . Sein Kriterium eines Experten ist jedoch ungewöhnlich und m. E. auch heute äußerst interessant: „ Es ist aber bekanntlich in all diesen Fällen [was lustvoll ist] die Auffassung des [ethisch] hochwertigen Menschen maßgebend “ (Aristoteles 1994, Buch X, 1176 a). 1094 10 Das Wesen des Objektivitätsideals woanders als bei Rorty. Epistemologische Objektivität soll nach Putnam jenen Auffassungen zugeschrieben werden, welche durch „ wissenschaftliche “ Methoden „ verifiziert “ worden sind (die Anführungszeichen von Putnam) (ebd.); der Begriff der ontologischen Objektivität hingegen soll den Grundbausteinen der Realität in der jeweiligen Theorie bzw. Konzeption zukommen (Putnam nennt zwei „ Lieblingskandidaten “ für diese Rolle in der neueren Philosophie: materielle Objekte und „ Sinnesdaten “ ) (ebd.). Nicholas Rescher unterscheidet drei Bedeutungen des Begriffs der Objektivität: 1. ontologische Objektivität: Sie besteht darin, dass Inhalte oder Objekte des Diskurses oder Urteilens real und nicht geistgebunden (engl.: mindbound) sind; der zentrale Unterschied hier ist der zwischen realen Dingen und bloßen Erscheinungen (Rescher 1997, S. 3f.); 2. unparteiische Objektivität (engl.: fairness or impartiality): Sie besteht darin, dass wir alle Personen gleich behandeln, ohne Rücksicht auf eine persönliche Beziehung, die uns mit dieser Person verbinden mag (ebd., S. 12). Rescher widmet sich ausschließlich der Objektivität in ihrer dritten Bedeutung, der epistemischen (manchmal von ihm auch kognitive genannt): „ Objectivity in this sense has to do not with the subject matter of a claim but with its justification. It pivots on the way the claim is substantiated and supported - namely without the introduction of any personal biases or otherwise distortive individual idiosyncrasies, preferences, predilections, etc. “ (ebd., S. 4). Objektivität beinhaltet also das Befolgen der Diktate der Vernunft und „ good common sense “ , ohne sich durch „ bloß subjektive “ Launen (engl.: whims), Neigungen (engl.: biases), Vorurteile, Präferenzen etc. ablenken zu lassen (ebd.). Epistemische Objektivität ist gleichbedeutend mit rationaler Angemessenheit (ebd.). Es geht hier aber nicht darum, unsere Menschlichkeit, unsere emotionalen Empfindlichkeiten völlig auszuschalten, sondern lediglich um die Unterscheidung zwischen dem, was angemessen für die Menschen allgemein, und dem, was spezifisch ist (ebd., S. 5f.). Gefühle können also objektiv sein, es geht nicht um „ impersonality “ , sondern um „ impartiality “ (ebd., S. 7). David Bell (Bell 1992) unterscheidet wie Rescher drei Bedeutungen des Begriffs. Die beiden ersten (ontologische oder O-Objektivität und epistemische oder E-Objektivität) (ebd., S. 310) decken sich weitgehend mit Reschers Einteilung. Besonders bezüglich der ontologischen Objektivität herrscht zwischen den beiden Autoren fast vollständige Übereinstimmung: Etwas ist nach Bell objektiv in diesem Sinne, dass es „ exists, and is the way it is, independently of any knowledge, perception, conception or consciousness there may be of it “ (ebd.). Bezüglich der zweiten Art der Objektivität ähnelt Bells Formulierung der Reschers, ohne jedoch Objektivität mit Rationalität gleichzusetzen. Für Bell bedeutet die epistemische Differenzierung von objektiv/ subjektiv ( „ E-objectivity “ ) „ two grades of cognitive achievement. In this sense only such things as judgements, beliefs, theories, concepts and perceptions can significantly be said to be objective or subjective. Here objectivity can be construed as a property of the contents of mental acts and states “ 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1095 (ebd.). 237 Bezüglich der Frage, welche Eigenschaft es sein soll, die über die Objektivität oder Subjektivität des mentalen (kognitiven) Zustandes entscheidet, ist Bell zugleich vorsichtig und liberal. Er differenziert zwei Arten der Auffassung dieser Kriterien: die realistische und die nichtrealistische. Den Realisten zufolge kommt Objektivität den Urteilen und Überzeugungen zu, welche in einem spezifischen (aber von Bell nicht weiter bestimmten) Verhältnis zur geistunabhängigen Realität stehen (ebd., S. 311). Zu den nichtrealistischen Positionen zählt Bell eine Palette möglicher (und/ oder tatsächlich postulierter) Objektivitätskriterien: a) die Kohärenz von Urteilen mit anderen Urteilen; b) ihre Begründbarkeit; c) ihre Akzeptanz in einer Gemeinschaft; d) ihre Konformität mit den a priori geltenden Regeln der Verifizierung oder Falsifizierung der epistemischen Aussagen; e) ihre permanente Anwesenheit im Geiste Gottes (ebd.). Ein gemeinsamer Grund verschiedener antirealistischer Positionen besteht nach Bell darin, dass die Anspruch auf Objektivität erhebenden Behauptungen und Überzeugungen als „ among other things, rational, justifiable, coherent, communicable and intelligible “ eingestuft werden (ebd.). Er bezeichnet als möglicherweise beste und in Bezug auf die Realismus-versus-Nichtrealismus-Debatte neutralste Auffassung des Wesens der Objektivität die Kant ’ sche Position aus der Prolegomena, welche die Objektivität des Urteils mit seiner Allgemeingültigkeit identifiziert. 238 Die dritte Bedeutung des Begriffspaars objektiv/ subjektiv erblickt Bell in der Differenzierung zwischen dem „ nichtperspektivischen “ (objektiven, Nagels „ Blick von nirgendwo “ , s. unten) und dem „ perspektivischen “ (subjektiven) Gesichtspunkt. Diesen Unterschied illustriert er anhand von zwei Sätzen, welche die gleiche Situation beschreiben: „ At 15.30 G. M. T., on Tuesday, 6 May 1991, Mr J. Smith gives Mr R. Brown the sum of £ 5.00. Mr Brown ’ s immediate emotion is one of delight “ ; und: „ It is now 15.30, and that man over there just gave me £ 5.00. I ’ m delighted! “ (Bell ebd., S. 312). Dies scheint eine neue Dimension des Begriffs zu sein. Bekanntlich behaupten einige Philosophen, 239 dass die subjektive Perspektive eine notwendige und irreduzible Dimension der Welt bzw. Wirklichkeit darstelle: „ [R]eality is not just objective reality, and objectivity itself is not one thing “ (Nagel 1986, S. 87). Es ist jedoch eine offene Frage, was genau unter dem „ nichtperspektivischen Gesichtspunkt “ - falls er überhaupt erreichbar ist - zu verstehen ist. Dieses Problem kreuzt sich mit der Frage der Grenzen der Subjektivität: Es ist z. B. vorerst nicht klar, ob nach Bell die Dispositionen, 237 Es ist nicht klar, inwieweit eine Theorie als ein mentaler Zustand oder ein mentaler Akt verstanden werden kann, aber man kann diese Schwierigkeit vernachlässigen. 238 „ Es sind daher objektive Gültigkeit und notwendige Allgemeingültigkeit (für jedermann) Wechselbegriffe, und ob wir gleich das Objekt an sich nicht kennen, so ist doch, wenn wir ein Urteil als gemeingültig und mithin notwendig ansehen, eben darunter die objektive Gültigkeit verstanden “ (vgl. Kant 2001, § 19, S. 63). 239 Klassisch dazu Nagel (Nagel 1986), aber auch z. B. Searl (Searl 1998, S. 95). 1096 10 Das Wesen des Objektivitätsideals welche ich mir durch meine besondere Erziehung angeeignet habe, ein Teil meiner „ Perspektive “ sind oder nicht. Eine andere Frage ist, in welchen Situationen die „ nichtperspektivische “ Sicht der Welt - wenn erreichbar - vorteilhaft sein soll. Soll z. B. jede Erkenntnis in diesem Sinne „ nichtperspektivisch “ sein oder nur bestimmte Formen der Erkenntnis? Elisabeth Lloyd (Lloyd 1995, S. 353) unterscheidet sogar vier Bedeutungen des Begriffs: 1) „ [O]bjective means detached, disinterested, unbiased, impersonal, invested in no particular point of view (or not having a point of view) “ (ebd.); 2) „ Objective means public, publicly available, observable, or accessible (at least in principle) “ (ebd.). Dies scheint eine neue Dimension des Begriffs zu sein; 3) „ Objective means existing independently or separately from us “ (ebd.). Dies wiederum erinnert an Reschers/ Putnams/ Bells ontologische Objektivität; 4) „ Objective means really existing, Really Real, the way things really are “ (ebd.). Allan Megill (Megill 1994 a) unterscheidet ebenfalls vier Bedeutungen des Begriffs, jedoch ist seine Differenzierung eine andere als die von Lloyd: 1) absolute Objektivität, die dem Ideal der Repräsentation der Dinge „ wie sie wirklich sind “ entspricht (ebd., S. 2 - 5). Dieser Aspekt scheint dem zweiten Aspekt der Objektivität nach Rorty zu entsprechen und sich der „ epistemologischen Objektivität “ von Rescher oder auch Putnam zu nähern. Megills Kriterium der Objektivität ist jedoch deutlich stärker, weil sowohl Rescher wie auch Putnam lediglich verschiedene Arten der Begründbarkeit und nicht perfekte Korrespondenz verlangen. 2) Disziplingebundene (engl.: disciplinary) Objektivität, die sich von der „ absoluten “ dadurch unterscheidet, dass die Hoffnung auf die Konvergenz aller Bereiche des Wissens aufgegeben worden ist und als Standard der Objektivität der Konsens unter den Mitgliedern bestimmter Forschergemeinschaften gilt (ebd., S. 5 - 7). Dieses Verständnis des Begriffs scheint dem „ epistemischen “ Aspekt der Objektivität von Putnam/ Rescher zu entsprechen, wobei das Kriterium bei Megill schwächer als jenes der drei genannten Autoren ist, weil es sich auf den Konsens innerhalb einer Forschungsgemeinschaft beschränkt. 3) „ Dialektische “ Objektivität setzt voraus, dass die Gegenstände der Forschung in der Interaktion zwischen Subjekt und Objekt konstituiert sind, und lässt somit ein bestimmtes Maß an Subjektivität des Erkennenden zu (ebd., S. 7 - 10). Dies ist eine völlig neue Dimension des Begriffs. 4) Prozedurale Objektivität, die auf „ die Praxis von unpersönlichen Forschungs- und Administrationsmethoden hinzielt “ (ebd., S. 10f.). Schließlich unterscheidet Lorraine Daston (Daston 1992, S. 597 - 599) fünf gängige Anwendungsarten des Begriffs. Nach ihr wird er oft als Synonym verwendet für: 1) empirisch (oder enger „ faktisch “ ) (ebd., S. 597); 2) wissenschaftlich (ebd.), womit sie allgemein zugängliches, empirisch zuverlässiges Wissen meint (wahrscheinlich entspricht diese Bedeutung ungefähr der kombinierten „ epistemologischen Objektivität “ von Putnam und Rescher); 3) Unparteilichkeit-bis-sich-Auslöschen und kaltblütiges Zurückhalten von Emo- 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1097 tionen (ebd., S. 598) 240 (entspricht das der „ Fairness-Objektivität “ von Rescher? ); 4) rational im Sinne von „ compelling assent from all rational minds, be they lodged in human, Martian, or angelic bodies “ (ebd.). Diese Bedeutung erinnert an Reschers Interpretation der epistemischen Objektivität; 5) wirklich real (ebd.) d. h. den „ Dingen-an-sich “ , wie sie unabhängig von allen erkennenden Geistern ( „ except, perhaps, that of Gott “ , ebd.) sind, entsprechend. Diese Bedeutung würde dann der „ ontologischen Objektivität “ von Putnam oder Rescher ähneln. Daston fügt aber zwei weitere Bedeutungen des Begriffs hinzu: 6) mechanische Objektivität, welche „ forbids judgement and interpretation in reporting and picturing scientific results “ (ebd., S. 599); und 7) aperspektivische Objektivität (ebd.), die von den individuellen Eigenschaften des Erkennenden und seiner Lage in der Welt abstrahiert ist. Diese letzte Auffassung der Objektivität, die der „ detached objectivity “ von Lloyd und der „ absoluten Objektivität “ von Megill zu entsprechen scheint, dominiert nach Dastons Ermessen den heutigen Gebrauch (ebd.). Erweiterungen des Begriffs Das Verständnis des Objektivitätsbegriffs wird zusätzlich dadurch erschwert, dass einige Autoren seine mehr oder weniger alltägliche Konnotationen erweitern wollen. So sieht Evelyn Fox Keller als eine Art Ideal der wissenschaftlichen Wissensgewinnung die „ dynamische Objektivität “ (Keller 1986, S. 122). Die traditionelle Form der Objektivität, welche sie als „ statische Objektivität “ bezeichnet (ebd., S. 123), basiert ihrer Ansicht nach auf der scharfen Trennung zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis. Die dynamische Objektivität hingegen wurzelt in der Gemeinsamkeit zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Geist und Natur 241 : „ Dynamische Objektivität hat eine Form des Wissens zum Ziel, die der uns umgebenden Welt ihre unabhängige Integrität garantiert, doch tut sie das in einer Weise, die an dem Wissen um unsere Verbundenheit mit dieser Welt festhält, ja, sie beruht auf diesem Wissen. Insofern ist dynamische Objektivität der Empathie nicht unähnlich “ (ebd., S. 122f.). Der Kern dieser Konzeption scheint darin zu liegen, dass der Wissenschaftler auf die natürliche Welt die Haltung der „ idealen Aufmerksamkeit “ richtet (ebd., S. 123), welche normalerweise für die Wahrnehmung in der „ menschlichen Welt “ reserviert ist (ebd.). Diese Aufmerksamkeit ist nach Keller „ eine Form der Liebe “ (ebd.). Vor Keller war Abraham Maslow bereits einen Schritt weiter in Richtung der Einbeziehung von Haltungen und Gefühlen in „ objektive “ Erkenntnis gegangen, als er von „ liebender Objektivität “ sprach (Maslow 1977, S. 146 - 151): 240 Meine Übersetzung, MBM. 241 Es ist möglich, dass Megills Idee der „ dialektischen Objektivität “ in dieser Konzeption ihre Inspiration findet. 1098 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Wenn wir etwas oder jemanden auf der Seinsebene genug lieben, können wir uns an seiner Verwirklichung freuen, was bedeutet, dass wir dann nicht mehr den Wunsch haben, uns einzumischen, da wir das Objekt um seiner selbst willen lieben. Wir sind dann in der Lage, es in einer nicht-interferierenden Weise wahrzunehmen, was bedeutet, dass wir es in Ruhe lassen. Dies bedeutet aber wiederum, dass wir es jetzt so sehen können, wie es wirklich ist, unbefleckt durch unsere selbstsüchtigen Wünsche, Hoffnungen, Forderungen, Ängste oder vorgefassten Meinungen. Da wir es so lieben, wie es an und für sich ist, werden wir auch nicht geneigt sein, ein Urteil darüber zu fällen, es zu benutzen, zu verbessern oder auf irgendeine andere Art unsere eigenen Werte hineinzuprojizieren. (Ebd., S. 149) Maslow scheint also eine ziemlich traditionelle Auffassung der (epistemischen) Objektivität, Befreiung der Erkenntnis von der Verzerrung durch subjektive Wünsche, Befürchtungen, Vorurteile, Vorlieben usw. mit einem völlig unorthodoxen Weg zu diesem Ziel zu verbinden. Er hofft offensichtlich, dass allein durch Entwicklung der Fähigkeit zur „ Seins-Liebe “ (ebd.) der Erkenntnisgegenstand sich in seiner wahren Gestalt zeigen werde. Maslow betont auch ausdrücklich den Gegensatz zwischen seinem Verständnis der Objektivität, nach welchem diese „ der inneren Anteilnahme “ (ebd.) an dem Erkenntnisgegenstand entspringt, und der gewöhnlichen Auffassung dieser Idee, welche er als „ unbeteiligte Objektivität “ (ebd.) bezeichnet. Die sicherlich einflussreichste Sicht des Objektivitätsproblems ist jedoch mit der Person Thomas Nagels verbunden. In seinem berühmten Buch The View from Nowhere (Nagel 1986) skizziert Nagel eine Konzeption der Objektivität, die sich durch zwei besondere Merkmale auszeichnet. Zum einen ist seine Auffassung durch eine gewisse Kompromisslosigkeit gekennzeichnet: Wie wir gesehen haben, geht sie über die bloße Intersubjektivität hinaus: „ The idea of objectivity always points beyond mere intersubjective agreement, even though such agreement, criticism, and justification are essential methods of reaching an objective view “ (ebd., S. 108). Vielmehr scheint Nagel Objektivität in Freiheit von jeglicher menschlichen Bedingtheit zu erblicken: At the first stage the intersubjectivity is still entirely human, and the objectivity is correspondingly limited. [. . .] But if the general human perspective is then placed in the same position as part of the world, the point of view from which this is done must be far more abstract, so it requires that we find within ourselves the capacity to view the world in some sense as very different creatures also might view it when abstracting from the specifics of their type of perspective. The pursuit of objectivity requires the cultivation of a rather austere universal objective self. (Ebd., S. 63) Nagel betont ferner, dass Objektivität oder genauer die menschliche Fähigkeit, eine objektive Sicht der Welt zu erlangen (unsere „ Fähigkeit zur Objektivität “ , ebd., S. 66, 78, 223), unerlässlich für unser Menschsein sei (ebd., S. 221, 223). Für seine Konzeption der Objektivität wesentlich ist ferner der Gedanke eines „ objektiven Selbst “ , das er als Instanz einführt, die das Erlangen der Objektivität ermöglichen (ebd., S. 66) und zugleich für dieses Erlangen sorgen soll (ebd., S. 67, 70). Da diese Konzeption sehr ungewöhnlich 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1099 ist, bedarf sie einer Erläuterung. Nagel gelangt zu seiner Idee des „ objektiven Selbst “ , indem er zwei scheinbar einfache Fragen stellt: „ [H]ow can a particular person be me? “ (ebd., S. 54) und „ [H]ow can I be merely a particular person? “ (ebd., S. 55). Die erste Frage ergibt sich aus folgender Überlegung: Keine der intersubjektiv zugänglichen Merkmale meiner Person (Alter, Größe, Beruf usw.) vermögen es, mich in meiner unhintergehbaren Individualität zu bestimmen. Welche objektive (im Sinne intersubjektiv feststellbare) Eigenschaft auch immer von meiner Person prädiziert wird, man kann immer die Frage stellen, auf die man eine informative Antwort bekommen kann: „ Which of these persons am I? “ (ebd.) 242 Meine Individualität lässt sich also nicht auf meine Eigenschaften reduzieren: „ But even when all [. . .] public information about the person TN has been included in an objective conception, the additional thought that TN is me seems clearly to have further content “ (ebd., S. 60). Nagel drückt diesen Gedanken auch durch die Formulierung aus: „ [T]his thinking subject regards the world through the person TN “ (ebd., S. 56) oder „ [T]he publicly identifiable person TN contains the real me “ (ebd., S. 61). Die andere Seite des Rätsels der persönlichen Identität wurzelt in Nagels Annahme, dass mein wirkliches ( „ real me “ (ebd., S. 60, 61) oder wahres Selbst ( „ true self “ (ebd., S. 61) keinen besonderen Gesichtspunkt besitze: „ [T]he true self has no point of view and includes in its conception of the centerless world TN and his perspective among the contents of that world “ (ebd.). Es sei dieses objektive oder „ perspektivelose “ (ebd., S. 62) Selbst, das für die Konstruktion einer „ zentrumslosen “ (ebd.) Konzeption der Welt verantwortlich sei (ebd., S. 70) und zu einem „ Blick von nirgendwo “ (engl.: view from nowhere) gelangt (ebd., S. 70). Deshalb kann man nach Nagel sagen, dass ein jeder von uns, „ the world soul in humble disguise “ (ebd., S. 61) sei, wobei die „ metaphysische Megalomanie “ (ebd.) dieses Ausdrucks dadurch gemildert werde, dass dieser Status jedem von uns zukomme (ebd.). Aus diesem Umstand ergibt sich das Staunen Nagels über die Tatsache, dass wir so klein, konkret und spezifisch sein können, wie wir tatsächlich im gewöhnlichen Leben erscheinen (ebd.). Die Ausführungen Nagels in Bezug auf die erste oben erwähnte Frage ( „ How can a particular person be me? “ ) wirken recht überzeugend. Die Unreduzierbarkeit der Erste-Person-Referenz auf äußerliche bzw. innerpsychische Merkmale wird auch von manchen anderen Philosophen hervorgehoben. 243 Anders verhält sich die Sache in Bezug auf Nagels Antwort auf seine zweite Frage, die aber den eigentlichen Kern seiner Konzeption bildet. 242 So schildert Nagel das Problem. Es wäre m. E. an dieser Stelle einleuchtender, sich auf den Fall eineiiger Zwillinge zu beziehen, deren äußere Körperwie auch innere Persönlichkeitsmerkmale praktisch identisch sind. Es ist unbestreitbar, dass zwei solche identischen „ Häuser “ von zwei unterschiedlichen Individualitäten „ bewohnt “ sind. 243 Vgl. z. B. Castañeda (vgl. Pape 1996, S. 170f.); Shoemaker 1996, S. 59; Swinburne 1986, S. 161 - 173. 1100 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Mit seiner Vorstellung eines gleichsam kosmischen Selbst, das jedem Menschen zukommen soll, scheint Nagel ziemlich einsam in der gegenwärtigen philosophischen Landschaft dazustehen. Er selbst bezieht sich in einer Fußnote direkt lediglich auf Dennett und Evans, 244 wobei der Bezug auf Evans überraschen mag, weil die Pointe von Evans ’ Überlegungen an der von Nagel erwähnten Stelle ist, dass man den Leib - nicht nur das Gehirn - als den Referenzpunkt eigener Identität brauche, was mit der Konzeption der „ Weltseele “ unvereinbar scheint (Evans 1982, S. 250f.). Einige andere, von Nagel nicht erwähnte Philosophen wenigstens entwickeln ähnliche Gedanken. So machte z. B. Price aufmerksam auf die Rede von „ ‚ two selves ‘ , a ‚ higher ‘ and a ‚ lower ‘ self, which bothers some philosophers so much “ (Price 1996, S. 230), und die populär gewordene Konzeption von „ Motivationen zweiter Stufe “ von Frankfurt (Frankfurt 1997), ließe sich ebenfalls im Sinne Nagels deuten. Mir ist jedoch kein Philosoph bekannt, der sich annähernd deutlich und ausführlich über das „ objektive Selbst “ geäußert hat wie eben Nagel. 245 Die Beurteilung dieses Teils von Nagels Konzeption wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass der ontologische Status des „ objektiven Selbst “ sehr unklar ist. Einerseits betont Nagel, dass es unabhängig genug sei (es ist dabei nicht ganz deutlich, unabhängig von wem oder was es ist), dass es ein eigenes Leben haben könne (Nagel ebd., S. 65) und der „ autonomen Entwicklung fähig “ sei (ebd., S. 65f.). Es könne auch in verschiedene Formen der Distanziertheit, sogar Opposition zu der übrigen Persönlichkeit treten (ebd., S. 65). Deshalb will Nagel sich die Freiheit vorbehalten, von dieser Instanz so zu sprechen wie von einem „ distinct part of the mind “ (ebd., S. 66), und stellt fest, dass sie etwas Reales sei (ebd.). Andererseits jedoch will er diese Entität nicht metaphysisch interpretieren (ebd.) und meint, die Tatsache, dass man sich das objektive Selbst unabhängig von „ TN “ vorstellen könne, zeige nicht, dass es ein „ distinct thing “ sei (ebd., S. 61). Methodologische Vorbemerkung: begriffliche Phänomenologie In Anbetracht des scheinbar hoffnungslosen Durcheinanders im Verständnis und in der Anwendung des Objektivitätsbegriffs stellt sich als das zentrale Problem die Frage, ob es Kriterien oder Richtlinien geben kann, welche Ordnung in die unüberschaubare Vielfalt bringen können. Die Lage mag zunächst hoffnungslos erscheinen: Wenn man Wittgensteins Tradition folgt 244 Genauer auf Evans ’ Varieties of Reference (Evans 1982, S. 249 - 255 (vgl. Nagel 1986, S. 63, Anm. 4). Nagel erwähnt auch Platon als einen Befürworter der Idee des „ höheren Selbst “ (ebd., S. 223). 245 Diese Bemerkung bezieht sich selbstverständlich auch auf die gegenwärtige philosophische Literatur. Schon Aristoteles sprach sehr deutlich vom „ wahren Selbst “ des Menschen (Nikomachische Ethik, Buch X, 1177 b 28 - 1178 a 10). Am Anfang des 20. Jahrhunderts hat Rudolf Steiner sehr viel zu diesem Thema gesagt, und ich werde seine Sicht diesbezüglich im Kapitel „ Übersinnliche Erkenntnismethoden der Imagination, Inspiration und Intuition. . . “ genauer darstellen. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1101 und die Bedeutung des Begriffes mit seinem Gebrauch identifiziert, ist es schwierig, den Schluss zu vermeiden, dass verschiedene Interpretationen des Objektivitätsbegriffs verschiedene „ real existierende “ Anwendungstraditionen widerspiegeln, welche semantisch quasi gleichberechtigt sind. Zeigen sich Unterschiede, womöglich sogar Widersprüche zwischen diesen Interpretationen und erweisen sie sich als aufeinander irreduzibel, müsste scheinbar die Hoffnung aufgegeben werden, in der Verwirrung je Einheit stiften zu können. Die entgegengesetzte Option würde darin bestehen, Unklarheiten und Widersprüche des Gebrauchs dadurch zu eliminieren, dass man eine eindeutige Definition gleichsam thetisch einführt. Der Nachteil dieses Weges ist jedoch der, dass die so gezogenen Begriffsgrenzen zu einem bestimmten Grad arbiträr bleiben müssen und man nicht sicher sein kann, ob man nicht wichtige Aspekte der fraglichen Idee vernachlässigt hat. An der obigen kurzen Betrachtung der Vielfalt der Verwendung bzw. des Verständnisses der Objektivität fällt bei näherem Hinschauen auf, dass die zitierten Autoren jeweils eine Definition geben, die ihren (sprachlichen) Intuitionen entspricht. Sie geben jedoch keinen Aufschluss darüber, woher sie die Zuversicht nehmen, dass ihre Intuitionen richtig sind. Auf diese Weise verwickeln sie sich in die paradoxe Situation, eine subjektive Definition des Objektivitätsbegriffs zu bieten. Mir scheint, die einzige potentiell fruchtbare Strategie zur Umgehung des Problems ist anzunehmen, dass der Begriff der Objektivität (wie auch jeder andere Begriff) feststellbare Eigenschaften besitzt, dass sie jedoch nicht zwingend alle in jedem Gebrauchsakt zum Vorschein kommen müssen und dass sogar bestimmte konkrete Anwendungsbeispiele des Begriffs von seinem Inhalt „ an sich “ abweichen können. Diese Haltung scheint der Auffassung Kants zu entsprechen, dass die Definitionen der philosophischen Begriffe „ das Werk eher schließen als anfangen müssen “ (Kant 1995, B 759), weil solche Begriffe oft „ dunkle Vorstellungen enthalten [. . .], die wir in der Zergliederung übergehen, ob wir sie zwar in der Anwendung jederzeit brauchen [. . .] “ (ebd., B 757). 246 Kant setzt fort: „ [S]o ist die Ausführlichkeit der Zergliederung meines Begriffs immer zweifelhaft, und kann nur durch vielfältig zutreffende Beispiele vermutlich, niemals aber apodiktisch gewiss gemacht werden “ (Kant ebd., B 757 - 758). Geht man von der Annahme aus, dass die konkreten Anwendungen des Begriffs uns Aufschluss über seinen Inhalt geben können, kommt man zur Überzeugung, dass die Methode, welche für die Untersuchung der Eigenschaften des Objektivitätsbegriffs einzig passend ist, ihren Ausgangspunkt von der Beobachtung der konkreten Anwendungsbeispiele des Begriffes nehmen muss, um aus ihrer Vielfalt seine Struktur zu rekonstruieren. Sie ist aber auch zu jeder Zeit bereit, diese Anwendungen kritisch in Bezug auf ihre 246 Vgl. auch Steiner: „ Es ist sogar im Leben höchst selten, dass ein Mensch wirklich mit seinem Bewusstsein in all dasjenige eindringt, was er ausspricht “ (Steiner GA326, S. 60). 1102 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Angemessenheit zu hinterfragen, wobei die Prüfungsinstanz in Zweifelsfällen das vortheoretische Verständnis des Begriffs sein muss. Die kritische Frage in solchen Fällen wird lauten: „ Wollen wir in diesem Fall tatsächlich den Begriff „ Objektivität “ oder „ objektiv “ anwenden? “ Die Methode ist riskant. Es ist durchaus möglich, dass die Sprachintuition des Forschers nicht dem Inhalt des Begriffs „ an sich “ , sondern seinen individuellen Vorstellungen entspricht (wäre es anders, gäbe es keine „ falschen “ Anwendungen! ). Es muss aber die Hoffnung bleiben, dass man sich, wenn man behutsam genug mit der Materie umgeht und möglichst vorurteilslos hört, was die bestimmte Sprachsituation ausdrücken will, zu den Eigenschaften des Begriffs an sich durcharbeiten kann. 247 Man kann vielleicht das vorliegende Problem mit dem Problem der Bestimmung der Pflanzenarten in der Botanik vergleichen. Wenn man die Frage stellt, ob ein bestimmtes Gras eine Poa trivialis oder eine Poa pratensis ist, wird die Antwort - angesichts der Feinheit der Merkmale, welche die richtige Zuordnung bestimmen - nicht leicht zu finden sein. Nachdem man die Einzelheiten des fraglichen Grases (insbesondere seine Blüten) genauer unter die Lupe genommen hat, ist es jedoch fast immer möglich, zu einer eindeutigen Zuordnung zu kommen. Es ist zu hoffen, dass ähnliche Methoden auf Begriffe anwendbar sind. Da man bei dieser Methode offensichtliche Ähnlichkeiten zur Methode der Phänomenologie mit ihrer Betonung der genauen Beobachtung der Gegebenheiten und der Notwendigkeit der Epoché sehen kann, kann man sie als eine Art begriffliche Phänomenologie (im nichttechnischen Sinne) beschreiben. Gegen die Methode der so verstandenen „ begrifflichen Phänomenologie “ könnte man mit Rorty argumentieren (Rorty 1992 a, S. 372 - 374), dass nach Davidsons Zurückweisung des „ dritten Dogmas des Empirismus “ , d. h. des Dualismus von Schema und Welt (Davidson 1984), die Hoffnung, zu den Antworten auf substantielle Fragen mittels Analyse der Sprache bzw. des Sprachgebrauchs zu gelangen, aufgegeben werden müsse, denn [t]here is no such a thing as a language, not if a language is anything like what many philosophers and linguists have supposed. There is therefore no such a thing to be 247 Die Auffassung der Sprache und des Sprachgebrauchs, die die Möglichkeit einer falschen Anwendung bestimmter Begriffe einräumt, ist selbstverständlich nicht besonders originell oder neu. Schon Epiktet ging in seinem Verständnis der Aufgabe der Philosophie von dieser Annahme aus: „‚ Beim Zeus ‘ , sagt einer, ‚ ich sollte nicht wissen, was schön und hässlich ist? Habe ich nicht von Natur aus eine Vorstellung davon? ‘ - ‚ Doch, das hast du. ‘ - ‚ Wende ich sie nicht auf die einzelnen Dinge an? ‘ - ‚ Auch das tust du. ‘ - ‚ Und wende ich sie etwa nicht richtig an? ‘ - ‚ Das ist eben die Frage, und dabei schleicht sich die Willkür mit ein. Man geht von Vorstellungen und Begriffen aus, die allgemein anerkannt sind, aber weil man sie falsch anwendet, streitet man miteinander und ist sich uneins “ (in: Weinkauf 1994, S. 87f.). Diese Auffassung muss aber vor dem Hintergrund der relativierenden Theorien der Sprache neu verteidigt oder gerechtfertigt werden. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1103 learned, mastered, or born with. We must give up the idea of a clearly defined shared structure to which language-users appeal and then apply to cases. (Davidson 1986, S. 446) Mir scheint jedoch, dass gerade im Falle des Objektivitätsbegriffs Davidsons Haltung zu einer ausweglosen Situation führen muss. Gäbe es keine Möglichkeit, über die angedeuteten Meinungsunterschiede bezüglich des Inhalts und des richtigen Gebrauchs des Begriffs der Objektivität hinauszukommen, müsste die Hoffnung aufgegeben werden, den Begriff bestimmen zu können. Das hätte aber verheerende Konsequenzen für jegliche Epistemologie: Wissen wir nicht, was Objektivität ist, können wir auch nicht wissen, was objektive Erkenntnis ist; das kommt aber praktisch der Behauptung gleich, man wisse nicht, was Erkenntnis überhaupt sei, was wiederum zum Schluss führen muss, dass man nicht wisse, ob dasjenige, was man behauptet, Erkenntnis sei. Somit verwickelt man sich in einen Selbstwiderspruch: Die Behauptung, man könne den Inhalt des Objektivitätsbegriffs nicht objektiv bestimmen, ist entweder kognitiv bedeutungslos oder - wenn man diese Behauptung als eine objektive Wahrheit verstanden wissen will - setzt bereits voraus, dass man zu einer objektiven Einsicht in die Bedeutung des Wortes gelangt ist, also die Möglichkeit der Bestimmung der Intension des Begriffs. Wir sind deshalb zur Suche nach einem übersubjektiv geltenden Verständnis der Objektivität gezwungen. Die Annahme, dass sich unter verschiedenen Anwendungen dieses Begriffs richtige, aber auch falsche befinden, scheint eine notwendige Voraussetzung dieser Arbeit zu bilden. Man darf hoffen, dass die „ begriffliche Phänomenologie “ einen Weg zu solchem Verständnis bietet. 248 Es ist offensichtlich, dass die so verstandene „ begriffliche Phänomenologie “ Ähnlichkeiten mit den Methoden der „ Ordinary Language Philosophy “ (Rorty 1992, S. 15 - 24) und des „ methodologischen Nominalismus “ (ebd., S. 11) aufweist. Sie darf jedoch mit ihnen nicht identifiziert werden: Weder beabsichtigt sie durch Analyse der „ richtigen “ Anwendung der fraglichen Begriffe die Auflösung noch die Lösung der begrifflichen und philosophischen Probleme (ebd., S. 12), sondern sie will lediglich ein bereinigtes Verständnis des Begriffs erlangen. Das Vorhaben der „ begrifflichen Phänomenologie “ unterscheidet sich demnach auch von jenem der sog. „ Conceptual Analysis “ (Hanna 1998). Zwar gehen beide Methoden davon aus, dass Begriffe eine intrinsische 248 Diese Methode des Prüfens der Angemessenheit einer Auffassung des Objektivitätsbegriffs ist weniger geeignet, wenn man es mit einer explizit eingeführten, neuen Konvention zu tun hat. Es scheint aber auch in diesem Fall möglich, die Frage zu stellen, ob eine solche Konvention sich mit unseren Sprachintuitionen deckt oder ihnen zuwiderläuft. Die allermeisten von mir betrachteten Konzeptionen erheben jedoch nicht den Anspruch, ein neues Verständnis des Begriffs der Objektivität einzuführen; im Gegenteil, sie erwecken stets den Eindruck, dass sie beabsichtigen, das gängige Verständnis lediglich zu explizieren. 1104 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Struktur besitzen, welche zu entdecken möglich ist, 249 die „ begriffliche Phänomenologie “ zielt im Gegensatz zur Conceptual Analysis jedoch weder auf die Produktion von Erkenntnissen a priori (ebd., S. 520), noch will sie behaupten, dass alle fundamentalen philosophischen Probleme in der falschen Verwendung der Begriffe ihren Ursprung haben (ebd.). Objektivität als Eigenschaft von Urteilen Betrachten wir eine sehr einfache Aussage: (1) Hans ist in seinem Zimmer. Nehmen wir zuerst an, die Aussage sei falsch. Kann sie dann als objektiv gelten? Es scheint undenkbar, dass wir einer Äußerung den Status der Objektivität zuschreiben würden, wenn diese Aussage mit der Wahrheit in Konflikt steht. Man kann, glaube ich, beliebig viele und beliebig geartete Feststellungen als Beispiele zur Unterstützung dieser These angeben: „ Peter ist klug “ , „ Dies war ein sehr guter Film “ , „ Die Distanz zwischen Paris und Rom beträgt . . . Kilometer “ , „ Anna hat die Farbe Gelb am liebsten “ usw. Sobald sich eine Aussage als falsch erweist, ist ausgeschlossen, dass man sie als „ objektiv “ bezeichnet. Dies ist also das erste (und elementare) Ergebnis der Betrachtung der Eigenschaften der Objektivität zu sein: Die Wahrheit einer Aussage bildet die notwendige Bedingung ihrer Objektivität. Ist sie auch für den Status der Objektivität hinreichend? Nehmen wir jetzt an, (1) ist wahr: Hans ist in seinem Zimmer. Würden wir diese Aussage als „ objektiv “ bezeichnen? Es mag überraschend sein, aber unsere Sprachintuitionen sagen uns, dass dieses Prädikat in einer solchen Situation nicht anwendbar ist. Ähnliches kommt ans Licht, wenn man Aussagen wie: (2) Es regnet. (3) Diese Rose ist rot. usw. betrachtet. Sie mögen wahr sein, wir würden uns jedoch trotzdem nicht berechtigt fühlen, sie als „ objektiv “ zu bezeichnen. Warum? Wir haben bereits gesehen, dass auch die mathematischen Aussagen nicht der Dualität objektiv/ subjektiv unterliegen. (4) 5 x 12 = 60 Solche Aussagen werden gewöhnlicherweise nicht mit dem Prädikat „ objektiv/ subjektiv “ belegt, sondern mit „ richtig/ falsch “ oder „ Du hast recht/ Es stimmt nicht “ quittiert. Warum? Die Antwort auf diese Frage zeigt sich m. E., wenn wir die Propositionen der obigen Art mit denjenigen vergleichen, bei 249 Vgl. ebd., S. 519f. für die Charakterisierung der Eigenschaften der Conceptual Analysis. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1105 welchen wir das fragliche Prädikatspaar (objektiv/ subjektiv) mit Sicherheit als anwendbar empfinden: (5) Du bist auf dieser Straße zu schnell gefahren. (6) Dieser Motor ist für ein Auto dieser Größe zu klein. (7) Die Cellistin spielte Elgars Cellokonzert zu langsam. Angenommen, diese Propositionen bringen objektive Tatbestände zum Ausdruck. Worin besteht dann der Unterschied zwischen den Aussagen der ersten (1 - 4) und der zweiten (5 - 7) Gruppe? Der Unterschied kann selbstverständlich nicht im Wahrheitsgehalt dieser Sätze liegen: Die Voraussetzung ist ja, dass alle Sätze 1 bis 7 wahr sind. Was an den obigen Beispielen auffällt, ist der Umstand, dass die Sätze der ersten Gruppe logisch und strukturell einfacher als die Aussagen der zweiten Gruppe sind. Einige von ihnen (2 - 3) sind direkte Wahrnehmungen, sie beschreiben der Wahrnehmung unmittelbar zugängliche Sachverhalte. Die Feststellung über Hans nähert sich solchen Aussagen, ist jedoch ein wenig komplizierter, kann möglicherweise eine einfache Schlussfolgerung enthalten (ich habe ihn soeben in seinem Zimmer singen gehört, also ist er in seinem Zimmer). Auf der anderen Seite lässt sich nicht bestreiten, dass gewisse „ Sätze “ der Mathematik oder Logik (z. B. Beweise) äußerst komplizierte Strukturen aufweisen können. Dennoch werden sie nicht als objektiv beschrieben. Die Zuschreibung der Prädikate „ objektiv “ oder „ subjektiv “ bzw. unsere Weigerung, eine solche Prädikation vorzunehmen, kann also auch nicht an der Einfachheit bzw. Kompliziertheit des fraglichen Satzes liegen. Betrachtet man die Sätze der zweiten Gruppe genauer, fällt eine interessante Gemeinsamkeit auf. Alle diese Aussagen bringen abwägende Urteile zum Ausdruck und weisen somit eine viel komplexere Tiefenstruktur auf als die Sätze 1 bis 4. Der Begriff „ abwägendes Urteil “ kann hier Verwirrung stiften. Der Begriff „ Urteil “ wird in der Philosophie bekanntlich oft fast mit einer Proposition, einer behauptenden Aussage, gleichgestellt (vgl. Lorenz 2004, S. 445). Ich gebrauche jedoch das Wort in engerer Bedeutung, in welcher es sich ausschließlich auf s olche Propositionen bezieht, die ein In-Beziehung-Setzen verschiedener Vorstellungen, ein Abwägen voraussetzen. Dieses Verständnis des Wortes ist übrigens mit dem alltäglichen Gebrauch völlig konform. Vgl. Duden: „ Urteil: 2. prüfende, kritische Beurteilung [durch einen Sachverständigen], abwägende Stellungnahme “ (Duden 1996, S. 1625). Es ist aber auch mit der philosophischen Tradition konform. So ist z. B. nach Kant ein Urteil „ die Vorstellung der Einheit des Bewusstseins verschiedener Vorstellungen oder die Vorstellung des Verhältnisses derselben, sofern sie einen Begriff ausmachen “ . 250 In den weiteren Auseinandersetzungen ist also mit „ Urteil “ - mit oder ohne Zusatz von „ abwägendes “ - stets das Resultat einer diesem Urteil vorausgehenden abwägenden Tätigkeit gemeint, mit „ urteilen “ diese 250 Kant, I.: Logik, A 156 (S. 101), zitiert nach Lorenz (Lorenz 2004, ebd.). 1106 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Tätigkeit selbst; für das Urteil im Sinne einer Feststellung oder eines Wissens werde ich hingegen, wie es oft in der neueren Philosophie praktiziert wird, den terminus technicus „ Proposition “ gebrauchen. Selbst ein verhältnismäßig einfaches Urteil, z. B. (5), setzt, um adäquat zu sein, ein komplexes Netz von Überlegungen voraus. Man muss die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit entweder genau wissen oder zumindest gut „ spüren “ , man muss des Weiteren über die Geschwindigkeitsbegrenzungen auf der betreffenden Straße informiert sein bzw. das richtige „ Gespür “ dafür haben, dass die Geschwindigkeit des Fahrzeugs unter den gegebenen Umständen (enge Fahrbahn, nasse Straße, viel Verkehr, Eigenschaften des Autos, Fähigkeiten des Fahrers usw.) tatsächlich zu hoch war. Die anderen beiden Aussagen verlangen selbstverständlich noch mehr Hintergrundwissen und Erfahrung. Betrachten wir das Beispiel der Cellistin genauer. Um begründeterweise sagen zu können, dass sie das Stück zu langsam gespielt hat, reicht es nicht, ein entsprechendes „ Gefühl “ zu haben. Dies reicht lediglich aus, um zu einen subjektiven Eindruck von der Art „ Mir scheint, dass sie zu langsam spielte “ zum Ausdruck zu bringen. Um diese Aussage in den Rang eines objektiven Urteils erheben zu können, muss man mindestens wissen a) wie schnell oder langsam sie das Stück tatsächlich spielte; b) welches Tempo sich der Komponist des Stückes wünschte; c) wie seine in der Partitur festgehaltenen Angaben (largo, andante, allegro usw.) genau zu interpretieren sind, was seinerseits d) eine weitgehende Vertrautheit nicht nur mit der Musiktheorie, sondern auch mit der Musikgeschichte voraussetzt (in verschiedenen geschichtlichen Perioden, vielleicht sogar in verschiedenen Ländern verstand man unter „ allegro “ absolut gesehen verschiedene Tempi); schließlich e) ist die Kenntnis verschiedener Interpretationen des Stückes unerlässlich, um sich ein entsprechendes Urteil bilden zu können. Man sieht, dass ein objektives Urteil nicht nur ungetrübte Wahrnehmungsfähigkeit, sondern auch ein fundiertes Wissen und breite Erfahrung verlangt. Ein solches Urteil baut offensichtlich auf einer äußerst komplexen kognitiven Leistung auf. Aber ein 130 Seiten langer Beweis der letzten Fermat ’ schen Gleichung (Singh 2000, S. 311) beruht ebenfalls auf einer ziemlich komplexen kognitiven Leistung. Warum wird er nicht als „ objektiv “ betrachtet? Urteil und (algorithmischer) Schluss Ich glaube, man kann in dieser Situation Klarheit gewinnen, wenn man den Begriff des (abwägenden) Urteilens dem des logischen oder mathematischen Schließens gegenüberstellt. Der Begriff des Schließens beinhaltet in seinem Kern die Idee einer regelgeleiteten Aktivität, der regelgeleiteten Ableitung einer Aussage aus einer Kombination anderer. 251 Ob wir an den Alle-Men- 251 „ Schluss [. . .], in der Logik der Übergang von einer Reihe von Aussagen, den Prämissen des Schlusses, zu einer Aussage, der Konklusion [. . .] oder auch dem Schluss-Satz des Schlusses, gemäß einer Schluss-Regel “ (Rott 2004, S. 708). 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1107 schen-sind-sterblich-Syllogismus denken oder an den Beweis der Proposition, dass die Summe der Winkel eines Dreiecks 180° beträgt, wir wissen, dass man bei Anwendung bestimmter Regeln unweigerlich und unfehlbar von einer Proposition zu einer anderen kommen kann. Diese Regeln mögen einfach oder komplex, uns bekannt oder auch nur „ intuitiv “ angewandt sein, sie führen stets zu einer eindeutigen Lösung. Die Beziehungen zwischen den Elementen des Gedankenganges mögen zuerst äußerst kompliziert und unklar sein (wie z. B. beim erwähnten Beweis der Fermat ’ schen Gleichung), sie sind jedoch im Nachhinein eindeutig nachvollziehbar. Es mögen auch verschiedene Wege zu einem Resultat führen, es gibt aber am Ende nur ein richtiges Ergebnis. In keinem Fall eines solchen logischen oder mathematischen Schlusses wären wir geneigt, die richtige Lösung als „ objektiv “ und eine falsche als „ subjektiv “ zu bezeichnen. Wir bezeichnen ein solches Ergebnis einfach mit „ richtig “ oder „ falsch “ . Der Grund dafür liegt m. E. in der Tatsache, dass es in bestimmten Bereichen wie Logik, Mathematik, in bestimmten Gebieten der Physik usw. stets einen Algorithmus (oder auch mehrere) gibt, der die korrekte Lösung des Problems ermöglicht und auch sichert. Er mag nicht einfach zu entdecken sein, er mag recht kompliziert und nur mit dem Einsatz von Rechnern durchzuführen sein, aber wenn er einmal gefunden ist, kann im Prinzip ein jeder mittels dieses Algorithmus zu dem richtigen Ergebnis kommen. Es muss an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht werden, dass man von der Mathematik oder Logik und von ihren Ergebnissen bzw. Gesetzmäßigkeiten allgemein ohne Weiteres als von einem „ objektiven “ Bereich sprechen kann. 252 Es scheint jedoch unangebracht, spezifische Ergebnisse oder Lösungen als „ objektiv “ zu bezeichnen. Wie wir am Anfang dieses Kapitels gesehen haben, ist die Bezeichnung der falschen Lösung eines mathematischen (logischen) Problems oder eines falschen Messresultats als „ subjektiv “ fehl am Platz. Eine solche Lösung ist eben einfach falsch, nicht subjektiv. Wir werden weiter unten die Gründe für dieses Sprachphänomen beleuchten. Übrigens verfügen auch die sog. Wahrnehmungsurteile auf eine gewisse Weise über solche Algorithmen. Wir wissen ganz genau, was wir tun müssen, um uns zu vergewissern, ob es jetzt gerade regnet oder nicht, ob die Rose rot ist oder nicht, ob Hans in seinem Zimmer ist oder nicht. Wir können (und sollen) also in diesem Sinne eigentlich von Wahrnehmungsschlüssen sprechen. 253 252 Vgl. z. B. Husserls Haltung diesbezüglich (Husserl 1992, Erster Band, S. 177 - 180). 253 Es mag anstoßend erscheinen, von Wahrnehmungsschlüssen zu sprechen, wenn - jedenfalls äußerlich betrachtet - das Schließen im logischen Sinne eine ganz andere Tätigkeit ist. Ich glaube jedoch, aus zwei Gründen zu einem solchen Sprachgebrauch berechtigt zu sein. Erstens sind die Begriffe „ Schluss “ und „ Urteil “ hier gleichsam als Stationen auf einem Kontinuum steigender Komplexität der kognitiven Operationen gemeint, wobei das Urteilen eine komplexere Operation bezeichnet, weil es mehrere 1108 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Nun möchte ich behaupten, dass für die Aussagen der zweiten Gruppe (5 - 7) solche Algorithmen nicht vorhanden sind. Es gibt keine Methode, die uns ermöglicht, mit mathematischer Sicherheit und Zuverlässigkeit ein Urteil über die Cellistin oder über den Motor des Autos zu fällen. Man kann nicht irgendwelche Daten in den Computer eingeben und ihn berechnen lassen, ob die Cellistin tatsächlich zu langsam gespielt hat oder nicht oder ob der Motor zu schwach ist oder nicht. Genauer gesagt wäre es zwar möglich, nur wäre die Methode dann notwendigerweise zirkulär. Das entsprechende Computerprogramm müsste schon Resultate gewisser unberechenbarer menschlicher Urteile enthalten (z. B. ist ein 50-PS-Motor zu schwach für ein Auto von über 800 kg Gesamtgewicht), um seine Berechnungen durchführen zu können. Die Bestimmung „ zu schwach “ basiert letztendlich nicht auf einem bestimmten Verhältnis von Kraft und Gewicht oder etwas Ähnlichem, sogar nicht nur auf der Beschleunigung eines bestimmten Autos, sondern auf einem sehr komplexen Gefühl oder einer Art komplexer Wahrnehmung, die das Verhalten des Autos in unterschiedlichen Situationen (Beschleunigung aus dem Stand, Überholmanöver, Fahrt bergauf usw.) einbezieht und widerspiegelt. Man kann den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Situationen auch mit dem Unterschied zwischen Entdeckung und Erfindung vergleichen. Die Ergebnisse des algorithmischen Schließens sind wie Entdeckungen. Sie waren gleichsam sowieso da. Die Ergebnisse des vergleichenden Urteilens hingegen sind wie Erfindungen. Sie schaffen jeweils etwas Neuartiges. Ich möchte also als das zweite wichtige Resultat der vorangehenden Untersuchungen festhalten, dass die Prädikate objektiv/ subjektiv nur für die Ergebnisse des Urteilens, nicht aber für die des Schließens gebraucht werden. Man kann gegen dieses Resultat einwenden, dass Situation (5) eindeutige algorithmische Kriterien der Wahrheit der Aussage doch zweifelsohne zulässt. Nehmen wir an, es gab auf der gefahrenen Strecke ein Straßenschild, das die Geschwindigkeit auf 50 km/ h begrenzte, und der Autofahrer fuhr Elemente oder Faktoren einbeziehen muss. In diesem Sinne ist die Proposition (3) einfacher zu vollziehen als das Urteil (5) und kann m. E. im Gegensatz zu diesem als das Ergebnis eines Schlusses bezeichnet werden. Zweitens kann man, betrachtet man die klassische Form eines Syllogismus (Alle Menschen . . .), merken, dass den einfachen Beobachtungsaussagen eine sehr ähnliche, jedoch vorbewusste Schrittfolge zugrunde liegen muss. Um sagen zu können: „ Dies ist eine Rose “ , benötige ich eine obere Prämisse der Form: „ Alle Rosen sind so und so “ , und darüber hinaus eine untere Prämisse: „ Dies hier ist so und so “ , und erst vor diesem Hintergrund kann ich „ schließen “ : „ Dies hier ist eine Rose. “ (Aufschlussreich in dieser Beziehung ist die feine kognitionspsychologische Analyse der einfachen Erkennungsleistung von Kosslyn (in: Kosslyn 1996, S. 247 - 283). Proposition (3) hat eine noch komplexere Form. Sie ist eine Zusammenlegung von zwei Folgerungsgängen: 1. dieselbe Schlussfolgerung wie oben, was uns zum Schluss führt, dass dies hier eine Rose ist; und 2. eine Folgerung, die sich auf die Farbeigenschaften bezieht, und welche - vereinfacht (weil man diese Dimension irgendwie aus der Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung zuerst herausholen muss) - die Form hat: „ Rot zu sein heißt, so und so zu sein, dies hier ist so und so, also ist dies hier rot. “ 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1109 80 km/ h. Eine solche Situation kann bestimmt vorkommen, nur muss man sich fragen, ob wir in dieser oder in einer ähnlichen Lage geneigt wären, für (5) das Prädikat „ objektiv “ zu gebrauchen. Mir scheint, dass die Antwort auf diese Frage negativ ausfallen muss. In diesem Falle würden wir geneigt sein zu sagen, dass es eine „ Tatsache “ war, dass jemand zu schnell fuhr; das Prädikat „ objektive Tatsache “ hingegen würde für jene Situationen reserviert werden, in welchen die Lage nicht so eindeutig ist. Urteil und Wissenschaft Dieses Ergebnis mag den Anschein erwecken, dass es durch eine offensichtliche und unleugbare Tatsache widerlegt wird: Die wissenschaftlichen Aussagen sind eben Tatsachen oder Gesetzmäßigkeiten. Sie haben nur in seltensten Fällen die Struktur eines abwägenden Urteils, und dennoch fallen sie eindeutig in die Geltungssphäre des Prädikats „ objektiv “ : Wissenschaft liefert schließlich objektives Wissen. Es ist jedoch unschwer zu zeigen, dass dieser Anschein trügt. Die wissenschaftlichen Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten werden gewöhnlich aufgrund gewisser Beobachtungen oder Messungen ermittelt. Diese Beobachtungen und Messungen fallen, insofern sie aufgrund von gewissen Algorithmen erfolgen, aus der Geltungssphäre des Begriffspaares „ objektiv/ subjektiv “ heraus, sie sind bloß richtig oder falsch. Es mag sein, dass sie unter so komplexen Bedingungen gemacht werden, dass man bereits auf dieser Stufe abwägen muss, ob etwas beobachtet wurde oder nicht (sagen wir, wenn wir die Lebensgewohnheiten der Fledermäuse normalerweise unter sehr schlechten Sichtverhältnissen studieren), was uns dazu veranlassen könnte, die Frage zu stellen, ob eine konkrete Beobachtung (Messergebnis) objektiv oder bloß eine subjektive Täuschung war. Jedoch unabhängig davon, wie im Einzelnen die Faktenbasis ermittelt wurde, die auf ihr basierende Schlussfolgerung, welche erst zu einer „ Tatsache “ bzw. zu einer Gesetzmäßigkeit führt, beinhaltet stets ein Element des Aufeinanderbeziehens, des Abwägens von verschiedenen Einzelergebnissen. Ob wir aufgrund der Beobachtungen, dass die sog. Dornen auf Dendriten der Nervenzellen ihre Position und Form sehr schnell verändern können, den Schluss ziehen, dass darin die biologische Grundlage der synaptischen Plastizität im Gehirn besteht (Fischer et al 1998), oder ob wir aufgrund gewisser EEG-Messungen schließen, dass die bewussten Handlungen des Menschen durch sein Unbewusstes initiiert und gesteuert werden (Libet et al 1993), 254 oder ob wir aufgrund der Messungen von entfernten Supernovae schließen, dass die Expansionsgeschwindigkeit des Universums steige, was wiederum zum Schluss veranlasst, dass das Universum zum größten Teil aus „ dunkler Energie “ besteht, deren Gravitation abstoßend wirkt (Ostriker und Steinhardt 2001), unsere Schlüsse gehen weit über die direkt beobachtbaren 254 Vgl. Roth 2001, S. 437 - 443. 1110 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Tatsachen hinaus. Es ist eine Binsenweisheit, dass Wissenschaft induktiv operiert, und es ist heute ebenso eine Binsenweisheit, dass induktive Schlüsse unsicher sind. Sowohl die Folgerungen, die von einzelnen Beobachtungen auf gesetzartige Verallgemeinerungen bzw. Theorien schließen (manchmal Abduktion genannt [Curd und Cover 1998, S. 1291]), wie auch jene, welche aus dem Vorhandensein gewisser Effekte auf die Wahrheit bestimmter Theorien schließen, sind demnach keineswegs algorithmische Schlüsse im oben erläuterten Sinne, sondern sie beinhalten stets ein Element des Risikos und der Unsicherheit. Sie sind daher abwägende Urteile und stehen kraft dieser Eigenschaft innerhalb der Geltungssphäre des Begriffspaares „ objektiv/ subjektiv “ . Denkt man an die statistischen Methoden der Datenverarbeitung und insbesondere an die auf statistischen Überlegungen basierenden Kriterien der Annahme bzw. Ablehnung von getesteten Hypothesen, so ist das Element des Risikos beim Fällen eines entsprechenden Urteils explizit vorhanden: Bekanntlich gilt die Nullhypothese gewöhnlich als widerlegt, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie wahr sein könnte, nicht größer als 0,05 ist (Coolican 1999, S. 296). 255 Dass jegliche theoretische Verallgemeinerung für ihre Formulierung einen komplexen Prozess des Abwägens der verfügbaren Daten benötigt, ist also leicht einsehbar. Es ist aber auch unschwer zu zeigen, dass sich selbst hinter den einfachsten wissenschaftlichen „ Tatsachen “ gewisse Überlegungen verbergen, die das Abwägen der verfügbaren Daten voraussetzen und irreführen können. „ Der Siedepunkt des Wassers liegt bei 100°C “ . Der Weg, auf dem eine solche Verallgemeinerung erreicht wird, ist offensichtlich recht komplex. Viele Messungen unter verschiedenen Bedingungen wurden vorgenommen, einige Resultate wurden akzeptiert, andere ausgeschlossen, herausfiltriert, bedeutsame Bedingungen wurden bestimmt, insignifikante ignoriert. 256 Es bedurfte aber vielleicht eines Zufalls, vielleicht in Form einer Messung des Siedepunktes, als das Wetter extrem schlecht (der Luftdruck extrem tief) war, der jemanden auf die Idee brachte, dass der Wert des Siedepunktes des Wassers vom Luftdruck abhängig ist und dass die obige Aussage genau genommen falsch ist und eigentlich lauten sollte: „ Der Siedepunkt des Wassers liegt bei normalem Luftdruck bei 100°C. “ 257 Deswegen kann man 255 Vor kurzem erhoben sich Stimmen, die verlangen, dass dieses Kriterium deutlich verschärft werden muss, um einwandfreie Resultate der Hypothesenüberprüfung zu erhalten. Johnson schlug vor, dass man eine Wahrscheinlichkeit von 0.005 und für besonders wichtige Resultate sogar 0.001, dass die Nullhypothese wahr ist, fordern müsse, um sie mit Sicherheit ablehnen zu können (Johnson 2013). 256 Vgl. Barnes, B., Bloor, D. und Henry, J. 1996, S. 19 - 23, wo die genannten Autoren zeigen, wie selektiv Millikan mit den Resultaten seiner Öltropfen-Experimente bei der Bestimmung der Elektronladung umgegangen ist. 257 Solche Interpretationsfehler von Beobachtungs-, Messbzw. Experimentergebnisse sind in der Wissenschaft sehr verbreitet. Ein klassisches Beispiel ist die lange als Tatsache geltende Täuschung, dass sich die Sonne um die Erde dreht, ein anderes ist der fast 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1111 durchaus behaupten, dass selbst solche einfachen (allgemeinen) Aussagen nicht bloß faktische Aussagen, sondern Resultate von Urteilen, von Abwägungen und somit auch gewissermaßen „ Bewertungen “ sind. Ich glaube, darin liegt der Grund für den sich allmählich durchsetzenden Konsens, dass Werte (zumindest „ kognitive “ Werte) aus der Wissenschaft nicht auszuschließen sind. Bedenkt man dabei, dass das Akzeptieren bzw. Ablehnen von Hypothesen und schließlich auch von Theorien immer mit dem Risiko eines Fehlschlusses verbunden und letztendlich immer ein zum Teil arbiträres Urteil ist, zeigt sich, dass wissenschaftliche Aussagen stets auf komplexen Netzwerken von abwägenden Urteilen fußen, weshalb sie überhaupt als objektiv (subjektiv) bezeichnet werden können. Urteil und Tatsache Eine andere Schwierigkeit der oben geschilderten Auffassung von Objektivität ergibt sich daraus, dass man sehr wohl von „ objektiven Tatsachen “ sprechen kann, der Begriff der Tatsache aber die Aktivität des Urteilens im oben genannten Sinn gerade auszuschließen scheint. Die Sache ist jedoch wesentlich komplizierter. Habermas meinte zum ontologischen Status der Tatsachen, dass die Unterstellung, sie seien mit den Gegenständen und deren Verhältnissen zueinander identisch, sinnlos ist: „ Wenn wir sagen, dass Tatsachen Sachverhalte sind, die existieren, dann meinen wir nicht die Existenz von Gegenständen, sondern die Wahrheit propositionaler Gehalte “ (Habermas 1973, S. 385). Tatsachen sind „ abgeleitet “ aus Sachverhalten, schreibt Habermas weiter, und in der Tat, wenn ich sage: „ Basel liegt am Rhein und das ist eine Tatsache “ , dann ist diese Aussage nicht bloß die Beschreibung eines Sachverhaltes, sondern bereits ein höherstufiges, reflektiertes Urteil über den Wahrheitsstatus einer Behauptung (dass Basel am Rhein liegt). Habermas kommt zu dem Schluss, dass wir unter „ Tatsache “ „ den in einem (vorerst) abgeschlossenen Diskurs thematisiert gewesenen Inhalt einer inzwischen entproblematisierten Aussage: das, was wir nach einer diskursiven Prüfung als wahr behaupten möchten “ , verstehen (ebd.). Ich meine, dass die unwiderstehliche Eindruck, dass die Fallgeschwindigkeit eines Objekts von seinem Gewicht abhängt. Bekanntlich führten erst die Fallexperimente in luftleeren Rohren zu einer Korrektur diesen Fehlschlusses. Ein Beispiel für dieses Phänomen, das neueren Datums ist, habe ich in einem Artikel über die neuesten Einsichten in die Wirkungsweise des Geschmackssinnes gefunden. Die Autoren des Artikels schreiben: „ Ältere Lehr- und Schulbücher zeigen sie noch: die Karte von einer Zunge, die an der Spitze Süßes schmeckt und hinten Bitteres. Diese Darstellung kam im frühen zwanzigsten Jahrhundert auf und wurde bald populär. Doch sie ist falsch! Sie bezieht sich auf über hundert alte Studien, deren Ergebnisse spätere Wissenschaftler falsch deuteten “ (Smith und Margolskee 2001, S. 44, meine Hervorhebung, MBM.). Wenn man diese Aussage liest, stellt sich selbstverständlich die Frage: Welche gegenwärtig geltenden wissenschaftlichen Überzeugungen werden in ein- oder zweihundert Jahren als bloße Fehldeutungen von Forschungsergebnissen eingestuft? 1112 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Forderung nach einer „ diskursiven Prüfung “ in diesem Zusammenhang zu streng ist. Es scheint mir, dass wir im alltäglichen Sprachgebrauch auch dann von Tatsachen sprechen, wenn eine solche Prüfung nicht vorhanden war; das Element der reflexiven Beziehung auf den Geltungsanspruch der Aussage scheint jedoch für den Begriff der Tatsache notwendig zu sein. In diesem Sinne, und entgegen der allgemeinen Meinung, beinhaltet der Begriff der Tatsache analytisch den des Urteilens, was wiederum verständlich macht, warum es auch in der vorliegenden Analyse des Begriffs der Objektivität durchaus Sinn macht, von „ objektiven Tatsachen “ zu sprechen. Wenn ich sage: „ Das ist eine Tatsache “ , dann meine ich effektiv, dass ich urteile, dass meine Beschreibung wahr ist und den Sachverhalt korrekt wiedergibt. Wenn ich dieser Feststellung den Zusatz „ objektiv “ ( „ Das ist eine objektive Tatsache “ ) hinzufüge, bringe ich damit zum Ausdruck, dass das der Feststellung zugrunde liegende Urteil nach meiner Einschätzung nach den Regeln getroffen wurde, welche eingehalten werden müssen, um die Objektivität des Urteilens zu gewährleisten. Welche Regeln dies im Einzelnen sind, werden wir im weiteren Verlauf der Analyse bestimmen müssen. Diese Überlegungen führen aber zu einem weiteren Problem. Wir haben oben von den wissenschaftlichen Tatsachen oder Gesetzmäßigkeiten gesprochen und versuchten zu verstehen, warum sie ausschließlich dann als „ objektiv “ bzw. „ subjektiv “ bezeichnet werden können, wenn es sich um abwägende Urteile handelt. Es bedarf aber keines besonderen Scharfsinns, um zu merken, dass wissenschaftliche Theorien eigentlich nie als „ objektiv “ oder „ subjektiv “ bezeichnet werden. Diese Prädikate kommen lediglich wissenschaftlichen Beobachtungen, Tatsachen, vielleicht auch Gesetzmäßigkeiten, 258 aber sicher nicht Theorien zu. Eine Lokution der Art: „ Diese Theorie ist objektiv (subjektiv) “ macht keinen Sinn. Eine Theorie kann plausibel oder unplausibel, komplex, sogar raffiniert oder einfach, richtig (sie macht richtige Voraussagen) oder falsch, aber nicht objektiv oder subjektiv sein. 259 Und dies ist nicht leicht zu verstehen. Schließlich ist offensichtlich, dass Theorien aufgrund sehr komplexer, „ abwägender “ Überlegungen formuliert werden, weshalb sie in den Bereich der Dichotomie objektiv/ subjektiv fallen sollten. Dies aber ist nicht der Fall. Ich möchte auf dieses Phänomen an einer späteren Stelle zurückkommen. 258 Gesetzmäßigkeiten scheinen bereits ein Grenzfall zu sein: Spricht man tatsächlich von objektiven bzw. subjektiven Gesetzen? 259 Interessanterweise scheint es ebenfalls unmöglich zu sein, eine Theorie als „ wahr “ zu bezeichnen, woraus sich eine seltsame Asymmetrie ergibt: Eine Theorie kann falsch, aber nicht wahr sein. Auch dieses Sprachphänomen ist schwierig zu verstehen, da aber der Wahrheitsbegriff außerhalb des Rahmens dieser Arbeit liegt, werde ich mich mit diesem Rätsel nicht weiter beschäftigen. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1113 Objektivität als die Neutralisierung der subjektiven Einflüsse Angemessene (subjektivitätsfreie) Begründung des Urteils Wir haben im Laufe der obigen Überlegungen ein Merkmal angesprochen, das sich als zentral für den Begriff der Objektivität erwies: das der Befreiung des Urteils von subjektiven Einflüssen. Was auch immer „ objektiv “ sonst noch heißen mag, es besteht weitgehend Einigkeit über die Tatsache, dass dieses Prädikat dann verwendet werden darf, wenn die „ Subjektivität “ aus dem Urteilsprozess ausgeschlossen worden ist. Dass ein Urteil nur dann als objektiv gelten kann, wenn die subjektiven Einflüsse aus dem Erkenntnisprozess ausgeschaltet werden, lässt sich leicht an einem einfachen Beispiel zeigen. Frau Müller macht die folgende Aussage über einen Jungen namens Hans: (8) Hans ist sicher ein fauler Kerl. Wir setzen wie üblich voraus, dass das Urteil richtig ist: Hans ist tatsächlich faul, was von vielen Menschen bezeugt werden kann. Das Problem der Aussage von Frau Müller liegt jedoch darin, dass sie Hans gar nicht persönlich kennt, und das Einzige, was sie außer seinem Namen über ihn weiß, ist, dass er schwarzer Hautfarbe ist. Frau Müller ist dafür bekannt, dass sie gegenüber schwarzen Menschen Vorurteile hegt und insbesondere fest davon überzeugt ist, dass alle Schwarzen faul seien. Dieses Vorurteil ist auch ihre (einzige) Begründung der Aussage über Hans. Es ist offensichtlich, dass wir unter diesen Umständen ihr Urteil, trotz seiner Wahrheit, nicht mit dem Prädikat „ objektiv “ versehen würden. 260 Das Problem ist ähnlich wie das Problem der „ richtigen Begründung “ , das wir bereits im zweiten Kapitel betrachtet haben. Frau Müllers Begründung für ihre Aussage würde sicherlich nicht ausreichen, um dieser Aussage den Status des Wissens zu verleihen. Im gegenwärtigen Kontext ist jedoch für uns interessant, dass diese Begründung nicht genügen würde, um ihrer Aussage den Status eines objektiven Urteils verleihen zu können, weil diese Aussage - obwohl wahr - offensichtlich bloß aufgrund subjektiver Gründe formuliert wurde. Als objektiv kann also nur ein Urteil gelten, bei dessen Zustandekommen die Subjektivität des Urteilenden neutralisiert war. Erst dieser Schritt der Neutralisierung der Subjektivität scheint uns dazu zu befähigen, von der Rede von bloßen Tatsachen (welche mit der Wirklichkeit „ übereinstimmen “ ) zur Rede von objektiven Tatsachen (d. h. Urteilen, welche nicht nur wahr, sondern darüber hinaus auch frei von Subjektivität sind) überzugehen. Dieses Ergebnis ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Wesens der Objektivität. Es zeigt sich hier wiederum, dass die bloße Wahrheit 260 Die Aussage „ Hans ist sicher ein fauler Kerl “ mag an sich als „ objektive Tatsache “ gelten. Betrachtet jedoch als ein Urteil von Frau Müller, werden wir ihr aber Objektivität absprechen müssen: Dieses Urteil ist kraft der Gründe, aus welchen es gefällt worden ist, alles andere als objektiv. 1114 10 Das Wesen des Objektivitätsideals eines Urteils nicht ausreicht, um ihm das Prädikat „ objektiv “ zuzuschreiben. Der notwendige Zusatz besteht darin, dass das fragliche Urteil auf einem Weg erreicht worden ist, der von subjektiven Einflüssen frei ist. Dieser Umstand erklärt m. E., warum die intersubjektive Geltung einer Aussage so oft mit ihrer Objektivität verwechselt wird. Wenn eine Aussage von mehreren Menschen gemacht wird, besonders wenn eine Behauptung aufgrund „ objektiver wissenschaftlicher Methoden “ erreicht wurde, steigen die Chancen, dass die Subjektivität der Urteilenden (der Forscher) aus dem Urteilsbildungsprozess ausgeschaltet wurde. Objektiv ist demnach eine Aussage nicht deshalb, weil sie intersubjektiv gilt (dies allein - wie wir bereits gesehen haben - bildet kein hinreichendes Kriterium für die Objektivität der Aussage), sondern ihre intersubjektive Geltung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die subjektiven Faktoren keine Rolle bei der Urteilsbildung gespielt haben. Gefährdung durch die Subjektivität Für die Berechtigung, einem Urteil das Prädikat „ objektiv “ zuzuschreiben, ist jedoch ein zusätzliches Element maßgeblich, das sichtbar wird, wenn man sich gewisser Situationen besinnt, in welchen sehr einfache abwägende Urteile zu fällen sind. Solche Urteile sollen nach der vorangehenden Analyse in die Geltungssphäre des Prädikatspaares „ objektiv/ subjektiv “ fallen. Es scheint jedoch, dass dies nicht immer der Fall ist. Nehmen wir an, wir sollen zwei Stäbe, einen sehr kurzen und einen recht langen, bezüglich ihrer Länge vergleichen. Es fällt nicht schwer, in dieser Situation die richtige Entscheidung zu fällen. Diese Entscheidung ist auch ein (abwägendes) Urteil und nicht ein Schluss, denn wir messen die beiden Stäbe nicht, wir schätzen lediglich ihre Länge. Kann man dieses Urteil als „ objektiv “ bezeichnen? Genauere Sprachbeobachtung zeigt, dass wir in einem solchen Fall mit einer merkwürdigen Differenzierung zu tun haben. Dass der längere Stab länger ist, ist wohl eine objektive Tatsache. Wir würden jedoch dem betreffenden Urteil nicht mit der gleichen Sicherheit das Prädikat „ objektiv “ zuschreiben. Warum? Die Antwort auf diese Frage liegt m. E. darin, dass die Subjektivität des Betrachters in einer solchen Situation kaum zum Tragen kommen kann. Die Lage ist so eindeutig, dass eine Verzerrung des Urteils durch die subjektiven Eigenschaften des Urteilenden kaum denkbar ist. Das Urteil „ verdient es nicht “ , als objektiv bezeichnet zu werden, seine Richtigkeit ist gleichsam zu billig zu haben. Ähnliches lässt sich im Falle von optischen Täuschungen beobachten. Es ist wohlbekannt, dass man z. B. die Höhe von zwei gleich großen Figuren falsch einschätzt, wenn sie sich an verschiedenen Stellen von einigen zusammenlaufenden Geraden befinden, weil man unwiderstehlich die Situation als dreidimensionale Perspektive interpretiert. Solche Fehlschlüsse werden nicht als subjektive Abirrungen, sondern eben als Täuschungen eingestuft, als ob die „ Subjektivität “ (was immer das sein mag) des Urteilenden bei der Entstehung solcher Urteile keine Rolle spielte. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1115 Dieser Punkt ist sehr wichtig: Wir sind geneigt, erst dann von Objektivität zu sprechen, wenn eine potentielle Gefährdung durch die Subjektivität vorhanden ist, wenn also das gefällte Urteil unter dem Einfluss eigener Präferenzen, Wünsche, Hoffnungen usw. verzerrt werden könnte. Ist eine solche Gefahr nicht vorhanden, dann werden die entsprechenden Aussagen bloß mit den Prädikaten „ richtig/ falsch “ oder „ wahr/ unwahr “ quittiert. Wurde die Subjektivität nicht erfolgreich ausgeschaltet, verzerren die subjektiven Eigenschaften des Urteilenden sein Urteil, muss man es als subjektiv bezeichnen. Erst dann, wenn die Subjektivität eliminiert worden ist, kann man von objektivem Urteil sprechen. In diesem Lichte gesehen ist das Prädikat „ objektiv “ tatsächlich „ honorific “ im Sinne von Daston und Galison (Daston und Galison 1992, S. 84), ein „ Gütesiegel “ . Die Zuschreibung ist das Zeugnis dafür, dass in den Augen des Sprechers die tatsächlich drohenden Gefahren der Subjektivität erfolgreich gebannt und überwunden wurden. Wir können also als weiteres Ergebnis der bisherigen Analyse des Objektivitätsbegriffs das Folgende festhalten: Die Geltungssphäre der Objektivität eines Urteils reicht so weit und nur so weit, wie die Bedrohung der Zuverlässigkeit der kognitiven Prozesse (des Urteilens) durch die individuellen Eigenarten des Subjekts (seine Subjektivität) vorhanden ist. Dieses Ergebnis eröffnet eine zusätzliche Perspektive im Hinblick auf die bereits früher aufgedeckte Tatsache, dass mathematische oder logische Ergebnisse wie auch die Wahrnehmungsschlüsse nicht als objektiv bzw. (wenn falsch) subjektiv bezeichnet werden. Die kognitiven Prozesse, durch die solche Resultate erzielt werden, unterliegen offensichtlich nicht dem Einfluss jener Elemente unserer Persönlichkeit, welche wir als unsere „ Subjektivität “ zu bezeichnen geneigt wären. Es ist unbestritten, dass ich mich beim Zählen und mehr noch bei komplizierten mathematischen oder logischen Aufgaben (Beweise, komplizierte Problemlösungen usw.) irren kann, jedoch werden diese Abirrungen eben als Fehler, nicht als subjektive Fehlschlüsse gedeutet. Wir haben Ähnliches im Falle von optischen Täuschungen gesehen. Oder nehmen wir dieses Beispiel: Wenn ich die Zahl der Sandkörner an einem Strand ermitteln soll, so ist das eine äußerst mühselige Aufgabe und das Ergebnis der Zählung mag wohl falsch sein. Ich kann mich beim Zählen leicht irren. Die Aufgabe unterliegt jedoch nicht der Gefahr der Verzerrung durch Faktoren, welche gewöhnlich mit Subjektivität assoziiert werden. Deshalb kann das Ergebnis wohl falsch, aber nicht subjektiv sein. Es könnte sogar argumentiert werden, dass die (algorithmischen) Schlüsse aus der Geltungssphäre des Begriffspaares „ subjektiv/ objektiv “ ausgeschlossen sind, gerade weil sie dem Einfluss der Subjektivität nicht unterliegen können. Die festen Regeln, nach denen die Schlüsse erreicht werden, verhindern, dass die Auswirkungen individueller Eigenschaften den kognitiven Prozess stören können. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmung der Objektivität als eine bestimmte Eigenschaft der abwägenden Urteile (Freisein 1116 10 Das Wesen des Objektivitätsideals von subjektiven Verzerrungen bei grundsätzlicher Bedrohung durch Subjektivität) und nicht ausschließlich z. B. der Forschungsergebnisse es erlaubt, diesen Begriff unabhängig vom Kontext der Wissenschaft zu verstehen. Dieser Tatbestand bietet zwei Vorteile. Erstens macht er es sinnvoll, von der Objektivität auch außerhalb der Wissenschaft zu sprechen, er macht somit die alltägliche Praxis verständlich, welche sich des Begriffs der Objektivität doch oft auch im außerwissenschaftlichen Kontext bedient. Zweitens zwingt er dazu oder ermöglicht es, die Kriterien der Objektivität unabhängig von den Kriterien der Wissenschaftlichkeit oder der wissenschaftlichen Geltung der Aussagen zu bestimmen. Dies wiederum sollte möglich machen, nicht nur den Objektivitätsstatus der nichtwissenschaftlichen Aussagen zu bestimmen, sondern auch die Frage der Objektivität der Wissenschaft in einer nichtzirkulären Art zu beleuchten. Da wir die Kriterien der Objektivität der Urteile im Allgemeinen, auch der alltäglichen Urteile, behandeln müssen, scheint jenes Begriffsraster unangemessen, welches für die wissenschaftlichen Aussagen ausgearbeitet wurde (Messbarkeit, Reproduzierbarkeit, Nachprüfbarkeit usw.), ein Raster, das sich übrigens bereits für das Verständnis der Objektivität als inadäquat herausgestellt hat. Ob die bis jetzt identifizierten Kriterien tatsächlich für die Bestimmung des Objektivitätsbegriffs hinreichend sind, wird sich im Laufe der folgenden Überlegungen zeigen. Objektivität und Wahrheit; objektives Wissen Dieses Ergebnis ermöglicht uns, den Objektivitätsbegriff deutlich vom Begriff der Wahrheit zu trennen. Es zeigt sich, dass nicht jede Wahrheit oder genauer gesagt nicht jedes wahre Urteil den Status der Objektivität beanspruchen kann. Erstens kann man sehr viele Wahrheiten nennen, welche nicht abwägende Urteile sind (Sätze 1 - 4, weitere logische oder mathematische Wahrheiten) und deshalb prinzipiell nicht als objektiv bzw. subjektiv gelten können. Zweitens werden sich selbst einige abwägende Urteile der Geltungssphäre dieser Dichotomie entziehen, wenn sie unter Umständen gefällt wurden, welche eine Gefährdung durch die Subjektivität des Urteilenden ausschließen. Die Wahrheit eines Urteils ist somit eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung seiner Objektivität. Dieser Umstand erlaubt uns auch, die weitverbreitete Rede von der „ objektiven Wahrheit “ besser zu verstehen: Während der Begriff „ Wahrheit “ gleichsam die Ergebnisse der Erkenntnisgewinnung in ihrer Beziehung zur Wirklichkeit beschreibt, charakterisiert der Zusatz des Prädikats „ objektiv “ den Prozess, welcher zu diesen Ergebnissen geführt hat, und zwar als einen solchen, der durch Subjektivität gefährdet war, dieser Gefahr aber erfolgreich begegnet ist. Nach dieser Analyse ist es durchaus nicht redundant, von „ objektiver Wahrheit “ zu sprechen: Der Begriff ist dann angebracht, wenn der Erkenntnisgewinnungsprozess auf abwägenden Urteilen fußt und der Gehalt der ihn abschließenden Proposition bzw. des ihn abschließenden Urteils 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1117 durch subjektive Einflüsse verzerrt werden könnte. Mathematische und logische Ergebnisse würden gemäß dieser Bestimmung nicht als potentielle Kandidaten für den Status der objektiven Wahrheiten gelten. Die Bestimmung der Objektivität als eine Eigenschaft der angemessenen Begründung eines (abwägenden) Urteils, d. h. als eine Begründung, welche unter dem Ausschluss von subjektiven Einflüssen des Urteilenden zustande kommt, droht jedoch die Grenze zwischen Objektivität und Wissen zu verwischen. Akzeptiert man nämlich die Standardexplikation des letzteren Begriffs als „ wahre, begründete Überzeugung “ , kommt er in gefährliche Nähe zum Objektivitätsbegriff ( „ wahres, angemessen begründetes Urteil “ ). Dennoch lassen sich beide Begriffe voneinander abgrenzen. Es ist erstens leicht einsichtig, dass nicht jede Überzeugung ein Urteil ist: Wiederum sind die obigen Sätze 1 bis 4 und ähnliche Propositionen Beispiele dafür. Und selbst wenn man diese wahren Aussagen um angemessene Begründungen ergänzt, um aus bloßen Wahrheiten Beispiele von Wissen zu erhalten (z. B. „ Ich weiß, dass Hans in seinem Zimmer ist, weil ich ihn gerade durch die offene Tür seines Zimmers dort sitzen sehe “ ), ist, zweitens, klar, dass nicht jede derartige Begründung ausreicht, um dem entsprechenden Urteil den Objektivitätsstatus zu verleihen. Sie muss nämlich unter Gefährdung durch die Subjektivität des Erkennenden erfolgen. Der Begriff der Objektivität (des Urteils) erweist sich somit als in seinem Umfang viel enger als der des Wissens. Diese Überlegungen zeigen aber auch, warum die Rede vom „ objektiven Wissen “ durchaus angebracht ist. Es handelt sich in einem solchen Fall einfach um ein Wissen, welches unter Gefährdung durch subjektive Einflüsse gewonnen wurde. Der Zusatz des Prädikats „ objektiv “ ist nicht redundant, weil nicht jedes Wissen unter solchen Umständen erlangt wird. Ich weiß, dass 4 + 4 = 8, aber ich kann dieses Wissen kaum als „ objektiv “ bezeichnen. Der Gegensatz zu „ objektivem Wissen “ wäre demnach nicht „ subjektives Wissen “ , was schließlich eine Contradictio in adiecto wäre, sondern etwa „ unproblematisches “ , weil dem Einfluss der Subjektivität nicht unterliegendes Wissen. Neutralisierung der Subjektivität und Selbsterkenntnis Die Einsicht, dass Objektivität nur jenen Urteilen zugeschrieben werden kann, bei denen subjektive Einflüsse aus dem Urteilsprozess ausgeschlossen wurden und die unter Umständen gefällt wurden, bei denen subjektive Verunreinigung eine reale Gefahr darstellt, mag als trivial erscheinen, und dies aus zwei Gründen: Erstens scheint es eine Binsenwahrheit, dass Objektivität darin bestehe, dass man seine Subjektivität aus dem Erkenntnisprozess eliminiert; zweitens scheint es auch von vornherein klar, wie dies am besten zu bewerkstelligen ist, und zwar mittels wissenschaftlicher Methoden. Sie wurden dafür ausgearbeitet und verfeinert, um uns von individuellen Eigentümlichkeiten, Präferenzen, Vorurteilen, kontingenten Gesichtspunk- 1118 10 Das Wesen des Objektivitätsideals ten usw. zu befreien, und sie tun es auch mit einer beeindruckenden Effizienz: Häuser und Brücken stehen, Autos fahren, Flugzeugen und Raketen fliegen, Computer laufen, wir werden auch durch eine wissenschaftliche Medizin gesund erhalten. Die Messinstrumente, die reproduzierbaren Experimente, die normierten Datensammlungsprozeduren, die Fragebogen, die mathematischen und insbesondere statistischen Methoden der Datenverarbeitung usw. ermöglichen es uns, objektive Forschungsresultate, zumindest in gewissen Wissenszweigen, zu erreichen. Es hat sich aber im Laufe dieser Untersuchung gezeigt, dass die Resultate, welche sich aufgrund von algorithmischen und Messverfahren ergeben, aus dem Geltungsbereich des Begriffspaares objektiv/ subjektiv herausfallen. Wir haben auch konstatieren müssen, dass sich die Rede von objektivem (wissenschaftlichem) Wissen - begrifflich gesehen - , nicht wissenschaftlichen Messmethoden und statistischen Methoden der Datenverarbeitung verdankt, sondern dem Umstand, dass sich hinter der ganzen wissenschaftlichen Maschinerie menschliche (abwägende) Urteile verbergen. Gäbe es sie nicht, wären alle wissenschaftlichen Resultate entweder richtig oder falsch, aber weder objektiv noch subjektiv. Es ist nicht zu verneinen, dass genaue Messresultate die Urteilsfindung erleichtern können, aber irgendwo im Erkenntnisprozess muss eine solche menschliche Urteilsfindung stattfinden, um die Rede von Objektivität zu rechtfertigen. Die Erkenntnis, dass der Kern der Objektivität in der Ausschaltung der Subjektivität des Urteilenden aus dem Urteilsbildungsprozess besteht, ist dennoch nicht so trivial, wie sie oberflächlich erscheinen mag. Denn logisch gesehen besteht zumindest eine andere Möglichkeit, die subjektiven Verzerrungen der Erkenntnis zu eliminieren, und zwar das Erkennen dieser Einflüsse und ihre bewusste Kontrolle (Ausschaltung), d. h. die Selbsterkenntnis. Es ist erstaunlich, wie selten die altbekannte Forderung nach Selbsterkenntnis (die berühmte Aufschrift über dem Eingang zum Tempel von Delphi lautet bekanntlich: „ Erkenne dich selbst “ ) in den wissenschaftsphilosophischen oder erkenntnistheoretischen Diskurs miteinbezogen wird. Mir sind nur vereinzelte Äußerungen in dieser Richtung bekannt. Nagel schreibt: „ Since we can ’ t literally escape ourselves, any improvement in our beliefs has to result from some kind of self-transformation “ (Nagel 1986, S. 69), was in die von mir vorgeschlagene Richtung zu gehen scheint, jedoch völlig unbestimmt bleibt. Meier-Seethaler meint, dass die Unwissenheit über die eigene Motivation des Handelns als hinreichendes Kriterium für dessen Irrationalität erachtet werden solle (Meier-Seethaler 1997, S. 303 - 315, bes. S. 310), aber auch bei ihr ist die Forderung nach Selbsterkenntnis als Methode, Subjektivität zu überwinden, noch nicht zu klarem Bewusstsein gekommen. Lediglich Piaget scheint die ganze Tragweite dieses Moments erfasst zu haben: „ Die Objektivität besteht darin, dass man die tausenderlei Auswirkungen des Ich auf das Alltagsdenken und die tausenderlei Täuschungen - Täuschungen der Sinne, der Sprache, der Standpunkte, der Werte usw. - , die 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1119 sich daraus ergeben, so gut kennt, dass man, bevor man sich ein Urteil erlaubt, zuerst die Fesseln des Ich abstreift “ (Piaget 1988, S. 43). 261 Man braucht aber keinen besonderen Scharfsinn, um zu merken, dass sich an dieser Stelle ein Abgrund auftut. Wie kann man wissen, ob bzw. dass man „ die Fesseln des Ich “ erfolgreich abgestreift hat? Schon der Prozess der Selbsterkenntnis ist äußerst langwierig und unzuverlässig. Trotz bester Absichten können sich in mir immer mir unbekannte Eigenschaften meiner Persönlichkeit in irgendwelchen dunklen Ecken befinden, welche in einer mir unbekannten Art meine Urteile beeinflussen. Die Psychoanalyse hätte einiges zu diesem Thema zu sagen. Der Prozess des „ Abstreifens “ solcher Einflüsse bildet jedoch eine weitere und verzwickte Schwierigkeit: Selbst unter der Annahme, dass ich mich (zumindest in den relevanten Aspekten) hinreichend kenne, woher soll ich die Zuversicht schöpfen, dass mir dieses Wissen allein erlauben wird, den Einfluss meiner Eigenheiten auf den Prozess des Urteilens „ abstreifen “ zu können? Man kann an dieser Stelle sogar einen Regress vermuten: Man muss objektiv wissen können, dass man sich objektiv erkannt hat, um die Objektivität seiner Urteile sichern zu können. Dieses Wissen brauchte aber, um als objektiv gelten zu können, eine Absicherung, dass es frei von jeglicher Subjektivität erworben worden ist, usw. Der Weg der Selbsterkenntnis scheint also als Methode der Neutralisierung der Subjektivität zunächst wenig erfolgversprechend. Dieser Sachverhalt ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass, zumindest logisch gesehen, die direkte Ausschaltung der Subjektivität eine Alternative zu den herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden bildet. Von diesem Gesichtspunkt aus kann sogar behauptet werden, dass die wissenschaftlichen Methoden zur Sicherung der Intersubjektivität der Forschungsergebnisse nichts anderes als ein mangelhafter Ersatz für die wirksame Selbsterkenntnis bieten. Hätten wir die Möglichkeit oder die Fähigkeit, wahre Selbsterkenntnis zu erlangen, und zusätzlich die Fähigkeit, dank dieser Selbsterkenntnis die störenden subjektiven Einflüsse auszuschalten, so brauchten wir die Krücken der wissenschaftlichen Methode nicht, um objektive Erkenntnis zu erreichen. Somit kommt eine weitere (neben dem Materialismus) weitverbreitete Hintergrundannahme zum Vorschein, die die Erkenntnisgewinnung leitet. Selbsterkenntnis ist unerreichbar, und eine wirksame Ausschaltung der auf solchem Wege aufgedeckten Einflüsse aus dem Erkenntnisprozess ist es ebenso wenig, deshalb brauchen wir andere Methoden der Eliminierung der Subjektivität aus dem epistemischen Urteilsbildungsprozess. Im nächsten Kapitel möchte ich dieser Auffassung eine Konzeption entgegenstellen, welche verspricht, Selbsterkenntnis so zu steigern, dass sie sich bei der Erkenntnisgewinnung als wirksam erweisen kann. 261 Es ist übrigens bemerkenswert, mit welcher Klarheit Piaget die Geltungssphäre der Objektivität auf die Urteile begrenzt. 1120 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Die Erfahrungsgrundlage der Objektivität: vom „ Blick von nirgendwo “ zur Weite des Blicks Zumindest seit der berühmten Studie von Nagel The View from Nowhere ist es naheliegend, die Frage der Objektivität bestimmter Behauptungen oder Ansichten mit der Frage nach dem geeigneten Blickwinkel oder Gesichtspunkt der Betrachtung zu verknüpfen. Wir erinnern uns (vgl. oben), dass Nagel von einer fortschreitenden Befreiung von den engen Grenzen des eigenen Gesichtspunktes sprach (Nagel 1986, S. 5, 85f.), bis man die humane Perspektive selbst hinter sich zu lassen fähig sei (ebd., S. 7). Die objektive Betrachtungsweise sei demnach jene, welche jegliche Bindung an partikuläre Gesichtspunkte überwunden habe, sie sei die des „ Blicks von nirgendwo “ (ebd., S. 70). Es scheint einleuchtend, dass die jedem Menschen eigene Kontingenz und Endlichkeit seiner Situiertheit in der Welt die Möglichkeit des Erlangens einer objektiven Sicht der Welt trübt oder sogar unmöglich macht. Führt jedoch der Weg zur Überwindung dieser Beschränktheit tatsächlich in die von Nagel vorgezeichnete Richtung des Erlangens eines perspektivelosen Blicks? Gehen wir wieder von einer konkreten Situation aus: Es ist Herbst, wir stehen vor einem prächtigen Apfelbaum voller Früchte und haben eine Menge Fragen, welche sich auf diesen Gegenstand beziehen. Wie alt ist der Baum? Wie groß ist er? Wie breit? Wie hoch? Wie schwer? Wie viele Äpfel hängen jetzt an seinen Ästen? Wie schwer sind sie insgesamt? Wie hoch wird der Erlös aus dem Verkauf sein? Sind schon alle Äpfel reif? Sind sie gut? Wäre das Holz des Baumes für einen Schreiner brauchbar? Welche Farbe hat dieses Holz eigentlich? Welches Muster weist es auf? Warum ist es so? Wie sieht der Baum in den Strahlen der Morgensonne aus? Wie am Abend? Was bestimmt eigentlich die Form des Baumes und insbesondere diejenige seiner Krone? Was bestimmt die Form der Blätter? Warum ändern sie ihre Farbe im Herbst? Warum fallen sie ab? Und die Blumen (sie sind zwar nicht mehr da, aber wir haben sie früher gesehen): Wie ist es möglich, dass sie aus den Knospen, welche den Blumen so unähnlich sind, entstehen? Was bestimmt ihre Farbe und ihre Form? Wie ist es möglich, dass aus dem kleinen Samen, der im Apfel sitzt, ein großer Baum wachsen kann? Was braucht es dazu? Haben bestimmte Tiere (z. B. Vögel) eine bestimmte Beziehung zu diesem Baum? Das Fragen kann ins Unendliche fortgesetzt werden, es kann selbstverständlich auch viel biologisch-technischer werden. Ich wollte durch diese recht naive Aufzählung zwei Punkte illustrieren. Erstens, dass sich die Sichtweise auf ein und denselben Gegenstand in Abhängigkeit von bestimmten Zugangsweisen oder Interessen des Betrachters ändert (Ist er der Besitzer, der vor allem am Erlös interessiert ist? Ist er ein Zimmermann, ein Biologe, ein Zoologe, ein Maler, ein Dichter? Ist es ein Kind? ). 262 Vorerst sind alle diese unterschiedlichen Zugangsweisen legitim, 262 Vgl. Rescher 1999, S. 201: „ It is (or should be) clear that there is no simple, unique, ideally adequate concept-framework for describing the world. The botanist, horticulturist, 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1121 vielleicht sogar gleichberechtigt. Es ist nicht angemessen zu behaupten, dass man eine gewisse Art von Fragen nicht stellen darf, dass bestimmte Fragen unzulässig sind, weil sie bloß einer subjektiven Perspektive entstammen. Überdies darf vermutet werden, dass, wenn keine Perspektive und somit kein konkretes Interesse vorhanden ist, auch keine Fragen gestellt und keine Antworten gewonnen werden: Es kommt keine Erkenntnis zustande. Ganz bildhaft gesprochen: Wenn wir uns von dem Baum genügend weit entfernen, verschwindet er einfach aus unserem Wahrnehmungsfeld: Aus dem All ist der Baum bekanntlich nicht sichtbar. Dies bedeutet aber kaum eine Zunahme der Objektivität der Urteile über den Baum. Es scheint also, dass Nagels Lösung des Objektivitätsproblems im Sinne einer immer entfernteren Sicht keine echte Lösung ist. Zweitens wollte ich mit diesem einfachen Beispiel illustrieren, dass sich das Problem des Gesichtspunktes der Betrachtung ganz unterschiedlich darstellt je nach dem, welche Fragen man formuliert. Bei gewissen Arten von Fragen spielt der Gesichtspunkt praktisch keine Rolle. Die Frage, ob der Baum noch Blätter trägt oder ob sie bereits abgefallen sind, verlangt keine besondere Perspektive, um richtig beantwortet zu werden; die Frage, wie viele Früchte an dem Baum hängen, ist bedeutend schwieriger zu beantworten und verlangt Veränderungen des räumlichen Standortes der Betrachtung; die Frage, ob das Holz gut ist, kann unmöglich beantwortet werden ohne Rückbezug auf die Bedürfnisse (auf den seelischen Gesichtspunkt) des Fragenden; die Frage, ob der Baum gesund oder krank ist, verlangt unter Umständen eine intime Bekanntschaft mit dem Baum und genaue wie auch geschulte Beobachtung. Die Frage, wie der Baum aussieht, ist vorerst zumindest im Allgemeinen schlicht unmöglich zu beantworten, weil die Antwort nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Summe aller möglichen Betrachtungsperspektiven voraussetzt. Möglich ist lediglich eine begrenzte Beschreibung aus einem konkreten Blickwinkel. Die Veränderung, insbesondere die wachsende Abstraktheit der Beobachtungsperspektive allein ist also wiederum kein geeignetes Mittel der Sicherung der Objektivität der Urteile. Vielmehr scheint es notwendig, zu diesem Zweck die Fähigkeit zu entwickeln, die für die Beantwortung einer bestimmten Frage nötige Perspektive einzunehmen, also eine gewisse innerliche Flexibilität bzw. Beweglichkeit zu erwerben. Es gibt aber einen Faktor des Strebens nach objektiver Erkenntnis, der bei Nagel gar nicht sichtbar wird: die Vollständigkeit der Urteilsgrundlage. Wir haben festgestellt, dass ein objektives Urteil eine angemessene Begründung verlangt, was allgemein als Ausschluss der subjektiven Beweggründe des landscape gardener, farmer, and painter will operate from diverse cognitive points of view to describe one selfsame vegetable garden. It is merely mythology to think that the phenomena of nature can lend themselves to only one correct style of descriptive and explanatory conceptualization “ . 1122 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Urteils, als Einnahme einer unpersönlichen Perspektive interpretiert wird. Dabei wird aber vernachlässigt, dass eine mindestens ebenso wichtige Bedingung der Objektivität eines abwägenden Urteils die Berücksichtigung aller relevanten Aspekte des Problems bzw. des Phänomens in der Urteilsfindung ist. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass ein Urteil von der Art (7) sehr viele Vorkenntnisse und Vorerfahrungen voraussetzt, um als objektiv gelten zu dürfen. Erst diese Vorkenntnisse ermöglichen es, sich ein angemessenes Urteil über die Leistung der Cellistin zu bilden. Ohne dieses umfangreiche Wissen und die entsprechende Erfahrung ist man hingegen in dieser Situation vollkommen urteilsunfähig oder auf subjektive Gefühle und Eindrücke zurückgeworfen. Diese Beobachtung lässt sich aber verallgemeinern. Ob die erkenntnisleitende Frage „ Was ist die Ursache des Flugzeugabsturzes? “ lautet oder „ Steigt die durchschnittliche Temperatur der Erde infolge zivilisatorischer Einwirkungen? “ oder auch „ Was sind die Ursachen von Krebs? “ , um eine angemessene Antwort auf diese Fragen geben zu können, müssen alle relevante Aspekte des Problems in die Überlegungen einbezogen werden. Das Auslassen eines wichtigen Elementes kann zu krassen Urteilsfehlern führen. Wenn wir die Lebenserwartung eines jungen Mannes „ objektiv “ aufgrund der vorhandenen Tabellen der Versicherungsgesellschaften abschätzen, ohne die Tatsache berücksichtigt zu haben, dass der junge Mann an Lungenkrebs leidet, wird unsere Berechnung grob falsch ausfallen. 263 Es ist ebenso einsichtig, dass die irrelevanten Aspekte des Problems aus den Überlegungen ausgeschlossen werden müssen. So ist z. B. im Falle des jungen Mannes sofort einleuchtend, dass es vollkommen irrelevant für seine Lebenserwartung ist, welche Farbe das Hemd hat, das er gegenwärtig trägt. Man kann sich aber durchaus auch Situationen vorstellen, in denen die Selektion und Ausscheidung der irrelevanten Informationen nicht so selbstverständlich ist. So ist z. B. nicht vom Anfang an klar, ob das Erscheinen dicker Blasen auf den Blättern einer Buche als Zeichen dafür zu werten ist, dass der Baum schwer krank ist, oder dafür, dass er als Wirt für harmlose Insekten dient. Es ist eine alltägliche Beobachtung, dass sich die Eigenschaften eines Objekts oder einer Situation erst allmählich aus der ursprünglich gleichwertigen Mannigfaltigkeit des untersuchten Phänomens herauskristallisieren, so dass verschiedenen Aspekten dieses Phänomens unterschiedliche (objektiv unterschiedliche) Valenzen zugeschrieben werden können. Eine Urerfahrung in dieser Hinsicht ist sicherlich die des Herumtastens in einem dunklen Zimmer. Es braucht Zeit und Geduld, um sich unter solchen Umständen ein angemessenes Bild der in dem Zimmer vorhandenen Gegenstände und ihrer gegenseitigen Verhältnisse zu verschaffen. Der Sehsinn erleichtert die räumliche Orientierung sprunghaft, aber seine Dienste sollten 263 Vgl. dazu Hempels analoge Bemerkungen über die Notwendigkeit der „ maximal specificity “ im Fall von induktiv-statistischer Erklärung (Hempel 1998, S. 711 - 716). 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1123 uns nicht zu der Meinung verleiten, dass alle Verhältnisse und Beziehungen zwischen sichtbaren Gegenständen klar geworden sind, sobald wir die Augen aufgeschlagen haben. In Bezug auf die intimeren Eigenschaften der sinnlich zugänglichen Objekte sind wir oft weiterhin im Dunkeln, selbst dann, wenn wir sie bereits in Erfahrung gebracht haben. Die unscheinbaren roten Härchen auf den Spitzen seltsamer knospenartiger Gebilde eines Haselnussstrauches sind eigentlich die nicht unbedeutenden männlichen Kätzchen; der kleine Strang einer gräulichen Substanz auf der unteren Seite des Gehirns, der für Nichtkenner dort zufälligerweise als Rest einer größeren Struktur beim Präparieren übriggeblieben ist, erweist sich als menschlicher Gehörnerv; ein unscheinbares grünliches Leuchten, das von den meisten Menschen übersehen oder als unerheblich abgetan worden wäre, führte Röntgen zur Entdeckung der Röntgenstrahlung; Alexander Fleming entdeckte 1928 das Penicillin dank des Umstandes, dass er einem kleinen, scheinbar unbedeutenden bakterienfreien Kreis um eine Schimmelkultur seine Aufmerksamkeit schenkte. Erkenntnisgegenstände oder Erkenntnisprobleme sind uns nicht von Anfang an in ihrer endgültigen Form zugänglich, sie konstituieren sich allmählich aus verschiedenen Erfahrungen, die verschiedene Forscher mit ihnen gemacht haben. Was zunächst flach und eindimensional aussehen mag, entwickelt sich, gewinnt Konturen und Struktur, fängt an, eine verständliche Sprache zu sprechen. Es geht hier jedoch nicht um die von Goodman geschilderte (Goodman 1978, S. 7 - 22) Konstruktivität des Erkenntnisgegenstandes, welche einen Beigeschmack der Willkür hat. Mir geht es vielmehr darum, darauf aufmerksam zu machen, dass die wahre, objektive Gestalt der Phänomene sich oft nur allmählich aus der strukturlosen Mannigfaltigkeit herauskristallisiert und oft gewisse Vorbedingungen und vor allem Zeit braucht, um sich überhaupt manifestieren zu können. Man könnte sagen, dass wir es hier mit einer Art immanenter Dialektik der Erkenntnis (Dialektik in ihrem ursprünglichen Sinne als Gespräch) zu tun haben, welche aus der Vielfalt der zunächst gestaltlose Erfahrung allmählich, manchmal über längere Zeiträume hinweg, zu einer vertieften Einsicht in das, was wesentlich und was nebensächlich an dem untersuchten Phänomen ist, zum Herausschälen objektiver Aspekte des Gegenstandes bzw. des Problems führt, die erst dann in den Urteilsbildungsprozess eingehen können. Die Weite des Blicks im Sinne der Einbeziehung aller relevanten Aspekte des untersuchten Phänomens (unter dem Ausschluss der irrelevanten) ist also eine weitere Bedingung der Möglichkeit eines objektiven Urteils. Es ist wichtig zu betonen, dass die Breite der Erfahrung sich durchaus als ein Beitrag zur Aussonderung der bloß subjektiven Einflüsse aus dem Urteilsbildungsprozess verstehen lässt. Denn man muss Nagel recht geben, wenn er behauptet, dass die begrenzte, bloß persönliche und kontingente Perspektive unserer gewöhnlichen Erfahrung das Erlangen eines objektiven Urteils so gut wie unmöglich macht. Wie kann ich z. B. als Gärtner wissen, ob die Magnolie 1124 10 Das Wesen des Objektivitätsideals einen eher kalkigen oder einen eher säurehaltigen Boden braucht, wenn ich nur meine eigene Magnolie kenne, die in meinem Garten nicht gut gedeiht? Oder wie kann ich als Lehrer wissen, dass ein bestimmter Schüler in meiner Klasse eine Therapie braucht, weil seine Lernschwierigkeiten dadurch verursacht sind, dass er unter dem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom leidet, wenn ich noch nie einen solchen Schüler hatte und von diesem Problem noch nie gehört habe? Unsere individuelle Perspektive, individuelle, bloß persönliche Erfahrung, ist oft schlicht zu arm und zu einseitig, um zutreffende allgemeine Urteile stützen zu können. Die Unzulänglichkeit dieser Erfahrung für Zwecke der objektiven Erkenntnis macht uns die Schranken unserer Person, ihre Endlichkeit schmerzlich bewusst. Daher hob Feyerabend die Wichtigkeit der Ergänzung unserer persönlichen Perspektive um die Perspektiven anderer Menschen als unerlässlich für die Erlangung der Objektivität hervor: Unanimity of opinion may be fitting for a rigid church, for the frightened or greedy victims of some (ancient or modern) myth, or for the weak and willing followers of some tyrant. Variety of opinion is necessary for objective knowledge. And a method that encourages variety is also the only method that is compatible with a humanitarian outlook. (AM 2010, S. 25, kursiv im Original) Das Erfordernis, alle relevanten Aspekte des Problems bzw. Phänomens unter Ausschluss der irrelevanten in die Überlegung, die zu einem objektiven Urteil führen soll, einzubeziehen, ist wohl einleuchtend. Es ist aber weniger klar, wie man dieses Erfordernis erfüllen kann. Wie kann man wissen, welche Parameter wichtig, welche weniger wichtig, welche unerheblich zur Beurteilung einer konkreten Erscheinung sind? Eine erste Bedingung, die erfüllt werden muss, ist - wie bereits angedeutet - die Breite oder der Reichtum der Erfahrung bezüglich dieser besonderen Erscheinung. Je mehr wir über sie wissen, desto klarer können wir das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden. Wie aber kann man diesen Reichtum erlangen? Diese Frage wirft ein neues Licht auf die Wissenschaft. Man kann nämlich plausibel argumentieren, dass die Wissenschaft ihre Größe und Effizienz nicht nur und vielleicht nicht einmal hauptsächlich der Anwendung von genauen Messverfahren und der mathematischen und statistischen Bearbeitung der Messresultate verdankt - schließlich sind in vielen Wissenszweigen (Geschichte, Literaturwissenschaft, Philologie, Teile der Geographie usw.) solche Methoden kaum oder überhaupt nicht anwendbar - , sondern dem Umstand, dass sie ein potenziertes Konzentrat sehr umfangreicher und vielseitiger Erfahrung mit den Erkenntnisgegenständen ist. Die Wissenschaft baut auf kumulierter Erfahrung sehr vieler, oft Tausender Forscher auf, welche über längere Zeit, in einigen Fällen über mehrere Jahrhunderte, gesammelt und intensiv - durch Ausbildung und laufende Publikationen - ausgetauscht wurde, so dass jedem Forscher der gesamte Wissensschatz offensteht. Der Reichtum einer solchen Perspektive ist im individuellen Leben nicht zu erreichen, geschwei- 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1125 ge denn zu überbieten. Es überrascht deshalb nicht, dass sich dieser Reichtum in Einsichten kristallisiert hat, die an Objektivität diejenigen eines „ privaten “ Erkenntnissuchenden bei weitem übertreffen. Heißt das, dass die Wissenschaft nun doch über eine Methode verfügt, welche die besten Voraussetzungen für das Erlangen objektiver Einsicht in die Wirklichkeit bietet? Die Tiefe des Blicks: die feineren Dimensionen der Erfahrung Werden gewisse Dimensionen von Phänomenen bereits frühzeitig als unerheblich ausgeschaltet, d. h. bevor sie Gelegenheit hatten, sich vollständig zu „ offenbaren “ , so führt dies fast zwangsläufig zu Verständnisverzerrungen, weil es verhindert, dass sich wesentliche Dimensionen der Erscheinungen in unserer Erfahrung konstituieren können. Oft haben scheinbar unwichtige Beobachtungen zu weitgehenden Umwälzungen des Weltbildes geführt. Erinnert sei an die zufällige Beobachtung von Wilhelm Conrad Röntgen, dass fluoreszenzfähige Gegenstände, die sich in der Nähe einer Kathodenstrahlröhre befanden, trotz der Abdeckung der Röhre zu leuchten beginnen - die Entdeckung der Röntgenstrahlen; oder an die zufällige Beobachtung von Antoine Henri Becquerel, dass Urankaliumsulfat eine fotografische Platte schwärzen kann, eine Erkenntnis, welche letztendlich zur Aufgabe der Vorstellung führte, dass Atome permanent sind; ferner an die Versuche mit dem schwarzen Körper, dessen unerwartetes Strahlungsspektrum Max Planck zur Postulierung des Energiequantums veranlassten - der Beginn der Quantenmechanik; schließlich an die Beobachtung des Schweizer Astronomen Fritz Zwicky, dass die Galaxien in der Coma-Berenices-Konstellation so schnell rotieren, dass sie auseinanderfallen müssten, wenn sie nicht von einer starken Gravitationskraft zusammengehalten würden, was ihn zum Postulat der Existenz einer dunklen Materie veranlasste (Powell 2013, S. 14113). Wir haben von einigen Jahren zumal die Gelegenheit gehabt, von der unermesslichen Tragweite oberflächlich betrachtet unwichtiger Beobachtung belehrt zu werden. Im Jahre 1998 teilten die Forscher des High-Z-Supernova-Suchteams mit, dass ihre Messungen der entfernten Supernovae vom Typ 1 a ergaben, dass die Expansionsrate des Universums entgegen der damals herrschenden Lehrmeinung zunimmt (Riess et al. 1998). Diese Beobachtung, die selbstverständlich nie mit bloßem Auge, sondern nur unter Zuhilfenahme äußerst präziser Instrumente möglich war, führte dazu, dass man heute annimmt, das Universum bestehe zu fast 70 % aus der sog. „ dunklen Energie “ . Wissenschaft zeigt sich also fähig, äußerst präzise Messungen bzw. Beobachtungen durchzuführen, welche zu grundlegenden Verschiebungen unseres Weltbildes führen können. Trotz dieser bewundernswerten Fähigkeit und Flexibilität der Wissenschaft zeigt sich an dieser Stelle aber auch eine wichtige Begrenztheit: Einige Dimensionen der Erfahrungswelt werden innerhalb der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung überhaupt nicht 1126 10 Das Wesen des Objektivitätsideals als Kandidaten für die Wissensverwertung ernst genommen. Darauf hat bereits Rescher hingewiesen: [Science] concentrates on the impersonally measurable features of things. This quantitative orientation of our natural science means that the qualitative, affective, evaluative dimension of human cognition is bypassed. Our knowledge of the value dimension of experience - our recognition as such of these features of things in virtue of which we deem them beautiful or delightful or tragic - remains outside the range of science. Not experiential sensibility but theoretical understanding is the crux. Accordingly, science omits from its register of facts that are worth taking at face value the whole affective, emotional, feeling-oriented side of our cognitive life. [. . .] The sort of observation-transcending experience that lies at the basis of norms and values (affective receptivity, for example) remains outside its range. (Rescher 1999, S. 244) Ich glaube aber, dass das Problem noch tiefer reicht. Der Sonnenuntergang gestern war besonders eindrucksvoll, die von einer weißen Schneehülle bedeckten, von der herrlichen Wintersonne bestrahlten Bäume sehen auf dem Hintergrund des dunkelblauen, wolkenlosen Himmels fast schmerzlich schön aus, die warm-braune dicke Rinde der Kiefer ist seltsam weich, und ihre Farbe hat fast einen süßen Beigeschmack, die samt-dunkelrote Rose will mir etwas ganz anderes sagen als die rosarote . . . Unzählige solche und ähnliche Wahrnehmungen machen tagtäglich einen tiefen Eindruck auf uns. Gernot Böhme spricht in Anschluss an Hermann Schmitz (Schmitz 1969) auch von „ Atmosphären “ als von einer bedeutenden, jedoch schwer greifbaren Dimension der Erfahrung (Böhme 1995, bes. S. 21 - 48). Böhme hat auch den Begriff der „ Ekstasen der Dinge “ (ebd., S. 33, 167 - 172) geprägt, mit welchem er die „ Weisen, durch die ein Ding charakteristisch aus sich heraustritt “ (ebd., S. 167), 264 beschreibt. Die „ Ekstasen “ sind demnach z. B. „ Farben, Gerüche und wie ein Ding tönt “ (ebd., S. 33), aber auch schon die Form des Dinges (ebd.). So meinen wir recht viel vom Wesen eines Menschen aus seinem Gesicht ablesen zu können. Die Form ist Ausdruck des Inneren, der Individualität, der Seele des Menschen. Warum sollte man den Lebewesen, sogar den Dingen der anorganischen Welt, die Fähigkeit absprechen, ihr Inneres, ihr Wesenhaftes durch ihre Erscheinungsform zum Ausdruck bringen zu können? Dass ein Ahornblatt die Form hat, die es hat, sagt doch sehr viel über den Baum, von dem es stammt, nur können wir vielleicht diese Sprache noch nicht verstehen. Dass eine Katze sich einem Mauseloch so ungeheuer sanft und geschmeidig nähert, sagt mehr über das Wesen dieses Tieres aus als die vollständige Aufzählung seines Genoms, aus welcher man nach dem heutigen Stand der Wissenschaft kaum Eigenschaften des kon- 264 Vgl. auch S. 33: „ Die Form eines Dinges wirkt aber auch nach außen. Sie strahlt gewissermaßen in die Umgebung hinein, nimmt dem Raum um das Ding seine Homogenität, erfüllt ihn mit Spannungen und Bewegungssuggestionen. “ 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1127 kreten Organismus mit Sicherheit ableiten kann. Dass eine Schneeflocke eine bestimmte Form zeigt, welche uns durch ihre Schönheit tief ergreift, lässt sich ebenfalls nicht auf die besondere Anordnung der Wassermoleküle im Kristallgitter zurückzuführen. 265 Die Wesen und Dinge der uns umgebenden Welt haben aber möglicherweise auch eine Dimension, welche über die Sprache der Form hinausragt. Es gibt Qualitäten, seien es die eines Sonnenuntergangs oder des Sternenhimmels oder sogar einfach die Farbe einer Blume, die sich überhaupt nicht in Worte fassen lassen, aber im Betrachter eine starke Reaktion, eine tiefe Ehrfurcht erwecken. Man hat oft das Gefühl, dass die Dinge einem durch ihre Oberfläche etwas sagen wollen, was durch diese Oberfläche zugleich offenbart, aber auch verschleiert wird. Dieses „ Etwas “ wird jedoch nie richtig untersucht, es vergeht fast ebenso schnell, wie es in unserem Erfahrungsfeld - oft unerwartet - auftaucht. 266 Es ist hilfreich, in diesem Zusammenhang die Worte von Barbara McClintock zu zitieren: „ Die Wirklichkeit ist viel, viel wunderbarer, als die Naturwissenschaft und ihre Methoden uns tatsächlich wahrnehmen lassen “ (zitiert von Keller in: Keller 1995, S. 207). Diese kaum beobachtbaren Feinheiten und „ Atmosphären “ scheinen zunächst völlig bedeutungslos für unser Weltbild. Wenn man die herrschende materialistische Ontologie allerdings aufgibt - wofür ich plädiere - , wird sich die Erklärungsrichtung der Phänomene der Erfahrungswelt radikal umkehren: Sie wird nicht mehr von unten nach oben, von den kleinsten und einfachsten Elementen zu den komplexesten Strukturen fortschreiten können. Man wird stattdessen versuchen, die Einzelheiten aus den Ganzheiten abzuleiten, nach dem holistischen Prinzip, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist. 267 Unter solchen ontologischen und heuristischen Voraussetzungen aber können die Atmosphären, in welche die Dinge gleichsam „ eingehüllt “ sind und aus welchen sie quasi „ herauswachsen “ , als Erklärungsprinzipien an Bedeutung exponentiell gewinnen. 265 Das Ergriffensein durch die Schönheit lässt sich nicht auf das Kristallgitter reduzieren, schon deshalb, weil ich es nicht sehe. Darüber hinaus ist es oft nicht unbedingt schön, wenn es abgebildet wird. Nimmt man das Ergriffensein als eine objektive Antwort des Menschen auf die in der Welt vorhandenen Phänomene, deutet sie auf eine Dimension dieser Phänomene, welche sich jeglicher Reduktion auf tiefere Erklärungsebenen (Ebenen der kleineren Bestandteile des Phänomens) radikal entzieht. 266 Vielleicht will Böhme mit dem Wort „ Atmosphäre “ auf dieses Etwas hinweisen. 267 Dass etwas Komplexeres keineswegs von allein aus etwas Einfacherem entstehen kann, war noch am Anfang der Aufklärung eine Selbstverständlichkeit. Vgl. Locke: „ Next, it is evident, that what had its being and beginning from another, must also have all that which is in, and belongs to its being from another too. All powers it has, must be owing to, and received from the same source. This eternal source then of all being must also be the source and original of all power; and so this eternal being must also be the most powerful “ (Locke 1997, IV.x.4). Allerdings scheint es in diesem Weltbild keinen Platz für „ emergente “ Qualitäten zu geben. 1128 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Man spricht heute offen von vielen möglichen Quellen der Voreingenommenheit des wissenschaftlichen Blicks auf die Wirklichkeit. Rescher zählt sechs Hauptquellen der möglichen Verzerrung unserer Sichtweise auf: die kulturelle, geschichtliche und soziale Bedingtheit oder Relativität, weiterhin ihre Abhängigkeit von der Persönlichkeit, vom Geschlecht und von der sozialen Klasse des Forschers (Rescher 1997, S. 25 - 41). 268 Andere oft diskutierte Quellen von Verzerrung sind die sog. Theoriebeladenheit der Beobachtung (Hanson 1958), der Einfluss der Sprache auf die Wahrnehmung (Whorf 1963), der Einfluss der Weltanschauung auf die Theorieformulierung (Toulmin 1981, S. 54 - 75; Kuhn 1970, S. 4f., 12) und schließlich die allgemeine Unterdeterminiertheit der Theorie durch die Forschungsresultate (Newton- Smith 1996, S. 40f.; Papineau 1996, S. 7f.; Potter 1996). Die Art der Voreingenommenheit in der Wissenschaft, auf welche hier hingewiesen wurde, findet jedoch kaum Beachtung. Dennoch ist es gerade dieser Aspekt der Voreingenommenheit des forschenden Blicks, die Selektion der wissenswerten Erfahrung, 269 die im Lichte der vorangehenden Diskussion des Begriffs der Objektivität zentrale Bedeutung gewinnt. Eddington bemerkte einmal, dass die Maschen des Netzes, mit welchem wir die Fische der Erfahrung fangen, sehr grob seien. 270 Wir sollten auch nicht einem Betrunkenen nacheifern, der in der Nacht seinen im Garten verlorenen Schlüssel im Lichtkegel einer Straßenlampe suchte, weil es dort hell ist (vgl. Drieschner 1997, S. 342). Es ist gewiss einfacher, dort zu suchen, wo es hell ist, aber wenn der Schlüssel im dunklen Garten liegt, wird er nie unter der Straßenlampe gefunden werden. Ich sehe a priori keinen Grund, warum die feineren Seiten der Erfahrung, der sanfte Hauch ihrer Sprache, für unser Weltbild unerheblich sein sollten. Es ist zu vermuten, dass dieses Weltbild, wenn es der Feinheit des Menschen und nicht der Grobheit der Maschine würdig sein soll, die Feinheiten unserer menschlichen Erfahrung an prominenter Stelle miteinbeziehen muss. In diesem Sinne meine ich, dass die Tiefe des Blicks, seine Unvoreingenommenheit, seine Offenheit für die subtileren Stimmen der Welt eine unerlässliche Grundlage der Gewinnung objektiven Wissens und letztendlich auch des vernünftigen Handelns bildet. Übrigens haben Horkheimer und Adorno schon 1944 von „ der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt “ gesprochen, in welcher - bezeichnenderweise - „ die innere Tiefe des Subjekts “ besteht (Horkheimer und Adorno 1996, S. 198). Die Ausgrenzung, die Verbannung dieser Erfahrungsarten führt aus dieser Sicht zur gefährlichen Einseitigkeit des Weltbildes der konventionellen Wissenschaft. 271 268 Vgl. auch Codes Zusammenfassung der möglichen Quellen der subjektiven Verzerrung (Code 1991, S. 46). 269 Um Max Webers (Weber 1968, S. 29, 31) und später Meyer-Abichs (Meyer-Abich 1997 a, S. 196) Begriff zu gebrauchen. 270 Eddington, A.: The Philosophy of Physical Sciences, zitiert nach Dürr 1989, S. 29. 271 Es ist durchaus möglich, die Wissenschaft vom Vorwurf, sie begrenze unberechtigterweise den Umfang der wissenswerten Phänomene, mindestens teilweise zu entlasten. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1129 Fazit: ein neues Verständnis der Objektivität Die „ begriffsphänomenologische “ Analyse des Gebrauchs des Objektivitätsbegriffs hat vier Bedingungen der Objektivität einer Proposition identifiziert, die notwendige Kriterien der Möglichkeit der Anwendung des Begriffs sind: (1) Die fragliche Proposition muss wahr sein; (2) sie muss ein (abwägendes) Urteil sein; (3) der Urteilsprozess, der zu ihr geführt hat, muss frei vom Einfluss subjektiver Eigenschaften des Urteilenden sein; (4) der Urteilsprozess muss sich unter Gefahr der subjektiven Verzerrung vollzogen haben. Im Lichte der vorangehenden Überlegungen muss aber festgestellt werden, dass diese vier Bedingungen noch nicht genügen, um als hinreichendes Kriterium der Objektivität eines Urteils fungieren zu können: Das Urteil muss außerdem (5) unter Einbeziehung aller relevanten Aspekte (unter Ausschluss der irrelevanten) des untersuchten Phänomens vollzogen werden. Diese relevanten Aspekte ergeben sich aufgrund von möglichst breiter und tiefer Erfahrung mit dem Erkenntnisgegenstand bzw. dem untersuchten Phänomen. Das so verfasste Kriterium der Objektivität und insbesondere die Einbeziehung der reichen Erfahrung als einer unerlässlichen Grundlage der Objektivität der Urteile ermöglicht es, eine ganz neue Perspektive im Hinblick auf das Wesen des Objektivitätsideals zu gewinnen. Objektivität hat sich als ein äußerst vielschichtiger Begriff erwiesen, weshalb die am Anfang dieses Kapitels geschilderte „ babylonische Verwirrung “ hinsichtlich seines Gebrauchs herrscht: Die Forscher greifen in ihren Diskussionen jeweils nur gewisse Elemente des Begriffs auf und vernachlässigen seine ganze Komplexität. Besonders wichtig an diesem neuen Verständnis ist mir die Abkoppelung des Begriffs von Messung und Mathematik bzw. mathematischer Verarbeitung der Forschungsdaten wie auch die Hervorhebung der Rolle der Erfahrung, wobei zweitrangig ist, ob diese Erfahrung einen formalen Charakter hat, d. h. durch Forschung gewonnen wurde, oder vertiefte Alltagserfahrung ist. Auch der Hinweis darauf, dass Objektivität nur den (abwägenden) Urteilen zubzw. abgesprochen werden kann, bedeutet eine wesentliche Verschiebung des bisherigen Verständnisses des Begriffs, das Objektivität oft mit dem Ausschluss der menschlichen Komponente identifizierte. Auf der anderen Seite lässt das neugewonnene Verständnis viele Fragen offen. Ich werde einige dieser offenen Probleme im Weiteren behandeln. Das wichtigste von ihnen ist wohl die Frage, warum gemeinhin der Eindruck Die Verblendung gegenüber gewissen Aspekten unserer Erfahrung scheint eher ein kulturelles als ein wissenschaftliches Phänomen zu sein. Nicht nur die Wissenschaftler, wir alle übersehen gewöhnlich ganze Flächen dieser Erfahrung; die Wissenschaft konsolidiert lediglich diesen Prozess und verschlimmert die Lage dadurch, dass sie ihr eine Scheinbegründung liefert: Nur die grobe Erfahrung ist wissenschaftlich zulässig. Somit erhebt sie die Pathologie zu einer Tugend. 1130 10 Das Wesen des Objektivitätsideals herrscht, dass der Messung und der mathematischen Datenverarbeitung Objektivität zukommt oder diese sogar mit der Möglichkeit der Messung identifiziert wird. Warum objektive Messung, objektive Mathematik? Oder: Die komplexe Geschichte der Entstehung des Objektivitätsideals; die ontologische und die epistemische Bedeutung des Begriffs Die Gründe für die Identifizierung von Objektivität mit Messung kommen zum Vorschein, wenn man die komplexe Entstehungsgeschichte der Idee der Objektivität studiert. Im Gegensatz zur gängigen Meinung ist das Ideal der objektiven Erkenntnis sehr jung: Es entstand erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese überraschend späte Geburt hängt damit zusammen, dass der Begriff „ Subjekt “ seit der Antike bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts vor allem die den Akzidenzien oder Eigenschaften zugrunde liegende Substanz bedeutete (Kible 1998) und die Vorstellung des Menschen als eines aktiven Subjekts sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablierte (vgl. ebd. sowie Daston und Galison 2007, S. 201 - 206). Die gleichen tiefgreifenden Veränderungen hat auch der Begriff des Objekts durchgemacht: Von Aristoteles ( „ antikeimenon “ ) als ein „ laxer “ Begriff für das Gegensätzliche, einem dem Vermögen der Seele Gegenüberstehende eingeführt, behielt das Wort diese oder eine verwandte Bedeutung über Jahrhunderte hinweg. In der Scholastik z. B. wird der Begriff des Objekts für den Gegenstand der Gedanken gebraucht. Noch die 1728 erschienene Ausgabe von Chamber ’ s Dictionary gibt unter „ Objektiv/ objectivus “ die folgende Erklärung: Hence a thing is said to exist OBJECTIVELY, objectivè, when it exists no otherwise than in being known; or in being an Object of the Mind. (Zit. nach Daston 1994, S. 333) Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wird der Begriff als allgemeine Bezeichnung für die äußeren Gegenstände gebraucht (Kobusch 1984). Kible fasst diese begriffliche Revolution folgendermaßen zusammen: Die Bedeutung der Begriffe „ Subjekt “ und „ Objekt “ hat sich, wie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts allgemein bekannt, in der Zeit zwischen Descartes und Leibniz, vielleicht im Zusammenhang mit dem Wechsel vom Lateinischen in die jeweiligen Landessprachen, umgekehrt [. . .]. (Kible 1998, S. 373). 272 272 Noch Kant hat das Wort „ Subjekt “ auch für „ Substanz “ gebraucht (vgl. Kant 1995: B149): „ Aber das Vornehmste ist hier, dass auf ein solches Etwas [ein Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung, MBM.] auch nicht einmal eine einzige Kategorie angewandt werden könnte: z. B. der Begriff einer Substanz, d. i. von etwas, das als Subjekt, niemals als bloßes Prädikat existieren könne [. . .] “ (ähnlich B187, B251 usw.). 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1131 Am Anfang des 19. Jahrhunderts war der Begriff „ objektiv “ praktisch gleichbedeutend mit „ äußerlich “ , so dass Coleridge 1817 schreiben konnte: Now the sum of all that is merely OBJECTIVE, we will henceforth call NATURE [. . .]. On the other hand the sum of all that SUBJECTIVE, we may comprehend in the name of the SELF or INTELLIGENCE. (Zit. nach Daston und Galison 2007, S. 30). Daston and Galison schreiben, dass die moderne Bedeutung des Begriffspaares objektiv/ subjektiv im Sinne von verzerrungsfrei/ verzerrt erst um 1850 Einzug in die europäischen Sprachen hielt (Daston und Galison 2007, S. 31). Entscheidend für uns ist jedoch, dass das ältere Verständnis dieses Paares (etwa: Äußeres/ Inneres) nicht sofort ausgestorben ist, sondern lange Zeit parallel zur gegenwärtigen dominierenden Auffassung existierte. Wie oben erwähnt, fühlte sich Bell noch 1992 gezwungen, von zwei deutlich unterschiedlichen Bedeutungen des Objektivitätsbegriffs zu sprechen, die er als die ontologische oder O-Objektivität und die epistemische oder E-Objektivität bezeichnet (Bell 1992). Bells ontologische Objektivität entspricht dem Begriffsverständnis zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Etwas ist objektiv dann, wenn es „ exists, and is the way it is, independently of any knowledge, perception, conception or consciousness there may be of it “ (Bell 1992, S. 310). Mit epistemischer Bedeutung des Begriffspaars ( „ E-objectivity “ ) bezeichnet Bell hingegen two grades of cognitive achievement. In this sense only such things as judgements, beliefs, theories, concepts and perceptions can significantly be said to be objective or subjective. Here objectivity can be construed as a property of the contents of mental acts and states. (Ebd.). Wenn man sich diese geschichtlichen Bedeutungsübergänge bewusst macht, wird man leicht einsehen, dass die Tendenz, wissenschaftliche Objektivität mit dem Gebrauch von Mess- und Forschungsinstrumenten und mit Messergebnissen zu identifizieren, ein Echo jenes Verständnisses des Begriffspaars „ objektiv/ subjektiv “ ist, nach dem es mit der Dichotomie außen/ innen zusammenfiel. Objektiv ist das, was draußen ist; Mess- und Forschungsinstrumente sind „ da draußen “ , also ist, was man mit ihrer Hilfe erreicht, par excellence objektiv. In der Tat sind sie „ da draußen “ , aber das heißt noch nicht, dass dieses Etwas objektiv im Sinne von „ verzerrungsfrei “ ist, weil, wie Bell in völliger Übereinstimmung mit der obigen Analyse der epistemischen Bedeutung des Begriffs schreibt, objektiv bzw. subjektiv in diesem Sinne lediglich mentale Akte oder Zustände sein können. So kommen wir zu der Einsicht, dass die ältere, „ ontologische “ Bedeutung des Begriffspaares das modernere Verständnis des Objektivitätsideals trübt. Zwei weitere Überlegungen können die Notwendigkeit einer scharfen Differenzierung zwischen den genannten zwei Bedeutungsnuancen des Begriffs verdeutlichen. Es ist erstens entscheidend einzusehen, dass die ontologische Dimen- 1132 10 Das Wesen des Objektivitätsideals sion der Objektivität (um Bells Terminologie zu verwenden) eindeutig eine Dichotomie bildet: Entweder ist etwas in der Welt „ da draußen “ , oder dieses Etwas ist ein Teil unserer Innenbzw. Seelenwelt, aber nicht beides zu gleicher Zeit. Es ist ebenfalls unmöglich, dass etwas teilweise der Außen- und teilweise der Innenwelt angehört. Es ist zwar unbestritten, dass ein Messer teilweise außerhalb des Körpers und teilweise im Körper stecken kann, aber es gehört, ontologisch betrachtet, der Außen- und nicht der Innenwelt an. Der Innenwelt gehört erst der Schmerz an, der durch die Einwirkung des Messers verursacht wird, oder die Furcht, die sich aus der bedrohlichen Situation ergibt. Hingegen bildet die epistemische Dimension der Objektivität eindeutig ein Kontinuum: Ein Urteil kann (zumindest im Prinzip), sehr subjektiv, weniger subjektiv, subjektiv gefärbt, recht objektiv, sehr objektiv, oder aber auch absolut objektiv sein. Diese Tatsache erklärt, dass man z. B. von der Messung als von einem objektiven Vorgang sprechen kann, dass man aber z. B. nicht sagen kann „ Diese Messung ist objektiver als jene “ . Eine Lokution wie „ Dies ist ein recht objektives/ subjektives Urteil “ ist dagegen durchaus angebracht. Das Gleiche gilt für mathematische Lösungen: Sie sind objektiv in jenem Sinn, der sich (unbewusst) an die ontologische Dimension des Begriffs anlehnt (sie sind „ draußen “ ), können aber unmöglich „ objektiver “ oder „ subjektiver “ werden. Deshalb haben wir die Tendenz, Mathematik als eine objektive Disziplin bzw. Wissenschaft zu bezeichnen, obschon es völlig unangebracht ist, von subjektiven mathematischen Ergebnissen zu sprechen. Zweitens führte die Identifizierung von Subjektivität mit der Innenbzw. Seelenwelt des Menschen zu einer Aporie in Bezug auf die Möglichkeit des Erlangens objektiver Erkenntnis. Wenn wir nämlich - was üblich ist - das Erlangen der Objektivität des Urteils mit dem Ausschluss der Subjektivität aus der Urteilsfindung identifizieren wollten, die Subjektivität aber mit dem „ Innern “ des Menschen identifizieren würden, würden wir mit dem Paradox konfrontiert, dass man das Urteil selbst eliminieren müsste, um die Objektivität des Urteils zu erreichen, denn wie jede andere mentale Funktion bzw. ihr Resultat gehört es eindeutig zur „ Innenwelt “ des Menschen. Das Problem der Grenzen der Subjektivität und das Problem ihrer Ausschaltung Der Umstand aber, dass die Mathematik, obschon sie (im klassischen Fall, von den Anwendung der Computer und Taschenrechner abgesehen) offensichtlich im Innern vollzogen wird, nicht durch die „ Subjektivität “ des Menschen beeinflusst/ beeinflussbar ist, führt zwangsläufig zu der Frage, was man unter dieser „ Subjektivität “ genauer zu verstehen hat (vgl. Majorek 2002, S. 79 - 82). Die Antwort auf diese Frage wiederum hat entscheidende Bedeutung für die Beantwortung einer weiteren und für das Erreichen objektiver Erkenntnis zentralen Frage: Wie kann die „ Subjektivität “ aus dem Erkenntnisgewinnungsprozess eliminiert werden? Bis jetzt haben wir lediglich fest- 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1133 gestellt, dass von der Objektivität der (abwägenden) Urteile nur dann die Rede sein kann, wenn aus dem Prozess, der zu ihrer Formulierung führt, die „ Subjektivität “ des Forschers bzw. die subjektivierenden Einflüsse überhaupt - auch die sozialen oder kulturellen Prägungen, Vorurteile usw. - (so weit wie möglich) ausgeschlossen wurden. Wir haben aber nichts darüber ausgesagt, wie eine solche Bereinigung des Erkenntnisprozesses bewerkstelligt werden sollte. Eine Methode, dieses Ziel zu erreichen, ist uns heute sehr wohl bekannt: das Experiment bzw. die kontrollierte Beobachtung. Ich kann zur Beschleunigung von Gegenständen im Gravitationsfeld der Erde meinen, was ich will, und auch dazu, ob sie für verschiedene Massen gleich oder aber unterschiedlich ist. Um herauszufinden, was sie tatsächlich ist, muss ich die entsprechenden Experimente durchführen und die Beobachtung der Resultate dieser Experimente ruhig abwarten. Dann werde ich wissen, nicht bloß meinen. Und wie wir heute sehr wohl wissen, können solche Beobachtungsresultate bzw. Resultate der Experimente recht überraschend sein. Es stellt sich nämlich entgegen allen intuitiven Vermutungen heraus, dass im Vakuum oder zumindest in einem luftleeren und deshalb widerstandsfreien Raum ein Feder gleich schnell zur Erde fällt wie ein Stein. Will man wissen, nicht bloß meinen, muss man sich also durch die Erfahrung „ überraschen lassen “ . Wir haben aber auch gesehen, dass das Experiment keine Garantie für die Wahrheit der auf seiner Grundlage aufgestellten Behauptungen liefert, weil sie über die Ergebnisse dieses konkreten Experiment hinausführen. Alle induktiven Schlüsse sind prinzipiell unsicher. „ Alle (reifen) Schwäne, die bis jetzt (sagen wir bis 1750, also vor der Entdeckung Australiens) gesehen wurden, waren weiß “ , mag stimmen, aber die Verallgemeinerung: „ Also sind alle (reifen) Schwäne weiß “ hat sich letztlich als falsch erwiesen. Kann man sich andere Methode der Ausschließung der Subjektivität aus dem Erkenntnisprozess vorstellen? Kann man sich insbesondere Methoden der Ausschließung der Subjektivität aus dem Erkenntnisprozess vorstellen, welche zuverlässiger als das Experiment und die kontrollierte Beobachtung wären? Diese Frage wird uns im Kapitel „ Übersinnliche Erkenntnismethoden der Imagination, Inspiration und Intuition. . . “ beschäftigen. Weitere Rätsel und Aporien der Objektivität Abgesehen von diesen zwei zentralen Rätseln der Objektivität, der Frage nach dem Inhalt des Subjektivitätsbegriffs und der weiteren Frage nach der Methoden der Ausschaltung der Subjektivität bzw. der subjektivierenden Einflüsse aus dem Erkenntnisprozess, ergeben sich anhand der obigen Analyse der Bedeutung des Objektivitätsbegriffs noch weitere Rätsel und Aporien, die ich in meiner Dissertation ausführlich behandelt habe. Es handelt sich dabei um sieben Probleme des Begriffs, welche ich als Rätsel bezeichnet habe, weil ihre Existenz darauf deutet, dass der genaue Inhalt des Begriffs nicht einfach zu fassen ist, und sechs noch tiefere Probleme, die ich als 1134 10 Das Wesen des Objektivitätsideals die Aporien des Objektivitätsbegriffs bezeichnet habe, weil ihre Existenz die Möglichkeit des Erreichens objektiver Erkenntnis prinzipiell zu blockieren scheint. Bei den sieben Rätseln handelt es sich um die folgenden Probleme: 1) Die Grenzen der Subjektivität sind unklar (dieses Rätsel haben wir soeben behandelt). 2) Weder Handlungen noch Beschlüsse, noch „ Entschlussprozeduren “ unterliegen gewöhnlich dem Prädikat „ objektiv “ (bzw. „ subjektiv “ ) (Majorek 2002, S. 77 - 80). Wie wir bald sehen werden, erweist sich dieses Problem bei genauerem Hinschauen als so vertrackt, dass es als eine Aporie eingestuft werden muss (vgl. unten 4. Aporie). 3) Objektivität wird zwar von Tatsachen, nicht aber von Ereignissen ausgesagt (ebd., S. 82f.). 4) Die Bedingung der Wertfreiheit, welche oft von Objektivität verlangt wird, ist hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit sehr zweifelhaft (ebd., S. 83f.) Auch dieses Rätsel hat sich bei genauerer Untersuchung als eine Aporie erwiesen (vgl. 3. Aporie unten). 5) Die Beziehung zwischen Objektivität und Rationalität ist unklar (ebd., S. 85 - 88). 6) Die Erscheinungsform der Begriffe und Ideen im Bewusstsein (sie erscheinen an die Dimensionen des Raumes und der Zeit gebunden, obschon „ an sich “ betrachtet, scheinen sie von diesen frei zu sein) droht die Möglichkeit der Objektivität zu vereiteln (ebd., S. 129 - 131). Auch dieses Rätsel hat sich bei genauerer Untersuchung als eine wahre Aporie erwiesen (vgl. 5. Aporie unten); 7) Es scheint unmöglich zu sein, eine wissenschaftliche Theorie als objektiv oder subjektiv zu bezeichnen (ebd., S. 297f.). So weit die summarische Darstellung der Rätsel des Objektivitätsbegriffs. Bei den Aporien dieses Begriffs werde ich im Folgenden ins Detail gehen. In einem zweiten Schritt werde ich dann noch zwei weitere zentrale Schwierigkeiten behandeln, die mir erst nach der Veröffentlichung meiner Dissertation vor mehr als zehn Jahren deutlich wurden. Das Bild kann weder subjektiv noch objektiv sein (1. Aporie der Objektivität vgl. Majorek 2002, S. 104 - 108) Ein Sprachphänomen scheint der Rede von objektiver Erkenntnis entgegenzustehen: Von einem realistischen Bild einer Landschaft, eines Stilllebens oder vom Porträt einer Person würden wir nicht aussagen, dass es objektiv oder subjektiv ist. Ein (realistisches) Bild kann schön oder hässlich, wahrheitsgetreu oder verzerrt, genau oder ungenau sein, aber weder objektiv noch subjektiv. Feststellungen wie „ Dies ist ein objektives Bild jener Blume “ hört man nie. Zunächst könnte man meinen, dass diese Tatsache dem Umstand entspricht, dass ein gemaltes Bild ein Kunstwerk ist und die Kunst nicht die Aufgabe hat, subjektiv oder objektiv zu sein, sondern das Recht besitzt, die Wirklichkeit eben künstlerisch zu verändern. Dass aber diese Erklärung zu kurz greift, wird deutlich, wenn man die Frage nach dem Objektiven bzw. Subjektiven nicht eines Bildes, sondern eines Fotos stellt. Hier steht ein Baum, jemand macht ein sehr genaues Foto dieses Baumes, welches wir dann mit dem Baum vergleichen können. Das Foto „ entspricht “ dem Baum vorzüglich: 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1135 Es ist sofort erkennbar, dass es sich um diesen Baum handelt, und der Reichtum an Details ist so groß, dass eine Verwechslung mit einem anderen Baum ausgeschlossen ist. Würden wir von diesem Foto sagen, dass es die objektive Sicht (objektives Wissen) des Baumes darstellt? Auch diese Frage erscheint unsinnig: Wir werden von einem Foto gewöhnlich nicht sagen, dass es objektiv sei. Man kann in dieser Situation wohl Prädikate wie: „ gut “ , „ genau “ , „ detailliert “ , „ scharf “ usw. benutzen, nicht aber „ objektiv “ (oder „ subjektiv “ ). Man kann das Problem in noch schärferen Konturen sehen, wenn man nicht an ein Abbild, sondern an eine Replik eines Originals denkt. Stellen wir uns vor, dass wir es mit einer (fast) perfekten Replik einer Plastik zu tun haben, die vom Original praktisch nicht unterscheidbar ist. Ist sie somit objektiv? Ich hoffe, allgemein geteilte Sprachintuitionen zum Ausdruck zu bringen, wenn ich sage, dass die Rede von „ objektiven Repliken “ unsinnig ist. Sie können wohl „ genau “ , „ getreu “ , „ zum Verwechseln ähnlich “ , „ perfekt “ oder eben „ ungenau “ , „ schlecht “ usw., aber nicht „ objektiv “ sein. Aber auch das Prädikat „ subjektiv “ ist in diesem Fall vollkommen fehl am Platz: Wir reden von „ schlechten “ , aber nicht von „ subjektiven “ Repliken. Es scheint, dass Bilder, Fotos oder Repliken sich dem Geltungsbereich der Dichotomie objektiv/ subjektiv prinzipiell entziehen. Wir haben es hier mit einer interessanten Situation zu tun, in welcher man sehr wohl von einer Entsprechung, von der Korrespondenz oder von der Übereinstimmung der „ Wirklichkeit “ mit dem Abbild sprechen kann, aber nicht von Objektivität (bzw. Subjektivität) des Abbilds. Betrachtet man diese sprachlichen Phänomene vor dem Hintergrund der obigen Analyse der Eigenschaften des Objektivitätsbegriffs, so sind die Gründe offensichtlich: Objektivität bzw. Subjektivität im epistemischen Sinne kann nur Urteilen zugesprochen werden, nicht Gegenständen. Dann ist aber rätselhaft, wie man überhaupt von der objektiven Erkenntnis sprechen kann, wenn diese Erkenntnis - wie dies oft der Fall ist - als eine Art Bild oder Replik der Wirklichkeit aufgefasst wird. Wenn gegenständliche Repliken keinen Objektivitätsstatus beanspruchen können, müsste man nicht das Gleiche von den „ mentalen Repliken “ behaupten? Die Rede von einem „ objektiven Zusatz “ , einer „ objektiven Replik “ scheint nicht nur unüblich, sondern sogar ein Selbstwiderspruch zu sein, aber gerade diesen Status schreibt jede Korrespondenztheorie der Erkenntnis zu. Um den Schluss zu vermeiden, dass Erkenntnis als (unvollständiges) Abbild der Wirklichkeit prinzipiell der Objektivität unfähig ist, müsste man Gründe angeben, warum die gegenständlichen Repliken nie, aber mentale Repliken sehr wohl als „ objektiv “ gelten können. Solche Gründe sind aber vorerst nicht vorhanden. 1136 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Wie kann objektive Erkenntnis je erlangt werden, wenn sie immer durch ein subjektives Erkenntnisinteresse geleitet wird? (2. Aporie der Objektivität; vgl. Majorek 2002, S. 129 - 134) 273 Es ist eine Binsenwahrheit, dass ein Forscher bei seiner Forschungstätigkeit durch ein persönliches Interesse geleitet wird. Bereits bei der Wahl des Forschungsgegenstandes sind persönliche Präferenzen involviert. Der eine wird sich vielleicht der Erforschung der Mitochondrien, eine andere den alten Kulturen widmen. Normalerweise meint man, dass dieser Umstand keinen Einfluss auf die Resultate der Forschungstätigkeit hat. Sie können objektiv sein, ungeachtet der Tatsache, dass die Motivation zu ihrer Gewinnung offensichtlich subjektiv geprägt ist. Einige Philosophen haben indes auf die kognitive Ambivalenz dieser Situation aufmerksam gemacht. So schrieb z. B. Rehmann-Sutter: „ Die Auswahl [aus der Mannigfaltigkeit der Eigenschaften des Erkenntnisgegenstandes, MBM.] [. . .] und der Stellenwert einer jeden ist abhängig vom Interesse, das sich vom Subjekt auf den Gegenstand richtet. Es ist also das Interesse, das uns gleichzeitig vom Gegenstand entfernt, indem es uns auf ihn zuführt “ (Rehmann-Sutter 1993, S. 75). Wir haben bereits am Anfang dieses Kapitels Rosenbergs Meinung kennengelernt, dass Wissenschaftler, die völlig interesselos, wertneutral und von ihrem Forschungsobjekt distanziert wären, überhaupt keine Motivation für die Forschung hätten. Abgesehen jedoch von der durch das (persönliche) Interesse geleiteten Motivation des Forschers, kann man leicht nachweisen, dass - vielleicht paradoxerweise - gewisse Erkenntnisse nur ganz persönlichem Interesse zugänglich werden und sich dem „ unbeteiligten Forscher “ nicht enthüllen. Nehmen wir an, ich möchte die intimsten Einzelheiten des Lebens, der Ereignisse, der Überzeugungen und Einstellungen einer Person erfahren. Wenn die Beziehung nicht die eines professionellen Therapeuten zu seinem Patienten ist, dann werde ich zu ihnen sehr wahrscheinlich erst dann Zugang bekommen, wenn ich weder die „ reine Wahrheit “ über diese Person erfahren möchte, noch das allgemeine „ absolut Gute “ suche, sondern wenn ich eine besonders nahe Beziehung zu dieser Person habe, also ein persönliches, liebevolles, hilfsbereites Interesse für das Schicksal dieser Person entwickle und die Erkenntnisse über sie aus Liebe zu ihr und eigentlich um ihretwillen 273 Diese Aporie wird in Majorek 2012 als die dritte Aporie des Objektivitätsbegriffs bezeichnet. Da aber die zweite Aporie (Wie kann man objektive Erkenntnis aufgrund von Erkenntnisprozessen erlangen, welche innerhalb des Subjekts stattfinden, also als „ subjektiv “ bezeichnet werden können) sich auflöst, sobald man die zwei Grunddimensionen des Objektivitätsbegriffs (die ontologische und die epistemische Objektivität) berücksichtigt (s. oben), muss diese Aporie hier nicht behandelt werden und die Nummerierung der Aporien verändert sich entsprechend: Die dritte Aporie von Majorek 2002 wird hier zur zweiten usw. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1137 erlangen möchte. Einige Philosophinnen bestehen sogar darauf, dass eine gewisse Zuneigung, ja liebevolle Ergebenheit dem Erkenntnisobjekt gegenüber der Erkenntnis förderlich oder dafür sogar notwendig sei (vgl. Keller, Maslow oben), womit sie sich dezidiert von jener tradierten Ansicht absetzen, dass die Wissenschaft nur aus einer neutralen, unbeteiligten und unparteiischen Haltung heraus erfolgreich sei. Aus der Unhintergehbarkeit des Interesses an der Wissensgewinnung - sowohl auf der psychologischen Ebene der individuellen Motivation des Forschers wie auch auf der tieferen Ebene der prinzipiellen Zugänglichkeit des Erkenntnisobjekts für den suchenden Blick des Forschers - ergibt sich die erwähnte Aporie der Objektivität, denn es ist nicht einzusehen, wie ein solches persönliches Interesse davon abgehalten werden könnte, sich subjektivierend auf die Forschungsergebnisse auszuwirken. Ethische Werte können unmöglich aus dem Erkenntnisprozess ausgeschlossen werden (3. Aporie der Objektivität vgl. Majorek 2002, S. 207 - 244) Ich habe in meiner Dissertation diesem Problem recht viel Raum gewidmet (Kapitel 4: Unhintergehbarkeit der Ethik in der Erkenntnis, S. 207 - 274) und es würde uns zu weit führen, diesen ganzen Gedankengang zu wiederholen. Ich werde deshalb hier nur den Kern des Arguments wiedergeben. Viele Philosophen (Taylor 1989, Spaemann 1998, Sturma 1997, Rehmann-Sutter 1993) erblicken im ethischen Wertesystem ein zentrales konstitutives Element einer Person. So meint z. B. Taylor, dass das Kräftefeld der ethischen Werte zu verlassen zu wollen heißt, aus dem „ unverletzten Personsein “ herauszutreten (Taylor 1989, S. 27), was in einer Identitätskrise, in einer geistigen Störung resultieren müsse (ebd., S. 31). Spaemann schreibt, dass für das Menschsein die Struktur des Habens zentral sei (Spaemann 1998, S. 77): Menschen haben Bewusstsein (ebd., S. 18), Natur (ebd., S. 230), Eigenschaften (ebd., S. 252), sie sind aber nicht bloß diese (ebd., S. 82, 115, 117, 131, 168, 170, 212). Menschen haben auch ein Gewissen, und dieses zu haben ist „ das eindeutigste Signum der Person “ (ebd., S. 178). Das Gewissen macht im eigentlichen Sinne die Würde der Person aus, weil es den Menschen zum „ Richter letzter Instanz “ seiner Taten erhebt (ebd., S. 181). 274 Die Bedeutung der Moralität ist bereits im Titel von Sturmas Abhandlung festgehalten: „ Philosophie der Person “ . Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität “ . In der Einleitung macht er darauf aufmerksam, dass im Zentrum des modernen Subjektbegriffs zwei Bestimmungen, die Autonomie und die moralische Würde der Person, verschränkt seien (ebd., S. 226). Die Kernstellung der Dimension der Mora- 274 Diese Feststellung erinnert stark an die oben erwähnte These Taylors, dass die Identität des Menschen sich im „ ethischen Raum “ konstituiert (Taylor 1989, S. 25). 1138 10 Das Wesen des Objektivitätsideals lität im Personsein des Menschen durchzieht wie ein roter Faden sein ganzes Buch. Sturmas Argumentation lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Weil sich die Objekte unserer Erfahrungswelt in Erkenntnishandlungen konstituieren, weil ferner jede solche Handlung eine Beziehung zum Objekt voraussetzt und weil sich schließlich jegliche Beziehung im ethischen Raum vollzieht, ist Ethik in der Konstitution der Erfahrungswelt und folglich auch in der Konstitution unserer Person impliziert. Wenn wir nun akzeptieren, dass ethische Werte konstitutiv für die (menschliche) Person sind, und wissen, dass die Forscher unter anderem und vielleicht sogar vor allem auch menschliche Personen sind, folgt zwingend, dass diese Werte auch für die Forscher von zentraler Bedeutung sein müssen. Dann ist aber äußerst fragwürdig, ob man die ethische Dimension aus dem Forschungsprozess isolieren oder ausschließen kann. Wenn wir ferner zugestehen, dass diese Dimension etwas bloß Subjektives, Kultur- und Zeitabhängiges - wie es heute von den ethischen Werten allgemein behauptet wird - darstellt, wird es schwierig sich vorzustellen, wie wissenschaftliche Forschung je ganz objektiv sein könnte. Weitere Zweifel ergeben sich, wenn man bedenkt, dass wissenschaftliche Forschung eine Form menschlicher Handlung ist, und zwar eine Form der rationalen Handlung, vielleicht sogar die rationalste Form aller menschlichen Handlungen. Diese scheinbar triviale Beobachtung führt zu grundlegenden Schwierigkeiten hinsichtlich der Möglichkeit, objektive Erkenntnis zu erlangen, denn rational zu sein impliziert erstens, dass man über ein System von Überzeugungen verfügt, welche im Gleichgewicht bleiben, 275 und zweitens, dass man dazu verpflichtet ist, dieses System ständig zu überprüfen und ggf. zu korrigieren oder zu verbessern. So stellt z. B. Taylor Burge fest: Reasoning is necessarily governed by evaluative norms that provide standards that count reasoning good or bad - reasonable or unreasonable. But to understand reasons and reasoning fully, it is not enough to understand abstractly that some purported reasons are good and others are bad. For reasons necessarily not only evaluate but have force in forming, changing, confirming attitudes in accord with the reasons. [. . . F]ully understanding the concept of reason [. . .] requires mastering and conceptualizing the application of reasons in actual reasoning. And this requires being immediately moved by reasons in reasoning and understanding what it is to be so moved. “ (Burge 1998, S. 250 Hervorhebung von mir, MBM) 276 275 Vgl. dazu z. B. W. V. O. Quine: „ [O]ur statements about the external world face the tribunal of sense experience not individually but only as a corporate body “ (Quine 1998, S. 295); John Searl: „ It is in general impossible for intentional states to determine conditions of satisfaction in isolation. To have one belief or desire, I have to have a whole network of other beliefs and desires “ (Searl 1998, S. 176); und Thomas Nagel „ [I]n criticizing each part of our system of beliefs we must rely on the rest, whatever it may be “ (Nagel 1997, S. 16 276 Vgl. ebd., S. 251 und bes. 268, wo Burge von der Verantwortung des Subjekts gegenüber den Normen der kritischen Rationalität spricht. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1139 Und Nicholas Rescher schreibt: [T]he whole fabric of rationality must be seamless; cognition, evaluation, and action must form a cohesive unit. Under the aegis of rationality, these three domains form a part of a single, uniform, and coordinated whole. (Rescher 1997, S. 186) Sobald man jedoch feststellt, dass der Begriff der Rationalität eine Verpflichtung, und zwar eine Verpflichtung zur Verbesserung des Systems im Lichte neuer Erfahrungen beinhaltet, räumt man ein, dass ihm ein unveräußerliches ethisches Element innewohnt. Diese Einsicht, die man als das dynamische Verständnis der Rationalität bezeichnen kann, impliziert, dass ein vernünftiger Mensch seine ethische Natur anerkennt und vervollkommnet. Er muss zumal Sorge dafür tragen, dass seine ethischen Überzeugungen und Vorstellungen mit seinen Taten übereinstimmen. Es wäre somit widersinnig, bei der Betrachtung des Menschen - auch des Erkenntnis erwerbenden - von seiner moralischen Konstitution abzusehen. Ethische Vorstellungen und Ideale sollen unsere Handlung leiten. Da aber Erkenntnisgewinn sich in Handlungen vollzieht, sollen ethische Werte in die Erkenntnis eingehen, den Horizont des Erkenntnisstrebens bilden. Lässt man ferner den Gedanken zu, dass alle Teile des Meinungssystems miteinander verknüpft sind und aufeinander Einfluss ausüben, so liegt der Schluss nahe, dass eine unvollständige, unvollkommene ethische Grundlage zu unvollkommener, verzerrter Erkenntnis führen muss. Diese Einsicht lassen aber zunächst die Hoffnung auf die Realisierbarkeit des Objektivitätsideals schwinden. Denn es scheint unmöglich zu sein, Einigkeit bezüglich der „ richtigen “ ethischen Grundsätze zu erzielen. Wenn aber diese Einigkeit nicht erreichbar ist, muss vermutet werden, dass jede „ real existierende “ Ethik unvollkommen ist und aus diesem Grund nur eine unvollkommene Erkenntnis unterstützen kann. Es ergibt sich auch an dieser Stelle eine logische Schwierigkeit. Wenn objektive Erkenntnis die „ richtige “ Ethik zur notwendigen Voraussetzung hat, kann ich nicht wissen, welche Ethik die richtige ist, denn nach der Prämisse kann ich nichts objektiv wissen, bevor ich es auf der Grundlage einer angemessenen Ethik erkenne, außer dass ich zufälligerweise auf eine solche ethische Grundlage stoße, so dass ich durch sie - gleichsam spontan und unreflektiert - zu richtiger Erkenntnis komme. Eine Handlung kann nicht objektiv/ subjektiv sein (4. Aporie der Objektivität vgl. Majorek 2002, S. 334 - 339) Die phänomenologische Betrachtung des Gebrauchs des Objektivitätsbegriffs ergibt, dass er für die Bezeichnung von Handlungen nicht verwendet wird. Nehmen wir an, ich habe gerade Wasser gekocht. Die Frage, ob diese Handlung objektiv war, ist unsinnig. Lokutionen wie „ Ich habe soeben Wasser gekocht, und dies war eine objektive Handlung “ machen keinen 1140 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Sinn. Interessanterweise wird gewöhnlich auch nicht von subjektiven Handlungen gesprochen, obwohl sie oft aus ganz persönlichen Motiven resultieren. So werden wir kaum vom Vanilleeisessen sagen, dass es eine subjektive Handlung sei, obwohl es ausschließlich der Erfüllung eines ganz individuellen Bedürfnisses dient. Möglich ist aber die folgender Satz: „ Ich habe soeben Wasser gekocht, und dies ist eine objektive Feststellung. “ Die Bezeichnung „ objektiv “ bezieht sich in diesem Fall nicht auf die Handlung, sondern auf die Feststellung, also letztendlich auf das auf die Handlung bezogene Urteil. Objektivität und Subjektivität können durchaus von den Urteilen prädiziert werden. Diese Beobachtung wäre vielleicht nebensächlich, wäre nicht der Umstand, dass wir unser Denken gewöhnlich als eine Handlung, obgleich eine innere Handlung empfinden. Wenn wir zielgerichtet, problemlösungsorientiert denken - im Gegensatz zum assoziativen, träumerischen „ Hüpfen “ von einem Gedanken zum anderen - , so ist ein solches Denken eindeutig eine Aktivität, ein aktives Schreiten von einem Gedanken zum anderen. Wenn es aber eine Aktivität ist, so ist rätselhaft, wieso die Schöpfungen dieser Aktivität - ob alltägliche oder wissenschaftliche Urteile, Theorien usw. - überhaupt als objektiv oder subjektiv gelten können. Das Produkt einer äußeren Aktivität, z. B. ein Stuhl, kann durchaus als „ objektiv existierend “ im Sinne der ontologischen Objektivität, also als „ in der Welt da draußen existierend “ bezeichnet werden. Aber erstens interessiert uns hier ausschließlich die epistemische Dimension des Begriffs, und zweitens kann von einer Theorie - also einem Produkt der denkerischen Tätigkeit - überhaupt nicht behauptet werden, dass sie objektiv bzw. subjektiv ist. Der Ausdruck „ Dies ist eine objektive (subjektive) Theorie “ ergibt keinen Sinn. Die Lokutionen „ eine objektive Sichtweise “ oder „ eine subjektive Auffassung “ sind nicht problematisch, „ objektive/ subjektive Theorie “ hingegen sehr (vgl. oben, 7. Rätsel der Objektivität). 277 Dies kann wohl damit zusammenhängen, dass eine Theorie „ konstruiert “ bzw. „ entworfen “ wird, was die Aktivität der Theoriebildung in die Nähe der handwerklichen bzw. künstlerischen Tätigkeit bringt. Die Produkte derartiger Aktivitäten (z. B. eine Maschine, oder ein architektonischer Entwurf) fallen jedoch nicht in die Geltungssphäre des Begriffs der epistemischen Objektivität. Ein Urteil hingegen wird interessanterweise nicht konstruiert, sondern gefällt. Diesen sprachlichen Tatsachen muss Rechnung getragen werden. Sie erscheinen an dieser Stelle zunächst bloß als Rätsel, die ihrer Lösung harren. 277 Hier widerspreche ich Bell, der meint, dass das Prädikat „ E-objektiv “ auch Theorien zukomme (Bell 1992, S. 310, s. oben). 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1141 Widersprüche der Denkerfahrung (5. Aporie der Objektivität vgl. Majorek 2002, S. 339 - 344) Ich werde mich nun ausführlicher der 5. Aporie der Objektivität widmen, die sich daraus ergibt, dass die Erscheinungsform der Gedanken in unserem Bewusstsein ihrem Wesen „ an sich “ nicht entsprechen kann. Die folgenden Überlegungen sind größtenteils nur unter der Voraussetzung nachvollziehbar, dass die Gedanken, welche wir in unserem gewöhnlichen, alltäglichen Bewusstsein erleben, nicht bloß Epiphänomene der Gehirntätigkeit sind, sondern ein Sein unabhängig von den Prozessen des zentralen Nervensystems haben. Ich hoffe sowohl in dem Exkurs „ Gehirn und Bewusstsein “ wie auch in dem Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus in der Wissenschaft “ gezeigt zu haben, dass eine solche Behauptung auch im Lichte der neuesten neurobiologischen Forschung durchaus berechtigt ist. Auf dieser Stufe der Argumentation ist es jedoch nicht notwendig, die Frage zu beantworten, was die Gedanken sind, wenn sie nicht bloß Produkte des „ Feuerns “ der Nervenzellen sind. Die Antwort auf diese Frage wird sich erst auf einer höheren Stufe unserer Überlegungen ergeben. 1. Die „ Meinigkeit “ 278 der Gedanken Wir haben es bei unserer Denkerfahrung mit einer Art Paradoxie zu tun. Wir empfinden die Denkinhalte als subjektiv in unserem Innern vorhanden, obschon genauere Reflexion zeigt, dass sie unmöglich nur privat sein können, weil sie ihrem Wesen nach intersubjektiv sein müssen. Husserl behauptet sogar, dass die Zahl Fünf trotz ihrer unzähligen Realisierungen im Bewusstsein unzähliger individueller Personen nur eine sei (Husserl 1992, S. 174). Spaemann bemerkt, dass Menschen kraft ihres Ichbewusstseins an einer „ überindividuellen, sprachlich - und das heißt intersubjektiv - vermittelten Struktur teilhaben “ (Spaemann 1998, S. 159). Auch Davidson macht auf diese Eigenschaft der Gedanken aufmerksam: „ But though possession of thought is necessarily individual, its content is not. The thoughts we form and entertain are located conceptually in the world we inhabit, and know we inhabit, with others “ (Davidson 1996, S. 174). Konsequent gedacht muss man daraus schließen, dass sich Gedanken nicht im Innern des Menschen befinden können. Spaemann vollzieht tatsächlich diesen Schritt: „‚ Innen ‘ sind also Gedanken nicht durch deren Inhalt, sondern dadurch, dass sie erlebt werden, also in der Vitalstruktur verankert sind “ (Spaemann ebd.). Diese Einsicht führt aber zu einer Schwierigkeit. Wenn die Gedanken tatsächlich einen überindividuellen Charakter haben, wieso erscheinen mir eigentlich meine Gedanken als meine Gedanken? 278 Der Begriff stammt von Metzinger (Metzinger 1999, S. 23, 265ff.), der ihn jedoch in einem weiten Sinn, und zwar als ein allgemeines Merkmal aller phänomenalen Zustände, gebraucht. 1142 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Dass wir unsere subjektiven Erlebnisse als unsere privaten Angelegenheiten empfinden, ist phänomenologisch eine Selbstverständlichkeit, obschon diese Tatsache äußerst schwierig zu verstehen ist. 279 Die Gedanken an sich sollen jedoch im Gegensatz zu anderen „ privaten “ Phänomenen einer intersubjektiven Sphäre angehören. Diese Schwierigkeit findet sich nicht bei anderen Dingen, welche intersubjektiv gegeben sind, z. B. bei Bäumen oder Steinen. Sie werden von allen als in einer der Subjektivität und Innerlichkeit entrückten Sphäre gegeben erlebt. Man kann dann aber ganz naiv fragen, warum Gedanken, wenn sie ebenfalls etwas Gemeinsames, uns Verbindendes sein sollen, nicht auch als intersubjektiv gegeben erlebt werden? Eine andere Seite dieses Problems kann man nach Lichtenberg folgendermaßen formulieren: Warum habe ich die Erfahrung, dass ich denke, und nicht die Erfahrung „ Es denkt in mir “ ? (Lichtenberg 1971, § 76, S. 412). Wenn ich eine mathematische, physikalische oder biologische Entdeckung mache, dann ist sie eben eine Entdeckung und keine Erfindung und beansprucht als solche allgemeine Gültigkeit. Sie ist aber auch meine Entdeckung (manche wollen deswegen zumindest einige Entdeckungen patentieren lassen). Es ist ein Paradox, dass etwas grundsätzlich Gemeinsames überhaupt in Form von etwas Privatem erscheinen kann. 2. Die Nichträumlichkeit der Gedanken Begriffe, Ideen und Gedanken sind raumlos, erscheinen jedoch stets räumlich situiert, und zwar im Kopf. 280 Die Behauptung, Gedanken seien raumlos, mag zuerst überraschen, aber eine kurze Reflexion zeigt, dass es sich nicht anders verhalten kann. Die Frage, wie lang oder wie breit z. B. der Begriff des Baumes ist, erweist sich sofort als sinnlos. Der Baum hat wohl räumliche Dimensionen, diese jedoch vom Begriff des Baumes zu prädizieren, ist nicht möglich. Auf diese Eigenschaft der Begriffe, aber auch allgemein unserer bewussten Erfahrung, machte McGinn aufmerksam: „ [U]nser Bewusstsein stellt sich uns tatsächlich als seiner Natur nach nicht-räumlich dar. [. . .] Schon nach [. . .] räumlichen Eigenschaften [der visuellen Erfahrungen] zu fragen bedeutet, eine Art Kategorienfehler zu begehen, analog der Frage nach den räumlichen Eigenschaften von Zahlen “ (McGinn 1996, S. 183). 281 Ohne irgendwelche 279 Metzinger bezeichnet die „ Meinigkeit “ unserer Erfahrung als eines der zentralen Probleme der Philosophie des Bewusstseins (Metzinger 1999, S. 268). 280 Diese Behauptung ist selbstverständlich nicht mit der Descartes ’ schen These von der Nichträumlichkeit der res cogitans identisch. Die Nichträumlichkeit wird nicht als Eigenschaft einer Substanz, sondern der Begriffe ihrem Dasein nach unterstellt. Vgl. Rorty 1994, S. 27 - 31, 78. 281 Vgl. auch ebd., S. 198. Steiner betrachtet den nichträumlichen Charakter aller Seelenprozesse als eine Selbstverständlichkeit: „ Es wird [. . .] niemandem einfallen, bei irgendetwas, das ihm in der Seele selbst entgegentritt - sagen wir, bei einem Gefühl, bei einem Gedanken oder selbst bei einem Willensimpuls - , davon zu sprechen, dass der Wille oder der Gedanke oder das Gefühl einen Raum einnehmen “ (GA134, S. 64). 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1143 ontologischen Konsequenzen aus dieser Tatsache ziehen zu wollen, interessiert im gegenwärtigen Kontext lediglich der Umstand, dass logischerweise aus der Nichträumlichkeit der Begriffe und Ideen die subjektive Erfahrung, das subjektive Erleben folgen sollte, das uns gleichsam wahrnehmen ließe, dass sie zum Raum und insbesondere zu unserem Körper keine Beziehung haben. Weil intentionalen Phänomene (Gedanken eingeschlossen) geistig sind, können sie sich, wie Spaemann feststellt, weder innerhalb noch außerhalb unseres Körpers vollziehen (Spaemann 1998, S. 63, 159). Interessanterweise gibt auch Metzinger, der mit eindeutig materialistischen Annahmen arbeitet, den Charakter von „ Nicht-Weltlichkeit und von Nicht-Räumlichkeit “ unserer, wie er sie nennt, „ mentalen Selbstmodelle “ zu (Metzinger 1999, S. 163f.). 282 Dennoch sind Gedanken in unserem Bewusstsein stets eindeutig an den Raum gebunden: Sie erscheinen im Kopf. Diese Erscheinungsweise führte zu der Annahme, dass Gedanken im Kopf - genauer im Gehirn - produziert werden; sie werden dort (im Gehirn) auch von der kognitiven Psychologie, der Kognitionswissenschaft und der Neurophysiologie gesucht. Diese Schlussfolgerung (von der phänomenalen Erscheinungsweise auf den faktischen Entstehungsort) ist jedoch nicht zwingend, wenn man berücksichtigt, dass es offensichtlich möglich ist, Gedanken anderswo phänomenal zu erleben. Wir haben bereits gesehen, dass für die alten Ägypter das Herz und nicht der Kopf das Zentrum des Menschen und der Sitz der Vernunft, des Verstandes, des Erkennens und der Einsicht war. Sollte sich diese Vorstellung auf Erfahrung gegründet haben, so wie die unsrige auf einer bestimmten Erfahrung basiert, so muss uns das völlig rätselhaft vorkommen, denn es würde bedeuten, dass Gedanken und Einsichten im Herzen produziert werden. Diese ägyptische Vorstellung deutet insofern darauf hin, dass der Entstehungsort der Gedanken und ihr Erscheinungsort voneinander abgekoppelt werden müssen. 3. Die Zeitlosigkeit der Gedanken Gedanken sind, drittens, zeitlos, erscheinen aber stets in der Zeit. Ich kann immer sagen, wann ich einen Gedanken gehabt habe. Die Zeitlosigkeit der Gedanken ist einfacher zu begreifen, weil sie als simple Erweiterung ihrer Raumlosigkeit verstanden werden kann. Wie es keinen Sinn macht, nach den räumlichen Dimensionen des Begriffs des Baumes zu fragen, so macht es auch keinen Sinn zu fragen, wie alt dieser Begriff ist. Bei gewissen Begriffen, besonders bei denjenigen, die sich auf künstliche, technische Gegenstände beziehen, ist es durchaus sinnvoll, die Frage zu stellen, wann genau sie zum 282 Mentale Selbstmodelle sind nach Metzinger diejenigen Repräsentationen eines Repräsentationssystems (im Falle eines Selbstmodells wahrscheinlich eines Menschen), welche a) Analogrepräsentate dieses Systems sind und b) durch Metarepräsentation zum aktuellen Gehalt des phänomenalen Bewusstseins werden (ebd., S. 158f.). Sie basieren auf komplizierten Ereignisfolgen im ZNS (ebd., S. 163). 1144 10 Das Wesen des Objektivitätsideals ersten Mal gedacht wurden. Der Erfinder eines Geräts sollte imstande sein zu sagen, wann er die entsprechende Idee hatte. Aber selbst ein Erfinder wird m. E. nicht behaupten wollen, dass er den Begriff dieses Dinges geschaffen hat, sondern eher, dass er ihm zu irgendeiner Zeit eingefallen ist, als ob er schon zuvor in irgendeiner Form existiert hätte. Auf diese Eigenschaft unserer Gedanken machte z. B. Husserl aufmerksam, wenn er lediglich den psychologischen Denkprozessen (den „ realen “ Gedanken), nicht aber den Gedankeninhalten ( „ idealen “ Gedanken) eine zeitliche Erscheinungsweise zuschrieb (Husserl 1992, S. 173). Foucault beschreibt die Versuche von Condillac und de Tracy, die Schwierigkeiten der Beziehung der Denkerfahrung zur Zeitdimension zu begreifen. Es ist zwar so, dass die Gedanken - besonders in ihrer sprachlichen Repräsentation - linear aufeinanderfolgen, aber dennoch widerspreche den beiden Philosophen zufolge diese Erscheinungsweise der Gedanken ihrem Wesen. Nach Condillacs Überzeugung sind alle Elemente einer Repräsentation, eines Gedankens, in einem Augenblick gegeben, und allein die Reflexion hält sie auseinander, während sie nach de Tracy mit so großer Geschwindigkeit aufeinanderfolgen, dass es praktisch nicht möglich ist, ihre Abfolge zu beobachten (Foucault 1995, S. 119). Spaemann bemerkt, dass die intentionalen Akte ihrem Dasein nach zeitlos, ihrem Sosein nach dagegen Ereignisse in der Zeit seien (Spaemann 1998, S. 170f.). 283 Die Eigenschaft der Gedanken, „ dem Dasein nach “ zeitlos zu sein, macht vielleicht die Erfahrung verständlicher, dass sich ein Gedanke „ im Bruchteil einer Sekunde “ zeigen kann, sie macht aber auch unsere tagtägliche Erfahrung, dass Gedanken in der Zeit erscheinen, zutiefst rätselhaft. 4. Die Grenzen der Freiheit des Denkens Ein weiteres Phänomen unseres Bewusstseins, und zwar das Erlebnis der Freiheit im Denken, zeigt, dass die Erfahrung unseres Umgangs mit den Gedankeninhalten der Wirklichkeit nicht entsprechen kann. Wir meinen gewöhnlich, über völlige Freiheit in unserem Denken zu verfügen. Ich kann denken, was immer ich will, selbst die verrücktesten, unmöglichsten Dinge sind im wörtlichen Sinne denkbar: Die Vorstellungskraft kennt keine Grenzen. Eine kurze Reflexion genügt jedoch, um diesen Glauben als Illusion zu entlarven. Ein jeder kann sich sicherlich an Situationen aus seiner Schulzeit erinnern, wo er beim Versuch, während einer Prüfung gewisse mathematische Probleme zu lösen, gewaltige gedankliche Anstrengungen unternahm und dennoch scheiterte. Er fand die richtige Lösung nicht. Erst später, bei der Diskussion der Aufgabe nach der Prüfung, kam das erlösende und berühmte Aha-Erlebnis: „ Es ist doch so einfach! “ Es ist auch eine Binsenwahrheit, dass die entscheidenden Einsichten und Erfindungen auf sich warten lassen. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist aber die Tatsache wichtig, dass man auf 283 Weswegen sie ihm zufolge auch den Tod „ überleben “ können, also nach dem Tode bestehen bleiben können (ebd., S. 171). 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1145 diese Schlüsselidee trotz bestem Willen und „ gewaltiger Anstrengung “ nicht zum richtigen Zeitpunkt gekommen ist. Offensichtlich kann man nicht immer denken, was man will. Das gleiche Phänomen wiederholt sich selbstverständlich auf höheren Ebenen auch später im Leben, und auf der vielleicht höchsten Ebene manifestiert es sich in der Unfähigkeit des besten Denkers, gewisse Probleme zu lösen (die letzte Fermat ’ sche Gleichung wartete über 300 Jahre auf ihre Enträtselung [Singh 2000, S. 30 und 338]). Angesichts dieser Beispiele muss man sich die Frage stellen, ob es nicht plausibler wäre anzunehmen, dass die Freiheit unseres Denkens, sofern sie überhaupt existiert, begrenzt ist. Diese Frage bringt uns in die Nähe des Gedankens des Denkstils (Fleck 1980, S. 129 - 145). Vielleicht ist es so, dass sogar nicht nur ein Denkkollektiv einen bestimmten Denkstil aufweist, sondern jeder Mensch einen individuellen, von dem der anderen leicht abweichenden Denkstil hat, dessen Grenzen und Eigenschaften er sich aber nicht bewusst ist. Schließlich trägt das Gedankengebäude eines jeden großen Philosophen eine unverwechselbare individuelle Signatur, und auch ein großer Philosoph kann nicht anders denken, als er denkt. 5. Die Denkanstrengung Schließlich haben wir es in unserem Denken regelmäßig mit einem Phänomen zu tun, dass sich, wenn überhaupt, nur sehr schwer verstehen lässt: die Erfahrung der Denkanstrengung. Betrachten wir dieses Phänomen genauer. Bereits das Lesen eines „ schwierigen “ Textes verlangt nicht nur Aufmerksamkeit und Konzentration, sondern auch Anstrengung, um die darin enthaltenen Gedankengänge nachzuvollziehen. Das Eindruck verstärkt sich, wenn man die Lösung eines komplizierten Problems sucht. Man strengt sich innerlich an, in der - oft berechtigten, manchmal jedoch vergeblichen - Hoffnung, dass man dadurch die Lösung „ heranziehen “ könne. Wie ist diese Anstrengung möglich und wozu sollte sie dienen, wenn wir es bei unserem Gedankenleben mit etwas Flüchtigem, Nichtsubstanziellem, möglicherweise von uns selbst Produziertem, Erfundenem zu tun haben? Anstrengung ist bekanntlich eine Reaktion auf Widerstand, z. B. wenn man etwas Schweres heben will oder schnell rennen muss, und wird urbildhaft in Verbindung mit äußeren körperlichen Aktivitäten erlebt. Bereits bei gefühlsmäßigen Erlebnissen kommt sie nicht mehr zum Tragen, ob ich mich ärgere oder glücklich bin, beides „ überfällt “ mich gewissermaßen ohne meine Anstrengung (der englische Ausdruck „ to fall in love “ bringt diese Erfahrung sehr bildhaft zum Ausdruck). Es fragt sich nun: Welchen Widerstand müssen wir bzw. können wir überhaupt im Denken überwinden? Die Erfahrung der Mühe beim Denken lässt aber auch die der Leichtigkeit, der vollständigen Kontrolle über den Gedankengang, die wir zweifelsohne auch oft machen, in einem anderen Licht erscheinen. Beide Arten von Denkerlebnissen werden zu Rätseln. Wenn die Gedankenarbeit sich einmal 1146 10 Das Wesen des Objektivitätsideals als fließend, einmal als „ harzig “ erweist, kann man nicht mehr davon ausgehen, dass die eine oder andere Erfahrung einfach „ das Wesen “ des Denkens widerspiegelt - vielmehr sind jetzt beide erklärungsbedürftig, was wiederum unsere Vorstellungen von der Natur des Denkens, wonach sein Zustandekommen eine Selbstverständlichkeit ist, in Frage stellt. Alle diese Beobachtungen zeigen, dass wir im Gegensatz zur Sinneswahrnehmung, bei der wir nur selten Widersprüche und Unstimmigkeiten erleben (die Wahrnehmungstäuschungen sind eine Ausnahme und nicht die Regel), im Bereich unserer Denkprozesse mit der Tatsache konfrontiert sind, dass das subjektive Erleben sich möglicherweise in stetigem Konflikt mit ihrer Realität (ihr Sosein mit ihrem Dasein) befindet. Würde sich dieser Verdacht erhärten, sich also zeigen, dass Gedanken ihrem Wesen nach anders sind, als sie uns erscheinen, so hätte dies selbstverständlich weitreichende Konsequenzen für die Möglichkeit objektiver Erkenntnis. Es gibt keine gedankenlose Erkenntnis. Wenn die Gedanken in unserem Bewusstsein aber verzerrt zum Vorschein kommen, schwindet die Hoffnung, dass wir je Objektivität erlangen können, und wir müssen uns mit einer „ notwendigerweise anthropomorphen “ Erkenntnis (Meyer-Abich, 1997 a, S. 76 - 78) begnügen. Dieses Problem habe ich in meiner Dissertation als die sechste Aporie der Objektivität bezeichnet (Majorek 2002, S. 344) Meme und Objektivität Ich möchte jetzt zwei weitere Hindernisse auf dem Wege zur objektiven Erkenntnis zumindest kurz behandeln, auf die ich in meiner Dissertation aus verschiedenen Gründen nicht eingegangen bin. Sie stehen in Zusammenhang mit dem von Dawkins in Umlauf gebrachten Begriff der Meme (Dawkins 1989, S. 192) und mit der Annahme des Konstruktivismus, dass objektive Erkenntnis nicht erreichbar sei. Wenden wir uns zunächst dem ersten Problem zu. Bekanntlich postulierte Richard Dawkins, dass analog zur Vererbung biologischer Eigenschaften auch gewisse kulturelle Prägungen (Ideen, Verhaltensmuster, Stile, Tänze, Melodien, Moden, Kochrezepte, politische Ideologien, religiöse Rituale oder Überzeugungen, aber auch - was hier besonders relevant ist - wissenschaftliche Theorien (Atran 2001, S. 1) innerhalb einer Kultur von einer Person an eine andere weitergegeben werden (z. B. durch Imitation) und so immer größere Verbreitung finden. Ich möchte an dieser Stelle nicht über die wissenschaftlichen Vorteile bzw. Nachteile einer solchen Theorie sprechen (vgl. aber Atran ebd.), d. h. über die Frage, inwiefern es einen Erkenntnisgewinn bedeutet (oder eben nicht), wenn man das altbekannte und -vertraute Phänomen, das gewöhnlich unter dem Begriff der „ Tradition “ konzeptualisiert wurde, neu benennt, um es dem biologischen Phänomen der Vererbung anzugleichen 284 . Ich möchte lediglich darauf 284 „ We need a name for the new replicator, a noun that conveys the idea of a unit of cultural transmission, or a unit of imitation. ‚ Mimeme ‘ comes from a suitable Greek root, but I 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1147 aufmerksam machen, dass das Konzept des Mems und mit ihm das Entstehen eines neuen Forschungsfeldes, der Memetik (Heylighen und Chielens 2009, ein Problem schärfer in den Fokus gerückt hat, das für die Diskussion der Möglichkeit des Erreichens objektiver Erkenntnis von zentraler Bedeutung ist: Können sich Wissenschaftler von ihren kulturellen Prägungen je vollständig befreien? Denn wenn man relativen, durch die Tradition vermittelten Überzeugungen einen Einfluss auf Wissenschaftler zubilligt, ist man gezwungen einzuräumen, dass solche „ kulturell vererbten “ Ideen eine zusätzliche „ subjektivierende “ Komponente des wissenschaftlichen Forschungsprozesses darstellen, welche die Möglichkeit des Erreichens vollständiger Objektivität in weite Ferne rücken. Das Problem ist sicherlich nicht neu. Bereits Francis Bacon sprach in seinem Neuen Organon von Idolen, welche die menschliche Erkenntnis trüben (Bacon 1990 a, Aphorismus 39, S. 101). Er unterschied vier Arten dieser Idole: 1) Idole des Stammes, also Ideen und Überzeugungen, die „ in der menschlichen Natur selbst oder in der Gattung der Menschen begründet [sind] “ (ebd., Aphorismus 41, S. 101), denn „ alle Wahrnehmungen der Sinne wie des Geistes [. . .] [geschehen] nach dem Maß der Natur des Menschen, nicht nach dem des Universums (ebd., S. 101); 2) Idole der Höhle, d. h. individuelle Besonderheiten ( „ subjektivierende Faktoren “ ) jedes einzelnen Menschen. „ Denn ein jeder hat [. . .] eine Höhle oder eine gewisse nur ihm eigene Grotte, welche das Licht der Natur bricht und verdirbt; teils infolge der eigenen und besonderen Natur eines jeden; teils infolge der Erziehung und des Verkehrs mit anderen; teils infolge der Bücher, die ein jeder mit Vorliebe liest, und der Autoritäten, denen er Verehrung und Bewunderung zollt [. . .] (ebd., Aphorismus 42, S. 103); 3) Idole des Marktes, nämlich jene Einflüsse, die durch die gemeinsame und doch kontingente Sprache auf den Erkenntnisprozess ausgeübt werden (ebd., Aphorismus 43, S. 103); und schließlich 4) Idole des Theaters, d. h. Verirrungen, die durch philosophische Theorien bzw. Lehrmeinungen hervorgerufen werden (ebd., Aphorismus 44, S. 105). Mit den Idolen der Höhle, des Marktes und des Theaters hat Bacon prophetisch die Theorie der Meme vorweggenommen. Auch die sog. Soziologie der Wissenschaft und die feministische Wissenschaftstheorie messen den verschiedenen (subjektivierenden) kulturellen Einflüssen im Wissensgewinnungsprozesse eine große Bedeutung bei. Es scheint mir jedoch berechtigt zu behaupten, dass das Aufkommen der Meme-Theorie innerhalb der Mainstream-Wissenschaft die Existenz solcher kulturellen Prägungen in schärferes Licht gerückt und zugleich das Rätsel vertieft hat, wie man überhaupt objektive Erkenntnis zu erreichen hoffen kann. want a monosyllable that sounds a bit like ‚ gene ‘ . I hope my classicist friends will forgive me if I abbreviate mimeme to meme. If it is any consolation, it could alternatively be thought of as being related to ‚ memory ‘ , or to the French word même. It should be pronounced to rhyme with ‚ cream ‘“ (Dawkins 1989, S. 192). 1148 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Das von Dawkins aufgeworfene Problem kann man als die 6. Aporie der Objektivität bezeichnen. Das Rätsel des Konstruktivismus Das zweite Problem, das objektive Erkenntnis zu verunmöglichen scheint, ergibt sich aus der Betrachtung der neurologischen Grundlagen der kognitiven Prozesse. Im Gegensatz zum Meme-Problem, das eindeutig ein kulturelles Problem auf dem Wege zur objektiven Erkenntnis ist, ist die hier in Betracht kommende Schranke eine biologische. Die neuesten Erkenntnisse der Neurobiologie scheinen keinen Zweifel zu lassen, dass unsere Wahrnehmung der äußeren Welt wie auch unsere auf das Wahrgenommene gerichteten Denkprozesse nichts anderes als Konstruktionen des Gehirns sind (vgl. dazu exemplarisch Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit). Daraus ergibt sich, dass objektive Erkenntnis unmöglich zu erlangen ist, weil Erkenntnis ein Ergebnis unserer kontingenten Wahrnehmungsorgane und der kontingenten Informationsprozesse in kontingenten Gehirnen einzelner Forscher ist: Die verbindende Klammer zwischen den verschiedenen konstruktivistischen Ansätzen besteht nicht in einer gemeinsamen theoretischen Problemstellung, sondern in einer erkenntnistheoretischen Grundüberzeugung, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: 1. Das, was wir als unsere Wirklichkeit erleben, ist nicht ein passives Abbild der Realität, sondern Ergebnis einer aktiven Erkenntnisleistung. 2. Da wir über kein außerhalb unserer Erkenntnismöglichkeiten stehendes Instrument verfügen, um die Gültigkeit unserer Erkenntnis zu überprüfen, können wir über die Übereinstimmung zwischen subjektiver Wirklichkeit und objektiver Realität keine gesicherten Aussagen treffen.(Ameln von 2004, S. 3) Es ist offensichtlich, dass diese konstruktivistische Auffassung keine neuartige Idee ist. Abgesehen davon, dass sie im Grunde eine Neubelebung der Kant ’ schen Erkenntnistheorie ist, muss man bereits Bacon mit seinen Idolen des Stammes als einen frühen Vorfahren des Konstruktivismus betrachten. Zu den Hauptvertretern des Konstruktivismus im modernen Sinne zählen u. a. der österreichische Physiker und Philosoph Heinz von Foerster (1911 - 2002, vgl. z. B. seine Einführung in den Konstruktivismus, Foerster 2005), der amerikanische Psychologe und Philosoph, Ernst von Glasersfeld (1917 - 2010, vgl. z. B. seinen Radikalen Konstruktivismus, Glaserfeld 2011), der chilenische Biologe und Philosoph Humberto Maturana (1928 - ) wie auch sein Schüler, der früh verstorbene chilenische Biologe, Neurowissenschaftler und Philosoph Francisco Varela (1946 - 2001, vgl. z. B. das von den beiden zusammen verfasste The Tree of Knowledge, Maturana und Varela 1992), schließlich der bereits erwähnte deutsche Biologe und Hirnforscher Gerhard Roth (geb. 1942). Die Ansichten des Konstruktivismus haben aber in der letzten Zeit eine recht große Verbreitung in der Soziologie, Psychologie, Psychotherapie, Pädagogik wie auch in den medizinischen Wissenschaften gefunden. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1149 Der Konstruktivismus konfrontiert uns mit einem tiefen Paradox der gegenwärtigen Erkenntnissituation: Die bewundernswerten Fortschritte der als objektiv geltenden Wissenschaft (Neurobiologie) haben uns an den Rand des erkenntnistheoretischen Abgrunds gebracht. Sie scheinen uns zu dem Zugeständnis zu zwingen, dass objektive Erkenntnis uns Menschen für immer verschlossen bleiben müsse. Ein solcher skeptischer Schluss, der sich sowohl aus den Überlegungen des Konstruktivismus und aus der Theorie der Meme als auch aus den vielen Rätseln und Aporien der Objektivität scheinbar zwangsläufig ergibt, führt jedoch zu einem tiefen Paradox: Ist alle Erkenntnis bloß subjektiv, so ist auch diese Behauptung selbst bloß subjektiv, also im besten Fall unsicher, vielleicht sogar einfach falsch. Dies hat mit aller Deutlichkeit bereits Thomas Nagel in The Last Word herausgestellt: It is usually a good strategy to ask whether a general claim about truth or meaning applies to itself. Many theories, like logical positivism, can be eliminated immediately by this test. The familiar point that relativism is self-refuting remains valid in spite of its familiarity: We cannot criticize some of our own claims of reason without employing reason at some other point to formulate and support those criticisms. [. . .] The concept of subjectivity always demands an objective framework, within which the subject is located and his special perspectives or set of responses described. We cannot leave the standpoint of justification completely, and it drives us to seek objective grounds. [. . .] The serious attempt to identify what is subjective and particular, or relative and communal, in one ’ s outlook leads inevitably to the objective and universal. That is so whether the object of our scrutiny is ethics, or science, or even logic. (Nagel 1997, S. 15f.) Das vom Konstruktivismus in jüngster Zeit aufgeworfene Problem, dass Objektivität der Erkenntnis scheinbar aus grundsätzlichen Überlegungen nicht erreicht werden könne, kann man als die 7. Aporie der Objektivität bezeichnen. Aktivität des Denkens und Objektivität Bevor wir uns dieser Frage anhand der Betrachtung der Erkenntnismethoden von Rudolf Steiners Anthroposophie bzw. Geisteswissenschaft widmen können, möchte ich noch kurz zu den Überlegungen, die man anhand der Beobachtung der gewöhnlichen Denkprozesse machen kann, zurückkehren. Wir haben oben gesehen, dass die Erscheinungsform des Denkens in unserem gewöhnlichen Bewusstsein Anlass zur Vermutung gibt, dass sie dem Wesen der Gedanken nicht entspricht, was der Möglichkeit objektiver Erkenntnis eine prinzipielle Grenzen zu setzen scheint. Wir haben auch gesehen, dass die Erfahrung der Anstrengung zu der Ansicht veranlasst, dass Denken eine Aktivität ist - eine Behauptung, die heute als unbestritten gelten darf. 285 Es 285 Man kann sehr viele Philosophen beiziehen, welche ihre Überlegungen auf den aktiven Charakter des Denkens aufbauen (z. B. Taylor 1985, S. 251, 256; von Kutschera 1998, 1150 10 Das Wesen des Objektivitätsideals lässt sich aber leicht zeigen, dass es dieser aktive Charakter des Denkens ist, welcher für die Entstehung des Problems der Objektivität überhaupt verantwortlich ist. Denn wenn der Sachverhalt so wäre, wie Lichtenberg meinte, dass wir nämlich nicht aktiv denken, sondern dass „ es in uns denkt “ , gäbe es das Problem der Objektivität nicht. Entweder „ dächte es “ in allen Menschen zum gleichen Thema gleich und folglich gäbe es keine (gedanklichen) Gesichtspunkte, keine Meinungsverschiedenheiten, oder „ es dächte “ in ihnen verschieden, und da in diesem Fall niemand Einfluss auf seine Gedanken hätte, gäbe es auch kein Streben nach Einheit oder Objektivität, sondern lediglich entweder ewigen Streit oder ewige Resignation. Zum gleichen Ergebnis würde es auch dann führen, wenn „ es “ in allen einmal gleich, einmal verschieden dächte. Weil es aber so ist, dass wir aktiv denken können, dass wir einen Einfluss auf unsere Gedanken ausüben können und somit für sie Verantwortung tragen (Burge 1998, S. 253), sind wir gezwungen, unsere gedanklichen Gesichtspunkte zu überlegen und anzupassen und Anstrengungen zu unternehmen, um zu Wahrheit und Objektivität zu gelangen. Gewöhnlich wird angenommen, dass der Verlust der Objektivität u. a. daraus resultiere, dass Menschen verschiedene Gesichtspunkte - im ganz konkreten Sinne aufgrund der Verschiedenheit ihrer sinnlichen Erfahrung - haben. Es lässt sich jedoch zeigen, dass die Unterschiede der (sinnlichen) Betrachtungsweisen eigentlich nur eine sekundäre Rolle für das Objektivitätsproblem spielen. Nehmen wir an, einige Menschen beobachten, jeder an seiner Stelle und ohne die Möglichkeit, diese Stelle zu wechseln, einen vor ihnen stehenden Elefanten. Jeder hat also eine andere Sinneswahrnehmung: Einer sieht das Bein, ein anderer vielleicht den Rüssel, ein weiterer den Stoßzahn, der Nächste den Bauch usw., und die Wahrnehmung eines jeden ist eindeutig anders als die seines Nachbarn (sie dürfen eben ihren Platz nicht wechseln). Nehmen wir weiter an, dass im Anschluss an ihre Beobachtung alle diese Menschen zu ein und demselben Gedanken kommen, der diese verschiedenen Erfahrungen konzeptualisiert: „ Das ist ein Elefant “ , und sie berichten sich gegenseitig von ihren mannigfaltigen Erfahrungen mittels dieses einen Gedankens. Trotz ihrer aus unserer Sicht eindeutig verschiedenen Wahrnehmungen haben sie also eine perfekte Übereinstimmung ihrer Ansichten, und das Problem der Objektivität kann nicht entstehen! Das Problem tritt vielmehr erst auf, wenn man weitere Begriffe zur Verfügung stellt: Bein, Rüssel, Schwanz, Stoßzahn, Rumpf, Kopf usw. Erst wenn man S. 208, 252; Burge 1998, S. 252, 258; Wright 1992, S. 226). Mindestens indirekt zeugen auch manche Theorien der Person von dieser Eigenschaft. Denn alle Theorien, welche die Fähigkeit der intentionalen Veränderung eigener Eigenschaften seitens des Subjekts voraussetzen, sind analytisch dazu verpflichtet, diese Fähigkeit auf ein Mindestmaß an Spontaneität des Subjekts zu gründen, die ihrerseits ohne Spontaneität des Denkens nicht denkbar ist. Aktivität scheint im innersten Zentrum unseres Wesens notwendigerweise vorhanden zu sein. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1151 diese begriffliche Vielfalt zur Verfügung hat, hat man überhaupt die Möglichkeit, unterschiedliche Wahrnehmungen zu kommunizieren. Erst dann kann man auch gewahr werden, dass unterschiedliche Ansichten (Meinungen) vorhanden sind bzw. vorhanden sein können, was zur Entstehung des Objektivitätsproblems (dieser Meinungen) führt. Verkompliziert man die Lage durch Einbeziehung der persönlichen (aber nicht gedanklichen) Unterschiede, wie etwa Charakterunterschiede, die Ergebnisse der sozialen oder kulturellen Konditionierung, der Erziehung usw., so bleibt das Resultat dasselbe: Wo keine denkerischen Unterschiede in der Reaktion auf die Welt vorhanden sind, kann sich auch das Problem der Objektivität nicht konstituieren. Dieses Problem ist also durch die auf der Aktivität des Denkens fußende Freiheit (wenn es auch den Ergebnissen des vorangehenden Abschnitts zufolge nur eine begrenzte Freiheit ist) in Verbindung mit der Individualität unseres Denkens bedingt. Gedankenverbindungen Die zentrale Bedeutung, welche die Faktizität der denkerischen Aktivität mit ihren wichtigen Begleiterscheinungen, der (bedingten) Freiheit und der Individualität der Denkprozesse, in der Entstehung der Objektivitätsproblematik spielen, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf ein anderes Element der Denkerfahrung, das bis jetzt verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit erfahren hat: die Verbindungen zwischen individuellen Gedanken. Denn wenn wir aktiv denken müssen und diese Aktivität zugegebenermaßen individuell ist, muss die Frage entstehen, wie es dazu kommt, dass ich meine Gedankenfolgen entwickle. 286 Sie sind kontingent in dem Sinne, dass sie völlig anders sein könnten, was durch die Tatsache belegt ist, dass zwei sich in äußerlich gesehen gleicher Situation befindende Personen ganz verschiedene Gedankengänge entwickeln können. Die gedanklichen Antworten verschiedener Personen auf die äußerlich gleiche Situation sind selbstverständlich teilweise aufgrund verschiedener Erfahrungen dieser Personen unterschiedlich, so dass festgehalten werden kann, dass eine äußerlich identische Situation für zwei verschiedene Personen nie auch innerlich identisch sein kann, was auch die Verschiedenheit individueller Urteile in gleicher Situation erklären könnte. Dennoch bleibt die Frage bestehen: Selbst wenn die individuellen Erfahrungen an der Entstehung bestimmter Gedankenfolgen beteiligt sind, so ist nicht klar, wovon es abhängt, dass ein Gedanke dem anderen folgt, dass ein Gedanke den anderen gleichsam „ ruft “ . Inwieweit haben außerinhaltliche 286 Das Faktum des Erscheinens des Gedankens im Bewusstsein ist - wenn der Gedanke nicht als eine direkte Reaktion auf äußerliche Reize erklärt werden kann - an sich rätselhaft genug. Es scheint jedoch im gegenwärtigen Kontext weniger relevant zu sein. Der Umfang des Objektivitätsbegriffs wurde in dieser Studie auf die Klasse der (vergleichenden) Urteile begrenzt. Das Urteilen setzt jedoch Sequenzen von Gedanken analytisch voraus. 1152 10 Das Wesen des Objektivitätsideals Elemente Einfluss auf die Entstehung solcher Verbindungen? Wenn das Objektivitätsproblem tatsächlich an die (bedingte) Freiheit unseres Gedankenlebens geknüpft ist, scheint die Einsicht in diese Prozesse von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Möglichkeit der Objektivität und insbesondere der Möglichkeit der praktischen Realisierung dieses Ideals zu sein. Es ist erstaunlich, wie wenig darüber geschrieben wurde. Mir sind nur vereinzelte Beobachtungen zu diesem Problem bekannt, welche es lediglich streifen (eine Ausnahme bildet hier Swinburne, zu dessen Ansichten wir bald ausführlicher zurückkehren werden). Dietrich Bonhoeffer stellt z. B. fest: „ Dass die Wurzeln des Baumes im Dunkel des Erdreiches liegen, dass alles, was im Licht lebt, aus dem Dunkel und [der] Verborgenheit des Mutterschoßes herkommt, dass auch alle unsere Gedanken, daß unser ganzes geistiges Leben so aus dem verborgenen, heimlichen Dunkel kommt wie unser Leib, wie alles Leben - das wollen wir nicht wissen. “ 287 Diese Aussage bringt zwar die Tatsache zum Ausdruck, dass die Quelle der Gedanken im Dunkeln liegt, sie trägt aber zu ihrer Aufhellung nichts bei. Ähnliches lässt sich zu folgender auf den Verstehensprozess bezogenen Äußerung von Wright sagen: „ [W]e have no wordless contact with the thought that P. If we are to assess it, it has somehow to be given to us symbolically “ (Wright 1992, S. 222f.), und einige Seiten weiter: „ [S]omething irreducibly human and subcognitive actively contributes to our engagement with any issue at all “ (ebd., S. 226). Wright vermutet einen aktiven (und subkognitiven) Prozess der Kontaktaufnahme mit einem Gedanken, lässt aber seine Strukturierung völlig unbestimmt. Und Nagel stellt knapp fest: „ I don ’ t know how thought is possible “ (Nagel 1986, S. 107). Diese philosophische Dürre bei einem Problem, das offensichtlich von zentraler Bedeutung für unser Verständnis der Objektivität, aber auch der Rationalität ist, ist einerseits rätselhaft, andererseits aber auch sehr verständlich. Rätselhaft, weil man mehr Aufmerksamkeit für die hier gestellte Frage erwarten würde, verständlich, weil wir uns offensichtlich an der Grenze dessen befinden, was uns noch bewusst zugänglich ist, und jeder Schritt über diese Grenzen hinaus in eine sehr schlechte Metaphysik oder besser gesagt in eine wilde Spekulation zu führen droht. Das Schweigen zu diesem Problem ist gleichwohl vielsagend. Eine andere Haltung ihm gegenüber wäre doch durchaus denkbar, nämlich die bewusste Anerkennung des Problems und ein ebenso bewusster Verzicht auf jeglichen Versuch, das Problem etwa im Stil von McGinns Rätsel des Bewusstseins zu lösen, das unsere kognitiven Möglichkeiten angeblich übersteigt (McGinn 1996, S. 5 - 22; ders. 1999, S. 5 - 29). Das Schweigen hat den Beigeschmack der Verdrängung. 288 287 Bonhoeffer, D.: „ Geheimnis. Trinitatis, 27. Mai 1934, I. Korinther 2,7-10 “ , S. 447 (zitiert nach Meyer-Abich, 1997 b, S. 39). 288 Vgl. Angehrns Bemerkungen zur Verdrängung gewisser Themen, welche vom Mythos behandelt wurden, aus der abendländischen Metaphysik (Angehrn 1996, S. 187 - 201). 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1153 1 Gedankendeterminismus Eine mögliche Erklärung der spezifischen, individuellen Gedankenfolge ist die des Determinismus: Wir sind dazu bestimmt, spezifische inhaltliche Gedankenverbindungen zu vollziehen. Man kann sich dabei zumindest zwei Spielarten dieser Position vorstellen, eine neurophysiologische und eine psychologische. Die neurophysiologische geht grundsätzlich davon aus, dass unsere bewusste Denkerfahrung eine Art Epiphänomen der ihr zugrundeliegenden und sie verursachenden neuronalen Prozesse ist. Die Informationsverarbeitung geschehe auf der Ebene biochemischer und elektrischer Prozesse in den Nervenzellen, sei dem Bewusstsein vorgängig, und das Bewusstsein habe keinen Einfluss auf sie. Der psychologische Determinismus würde hingegen behaupten, dass die uns phänomenologisch zugänglichen Bewusstseins- und insbesondere Denkinhalte sich zwar nach inhaltlichen Prinzipien kombinieren und ergänzen, dass aber diese Prinzipien naturgesetzmäßiger Art seien und das Subjekt ebenso wenig Einfluss auf ihre Entfaltung habe wie im Falle der neurologischen Verursachung. Die Schwierigkeit aller Spielarten der deterministischen Erklärung des Denkens besteht jedoch darin, dass sie sich, wie von Kutschera m. E. schlüssig gezeigt hat (Kutschera von 1998, S. 209), in einen performativen Selbstwiderspruch verwickeln. Sie machen jeden rationalen Diskurs unmöglich. Sachliche und logische Argumente hören auf, auf den Diskurs Einfluss zu nehmen, wenn man annimmt, dass der Gedankengang sowieso neurophysiologisch oder psychologisch (aber nicht logisch, sachlich) prädeterminiert ist. Die Deterministen sind Opfer der „ self-excepting fallacy “ , besagen doch ihre Prämissen, dass „ [i]hre Behauptungen [. . .] keine Gründe, sondern nur Ursachen [haben], und [. . .] daher für uns kognitiv nicht relevanter als ihr Husten [sind] “ (ebd., S. 210). Von Kutschera hat betont, dass jegliches Urteilen und Erkennen Freiheit voraussetze: „ Wenn meine Meinung durch die Umstände determiniert ist, kann ich mir eben nicht selbst eine Meinung, ein Urteil bilden, denn dazu muss ich mehrere Möglichkeiten haben, die ich gegeneinander abwägen kann, Urteilen und Erkennen setzen also Freiheit voraus “ (ebd., S. 208). 289 Genau diese Freiheit im Denken (wie begrenzt auch immer sie sein mag) fordert eine Antwort auf die Frage, wie bestimmte Gedankenfolgen zustande kommen. 289 Ebd., S. 208. Die Notwendigkeit der Freiheit als Vorbedingung jeglicher Vernunft wird auch ausdrücklich unterstrichen von McDowell (McDowell 1998, S. XXIII, 8, 13, 14, 18, 66), und Burge (Burge 1998, S. 249 - 253). 1154 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 2 Richard Swinburne Die beste mir bekannte Darstellung des Prozesses der Gedankenentwicklung bietet Swinburne (Swinburne 1986, S. 62 - 84). 290 Er beschreibt den Prozess des Nachdenkens darüber, wie und wo man seine Ferien verbringen will: „ The way to think about how to spend the summer is to ask yourself such questions as ‚ How do my friends spend the summer? ‘ , ‚ Where have I spent earlier summers? ‘ , etc. in hope that some of the answers (e. g. ‚ John goes to Italy ‘ ) will spark off a thought which you do not actively bring about, but which is brought about by some process over which you have no control (e. g. ‚ I ought to go to Italy ‘ ) which constitutes a solution of your problem. “ (Ebd., S. 64f., Hervorhebung von mir, MBM.) Swinburne weist ferner darauf hin, dass wir nicht imstande sind, neue oder uns unvertraute Gedanken intentional hervorzubringen (ebd., S. 64). Ziele und Intentionen spielen eine steuernde Rolle in unseren Gedankenprozessen (ebd., S. 65, 88ff.). Diese Schilderung ist aus verschiedenen Gründen beachtenswert. Erstens ist sie, knapp wie sie ist, die beste mir bekannte Auseinandersetzung mit dieser Problematik in der neueren philosophischen Literatur; zweitens würde sie, falls sie wahr wäre, unser gewolltes Denken dazu verurteilen, sich im Kreise des schon Bekannten zu drehen, denn nach Swinburne kann man keinen wirklich neuen Gedanken willentlich denken; drittens kommt nach ihm jegliche Neuerung durch einen geheimnisvollen Prozess zustande, über welchen wir „ keine Kontrolle “ haben und welcher neue Gedanken in unserem Bewusstsein „ zündet “ . Zur Natur dieses Prozesses sagt Swinburne 290 Ihr geht eine begriffliche Differenzierung der Denksphäre voran, welche es hier kurz nachzuvollziehen gilt: Swinburne betont erstens den Unterschied zwischen dem Gedanken (engl.: thought) im Sinne eines bewusst und gegenwärtig unterhaltenen Inhalts (z. B. „ Es regnet “ ) und der Überzeugung (engl.: belief), welche zwar auch einen propositionalen Charakter hat, dem Subjekt jedoch - obwohl sie in seinem rationalen System fest verankert sein kann - gegenwärtig nicht bewusst gegeben sein muss und es gewöhnlich auch nicht ist (ebd., S. 63). Swinburne unterscheidet zweitens diesen Sinn des Gedankenhabens von der Verwendungsart, welche in Bemerkungen wie „ Er denkt daran “ zum Tragen kommt, wenn mit „ denken “ eine gewisse Aufmerksamkeit, Bedachtheit, Sorgfalt in der Ausführung von gewissen Abläufen, kurz, bewusste und absichtliche Kontrolle gemeint ist (ebd.). Drittens unterscheidet Swinburne die denkerische Tätigkeit (das Denken) vom Resultat dieser Tätigkeit, dem Gedanken (ebd.). Diese denkerische Tätigkeit im spezifizierten Sinne unterteilt er weiterhin in drei Arten: erstens die Gedanken, welche man in sich, als eine Art Nebenprodukt des Versuchs, jemandem etwas mitzuteilen, zustande bringt (ebd., S. 64); zweitens Gedanken oder Gedankengänge, welche man absichtlich wiederholt, z. B. bei der Vorbereitung eines Vortrags (ebd.); und drittens das aktive Denken, bei dem sich der Denker intentional mit einem Problem und dessen Lösung auseinandersetzt, z. B. mit der Lösung einer mathematischen Aufgabe oder der Entscheidung, was er am Nachmittag machen will (ebd.). Von besonderem Interesse für mich sind selbstverständlich jene Bemerkungen, welche sich auf die Gründe für die Gedankenverbindungen in dieser letzten Unterart der denkerischen Aktivität beziehen. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1155 nichts. Er lässt aber die Möglichkeit offen, dass in der Mitte unseres sogenannten rationalen Gedankenlebens etwas waltet, was von ganz anderer Qualität ist und uns die Lösung unserer Probleme liefert: Dieser Prozess „ zündete “ in mir den Gedanken, der die Antwort auf meine Frage: „ Wo soll ich den Sommer verbringen? “ war. Es war fast nicht meine Antwort. Das heißt aber, dass wir nach Swinburnes Vorstellung eigentlich Spielzeuge von Prozessen sind, über welche wir weder Kontrolle ausüben noch ausüben können und deren „ Einflüsterungen “ wir auszuführen gezwungen sind: Wir haben keine Wahl, anders zu denken, weil wir keine anderen Ideen haben können. Diese Sicht der Sache beraubt uns aber unserer Eigenständigkeit gerade dort, wo sie am nötigsten ist, bei der Quelle unserer Ideen und Intentionen. Diese entpuppen sich als nicht die unsrigen, sondern als uns lediglich gegebene, sie werden (wörtlich) zu Eingebungen. Unsere Freiheit wird somit inhaltslos, unsere Rationalität ist möglicherweise - das hängt von der Natur dieses geheimnisvollen und uns nicht zugänglichen Prozesses ab - ein Schein: „ Now maybe the succession of thoughts is due to the succession of underlying processes, which are so organized that they produce the appearance of rational connection of thought (i. e. the appearance that in some way one thought is a response to the previous thought). But the greater the simplicity of connection of thought, the greater the probability that thought processes are autonomous “ (ebd., S. 83, Hervorhebung von mir, MBM.). Ich glaube, dass Swinburnes Hoffnung auf die fundamentale Autonomie der Denkprozesse, die im letzten Satz zum Ausdruck kommt, und somit auch auf die Möglichkeit ihrer Rationalität nach seinen eigenen Voraussetzungen wenig begründet ist. Wenn jeder neue Gedanke tatsächlich als Ergebnis von Prozessen, über welche wir keine Kontrolle haben, zu verstehen ist (ebd., S. 64), dann können wir auch keine Einsicht erlangen, ob diese Prozesse rational sind oder nicht; und selbst wenn sie rational wären, wäre ihre Rationalität nicht unsere Rationalität. Beobachtet man den Denkprozess allerdings genauer, zeigt sich, dass Swinburnes Bemerkungen bezüglich des „ Überraschungscharakters “ unserer Gedanken nicht ganz zutreffen. Denn beim eigentlichen Problemdenken (also bei demjenigen Denken, das auf eine bestimmte Lösung hinzielt) haben wir es mit einem Paradox zu tun. Es scheint, dass wir (zumindest) den nächsten Gedanken kennen, bevor wir ihn kennen, d. h. bevor wir ihn vollkommen im Bewusstsein haben. Der Denkprozess scheint sich so zu entwickeln, dass ich, bevor ich einen Gedanken innerlich verbalisiere und ihn mir somit zu Bewusstsein bringe, 291 in einer dunklen Art schon weiß, was ich verbalisieren bzw. in Symbole kleiden möchte. Der nächste Gedanke kündigt sich einen Bruchteil einer Sekunde, bevor er zu vollem Bewusstsein kommt, an. Er ist jedoch offensichtlich von mir intendiert, er ist (meist) keine Über- 291 Wright: Wir haben keinen Kontakt mit dem Gedanken außer durch ein Symbol, vgl. oben. 1156 10 Das Wesen des Objektivitätsideals raschung. Es muss so sein, denn sonst befände ich mich in der Lage jenes Mädchens, das, gebeten, sich der Bedeutung ihrer Aussage sicher zu sein, bevor es sie zum Ausdruck bringt, erwidert: „ How can I know what I think till I see what I say? “ 292 Wir müssten dann tatsächlich zuerst sagen - selbst wenn wir es nur innerlich zu uns selbst sagen - , was wir denken werden, um zu wissen, was wir denken. Unser Denken wäre dann ein ständiges Sicherinnern an das gerade innerlich oder äußerlich Gesagte, was wiederum bedeuten würde, dass die Kontrolle über das, was wir so zuerst sagen und dann erinnernd denken, völlig außerhalb unserer Intentionen läge. Wir empfinden aber unser Denken eindeutig als gewollt, außer in Situationen, in denen wir tatsächlich unerwartete - und oft sehr gute - Einfälle haben. 293 Wir haben es also mit einem sehr rätselhaften Prozess zu tun. Ich hole einen bestimmten Gedanken aus der Dunkelheit meines Vorbewusstseins - oder vielleicht Unterbewusstseins (des Unbewussten? ) - hervor, um ihn dann sozusagen vollbewusst betrachten zu können. 294 Bevor ich einen Gedanken zum Ausdruck bringe - in der gesprochenen Sprache, auf dem Papier oder in einem „ inneren Monolog “ - , weiß ich, welchen Gedanken ich geholt bzw. formuliert habe. Er ist mir, kaum bemerkbar, in einem Bruchteil einer Sekunde kurz erschienen. Deswegen ist dieser Gedanke für mich keine Überraschung mehr, wenn er vollständig entfaltet im Bewusstsein erscheint. Ich wollte ihn denken. Aber zur gleichen Zeit kenne ich ihn nicht oder zumindest nicht vollständig, bis ich ihn eben voll verbalisiert oder symbolisiert habe. 295 Wir scheinen in zwei Welten zu wohnen: in der Welt unseres 292 Wallas, G.: The Art of Thought, Kap. 4, zitiert in The Concise Oxford Dictionary of Quotations, S. 341. Vgl. auch W. Shakespeare, As You Like It, III, 2, Z. 233: Rosalind: „ Do you not know I am a woman? When I think I must speak. “ 293 Ein schönes Beispiel dieses Phänomens findet sich in der neueren philosophischen Literatur bei McGinn: „ My thoughts [zum Problem des Bewusstseins] developed gradually over the years, following a sudden revelation one dark night in Oxford in 1988, when I was visited with the feeling that I had finally understood why the mindbody problem is so hard. I jumped out of bed and scribbled down some notes, thinking that they would probably seem silly to me in the morning. But the next day they made still more sense to me than anything else I had ever written or read on the mind-body problem “ (McGinn 1999, S. XII). 294 Für diesen Zusammenhang scheint mir die von Block eingeführte Unterscheidung zwischen dem „ phänomenalen Bewusstsein “ und dem „ Zugriffsbewusstsein “ treffend. Das phänomenale Bewusstsein ist jenes, welches wir in unserem Bewusstsein gegenwärtig „ gegeben “ haben, dessen wir uns momentan bewusst sind; das Zugriffsbewusstsein beinhaltet alle jene Elemente, deren wir uns bewusst werden können, die jedoch momentan außerhalb unserer Bewusstseinssphäre liegen (vgl. Block 1996, S. 523 - 581). 295 Burge sieht sogar die Möglichkeit, dass wir an unseren Gedanken weiterarbeiten können, wenn wir sie nicht in unserem „ phänomenalen Bewusstsein “ haben: „ So kann ich mir im Geiste eine regnerische Nacht in Salisbury ausmalen, während ich über Philosophie nachdenke. Ich könnte die philosophischen Gedanken jederzeit zu Bewusstsein bringen. Sie mögen für alle anderen rationalen Tätigkeiten verfügbar sein. Es kommt mir aber so vor, dass sie unbewusst sein könnten - ich wäre mir dann zu keiner 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1157 gewöhnlichen Bewusstseins und zur gleichen Zeit in einer Welt, die wir lediglich vorauszuahnen vermögen. 296 Die Einsicht, dass die Wurzel unserer Denktätigkeit im Verborgenen liegen, kann man als die 8. Aporie der Objektivität bezeichnen. Wenn diese Wurzel unbekannt bleiben, dann ist einleuchtend, dass wir nie sicher sein können, dass die Resultate unserer denkerischen Tätigkeit, inklusive der Erkenntnisurteile, objektiv sind. 3 Die Wissenschaft des Unbewussten Um die Rätsel der Denkprozesse lüften zu können und zum Verständnis des Wesens der Objektivität zu gelangen, brauchen wir offenkundig eine Wissenschaft, die hinter den Vorhang des gewöhnlichen, alltäglichen Bewusstseins zu dringen vermag. Die von Swinburne angebotene Lösung des Problems der Gedankenfolge ist eindeutig unbefriedigend, eine bessere scheint aber nicht vorhanden zu sein. 297 Die Psychoanalyse versucht zwar, diesen Zugang zu schaffen, bedient sich jedoch sehr schwacher Mittel (Traumdeutung, Deutung freier Assoziationen usw.) und ist in mannigfaltige Richtungen gespalten, was das Vertrauen in ihre Resultate zusätzlich unterminiert. Rudolf Steiner behauptete, dass die von ihm entwickelten Erkenntnismethoden genau dieser Aufgabe, hinter den Vorhang des alltäglichen Bewusstseins zu dringen, gerecht werden, ja, dass sie für diese Aufgabe konzipiert sind: „ Die Erkenntnis, welche hier 298 als imaginative, inspirierte und intuitive Erkenntnis geschildert worden ist, hat nun die Aufgabe, einzudringen in dieses unbestimmte Reservoir, das als ‚ Unbewusstes ‘ in der neueren Wissenschaft 299 so vielfach fungiert. Durch diese übersinnliche Erkenntnis sollen ja gerade die konkreten Tatsachen, welche dem gewöhnlichen Bewusstsein nicht zugänglich sind, durch das Erreichen anderer Bewusstseinszustände, in denen eine andere Seelenver- Zeit der philosophischen Punkte, an denen mein Geist arbeitet, bewusst - , bis ich sie mir ins Bewusstsein rufe “ (Burge 1996, S. 587). Was wiederum an den Appell von Pauli, bewusst mit dem Unbewussten zu arbeiten - wenn ich so sagen darf - erinnert (Pauli 1999, S. 77). 296 Zusätzlich zu der Schwierigkeit, die gewöhnlichen Gedankenverbindungen zu erklären, ist es übrigens eine nicht minder schwierige Aufgabe, die Möglichkeit und die Realisierbarkeit von „ guten Einfälle “ der Art, wie sie McGinn schildert, verständlich zu machen. 297 Vgl. Fodors sehr pessimistische Einstellung zur Möglichkeit des komputationalen Verständnisses der Prozesse, die den Operationen des „ allgemeinen Menschenverstandes “ unterliegen: „ [A]s things now stand, we don ’ t have a theory of the psychology of common sense reasoning that would survive serious scrutiny by an intelligent fiveyear-old. Likewise, common sense is what the computers that we know how to build egregiously don ’ t have. I think we are running into the limits of what can be explained with Turing ’ s kind of computation. “ (Fodor 1998, S. 206). 298 Gemeint sind die dieser Aussage vorangehenden vier Vorträge. 299 Die Aussage stammt aus dem Jahr 1922. 1158 10 Das Wesen des Objektivitätsideals fassung und deshalb auch eine andere Wahrnehmungsfähigkeit da sind, erforscht werden. “ (Steiner GA215, S. 79) Ich werde im folgenden Kapitel die hier erwähnten übersinnlichen Erkenntnisformen (Imagination, Inspiration, Intuition) schildern und die Objektivität ihrer Resultate überprüfen. Fazit Zu welchen Schlüssen haben uns die Überlegungen dieses Kapitels geführt? Wir haben anfangs gesehen, dass die verbreitete Vorstellung, Objektivität könne vor allem durch präzise Messungen gewährleistet werden, sich als mit gewissen sprachlichen Intuitionen unvereinbar erweist: Resultate der Messung wie auch mathematischen Operationen werden überhaupt nicht als objektiv bzw. subjektiv, sondern als wahr bzw. falsch taxiert. Wir konnten später feststellen, dass das große Assoziationsspektrum des Objektivitätsbegriffs mit seiner komplexen Entstehungsgeschichte zusammenhängt. Früher wurde das Begriffspaar objektiv/ subjektiv hauptsächlich für die Unterscheidung zwischen der Außen- und der Innenwelt gebraucht. Heute bezeichnet man diesen Aspekt bzw. diese Dimension des Objektivitätsbegriffs oft als „ ontologische Objektivität “ . In diesem Sinne wird der Begriff zunehmend selten gebraucht. Dagegen rückt ungefähr seit Ende des 19. Jahrhunderts der andere Aspekt bzw. die andere Dimension des Begriffs, die epistemische Objektivität, in den Vordergrund. Sie hängt mit der epistemischen Qualität der Erkenntnis zusammen: Erkenntnisse, welche frei von subjektiven Verzerrungen sind, werden demnach als „ objektiv “ , diejenigen, welche durch verschiedene subjektivierende Faktoren verunreinigt sind, als „ subjektiv “ bezeichnet. Im Gegensatz zu der ersten Dimension des Begriffs, die eindeutig eine Dichotomie ist (entweder ist etwas in der Außen- oder in der Innenwelt), bildet die epistemische Dimension des Begriffs ein Kontinuum: Die Erkenntnisse können mehr oder weniger objektiv bzw. subjektiv sein. Die Entkoppelung des Objektivitätsbegriffs von der Messung und allgemeiner von der mathematischen Verarbeitung der Forschungsergebnisse erlaubt es, auch der qualitativen Forschung und anderen wissenschaftlichen Disziplinen, die ohne Messung auskommen, die Fähigkeit zuzuschreiben, objektive Erkenntnisse zu gewinnen. Überdies kann durch die Differenzierung der ontologischen und epistemologischen Dimension des Begriffs ein sonst unlösbares Problem eliminiert werden, das man folgendermaßen formulieren kann: Wie können objektive Erkenntnisse mittels subjektiver Denkprozesse gewonnen werden? 300 . Dieses Problem stellt sich nicht, sobald man realisiert, dass es sich bei dieser Frage um eine Verwechslung von zwei 300 Dieses Problem habe ich in meiner Dissertation als die zweite Aporie der Objektivität bezeichnet (Majorek 2002, S. 134). 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1159 radikal unterschiedlichen Bedeutungen des Objektivitätsbegriffs, nämlich der ontologischen und epistemischen Dimension des Begriffs, handelt. Der Gewinnung epistemisch objektiver Erkenntnisse mittels ontologisch subjektiver Erkenntnisgewinnungsprozesse steht nichts im Wege. Denn diese können durchaus epistemisch objektiv sein. Wir haben ferner die Vielfalt der Interpretationen der Bedeutung des epistemischen Objektivitätsbegriffs betrachtet und sind zum Schluss gekommen, dass eine unvoreingenommene Analyse der realen Anwendungsfälle zur Einsicht in die wahre Struktur des Begriffs führen kann. Am Ende dieser Untersuchung stand fest, dass Objektivität lediglich kognitiven Urteilen, nicht algorithmischen Schlüssen zugesprochen wird, d. h. Urteilen, die sich auf eine möglichst umfangreiche Erfahrungsgrundlage stützen und aufgrund von Erkenntnisprozessen zustande gekommen sind, aus welchen die subjektivierenden Einflüsse weitgehend eliminiert wurden. Diese Einsicht wiederum eröffnet die Möglichkeit, Objektivität nicht nur durch empirisch-experimentelle Forschungsmethoden zu erzielen, sondern mittels andersartiger Weisen der Eliminierung der subjektivierenden Einflüsse aus dem Forschungsprozess. Wir haben in den Kapiteln „ Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus “ , „ Was ist Wissenschaft “ , und „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ und in den Abschnitten „ Einige theoretischen Probleme des empirischen Forschungsparadigmas “ und „ Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas “ die Einsicht gewonnen, dass die heutigen empirischen und experimentellen Methoden die absolute Objektivität ihrer Forschungsresultate nicht garantieren können, weil sie gegen die Einflüsse des derzeit herrschenden, aber bloß kontingenten und veränderbaren Erklärungsparadigmas nicht gefeit sind. In Anbetracht dieser Tatsache scheint die theoretische Möglichkeit einer direkten Eliminierung der den Erkenntnisprozess subjektivierenden Einflüsse mittels erweiterter Selbsterkenntnis zumindest potentiell eine interessante Alternative zu den herkömmlichen Methoden der Straffung der Erkenntnisgewinnung zu bieten. Wir haben aber auch zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich auf diesem Wege weiterhin gewaltige Hindernisse in Gestalt der Aporien der Objektivität türmen. 1) Ein Bild kann nicht objektiv bzw. subjektiv sein. Wie kann Erkenntnis, wenn sie als Bild der Wirklichkeit interpretiert wird, überhaupt objektiv oder subjektiv sein? 2) Wie kann objektive Erkenntnis je erlangt werden, wenn die Erkenntnissuche zwangsläufig durch ein persönliches Erkenntnisinteresse geleitet wird? 3) Wie kann objektive Erkenntnis je erlangt werden, wenn ethische Werte und Vorstellungen der Forscher zwangsläufig auf den Erkenntnisprozess Einfluss nehmen, diese Werte und Vorstellung aber kontingent sind? 4) Wie kann Erkenntnis je objektiv sein, wenn sie durch Erkenntnishandlungen zustande kommt, die Handlungen und deren Resultate aber weder (epistemisch) objektiv noch subjektiv sein können? 5) Wie kann Erkenntnis je objektiv sein, wenn sie durch Denkprozesse gewonnen 1160 10 Das Wesen des Objektivitätsideals wird, welche nachweislich in ihrem Sosein ihrem Dasein nicht entsprechen? 6) Wie kann Erkenntnis je objektiv sein, wenn die Forscher unter dem Einfluss von kontingenten Memen stehen? 7) Wie können Forschungsergebnisse je objektiv sein, wenn selbst die Wahrnehmungsprozesse scheinbar eine bloß subjektive, weil durch die Eigenschaften unseres Organismus bedingte Sicht der Welt liefern? 8) Wie können wir hoffen, objektive Erkenntnis zu erlangen, wenn wir uns der wahren Wurzel unserer Denktätigkeit nicht bewusst sind? Diese gewaltigen Stolpersteine behindern den Versuch, objektive Erkenntnis zu begründen, ja scheinen dieses Ziel prinzipiell zu verunmöglichen. Auf der anderen Seite haben wir mehrmals gesehen, dass objektive Erkenntnis erreichbar sein muss, da sonst ein Selbstwiderspruchs droht ( „ Alle Aussagen sind bloß subjektiv “ , also diese Aussage auch). Daraus ergibt sich die zentrale 9. Aporie des Objektivitätsbegriffs: Objektivität scheint unmöglich, muss aber erreichbar sein. Ich hoffe, dass das nächste Kapitel ein wenig Licht auf dieses vertrackte Problem werfen wird. 10 Das Wesen des Objektivitätsideals 1161 11 Übersinnliche Forschungsmethoden: Imagination, Inspiration und Intuition und die Frage nach der Wissenschaftlichkeit ihrer Forschungsresultate 301 Wir haben als die Frucht der Betrachtungen des Kapitels „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ festgestellt, dass es angesichts der uns heute zugänglichen empirischen Tatsachen völlig berechtigt ist, die Existenz der geistigen Welt als eines bedeutsamen Teils der uns umgebenden Wirklichkeit anzuerkennen. Damit stellt sich die Frage, ob dieser Ausschnitt der Wirklichkeit erforscht werden kann. Der Stellenwert dieser Aufgabe hängt selbstverständlich von der Wichtigkeit ab, die der geistigen Welt und ihren Einflüssen für unser Leben und Schicksal zugeschrieben wird. Zunächst scheint es, dass jene Welt keinen Einfluss auf diese hat: Wir leben sehr gut ohne sie, können Computer bauen, auf dem Mond oder auf dem Mars landen, ohne uns je um die geistige Welt kümmern zu müssen. Das Problem stellt sich anders dar, wenn man bedenkt, dass die heutige Wissenschaft vor zahlreichen wesentlichen Fragen und Rätseln steht, welche sie nicht aufzuschlüsseln vermag. Wir haben im Abschnitt „ Empirische Rätsel der Wissenschaft “ einige anerkannte und einige weniger anerkannte Rätsel betrachtet. Wir haben aber auch gesehen, dass bei genauem Hinschauen die Fragen tiefer reichen, als man gewöhnlich zuzugeben bereit ist. Auf der empirischen Seite der Forschung bleibt z. B. die Entstehung des Bewusstseins für die orthodoxe Wissenschaft ein völliges Rätsel (Exkurs „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ ), das Gleiche lässt sich über die Morphogenese (Exkurs „ Können Gene die Morphogenese erklären? “ ) und über die Funktion der Proteine (Exkurs „ Können Proteine die Leistungen erbringen, die ihnen zugeschrieben werden? “ ) sagen. Auch die Quantenmechanik wirft zahlreiche Fragen auf, welche einer Antwort harren (Abschnitt „ Die Rätsel der Quantenmechanik “ ). Auf der theoretischen Seite der Wissenschaft bleiben ebenfalls viele Rätsel in Dunkelheit gehüllt: Ist das Prinzip der Erklärungsparsimonie wirklich für die Erforschung der Natur adäquat? Was ist ein Naturgesetz? Woher kommen die Naturgesetze? Warum bilden wir überhaupt abstrakte Gedanken, warum entsprechen diese der Wirklichkeit? Was ist eigentlich Wissen? Wie kann man den unendlichen Regress der Begründung stoppen? Was ist Bedeutung? Worin besteht Verstehen (s. den Abschnitt „ Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas “ )? Welche Bedeutung hat für den Wert unserer Erkenntnis 301 Die Grundlage dieses Teils bildet das Kapitel „ Steiners Erkenntnismethoden und die Objektivität der Erkenntnis “ meiner Dissertation (Majorek 2002, S. 355 - 485). die Tatsache, dass das Sosein unserer Gedanken ihrem Dasein offensichtlich nicht entspricht? Was sind die Wurzeln unserer Gedanken? Wie ist es möglich, dass wir die Gedanken denken können, die wir denken wollen (s. das Kapitel „ Begriff der Objektivität “ )? Die Dringlichkeit der Aufgabe der Erforschung der geistigen Welt potenziert sich förmlich, wenn man bedenkt, dass gerade die Entdeckungen der jüngsten Vergangenheit ernste Zweifel an der Vollständigkeit unseres Weltbildes aufwerfen. Heute wird anerkannt, dass die uns bekannten Formen der Materie und Energie lediglich ca. 5 % des Universums ausmachen, dass unser Verständnis der Wirklichkeit also radikal unvollständig ist. Kann man sich vorstellen, dass das Verhältnis der materiellen zur immateriellen Wirklichkeit ebenfalls etwa 5 zu 95 % beträgt? Wäre es so, so müsste man zugeben, dass wir bis jetzt fast nichts über die wirkliche Wirklichkeit gelernt haben. Denn selbst die bis jetzt bekannten 5 % des materiellen Universums sind noch nicht vollständig verstanden. Wenn man weiter bedenkt, dass die ganze materielle Welt bloß 5 % der Wirklichkeit ausmacht, dann zeigt sich, dass wir bloß etwa 5 % von 5 % kennen, also ca. 0,25 % des ganzen Universums. Wenn man sich auf diesen Gedanken einlässt, dann erweist sich die Aufgabe der Erforschung der „ dunklen “ Seite der Wirklichkeit als dringend. Im Kapitel „ Neue Sicht der alten Geschichte “ haben wir festgestellt, dass es in lang vergangenen Zeiten sehr wahrscheinlich Methoden gab, welche es den Menschen ermöglichten, Einsicht in die geistige Welt zu erhalten. Davon zeugen einerseits solche Dokumente wie das Ägyptische Totenbuch und zahlreiche andere ägyptische Texte, die östliche geistige Tradition mit ihrer verblüffenden Behauptungen über unsichtbare Welten sowie kulturelle Erzeugnisse (allen voran monumentale Bauten wie die Pyramiden, Newgrange oder das Hypogäum von Ħ al-Saflieni), deren Konstruktion im Lichte dessen, was wir über die vergangenen Zivilisationen wissen, die sie erbaut haben, fast an ein Wunder grenzt, die sich jedoch unter Annahme des Zugangs der damaligen Menschheit zu einem „ höheren Wissen “ zumindest leichter erklären lassen. Von einer solchen Einsicht in die übersinnliche Welt zeugt auch noch die Tradition der griechischen Mysterien, die Einsichten in die Welt „ der Toten “ z. B. auf den „ Goldblättchen “ festgehalten hat. Ich habe bei der Würdigung von Sheldrakes Buch The Science Delusion darauf aufmerksam gemacht, dass der immer noch vorherrschende Materialismus uns die Annahme aufdrängt, dass wir heute die Spitze der dem Menschen möglichen Erkenntniskräfte erreicht haben. Denn wenn man die Evolution materialistisch, also als einen beständigen Anstieg der menschlichen Fähigkeiten, insbesondere der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten von den Affen bis zum Homo sapiens auslegt, kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass die Menschheit in der Prähistorie über ein bescheideneres Erkenntnisvermögen verfügte, als dies heute der Fall ist. Wir haben aber gesehen, dass ältere Kulturen die Entwicklung der Menschheit völlig anders auslegten: Sie sprachen von einem Abstieg von der goldenen Zeit des Verkehrs 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1163 mit den Göttern, von einer Zeit, als Götter Lehrer der Menschen waren, bis zum heutigen (eisernen) Zeitalter der Götterverlassenheit des Menschen. Innerhalb eines solchen Deutung der Menschheitsgeschichte ist es durchaus denkbar, dass die frühere Menschheit tatsächlich über einen lebhaften Zugang zur geistig-göttlichen Welt verfügte. Wir müssen heute feststellen, dass jene Quellen der Einsicht in die übersinnliche Welt praktisch vollständig versickert sind und dass die Einblicke in diese Welt, die uns gegenwärtig noch zugänglich sind, sei es durch Medien, sei es durch die parapsychologische Forschung, sei es durch die Berichte von Menschen, die durch Nahtoderlebnisse hindurchgegangen sind oder von sog. Ende-des-Lebens-Erscheinungen zu berichten wissen, unzuverlässig und oft widersprüchlich sind. Was sie liefern, ist ein dünnes und unsicheres Echo einer Wirklichkeit, ein Echo, das zwar ausreichend stark und deutlich ist, um das Leben der Person, die solche Erfahrungen hatte, für immer zu verändern, das aber nicht stark und deutlich genug ist, um auf darauf unsere Lebenspraxis bauen zu können. Bereits am Ende des Kapitels „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ stellte sich deshalb die Frage, ob es möglich ist, mit stärkeren Erkenntnismitteln als flüchtigen und höchst persönlichen Einblicken in diese Wirklichkeit einzudringen, eine wahre Erkenntnis dieser Wirklichkeit zu erlangen, oder ob wir für immer zum bloßen Glauben an diese Wirklichkeit verurteilt sind. Diese Frage kann man jetzt noch präziser und konkreter formulieren: Lässt sich die geistige Wirklichkeit auch wissenschaftlich erforschen? Zunächst mag diese Frage als geradezu absurd erscheinen: Es ist doch selbstverständlich, dass man mit Large Hadron Colliders, Atomic-Force- Mikroskopen oder Hubble-Teleskopen und dergleichen nie in eine irgendwie geartete übersinnliche Wirklichkeit wird eindringen können. Wir haben aber auch gesehen, dass eine für die heutige Wissenschaft schroffe, gleichsam reflexartige Ablehnung der Möglichkeit der wissenschaftlichen Erforschung der übersinnlichen Wirklichkeit schon deshalb zu kurz greift, weil, wie Rescher zeigte, man heute unmöglich die künftige Entwicklung der Wissenschaft voraussagen und sie noch weniger festlegen kann. 302 Es gibt aber auch zumindest einen anderen Grund, die Möglichkeit der wissenschaftlichen Erforschung der übersinnlichen Wirklichkeit nicht a priori abzulehnen: Es zeigt sich, dass die heutige Wissenschaft weit vom Ideal einer perfekten und zuverlässigen Wissensgewinnungsmethode entfernt ist. Wir haben im Kapitel „ Was ist Wissenschaft? “ gesehen, dass es drei (verbleibende) Hauptelemente 303 des „ kleinsten gemeinsamen Nenners “ der (Natur-) 302 „ [P]resent-day science cannot speak for future science: it is in principle impossible to make any secure inferences from the substance of science at one time about its substance at a significantly different time. The prospect of future scientific revolutions can never be precluded “ (Rescher 1999, S. 103, Hervorhebung im Original, MBM). 303 Wenn man das vierte Element, den heute immer noch obligatorischen Materialismus der naturwissenschftlichen Erklärungen, fallen lässt. 1164 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Wissenschaft gibt: (Natur-)Wissenschaft muss empirisch sein, muss nachprüfbare bzw. wiederholbare und vor allem objektive Forschungsergebnisse liefern. Was die zwei letzten Punkte betrifft, so hapert es bei der orthodoxen Wissenschaft gewaltig. Ihre Forschungsergebnisse sind grundsätzlich nur bedingt wiederholbar (nicht „ von jedermann zu jeder Zeit “ , sondern lediglich, wenn überhaupt, von den dafür höchstqualifizierten Forschern und unter günstigen Umständen), und viele publizierte Ergebnisse erweisen sich aufgrund mangelhafter Versuchsdurchführung, Betrug etc. als nicht replizierbar (Abschnitt „ Imageprobleme der Naturwissenschaft “ ). Was die Objektivität der wissenschaftlichen Forschungsresultate betrifft, so haben wir gesehen, dass sowohl die Soziologie der Wissenschaft (Abschnitt „ Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung “ ) als auch die feministischen Philosophinnen der Wissenschaft (s. den Abschnitt „ Feministische Wissenschaftstheorie “ ) große Zweifel an der vermeintlichen Objektivität der orthodoxen Wissenschaft erheben. Jene monieren vor allem den unerkannten Einfluss sozialer Einflüsse auf die wissenschaftlichen Forschungsresultate, diese die einseitige Abhängigkeit dieser Resultate vom „ männlichen Verstand “ und die Unterdrückung der Gefühlssphäre im orthodoxen Wissenschaftsprozess. Die Vertreter des Paradigmas der qualitativen Forschung gehen noch weiter und meinen, das Erfordernis der Objektivität der Forschungsresultate sei für die Wissenschaft erstens unerreichbar, zweitens irrelevant (s. den Abschnitt „ Das Paradigma der qualitativen Forschung “ ). Und Denker wie Paul Feyerabend vermuten sogar, dass dieses Ideal für den Menschen gefährlich sei, weil es der Liebe, die für das Zusammenleben der Menschen von zentralen Bedeutung sei, zuwiderlaufe (Feyerabend im Abschnitt „ Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung “ ). Diese Schwierigkeiten deuten darauf hin, dass man hoffen muss, dass bessere Wissensgewinnungsmethoden entwickelt werden. Das Kapitel „ Begriff der Objektivität “ hat gezeigt, dass die prinzipielle Infragestellung der Möglichkeit, objektive Erkenntnis zu erlangen, auf Missverständnissen in Bezug auf den Charakter des Objektivitätsideals beruht. Ich habe dort dargelegt, dass die (epistemische) Objektivität der Forschungsergebnisse nicht durch die Anwendung von Forschungsinstrumenten und mathematischen Methoden der Datenverarbeitung erreicht werden muss und kann, sondern dass sie durch die erfolgreiche Ausschaltung der Subjektivität des Forschers erlangt wird und zwingend den Einbezug einer möglichst vollständigen Urteilsgrundlage voraussetzt. In Klammern lässt sich hinzufügen, dass, wenn die übersinnliche bzw. geistige Welt tatsächlich einen wesentlichen Teil unserer Wirklichkeit ausmacht, die Objektivität der Forschungsergebnisse der orthodoxen, also materialistischen Wissenschaft aufgrund ebendieser Einseitigkeit ihrer Urteilsgrundlage radikal in Zweifel gezogen werden muss. Die obige Analyse des Objektivitätsbegriffs zeigte, dass vor allem die feministische Befürchtung, dass der Forscher/ die Forscherin aus dem Forschungsprozess quasi verbannt werden müsse, um die 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1165 Objektivität der Forschungsergebnisse zu gewährleisten, unbegründet ist (es müssen lediglich die „ subjektivierenden “ Einflüsse - was auch immer unter diesen zu verstehen ist - eliminiert werden). Sie zeigte aber auch, dass sich auf dem Weg zur objektiven Erkenntnis Schwierigkeiten türmen (Aporien der Objektivität), welche das Erreichen dieses Ideals zu verunmöglichen drohen, und dass z. B. die Klärung des Ursprungs unserer Gedanken - die schließlich der alleinige Träger unserer Erkenntnis sind - zwingend Einsicht in das in Dunkelheit umhüllte Sphäre des „ Unbewussten “ verlangt, was wiederum nur durch eine neuartige Wissenschaft zu leisten ist. Die Möglichkeit des Erreichens einer solchen Wissenschaft mag aus der heutigen Perspektive als völlig unrealistisch, ja illusorisch gelten. Was heute unter dem Begriff „ Esoterikforschung “ verstanden wird, scheint als Grundlage für eine solche Wissenschaft untauglich. Wir haben aber gesehen (im Kapitel „ Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus “ ), dass früher allgemein anerkannte wissenschaftliche bzw. wissenschaftstheoretische Selbstverständlichkeiten nach nur ein paar Jahrzehnten in „ Schutt und Asche “ zerfallen können. Dieses Schicksal hat zugegebenermaßen bis jetzt die Fundamente der empirischen Forschungsmethode keineswegs eingeholt. Man muss aber bedenken, dass selbst diese nur ein paar Jahrhunderte und in dem ganz modernen Sinne, der sich auf die Erforschung der materiellen Aspekte der Wirklichkeit beschränkt, eigentlich erst etwa 150 Jahre alt ist und es völlig offen ist, welches Urteil die Menschheit etwa des späten dritten, vierten oder gar fünften Jahrtausends über sie fällen wird. Auf die Notwendigkeit der Offenheit der künftigen Entwicklungen der Wissenschaft deuten nicht nur Reschers theoretische Überlegungen, sondern auch der Umstand, dass sich bereits heute Stimmen erheben, welche z. B. den Begriff der Empirie deutlich breiter fassen wollen, als dies gewöhnlich der Fall ist: Finally, we also wish to make clear immediately that in our view „ empirical “ research includes but is by no means limited to experimental research. Laboratory research using random samples of subjects, control groups, and statistical modes of data analysis can be wonderfully useful, but obsession with this as the only valid means of acquiring new knowledge readily degenerates into „ methodolatry “ [. . .], the methodological face of scientism. Laboratory experimentation certainly does not exhaust the means of obtaining valid and important information. Detailed case studies of special individuals, such as persons displaying rare cognitive skills or having unusual neurological deficits, have often provided unique insights and indisputably can play a valuable role in the evolution of scientific understanding. (Kelly 2010, S. xxviii, Hervorhebung im Original) 304 Wir haben auch gesehen, dass bei vielen Denkern der Gegenwart eine gewisse Sehnsucht nach dem Ausbruch aus dem heutigen Forschungsparadigma lebt. Die Vertreterinnen der feministischen Wissenschaftstheorie hoffen auf die 304 Vgl. Abschnitt „ Kelly et al.: Irreducible Mind. Toward a Psychology for the 21st Century “ im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ . 1166 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Wiedervereinigung von Vernunft und Gefühl, Subjekt und Objekt, Tatsache und Wert, sie sprechen sogar von der Möglichkeit einer Erkenntnisform, welche sich mit der Liebe zum Erkenntnisobjekt vereinbaren lässt. Die Vorreiter des Paradigmas der qualitativen Forschung äußern die Hoffnung auf eine Annäherung von Wissenschaft und Spiritualität. C. G. Jung hatte die Möglichkeit vor Augen, dass man Wissen auf einem anderen als dem intellektuellen Weg erlangt; Thomas Nagel meinte, dass eine Selbsttransformation des Forschers nötig ist, um wahrhaftig objektive Erkenntnisse erlangen zu können, 305 womit er eigentlich die Tradition Francis Bacons aufgreift, welcher der Ansicht war, dass der Mensch „ umgebaut “ werden müsse, um der Natur ein getreuer Spiegel zu sein. Paul Feyerabend äußerte sogar die verrückt anmutende Vermutung, dass wir eine Traumwelt brauchen, um die wirkliche Welt entdecken zu können, eine Vermutung, die vielleicht weniger verrückt scheint, wenn man sich der rätselhaften Worte Shakespeares aus seinem letzten Drama The Tempest erinnert: „ We are such stuff/ As dreams are made on, and our little life/ Is rounded with a sleep “ (The Tempest 4. 1. 156 - 158). Sind solche Wünsche und Hoffnungen bloß Träume einiger wenigen Fantasten oder vielleicht doch mehr? Auf den folgenden Seiten werde ich zu zeigen versuchen, dass mit Rudolf Steiners Geisteswissenschaft die von vielen erwünschte und erhoffte Wissenschaft der geistigen Welt vorliegt, eine Wissenschaft, die zwar bereits seit mehr als einhundert Jahre existiert, die aber immer noch nicht als eine solche anerkannt ist und deshalb immer noch als künftige Wissenschaft gelten muss. Diese Wissenschaft öffnet den Weg aus der „ selbstverschuldeten Unmündigkeit “ 306 der heutigen materialistischen Forschungsmethode, wobei Unmündigkeit nicht im Sinne „ des Mangels der Entschließung und des Mutes, sich [des Verstandes] ohne Leitung eines anderen zu bedienen “ zu verstehen ist, sondern des Mangels der Entschließung, sich höherer Erkenntnisfähigkeiten als der des Verstandes „ ohne Leitung eines anderen “ zu bedienen. Ein iPhone und ein Grashalm Wir haben bereits festgestellt, dass sich scheinbar unbedeutende Beobachtungen später als bahnbrechend, ja das Weltbild revolutionierend erweisen können. Ich möchte dieses Kapitel mit einer alltäglichen Beobachtung beginnen, die zunächst nichtssagend ist, die sich aber später als wesentlich erweisen wird. Es ist Frühling, und an einem schönen sonnigen Tag gehen wir in einem Park spazieren. Die Aussichten sind prächtig, wir genießen den Spaziergang sehr. Wir sehen viele andere spazierende Menschen, Kinder spielen, Hunde tollen herum. Es ist friedlich, es ist schön. Plötzlich sehen wir 305 „ Since we can ’ t literally escape ourselves, any improvement in our beliefs has to result from some kind of self-transformation “ (Nagel 1986, S. 69). 306 So Kants berühmte Formulierung in seiner Abhandlung „ Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? “ von 1784. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1167 von Weiten jemanden, der mit einem iPhone etwas fotografiert. Das iPhone kommt uns neuartig vor. Es zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Wir wollen es genauer sehen. Vielleicht sollten ich mir ein solches iPhone kaufen? Wir gehen auf den Mann zu und fragen ihn, was für ein iPhone er benutzt, welche Vorteile es hat, wo es erhältlich ist, wie viel es kostet usw. Im Nachhinein kommt eine Reflexion: Um zum Fotografen zu gelangen, sind wir über einen Rasen und an einigen Bäumen und Sträuchern vorbeigegangen. Wir haben sie kaum bemerkt, unsere ganze Aufmerksamkeit war vom iPhone gefesselt, es war für uns viel interessanter als die Bäume, die Sträucher, vielleicht sogar als die schönen Osterglocken, die in kleinen Gruppen auf dem Rasen wuchsen, und als der Fotograf selbst. Dies ist irgendwie selbstverständlich: Jeden Tag sehen wir unzählige Bäume und Sträucher und Blumen und Menschen, und wir bemerken sie kaum. Sie interessieren uns wenig. Aber ein neues iPhone, ein neues Auto, ein neuer Computer ziehen sofort unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich. Auch wenn wir von einem Juwelierladen stehen, in dessen Schaufenster Uhren ausgestellt sind und vielleicht ein paar Tulpen in einer Blumenvase stehen, um die Ausstellung zu schmücken, werden wir die Tulpen, die wir früher nicht gesehen haben, 307 kaum beachten, die Uhren hingegen schon. Diese alltägliche Tatsache ist gleichwohl erklärungsbedürftig. Schließlich ist ein jeder Baum und Strauch, eine jede Blume, ja ein jedes Blatt, sogar ein jeder Grashalm, vom menschlichen Körper ganz zu schweigen, ein wahres Wunder der Komplexität und Perfektion, die mit Abstand alles übertrifft, was von Menschenhand produziert wird. Wir verstehen oder können verstehen, wie das modernste iPhone, der modernste Computer, das modernste Auto und Flugzeug usw. aufgebaut sind und funktionieren. Deshalb können wir sie herstellen. Wir wissen aber, dass die Wissenschaft bis heute nicht imstande ist, die Funktionsweise nur einer einzigen lebendigen Zelle vollständig zu erklären, geschweige denn eine solche aus ihren Grundbausteine zu konstruieren. Und noch weniger sind wir imstande, alle Lebensprozesse, welche in einem Körperorgan (einer Niere, einer Leber, einem Herzen, einem Gehirn) ablaufen, vollständig zu verstehen oder ein solches Organ aus seinen Bestandteilen aufzubauen. Die oft erfolgreichen Versuche, gewisse Organe in der Petrischale herzustellen, widersprechen dieser Behauptung nicht. Denn wir stellen diese Organe nicht selbstständig her, sondern schaffen lediglich im Labor Bedingungen, in welchen sie „ von allein “ wachsen können. Welche Einflüsse dabei wirksam sind, wissen wir letztendlich nicht und wir kontrollieren sie auch nicht. Es wäre ebenso naiv zu meinen, an solchen Wachstumsprozessen ist nur beteiligt, was wir mit unseren Augen und unter unseren Mikroskopen sehen können, wie es naiv war zu meinen, dass so etwas wie Röntgen- oder kosmische Strahlung nicht existiere, weil wir 307 Die Blumen der Gattung Tulpe haben wir selbstverständlich schon mehrmals gesehen, aber nicht diese besonderen Exemplare dieser Gattung. 1168 11 Übersinnliche Forschungsmethoden sie mit unseren Augen und mit unserer Nase nicht wahrnehmen können. Die Welt des Natürlichen bleibt also für uns ein Rätsel und ein Wunder. Wir nehmen sie jedoch nicht so wahr. Was wir als ein faszinierendes Wunder wahrnehmen, ist die Welt der Technik. Wieso aber? Wieso sind wir nicht von der Komplexität und Schönheit, von dem wahren Wunder eines Grashalms, eines Blatts überwältigt? Eine einfache Erklärung bietet sich hier an, die sich aber bei näherem Hinsehen als unzulänglich erweist: Man könnte meinen, die Neuheit spiele hier die entscheidende Rolle. Ich habe am Anfang vorausgesetzt, dass es eine neuartige Fotokamera war, die unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Wenn etwas neu ist, weckt es unsere Neugierde, wenn es vertraut ist, nicht mehr, so die naheliegende Erklärung. Aber ist sie wirklich ausreichend? Ich habe absichtlich unseren imaginären Spaziergang in einem Park in den Frühling verlegt. Denn zu dieser Jahreszeit ist sicher davon auszugehen, dass wir von vielen neuen Grashalmen, Blättern, Blumen usw. umgeben sind. Und dennoch sind sie trotz ihrer Neuheit für uns nicht interessant. Man könnte entgegnen, dass sie neu nur als diese besonderen Exemplare, diese bestimmten Token einer Gattung sind, nicht aber neu als Gattung: Wir haben ähnliche Grashalme, Blätter, Blumen schon Dutzende Male in den vergangenen Jahren gesehen. Aber ist nicht eine Kamera oder ein Computer einer „ Gattung “ , die uns vertraut ist und deren Exemplare wir schon mehrmals gesehen haben, für uns gleichwohl interessanter als ein Naturobjekt? Legen wir ein iPhone und ein Grashalm nebeneinander, was ist für uns faszinierender? Selbstverständlich ein iPhone. Wir haben aber schon Dutzende iPhones gesehen. Wir haben zwar auch schon Millionen von Grashalmen gesehen, aber ich glaube, dass der frappante Unterschied in der Anziehungskraft, die auf uns ein technisches Erzeugnis im Gegensatz zu einem Naturobjekt ausübt, nicht vollständig und ausschließlich durch das Element der Neuheit erklärt werden kann. Worauf soll man diesen Unterschied dann zurückführen? Wir werden an einer späteren Stelle darauf zurückkommen. Wer war Rudolf Steiner? Zunächst möchte ich aber im Einklang mit der bisherigen Gepflogenheit dieses Werkes einen kurzen Blick auf das Leben Rudolf Steiners, des Gründers der Geisteswissenschaft, werfen. Wir haben bereits im vorigen Kapitel gesehen, dass die Biografie eines Autors oder eines Wissenschaftlers ein beträchtliches Licht auf sein Werk und seine Thesen wirft. Wir würden die Einsichten, denen wir z. B. in dem Buch Proof of Heaven begegnet sind, anders beurteilen, wenn wir meinten, sie seien von einem Kind oder von einem ungebildeten Menschen und nicht von einem führenden Neurochirurgen niedergeschrieben. Eine solche biografische Information scheint mir im Falle Steiners Schriften noch unerlässlicher zu sein. Einerseits weil die Behauptungen, die er macht, noch außergewöhnlicher als diejenigen eines Eben 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1169 Alexanders sind, andererseits weil manche Missverständnisse in Bezug auf seine Person im Umlauf sind, welche eine unvoreingenommene Beurteilung von Steiners Werken trüben. Von Autoren wie Helmut Zander (Zander 2007 a und 2007 b, Zander 2011), Heiner Ullrich (Ulrich 2011), Miriam Gebhardt (Gebhardt 2011) wurde in den letzten Jahren insbesondere in der akademischen Öffentlichkeit ein Bild von Steiner gezeichnet, das ihn in die Nähe eines machtgierigen Scharlatans und Plagiators rückt, der einen Großteil seiner vermeintlichen übersinnlichen Einsichten schamlos aus Schriften seiner Vorgänger kopierte, um Einfluss über die unschuldigen und naiven Seelen seiner Bewunderer zu erlangen. Diesem Bild - das m. E. völlig deplatziert ist - lässt sich schwerlich auf einigen wenigen Seiten entgegenwirken. Ich möchte deshalb hier nur auf die umfangreichen Werke von Selg 2013 sowie Heusser und Weinzirl 2014 hinweisen, 308 die dieses Bild entkräften, und mich auf die Schilderung einiger weniger Tatsachen aus Steiners Leben beschränken, die mir für die Beurteilung seines Œ uvres unerlässlich scheinen. Es ist vielleicht angemessen, diese Darstellung mit der Schilderung des Eindrucks anzufangen, den eine Person, die der Anthroposophie keineswegs zugeneigt war und die Rudolf Steiner (1861 - 1925) als einen Vortragenden erlebte, von ihm gewonnen hat. Steiner war in jener Zeit [in Berlin um 1900] noch nicht seiner eigenen Lehre nahegekommen, sondern selber noch ein Suchender und Lernender; gelegentlich trug er uns Kommentare zur Farbenlehre Goethes vor [. . .]. Es war aufregend ihm zuzuhören, denn seine Bildung war stupend und vor allem gegenüber der unseren, die sich allein auf Literatur beschränkte, großartig vielseitig; von seinen Vorträgen und manchem guten privaten Gespräch kehrte ich immer zugleich begeistert und etwas niedergedrückt nach Hause zurück. [. . . E]inem Mann solcher magnetischen Kraft gerade auf jener frühen Stufe zu begegnen [. . .] war für mich ein unschätzbarer Gewinn. An seinem fantastischen und zugleich profunden Wissen erkannte ich, dass die wahre Universalität, derer wir uns mit gymnasiastischer Überheblichkeit schon bemächtigt zu haben meinten, nicht durch flüchtiges Lesen und Diskutieren, sondern nur in jahrelanger, brennender Bemühung erarbeitet werden kann. (Zweig 1981, S. 140f.) Diese Schilderung von Steiners intellektuellen Qualitäten wurde von dem bekannten österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig in seiner Autobiografie gegeben. Schon diese Darstellung - und man könnte sie selbstverständlich durch unzählige Berichte von Anthroposophen ergänzen - macht überdeutlich, dass Steiner eine außergewöhnliche Persönlichkeit war. Die Würdigung seiner Leistung ist heute u. a. dadurch erschwert, dass man den lebendigen Kontakt mit seiner Person verloren hat und durch die gedruckte Fassung 308 Darüber hinaus wären frühere Biografien zu nennen, die Steiner verteidigen (Hemleben 1963; Lindenberg 1997, Swassjan 1995, Ravagli 2009 u. a.). Ihnen kann allerdings vorgehalten werden, dass sie in Unkenntnis der Tatsachen, die von Zander, Ullrich und Gebhardt 2011 ans Licht gebracht wurden, entstanden sind. 1170 11 Übersinnliche Forschungsmethoden seiner in den Vorträgen gesprochenen Worte nicht imstande ist, die Ausstrahlung wiederzugeben, die ihn dabei umgab. Seine geschriebenen Werke sind nämlich so gestaltet, dass die Wärme und die Begeisterung, die ihnen zugrunde liegen, von Steiner bewusst zurückgenommen wurden. Er macht diese Eigenschaft seiner Bücher explizit in seiner Beschreibung des Stils seiner Theosophie: Ich schilderte dem Stile nach nicht so, dass man in den Sätzen mein subjektives Gefühlsleben verspürt. Ich dämpfte im Niederschreiben, was aus Wärme und tiefer Empfindung heraus ist, zu trockener, mathematischer Stilweise. Aber dieser Stil kann allein ein Aufwecker sein, denn der Leser muss Wärme und Empfindung in sich selbst erwachen lassen. (GA28, S. 435f.) Steiners ungewöhnliche Begabungen wurden bereits sehr früh sichtbar. Als etwa siebenjähriger Junge erschien ihm eine kürzlich verstorbene Verwandte und bat ihn um Hilfe (sie hatte Selbstmord verübt), und ihm wurde schlagartig bewusst, dass er Dinge „ sehen “ konnte, die anderen unsichtbar blieben. 309 Bereits mit acht, neun Jahren war ihm die Wirklichkeit der geistigen Welt so gewiss wie die der sinnlichen. Über seine Seelenverfassung zu dieser Zeit schreibt er: Ich hatte zwei Vorstellungen, die zwar unbestimmt waren, die aber schon vor meinem achten Lebensjahr in meinem Seelenleben eine große Rolle spielten. Ich unterschied Dinge und Wesenheiten, ‚ die man sieht ‘ und solche, ‚ die man nicht sieht ‘ . (Ebd., S. 22) Bereits mit zweiundzwanzig wird ihm klar, dass man die gewöhnlichen abstrakten Gedanken überschreiten muss, um zum Wesen der Wirklichkeit kommen zu können: Mir wurde immer klarer, wie durch das Hinwegschreiten über die gewöhnlichen abstrakten Gedanken zu denjenigen geistigen Schauungen, die aber doch die Besonnenheit und Helligkeit des Gedankens sich bewahren, der Mensch sich in eine Wirklichkeit einlebt, von der ihn das gewöhnliche Bewusstsein entfernt. (Ebd., S. 72) Steiner war aber nie ein verträumter Visionär. Im Gegenteil. Er interessierte sich lebhaft für seine Umgebung und (vermittelt durch seinen Vater, einen Angestellten der Südösterreichischen Eisenbahn) auch für die in seiner Heimat reichlich vorhandenen Erzeugnisse des industriellen Zeitalters. Während seiner Schul- und Studienzeit war er ein leidenschaftlicher Schüler. Seine außergewöhnliche Begabung, das Geistesleben seiner Zeit zu durchdringen, wurde bereits während seiner Ausbildung am Realgymnasium sichtbar. Mit etwa 15 Jahren eignete sich Steiner im Selbststudium die Integral- und Differenzialrechnung an, weil er einen Aufsatz seines Schul- 309 Vgl. den von Steiner am 4. 2. 1913 in Berlin gehaltenen autobiografischen Vortrag über seine Kindheits- und Jugendjahre (abgedruckt in den Beiträgen zur Rudolf-Steiner- Gesamtausgabe, Heft 83/ 84, S. 5 - 7). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1171 direktors über Gravitationskraft verstehen wollte (ebd., S. 42.). Bereits früher, mit etwa 14 Jahren, fing er an, Kants Werke zu studieren (ebd., S. 39). Er las generell sehr viel und sehr breit. Er hatte zwar zunächst wenig Geld, sich die Bücher zu kaufen, als er aber an der Technischen Hochschule in Wien, die er nach dem Willen seines Vaters besuchte, zum Bibliothekar der „ Deutschen Lesehalle “ gewählt wurde, ermunterte er die Autoren der Bücher, von denen er glaubte, dass sie für die Studentenbibliothek von Wert sein können, durch „ Pumpbriefe “ , Exemplare ihrer Werke der Bibliothek zu schenken. Durch seine fleißige Arbeit (Steiner schreibt, dass er oft in einer Woche hundert solcher Briefe verfertigte) wuchs die Hochschulbibliothek schnell, und der junge Steiner hatte dadurch die Gelegenheit, die wissenschaftliche, künstlerische, kulturgeschichtliche und politische Literatur seiner Zeit kennen zu lernen. Er schreibt von sich: „ Ich war ein eifriger Leser der geschenkten Bücher “ (ebd., S. 86). Die private Bibliothek Steiners, die er sich später aneignete und die heute im Keller des Rudolf-Steiner-Archivs in Dornach aufbewahrt ist, umfasst über 8000 Bände. Sie ist ein imposantes Zeugnis seines Interesses am Geistesleben der Gegenwart und Vergangenheit. Und in der Tat ist man bei der Lektüre seiner Aufsätze beeindruckt von seiner breiten und tiefen Belesenheit, die so stark auf Stefan Zweig wirkte. Steiners Aufsätze zur Philosophie, Naturwissenschaft, Ästhetik und Psychologie, welche er zwischen 1884 und 1901, also in seiner vortheosophischen bzw. voranthroposophischen Zeit verfasste, umfassen fast 600 Druckseiten (GA30) und behandeln nicht nur die - grob gefasst - goetheanischen Themen - was Steiner aufgrund seiner akademischen Biografie sofort zuzutrauen ist - , sondern auch biografische Skizzen der führenden Forscher der Gegenwart: Eduard von Hartmann, Ernst Haeckel, Hermann Helmholtz, Ludwig Büchner, Hermann Grimm, Jacob Burkhardt usw., wie auch Auseinandersetzungen mit den brennenden wissenschaftlichen Fragen der Zeit: Freiheit bzw. Unfreiheit des Willens, Darwinismus, gegenwärtige Erkenntnistheorie, Psychologie usw. Steiner interessierte sich aber nicht nur für die Welt der Wissenschaft. Seine Aufsätze zur Dramaturgie (vor allem Theaterkritiken), die 1889 - 1900 geschrieben wurden, umfassen 450 Seiten (GA29), die gesammelte Aufsätze zur Kultur und Zeitgeschichte aus den Jahren 1887 - 1901, die auch Steiners Schriften zur Tagespolitik beinhalten, ca. 700 Seiten (GA31), der Band Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884 - 1902 (GA32), welcher Aufsätze, Nachrufe und Würdigungen in Zusammenhang mit zahlreichen bedeutenden Persönlichkeiten des literarischen Lebens, Besprechungen und Beiträge zu wichtigen literarischen Ereignissen und Erscheinungen vom Ende des 19. Jahrhunderts beinhaltet, ca. 490 weitere Seiten. Der Band Biografien und biografische Skizzen 1894 - 1905 (GA33) schließlich, der u. a. die ausführlichen biografischen Einleitungen, die Steiner den von ihm herausgegebenen Ausgaben der Schriften von Arthur Schopenhauer, Jean Paul, Ludwig Uhland und Christoph Martin Wieland beifügte, beinhaltet, hat weitere 400 Seiten. Allein wenn man diese Schriften berücksichtigt, ist die Breite von Steiners 1172 11 Übersinnliche Forschungsmethoden intellektuellem Horizont erstaunlich und zutiefst beeindruckend. Nur nebenbei sei erwähnt, dass Steiner 1891 bei Heinrich von Stein an der Universität Rostock mit der Schrift Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre (später als Wahrheit und Wissenschaft veröffentlicht [GA3]) in Philosophie promovierte, obwohl ihm dafür die gewöhnlichen akademischen Voraussetzungen (er hatte kein Philosophiestudium abgeschlossen) fehlten. Steiners intellektuelle Begabung wie auch sein Arbeitseifer wurden aber bereits früher durch den Umstand bestätigt, dass er sich während seiner Realschulzeit im Selbststudium Griechisch und Lateinisch beibrachte, was ihm später zugute kam, als er die Aufgabe bekam, Gymnasiasten Nachhilfestunden zu geben (GA28, S. 47f.). Nachhilfestunden zu geben war übrigens für den jungen Steiner eine Lebensnotwendigkeit, da seine Familie nicht ausreichend Mittel hatte, um ihm eine selbstständige Existenz außerhalb des Elternhauses zu finanzieren. Einer dieser Lehraufträge erwies sich als prägend für Steiners Leben. Er wurde der reichen jüdischen Familie des Baumwollimporteurs Ladislaus Specht in Wien als Erzieher empfohlen. Einer der vier Söhne der Familie litt unter einem Hydrozephalus und wurde als bildungsunfähig eingestuft. Dem damals 24-jährigen Steiner gelang es jedoch durch besonders geschickte und intensive Lehrmethoden 310 nicht nur, den Jungen so weit zu bringen, dass er innerhalb von zwei Jahren den Volksschulunterricht nachgeholt hatte und die Reifeprüfung für das Gymnasium bestand, sondern auch, dass sich sein Gesundheitszustand wesentlich verbesserte und der Hydrozephalus deutlich abnahm (ebd., S. 106). Der Junge absolvierte danach erfolgreich das Gymnasium und später ein Medizinstudium. Diese Erfahrung bildete vermutlich die entscheidende Grundlage für die Inauguration der Waldorfpädagogik 1919 und von Steiners Heilpädagogik 1924, die (beide) bekanntlich auch heute noch als sehr erfolgreich gelten und sehr hoch angesehen sind. Vor dem Hintergrund seiner ungewöhnlichen intellektuellen Begabung und der Weite seines geistigen Horizontes ist es nachvollziehbar, dass Steiner, der damals Student der technischen Hochschule von Wien war, mit lediglich einundzwanzig auf Empfehlung seines Professors für Deutsche Literatur Karl Julius Schröers von Joseph Kürschner eingeladen wurde, innerhalb der „ Deutschen Nationalliteratur “ die Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften von Goethe mit Einleitungen und Erklärungen zu besorgen. Steiner hat sich offenbar als dieser Aufgabe voll gewachsen erwiesen, denn einige Jahre später wurde ihm ein ähnlicher Auftrag bei der Sophienausgabe von 310 „ Ich mußte mich oft für eine halbe Unterrichtsstunde zwei Stunden lang vorbereiten, um den Unterrichtsstoff so zu gestalten, daß ich dann in der geringsten Zeit und mit möglichst wenig Anspannung der geistigen und körperlichen Kräfte ein Höchstmaß der Leistungsfähigkeit des Knaben erreichen konnte. Die Reihenfolge der Unterrichtsfächer mußte sorgfältig erwogen, die ganze Tageseinteilung sachgemäß bestimmt werden “ (GA28, S. 105f.). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1173 Goethes Schriften durch das Goethe-Archiv in Weimar anvertraut (ebd., S. 150ff.). Steiner blieb von 1890 bis 1897 in Weimar. Abgesehen von seiner mehrjährigen Arbeit an der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften von Goethe, wurde er mit der Herausgabe von Schriften führender Gegenwartsdenker bzw. Schriftsteller beauftragt, was sicherlich für das Vertrauen, das man Steiners intellektuellen Fähigkeiten entgegenbrachte, zeugt. Auch ein weiteres wichtiges Werk Steiners, das heute als der zweite Teil der Rätsel der Philosophie (GA18) bekannt ist und zunächst unter dem Titel Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert als Band XIV und XIX der Reihe Rückschau auf hundert Jahre geistiger Entwickelung erschien, hat mit Anthroposophie oder Theosophie überhaupt nichts zu tun. Es ist wiederum für die Stellung Steiners im damaligen europäischen Kulturleben bezeichnend, dass er angefragt wurde, diesen zentralen Teil der Reihe zu verfassen. (Wenn man die Rätsel der Philosophie liest, so erscheint Steiner durch die Art der Schilderung unterschiedlichsten philosophischen Positionen seit der Antike übrigens als eine Genie der intellektuellen Empathie. Man hat oft das Gefühl, dass er das innerste Anliegen des von ihm betrachteten Denkers besser verstand als dieser selbst.) Um Steiners Leistung und Intentionen hinsichtlich seiner Anthroposophie bzw. Geisteswissenschaft verstehen zu können, muss man also mindestens drei Elemente seiner seelischen und biographischen Ausstattung berücksichtigen. Zum einen seine eingangs erwähnte spontane hellseherische Begabung; zum zweiten seine unerschöpfliche intellektuelle Neugierde, die Breite seines intellektuellen Horizontes, seine ungewöhnliche Belesenheit; und drittens den Umstand, dass er in einer technisch geprägten Umgebung aufgewachsen ist und eine technische Hochschule besuchte. Steiner verstand sich daher weniger als Repräsentant der Geisteswissenschaft (im heutigen akademischen Sinne dieses Begriffes); vielmehr war er zutiefst von der Naturwissenschaft seiner Zeit geprägt. Seine knappe Bemerkung aus dem Brief an Theodor Viescher vom 20. Juni 1882 (Steiner war also 21) ist in dieser Hinsicht äußerst aufschlussreich: „ Meine Berufsstudien sind ja Mathematik und Naturwissenschaft “ (GA38, S. 48). Die gleiche Charakterisierung seiner Studienzeit wiederholt Steiner fast drei Jahrzehnte später im Vortrag vom 29. November 1921: „ Ich selber bin durchaus von naturwissenschaftlicher Bildung ausgegangen “ (GA79, S. 213). Man kann noch weitergehen: Er empfand für die Naturwissenschaft und Mathematik Interesse, ja Begeisterung. So schreibt er, er habe Glück zuerst bei der Geometrie erfahren (GA28, S. 21). Dieses Interesse begleitete ihn durch seine Schulzeit und seine Hochschulausbildung. Steiners naturwissenschaftlicher Wissenshunger war während seines Studiums sogar so stark, dass er durch die Pflichtvorlesungen an der Technischen Hochschule nicht gestillt wurde und sich Steiner veranlasst fühlte, diese freiwillig durch den Besuch zusätzlicher naturwissenschaftlicher Lehrveranstaltungen (ebd., S. 65f.) und eigene Experimente (ebd., S. 97) zu ergänzen. Auch in seinem späteren Leben wurde er durch unterschiedliche 1174 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Schicksalsfügungen ( „ Nachhilfestunden “ für einen preußischen Offizier in Wien (ebd., S. 101f.), naturwissenschaftliche Vorlesungen an der Berliner Arbeiterschule (ebd., S. 377f.) immer wieder angehalten, sich hinsichtlich der naturwissenschaftlichen Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Seine mathematisch-wissenschaftliche Kompetenz bestätigten auch drei naturwissenschaftliche Kurse (GA320; GA321; GA323), in welchen er zu den Fachleuten auf und über ihrem Niveau sprach. Vor diesem Hintergrund kann man eine Feststellung besser verstehen, die im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Anthroposophie und Naturwissenschaft äußerst wichtig ist. Seine seelische Situation um das 20. Lebensjahr herum charakterisierend, schreibt Steiner in seiner Autobiografie: Eine geistige Schauung stellte sich mir vor meine Seele hin, die nicht auf einem dunklen mystischen Gefühle beruhte. Sie verlief vielmehr in einer geistigen Betätigung, die an Durchsichtigkeit dem mathematischen Denken sich voll vergleichen ließ. Ich näherte mich der Seelenverfassung, in der ich glauben konnte, ich dürfte die Anschauung von der Geisteswelt, die ich in mir trug, auch vor dem Forum des naturwissenschaftlichen Denkens für gerechtfertigt halten. (GA28, S. 72) Dem Verhältnis der Geisteswissenschaft zur Naturwissenschaft bei Steiner werde ich mich im nächsten Abschnitt widmen. Zuvor möchte ich noch einen Aspekt von Steiners Persönlichkeit kurz beleuchten. Steiner wird von seinen akademischen Biografen oft des Opportunismus bezichtigt. Man behauptet, er sei der Theosophischen Gesellschaft nicht beigetreten, weil diese Organisation seinen Überzeugungen entsprach, sondern weil er darin eine Gelegenheit erblickte, um seine Karriere voranzubringen und ein Publikum zu gewinnen, dem er seine Ansichten und Visionen „ predigen “ konnte (vgl. ähnlich Feststellungen, die in dieser Richtung gehen, in Gebhardt 2011, S. 166, Ullrich 2011, S. 48 und Zander 2011, S. 169f., wobei Zander mehr auf angebliche Machtgelüste Steiners als auf seinen Opportunismus abhebt). Demgegenüber muss festgehalten werden, dass sich Steiner in der Theosophischen Gesellschaft keineswegs als Opportunist verhielt. Ganz im Gegenteil: Bereits lange vor der Affäre mit Krishnamurti, 311 welche zum endgültigen Bruch mit der Theosophischen und zur Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft führte, machte Steiner unmissverständlich deutlich, dass er innerhalb der Theosophischen Gesellschaft einen eigenen Weg zu gehen gedenkt. So bestand er z. B. im krassen Gegensatz zum zweiten Leitsatz der Theosophischen Gesellschaft 312 darauf, dass er nur die Ergebnisse eigener übersinnlichen Forschung vorträgt. Das stand zwar im vollen Einklang mit 311 Der für Annie Besant, der damaligen Leiterin der Theosophischen Gesellschaft, die Reinkarnation Christi war, eine Behauptung, die Steiner für völlig unannehmbar, ja absurd hielt. 312 „ Der Zweck des Vereins ist: [. . .] b. anzuregen zur Vergleichung der Religionssysteme und zum Studium der Philosophie und der Wissenschaft “ (Zander 2007 a, S. 166). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1175 dem dritten Leitsatz der Gesellschaft, 313 was Steiner ermöglichte, aufrichtig innerhalb dieser Gesellschaft zu wirken, aber Steiners polemische Haltung zu der auf das Studium der alten, besonders östlichen esoterischen Literatur ausgerichteten Aktivitäten der Mitglieder der Gesellschaft wird in mancher seiner Äußerungen ersichtlich: Menschen, welche in der Lage sind, den Blick hinaufzuwenden in die geistigen Welten und in diesen so zu schauen, wie sonst der Mensch mit sinnlichen Augen in der äußeren Welt schaut, wie er mit seinem Verstande die äußere Welt begreift, die hat es ja nicht nur in den alten Zeiten gegeben, die gibt es zu allen Zeiten der Menschheitsentwickelung, die gibt es auch heute; und zu keiner Zeit ist die Menschheit darauf angewiesen, bloß geschichtlich überlieferte Wahrheiten zu lehren und zu betrachten [. . .]. (GA113, S. 26) 314 In der Fortsetzung dieser Passage macht Steiner auch deutlich, dass er nichts von der Behauptung hält, die Quelle der Weisheit befinde sich am Sitz der Theosophischen Gesellschaft Adyar: [E]bensowenig ist die Menschheit darauf angewiesen, diese Lehren über die höheren Welten von irgendeinem besonderen physischen Orte her zu empfangen. Überall in der Welt kann der Quell höherer Weisheit und höherer Erkenntnis fließen. (Ebd.) Jemand, der darauf aus ist, sich seinem Publikum anzubiedern, hätte sich solche Provokationen wohl erspart. Sehr bedeutsam in diesem Zusammenhang ist auch, dass schon zu Beginn seiner theosophischen Tätigkeit in Berlin, d. h. bereits im Winter 1901/ 1902, Steiner mit aller Eindringlichkeit über die zentrale Stellung der Inkarnation Christi für die Entwicklung der Menschheit sprach. Die Inhalte seiner diesbezüglichen Vorträge erschienen bereits 1902 unter dem Titel Das Christentum als mystische Tatsache (GA8) in Buchform. Die Wahl ausgerechnet dieses Themas zeugt von einer Haltung, die von Opportunismus weit entfernt war. Schließlich hielte Helena Blavatsky in Isis Unveiled nicht besonders viel vom Christentum, und folglich betrachtete die Theosophie das Christentum als im besten Fall mit anderen Religionen gleichwertig und die Inkarnation Christi als nur eine von vielen Inkarnationen großer geistiger Führer auf der Erde. Das wiederum bereitete den Weg, den jungen Krishnamurti als eine Reinkarnation Christi zu betrachten, was zum endgültigen Bruch Steiners mit der Theosophischen Gesellschaft führte. Steiner verhielte sich von Anfang an sehr polemisch zu dem theosophischen Dogma von der Einheit und Gleichheit aller Religionen. In schroffem Widerspruch unterstrich er wiederholt die Überlegenheit des Christentums über andere Religionen und betonte das Prinzip der Entwicklung im Kontrast zur 313 Der Zweck des Vereins ist: c. die noch unerklärten Naturgesetze und die im Menschen schlummernden Kräfte zu erforschen (Zander ebd.). 314 Vgl. auch z. B. GA113, S. 79f. und 83, wo Steiner die Unabhängigkeit seiner Forschungsresultate von den schriftlich überlieferten, besonders den östlichen Weisheiten betont. 1176 11 Übersinnliche Forschungsmethoden bloßen Wiederholung des Gleichen im geistigen Leben der Menschheit (vgl. z. B. GA104, S. 29; GA113, S. 83 - 85). Rudolf Steiner und die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie; Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft Das Thema der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie und des Verhältnisses der Anthroposophie zur Naturwissenschaft war eines der zentralen Anliegen Steiners vom Anfang seiner theosophischen und später anthroposophischen Tätigkeit bis zum Ende seines Lebens. 315 Von der Wichtigkeit dieses Anliegens mag die Häufigkeit zeugen, mit welcher Steiner sich dem Thema zuwandte. Ich habe vor kurzem ein Buch herausgegeben, das Steiners Aussagen zu diesem Themenkreis zusammenstellt (Majorek 2011). Aus unterschiedlichen Gründen hat sich die Geldgeberin des Projektes, die Pädagogische Forschungsstelle im Bund der Freien Waldorfschulen in Deutschland, mit dem künftigen Verlagshaus, dem Steiner bzw. Futurum Verlag, darauf geeinigt, dass das Buch den Umfang von 250 Seiten nicht überschreiten soll. Es stellte sich aber sehr bald heraus, dass allein innerhalb der von Steiner selbst geschriebenen Werke (Bücher und Aufsätze, enthalten in GA1 bis GA45) und seiner öffentlichen Vorträge (enthalten in GA51 bis GA84) ca. 750 Seiten vorhanden waren, die für das Thema relevant sind, von den übrigen ca. 280 Bänden der GA ganz zu schweigen. Dabei muss bedacht werden, dass noch immer nicht alle Vorträge Steiners, ja nicht einmal alle öffentlichen Vorträge publiziert worden sind. Für die einigermaßen ausführliche Behandlung des Themas des Verhältnisses zwischen Steiners Geisteswissenschaft und der Naturwissenschaft sei der Leser auf das oben erwähnte Buch verwiesen; im Folgenden werde ich lediglich das hier Nötigste skizzenhaft schildern. Bevor wir jedoch Steiners Ansichten zum Verhältnis zwischen seiner Anthroposophie bzw. und der Wissenschaft genauer untersuchen können, muss ein mögliches Missverständnis ausgeräumt werden. Bekanntlich benutzte Steiner für die von ihm initiierte Gedankenrichtung abwechselnd die Bezeichnung „ Anthroposophie “ oder „ Geisteswissenschaft “ . Manchmal sprach er auch von einer „ anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft “ . Die Bezeichnung „ Geisteswissenschaft “ , besonders wenn man sie im deutschsprachigen Raum gebraucht, für welchen auch in methodischem Sinne die von Dilthey eingeführte scharfe Trennung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften prägend ist, mag den Eindruck erwecken, dass es sich bei der Anthroposophie um eine Geisteswissenschaft im akademischen Sinne 315 Für die ausführliche Begründung dieser Feststellung vgl. Majorek 2011. In diesem Punkt muss ich Jost Schierens Behauptung, dass die „ theosophisch geprägten Veröffentlichungen [Steiners], insbesondere die später publizierten Vortragszyklen, [. . .] weniger einen wissenschaftlichen Anspruch als sein philosophisches Frühwerk [erheben] “ (Schieren 2011, S. 230), entschieden widersprechen. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1177 handelt, also eine Wissenschaft der Art, wie es die Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft, Sprachwissenschaft oder Kunstwissenschaft sind. Dies ist nicht der Fall. Steiner belegte Anthroposophie (und in der voranthroposophischen Phase seines Schaffens, also vor seiner Trennung von der Theosophischen Gesellschaft im Jahr 1913, auch Theosophie) sehr oft mit der Bezeichnung „ Geisteswissenschaft “ , 316 um der Tatsache Ausdruck zu verleihen, dass die von ihm vermittelten Gegenstände Resultate seiner eigener übersinnlichen Forschung waren, 317 einer Forschung, die in Genauigkeit und Zuverlässigkeit der naturwissenschaftlichen Forschung in keiner Weise unterlegen waren. Diese Überzeugung fand ihren prägnantesten Ausdruck in den 1923 verabschiedeten Statuten der neugegründeten Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, wo es heißt, dass die Ergebnisse der übersinnlichen Forschung „ auf ihre Art so exakt wie die Ergebnisse der wahren Naturwissenschaft [sind] “ (GA260, S. 49). Steiner benutzte also die Bezeichnung „ Geisteswissenschaft “ nicht, um eine akademische Disziplin zu benennen, die sich mit dem „ Geist “ im Sinne eines Produktes der menschlichen „ geistigen Tätigkeit “ befasst, sondern im ursprünglichen Sinne der Wissenschaft des Geistes, des Geistes also, der die Quelle und Ursprung des menschlichen Geistes, auch menschlicher „ geistiger Fähigkeiten “ ist. Diese Sicht der Verhältnisse findet einen klaren Ausdruck in der „ Definition “ der Anthroposophie, welche Steiner am Ende seines Lebens formulierte: „ Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte “ (GA26, S. 14). Es können also keine Zweifel darüber bestehen, dass Steiner seine Anthroposophie bzw. Geisteswissenschaft als eine Fortsetzerin des Forschungsgeistes der Naturwissenschaft in seiner Anwendung auf die übersinnlichen Gebiete betrachtete, die sich berechtigterweise als eine Wissenschaft bezeichnen darf. Exemplarisch ist hier eine relativ frühe Feststellung, die sich in der Vorbemerkung zur schriftlichen Fassung eines 1908 in Stuttgart gehaltenen Vortrages findet: Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer bloßen Natur-Erkenntnis ebenso wie diejenigen der gewöhnlichen Mystik durchschaut, und die, bevor sie den Versuch macht, in die übersinnliche Welt einzudringen, in der erkennenden Seele erst die 316 Vgl. z. B. GA52 (öffentliche Vorträge aus den Jahren1903 - 1904), S. 44, 221, 302, 303, 304; GA53 (öffentliche Vorträge aus den Jahren 1904 - 1905), S. 109, 125, 196; GA54 (öffentliche Vorträge aus den Jahren 1905 und 1906), S. 20, 22, 24, 27, 28, 49, 50 usw. 317 Diese Behauptung bezieht sich bereits auf die frühesten esoterischen Schriften Steiners. Vgl. GA28: „ Was im Christentum als mystische Tatsache [erst Veröffentlichung 1902] an Geist-Erkenntnis gewonnen ist, das ist aus der Geistwelt selbst unmittelbar herausgeholt. Erst um Zuhörern beim Vortrag, Lesern des Buches den Einklang des geistig Erschauten mit den historischen Überlieferungen zu zeigen, nahm ich diese vor und fügte sie dem Inhalte ein. Aber nichts, was in diesen Dokumenten steht, habe ich diesem Inhalte eingefügt, wenn ich es nicht erst im Geiste vor mir gehabt habe “ (GA28, S. 365f.). 1178 11 Übersinnliche Forschungsmethoden im gewöhnlichen Bewußtsein und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen. - Eine solche Geisteswissenschaft gilt der anerkannten Philosophie zumeist als eine dilettantische Betrachtungsart. Durch eine kurze Darstellung des Entwicklungsganges der Philosophie versuche ich, zu zeigen, daß dieser Vorwurf völlig unberechtigt ist [. . .]. (GA35, S. 66) Vielleicht noch deutlicher heißt es in dem Aufsatz „ Was soll die Geisteswissenschaft und wie wird sie von ihren Gegnern behandelt? “ , der im „ Tagblatt für das Birseck, Birsig- und Leimental “ in Februar 1914 veröffentlicht wurde: Geisteswissenschaft ist die wahre Fortsetzerin der naturwissenschaftlichen Forschung dadurch, daß sie das Gebiet des Geistes mit denjenigen Mitteln zu erkennen strebt, welche für dieses Gebiet tauglich sind. Als Fortsetzerin der Naturwissenschaft kann sie nicht selbst bloße Naturwissenschaft sein. Denn diejenigen Mittel, welche dieser Wissenschaft so gewaltige Triumphe gebracht haben, vermochten dies eben aus dem Grunde, weil sie der Erforschung der Natur im höchsten Maße angepaßt waren, und weil diese Forschung sie nicht durch andre - nicht für das Naturgebiet geeignete - beeinträchtigt hat. Um auf dem Gebiete des Geistes ein Ähnliches zu leisten, wie Naturwissenschaft auf dem der Natur geleistet hat, muß Geisteswissenschaft andere Erkenntnisfähigkeiten zur Entwickelung bringen, als die in der Naturforschung anwendbaren sind. (GA35, S. 159, Hervorhebung im Original) 318 Ähnlich argumentiert Steiner in den Aufsätzen „ Anthropologie und Anthroposophie “ und „ Skizzenhafte Erweiterungen des Inhaltes dieser Schrift “ in Von Seelenrätseln (GA21) 319 , wo er explizit für die Erweiterung der „ Anthropologie “ , unter welcher er eine „ auf Sinnesbeobachtung und verstandesgemäße Bearbeitung der Sinnesbeobachtung gestützte Wissenschaftsrichtung “ (GA21, S. 12) versteht, durch die Anthroposophie plädiert, die da „ [meint] beginnen zu können, wo Anthropologie aufhört “ (ebd., S. 13). Steiner betonte wiederholt, dass die Gesinnung der Geisteswissenschaft völlig mit der Gesinnung der strengen modernen Naturwissenschaft übereinstimmt und den Kriterien der Stringenz und Zuverlässigkeit, welche gewöhnlich mit den naturwissenschaftlichen Ergebnissen assoziiert werden, voll entspricht. So stellte er im Kapitel „ Der Charakter der Geheimwissenschaft “ eines seiner anthroposophischen Hauptwerke Geheimwissenschaft im Umriss paradigmatisch Folgendes fest: Geheimwissenschaft will die naturwissenschaftliche Forschungsart und Forschungsgesinnung, die auf ihrem Gebiete sich an den Zusammenhang und Verlauf der sinnlichen Tatsachen hält, von dieser besonderen Anwendung loslösen, aber sie in ihrer denkerischen und sonstigen Eigenart festhalten. Sie will über Nicht- 318 Vgl. auch GA28, S. 410: „ So strebte ich darnach, in der Anthroposophie die objektive Fortsetzung der Wissenschaft zur Darstellung zu bringen, nicht etwas Subjektives neben diese Wissenschaft hinzustellen. “ 319 Benediktus Hardorp nahm in seiner wertvollen Verteidigung der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie explizit Bezug auf dieses grundlegende Werk (Hardorp 2011). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1179 sinnliches in derselben Art sprechen, wie die Naturwissenschaft über Sinnliches spricht. Während die Naturwissenschaft im Sinnlichen mit dieser Forschungsart und Denkweise stehenbleibt, will Geheimwissenschaft die seelische Arbeit an der Natur als eine Art Selbsterziehung der Seele betrachten und das Anerzogene auf das nichtsinnliche Gebiet anwenden. Sie will so verfahren, dass sie zwar nicht über die sinnlichen Erscheinungen als solche spricht, aber über die nichtsinnlichen Weltinhalte so, wie der Naturforscher über die sinnenfälligen. Sie hält von dem naturwissenschaftlichen Verfahren die seelische Verfassung innerhalb dieses Verfahrens fest, also gerade das, durch welches Naturerkenntnis Wissenschaft erst wird. Sie darf sich deshalb als Wissenschaft bezeichnen. (GA13, S. 36) 320 In einem in Stuttgart am 17. 5. 1913 gehaltenen Vortrag stellte Steiner fest, dass die Geisteswissenschaft „ in ihrer Methode, in ihrer ganzen Anschauung ganz nach dem Muster der Naturwissenschaft ihre Arbeit leistet “ (GA69a, S. 225), und fügte hinzu: „ Die Methode der Geisteswissenschaft ist zwar eine tief innerliche, aber doch von demselben Geist beseelt wie die äußere Naturwissenschaft “ (ebd.). Die Bezeichnung „ Geisteswissenschaft “ war also kein Zufall: Steiner galt die Wissenschaftlichkeit seiner Anthroposophie bzw. der „ anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft “ 321 als ausgemacht. 322 Rudolf Steiner behandelte das Thema der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie nicht nur bis in seinen späten öffentlichen Vorträge, 323 320 Für zahlreiche weitere Äußerungen Steiners zum Verhältnis der Anthroposophie zur Naturwissenschaft vgl. Majorek 2011 (bes. Kapitel III: Vorreden und Einführungen; Kap. IV: Geisteswissenschaft als Fortsetzung der Naturwissenschaft; Kapitel V: Kritik [der Geisteswissenschaft durch Naturwissenschaft] unbegründet; Kapitel VI: Wissenschaft als Erzieherin [der Seelenkräfte]; Kapitel VII: Mathematik und Geisteswissenschaft). 321 Vgl. z. B. GA35, S. 215; GA73, S. 216; GA75, S. 19. 322 Da Veiga stellte 2011 völlig zu Recht fest: Die anthroposophische Geisteswissenschaft Steiners [. . .] versteht sich selbst als methodisch gesicherte Erkenntnis, deren Ziel die Erschließung und Darstellung geistiger Wirklichkeitsbereiche ist. In diesem Sinne sieht sie sich selbst als Wissenschaft “ (Da Veiga 2011, S. 326). 323 Vgl. GA84, insbesondere die Vorträge vom 9. 4. 1923 (Basel), 27. und 30. 4. 1923 (Prag) und 26. und 29. 9. 1923 (Wien). Vgl. auch den in Torquay in England gehaltenen Vortrag vom 11. 8. 1924: „ Es ist mir der Wunsch ausgedrückt worden, in diesen Vorträgen zu sprechen über die Wege in die übersinnliche Welt, in das geistige Leben hinein, die Wege, welche zu übersinnlichen Erkenntnissen führen und die sich vereinigen können mit den in so großer, schöner Weise in der neueren Zeit gegangenen Wegen zur Erkenntnis der sinnlichen, der physischen Welt. Denn nur derjenige Mensch kann die Wirklichkeit erkennen, der zu den großen, bewunderungswürdigen Erkenntnissen, welche die Naturwissenschaft, die historische Wissenschaft, welche anderes Erkennen in der neueren Zeit geleistet hat, hinzufügt dasjenige, was man in bezug auf die geistige Welt wissen kann. Überall, wo uns die Welt entgegentritt, ist sie in Wahrheit geistig und physisch, und es gibt nirgends ein Physisches, das nicht hinter sich in irgendeiner Weise als den eigentlichen Akteur ein Geistiges hätte. Und es gibt nicht irgendein Geistiges, das, nur um sich zu langweilen in der Welt, ein wesenloses, tatenloses Dasein führte, sondern jedes Geistige, das irgendwo gefunden werden kann, wird auch bis ins Physische hinein zu irgendeiner Zeit oder an irgendeinem Orte wirksam “ (GA243, S. 11). 1180 11 Übersinnliche Forschungsmethoden sondern auch noch in dem einige Monate vor seinem Tod, Ende Oktober 1924 geschriebenen Brief an die Mitglieder und in den entsprechenden Leitsätzen. 324 Dort stellte er, das Thema einigermaßen abschließend, Folgendes fest: Anthroposophie schätzt in rechter Art, was die naturwissenschaftliche Denkweise gelernt hat, seit vier bis fünf Jahrhunderten über die Welt zu sagen. Aber sie spricht außer dieser Sprache eben noch eine andere über das Wesen des Menschen, über die Entwickelung des Menschen und über das Werden des Kosmos; sie möchte die Christus-Michael 325 -Sprache sprechen. Denn werden beide Sprachen gesprochen, dann wird die Entwickelung nicht abreißen und vor dem Finden des ursprünglich Göttlich-Geistigen auf das Ahrimanische übergehen können. Die bloße naturwissenschaftliche Art zu sprechen, entspricht der Loslösung der Intellektualität von dem ursprünglich Göttlich- Geistigen. Sie kann ins Ahrimanische übergehen, wenn der Mission Michaels nicht geachtet wird. Sie wird es nicht, wenn der frei gewordene Intellekt sich durch die Kraft des Michael-Vorbildes wieder findet in der vom Menschen losgelösten, ihm gegenüber objektiv gewordenen ursprünglichen kosmischen Intellektualität, die im Quell des Menschen liegt und die in Christus innerhalb des Menschheitsbereiches wesenhaft erschienen ist, nachdem sie aus dem Menschen zur Entfaltung seiner Freiheit gewichen war. (GA26, S. 98f.) Wie bereits erwähnt, stand das Problem der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie auch auf dem Programm der Weihnachtstagung der Anthroposophen 1923/ 1924, die Steiner zwecks einer grundlegenden Neukonstituierung der Anthroposophischen Gesellschaft einberief. Die während dieser Tagung verabschiedenden Statuten weisen deutliche Spuren der entsprechenden Überlegungen auf. So lautet § 2: Den Grundstock dieser Gesellschaft bilden die in der Weihnachtszeit 1923 am Goetheanum in Dornach versammelten Persönlichkeiten, sowohl die Einzelnen wie auch die Gruppen, die sich vertreten ließen. Sie sind von der Anschauung durchdrungen, dass es gegenwärtig eine wirkliche Wissenschaft von der geistigen Welt schon gibt und dass der heutigen Zivilisation die Pflege einer solchen Wissenschaft fehlt. Die Anthroposophische Gesellschaft soll diese Pflege zu ihrer Aufgabe haben. (GA260, S. 118) Und § 3 enthält die folgende Feststellung hinsichtlich des Charakters der Ergebnisse der übersinnlichen Forschung: „ Diese Ergebnisse sind auf ihre Art so exakt wie die Ergebnisse der wahren Naturwissenschaft “ (GA260, S. 49). Ein weiterer Hinweis darauf, dass Rudolf Steiner seiner Anthroposophie bzw. Geisteswissenschaft den Status einer Wissenschaft im akademischen Sinne zugesprochen haben wollte, ist der Umstand, dass er bereits verhält- 324 Vgl. den Brief „ Menschheitszukunft und Michael-Tätigkeit “ vom 25. Oktober 1924 (GA26, S. 94 - 98) und die Leitsätze Nr. 112 bis 114 (GA26, S. 99f.). 325 Welche Bedeutung man mit dem Begriff „ Michael “ oder „ Ahriman “ genau verbinden soll, werde ich im Kapitel „ Einige Erkenntnisresultate der Geisteswissenschaft “ erläutern. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1181 nismäßig früh, nämlich 1911, die Idee der Gründung einer Hochschule fasste, welche sich der Pflege dieser Wissenschaft widmen sollte: Der Gedanke einer Hochschule für Geisteswissenschaft ist die notwendige Konsequenz, die aus der Auslieferung des spirituellen Wissens, dessen unsere Zeit gewürdigt worden ist, gezogen werden muss. Es ist heute schon durchaus möglich, wenn wir die unter uns wirkenden Mitarbeiter Revue passieren lassen, für fast alle Einzelgebiete Lehrkräfte namhaft zu machen, die, soweit Erkundigungen vorliegen, gerne bereit wären, einen Lehrauftrag zu übernehmen. Damit aber würde Geisteswissenschaft erst der Aufgabe gerecht werden können, die ihr von Anfang gestellt war: Alle Gebiete des Lebens zu befruchten. Die Hochschule für Geisteswissenschaft wird das entwicklungsfähige Wissen der Akademien dort aufnehmen, wo seine offiziellen Vertreter es heute in Materialismus erstarren lassen und es hinaufführen zu dem Wissen vom Geiste und hineinleiten in jenen Tempel, in welchem seine Vereinigung mit Kunst und Religion das lebendige Mysterium ermöglicht. (GA337a, S. 324) Bereits damals war auch die Idee vorhanden, dieser Hochschule einen ihr angemessenen Bau zu errichten. In einem am 13. März 1914 in Basel gehaltenen öffentlichen Vortrag machte Steiner deutlich, dass ein solcher Bau kein Tempel im religiösen Sinne, sondern eine Stätte für die Hochschule für Geisteswissenschaft sein wird: „ Ein Tempel wird es nicht sein, aber man muss eine Bezeichnung haben [. . .]. Will man einen Namen haben, so kann man sagen: Es wird eine freie Hochschule für Geisteswissenschaft sein “ (ebd.; vgl. auch z. B. GA35, S. 156). Ein solcher Bau wurde dann bekanntlich in Gestalt des ersten Goetheanums von 1913 (am 20. 9. 1913 erfolgte die Grundsteinlegung) bis 1922 realisiert. Dieses Goetheanum, hauptsächlich aus Holz konstruiert, wurde zwar bereits am 25. September 1920 eröffnet, war aber immer noch nicht ganz fertig, als es in der Silvesternacht 1922/ 1923 durch einen höchstwahrscheinlich gezielt gelegten Brand vollständig zerstört wurde. Für Steiner war klar, dass das Goetheanum als Sitz der Freien Hochschule für die Geisteswissenschaft wieder erbaut werden muss, weshalb er in § 4 der Statuten der neu konstituierten Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft festhielt, dass diese Hochschule mit ihrem Bau existiere: Die Anthroposophische Gesellschaft ist keine Geheimgesellschaft, sondern eine durchaus öffentliche. Ihr Mitglied kann jedermann ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion, der wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung werden, der in dem Bestand einer solchen Institution, wie sie das Goetheanum in Dornach als Freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist, etwas Berechtigtes sieht. (GA260, S. 50) Wir haben gesagt, dass Rudolf Steiner seine Geisteswissenschaft als eine Fortsetzerin der Naturwissenschaft betrachtete. Allerdings wollte er in seiner Forschung wesentlich weiter gehen, als es die gewöhnliche Naturwissenschaft tut. Deshalb die Bezeichnung „ Fortsetzerin “ , welche impliziert, dass man das bereits Gewonnene zwar einbeziehen, aber weiterentwickeln will. Seine Geisteswissenschaft wollte den akademischen Materialismus über- 1182 11 Übersinnliche Forschungsmethoden winden und „ zu dem Wissen vom Geiste hinaufführen “ (GA337a, S. 324), „ das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen “ (GA26, S. 14). Man sollte nicht der falschen Annahme verfallen, dass Steiner mit dem „ Wissen vom Geiste “ irgendwelche blasse Theorie oder auf dem gegen das Ende des 19. Jahrhunderts populär gewordenen Weg des Mediumismus erlangte Einblicke in die Welt jenseits des Todes meinte. Nein, Geisteswissenschaft sollte dem Menschen die Tür zur realen geistigen Welt öffnen, zu einer Welt, die der Ursprung und die wahre Ursache der durch die leiblichen Sinne wahrnehmbaren Welt ist: Bevor [der Mensch] solche Übungen 326 anstellt, erkennt er sich als eine Wesenheit, welche durch körperliche Organe von sich und von der Welt etwas weiß. Nach solchen Übungen weiß er, daß er ein Leben in sich entfalten kann, auch ohne daß ihm seine körperlichen Organe ein solches Leben vermitteln. Er weiß, daß er sich geistig abtrennen kann von seinem physischen Körper und daß er durch diese Abtrennung nicht in den Zustand der Bewußtlosigkeit versinken muß. Und er erlangt nicht nur von sich selbst eine solche Erkenntnis, sondern auch von einer übersinnlichen Welt, welche sich für die gewöhnliche Erkenntnis hinter der physisch-sinnlichen Welt verbirgt und in welcher die wahren Ursachen dieser letzteren liegen. (GA35, S. 146f.) Geisteswissenschaft will die geistige Welt durch eine andere Tür betreten, als das in der Vergangenheit oft der Fall war, nämlich nicht durch Vision, Ekstase, Entrückung oder eben Mediumismus. Sie will an die Tradition der naturwissenschaftlichen Forschung anschließen, diese gleichsam in die geistige Welt hinein fortsetzen: [Geisteswissenschaft] will eine Eröffnung der Tore zu einer übersinnlichen Welt sein. Und sie will diese Welt nicht durch bloßes spekulatives Denken finden, sondern durch wirkliche Wahrnehmung, welche der menschlichen Seele ebenso zugänglich ist wie die Wahrnehmung der physischen Sinne. Man ist gewöhnlich der Ansicht, daß eine solche Wahrnehmung in geistiger Art nur in Zuständen der Vision, der Ekstase in der Seele auftritt, und daß sie bei den mit ihr begnadeten Menschen keiner wissenschaftlichen Kontrolle unterliege. Deshalb will man ihr auch keinen anderen Wert beilegen als einen solchen persönlicher Erlebnisse der einzelnen menschlichen Individuen. Mit dieser Art von Seelenerlebnissen hat die moderne Theosophie nichts gemein. Sie zeigt, daß in der menschlichen Seele Erkenntniskräfte schlummern, welche im gewöhnlichen Leben und auch in der äußeren Wissenschaft nicht zutage treten. Diese Kräfte können durch Meditation und durch eine energische Konzentration des inneren Empfindungs- und Willenslebens wachgerufen werden. (GA35, S. 145f.) Zwei Momente sind an Rudolf Steiners Sicht des Verhältnisses von Naturwissenschaft und Anthroposophie zu unterstreichen. Zum einen war Steiners Einstellung der Wissenschaft gegenüber entgegen manchen Vorurteilen grundsätzlich sehr positiv: „ Wirkliche Erkenntnis bietet heute dem, der 326 Auf diese werden wir demnächst genauer eingehen. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1183 sie sucht, eigentlich nur die Naturwissenschaft “ (GA231, S. 61). Er wies zwar deutlich auf ihre Beschränkungen hin (z. B. ihre Unfähigkeit, auf die großen Fragen des menschlichen Lebens: die Frage der Existenz der Seele oder die Frage nach der Unsterblichkeit Antworten zu geben [vgl. z. B. GA231, S. 61f.]) wie auch auf die menschlichen und sozialen Gefahren ihrer einseitigen Erkenntnisse, unterstrich aber unermüdlich die wichtige konstruktive Rolle, welche die Naturwissenschaft in der Entwicklung der Menschheit gespielt hat und weiterhin spielt: Und viele, die heute den Materialismus widerlegen wollen, wissen eigentlich nicht, was sie tun; denn sie ahnen nicht, welche ungeheuere Bedeutung die Detailkenntnisse haben, die der Materialismus gebracht hat. Und sie ahnen nicht, was für eine Konsequenz für das Ganze der Menschenerkenntnis der Materialismus gebracht hat. (GA231, S. 59) Diese konstruktive Rolle der Naturwissenschaft sah Steiner nicht nur und nicht vordergründig in den praktischen zivilisatorischen Errungenschaften, welche wir der Wissenschaft verdanken, sondern vor allem in der Rolle der Wissenschaft als Erzieherin der Menschheit. Diese erzieherische Rolle der Naturwissenschaft hat laut Steiner verschiedene Facetten. Ein zentraler Aspekt dieser Rolle wird von Steiner in einem seiner philosophischen Hauptwerke, Rätsel der Philosophie (GA18), beschrieben. Dort schildert er mit seltener Eindringlichkeit, wie der Mensch sein Selbstgefühl, seine Selbsterkenntnis dem Umstand verdankt, dass sich ihm seine seelische, existenzielle Verbindung mit der geistigen Welt verdunkelt (GA18, S. 599ff., vgl. auch GA77a, S. 23f.), was ihn dazu zwingt, eine verobjektivierende, eine distanzierte, letztendlich eine materialistisch geprägte Naturwissenschaft zu entwickeln. Dank der materialistischen Wissenschaft ist auch das Denken der Menschen stärker, kräftiger geworden (GA182, S. 143). Man kann also sagen, dass die (materialistische) Naturwissenschaft entstehen musste, so dass der Mensch zu seinem Selbstgefühl, zu seiner Selbstständigkeit und Autonomie kommen konnte (GA18, S. 601f.). Diese seelische Errungenschaft wiederum bereitete den Weg zur Entwicklung und Konsolidierung der Freiheit. Dadurch, dass man Begriffe entwickelt, die nichts Seelisches mehr in sich haben, ist die Seele genötigt, stärkere Kräfte aus ihrem Inneren zu holen (GA72, S. 160ff.; 190f.). Der Mensch konsolidiert sich innerlich unter dem Einfluss der Verehrung des Objektivitätsprinzips (GA77a, S. 23f.), was die Grundlage seiner Freiheit bildet. Denn ein Mensch, der seelisch schwach und von seiner sozialen und/ oder natürlichen Umwelt stark abhängig ist, kann nie das Gefühl der Freiheit entwickeln. Ein Luther, aber auch ein Robinson Crusoe sind notwendige Etappen auf dem Weg der Erziehung der Menschheit zur Freiheit und diese wiederum bildet die notwendige Bedingung für die Entwicklung der vergeistigten Liebe: ein unfreies Wesen kann keine freie Liebe geben. In dieser Entwicklung kann man das Berechtigte des Materialismus sehen (GA72, S. 160). 1184 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Die an der Wissenschaft gewonnene innere Stärke erweist sich auch als von zentraler Bedeutung bei der Erforschung der geistigen Welt: Ein seelisch schwacher Mensch kann die Wirklichkeit der geistigen Welt nicht ohne Schaden aushalten: Das aber ist eine Grundforderung unserer Zeit, daß die Menschen wirklich den Mut fassen, die Stärke sich anzuerziehen, um der geistigen Welt gegenüberzutreten in ihren konkreten Erscheinungsformen. (GA182, S. 123) Die Warnung Jahwes an die Juden, den heiligen Berg Sinai, wo er sich Moses offenbarte, unter Androhung des Todes nicht zu betreten (2. Mose 19,12), diente nicht nur der Absteckung eines heiligen Bezirks. Ein Durchschnittsmensch konnte damals tatsächlich die Gegenwart einer hohen geistigen Wesenheit (eines Gottes) nicht aushalten. Es war kein Zufall, sondern eine gleichsam geistige Notwendigkeit, dass nur Moses, Aaron, Nadab, Abihu und siebzig „ von den Ältesten “ (2. Mose 24,9) und „ edelsten der Söhne Israel “ (2. Mose 24,11) Gott schauen durften. Heute kann jeder die entsprechende seelische Kraft entwickeln, ein Umstand, den wir zumindest teilweise der naturwissenschaftlichen Erziehung der letzten Jahrhunderte verdanken. Der Gedanke hat sich als der Erzieher der Seele erwiesen. Er hat diese dahin gebracht, in dem selbstbewussten Ich ganz einsam zu sein. Aber indem er sie zu dieser Einsamkeit geführt hat, hat er ihre Kräfte gestählt, wodurch sie fähig werden kann, sich in sich so zu vertiefen, dass sie, in ihren Untergründen stehend, zugleich in dem tiefer Wirklichen der Welt steht. (GA18, S. 621) Ein fast noch wichtigerer Aspekt der erzieherischen Rolle der Wissenschaft ist für Steiner die seelische Disziplinierung, die durch die wissenschaftliche Methode mit ihrem Streben nach Objektivität der Erkenntnisse erreicht wurde oder zumindest erreicht werden kann (GA72, S. 44; GA77a, S. 23f.). Wir werden bald sehen, dass eine solche Disziplinierung für die Forschung in den geistigen Welten tatsächlich unentbehrlich ist. Deshalb meinte Steiner - was zunächst als ein Paradox anmuten kann - , dass die Naturwissenschaft die Erzieherin zur Geisteswissenschaft, zur Forschung in der geistigen Welt sei: Diese moderne Naturwissenschaft gibt dem, der sich ihr widmet, nicht nur Aufschlüsse, die niemand mehr bewundern kann als der Geistesforscher selbst, über den äußeren Naturverlauf, über mancherlei, was auch einzuschlagen hat in das praktische Leben, sondern diese Naturwissenschaft gibt dem, der sich ihr von gewissen Gesichtspunkten aus hingebungsvoll widmet, eine innere Erziehung des menschlichen Seelenlebens. Und mehr als man dazu in früheren Stadien naturwissenschaftlichen Erkennens in der Lage war, ist man heute erkenntnismäßig eigentlich gerade durch die Naturwissenschaft zur Geistesforschung vorbereitet. Man soll sich nur nicht einengen lassen durch das, was die Naturwissenschaft auf ihrem eigenen Gebiete über die Außenwelt zu sagen hat. Man soll sich vielmehr aufschwingen können zu einer inneren Disziplinierung, zu einer inneren Zucht des seelischen Lebens durch die Art und Weise, wie man an der Natur forscht. Die Vorstellungen, die die Naturwissenschaft selbst liefert, können nur Aufschluss 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1185 geben über die äußere Natur; ihrem Inhalte nach werden sie nichts sagen über das geistige Leben. Aber indem man sie gebraucht, indem man sie gerade hingebungsvoll gebraucht bei der Naturforschung, bei der Naturerkenntnis, erziehen sie, ich möchte sagen, nebenbei in demjenigen Menschen, der in der Lage ist achtzugeben auf das, was in ihm da vorgeht, gewisse innere Lebensverhältnisse, die ihn dahin bringen, einen Begriff, ein inneres Erlebnis zu erhalten von dem, was es heißt: mit seiner Seele außerhalb des Leibes leben. 327 (GA72, S. 25) Obschon jeder Mensch ein Schüler der Geisteswissenschaft sein kann, betont Steiner mehrmals, dass ein Forscher im Geiste bzw. ein Geisteslehrer über eine naturwissenschaftliche Bildung verfügen sollte. 328 Folglich betrachtete er Anthroposophie nie als Ersatz für die Wissenschaft, sondern sah das ideale Verhältnis zwischen den beiden Forschungsbereichen als eines der Komplementarität, der gegenseitigen Ergänzung. Um dieses Verhältnis zu illustrieren, benutzte er oft das Bild des Tunnelbaus: Wie ein Tunnel von beiden Enden aus gegraben wird und erst fertig ist, wenn sich die beiden Baumannschaften in der Mitte treffen, so beinhaltet auch die umfassende Erkenntnis der Wirklichkeit zwei Komponenten: die Erkenntnis der sinnlich wahrnehmbaren und die Erkenntnis der übersinnlichen Welt. 329 Steiner stützte seine Behauptung, dass Geisteswissenschaft den Wissenschaftskriterien entspricht, vor allem durch den Hinweis auf die Möglichkeit der Entwicklung übersinnlicher Erkenntnisfähigkeiten, die in den der Anthroposophie eigenen übersinnlichen Forschungsmethoden gipfeln: Es kann sich also, wenn es sich darum handelt, Geisteswissenschaft als solche zu begründen oder zu verteidigen gegenüber der heutigen Umwelt, niemals darum handeln, diese Verteidigung auf etwas anderes zu stützen als darauf, dass man hinweist, wie der Mensch durch die Entwicklung gewisser Fähigkeiten zur Einsicht in die geistigen Welten kommt, und dass man dann auseinandersetzt, wie für diese Fähigkeiten eine entsprechende Gestaltung der Lebensverhältnisse der geistigen Welten sich ergibt. (GA168, S. 121) 330 In der Tat kann man von einer sich wiederholenden methodologischen Geste Steiners sprechen. Diese lässt sich vereinfacht folgendermaßen formulieren: „ Die Naturwissenschaft hat Großartiges für die Menschheit geleistet. Sie hat aber ihre Grenzen. Insbesondere kann sie uns eigentlich nichts Wesentliches über unsere Seele und unseren Geist, über das Ewige im Menschen, über das 327 Zu dem zunächst absurd anmutenden Thema des Lebens der Seele außerhalb des Leibes werden wir unten ausführlicher zu sprechen kommen. 328 Vgl. GA34, S. 35; GA75; S. 128f.; GA77a, S. 33; GA78, S. 153; GA84, S. 10. Vgl. auch Majorek (Hrsg.) 2011, Kapitel VI: „ Wissenschaft als Erzieherin “ (S. 177 - 203). 329 Vgl. Majorek, 2011, Unterkapitel: „ Die Tunnelmetapher “ (S. 147 - 148). Es ist übrigens zu betonen, dass Steiner seine Vorstellung der zwei sich ergänzenden Erkenntnisrichtungen bereits 1911 in seinem im Rahmen des IV. Internationalen Kongresses für Philosophie in Bologna gehaltenen Vortrag zum Ausdruck brachte. Er sprach dort von zwei Strömungen, „ die sich gegenseitig erhellen und erläutern “ (GA35, S. 142). 330 Dies ist der Anfang des Vortrags, der in Zürich am 24. 10. 1916 gehalten wurde. 1186 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Leben nach dem Tode sagen. Deshalb braucht sie eine Ergänzung, die diese Fragen ebenso streng und objektiv angehen kann wie die Naturwissenschaft die Fragen der Sinneswelt. Diese Ergänzung besteht in den übersinnlichen Erkenntnismethoden der Imagination, Inspiration und Intuition 331 , welche die Grundlage der geisteswissenschaftlichen Forschungsmethoden bilden. “ Die angedeutete Vorgehensweise lässt sich in zahlreichen Vortragsreihen - bezeichnenderweise jeweils im ersten Vortrag einer Vortragsreihe - nachweisen. 332 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang jedoch der Vortrag, den Steiner im Rahmen des IV. Internationalen Philosophiekongresses in Bologna 1911 gehalten hat, da er vor Fachmännern auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie gehalten wurde. Gleich zu Beginn stellt Steiner fest: Meine erste Aufgabe soll also sein, zu schildern die Methode der hier gemeinten Geistesrichtung auf Grund möglicher Seelenentwickelung. Es darf genannt werden dieser erste Teil meiner Darstellung: Eine geisteswissenschaftliche Betrachtungsart auf Grund gewisser psychologisch möglicher Tatsachen. Was hier charakterisiert wird, soll gelten als Seelenerlebnisse, die erfahren werden können, wenn gewisse Bedingungen in der menschlichen Seele hergestellt werden. (GA35, S. 114, Hervorhebung im Original) Und nachdem er die Übungen beschrieben hat, die zur Erlangung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten führen (können) und auf die wir weiter unten ausführlich eingehen werden, unterstreicht er, dass es sich hier um einen strengen, systematischen Entwicklungsgang der Seele handelt, um einen Gang, der zu jeder Zeit der vollbewussten Kontrolle des (angehenden) Forschers unterliegt: Die hier gemachten Ausführungen werden erkennen lassen, dass der im rechten Sinne verstandenen Anthroposophie ein in sich streng zu systematisierender Entwickelungsweg der menschlichen Seele zu Grunde liegt und daß es ein Irrtum wäre zu glauben, daß in der Seelenverfassung des Geistesforschers etwas von dem lebt, was man im gewöhnlichen Leben als Enthusiasmus, Ekstase, Verzückung, Vision und so weiter bezeichnet. Gerade durch die Verwechselung der hier charakterisierten Seelenverfassung mit solchen Zuständen müssen die Mißver- 331 Auch auf diese termini technici werden wir weiter unten ausführlicher zurückkehren. 332 Vgl. z. B. München 1909 (24. 8. 1909, GA113, S. 26 - 48, wobei Steiner in diesem Vortrag seine übersinnlichen Erkenntnismethoden noch nicht deutlich in Imagination, Inspiration und Intuition differenziert), Zürich 1917 (5. November, GA73, S. 9 - 55), Zürich 1918 (8. Oktober, GA73, S. 215 - 252), Darmstädter Hochschulkurs (27. Juli 1921, GA77a, S. 13 - 40), Oslo 1921 (25. November, GA79, S. 9 - 42), Berliner Hochschulkurs 1922 (6. März, GA81, S. 113 - 35), Hochschulkurs in den Haag 1922 (7. April, GA82, S. 15 - 47), 2. Internationaler Kongress der anthroposophischen Bewegung 1922 in Wien (1. Juni GA83, S. 17 - 49), sowie die Vorträge vom 19. November 1921 in der Berliner Philharmonie (noch nicht veröffentlicht), vom 9. April 1923 in Basel (GA84, S. 7 - 46) und, vielleicht besonders paradigmatisch, den Leipziger Vortrag vom 11. Mai 1922 (GA75, S. 253 - 300) 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1187 ständnisse entstehen, welche der wahren Anthroposophie entgegengebracht werden können. Erstens wird durch diese Verwechselung der Glaube erweckt, als ob in der Seele des Geistesforschers ein Entrücktsein von der Selbstkontrolle des Bewußtseins vorhanden wäre, eine Art Streben nach unmittelbarer, instinktiver Schauung. Es ist aber das Gegenteil der Fall. Und von der gewöhnlich so genannten Ekstase, Vision, von allem landläufigen Sehertum entfernt sich die Seelenverfassung des Geistesforschers noch mehr als das gewöhnliche Bewußtsein. (Ebd., S. 135) Der Sinn von Steiners „ methodologischer Geste “ ist klar: So wie Naturwissenschaft über ein bestimmtes Repertoire an Forschungsmethoden verfügt, so verfügt auch die Geisteswissenschaft über bestimmte Forschungsmethoden, die in ihrer Art ebenso streng wie die Methoden der Naturwissenschaft sind und nichts mit mystischer Ekstase, Vision usw. zu tun haben, und kraft ebendieser Methodik kann die Geisteswissenschaft Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. 333 In einem gegen Ende seines Leben gehaltenen öffentlichen Vortrag formulierte Steiner die kühne Behauptung, dass die Forschungsmethode der Geisteswissenschaft Erkenntnisresultate liefert, die sogar ebenso zweifellos sind wie die der Mathematik oder Geometrie: [I]ch werde Ihnen sprechen über eine Erkenntnisart, die zwar eine durchaus innere, intime Angelegenheit der Menschenseele ist, aber darin ebenso wissenschaftlich, ja so exakt sicher ist, nicht einmal wie ein äußeres naturwissenschaftliches Ergebnis nur, sondern wie die mathematischen oder geometrischen Ergebnisse der Wissenschaft selber. (GA231, S. 13) Wir werden später untersuchen müssen, ob diese Behauptung stichhaltig ist, es kann aber nicht bezweifelt werden, dass das Vorhandensein einer Forschungsmethode für Steiner von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung des Stellenwertes seiner Geisteswissenschaft war: Es kann sich also, wenn es sich darum handelt, Geisteswissenschaft als solche zu begründen oder zu verteidigen gegenüber der heutigen Umwelt, niemals darum handeln, diese Verteidigung auf etwas anderes zu stützen als darauf, dass man hinweist, wie der Mensch durch die Entwicklung gewisser Fähigkeiten zur Einsicht in die geistigen Welten kommt. (GA168, S. 121) Auf der anderen Seite - und das ist das zweite Moment seiner Haltung der Naturwissenschaft gegenüber - war Steiner in seiner Überzeugung bezüglich des wissenschaftlichen Charakters seiner Geisteswissenschaft keineswegs naiv. Im Gegenteil, er war sich fast schmerzhaft bewusst, dass die von ihm repräsentierte Forschungsrichtung von seinen Zeitgenossen keineswegs als wissenschaftlich anerkannt, sondern gewöhnlich als ein Paradebeispiel der Unwissenschaftlichkeit abgeurteilt (GA35, S. 111; 145; 152) und als dilettan- 333 Vgl. dazu z. B. diese Äußerung Steiners: „ Wie man in jeder Wissenschaft, in jeder geistigen Verfahrensart erst die Methoden kennen lernen muss, durch die man zu den Erkenntnissen dringt, so ist es auch in den Einweihungsschulen “ (GA53, S. 256f.). 1188 11 Übersinnliche Forschungsmethoden tisch betrachtet wurde (ebd., S. 66; 73; 110). Steiner antwortete auf solche Kritik mit dem Hinweis darauf, dass es in der Geschichte der Wissenschaft bereits mehrmals vorgekommen sei, dass eine Anschauung von den Zeitgenossen für absurd gehalten wurde, die später als Selbstverständlichkeit galt. So war es mit dem heliozentrischen Weltbild von Kopernikus (vgl. z. B. GA15, S. 82; GA66, S. 9f.; GA84, S. 177f.), so auch mit der Behauptung von Giordano Bruno, dass die sog. „ achte (himmlische) Sphäre “ nicht das Ende des Universums bedeute, sondern dass über sie hinaus unzählige Welten bestehen (vgl. z. B. GA15, S. 82 und 83; GA60, S. 284f.; GA62, S. 114 - 116 und 447), so war es auch mit Francesco Redis Behauptung, dass das Lebendige nur aus dem Lebendigen und nicht durch Kombination unlebendiger Stoffe entstehen könne (GA35, S. 147). Steiner äußert die Überzeugung, wie diese einst ausgelachten und verspotteten Ansichten werde auch die Anthroposophie einmal zum allgemeinen Gut der menschlichen Wissenschaft werden: Aber es ist so, dass dasjenige, was eine menschliche „ Narrheit “ scheint, nach und nach zu einer Selbstverständlichkeit wird. Die kopernikanische Weltanschauung hat sogar sehr lange warten müssen, bevor sie selbstverständlich wurde. Anthroposophie kann warten. 334 Aber sie muss aus einer Kultur- und Zivilisationsverpflichtung heraus schon sagen, dass es ihr voll verständlich ist, wenn die gewöhnliche Naturwissenschaft, die sich für souverän hält mit ihren Mitteln, durch ein gewöhnliches Verfolgen des Seelenlebens mit den äußeren Mitteln des Rechnens, Zählens, Wägens, zu einer Seelenlehre gekommen ist ohne Seele, und dass sie geradezu darinnen ein Ideal findet. Anthroposophie möchte aber zu demjenigen, dem sie die Berechtigung auf der einen Seite nicht abstreitet, zu einer aus der Naturwissenschaft heraus gewonnenen Lehre, hinzufügen durch entwickelte volle Erfassung des innersten Wesens der Menschenseele, was seelisch-geistig ist im Menschen als ewiges Leben, was seelisch-geistig ist in der ganzen Welt, im ganzen Kosmos als ewiges Leben, so dass der Mensch sich selbst erkennen kann als Ewiges, innig verbunden mit dem Ewigen im Kosmos, als unsterblich im Kosmos. (GA84, S. 178) 335 Das vorliegende Werk möchte einen Beitrag zu einer künftigen Anerkennung der Geisteswissenschaft bzw. Anthroposophie Steiners als einer - sagen wir - erweiterten wissenschaftlichen Orthodoxie leisten. Steiners Erkenntnismethoden und ihre Wissenschaftlichkeit Wir haben gesehen, dass der Anspruch von Steiners Geisteswissenschaft auf den Status einer Wissenschaft aufs Innigste mit den von Steiner dargestellten Erkenntnismethoden zusammenhängt. Selbst wenn man aber geneigt ist, die 334 Zur Haltung des geduldigen Wartens vgl. auch die bereits 1909 gehaltenen Vorträge (GA113, S. 14, 15, 25). 335 Vgl. auch GA35, S. 155. Vgl. auch Majorek 2011, Kap. VIII. „ Wie Kopernikus und Bruno “ , S. 219 - 230. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1189 Existenz einer geistigen Welt zu akzeptieren, muss man festhalten, dass die Berichte über diese Welt und ihre Eigenschaften, die wir in der angeführten Literatur finden, nicht den Eindruck erwecken, dass es sich bei ihnen um zuverlässige, gesicherte Erkenntnisse dieser Welt handelt. Wenn sie sich auch in groben Zügen decken (z. B. die Nahtoderfahrungen hinsichtlich der „ Tunnel “ -Vision, der Begegnung mit verstorbenen Verwandten oder der Lichtgestalt), weichen sie in den Einzelheiten doch bedeutend voneinander ab. So hat etwa die Schilderung, welche Eben Alexander von dieser Realität gibt (insbesondere seine „ Underworld “ ), praktisch keine Entsprechung in anderen Berichten. Dasselbe lässt sich von Ritchies Vision einer geistigen „ Forschungsanstalt “ sagen, in der an nuklearen Antriebsmechanismen gearbeitet wird. Auch sie fand keine Entsprechung in anderen Berichten über Nahtoderfahrungen. Gibt es also eine solche übersinnliche Forschungsanstalt, oder gibt es sie nicht? Solche Fragen kann man beliebig fortsetzen. Wir haben bis jetzt gesehen, dass Steiner für seine Forschungsmethoden und ihre Resultate vor allem deshalb Wissenschaftsstatus beansprucht, weil sie einerseits diszipliniert, streng, systematisch aufgebaut seien, andererseits der bewussten Kontrolle des Forschers unterlägen. Angenommen, dem ist so: Reicht dies, um ihre Ergebnisse als wissenschaftlich zu bezeichnen? Mir scheint, dass dies nicht ohne Weiteres der Fall ist: Praktisch jede religiöse Tradition (in chronologischer Reihenfolge: Hinduismus, Judaismus, Buddhismus, Christentum, tibetanischer Buddhismus, Islam usw.) verfügt über eine eigene Meditationstradition, und innerhalb des sog. New Age werden darüber hinaus allerlei Mischformen angeboten, wir werden aber die Ergebnisse solcher inneren Disziplinierungen - will man bei ihnen überhaupt von kognitiven Ergebnissen sprechen - nicht als wissenschaftlich bezeichnen. Und dies gilt selbst dort, wo sie Eingang in die Welt der Akademie gefunden haben, wie z. B. die sog. Mindfullness-Meditation mit ihren Anwendungen in der Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie. Wenn wir also die Frage des kognitiven bzw. wissenschaftlichen Status der Ergebnisse von Steiners Geisteswissenschaft behandeln, müssen wir über die bloße (zunächst immer noch vermeintliche) Disziplinierung durch die zu ihnen führenden Methoden hinausgehen. Vor dem Hintergrund des „ kleinsten gemeinsamen Nenners “ der (Natur-)Wissenschaft, den wir im Kapitel „ Was ist Wissenschaft? “ herausgestellt haben, stellen sich hinsichtlich Steiners übersinnlicher Erkenntnismethode dann drei Fragen 336 : 1) Handelt es sich um empirische Forschungsmethoden? ; 2) Sind die Resultate ihrer Anwendung reproduzierbar bzw. nachprüfbar; und 3) Sind die Resultate ihrer Anwendung objektiv und somit zuverlässig, oder handelt es sich um bloß subjektive Meinungen oder Fantasievorstellungen der (angeblichen) Geistesforscher? Wir haben im 336 Das vierte damals festgestellte Element, den Materialismus der durch die Wissenschaft angebotenen Erklärungen, kann man im Lichte der Untersuchungen des Kapitels „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ fallen lassen. 1190 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Kapitel „ Was ist Wissenschaft “ gesehen, dass von diesen drei Fragen die letzte die wichtigste ist, denn das zentrale Elemente der heutigen Wissenschaft ist ihr Anspruch auf Objektivität ihrer Forschungsresultate (abgesehen davon, dass sich die Verwirklichung dieses Ideals als äußerst problematisch erwiesen hat). Die Antwort auf diese dritte Frage wird folglich im Mittelpunkt der nachfolgenden Untersuchungen stehen. Das Wesen des Menschen im Lichte von Steiners Geisteswissenschaft 337 Der Beschreibung von Steiners Erkenntnismethoden muss eine Art weltanschauliche Vorbemerkung vorausgehen, denn diese Methoden werden einem Leser, der sich der gegenwärtig in der Wissenschaft vorherrschenden materialistischen Metaphysik verpflichtet fühlt und konsequenterweise den menschlichen „ Geist “ , die mentalen Prozesse als Produkt oder Epiphänomen der Aktivität des Nervensystems und insbesondere des Gehirns betrachtet, als geradezu absurd erscheinen müssen. Und zwar deshalb, weil, wie wir bald sehen werden, diese Methoden auf der Erfahrung fußen, dass der Mensch sich von seiner Leiblichkeit frei machen und eine von ihr unabhängige Existenz als ein rein seelisch-geistiges Wesen in der seelisch-geistigen Welt führen kann. Ja, man kann diese Behauptung noch verschärfen: Das Hauptziel der seelischen Übungen, die zur Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten im Sinne Steiners führen, besteht zunächst darin, die Fähigkeit zu erlangen, seine seelisch-geistige Organisation von seiner leiblich-körperlichen Organisation zu trennen. Steiner gebraucht in diesem Zusammenhang oft das Bild des Schwertes, das zunächst mit seiner Scheide wie verwachsen ist, dann aber lernt, sich von ihr zu trennen und aus ihr herauszutreten (GA113, S. 38f., 47, 158). Gerade weil die Behauptung, dass eine solche Trennung möglich ist, heute vielen absurd erscheint, habe ich diesem Buch den Exkurs „ Gehirn und Geist “ beigefügt, um zu belegen, dass ich in meiner Haltung in dieser Materie nicht naiv bin, dass die diesbezüglichen materialistischen Behauptungen mir durchaus bekannt sind, dass aber nicht nur - wie im vorigen Kapitel dargelegt - in der gegenwärtigen wissenschaftlichen (im Sinne von „ von Wissenschaftlern verfassten “ ) Literatur, sondern in der gegenwärtigen neurobiologischen Forschung durchaus Ansätze vorhanden sind, die solchen Thesen widersprechen bzw. sie relativieren. Während zu Steiners Zeiten die Behauptung, man könne sich zu Lebzeiten von seiner Leiblichkeit trennen und als ein seelisch-geistiges Wesen eine recht selbstständige Existenz führen, in wissenschaftlichen Kreisen auf vehemente Ablehnung stieß, so darf man heute, Vertrautheit mit den Berichten über außerkörperliche und insbesondere Nahtoderfahrungen vorausgesetzt, immerhin hoffen, dass den Schilderungen der Methoden, mittels derer die Trennung der seelisch-geistigen von der leiblich-körper- 337 Maßgeblich sind die Darstellungen in GA9, S. 20 - 48; GA13, S. 41 - 60, sowie GA16, S. 9 - 28 und 48 - 65. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1191 lichen Organisation des Menschen erreicht werden soll, mehr Verständnis entgegengebracht werden wird. Um jedoch die These, man könne sich von der eigenen Leiblichkeit trennen, für den Leser, der mit Steiners Schriften nicht vertraut ist, verständlicher zu machen, scheint es mir unerlässlich, mindestens kurz auf Steiners differenziertes Bild der menschlichen Konstitution einzugehen. Logisch gesehen, wäre erst das nachfolgende Kapitel „ Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft “ der Ort, an welchem dieses Bild zu erörtern wäre, da es bereits ein Ergebnis der geisteswissenschaftlichen Forschung ist. Es scheint mit jedoch angebracht, seine Schilderung gleichsam vorzuverlegen, um dem möglichen Eindruck entgegenzuwirken, man rede völligen Unsinn, wenn man von „ übersinnlichen Erkenntnismethoden “ spricht. Es hat sich seit Descartes eingebürgert, von zwei „ Elementen “ des Menschen, dem Geist und dem Körper, zu sprechen, wobei der Geist im Laufe der Geschichte immer flüchtiger, immer metaphorischer verstanden wurde. Andererseits gibt es heute immer mehr Wissenschaftler und Philosophen, die für die Anerkennung eines seelischen, geistigen oder zumindest übersinnlichen Elementes des Menschenwesens plädieren, das sogar den Tod des Körpers zu überleben fähig ist. Ihre Vorstellungen bezüglich dessen, wie ein solches Element konkret aussieht und welche Funktionen es innerhalb des Menschen hat, wie er uns im täglichen Leben erscheint, bleiben jedoch recht unbestimmt. Es gab bekanntlich aber auch Zeiten, in denen man gewohnt war, von einer Dreigliederung des Menschen in Geist, Seele und Leib zu sprechen. Diese Sicht ist noch bei Paulus deutlich zu erkennen (1. Thess 5,23; Hebr 4,12), sie wurde aber in der römischen Kirche im neunten Jahrhundert mit dem Konzil von Konstantinopel verdrängt. 338 Im Lichte der Forschung der Geisteswissenschaft muss diese „ klassische “ Dreiteilung des Menschenwesens verfeinert werden, indem man vier Hauptelemente des Menschen differenziert. Man kann hier von vier Arten von Organisation sprechen, welche sich zu einem (im wachen Leben) selbstbewussten Menschen zusammenfügen. Direkt sinnlich wahrnehmbar ist nur der physische Leib des Menschen, also dessen äußere Form. Trotz der bekannten gattungsmäßigen Besonderheit der Form des menschlichen Leibes entsprechen die Gesetzmäßigkeiten dieser Organisation jenen der mineralischen Welt, was daran erkennbar ist, dass dieser Leib nach dem Tod, wenn die anderen drei Organisationen den physischen Leib verlassen, dem Prozess des Zerfalls, d. h. letztlich der Vermineralisierung, unterliegt (vgl. bes. GA16, S. 9 - 19). Eine zweite Organisation, die der Mensch mit der Pflanzenwelt gemeinsam hat, ist für die Regulierung und Aufrechterhaltung der Prozesse des Wachs- 338 Vgl. dazu Steiner z. B. in GA187, S. 96. Vgl. allerdings auch Spaemann, der behauptet, dass Steiners Interpretation der Ergebnisse dieses Konzils überrissen sei (Spaemann 1998, S. 163). 1192 11 Übersinnliche Forschungsmethoden tums, der Ernährung und der Fortpflanzung zuständig. Man kann diese Organisation als „ Lebensleib “ , „ Bildekräfteleib “ , „ Ätherleib “ oder „ elementarischen Leib “ bezeichnen, wobei zu erwähnen ist, dass der „ Äther “ des Ätherleibes nichts mit dem diskreditierten Äther der Physik des 19. Jahrhunderts zu tun hat (vgl. bes. ebd., S. 23 - 29). Eine dritte Organisation, welche für die Prozesse des Bewusstseins, der Wahrnehmung, aber auch für die Begierden und Triebe zuständig ist, kann man mit einem Ausdruck, der auf ihren Ursprung deutet, als „ Astralleib “ bezeichnen (vgl. ebd., S. 47 - 52). Der Mensch hat diese Organisation gemeinsam mit der Tierwelt. Schließlich hat der Mensch viertens eine Organisation, in welcher sich sein Gedanken- und Vernunftleben äußert und welche die Grundlage des Denkens, des Sprechens, der Intentionen, letztendlich des Selbstbewusstseins bildet. Diese Organisation, man kann sie einfach als die „ Ich-Organisation “ bezeichnen, kommt unter den vier Naturreichen nur dem Menschen zu. Mit „ Ich “ ist hier nicht das flüchtige und im Schlaf verschwindende „ Ich-Pünktchen “ gemeint, sondern ein umfangreicher Organismus, der, den anderen drei Organisationen übergeordnet, auf sie gestaltend wirkt und dennoch im gewöhnlichen bewussten Leben lediglich in der Form des vertrauten punktuellen Ich-Bewusstseins zum Ausdruck kommt (vgl. ebd., S. 55 - 65). 339 In Anbetracht der Tatsache, dass in der gegenwärtigen philosophischen und wissenschaftlichen Literatur das „ Ich “ des Menschen oft als bloßes Epiphänomen der neurologischen Strukturen betrachtet wird, 340 scheint es mir notwendig, diese Charakterisierung des Ich durch einige Bemerkungen zu ergänzen. Im Lichte der Geisteswissenschaft kann durchaus zugegeben werden, dass das „ Ich “ , so wie es sich dem gewöhnlichen Bewusstsein darstellt, eigentlich eine Illusion ist. Einer höheren Erkenntnisstufe offenbart sich dieses gewöhnliche „ Ich “ als „ ein Gewebe aus Erinnerungsvorstellungen, die so von dem Sinnenleib, von dem elementarischen [ätherischen] und astralischen Leibe bewirkt werden wie ein Spiegelbild durch einen Spiegel “ (GA16, S. 57). Dennoch ist dies nur die unterste Erscheinungsform des menschlichen Ich-Wesens. Es gibt noch drei andere: 1. In dem Bewusstsein, das den Ätherleib erfasst, erscheint das ‚ Ich ‘ als Bild, das aber zugleich tätige Wesenheit ist und als solche dem Menschen Gestalt, Wachstum, Bildekräfte verleiht. 2. In dem Bewusstsein, das den Astralleib erfasst, offenbart sich das ‚ Ich ‘ als Glied einer geistigen Welt, von der es seine Kräfte 339 Man kann diese Viergliederung nochmals verfeinern und erweitern. Steiner spricht von einem gewissen Gesichtspunkt aus von neun Wesensgliedern des Menschen. Ich kann hier in die Darstellung dieser Komplikationen nicht eintreten. Ebenso werde ich auf die Darstellung von Steiners Beschreibung des evolutionären Werdegangs, der zur Entwicklung dieser komplizierten Strukturen geführt hat, verzichten müssen. Vgl. jedoch GA13, S. 103 - 221. 340 Vgl. z. B. Roth 1998, S. 328 - 331; Metzinger 1999, S. 158 - 169, 271; Castañeda 1996, S. 214, 227 - 234; Churchland 2013 (da ich nur die elektronische Fassung von Churchlands Buch habe, kann ich leider nicht die Seitenzahl angeben). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1193 erhält. 3. In dem Bewusstsein [der Intuitionsstufe] zeigt sich das ‚ Ich ‘ als eine von der geistigen Umwelt relativ unabhängige, selbständige geistige Wesenheit. (GA26, S. 20f.). Dabei ist zu betonen, dass auf dieser letzten Stufe das „ Ich “ als nicht im Leib, sondern außerhalb seiner existierend (man kann sagen „ in die Gesetzmäßigkeit der Dinge selbst verlegt “ (GA35, S. 139) 341 ) und wirksam erlebt wird und die Leibesorganisation sich als ein bloßer Spiegel zeigt, der „ das außer dem Leibe liegende Weben des Ich im Transzendenten dem Ich durch die organische Leibestätigkeit zurückspiegelt “ (GA35, S. 139). 342 Drei Punkte verlangen noch eine besondere Aufmerksamkeit: 1. Wenn ich darauf hingewiesen habe, dass der Mensch drei seiner vier Organisationen mit denen der mineralischen, pflanzlichen und tierischen Welt gemeinsam hat, war damit selbstverständlich nicht gemeint, dass beispielsweise der menschliche Astralleib demjenigen des Tieres gleich sei. Die Ähnlichkeit bezieht sich auf die Gesetzmäßigkeit dieser Organisationen, nicht auf ihre konkrete Form oder auf ihren Fähigkeiten. 2. Die drei oberen Organisationen sind in ihrer Wesenhaftigkeit der gewöhnlichen Beobachtung entzogen, durch ihre Wirkungen jedoch mittelbar zugänglich. Die Möglichkeit ihres Wahrnehmens öffnet sich der entsprechenden Stufe der übersinnlichen Erkenntnis, und zwar der Imagination für die Erkenntnis des Ätherleibes, der Inspiration für die Erkenntnis des Astralleibes, der Intuition für die Erkenntnis der Ich-Organisation (GA215, S. 10 - 27). 3. Die jeweilige Organisation muss als in einer ihr entsprechenden Umgebung von Wesenheiten und Kräften eingebettet und aus dieser Umgebung geformt verstanden werden. Man kann in diesem Zusammenhang von drei Stufen der höheren Welten sprechen: der elementarischen oder ätherischen Welt (GA16, S. 29), der Seelenwelt (GA9, S. 71 - 83), und der geistigen Welt (ebd., S. 94 - 100), 343 wobei jede dieser „ Welten “ oder Seinssphären noch weiter gegliedert ist. 344 Das Erlangen einer bestimmten Stufe der übersinnlichen Erkenntnis eröffnet somit nicht nur den Zugang zu der entsprechenden menschlichen Organisation, sondern auch zu der ihr entsprechenden übersinnlichen Umgebung. Die entscheidende Einsicht der Geisteswissenschaft bezieht sich jedoch auf die Beziehungen zwischen diesen vier Organisationen des Menschen sowohl während des Lebens wie auch vor der Geburt und nach dem Tod. 341 Vgl. GA18, S. 607 und GA156, S. 22f., 27, 31. 342 Vgl. ebd. S. 139 - 144, 101 - 104; GA18, S. 601f.; GA145, S. 135, 149; GA156, S. 22f., 25 - 27, 153 - 155 wie auch allgemeiner Steiners Ausführungen zu diesem Thema in dem während des IV. Internationalen Kongresses für Philosophie in Bologna 1911 gehaltenen Vortrages (zusammengefasst in GA35, S. 113 - 155). 343 Diese Welt kann man dann die „ eigentliche geistige Welt “ nennen. (Vgl. die entsprechende Namengebung in GA100, S. 226: physische Welt, Astralwelt, Devachan, höhere Devachanwelt.) 344 Vgl. GA9, wo Steiner die feinere Gliederung der Seelenwelt und des Geisterlandes beschreibt (GA9, S. 71 - 113). 1194 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Das Bild, das sich aufgrund der geisteswissenschaftlichen Forschung ergibt 345 , lässt sich kurz folgendermaßen zusammenfassen: Während des wachen Lebens bleiben alle vier Organisationen in einer engen Verbindung, sie durchdringen sich gegenseitig. Der Mensch erlebt sich dadurch in seinem gewöhnlichen Bewusstsein als lebendes, die Welt und sich selbst wahrnehmendes Wesen. Ein Aspekt dieser Durchdringung muss gesondert hervorgehoben werden: Im gewöhnlichen Leben verbinden sich im wachen Zustand die übersinnliche Glieder der menschlichen Organisation so stark mit dem physischen Leib, dass sie von ihm gleichsam „ aufgesogen “ werden, ein wenig wie Wasser von einem Schwamm. Somit verschwinden sie für das gewöhnliche Bewusstsein, weshalb der Mensch sie im alltäglichen Leben überhaupt nicht wahrnehmen kann. 346 Während des Schlafens kommt es aber zu einer Trennung der Astral- und Ich-Organisation einerseits und der physischen und ätherischen Organisation andererseits. Da das gewöhnliche Bewusstsein auf der Interaktion zwischen den beiden ersteren mit dem physischen und dem Ätherleib, besonders auf der „ Spiegelfunktion “ des physischen Leibes, beruht, 347 führt diese Trennung zur Bewusstlosigkeit, welche für die Schlafabschnitte des Lebens (mit Ausnahme der Träume) charakteristisch ist. Mit dem Tod verlässt auch die ätherische Organisation den physischen Leib, was - da sie während des Lebens für den Erhalt seiner Form sorgt - zu dessen Zerfall führt. Die jetzt vom physischen Leib getrennten drei Organisationen des Menschen (der Ätherleib, der Astralleib und die Ich-Organisation) bleiben einige Tage miteinander verbunden, worauf die ätherische Organisation sich in der allgemeinen Äthersubstanz des Kosmos auflöst. Die astralische Organisation löst sich zur Hauptsache auch auf, jedoch in einem Prozess, der einige Jahrzehnte in Anspruch nimmt, so dass auf einer bestimmten Stufe des nachtodlichen Lebens die Ich- Organisation, d. h. die wahre Individualität des Menschen oder, wie Steiner sie manchmal bezeichnet, das „ wahre Ich “ (GA17, S. 179) oder der „ ewige Wesenskern “ (GA25, S. 106) des Menschen, in der ihr entsprechenden Umgebung einer geistigen Welt mit den diese Welt bewohnenden geistigen Wesenheiten unabhängig ihre weitere Existenz führt, gleichzeitig ihre neue irdische Inkarnation vorbereitend. Angesichts dieser Erkenntnisse ist es durchaus angemessen, von einem leibfreien, individualisierten Zustand bzw. einer entsprechenden Existenzform des Menschen zu sprechen. Diese Existenzform kommt jedem Menschen während des Schlafes oder nach dem Tode zu. Die Eindrücke, welche die menschliche Seele dann erhält (und diese sind für die seelische und 345 Maßgeblich dazu GA13, S. 61 - 102. 346 GA35, S. 105. In GA113 spricht Steiner davon, dass sich der Astralleib und auch der Lebensleib, da sie sehr „ elastisch “ sind, den Formen des physischen Leibes anpassen (GA113, S. 30). 347 Vgl. z. B. GA18, S. 602; GA35, S. 139 - 143; GA128, S. 38 - 47; GA156, S. 22f., 31; GA215, S. 143,145. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1195 körperliche Gesundheit des Menschen von entscheidender Bedeutung (vgl. GA215, S. 79 - 107, 155 - 160), sind, wie mehrfach erwähnt, dem gewöhnlichen Bewusstsein nicht zugänglich. Einen solchen leibfreien Zustand während des Lebens bewusst zu erreichen bzw. herzustellen, heißt nichts anderes, als zunächst den Astralleib, dann aber den Lebensleib und sogar den physischen Leib so zu organisieren und zu stärken, dass sie unabhängig von der physischen Organisation des Leibes bestehen und bewusste Eindrücke erhalten können. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen ist das Erlangen übersinnlicher Erkenntnis mit dem willentlichen, bewussten Einschlafen (wenn die Astral- und Ich-Organisation aus der physischen und ätherischen Organisation heraustreten) bzw. mit einem gewollten partiellen Sterben vergleichbar (vgl. z. B. GA104a, S. 26, 54). Dabei muss der Geistesforscher imstande sein, sich willentlich von seiner physischen Organisation zu trennen und ebenso willentlich zu ihr zurückzukehren (GA215, S. 131). Er muss also seine Freiheit und Kontrollfähigkeit während dieses Prozesses beibehalten. Anders ausgedrückt: Obwohl die Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten mit weitgehenden Veränderungen der seelischen (auf den höheren Stufen auch zum Teil der physischen) Organisation des angehenden Geistesforschers einhergeht, muss seine normale Persönlichkeit mit ihren Fähigkeiten während der Entwicklung übersinnlicher Erkenntnisfähigkeiten wie auch während deren Ausübung unangetastet bleiben (ebd.). Der Ausgangspunkt: das Denken Bevor wir uns der genaueren Beschreibung der oben angedeuteten drei übersinnlichen Erkenntnismethoden bzw. -stufen der Imagination, Inspiration und Intuition widmen, sei darauf hingewiesen, dass sie grundsätzlich zunächst nichts anderes als eine Weiterentwicklung, Steigerung oder Vertiefung der uns vertrauten Fähigkeit des logischen Denkens sind, wobei dann im nächsten Schritt ihre alltägliche Form transzendiert werden muss: Das streng logische Denken ist [für die Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten notwendige Seelenarbeit] Vorbild und Ausgangspunkt. Was nicht in solch reiner, innerer Klarheit erlebt wird wie dieses, schließt sie von sich aus. Aber dieses bloße logische Denken verhält sich zu ihr selbst wie das Schattenbild zu dem schattenwerfenden Gegenstand. Durch sie erkraftet sich das menschliche Erkenntnisstreben so, daß es nicht allein abstrakte Gedanken erlebt, sondern von geistiger Wirklichkeit durchtränkten Inhalt. (GA35, S. 106) Ich betone dies, weil Steiner oft der Unwissenschaftlichkeit, des Mystizismus usw. bezichtigt wird. Ich habe zwar in der obigen Auseinandersetzung zum Problem des Verhältnisses zwischen der Geisteswissenschaft Steiners und der Naturwissenschaft versucht, diese Vorurteile auszuräumen, es ist jedoch verständlich, dass dies angesichts der heute weit verbreiteten und äußerst differenzierten spiritualistischen Bestrebungen, welche zu unterschiedlichen Formen der Meditation greifen, ein schwieriges Unternehmen ist. Zum 1196 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Problem des Verhältnisses von Steiners Erkenntnismethoden zu den heute so populären spiritistischen Bewegungen unterschiedlichster Provenienz werden wir ausführlicher gegen Ende dieses Kapitels zurückkehren (Abschnitt „ Geistesforscher und Hellseher, Eingeweihter und Hellseher “ ). Hier möchte ich nur ein paar allgemeine Gedanken formulieren, um die Eigenart von Steiners Vorgehensweise einem Leser/ einer Leserin, welche/ r zwar nicht mit ihr, dafür aber vielleicht mit den New-Age-Bewegungen vertraut ist, verständlicher zu machen. In den letzten vier bis fünf Jahrhunderten haben sich die Naturwissenschaften rasant entwickelt und zu einer sprunghaften, man könnte fast sagen: ans Wunderbare grenzenden Steigerung der technologischen Möglichkeiten der Menschheit geführt. Das alte, auf Mt 17,20 zurückgehende Sprichwort besagt: „ Der Glaube versetzt Berge. “ Heute kann man aber zu Recht behaupten, dass wir keinen Glauben brauchen, um Berge zu versetzen, weil wir fähig geworden sind, dies mit unserer Technologie wortwörtlich zu tun. Die technologischen Mittel, welche uns es erlauben, auf dem Mars zu landen, Teilchenbeschleuniger wie das LHC in Genf zu bauen usw. sind die konkreten, materialisierten Formen unseres Denkens. Hinter jeder Maschine und jedem technologischen Erzeugnis stehen die Konstrukteure, die sie zunächst ausgedacht haben. Wir sind zu Recht stolz auf die Macht unseres Denkens, auf seine Klarheit, Präzision, auf seine Wirklichkeitsnähe, welche die Wunder der modernen Technologie ermöglicht haben. Wir haben aber auch das Gefühl, dass diese Fähigkeit eigentlich mehr oder weniger konstant bleibt, dass die ersten Wissenschaftler mehr oder weniger über dieselben kognitiven Fähigkeiten verfügten wie wir heute. Es gab und gibt zwar diesbezüglich riesige individuellen Unterschiede zwischen den Genies des Intellektes, einem Galileo, Newton, Einstein usw., und einem Durchschnittsmenschen, aber keine wesentliche Zunahme der Denkkraft mit der Zeit, also keine wesentlichen Unterschiede zwischen einem Galileo und einem Einstein, so etwa die landläufige Meinung. Es ist zwar allgemein bekannt, dass im Mittelalter nur wenige Menschen lesen, schreiben und rechnen konnten, während heute die überwältigende Mehrheit der Menschheit diese Fähigkeiten besitzt, aber diese Tatsache wird gewöhnlich auf den heutigen Zugang zu Schulbildung, nicht aber auf eine wesentliche Veränderung (Steigerung) einer (Bildungs-)Disposition zurückgeführt. Aus dieser Sicht müsste man schließen, dass die Neandertaler, hätten sie die Möglichkeit, die entsprechenden Schulen zu besuchen, wie wir Computer und Raumschiffe bauen hätten können, und der Umstand, dass ein Genie des Altertums, Pythagoras, einen Lehrsatz entdeckte, den heute ein Durchschnittsschüler bereits in der siebten Klasse der Grundschule lernt, und dass einige Überflieger heute Mathematikaufgaben des Abiturs mit zehn lösen können, wird als mehr oder weniger zufällig erachtet. Die Verfechter dieser Interpretation der Entwicklung der menschlichen Denkfähigkeit sollte jedoch die Tatsache nachdenklich machen, dass die alten Ägypter keine Philosophie und auch keine bewei- 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1197 sende Geometrie im Sinne von Thales entwickelt haben. Sie waren aber sicher nicht dumm, da sie Pyramiden und riesige Tempel errichten konnten. Bereits diese Tatsache deutet darauf hin, dass sich die Denkfähigkeit des Menschen entwickelt und auch verwandelt hat. In Bezug auf die durchschnittlichen Denkfähigkeiten des Menschen könnte eine wesentliche Steigerung stattgefunden haben, so dass eine Fähigkeit, die im Altertum nur einige wenige höchstbegabte Exemplare der Menschengattung besaßen, heute einer breiten Mehrheit der Menschheit eigen ist. Es ist ferner möglich, dass die Entwicklung der Wissenschaft, und insbesondere der Naturwissenschaft, einerseits eine Folge dieser allgemeinen Steigerung der Denkfähigkeit war und ist, andererseits aber zur Beschleunigung der entsprechenden Entwicklung beigetragen hat. Anerkennt man die Möglichkeit der Zunahme der Denkfähigkeit, wird einem nicht schwerfallen, auch die Möglichkeit zuzulassen, dass diese Fähigkeit durch gezielte Übungen weiter gesteigert werden kann, nicht aber zwingend in einer gleichsam gradlinigen Form: nicht in der Form der Steigerung dessen, was wir gewöhnlich als „ Intelligenz “ bezeichnen (es ist bekannt, dass ein Mensch sein IQ innerhalb seines Lebens kaum wesentlich steigern kann), sondern in einer metamorphosierten Form. Man kann hier, um das Ziel der entsprechenden Übungen durch ein allgemein verständliches Bild zu illustrierten, zu einer Analogie greifen, welche Steiner sicher nicht zugänglich war: Die Menschen haben irgendwann die Glühlampe erfunden. 348 Die Leuchtkraft der Glühlampen hat sich mit der Zeit zunehmend erhöht; heute kann man ohne Weiteres Allgebrauchsglühlampen mit einer Leistung von 1000 W (bei 220 V Stromspannung) herstellen. 1916 postulierte Albert Einstein, dass durch die stimulierte Emission des Lichtes eine neuartige Lichtquelle entwickelt werden könnte, und 1960 wurde von Theodore Meiman der erste Laser (ein Rubinlaser) hergestellt. Im Gegensatz zu einer gewöhnlichen Glühlampe erzeugt ein Laser ein kohärentes, monochromatisches Licht, das gegenüber der Glühlampe völlig neuartige Eigenschaften aufweist: Das Laserlicht kann nicht nur (und zwar bei verhältnismäßig geringerer Stärke des Lasers) große Distanzen zurücklegen (z. B. zum Mond und zurück), sondern auch punktuell so hohe Temperaturen erzeugen, dass man mit ihm Stahl zu durchbohren vermag. Man kann sich nun vorstellen, dass etwas Ähnliches mit unserem Denken möglich ist, dass man durch eine geschickte Handhabe die Denkkraft gleichsam so bündeln und vereinheitlicht, dass sie völlig neue Eigenschaften entwickelt und damit auch völlig neue Erkenntnismöglichkeiten öffnet. Auf eine solche Erkraftung des Seelenlebens zielen die grundlegenden ersten Übungen des Steiner ’ schen 348 Diese Entdeckung wird bekanntlich allgemein Thomas Edison zugeschrieben, der seine Glühlampe 1879 patentierte, obwohl nach dem heutigen Stand der Erkenntnis 22 andere Entdecker vor ihm ähnliche Lichtquellen entwickelt haben. http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Incandescent_light_bulb (heruntergeladen am 24. 11. 2013). 1198 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Erkenntnisweges, wobei es sich, wie wir ausführlicher im nächsten Abschnitt sehen werden, dabei nicht um die Erhöhung der Klugheit z. B. durch das Lösen besonders kniffliger mathematischen Aufgaben handelt, sondern um die Steigerung der Anschaulichkeit des Denkens, um seine Metamorphosierung in eine Wahrnehmungskraft: Um solche Erkraftung des Seelenlebens zu erreichen, ist zunächst notwendig, sich zu üben in bildhaftem Denken. [. . .] Dadurch lebt man mit dem Bewusstsein in einer solch regen Tätigkeit, die sonst nur von äußerem Ton oder äußeren Farbe oder einer anderen Sinneswahrnehmung hervorgerufen wird [. . .]. Diese Tätigkeit ist zugleich ein Denken, aber ein solches, das nicht in abstrakten Begriffen die sinnliche Anschauung begleitet, sondern das selbst sich steigert bis zur Anschaulichkeit, die im gewöhnlichen Leben nur in Sinnesbildern lebt. (GA35; S. 106f.) Rudolf Steiner hat in der Tat wiederholt herausgestellt, dass es das Denken ist, das auf seinem Erkenntnisweg zur Hellsichtigkeit entwickelt bzw. umgewandelt wird (z. B. GA182, S. 144, 147f.). Die Betonung des Denkens als des Ausgangspunkts der übersinnlichen Erkenntnisweges geht sogar so weit, dass Steiner in einem wichtigen, verhältnismäßig späten Vortragszyklus, der im Rahmen des ersten anthroposophischen Hochschulkurses vom 27. September bis zum 3. Oktober 1920 gehalten worden ist, den Wissenschaftlern empfahl, den Weg zur Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten über das (gedankliche) Studium seiner Philosophie der Freiheit zu suchen: In meinem Buche „ Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? “ ist zwar durchaus ein sicherer Weg in die übersinnlichen Gebiete hinein charakterisiert, aber er ist so charakterisiert, daß er gewissermaßen für jedermann taugt, daß er vor allen Dingen für diejenigen taugt, welche nicht durch ein eigentliches wissenschaftliches Leben hindurchgegangen sind. Ich will ihn heute im Speziellen so charakterisieren, wie er eben mehr für den Wissenschaftler taugt. Für diesen Wissenschaftler muß ich auch nach allen meinen Erfahrungen als eine Art Voraussetzung ansehen - wir werden gleich nachher hören, in welchem Sinne das gemeint ist - , ich muß ansehen als eine richtige Voraussetzung dieses Erkenntnisweges das Verfolgen dessen, was in meiner „ Philosophie der Freiheit “ dargestellt ist. (GA322, S. 110) Im Weiteren führt Steiner u. a. aus, dass das Buch so intensiv durchgearbeitet werden soll, dass es zu einer Art Partitur wird, anhand welcher man in eigener Denktätigkeit von einem Gedanken zum anderen fortschreiten kann (ebd., S. 111). Tut man dies mit genügender Intensität und Ausdauer, so kann man eine „ Metamorphose des Erkennens “ (ebd., S. 55) bzw. des Denkens erleben, die direkt zur ersten Stufe der übersinnlichen Erkenntnis, der Imagination, führt. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1199 Von der Beobachtung der Gedanken über die Beobachtung des Denkens zur Einsicht in den Ätherleib Wir haben am Ende des Kapitels „ Begriff der Objektivität “ Kapitels festgestellt, dass uns die Quellen des Denkens verborgen bleiben, was zu einer tiefen Unsicherheit bezüglich der Objektivität unserer theoretischen Einfälle führen muss. Diese Einschränkung lässt sich überwinden, mit überraschenden Folgen. In der soeben erwähnten Philosophie der Freiheit findet sich eine Stelle, die Anlass zur Verblüffung geben kann. Steiner fordert an dieser Stelle den Leser dazu auf, sich auf die Beobachtung des Denkens, eine Tätigkeit einzulassen, und behauptet, dass eine solche Beobachtung von enormer Wichtigkeit, sogar die „ allerwichtigste “ sei: Für jeden aber, der die Fähigkeit hat, das Denken zu beobachten [. . .], ist diese Beobachtung die allerwichtigste, die er machen kann. Denn er beobachtet etwas, dessen Hervorbringer er selbst ist; er sieht sich nicht einem zunächst fremden Gegenstande, sondern seiner eigenen Tätigkeit gegenüber. (GA217, S. 78) Steiner schreibt weiter, dass eine solche Beobachtung einen „ Ausnahmezustand “ unseres Seelenlebens bilde (ebd., S. 40), dass aber die Fähigkeit zu einer solche Beobachtung „ bei gutem Willen “ jedem normal organisierten Menschen zugänglich sei (ebd., S. 46). Jeder Denker hat sicherlich schon Dutzende Male sein Denken beobachtet, würde man meinen, und man könnte sich vielleicht mit Steiner einig erklären, dass eine solche Tätigkeit nicht gerade ganz alltäglich ist - wir beobachten gewöhnlich eher Tische, Stühle, Bäume und Menschen als unsere Gedanken - , aber so ganz außergewöhnlich scheint dieser Art der Beobachtung nicht zu sein. Wenn man sich ein wenig anstrengt und nach innen schaut, kann man sein Denken jedoch tatsächlich beobachten. Man ist zwar nicht imstande - wie Steiner vermerkt - , sein gegenwärtiges Denken zu beobachten (ebd., S. 43), eine solche Beobachtung scheint jedoch verhältnismäßig unproblematisch im Fall des gerade vergangenen Denkens zu sein. Nur wundert man sich, warum diese Beobachtung „ die allerwichtigste, die man machen kann “ , sein soll. Ich habe gerade an meine Sommerferien dieses Jahres gedacht, habe also tatsächlich etwas hervorgebracht, was früher gar nicht in meinem Bewusstsein war, aber besonders aufregend war es auch nicht. Dem kann man entgegenhalten, dass es sich in diesem Fall bloß um Gedankenbilder oder Erinnerungen handle und Steiner ausdrücklich darauf aufmerksam machte, dass das Haben von solchen Gedankenbildern nicht mit dem Verarbeiten von Gedanken durch das Denken verwechselt werden dürfe (ebd., S. 55). Aber selbst wenn wir an etwas Abstraktes denken (z. B. an einen geometrischen Beweis), etwas, was hoffentlich unter Steiners Begriff des Verarbeitens durch das Denken fallen würde, ist es nicht leicht, sich zu der Überzeugung aufzuraffen, dass das, was man rückblickend an einer solcher Betätigung feststellen kann, von entscheidender Wichtigkeit in seinem Leben ist. 1200 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Reflektiert man jedoch über solche alltägliche Versuche des Denkbeobachtens, so kommt man recht schnell zu der Einsicht, dass das, was man auf dieser Weise beobachtet hat, nicht das Denken, sondern die Gedanken, Begriffe oder Ideen sind. Selbst im Rückblick auf die vollzogene abstrakte Denktätigkeit steht gewöhnlich nicht diese Tätigkeit selbst, sondern ihre Inhalte, ihre Objekte im Vordergrund: Ich „ sehe “ in einem solchen Rückblick eigentlich die Linien oder Dreiecke oder etwas Ähnliches, nicht aber meine eigentliche denkerische Tätigkeit. Wir erinnern uns an die tiefgründige Feststellung Wrights: „ [W]e have no wordless contact with the thought that P. If we are to assess it, it has somehow to be given to us symbolically “ (Wright 1992, S. 222f.). 349 Rudolf Steiner macht aber absolut klar, dass für ihn, im Gegensatz zu Hegel, das Denken als Tätigkeit und nicht der Begriff bzw. die Idee den Ausgangspunkt darstellt: Ich muß einen besonderen Wert darauf legen, daß hier an dieser Stelle beachtet werde, daß ich als meinen Ausgangspunkt das Denken bezeichnet habe und nicht Begriffe und Ideen, die erst durch das Denken gewonnen werden. Diese setzen das Denken bereits voraus. Es kann daher, was ich in bezug auf die in sich selbst ruhende, durch nichts bestimmte Natur des Denkens gesagt habe, nicht einfach auf die Begriffe übertragen werden. (Ich bemerke das hier ausdrücklich, weil hier meine Differenz mit Hegel liegt. Dieser setzt den Begriff als Erstes und Ursprüngliches.) (GA4, S. 57f.) 350 Wie kann man jedoch über die Begriffe und Ideen hinaus zur Denktätigkeit als solcher und zu ihrer Beobachtung gelangen? Die m. W. klarste Antwort auf diese Frage gibt Steiner erst in seinem 1916 veröffentlichten Werk Vom Menschenrätsel (GA20). In seiner Beschreibung des Weges, der zu dieser Fähigkeit führt, betont Steiner zunächst den Einbezug des Wollens: Der Mensch kann in das gewöhnliche bewußte Denken eine stärkere Willensentfaltung einführen, als in diesem im gewöhnlichen Erleben der physischen Welt vorhanden ist. Er kann dadurch vom Denken zum Erleben des Denkens übergehen. Im gewöhnlichen Bewußtsein wird nicht das Denken erlebt, sondern durch das Denken dasjenige, was gedacht wird. Es gibt nun eine innere Seelenarbeit, welche es allmählich dazu bringt, nicht in dem, was gedacht wird, sondern in der Tätigkeit des Denkens selbst zu leben. Ein Gedanke, der nicht einfach hingenommen wird aus dem gewöhnlichen Verlauf des Lebens, sondern der mit Willen in das 349 Vgl. Kapitel „ Begriff der Objektivität “ . 350 Steiner hat übrigens in seinem ursprünglich 1897 veröffentlichten Werk Goethes Weltanschauung (GA6), mit aller Deutlichkeit auf den Unterschied zwischen dem Denken über das Denken (was Goethe sich weigerte zu tun) und dem Beobachten des Denkens hingewiesen: „ Den Unterschied zwischen Denken über das Denken und Anschauung des Denkens hat Goethe nicht gemacht. Sonst wäre er zur Einsicht gelangt, daß man gerade im Sinne seiner Weltanschauung es wohl ablehnen könne, über das Denken zu denken, daß man aber doch zu einer Anschauung der Gedankenwelt kommen könne “ (GA6, S. 85). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1201 Bewußtsein gerückt wird, um ihn in seiner Wesenheit als Gedanke zu erleben, löst in der Seele andere Kräfte los, als ein solcher, der durch auftretende äußere Eindrücke oder durch den gewöhnlichen Verlauf des Seelenlebens hervorgerufen wird. (GA20, S. 161f.) Es zeigt sich jedoch bald, dass sich bei den entsprechenden Übungen um nichts anderes als Meditationsübungen handelt: Und wenn die Seele in sich die im gewöhnlichen Leben doch nur in geringem Maße geübte Hingabe an den Gedanken als solchen immer erneut bewirkt - sich auf den Gedanken als Gedanken konzentriert - : dann entdeckt sie in sich Kräfte, die im gewöhnlichen Leben nicht angewendet werden, sondern gleichsam schlummernd (latent) bleiben. Es sind Kräfte, die nur im bewußten Anwenden entdeckt werden. Sie stimmen aber die Seele zu einem ohne ihre Entdeckung nicht vorhandenen Erleben. Die Gedanken erfüllen sich mit einem ihnen eigentümlichen Leben, das der Denkende (der Meditierende) verbunden fühlt mit seinem eigenen Seelenwesen. (Ebd., S. 162) 351 Eine solche Erkraftung des Denkens (GA27, S. 9), 352 die es dem Menschen ermöglicht, die Denktätigkeit als solche zu beobachten (erleben), führt zur Entdeckung des Gedankenlebens (GA20, S. 162), was sich aber bald als gleichbedeutend mit der Entfaltung des schauenden (im Gegensatz zum alltäglichen, reflektierenden) Bewusstseins erweist (ebd., S. 162, 164). Sie führt aber auch allmählich dazu, dass man die für das Alltagsbewusstsein charakteristische Gebundenheit an die physische Dimension des Lebens überwindet, und die ersten Einblicke in sein höheres Wesen, in seinen Ätherleib gewinnt: Dadurch erfährt man nach und nach, wie man einen höheren Menschen, der in diesem Denken erlebt ist, losreißt vom physischen Menschen; und man ist beim übersinnlichen Erlebnis angekommen [. . .]. Dadurch, dass man sich da in der innerlichen Denkfähigkeit zur Beobachtung aufgeschwungen hat, kommt man dazu, dass man durch jene Denkfähigkeit den Raum überwindet, die Gegenwart über- 351 An dieser Stelle könnte man einwenden, dass in der Philosophie der Freiheit nicht von Meditation, sondern lediglich von der Beobachtung des Denkens die Rede ist, dass also der Sprung von der Aufgabe der Philosophie zur Aufgabe vom Menschenrätsel, den ich vollzogen habe, nicht berechtigt ist. Mir scheint jedoch, dass, wenn man bei der „ alltäglichen “ Interpretation des Charakters der Denkbeobachtung verharrt, man nicht imstande ist zu erklären, worin die von Steiner angedeutete zentrale Wichtigkeit dieser Tätigkeit im Leben des Menschen liegen sollte: Allerlei Denker, inklusive materialistisch gesinnter Wissenschaftler und Philosophen, beobachten den Ablauf ihrer Gedanken und es resultiert aus dieser Beobachtung offensichtlich herzlich wenig, was ihr Leben und ihre Lebenseinstellung verändert. Die Formulierung aus dem Menschenrätsel hingegen macht deutlich, worin die diese Lebenseinstellung metamorphosierende Wirkung der Denkbeobachtung bzw. des Erlebens des Denkens besteht. Die Skeptiker können weiter fragen, warum Steiner diesen Punkt in der Philosophie nicht anders und deutlicher formuliert hat, sodass seine von mir unterstellte Intention klar zum Ausdruck kommen würde. Auf diese Frage habe ich zunächst keine gute Antwort. 352 Steiner benutzt übrigens den Begriff der Erkraftung des Denkens auffallend oft. Vgl. z. B. GA35, S. 398; GA65, S. 61, 63, 149, 152, 383; GA234, S. 67, 68, 72 u. a. 1202 11 Übersinnliche Forschungsmethoden haupt überwindet und zu einem Erleben in der Zeit kommt. (GA84, S. 163, Hervorhebung von mir, MBM) Es ist, so hoffe ich, anhand dieser Bemerkungen deutlich geworden, dass für Rudolf Steiner ein fließender Übergang zwischen dem verstärkten und gereinigten Denken und der ersten Stufe der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten, der Imagination im technischen Sinne, bestand. Wohl am prägnantesten verdeutlichte Steiner die Existenz eines solchen fließenden Überganges in einem Vortrag, den er am 30. September 1920 im Rahmen des bereits erwähnten ersten anthroposophischen Hochschulkurses am Goetheanum in Dornach hielt: Wenn man angelangt ist bei jenen inneren Erlebnissen, die in der Sphäre des reinen Denkens stehen, bei jenen inneren Erlebnissen, die sich als das Erlebnis der Freiheit zuletzt enthüllen, dann gelangt man zu einer Metamorphose des Erkennens in Bezug auf die innere Bewußtseinswelt. Dann bleiben die Begriffe und Ideen nicht Begriffe und Ideen, dann bleibt nach dieser Seite hin der Hegelianismus nicht Hegelianismus, dann bleibt die Abstraktheit nicht Abstraktheit, dann geht es nach dieser Richtung hin zunächst in das reale Gebiet der Geistigkeit hinein. Dann ist das Nächste, wo hinein man gelangt, nicht mehr der bloße „ Begriff “ , die bloße „ Idee “ , nicht mehr etwas, wie es den ganzen Inhalt der Hegelschen Philosophie ausmacht, nein, dann verwandelt sich Begriff und Idee in Bild, in Imagination. Man entdeckt sogleich die höhere Stufe, [. . .] man entdeckt die Erkenntnisstufe der Imagination. (GA322, S. 55) Wir werden bald sehen, dass der Weg der Verstärkung, der Steigerung des Denkens zur Fähigkeit, das Denken zu beobachten, auch Ähnlichkeiten mit der zweiten Stufe der Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten im engeren Sinne, der Inspiration, aufweist. Imagination: Ausbildung der seelischen Wahrnehmungsorgane Damit sind wir bei der Charakterisierung der ersten Stufe der übersinnlichen Erkenntnismethoden, der Imagination, angelangt. Das Erlangen dieser Stufe erfordert, dass der angehende Geistesforscher in seinem Astralleib übersinnliche Wahrnehmungsorgane entwickelt bzw. solche seinem Astralleib einprägt, die bestimmte und differenzierte Wahrnehmungen der übersinnlichen Welt vermitteln können. Der Begriff der übersinnlichen Wahrnehmungsorgane mag hier ein Stein der Anstoßes sein, denn er scheint selbstwidersprüchlich zu sein: Man versteht sehr wohl, was unter sinnlicher Wahrnehmung gemeint ist, aber eine nicht durch die leiblichen Sinne vermittelte Wahrnehmung mutet wie ein Ding der Unmöglichkeit an. Eine einfache Überlegung kann aber zeigen, dass der Widerspruch bloß scheinbar ist. Wir sind fähig, Licht und Farben wahrzunehmen dank der Tatsache, dass sich in unserem Leib, genauer gesagt im Auge, feine Strukturen entwickelten, welche für die Strahlung gewisser Frequenzen empfindlich sind. Ähnlich verhält es sich mit dem Gehör: Im Ohr entwickelten sich gewisse feine 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1203 Strukturen, die für eine andere Form der Strahlung empfindlich sind. Ist es deshalb nicht plausibel zu vermuten, dass auch in der Seele des Menschen sich Strukturen entwickeln können, welche für gewisse Aktivitätsformen der Seelenwelt empfindlich sind und somit gewisse Formen der übersinnlichen Wahrnehmung vermitteln können? Und dies ist in der Tat der Fall. Die Seele des Durchschnittsmenschen der Gegenwart bildet eine einigermaßen undifferenzierte, verworrene Masse, weshalb er, wenn er die viel feiner gegliederten Tempel seines physischen und seines ätherischen Leibes im Schlaf verlässt, über keine Wahrnehmungsfähigkeiten verfügt, die ihn dann umgebende Welt wahrzunehmen. Es ist jedoch dem Menschen der Gegenwart möglich, durch bestimmte Maßnahmen seinen undifferenzierten Seelenorganismus so umzugestalten, dass sich in ihm gewisse Organe bilden, welche übersinnliche Wahrnehmungen vermitteln können (GA10, S. 116; GA243, S. 121). Genauer gesagt verfügt auch der heutige Durchschnittsmensch bereits über gewisse rudimentäre seelische Wahrnehmungsorgane, die jedoch in ihrer angestammten Form unfähig sind, konkrete seelische Wahrnehmungen zu vermitteln, und erst durch bestimmte Maßnahmen so weit differenziert werden können, dass sie als seelische „ Augen und Ohren “ fungieren (Steiner spricht sehr oft von „ seelischen “ oder „ geistigen Wahrnehmungsorganen “ , „ höheren Wahrnehmungsorganen “ , „ geistigen Sinneswerkzeugen “ , „ übersinnlichen Sinnesorganen “ oder „ übersinnlicher “ und „ höherer Wahrnehmung “ 353 ). Diese Organe bezeichnet Rudolf Steiner in Anlehnung an die indische Tradition als Chakras oder Lotusblumen, 354 obschon man sich selbstverständlich darunter keine wirklichen Blumen vorstellen darf. Diese Namensgebung ist jedoch berechtigt, weil für die übersinnliche Wahrnehmung eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Form dieser Organe und z. B. den Lotusblumen der Sinneswelt besteht. Steiner betont jedoch, dass der Name „ Lotusblume “ für diese Organe des Astralleibes nicht viel zutreffender ist als die Rede von „ Lungenflügeln “ in Bezug auf die beiden Lungenteile (z. B. GA10, S. 117). Diese befinden sich in der Nähe verschiedener Organe des physischen Körpers so z. B. die zweiblättrige Lotusblume im vorderen Kopf auf der Höhe der Augen, die sechzehnblättrige Lotusblume in der Nähe des Kehlkopfes, die zwölfblättrige Lotusblume in der Nähe des Herzens, die zehnblättrige in der Nähe der sog. Magengrube usw. (ebd.). Wie die Augen, Ohren, die Nase usw. unterschiedliche sinnliche Modalitäten vermitteln, so vermitteln die Lotusblumen unterschiedliche Arten der übersinnlichen Eindrücke. So vermittelt z. B. die sechzehnblättrige „ Lotusblume “ die Wahrnehmungen der den übersinnlichen Phänomenen entsprechenden Gestalten: „ Die Gedankenart, die eine Seele hat, die Gesetze, nach denen eine Naturerscheinung sich vollzieht, treten für die sechzehn- 353 Vgl. GA10, S. 82, 116, 117, 118, 176, 180 u. a.; GA13, S. 345; GA35, S. 145f.; GA243, S. 116, 117 - 118; 121) 354 Vgl. z. B. The Tibetan Book of the Dead (Thurman 1994, S. 39). 1204 11 Übersinnliche Forschungsmethoden blättrige Lotusblume in Gestalten auf “ (ebd., S. 126ff.). Die zwölfblättrige Lotusblume vermittelt die Wahrnehmungen, welche sich mit der seelische Wärme bzw. Kälte vergleichen lassen (ebd., S. 126f.), und die zehnblättrige Lotusblume, die sich in der Nähe der Magengrube kundtut, vermittelt die seelischen „ Farben “ der übersinnlichen Phänomene. Durch sie werden die sog. Auren der belebten Wesen sichtbar. Diesem Organ enthüllen sich aber auch die Talente und Fähigkeiten von Seelen, wie auch Kräfte und verborgene Eigenschaften in der Natur (ebd., S. 134f.). Daneben gibt es weitere Organe, auf welche hier nicht eingegangen werden muss (vgl. aber ebd., S. 116 - 138). Übungen zur Erlangung der Imagination Neben dem soeben kurz geschilderten Weg, der zur Entwicklung der Imagination (im technischen Sinne) über die Erkraftung des Denkens führt, gibt es, wie bereits angedeutet, einen anderen, der als ein Standardzugang zur Imagination gilt. Bevor ich diesen Weg schildere, ist aber zu bemerken - um mögliche Missverständnisse zu vermeiden - , dass der terminus technicus Imagination, mit welchem Steiner diese Erkenntnisstufe belegt, nicht deshalb von ihm so gewählt wurde, weil die Wahrnehmungen, die durch die übersinnlichen Wahrnehmungsorgane vermittelt werden, bloße Einbildungen, Fiktionen oder Phantasien sind, sondern weil die Übungen, welche zur Ausbildung dieser Organe führen, vor allem in der Konzentration auf symbolische, also durch die gewöhnliche Kraft des Imaginierens geschaffene Bilder bestehen. Streng genommen handelt es sich bei der Ausbildung der seelischen bzw. astralischen Wahrnehmungsorgane nicht um eine, sondern um zwei Arten von Übungen. Die eine Gruppe von Übungen, welche grundsätzlich in der Entwicklung gewisser seelischer Lebensgewohnheiten besteht, dient dazu, diesen Organen die ihnen angemessene Form einzuprägen (GA10, S. 119 - 131), die andere Gruppe, die erwähnten Konzentrationsübungen, dazu, diese Organe zur Reifung zu bringen (ebd., S. 131f.). Um ein konkretes Beispiel zu geben: Die zu entwickelnden seelischen Lebensgewohnheiten, die der sechzehnblättrigen Lotusblume die ihr angemessene Form anorganisieren, bestehen in der Erlangung der Kontrolle über Gedanken, Entschlussfassung, Sprache, Handeln, Streben usw. (ebd., S. 119 - 123). Denjenigen, die mit dem buddhistischen „ edlen achtgliedrigen Pfad “ vertraut sind, wird auffallen, dass die Übungen für die Entwicklung der sechzehnblättrigen Lotusblume mit den Vorschriften dieses Pfades fast identisch sind (vgl. ebd., S. 125, Fußnote). Steiner betont jedoch, dass es sich hier nicht darum handle, buddhistische Lehren zu verbreiten, sondern die Entwicklungsbedingungen zu schildern, welche sich aus der geisteswissenschaftlichen Forschung ergeben. Die Ähnlichkeit dieser Ergebnisse mit den buddhistischen Vorschriften ist kein Resultat der blinden Nachahmung seitens Steiner, sondern 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1205 der Tatsache, dass bereits Buddha Einsicht in die entsprechenden Entwicklungsgesetzmäßigkeiten hatte (ebd.). Rudolf Steiner betont, dass die Pflege der erwünschten Lebensgewohnheiten Vorrang vor den Meditations- und Konzentrationsübungen, welche die Reifung der Lotusblumen bewirken, haben muss: „ Es würden sich wahre Zerrbilder dieser [Lotus-]Blumen entwickeln, wenn sie zur Reife gebracht würden, bevor sie in ruhiger Weise die ihnen zukommende Form erlangt haben. Denn die speziellen Anweisungen der Geisteswissenschaft bewirken das Reifwerden, die Form aber wird durch die geschilderte Lebensart ihnen gegeben “ (ebd., S. 131). Dieser Warnung eingedenk, können wir jetzt zur Betrachtung der zweiten Gruppe von Übungen übergehen. Diese bestehen zur Hauptsache aus der wiederholten Konzentration auf einen „ bestimmten, leicht überschaulichen Vorstellungskomplex “ (GA215, S. 45) bzw. auf „ symbolische Sinnbilder “ (GA35, S. 153). Ein klassisches Beispiel einer solchen Übung ist die sog. Rosenkreuz-Meditation: Zunächst muß eine [sinnbildliche] Vorstellung [. . .] in der Seele aufgebaut werden. Das kann in folgender Art geschehen: Man stelle sich eine Pflanze vor, wie sie im Boden wurzelt, wie sie Blatt nach Blatt treibt, wie sie sich zur Blüte entfaltet. Und nun denke man sich neben diese Pflanze einen Menschen hingestellt. Man mache den Gedanken in seiner Seele lebendig, wie der Mensch Eigenschaften und Fähigkeiten hat, welche denen der Pflanze gegenüber vollkommener genannt werden können. Man bedenke, wie er sich seinen Gefühlen und seinem Willen gemäß da und dorthin begeben kann, während die Pflanze an den Boden gefesselt ist. Nun aber sage man sich auch: ja, gewiß ist der Mensch vollkommener als die Pflanze; aber mir treten dafür auch an ihm Eigenschaften entgegen, welche ich an der Pflanze nicht wahrnehme, und durch deren Nichtvorhandensein sie mir in gewisser Hinsicht vollkommener als der Mensch erscheinen kann. Der Mensch ist erfüllt von Begierden und Leidenschaften; diesen folgt er bei seinem Verhalten. Ich kann bei ihm von Verirrungen durch seine Triebe und Leidenschaften sprechen. Bei der Pflanze sehe ich, wie sie den reinen Gesetzen des Wachstums folgt von Blatt zu Blatt, wie sie die Blüte leidenschaftslos dem keuschen Sonnenstrahl öffnet. Ich kann mir sagen: der Mensch hat eine gewisse Vollkommenheit vor der Pflanze voraus; aber er hat diese Vollkommenheit dadurch erkauft, daß er zu den mir rein erscheinenden Kräften der Pflanze in seinem Wesen hat hinzutreten lassen Triebe, Begierden und Leidenschaften. Ich stelle mir nun vor, daß der grüne Farbensaft durch die Pflanze fließt und daß dieser der Ausdruck ist für die reinen leidenschaftslosen Wachstumsgesetze. Und dann stelle ich mir vor, wie das rote Blut durch die Adern des Menschen fließt und wie dieses der Ausdruck ist für die Triebe, Begierden und Leidenschaften. Das alles lasse ich als einen lebhaften Gedanken in meiner Seele erstehen. Dann stelle ich mir weiter vor, wie der Mensch entwicklungsfähig ist; wie er seine Triebe und Leidenschaften durch seine höheren Seelenfähigkeiten läutern und reinigen kann. Ich denke mir, wie dadurch ein Niederes in diesen Trieben und Leidenschaften vernichtet wird, und diese auf einer höheren Stufe wiedergeboren werden. Dann wird das Blut vorgestellt werden dürfen als der Ausdruck der gereinigten und geläuterten Triebe und Leidenschaften. Ich blicke nun zum Beispiel im Geiste auf die Rose und sage mir: in dem 1206 11 Übersinnliche Forschungsmethoden roten Rosenblatt sehe ich die Farbe des grünen Pflanzensaftes umgewandelt in das Rot; und die rote Rose folgt wie das grüne Blatt den reinen, leidenschaftslosen Gesetzen des Wachstums. Das Rot der Rose möge mir nun werden das Sinnbild eines solchen Blutes, das der Ausdruck ist von geläuterten Trieben und Leidenschaften, welche das Niedere abgestreift haben und in ihrer Reinheit gleichen den Kräften, welche in der roten Rose wirken. Ich versuche nun, solche Gedanken nicht nur in meinem Verstande zu verarbeiten, sondern in meiner Empfindung lebendig werden zu lassen. Ich kann eine beseligende Empfindung haben, wenn ich die Reinheit und Leidenschaftslosigkeit der wachsenden Pflanze mir vorstelle; ich kann das Gefühl in mir erzeugen, wie gewisse höhere Vollkommenheiten erkauft werden müssen durch die Erwerbung der Triebe und Begierden. Das kann die Beseligung, die ich vorher empfunden habe, in ein ernstes Gefühl verwandeln; und dann kann ein Gefühl eines befreienden Glückes in mir sich regen, wenn ich mich hingebe dem Gedanken an das rote Blut, das Träger werden kann von innerlich reinen Erlebnissen, wie der rote Saft der Rose. Es kommt darauf an, daß man nicht gefühllos sich den Gedanken gegenüberstelle, welche zum Aufbau einer sinnbildlichen Vorstellung dienen. Nachdem man sich in solchen Gedanken und Gefühlen ergangen hat, verwandle man sich dieselben in folgende sinnbildliche Vorstellung. Man stelle sich ein schwarzes Kreuz vor. Dieses sei Sinnbild für das vernichtete Niedere der Triebe und Leidenschaften; und da, wo sich die Balken des Kreuzes schneiden, denke man sich sieben rote, strahlende Rosen im Kreise angeordnet. Diese Rosen seien das Sinnbild für ein Blut, das Ausdruck ist für geläuterte, gereinigte Leidenschaften und Triebe. Eine solche sinnbildliche Vorstellung soll es nun sein, die man sich in der Art vor die Seele ruft, wie es oben an einer Erinnerungsvorstellung veranschaulicht ist. Eine solche Vorstellung hat eine seelenweckende Kraft, wenn man sich in innerlicher Versenkung ihr hingibt. Jede andere Vorstellung muß man versuchen während der Versenkung auszuschließen. Lediglich das charakterisierte Sinnbild soll im Geiste vor der Seele schweben, so lebhaft als dies möglich ist. - Es ist nicht bedeutungslos, daß dieses Sinnbild nicht einfach als eine weckende Vorstellung hier angeführt worden ist, sondern daß es erst durch gewisse Vorstellungen über Pflanze und Mensch aufgebaut worden ist. Denn es hängt die Wirkung eines solchen Sinnbildes davon ab, daß man es sich in der geschilderten Art zusammengestellt hat, bevor man es zur inneren Versenkung verwendet. Stellt man es sich vor, ohne einen solchen Aufbau erst in der eigenen Seele durchgemacht zu haben, so bleibt es kalt und viel unwirksamer, als wenn es durch die Vorbereitung seine seelenbeleuchtende Kraft erhalten hat. Während der Versenkung soll man jedoch sich alle die vorbereitenden Gedanken nicht in die Seele rufen, sondern lediglich das Bild lebhaft vor sich im Geiste schweben haben und dabei jene Empfindung mitschwingen lassen, die sich als Ergebnis durch die vorbereitenden Gedanken eingestellt hat. So wird das Sinnbild zum Zeichen neben dem Empfindungserlebnis. Und in dem Verweilen der Seele in diesem Erlebnis liegt das Wirksame. Je länger man verweilen kann, ohne daß eine störende andere Vorstellung sich einmischt, desto wirksamer ist der ganze Vorgang. (GA13, S. 309 - 313, Hervorhebung im Original) Der gewählte Vorstellungskomplex kann eben in einem Bild, einem Wort oder Satz (GA13, S. 309 - 313), in einem Gefühl oder einer Empfindung (ebd.) oder auch in bestimmten natürlichen Gegenständen (z. B. einer blühenden bzw. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1207 verwelkenden Pflanze (GA10, S. 43 - 46, ebd., S. 60 - 62) bestehen, wobei im letzteren Fall der Ausgangspunkt für diese Art der Meditation eine möglichst genaue Beobachtung des vorliegenden Gegenstandes oder Prozesses bilden soll (ebd., S. 44, 60). Alle diese verschiedenen Übungen dauern zwar jeweils verhältnismäßig kurz (10 - 15 Minuten) (GA245, S. 35 - 39), sollen dafür aber über Monate, sogar Jahre fortgesetzt werden (GA13, S. 346). 355 Ihr gemeinsames Ziel ist es, „ die Seele [. . .] von der Sinneswahrnehmung [loszureißen] und sie zu einer solchen Tätigkeit anzuregen, bei welcher der Eindruck auf die physischen Sinne bedeutungslos ist und die Entfaltung innerer schlummernder Seelenfähigkeiten das Wesentliche wird “ (GA13, S. 314). An einer anderen Stelle formuliert Steiner dieses Ziel noch radikaler oder deutlicher: Durch ein meditatives Seelenverfahren „ wird die Totalkraft des Seelenlebens auf leicht überschauliche Vorstellungen gelegt und im Ruhen auf denselben festgehalten. Dadurch wird, wenn ein solches Verfahren durch genügend lange Zeitepochen immer wiederholt wird, zuletzt bemerkt, wie die Seele in ihrem Erleben leibfrei wird. [. . .] Durch die Meditation kann die geistige Tätigkeit vom physischen Organismus losgerissen werden “ (GA25, S. 90; vgl. GA18, S. 584). Ein zusätzliches Moment besteht darin, dass der Meditationsvorgang unter voller, bewusster Kontrolle vollzogen werden und man darauf bedacht sein soll, dass „ während des Ruhens der Seele auf diesem Vorstellungskomplex nichts in sie [. . .] von irgendwie unterbewussten oder unbewussten oder irgendwie aus der Erinnerung heraufspielenden Seeleneindrücken [einfließt] “ (GA215, S. 45), weshalb Steiner auch rät, sich einen neuartigen Gegenstand als Meditationsobjekt zu wählen (ebd., S. 46). Wird durch die während der Übungen aufgewendete seelische Energie groß genug, erzeugt sie Veränderungen in der seelischen Organisation des Menschen, welche zur Folge haben, dass der Übende sich als von seiner physischen Leiblichkeit verhältnismäßig unabhängig empfindet bzw. erlebt: Die Seele hat in diesem Augenblicke die Empfindung, daß sie in sich selbst ein neues Wesen als ihren Seelen-Wesenskern in der oben beschriebenen Weise geboren habe. Und dieses Wesen ist ein solches von ganz anderen Eigenschaften, als diejenigen sind, welche vorher in der Seele waren. (GA13, S. 324) In die auf dieser Stufe der Entwicklung bewusst gewordene übersinnliche (ätherische) Organisation des Menschen (Steiner bezeichnet sie als das „ neugeborene Ich “ des Menschen [ebd.]) können durch weitere Konzentrations- und Meditationsübungen die oben erwähnten astralischen übersinnlichen Wahrnehmungsorgane eingeprägt werden (GA10, S. 116ff.; GA13, S. 344; GA113, S. 29). Man kann also von zwei wesentlichen Schritten der Entwicklung der übersinnlichen Wahrnehmungsorgane sprechen: Zunächst werden im Astralleib die genannten Organe entwickelt; dieser Schritt ist unter dem Namen „ Katharsis “ , „ Reinigung “ oder auch einfach „ Vorberei- 355 Vgl. auch GA16, S. 22; GA297, S. 244; GA297 a, S. 47, 99, 129. 1208 11 Übersinnliche Forschungsmethoden tung “ bekannt (GA10, S. 43 - 52; GA13, S. 346; GA103, S. 195; GA113, S. 37). In einem zweiten Schritt werden diese Organe dem Lebensleib eingeprägt in einem Vorgang, den man „ Erleuchtung “ nennt (GA10, S. 42, 53 - 57; GA13, S. 346; GA113, S. 37f.). Erst diese Einprägung der astralischen Organe in den Ätherleib des Menschen befähigt den angehenden Geistesforscher, die Wahrnehmungen der geistigen Welt bei vollem Bewusstsein zu empfangen: Er wird hellsichtig, er erlangt die Fähigkeit, die geistige Welt so wahrzunehmen, wie der gewöhnliche Mensch die Welt der physischen Sinne, der Tische und Hunde wahrnimmt. Erleuchtung und Austritt aus dem Leib Die Erleuchtung impliziert und beinhaltet, dass der angehende Geistesforscher die Fähigkeit erlangt, für kurze Augenblicke sich willentlich von seinem physischen Leib zu trennen. Dies ist notwendig, weil der Lebensleib im Gegensatz zum Astralleib, der jede Nacht aus dem physischen Leib heraustritt, unter normalen Umständen das ganze Leben lang mit dem physischen Leib verbunden bleibt, ihn ernährend und seine Form aufrechterhaltend. Es ist offensichtlich, dass auch der schlafende Mensch lebt, was darauf zurückzuführen ist, dass sein Lebensleib im schlafenden Körper immer noch tätig ist. Diese Tätigkeit hört - unter normalen Umständen - erst mit dem Tode auf. Das Gebundensein des Lebensleibes an den physischen Leib hat jedoch zur Folge, dass sich jener nicht gemäß seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln und verhalten kann, sondern gleichsam gezwungen ist, sich den Gegebenheiten des physischen Menschen anzupassen. Plato hat diesen Zustand im berühmten Höhlengleichnis (Staat, 514 a - 517 e) mit demGefesselt- oder Gekettetsein an den Boden einer Höhle verglichen. Dieser Umstand wiederum hat zur Folge, dass die übersinnlichen Wahrnehmungen, welche durch die Lotusblumen vermittelt werden, dem Tagesbewusstsein des Forschers nicht zugänglich sind. Denn wie der Mensch den „ Spiegel “ des physischen Leibes braucht, um sich der Sinneseindrücke bewusst zu werden, so braucht er den „ Spiegel “ des Ätherbzw. Lebensleibes, um die Eindrücke der übersinnlichen Welt bewusst zu empfangen. Um die Einprägung der astralischen Wahrnehmungsorgane in den Lebensleib bewerkstelligen zu können, muss jedoch ein Zustand hervorgerufen werden, in welchem der Lebensleib des angehenden Geistesforschers für mindestens kurze Momente so frei von dem physischen Leib wird, wie das unter normalen Umständen nur im Moment des Todes der Fall ist: Für die hellseherische Forschung muß also etwas eintreten, das sich vergleichen läßt einzig und allein mit demjenigen, was sonst für den Menschen im Augenblicke des Todes eintritt, das heißt der Mensch muß, wenn er in bewußtem Sinne hellseherisch werden will, zu einer Entwickelungsstufe in seinem Leben kommen, wo er von seinem physischen Leib und dem Gebrauche der Glieder des physischen 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1209 Leibes ebenso unabhängig ist, wie er unabhängig von ihnen ist im Momente des Todes. (GA113, S. 34f.; vgl. auch z. B. GA243, S. 117) Ein solcher Zustand wiederum kann dadurch erlangt werden, dass der angehende Geistesforscher eine Art Umwandlung, ja sogar Umstülpung seiner Interessensphäre erlebt (GA113, S. 35). Normalerweise interessiert sich der Mensch stark für das, was ihm in der Außenwelt entgegentritt. Man muss deshalb einen Zustand erreichen, in welchem für den angehenden Geistesforscher „ die ganze äußere Sinneswelt absolut gleichgültig wird; in denen er alle Interessenkräfte, die ihn an dieses oder jenes in der sinnlichen Welt fesseln, abtötet “ (GA113, S. 36). Eine solche Abtötung der äußeren Interessen darf sich nur auf bestimmte kurze Augenblicke des Lebens erstrecken - Steiner nennt sie „ Feiertagsaugenblicke des Lebens “ (GA113, S. 36) - , denn der Geistesforscher muss selbstverständlich weiterhin an dem äußeren Leben voll teilhaben (ebd.). An diesem Punkt besteht jedoch die Gefahr, dass „ das Herz hart, die Sinne stumpf “ werden (GA10, S. 56). Diese Gefahr muss überwunden werden, sonst werden sich gefährliche Ausartungen der regelmäßigen Ausbildung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten einstellen (ebd.): [W]ir dürfen nicht Fremdlinge werden auf der Erde, denn dadurch würden wir nur aus dem Egoismus heraus handeln und würden unsere Kräfte rauben dem Schauplatz, dem sie gewidmet sein sollen innerhalb unserer gegenwärtigen Entwickelung. (GA113, S. 36f.) An einer anderen klassischen Stelle schreibt Steiner, dass man die nötige Distanzierung von der Sinneswelt durch eine Übung zur Erlangung „ innerer Ruhe “ erreicht (GA10, S. 28 - 36). Es handelt sich dabei um die Entwicklung der Fähigkeit, sich von seinen täglichen Erfahrungen, Freuden, Sorgen, Erfolgen, Misserfolgen usw. zu distanzieren, sich einigermaßen distanziert ihnen gegenüber zu verhalten, letztendlich sich selbst gegenüber als ein „ völlig Fremder “ gegenüberzustehen (ebd., S. 36). Die Übung, welche zu diesem Zustand der Seele führt, ist verhältnismäßig einfach. Es geht darum, Augenblicke zu finden, in welchen man versucht, sich selbst aus einer höheren Perspektive, als einen Fremden zu betrachten: Man denke nur einmal daran, wie man im gewöhnlichen Leben etwas ganz anders ansieht, was ein anderer erlebt oder getan hat, als was man selbst erlebt oder getan hat das kann nicht anders sein. Denn mit dem, was man selbst erlebt oder tut, ist man verwoben; das Erlebnis oder die Tat eines anderen betrachtet man nur. Was man in den ausgesonderten Augenblicken anzustreben hat, ist nun, die eigenen Erlebnisse und Taten so anzuschauen, so zu beurteilen, als ob man sie nicht selbst, sondern als ob sie ein anderer erlebt oder getan hätte. (GA10, S. 31) Die Abtötung der äußeren Interessen bzw. der Distanzierung von der eigenen alltäglichen Persönlichkeit bewirken schließlich, dass der angehende Geistesforscher in sich gleichsam eine zweifache Natur ausbildet, so dass er einerseits voll am gewöhnlichen Leben teilnehmen, aber sich auch für gewisse 1210 11 Übersinnliche Forschungsmethoden „ Feiertagsaugenblicke des Lebens “ aus diesem äußeren Leben zurückziehen kann: Wir müssen uns sozusagen diese zwiefache Natur erobern, daß wir auf der einen Seite in der Lage sind, lebendig und frisch an allem teilzunehmen, was da draußen an Freude und Schmerz, an Lust und Unlust, an blühendem, sprossendem und an ersterbendem Leben sich abwickelt, und daß wir dazu die andern Interessen fügen. (GA113, S. 36) 356 Die innere Kraft, welche zur Abtötung der äußeren Interessen aufgewendet werden musste und mit der Zeit immer weiter gesteigert wird, führt schließlich dazu, dass im Innern des Menschen nicht der Tod, sondern ein neues Leben, eine Art innere Auferstehung erfolgt: Und wenn wir Geduld und Ausdauer, wenn wir Energie und Kraft haben, [. . .] uns zu üben in diesem Abtöten der Interessen für die Umwelt, wenn wir uns genügend darin üben, so wird zuletzt durch diese Abtötung des Interesses an der Außenwelt eine starke, energische Kraft in unserem Innern frei. Was wir auf solche Art in der Außenwelt ertöten, lebt im höheren Maße in der Innenwelt auf. Wir erfahren eine ganz neue Art des Lebens, wir machen jenen Moment durch, wo wir uns sagen können: das ist ja nur ein Teil des gesamten Lebens, was wir sehen können durch die Augen und hören durch die Ohren. Es gibt ein völlig anderes Leben, ein Leben in der geistigen Welt; eine Auferstehung in der geistigen Welt, ein Hinausschreiten über dasjenige, was man sonst das Leben nennt, ein Hinausschreiten, so daß nicht der Tod eintritt, sondern ein höheres Leben resultiert. (GA113, S. 37) Man wird dadurch „ Herrscher und Herr “ im eigenen Lebensleib (ebd.). Dieser Zustand manifestiert sich darin, dass der angehende Forscher die vollbewusste Spaltung seiner bisherigen Persönlichkeit erlebt, dass er sich nicht als eine einheitliche wie bisher, sondern von jetzt an als zwei Persönlichkeit erlebt (ebd., S. 38). An einer anderen klassischen Stelle beschreibt Steiner diese Erfahrung folgendermaßen: Zwei Seelenerlebnisse sind wichtig im Fortgange der Geistesschulung. Das eine ist dasjenige, durch welches sich der Mensch sagen kann: wenn ich nunmehr auch alles außer acht lasse, was mir die physische Außenwelt an Eindrücken geben kann, so blicke ich in mein Inneres doch nicht wie auf ein Wesen, dem alle Tätigkeit erlöscht, sondern ich schaue auf ein Wesen, das sich seiner selbst bewußt ist in einer Welt, von der ich nichts weiß, so lange ich mich nur von jenen sinnlichen und gewöhnlichen Verstandeseindrücken anregen lasse. Die Seele hat in diesem Augenblicke die Empfindung, daß sie in sich selbst ein neues Wesen als ihren Seelen-Wesenskern in der oben beschriebenen Weise geboren habe. Und dieses Wesen ist ein solches von ganz anderen Eigenschaften, als diejenigen sind, welche vorher in der Seele waren. - Das andere Erlebnis besteht darin, daß man sein bisheriges Wesen nunmehr wie ein zweites neben sich haben kann. Dasjenige, worin man bisher sich eingeschlossen wußte, wird zu etwas, dem man sich in 356 Vgl. auch ebd., S. 42: Der Mensch erringt sich vollständige Umformung und Umstülpung seines Wesens für die Feieraugenblicke. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1211 gewisser Beziehung gegenübergestellt findet. Man fühlt sich zeitweilig außerhalb dessen, was man sonst als die eigene Wesenheit, als sein „ Ich “ angesprochen hat. Es ist so, wie wenn man nun in voller Besonnenheit in zwei „ Ichen “ lebte. Das eine ist dasjenige, welches man bisher gekannt hat. Das andere steht wie eine neugeborene Wesenheit über diesem. Und man fühlt, wie das erstere eine gewisse Selbständigkeit erlangt gegenüber dem zweiten; etwa so wie der Leib des Menschen eine gewisse Selbständigkeit hat gegenüber dem ersten Ich. - Dieses Erlebnis ist von großer Bedeutung. Denn durch dasselbe weiß der Mensch, was es heißt, in jener Welt leben, welche er durch die Schulung zu erreichen strebt. (GA13, S. 324) Obschon dies manchen als grotesk, ja absurd erscheinen mag, betont Steiner wiederholt, dass die übersinnliche Forschung völlig frei nicht nur von den physischen Sinnesorganen, sondern auch frei vom Gehirn erfolgt (GA13, S. 318f., GA113, S. 28). Er greift in diesem Zusammenhang auch oft zum Bild des Schwertes in seiner Scheide (GA113, S. 38f., 47, 158). Im gewöhnlichen Leben empfindet sich der Mensch wie ein Schwert, das mit seiner Scheide zusammengewachsen ist. Infolge der oben geschilderten Anstrengungen zur Abtötung der weltlichen Interessen hat man das Gefühl gewonnen (das einer Wirklichkeit entspricht), dass man ein Schwert ist, dass aus seiner Scheide herausfahren kann. Man gewinnt das Gefühl des innerlichen Freiwerdens von seiner physischen Leiblichkeit (ebd., S. 38), der innerlichen Beweglichkeit, wie wenn man Ausfälle machen könnte über die Haut seines physischen Leibes hinaus (ebd., S. 39). Allmählich gewinnt man auch die Fähigkeit, willentlich aus der ersten Person, die an den physischen Leib mit seinen Organen gebunden ist, herauszutreten (ebd.). In der bereits erwähnten klassischen Schilderung der Methoden zur Entwicklung übersinnlicher Erkenntnisfähigkeiten in Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? geht Steiner sogar so weit, dass er die an dieser Stelle eintretende Erfahrung als die „ Erweckung des höheren Menschen in sich “ bezeichnet: Denn jeder Mensch trägt neben seinem - wir wollen ihn so nennen - Alltagsmenschen in seinem Innern noch einen höheren Menschen. Dieser höhere Mensch bleibt so lange verborgen, bis er geweckt wird. Und jeder kann diesen höheren Menschen nur selbst in sich erwecken. Solange aber dieser höhere Mensch nicht erweckt ist, so lange bleiben auch die in jedem Menschen schlummernden höheren Fähigkeiten verborgen, die zu übersinnlichen Erkenntnissen führen. Solange jemand die Frucht der inneren Ruhe nicht fühlt, muß er sich eben sagen, daß er in der ernsten strengen Befolgung der angeführten Regel fortfahren muß. Für jeden, der so verfährt, kommt der Tag, wo es um ihn herum geistig hell wird, wo sich einem Auge, das er bis dahin in sich nicht gekannt hat, eine ganz neue Welt erschließen wird. (GA10, S. 32f.) Nach seiner Erweckung wird der „ höhere “ der „ innere Herrscher “ , der „ mit sicherer Hand die Verhältnisse des äußeren Menschen führt. [Denn s]olange der äußere Mensch die Oberhand und Leitung hat, ist dieser ‚ innere ‘ sein Sklave und kann daher seine Kräfte nicht entfalten “ (ebd., S. 35f.). 1212 11 Übersinnliche Forschungsmethoden In den vom physischen Leib für gewisse Augenblicke befreiten Lebensleib können jetzt die früher im Astralleib entwickelten seelischen Wahrnehmungsorgane wie ein Petschaft im Siegellack abgedrückt werden (GA113, S. 30). Auf diese Weise erlangt man die Fähigkeit, bei normalem Tagesbewusstsein übersinnliche Wahrnehmungen zu haben. Es wird um einen geistig hell, die geistige Welt wird offenbart, die Erleuchtung tritt ein (ebd., S. 38; vgl. GA10, S. 33). Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass das Erlangen der Fähigkeit, bewusst aus dem physischen Leib (für kurze Augenblicke) heraustreten zu können, auch mit anderen Erfahrungen zusammenhängt (GA113, S. 41). Diese Erlebnisse werde ich jedoch erst weiter unter (vgl. Abschnitt „ Die Hüter “ ) behandeln. Entwicklung der seelischen Wahrnehmungsorgane und Schlaf Ich möchte hier noch einen Aspekt der Entwicklung der übersinnlichen Wahrnehmungsorgane hervorheben: Die Ergebnisse der Veränderungen in der seelischen Organisation des Menschen, welche sich im Zuge der Meditations-, Konzentrations- und sonstigen Übungen einstellen, offenbaren sich zunächst im Schlaf. Dies deshalb, weil die genannten Übungen, die selbstverständlich im Wachzustand unternommen werden, zwar Veränderungen im Astralleib (die Ausgestaltung der „ Lotusblumen “ ) hervorrufen, diese aber zunächst nur im Schlafe ihre neue Form voll entfalten, weil sie während des Wachens durch die auf die sinnlichen Eindrücke gerichteten Gesetzmäßigkeiten des physischen und des Lebensleibes gebunden sind (GA113, S. 30 - 32). Es ist ferner zu berücksichtigen, dass die Eindrücke, welche einem durch die astralischen Wahrnehmungsorgane ( „ Lotusblumen “ ) vermittelt werden, zunächst sehr fein und zart sind, und innerhalb der viel stärkeren Eindrücke des Alltagsbewusstseins der Aufmerksamkeit entgehen (GA10, S. 159 - 169, vgl. auch GA13, S. 322). Zunächst handelt es sich bei den genannten Veränderungen im Schlafleben nur darum, dass die früher verworrenen, chaotischen Träume einen regelmäßigen, sinnvollen Charakter annehmen (GA10, S. 159). Mit der Zeit sind die Traumbilder immer weniger der Leitung des normalen Verstandes entzogen und können von ihm wie die Vorstellungen des Tagesbewusstseins geregelt werden. Auf einer weiteren Stufe verschwindet zunehmend der Unterschied zwischen dem Traumbewusstsein und dem Wachzustand und der Träumende fühlt sich „ als Herr und Führer seiner bildhaften Vorstellungen “ (ebd., S. 161). Auf einer noch fortgeschritteneren Stufe wird man während des Schlafens der Eindrücke der übersinnlichen Welt gewahr (ebd., S. 160). Zunächst merkt man erst nach dem Erwachen, dass man während des Schlafens wie in einer anderen Welt gewesen war, später wird man sich solcher Augenblicke der Einsicht in die übersinnliche Welt auch unmittelbar beim Entstehen, also im „ Schlaf “ , bewusst (ebd., S. 177; GA13, S. 322). Die Entwicklung kulminiert schließlich darin, dass auch die Abschnitte des Schlafes, die bisher durch völlige 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1213 Bewusstlosigkeit gekennzeichnet waren ( „ traumloser Schlaf “ ), durch bewusste Erlebnisse, Wahrnehmungen der höheren Welt erfüllt werden. Auf diese Weise wird die sog. „ Kontinuität des Bewusstseins “ erlangt (GA10, S. 170 - 179), wobei die ersten Eindrücke aus dieser höheren Welt eher den Charakter sinnlicher Töne und Worte haben, zu welchen sich erst auf einer höheren Stufe Wahrnehmungen gesellen, die man mit Farben und Formen vergleichen kann. Es ist darauf hinzuweisen, dass das, was als geisteswissenschaftliche Ergebnisse veröffentlicht wird, nicht aus den anfänglichen übersinnlichen Schlaferlebnissen stammen darf, sondern sich auf jene geistigseelischen Beobachtungen stützen muss, die bei vollem Wachzustand gemacht wurden (GA13, S. 323). Die hier geschilderte Schlaferfahrung weist Ähnlichkeiten mit dem Phänomen des sog. luziden Traumes auf, also eines Traumes, in dem der Träumer sich bewusst ist, dass er träumt, und die Geschehnisse seines Traums willentlich beeinflussen kann (vgl. z. B. LaBerge 1987; Holzinger 1994; Love 2013). Die große Verbreitung dieses Phänomens, die insbesondere in den letzten Jahrzehnten zu beobachten ist, weist möglicherweise darauf hin, dass wir es gegenwärtig mit einer Veränderung der subtilen Elemente der menschlichen Wesenheit zu tun haben, mit einer Art spontanen Entwicklung, an deren nicht allzu fernem Ende die Verbreitung übersinnlicher Erkenntnisfähigkeiten stehen könnte. Imagination: einige Erkenntnisresultate Wir haben bis jetzt lediglich die Hintergrundbedingungen des Erreichens der imaginativen Erkenntnisstufe betrachtet, die Erkenntnisresultate, welche mittels dieser Erkenntnisform erreicht werden können, wurden aber noch nicht inhaltlich charakterisiert. Dies soll jetzt geschehen. Eines der ersten Ergebnisse der Imagination besteht in der Gesamteinsicht in den eigenen Lebenslauf. Man wird sich seines Lebens von der Geburt bis zur Gegenwart wie eines Panoramas gewahr: Wenn der Mensch ein solches imaginatives Erkennen erlangt hat, dann ist er zunächst imstande, den eigenen Lebenslauf, den er von Kindheit auf bis zum gegenwärtigen Augenblicke durchlebt hat, wie in einer Einheit, wie in einem Zeittableau zu überschauen. Man hat ein fortwährendes innerlich bewegtes Werdendes vor sich als seinen eigenen Lebenslauf. (GA215, S. 48) 357 Das „ Lebenspanorama “ , das sich dem imaginationsmächtigen Forscher eröffnet, ist gleichwohl viel detaillierter und intensiver als die gewöhnlichen Lebenserinnerungen und darin dem der Nahtoderfahrung vergleichbar. 358 Steiner verglich einmal den Unterschied zwischen dem Reichtum dieses 357 Vgl. auch z. B. GA234, S. 88, 109, 113. 358 Vgl. die entsprechenden Abschnitte des Kapitels „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ . 1214 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Lebenspanoramas und der Schattenhaftigkeit der gewöhnlichen Erinnerungen mit einem Baum und dem Querschnitt durch den Baumstamm (GA234, S. 140). 359 Ein anderer Aspekt der Imagination ist die Entstehung einer ganz neuen Beziehung zur Welt der Sterne. Das Weltbild der Geisteswissenschaft gründet auf der Überzeugung, dass der Mensch eine reale Verbindung zu den geistigen Kräften hat, die in den außerirdischen Sphären, im Kosmos wirken, dass er in der Tat von diesen Kräften abhängig ist. Im gewöhnlichen Leben sind wir uns bekanntlich dieser Verbindung und dieser Abhängigkeit in keiner Weise bewusst. Wir wissen lediglich mit überwältigender Klarheit, dass unsere Existenz völlig von den Kräften der Erde mit ihrer Bio- und Atmosphäre abhängig ist, und mit ein wenig Nachdenken müssen wir auch zugeben, dass unser Leben auf der Erde ohne die Sonne nicht möglich wäre. Andere Himmelskörper erscheinen jedoch zunächst als für unser Leben von geringerer Bedeutung (ausgenommen die theoretische Notwendigkeit einer gewissen Stabilität innerhalb des Sonnensystems, welche wohl mit der Harmonie der Wirkungen aller in ihm enthaltenen Himmelskörper zu tun hat). Diese Bewusstseinslage ändert sich völlig, sobald man die Fähigkeit der Imagination entwickelt. Man wächst gleichsam mit der Welt der Sterne zusammen: Hat der imaginativ Erkennende diejenige Umwelt abgestreift, in der er mit seiner Sinnesorganisation lebt, so tritt in das Erleben eine Organisation ein, von der das Denken so getragen ist wie das sinnliche Bild-Wahrnehmen durch die Sinnesorganisation. Und jetzt weiß sich der Mensch durch diese Denk-Organisation mit der kosmischen Sternen-Umgebung in Zusammenhang, wie er sich vorher durch die Sinnes-Organisation mit der Erden-Umgebung in Zusammenhang gewusst hat. Er erkennt sich als kosmisches Wesen. Die Gedanken sind nicht mehr Schattenbilder; sie sind von Wirklichkeit durchtränkt wie die Sinnesbilder in der sinnlichen Wahrnehmung. (GA26, S. 233) 360 Steiner bezeichnete die Denkorganisation des Menschen sogar einmal als „ Sternen-Organisation “ (ebd., S. 237). Des Weiteren eröffnet sich der Imagination der Ausblick auf ein Element der Menschenwesenheit, das wir im Abschnitt „ Die geisteswissenschaftlichen Forschungsresultate in Bezug auf die menschliche Organisation “ Ätherbzw. Lebensleib genannt haben und das Steiner manchmal auch als „ den zweiten Menschen “ bezeichnet (z. B. GA234, S. 34, 72). 359 Vgl. auch GA215, S. 51 und GA84, S. 164f. für weitere Unterschiede zwischen der Erfahrung des „ Lebenstableaus “ und der gewöhnlichen Erinnerung an Lebensereignisse und Situationen. Es ist nicht auszuschließen, dass Menschen, die über ein Highly Superior Autobiografical Memory verfügen (vgl. oben, Abschnitt „ Empirische Rätsel der Naturwissenschaft “ ), Eindrücke haben, die dem des Lebenspanoramas der ersten Stufen der Imagination verwandt sind. 360 Vgl. auch GA232, S. 11 - 14 und GA234, S. 70 - 72. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1215 Die Erde war einstmals Äther. Sie ist aus dem Äther das geworden, was sie heute ist in ihren unorganischen, in ihren leblosen Dingen. Die Pflanze trägt noch dasjenige in sich, was ein uralter Zustand der Erde war. Und ich selber auch: als einen zweiten Menschen, als den Ätherleib des Menschen. Das alles, was ich Ihnen schildere, kann Beobachtungsgegenstand des erkrafteten Denkens werden. So daß wir sagen können: Gibt sich der Mensch Mühe, das erkraftete Denken zu haben, dann schaut er an sich, an der Pflanze, und indem er auf die Mineralien sieht, in Erinnerung an uralte Zeiten, die die Mineralien wachrufen, außer dem Physischen Ätherisches. (GA234, S. 34f.) Die Imaginationsfähigkeit ermöglicht aber auch erste Wahrnehmungen der übersinnlichen Wesenheiten. Die oben erwähnte „ Stärkung “ des Seelenlebens mittels Meditationsübungen führt dazu, dass der Übende die Fähigkeit erlangt, seine Vorstellungen willentlich zu einer Intensität zu verdichten, die den gewöhnlichen Sinneswahrnehmungen entspricht: „ Die Gedanken sind nicht mehr Schattenbilder; sie sind von Wirklichkeit durchtränkt wie die Sinnesbilder in der sinnlichen Wahrnehmung “ (GA26, S. 233, vgl. auch GA297a, S. 128). Was man normalerweise als an äußeren Gegenständen haftend betrachtet, Farben, Töne, Gerüche usw., nimmt eine völlig neue Qualität an. Diese Qualitäten „ erfüllen nun freischwebend den Raum. Die Wahrnehmungen lösen sich los von allen äußeren Dingen und schweben frei im Raume oder fliegen darin herum “ (GA12, S. 38; vgl. auch GA297a, S. 128). 361 Ein mögliches Missverständnis soll an dieser Stelle ausgeräumt werden. Die Charakterisierung der Imagination als eine Art willkürlich erzeugte Wahrnehmung legt den Verdacht nahe, dass sie bloß eine Vision oder Halluzination sei. Steiner weist diesen Vorwurf ausdrücklich zurück und beschreibt den „ radikalen Unterschied “ (GA215, S. 131f.) zwischen beiden. Die Vision liefert zwar wie eine Imagination auch einen bildhaften Inhalt, der Visionär ist jedoch in seiner Vision gefangen, sein Bewusstsein hat sich in die Vision verwandelt, und er kann nicht willkürlich von ihr und dem gewöhnlichen Bewusstsein hin und her wechseln (ebd., S. 132). 362 Die Freiheit des Übergangs von der gewöhnlichen Wahrnehmung bzw. dem gewöhnlichen Bewusstsein zur imaginativen Erkenntnis ist aber gerade das für die wirkliche Imagination Entscheidende: „ Man muss immer das eine mit dem anderen vergleichen können: höheres Bewusstsein und gewöhnliches Bewusstsein. So wie man im gewöhnlichen Bewusstsein von dem einen Gedanken zum anderen hinübergeht, so muss man von dem im imaginativen Bewusstsein Erlebten zu dem im gewöhnlichen Bewusstsein Erlebten herüber- und hinübergehen “ (GA215, S. 131). Für Steiner ist es „ von unermesslicher Wichtigkeit “ , dass man neben dem übersinnlichen Bewusstsein das gewöhnliche beibehält (ebd). Imagination und Vision unterscheiden sich nach Steiner 361 Der Übende ist sich jedoch dabei vollkommen bewusst, dass er selbst diese „ Wahrnehmungen “ verursacht hat. 362 Vgl. GA73, S. 25 zum Unterschied zwischen Imagination und „ alledem, was Visionen, Halluzinationen, Illusionen sind “ . 1216 11 Übersinnliche Forschungsmethoden auch völlig durch die Art ihres Zustandekommens: Bei der Imagination findet ein wirkliches Heraustreten aus dem physischen Organismus statt, bei einer Vision hingegen ist der Visionär seinem physischen Leib stärker verhaftet, als es beim gewöhnlichen Bewusstsein der Fall ist (ebd., S. 132; vgl. GA73, S. 25). Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet ist also eine Vision das Gegenteil einer Imagination (GA73, S. 25). Es kommt hinzu, dass der Prozess des Imaginierens unter der „ scharfen Kontrolle durch das gewöhnliche Denken “ stehen soll (GA215, S. 132), was in der Vision unmöglich ist. Die Bedeutung der in der Imagination erzeugten willkürlichen Quasi- Wahrnehmungen - wenn ich sie so nennen darf - besteht darin, dass die nichtsinnlichen Dinge und Wesenheiten, die über keine Möglichkeit verfügen, sich in der Sinneswelt zu manifestieren, auf diesem Weg ihre Spuren im Bewusstsein des Geistesforschers hinterlassen können. Steiner beschreibt diese Erfahrung folgendermaßen: In der physischen Welt „ haftet “ zum Beispiel die blaue Farbe an einer Kornblume. In der imaginativen Welt darf sie nun auch nicht „ freischwebend “ bleiben. Sie strömt gleichsam zu einer Wesenheit hin, und während sie noch vorher herrenlos war, wird sie jetzt Ausdruck einer Wesenheit. Es spricht etwas durch sie zu dem Beobachter, was dieser eben nur innerhalb der imaginativen Welt wahrnehmen kann. Und so sammeln sich die „ freischwebenden “ Vorstellungen um bestimmte Mittelpunkte. Und man wird gewahr, dass Wesen durch sie zu uns sprechen. (GA12, S. 39, Hervorhebung im Original) Somit erlangt der Geistesforscher auf dieser Stufe den bewussten Zugang zur übersinnlichen Welt, die Steiner verschiedentlich „ ätherisch “ oder „ elementarisch “ nennt (z. B. GA16, S. 29). 363 In unserem Alltagsbewusstsein sind wir mit den sog. Aggregatzuständen der Substanzen (klassisch unterscheidet man hier drei Zustände: fest, flüssig, und gasförmig, wobei Plasma oft als der vierte Aggregatzustand der Substanzen betrachtet wird) vertraut. In der Antike und selbst noch im Mittelalter pflegte man in diesem Zusammenhang dagegen von den „ Elementen “ zu sprechen (Erde, Wasser, Luft, Feuer). Auf der genannten Erkenntnisstufe erweist sich die Rede von „ Elementen “ als durchaus wirklichkeitsgemäß. Die Elemente sind das äußere Kleid für die bestimmten göttlich-geistigen Wesenheiten, die durch sie hindurch wirken (GA113, S. 45; 87). Hinter dem, was das Auge als Feuer sieht und was wir als Wärme empfinden, ist die wahre geistige Wesenheit, die im Feuer nur den äußeren Aus druck hat. Hinter dem, was wir als Luft einatmen, was als Licht ins Auge dringt und was als Ton in unserem Ohr ist, liegen die wirkenden göttlich-geistigen Wesenheiten, welche nur gleichsam ihr äußeres Kleid im Feuer, im Wasser, in demjenigen haben, was uns in den verschiedenen Reichen der Welt umgibt. 363 Vgl. auch GA89, S. 135; GA113, S. 45; GA147, S. 58 u. a. Steiner unterscheidet mindestens zwei weitere übersinnliche „ Welten “ , welche erst mittels Inspiration und Intuition erforschbar sind. Wir werden weiter unten darauf zurückkommen. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1217 In der sogenannten Geheimlehre, der Mysterienlehre, nennt man dieses Erlebnis das Durchgehen durch die elementaren Welten. Während man sich vorher dem Glauben hingegeben hat, dass das, was man als Feuer erkennt, eine Wirklichkeit ist, erfährt man nun, dass hinter dem Feuer lebendige Wesenheiten stehen. Man macht sozusagen Bekanntschaft, mehr oder weniger intime Bekanntschaft mit dem Feuer als etwas ganz anderem als dem, wie es sich in der Sinnenwelt darstellt; man macht Bekanntschaft mit den Feuerwesen, mit demjenigen, was als Seele hinter dem Feuer steht. Wie unsere Seele hinter unserem Leibe steht, so steht hinter dem Feuer, das mit den äußeren Sinnen wahrnehmbar ist, die Seele und der Geist des Feuers. (GA113, S. 44) Diese göttlich-geistige Wesenheiten sind es, welche den menschlichen Lebensleib (Ätherleib) vor der Geburt des Menschen aufgebaut haben und welche ihm auch während des Lebens (besonders im Schlaf) neue Kräfte zuführen (GA322, S. 79 - 86). 364 Eigenschaften der Imaginationswelt Die Wirklichkeit, zu welcher der Mensch jetzt Zugang gewonnen hat, unterscheidet sich völlig von der gewohnten gegenständlichen Welt. Der Mensch erlebt sich in ihr als ein nicht scharf abgetrennter Teil eines umfassenden kosmischen Organismus (GA16, S. 26 - 28, 30f.; GA26, S. 17, 53; GA215, S. 31). Der Geistesforscher verliert die vertraute Welt fester und beständiger Gegenstände und befindet sich in einer Welt unaufhörlichen, lebendigen Ineinanderfließens, einer Welt ohne feste Konturen und Grenzen (GA16, S. 54), in welcher das Subjekt nicht streng vom Objekt getrennt ist, einer Welt, mit der man viel stärker als in der physischen Welt verwachsen ist (GA215, S. 31), in der die Umgebung gleichsam zu einem selbst gehört (ebd., S. 24). Es ist ein „ unruhiges Gebiet “ (GA13, S. 351; vgl. GA108, S. 16), eine Welt des rhythmischen Vibrierens, des Ineinandergehens, des Sichmetamorphosierens (GA215, S. 53). Diese Erfahrung gleicht dem „ Verlust des Bodens unter den Füßen “ (GA12, S. 37). Die Verhältnisse in der Welt der Imagination unterscheiden sich grundlegend von der physischen Welt. Die Phänomene erscheinen als Gegensatz dessen, was der Mensch in seinem gewöhnlichen Bewusstsein erfährt. So kann sich z. B. ein Wunsch, den man hegt, der also quasi vom Zentrum der Person nach außen strebt, in der Form eines fantastisch aussehenden Tieres, das auf einen losstürmt, manifestieren (ebd., S. 42f.). In ähnlicher Art können die in Bilder „ gekleideten “ Begierden den entgegengesetzten Charakter dessen tragen, was sie in Wirklichkeit sind: Eitelkeit z. B. kann in der 364 Steiner betont, dass es sich hier nicht um die Elementargeister der Mystik oder des gewöhnlichen Hellsehens handelt (vgl. so z. B. Karsten Massei: Schule der Elementarwesen, weiter unten, im Abschnitt „ Hellseher und Eingeweihter “ ), sondern um Elementengeister, also die hohen geistigen Wesen, welche hinter den „ Elementen “ stehen (GA113, S. 49). 1218 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Form einer „ liebreizenden Gestalt “ (ebd., S. 43) erscheinen, welche wunderbarste Dinge verspricht. Führt man jedoch aus, wozu sie verleitet, stürzt man sich in moralisches Verderben (ebd.). Ferner ändern sich im Gegensatz zu den Gegenständen der physischen Welt die Bilder der Imaginationswelt in Abhängigkeit davon, was man ihnen gegenüber empfindet oder denkt. Steiner spricht in diesem Zusammenhang von einem Schleier, der über die Wesenheiten und Prozesse dieser Welt durch die Konfiguration der eigenen Wesenheit des Menschen gelegt wird (GA10, S. 150f.; GA13, S. 375). Schließlich kann man in dieser Welt im Gegensatz zur sinnlichen Wahrnehmung auch nicht beliebig wählen, was man beobachtet. Ist man mit einem Phänomen konfrontiert, so kann man seinen inneren Blick nicht willkürlich von ihm „ abwenden “ . Man kann höchstens die übersinnlichen Wahrnehmungsorgane quasi „ schließen “ , indem man „ durch energische Besinnung auf seine Erfahrung in der Sinneswelt sich in diese zurückversetzt “ (GA16, S. 48). Steiner betont in diesem Zusammenhang, dass die „ Schauungen “ dem Menschen zuerst gleichsam durch Gnade gegeben werden und dass er erst mit fortschreitender Stärkung seines eigenen Wesens die Kraft erlangt, sie auch willkürlich aufzurufen (ebd., S 34; GA322, S. 56). Das heißt aber, dass man die Phänomene der übersinnlichen Welt nicht beliebig miteinander vergleichen kann; man fühlt sich von Einzelheiten wie festgehalten, so dass es vorkommen kann, dass man zwar etwas „ sieht “ , aber nicht weiß, was es ist (GA16, S. 34). 365 Es ist wichtig zu erwähnen, dass man im Kontext der Imagination auch von anderen als nur „ visuellen “ Erlebnissen sprechen kann, z. B. auch von Eindrücken der Wärme/ Kälte, des Geschmacks, Geruchs usw. (GA12, S. 68; vgl. GA13, S. 350). Es ist nicht minder wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass es sich dabei aber immer um innere, seelische Erlebnisse handelt, welche den Erlebnissen der Sinne entsprechen, aber mit ihnen nicht identisch sind: [W]er solche Beschreibungen des übersinnlich Wesenhaften entgegennimmt, sollte nie außer acht lassen, dass der wirkliche Geistesforscher [z. B.] mit der Angabe einer Farbe meint: er erlebe etwas, was von ihm seelisch so erfahren wird, wie die Wahrnehmung der betreffenden Farbe durch das sinnliche Bewusstsein. Wer mit seiner Schilderung zum Ausdruck bringen will: er habe vor dem Bewusstsein etwas, das gleich ist der sinnlichen Farbe, der ist nicht ein Geistesforscher, sondern ein Visionär oder ein Halluzinierender. (GA17, S. 97) Aus dem Vorangehenden wird deutlich, dass sich die Orientierung innerhalb der Imaginationswelt äußerst schwierig und unsicher gestaltet: Man kann zwar die beständigen Verwandlungen der Imaginationswelt wahrnehmen, hat aber keine Möglichkeit, diese Verwandlungsvorgänge zu deuten (GA13, 365 Dass man etwas sieht, es aber nicht erkennen kann, kommt selbstverständlich auch in der sinnlichen Welt oft vor. In dieser Welt aber haben wir gewöhnlich die Möglichkeit, die Umstände der Beobachtung so zu verändern, dass Erkennen möglich wird. Diese Möglichkeit fehlt anscheinend oft auf dieser Stufe der übersinnlichen Erkenntnis. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1219 S. 351), man ist dort gleichsam bloß ein Spielball äußerer Kräfte und Mächte (GA10, S. 138). Es erfordert eine sehr starke innere Kraft, um sich gegenüber den Erfahrungen dieser Welt als selbstständiges Wesen zu behaupten (GA16, S. 25). Die oben geschilderten Übungen zur Verstärkung des eigenen Seelenlebens dienen in der Tat u. a. dazu, sich diese Kraft zu erwerben (ebd.), denn trotz aller Schwierigkeiten, sogar Gefahren dieser Erkenntnisstufe ist ihr Erlangen für das Forschen in den übersinnlichen Welten unentbehrlich (GA12, S. 32; GA322, S. 107, 110). Eine besondere Schwierigkeit in der Orientierung innerhalb der Imaginationswelt ergibt sich aus dem Umstand, dass auf dieser Stufe das, was der Mensch bis dahin als seine innere Welt betrachtet hat, sich gleichsam verobjektiviert und zu einem Teil der Außenwelt wird: In dem physischen Leben hat der Mensch Gefühle, Begierden, Wünsche, Leidenschaften, Vorstellungen usw. Zwar werden diese alle von den Dingen und Wesenheiten der äußeren Welt veranlaßt, aber der Mensch weiß ganz genau, daß sie seine innere Welt bilden, und er unterscheidet sie als das, was in seiner Seele vorgeht, von den Gegenständen der Außenwelt. Sobald aber der imaginative Sinn erweckt ist, hört diese Leichtigkeit des Unterscheidens ganz auf. Seine eigenen Gefühle, Vorstellungen, Leidenschaften usw. treten buchstäblich aus ihm heraus, nehmen Gestalt, Farbe und Ton an. Er steht ihnen jetzt so gegenüber wie in der physischen Welt ganz fremden Gegenständen und Wesenheiten. (GA12, S. 44; vgl. auch z. B. GA10, S. 151) Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Unterscheidung zwischen dem, was in der Imaginationswelt zur eigentlichen übersinnlichen Welt gehört, und dem, was bloß eine Projektion des eigenen Inneres ist, als zunächst fast unmöglich erweist (GA12, S. 43). Ferner ist man sich zwar bewusst, dass die Wahrnehmungen, die man in dieser Welt hat, „ Farben “ , „ Töne “ usw., nur die Oberfläche der Welt bilden, in die man eingetaucht ist, also nicht das eigentliche Wesen dieser Welt, man weiß aber nicht ganz genau, was sie eigentlich ausdrücken (ebd., S. 41). Man hat den Eindruck, dass sie Äußerungen, Kundgebungen der geistigen Wesenheiten sind, welche sich hinter ihnen verbergen (ebd., S. 67), nicht aber diese Wesen selbst (ebd., S. 40). Es wird somit deutlich, dass man weiter fortschreiten muss, um zu gesicherten übersinnlichen Erkenntnissen zu kommen. Inspiration Um die Zuverlässigkeit der übersinnlichen Erkenntnis gewährleisten zu können, muss der angehende Geistesforscher seine Erkenntnisfähigkeit weiterentwickeln. Eine solche gesteigerte übersinnliche Erkenntnisfähigkeit kann man als „ Inspiration “ (im Sinne eines terminus technicus) bezeichnen. 366 Bei der Entwicklung der imaginativen Erkenntnisfähigkeit handelt es sich 366 Wir werden bald erfahren, weshalb diese Bezeichnung angemessen ist. 1220 11 Übersinnliche Forschungsmethoden grundsätzlich um die Umgestaltung des Seelenleibes (Astralleibes) des angehenden Geistesforschers. Für die Entwicklung der inspirativen Erkenntnis ist es erforderlich, den Lebensleib (Ätherleib) umzugestalten bzw. umzuorganisieren (GA10, S. 138; GA13, S. 369). Wie bereits angedeutet, durchdringt dieser den ganzen physischen Körper des Menschen (wie auch den physischen Organismus der Pflanzen und der Tiere) und sorgt dafür, dass in ihm alle Lebensfunktionen aufrechterhalten werden. Ein wenig plakativ gesagt: Er verleiht der physischen Organisation die Lebens-, Wachstums- und Fortpflanzungsfähigkeit. Der Lebensleib ist ein sehr komplexes Gebilde, dessen Gliederung der des physischen Leibes entspricht. Seine Funktionen verlaufen zum größten Teil völlig unabhängig vom menschlichen Bewusstsein. Bekanntlich müssen wir uns unter normalen Umständen nicht um die Aufrechterhaltung unserer Atmung, Blutzirkulation oder Verdauung kümmern. Im Zuge der Entwicklung der Inspiration muss der angehende Geistesforscher diesem feinen Organismus bestimmte neuen Strukturen einprägen. Die wichtigste dieser Strukturen ist ein komplexes Organ, welches sich in der Nähe des Herzens oder genauer gesagt in der Nähe der zwölfblättrigen Lotusblume befindet (GA10, S. 141; GA13, S. 369). Die erfolgreiche Entwicklung dieses Organs resultiert daraus, dass der angehende Geistesforscher seinem Lebensleib gewisse Strömungen und Bewegungen beibringt, welche in Harmonie „ mit den Gesetzen und der Entwicklung der Welt, zu welcher der Mensch gehört “ , stehen (GA10, S. 142). Allgemein hängt die Entwicklung auf dieser Stufe damit zusammen, dass der Mensch zu den Strömungen und Bewegungen seines Ätherleibes, die unabhängig von seinem Bewusstsein verlaufen, solche hinzufügt, die er in bewusster Weise selbst bewirkt (ebd., S. 140). Insbesondere handelt es sich um die Strömungen, die von dem genannten zentralen ätherischen Organ zu den Lotusblumen verlaufen (ebd., S. 141). Im Zuge der fortschreitenden Entwicklung bilden diese Ströme feine Verästelungen aus, die sich über den ganzen Lebensleib verteilen, so dass sie allmählich eine Art ätherisches Netzwerk über ihn legt (ebd., S. 144). Vor dieser Entwicklung hatte der Ätherleib keinen Abschluss gegen die äußere ätherische Welt gehabt, weshalb die Lebensströme aus dem allgemeinen Lebensmeer in ihn ungehindert ein- und wieder aus ihm hinausfließen konnten. Sobald das ätherische Netzwerk gebildet ist, müssen sie es jedoch wie ein sehr feines Häutchen passieren und dabei anregen. Dadurch werden sie dem Menschen wahrnehmbar. Diese Wahrnehmung manifestiert sich als das „ innere Wort “ : Das innerste Wesen der sinnlich wie auch nur übersinnlich wahrnehmbaren Gebilde offenbart sich dem Menschen in einer Art geistigen Sprache. Dadurch betritt der Mensch die eigentliche geistige Welt 367 (ebd.). Mit der sukzessiven Kontrolle über die Strömungen des Lebensleibes entwickelt der angehende Geistesforscher die Fähigkeit, die 367 Im Gegensatz zu der Elementarwelt, die er durch die Erlangung der Imagination betreten durfte. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1221 Lage seines Ätherleibes selbst zu bestimmen (ebd., S. 143), die bislang von den Kräften abhängig, die entweder von außen kommen oder vom physischen Körper ausgehen. Indem der angehende Geistesforscher die Kontrolle über seinen Lebensleib gewinnt, erlangt er allmählich einen hohen Grad an Freiheit von seinem physischen Leib (ebd., S. 158). Die Übungen Die Inspirationsstufe der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten wird grundsätzlich durch die Fortsetzung der Meditations- und Konzentrationsübungen erreicht, die jedoch auf dieser Stufe eine andere Ausrichtung bekommen. Die Imaginationsübungen bestehen im Wesentlichen darin, dass man die Vorstellungskraft stärkt, so dass man im Bewusstsein quasi Wahrnehmungsbilder erzeugen kann; jetzt geht es darum, diese Bilder aus dem Bewusstsein fortzuschaffen, so dass sich ein Zustand des „ leeren Bewusstseins “ einstellt, in dem außer der Aktivität, die diesen Zustand gleichsam erzwang, keine weiteren Inhalte sind: Erlangen kann der Mensch die Erkenntnis durch Inspiration und Intuition auch nur durch seelisch-geistige Übungen. Sie sind denen ähnlich, welche als „ innere Versenkung “ (Meditation) zur Erreichung der Imagination geschildert worden sind. Während aber bei jenen Übungen, welche zur Imagination führen, eine Anknüpfung stattfindet an die Eindrücke der sinnlich-physischen Welt, muß bei denen für die Inspiration diese Anknüpfung immer mehr wegfallen. Um sich zu verdeutlichen, was da zu geschehen hat, denke man nochmals an das Sinnbild des Rosenkreuzes. Wenn man sich in dasselbe versenkt, so hat man ein Bild vor sich, dessen Teile von Eindrücken der sinnlichen Welt genommen sind: die schwarze Farbe des Kreuzes, die Rosen usw. Die Zusammenstellung dieser Teile zum Rosenkreuz ist aber nicht aus der sinnlich-physischen Welt genommen. Wenn nun der Geistesschüler versucht, aus seinem Bewußtsein das schwarze Kreuz und auch die roten Rosen als Bilder von sinnlich-wirklichen Dingen ganz verschwinden zu lassen und nur in der Seele jene geistige Tätigkeit zu behalten, welche diese Teile zusammengesetzt hat, dann hat er ein Mittel zu einer solchen Meditation, welches ihn nach und nach zur Inspiration führt. (GA13, S. 359f.) 368 Die seelische Anstrengung, welche zur Erzeugung dieses Zustandes nötig ist, ist dabei größer als jene, welche für die Imaginationsübungen aufgebracht werden muss (GA215, S. 33, 51). Das so hergestellte leere Bewusstsein bildet gleichsam ein reines Gefäß, in welches die eigentlichen geistigen Inhalte einfließen können: Aber das ist ja eben, was man jetzt erreicht: voll bewußt zu bleiben, keine äußeren sinnlichen Eindrücke zu haben und dennoch nicht zu schlafen, bloß zu wachen. Aber man bleibt nicht bloß wachend. Jetzt, wenn man das leere Bewußtsein dem Unbestimmten, dem überall Unbestimmten entgegensetzt, jetzt dringt die eigentliche geistige Welt herein. Man sagt: Da kommt sie. Während man früher nur 368 Vgl. auch GA156, S. 34 - 36; GA215, S. 32f., 51; GA234, S. 76 usw. 1222 11 Übersinnliche Forschungsmethoden hinausgesehen hat in die außerirdische physische Umgebung, die eigentlich ätherische Umgebung ist, während man das Räumliche gesehen hat, kommt jetzt wie von unbestimmten Fernen durch dieses Kosmische herein von allen Seiten ein Neues, das eigentliche Geistige. Das Geistige kommt von dem Weltenende zuerst herein, wenn man diesen Gang, den ich beschrieben habe, durchmacht. (GA234, S. 76f.) Weil die geistigen Inhalte auf dieser Stufe in die dafür vorbereitete Seele des Geistesforschers einfließen bzw. hereinfluten (GA234, S. 103), was man mit dem Einatmen der Luft vergleichen kann, kann diese Erkenntnisform sinngemäß als Inspiration (Einatmen) bezeichnet werden. Obwohl sie zur Entwicklung der Imagination (des „ schauenden Bewusstseins “ ) führt, kann die Erkraftung des Denkens zur Fähigkeit, die Denkaktivität zu beobachten, auch als eine Art Zwischenstufe zwischen Imagination und Inspiration betrachtet werden. Der Grund dafür liegt in dem Umstand, dass die Inspirationsübungen zum großen Teil darin bestehen, sich auf die seelische Aktivität, nicht auf deren Inhalte zu konzentrieren, was stark an die oben erwähnten Übungen erinnert, die zur Entwicklung der Fähigkeit führen, das Denken (als Aktivität) zu beobachten. Es scheint mir deshalb berechtigt, die Fähigkeit, das Denken zu beobachten, als eine Vorstufe der Inspiration zu bezeichnen. An manchen Stellen macht Steiner zudem darauf aufmerksam, dass sich der Schwerpunkt der übenden Aktivität auf dieser Stufe vom Vorstellungsleben auf das Gefühlsleben verlagert (GA12, S. 55 - 57). So formuliert er z. B. in seiner klassischen Beschreibung der Inspirationsübungen in der Geheimwissenschaft im Umriss den Kern dieser Übungen folgendermaßen: „ Man frage sich in seiner Seele etwa in folgender Art: Was habe ich innerlich getan, um [das Meditationsbild] zusammenzufügen? Was ich getan habe (meinen eigenen Seelenvorgang) will ich festhalten; das Bild aber aus dem Bewusstsein verschwinden lassen. Dann will ich alles in mir fühlen, was meine Seele getan hat, um das Bild zustande zu bringen, das Bild selbst aber will ich mir nicht vorstellen “ (GA13, S. 359). Auf dieser Stufe sind die Früchte der Übungen zur Haltung der Verehrung und der Entwicklung eines reichen Innenlebens besonders gefragt (ebd., S. 360 - 362). Außer der Notwendigkeit der Bereicherung des Gefühlslebens betont Steiner die Bedeutung der „ Ersparnisse “ an Gefühlen für die Entwicklung der Inspirationsfähigkeit (GA12, S. 56). Es geht hier darum, dass man sich buchstäblich verbietet, in bestimmten Situationen „ normale “ Gefühle, z. B. Angst oder Furcht, zu haben (ebd., S. 55 - 57): Wiederholt [der Übende] solche Vorgänge oft, so wird aus den fortlaufend ersparten Seelenkräften ein innerer Schatz gebildet, und der [Übende] wird bald erleben, dass ihm aus solchen Gefühlsersparnissen die Keime zu Vorstellungen erwachsen, welche Offenbarungen des höheren Lebens zum Ausdruck bringen. (ebd., S. 55) 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1223 Interessanterweise betont Steiner in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der Entwicklung der Liebe zur Wahrheit, die einen persönlichen Charakter bekommen und so intensiv erlebt werden soll, dass das logisch Unrichtige zur Quelle des Schmerzes wird (ebd., S. 52). Einige Bedingungen der Inspiration: Verwandlungsfähigkeit, Selbstlosigkeit Um die Erkenntnisstufe der Inspiration erreichen zu können, braucht der Mensch jedoch mehr als die oben erwähnte Steigerung der inneren Aktivität und die Bereicherung und Vertiefung seiner Gefühle. Was nötig ist, ist das Erlangen der Fähigkeit der Verwandlung, der Metamorphose in ein anderes Wesen (GA17, 54f., 61, 75 f; GA156, S. 57f.): Der Vorgang [des Einlebens in die geistige Welt] zeigt ja, dass man gleichsam aus sich selbst herauskommt, sich mit anderem identifiziert. Das genügt jedoch nicht, genügt keineswegs. Notwendig ist, dass man sich nicht nur identifizieren kann, sondern dass man sich auch zu verwandeln vermag in andere Wesenheiten, dass man wirklich nicht nur das bleibt, was man war, als man aus sich herausgegangen ist, sondern dass man sich in andere Wesenheiten zu verwandeln vermag. (GA156, S. 57) Anders charakterisiert: Erst wenn man die Fähigkeit erlangt hat, ein anderes Wesen mit seiner Eigenart in der eigenen Seele aufleben zu lassen, „ tritt die Wahrnehmungsfähigkeit für die geistige Welt ein “ (GA17, S. 76). Diese Fähigkeit kann man nur dann erreichen, wenn man den in jedem tief verankerten Egoismus zu überwinden (GA138, S. 68f., 81; GA145, S. 154) und die Qualität der Selbstlosigkeit, des „ liebevollen Sich-Hingebens “ an die Welt zu außergewöhnlicher Intensität zu steigern vermag (GA156, S. 59 f): [J]e bescheidener man geworden ist, je weiter man es dahin gebracht hat, selbstlos hingegeben zu sein, ohne irgendwelche Prätentionen zu haben in bezug auf eigenes Schaffen, Denken, Fühlen und Wollen, je mehr man es dazu gebracht hat, das Weltenwort 369 walten zu lassen im Weben des eigenen Wesens, desto besser, desto objektiver gibt man wieder, was durch das Weltenwort als Geheimnis die Welt durchflutet. (Ebd., S. 71) Dafür ist u. a. die Bereitschaft nötig, sich von den eigenen persönlichen Angelegenheiten zu distanzieren und ein Interesse dafür zu entwickeln, was „ den Menschen im allgemeinen angeht “ (GA13, S. 337). Steiner betont, dass „ viele Überwindungen “ nötig sind, um die persönlichen Interessen in „ allgemeine Menschheits- und Welteninteressen “ zu verwandeln (GA145, S. 154). Umgekehrt muss man auch lernen, das, was in der eigenen Seele auftaucht, nicht schon deshalb, weil es einem in gewissem Sinne „ gehört “ , anders als etwas Äußeres zu behandeln: „ Selbstlos machen das, was in dem Selbst drinnen ist, das wird Aufgabe “ (GA138, S. 81). Diese Aufgabe ist 369 Wir werden demnächst erfahren, was mit diesem Begriff gemeint ist. 1224 11 Übersinnliche Forschungsmethoden äußerst schwierig zu bewältigen: „ Im gewöhnlichen Sinnensein ist es gar nicht möglich, dass ein Mensch ganz selbstlos liebt, was in ihm drinnen ist. Das muss er aber, wenn er [bis zu dieser Erkenntnisstufe] hinaufkommt “ (ebd.). Den Grad der Selbstlosigkeit, der hier nötig ist, vergleicht Steiner mit der Selbstlosigkeit, welche die Tätigkeit der Sinnesorgane in der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung charakterisiert, die für die Wahrnehmung absolut durchsichtig sind (GA12, S. 49). Steiner hebt in diesem Zusammenhang auch einen scheinbaren Widerspruch der Inspiration hervor: Man muss die eigene Tätigkeit entwickeln und steigern, aber doch so, dass das Ich nicht im geringsten eigenmächtig ist (ebd., S. 48f.). Er macht aber darauf aufmerksam, dass jede Meditation mit der Unterdrückung der Egoität verbunden ist, weil man sich in der Meditation vollständig vergessen und ganz dem Vorstellungsinhalt hingeben muss (GA156, S. 24). Einige Erkenntnisresultate der Inspiration Auf der Inspirationsstufe der übersinnlichen Erkenntnis ändert sich der Charakter der übersinnlichen „ Wahrnehmungen “ grundlegend. Während die übersinnlichen Wahrnehmungen der Imagination sich mit dem Schauen von Bildern des gewöhnlichen Bewusstseins vergleichen lassen, sind die Eindrücke der Inspiration eher dem Hören der Sprache ähnlich (GA12, S. 65, 69), 370 weshalb Steiner in diesem Zusammenhang vom „ inneren Wort “ spricht (GA10, S. 38, 144, vgl. auch ebd., S. 173). Man kann diese Eindrücke auch mit der Wahrnehmung von Musik vergleichen, aus welcher sich allmählich einzelne Worte herauskristallisieren, sodass man den Eindruck hat, die ganze Welt fängt an zu sprechen. Auf diese Weise erlangt man auch einen tieferen Einblick in die übersinnliche Welt, oder anders ausgedrückt: Einblick in eine höhere Sphäre derselben. Wir haben gesehen, dass sich der Imagination ein Einblick in den „ zweiten Menschen “ , den Ätherleib, öffnet. Der Inspiration erschließt sich die Einsicht in den „ dritten Menschen “ (GA234, S. 77), in jene Organisation des Menschenwesens, die wir oben als Astralleib bezeichnet haben (GA234, S. 102, 104). Damit verbunden ist eine Vertiefung der Einsicht in die Vergangenheit des Menschen. Während der Imagination sich der Ausblick auf das Lebenspanorama eröffnet, dringt die Inspiration in das Leben des Menschen vor seiner Geburt, also in die Zeit seines Aufenthaltes in der geistigen Welt zwischen dem letzten Tod und der letzten Geburt ein (GA234, S. 109). Aber auch die Einsicht in die außermenschliche Welt erlangt auf dieser Ebene eine Vertiefung relativ zur Imaginationsstufe der Erkenntnis. Der Imagination ist die erste übersinnliche Welt - Steiner nennt sie oft Elementarbzw. elementarische Welt - zugänglich, der Inspiration erschließt sich die nächsthöhere übersinnliche Welt, die man als die Astralbzw. Seelenwelt bezeichnen kann (GA10, S. 71 - 83; GA143, S. 49 usw.). 370 Vgl. auch GA10, S. 49 f; GA104, S. 48; GA104 a, S. 44; GA156, S. 37, 48. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1225 Die Inspirationsstufe der übersinnlichen Erkenntnis führt ferner dahin, dass das Meer mehr oder weniger zusammenhangloser übersinnlicher Wahrnehmungen allmählich eine gewisse Struktur bekommt und damit nicht nur überschaubar, sondern auch verständlich wird: Man fängt an, die Bilder der Imagination zu verstehen (GA12, S. 69), man erlangt die Fähigkeit, sich in der übersinnlichen (geistigen) Welt zu orientieren (GA138, S. 77). Oft vergleicht Steiner die Erkenntnisart der Inspiration im Sinne dieser Fähigkeit der Orientierung mit dem Lesen einer Schrift, deren einzelne Buchstaben durch die Imagination gegeben sind, deren Verbindung und Bedeutung aber erst durch die Inspiration einsichtig wird (GA13, S. 353 - 356). 371 Man kann auch von einer Differenzierung innerhalb der Inspirationsstufe sprechen. Das Lesen der Imaginationszeichen wird demnach als eine niedere, das Hören als eine höhere Inspirationsfähigkeit erachtet. In diesem Sprechen offenbart sich das Innere der Dinge und Wesen ( „ [D]ie sich öffnende Blüte ‚ spricht ‘ da zum Menschen “ , GA12, S. 17), was erst die alltägliche Welt begreiflich macht (ebd., S. 18). Das allgemeine Sprechen differenziert sich jedoch allmählich in den Eindruck einzelner geistiger Wesenheiten aus (GA215, S. 63, 96, 99). 372 Dieser Moment ist sehr wichtig. Wie bereits erwähnt, findet der Mensch erst mit dem Erlangen der Inspiration den Übergang aus der elementarischen Welt in die eigentliche geistige Welt (GA147, S. 67), 373 und diese Welt erweist sich als die Welt der geistigen Wesenheiten (GA215, S. 63), ihrer Taten (GA12, S. 75) oder aber auch ihrer gegenseitiger Verhältnisse (GA13, S. 352) bzw. Beziehungen (GA13, S. 355). Hierin liegt der wichtigste Unterschied zwischen der imaginativen und inspirativen Erkenntnisstufe (GA215, S. 96, 99). Selbst die unscheinbarste Pflanze erweist sich als eine Offenbarung eines geistigen Wesens: Die Pflanze gehört zu ihm wie der Fingernagel zum Menschen (GA12, S. 71). Auch das sinnlich wahrgenommene Feuer erweist sich als Spur einer geistigen Wesenheit, so wie ein Abdruck in der weichen Erde von einem Wagen und letztendlich von seinem Wagenlenker zeugt (GA113, S. 43). Die sinnlich wahrnehmbare Welt stellt sich als eine Offenbarung von Wesenheiten dar, die hinter dem Vorhang der sichtbaren Welt agieren: „ Wer einmal [diese] Welt betreten hat, der lernt eine Fülle von Wesen und Ereignissen kennen, von denen sich der bloße physische Beobachter nichts träumen lässt “ (GA12, S. 72). Die Gesamtheit der Wesen 371 Vgl. GA10, S. 78 - 79; GA137, S. 26; GA147, S. 69; GA156, S. 25. Steiner hebt hervor, dass für die volle Beweglichkeit in der übersinnlichen Welt die Seele eine Steigerung der Moral braucht, vgl. GA16, S. 71f. Er verwendet sogar an einer Stelle den Neologismus „ Sich Durchmoralisieren “ , um die Qualität der geforderten Eigenschaft zum Ausdruck zu bringen (GA138, S. 77).) 372 Vgl. auch GA12, S. 17, 69; GA322, S. 65. 373 Man wird an dieser Stelle an Eben Alexanders Schilderung des Übergangs von der „ Underworld “ zum „ Gateway “ erinnert (vgl. das Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ ). 1226 11 Übersinnliche Forschungsmethoden dieser geistigen Welt 374 in ihren gegenseitigen Verhältnissen nennt Steiner „ Weltenwort “ (GA17, S. 86) 375 ), wobei er auch die individuelle seelische Wesenheit des dieses Leben „ beobachtenden “ Menschen als „ Weltenwort “ bezeichnet (GA147, S. 82). Das Erleben des Weltenwortes, welches als übersinnliche Erkenntnisfähigkeit wiederum höher als das bloße Hören einzustufen ist, bezeichnet Steiner als Inspiration im höheren Sinne (GA156, S. 71). Die Eigenart der Welt des Weltenwortes kann man mit dem Gespräch unter den sie bewohnenden Wesen vergleichen: Ein Geist spricht zum anderen, und eine Gedankensprache wird gesprochen in diesem Geisterlande. Aber diese Gedankensprache ist nicht bloß eine Sprache, sondern sie ist in ihrer Gesamtheit das, was die Taten der geistigen Welt darstellt. Indem diese Wesen sprechen: handeln, tun, agieren sie. (GA147, S. 82) 376 Die Worte sind in dieser Welt Taten (GA147, S. 81). Ein weiterer wichtiger Aspekt der Erfahrung der Inspiration besteht darin, dass der Mensch das, was er im gewöhnlichen Bewusstsein als bloß kontingente, kulturell bedingte ethische Regel kannte, als ein Teil der Gesetzmäßigkeit des Kosmos erlebt, welche in der geistigen Welt den gleichen ontologischen Status haben wie die Naturgesetze in der Sinneswelt. Niemand kann es [. . .] bei richtiger Betrachtung des Sinnenseins einfallen, die Naturgesetze als etwas den Moralgesetzen Gleiches, ja auch nur Ähnliches anzusehen. Sobald man die höheren Welten betritt, wird das anders. Je geistiger die Welten sind, welche man betritt, desto mehr fallen Moralgesetze und das, was man für diese Welten Naturgesetze nennen kann, zusammen. Im Sinnensein ist man sich dessen bewusst, dass man für dieses Sein im uneigentlichen Sinne spricht, wenn man von einer bösen Tat sagt, sie brenne in der Seele. Man weiß, dass das natürliche Brennen etwas ganz anderes ist. Eine ähnliche Scheidung besteht für die übersinnlichen Welten nicht. Hass oder Neid sind da zugleich Kräfte, welche so wirken, dass man die entsprechenden Wirkungen als die Naturvorgänge dieser Welten bezeichnen kann. (GA16, S. 72f.) 377 Das Seelische, das vom Menschen im gewöhnlichen Bewusstseinszustand innerhalb seines Leibes erlebt wird, zeigt sich als zum geistig-seelischen Kosmos gehörig, das sich als immanent moralisch erweist. Der Mensch erkennt sich als Glied dieses Kosmos (GA215, S. 23; GA25, S. 102). Der physische Leib erweist sich als Verhüller dieser Wirklichkeit (GA215, S. 144). 374 Steiner beschreibt sie manchmal bezeichnenderweise als „ Gedankenlebewesen “ (GA17, S. 77; GA147, S. 81). 375 Vgl. auch GA147, S. 82; GA156, S. 71 usw. 376 Vgl. ebd., S. 107 - 113; GA17, S. 76. 377 Vgl. auch ebd., S. 82, ferner GA215, S. 88; GA18, S. 621; GA28, S. 247, 248, 332 f; GA236, S. 229, 277. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1227 Intuition Die höchste Erkenntnisstufe, welche dem Menschen gegenwärtig zugänglich ist, bezeichnet Steiner als „ Intuition “ . Dieser Name kann zu Missverständnissen führen, weil er gewöhnlich Assoziationen mit dunklen und unberechenbaren „ Eingebungen “ hervorruft. Steiner betont aber stets, dass solche Assoziationen vollkommen irreführend sind: Intuition ist eine Erkenntnis von höchster, „ lichtvollster “ Klarheit (GA12, S. 75; GA13, S. 357). Auf der anderen Seite schildert er, wie die Menschen in lang vergangenen Zeiten über eine Art „ instinktive “ oder „ traumhafte “ Intuition verfügten, deren Nachklang noch in dichterischem oder auch anderem künstlerischen Schaffen, sogar in naturwissenschaftlichen Einfällen zu finden ist (GA215, S. 56). Im Weiteren geht es jedoch um die Beschreibung der „ wahren, vollbewussten Intuition “ (ebd.), die Steiner auch als „ exakte Intuition “ bezeichnet (ebd., S. 75). Sie ist keine Reminiszenz alter Erkenntnisformen, sondern stellt eine neu zu erwerbende Erkenntnisfähigkeit dar. 378 Ist die Entwicklung der Imagination mit der Umgestaltung des Seelenleibes und die der Inspiration mit der Umgestaltung des Lebensleibes verbunden, so ist für die Entwicklung der Intuition eine Verwandlung gewisser Aspekte des physischen Leibes erforderlich (GA13, S. 371), wobei es sich um sehr feine Einwirkungen auf diesen Leib handelt, die mit den gewöhnlichen anatomischen Forschungsmethoden nicht wahrnehmbar sind (ebd.). Die Übungen Die Fähigkeit der Intuition wird durch Übungen erlangt, die auf die Stärkung des Willens zielen (GA215, S. 36f.). Steiner riet z. B., sich die Vorgänge der äußeren Welt oder ein Drama oder Musikstück rückwärts ablaufend vorzustellen (ebd., S. 36). „ Durch dieses Rückwärtsdenken, Andersdenken, als der Tatsachenverlauf in der Natur ist, reißt man den Willen los von dem physischen und ätherischen Organismus “ (ebd.). Eine andere Gruppe von Übungen zielen darauf ab, seine Gewohnheiten zu verändern (ebd., S. 37). Dabei kann es sich um kleine, unbedeutende Gewohnheiten handeln, aber auch um tief verankerte Dispositionen, wie z. B. die eigene Handschrift (ebd.). Man kann auch spezifische Meditationsübungen machen, um die gewünschten Resultate schneller zu erzielen. Diese Meditationen müssen aber anders als jene zur Imagination oder Inspiration gestaltet sein. Sie erfordern, dass der Übende aus seinem Bewusstsein nicht nur die Bilder verschwinden lässt, welchen er sich zur Erlangung der Imagination hingegeben hat, sondern auch das Leben in der 378 Aus dem Folgenden wird ersichtlich, dass Steiners Intuition wenig mit dem Begriff der Intuition bei Bergson und Husserl, die von Schlick kritisiert wurden (vgl. den Abschnitt „ Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre “ ), gemeinsam hat. Ich kann aber auf dieses Thema nicht ausführlich eingehen. 1228 11 Übersinnliche Forschungsmethoden eigenen Seelentätigkeit, in welche er sich für die Erwerbung der Inspiration versenkt hat. Er soll also dann buchstäblich nichts von vorher gekanntem äußeren oder inneren Erleben in seiner Seele haben. (GA13, S. 368) Werden solche und ähnliche Übungen lange genug fortgesetzt, 379 „ wird die Seele zuletzt stark genug, um in der spirituellen Außenwelt, außerhalb des physischen und ätherischen Organismus, mit den spirituellen Wesenheiten draußen zu leben “ (GA215, S. 37). Erst mit dem Erreichen dieser Erkenntnisstufe stellt sich die geistige Welt dem Forscher in einer angemessenen Form dar, die „ nichts mehr gemein hat mit den Eigenschaften der physisch-sinnlichen Welt “ (GA13, S. 369). Einige Übungsresultate Die Forderung, dass man während der Übungen zur Erlangung der Intuition „ nichts von vorher gekanntem äußeren oder inneren Erleben in seiner Seele haben “ soll, zeigt an, dass spätestens auf dieser Erkenntnisstufe grundlegende Veränderungen in der seelischen Konstitution und Lebenseinstellung des Menschen eintreten. Einige dieser Veränderungen werden von Steiner ausführlich charakterisiert. Ich werde im Folgenden eine solche Veränderung beschreiben, weil sie sich später als für die Objektivitätsproblematik der übersinnlichen Erkenntnis relevant erweisen wird. Die Spaltung der Persönlichkeit Steiner schildert, wie sich auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung die drei Seelenkräfte, das Denken, Fühlen und Wollen, voneinander abspalten (GA10, S. 180 - 192; GA13, S. 372 - 374). Diese Spaltung darf nur während der übersinnlichen Beobachtung bestehen (GA13, S. 373). Man kann in diesem Zusammenhang auch von einer „ Spaltung der Persönlichkeit “ sprechen (GA10, S. 180). Es ist unschwer zu bemerken, dass in der gewöhnlichen Seelenverfassung die drei Seelenkräfte stark miteinander verwoben sind. Wenn wir etwas denken, wird der Denkprozess von einem bestimmten emotionalen Unterton begleitet. Es ist auch nicht leicht, völlig gedankenlose Gefühle zu haben; schließlich ist es gewöhnlich so, dass erst auf eine Vorstellung der beabsichtigten Handlung das Ausführen dieser Handlung folgt. 380 Diese selbstverständliche Harmonie unseres Seelenlebens, die nur 379 Manchmal sogar durch Jahre hindurch (GA215, S. 37; GA16, S. 22; GA297, S. 244; GA297a, S. 47, 99, 129 usw.). 380 Auf diese Verflechtung deutet auch die Rede von der „ emotionalen Intelligenz “ (Goleman 1995). Die Beziehung zwischen Rationalität und Emotionalität ist zuletzt zu einem zentralen philosophischen Thema geworden, vgl. dazu z. B. die vor kurzem erschienene Aufsatzsammlung von Angehrnund Baertschi Emotion und Vernunft (Angehrn und Baertschi [Hrsg.] 2000). Auch die neueren Veröffentlichungen von Antonio Damasio (Damasio 2000) und Gerhard Roth (Roth 2001) tragen dem Zusammenhang von Denken, Fühlen und Wollen Rechnung. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1229 in pathologischen Zuständen gestört ist, zeigt sich aber der höheren Erkenntnis als durch gewisse geistige Kräfte oder Wesenheiten vorgeordnet (GA10, S. 182). Diese Wesenheiten verlassen jedoch den Menschen auf der genannten Stufe und überlassen es ihm, die Harmonie seiner Seelenkräfte selbst herbeizuführen. Das bedeutet, dass der Übende, wenn er sich eine Vorstellung einer Handlung bildet, durch keinerlei Impulse getrieben wird, diese Handlung auch auszuführen. Er muss sie sozusagen gesondert wollen. Ähnlich wird bei jemandem, der etwas als ekelhaft empfindet, nicht mehr die gewöhnliche automatische Reaktion aktiviert, sich so schnell wie möglich davon zu trennen. Die Harmonisierung der Kräfte muss jetzt bewusst, vom Ich-Zentrum des Menschen aus erfolgen, und das Ich muss sich ausreichende Kraft und ausreichende Weisheit erworben haben, um dieser Aufgabe gerecht zu werden, was sich um so schwerer gestaltet, als sich die „ Seelenkräfte “ als reale Kräfte, ja sogar reale Wesenheiten entpuppen (GA13, S. 373). Der angehende Geistesforscher gleicht mithin einem Wagenlenker, der drei auseinandertreibende Rosse im Zaum halten muss. Einige Erkenntnisresultate der Intuition Die Einsicht in die göttlich-geistige Welt Während man in der Inspiration die Vorgänge in der übersinnlichen Welt oder präziser die Taten der geistigen Wesen erkennt, erkennt man durch Intuition diese Wesen selbst (GA12, S. 63, 75), das Innere dieser Wesen (ebd., S. 77). In der Intuition wird man mit diesen Wesen völlig eins (GA13, S. 357): Durch Inspiration gelangt man dazu, die Beziehungen zwischen den Wesenheiten der höheren Welt zu erkennen. Durch eine weitere Erkenntnisstufe wird es möglich, diese Wesenheiten in ihrem Innern selbst zu erkennen. [. . .] Ein Sinneswesen erkennen, heißt außerhalb desselben stehen und es nach dem äußeren Eindruck beurteilen. Ein Geisteswesen durch Intuition erkennen, heißt völlig eins mit ihm geworden sein, sich mit seinem Innern vereinigt haben. Stufenweise steigt der Geistesschüler zu solcher Erkenntnis hinauf. Die Imagination führt ihn dazu, die Wahrnehmungen nicht mehr als äußere Eigenschaften von Wesen zu empfinden, sondern in ihnen Ausflüsse von Seelisch-Geistigem zu erkennen; die Inspiration führt ihn weiter in das Innere der Wesen: Er lernt durch sie verstehen, was diese Wesenheiten für einander sind; in der Intuition dringt er in die Wesen selbst ein. (GA13, S. 357) An einer anderen Stelle charakterisiert Steiner die zwei höchsten Erkenntnisstufen wie folgt: „ In der Inspiration wird [der Beobachter] sich bewusst, dass er eins wird mit den Taten solcher [geistigen] Wesen, mit den Offenbarungen ihres Willens; erst in der Intuition verschmilzt er mit Wesen, die in sich geschlossen sind, selbst “ (GA12, S. 75). 381 381 Nach Steiner erlebt jeder Mensch ein Echo dieser beiden Zustände jede Nacht in den verschiedenen Stadien des Schlafes (GA215, S. 79 - 92). 1230 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Das Motiv des Sichvereinens mit den Wesenheiten, des In-ihr-Inneres- Gelangens kommt wiederholt vor (GA12, S. 77; GA16, S. 52 f; GA25, S. 123; GA215, S. 59 u. a.). Der Ausdruck „ verschmelzen “ scheint dabei durchaus keine Übertreibung zu sein, denn Steiner ist gewöhnlich sehr zurückhaltend mit dem Gebrauch gefühlsgeladener Prädikate für die Beschreibung der Resultate seiner Schauungen. Dennoch spricht er von der „ Glorie und Großartigkeit “ (GA215, S. 90) oder „ Herrlichkeit, Großartigkeit und Majestät “ (ebd., S. 97) der sich auf der Intuitionsstufe enthüllenden Welt, die er auch als die „ göttlich-geistige “ Welt bezeichnet (ebd., S. 23, 38, 137). Es zeigt sich im Lichte der Intuition, dass der wahre Kern des Menschen zu ebendieser göttlich-geistigen Welt gehört: „ Das wahre Ich wurzelt in der eben charakterisierten geistig-göttlichen Welt “ (ebd., S. 38). 382 Außer in der Intuition erlebt jeder Mensch diese Welt auf einer bestimmten Stufe seines nachtodlichen Lebens (ebd., S. 99). Die religiösen Offenbarungen, Einsichten und Vorstellungen der Vergangenheit sind daher keine willkürliche Schöpfung der menschlichen Fantasiekräfte, sondern der Nachklang von Erlebnissen der geistigen Welt (ebd., S. 90). Wichtig ist dabei, dass der Mensch seine Individualität nicht verlieren darf: Die wahren Anthroposophen 383 haben nichts von jener Phrase in sich, die da immer wieder betont das Aufgehen des Ichs in einem All-Ich, das Zusammenschmelzen in irgendeinem Urbrei. Die wahre anthroposophische Weltanschauung kann nur als Endziel die Gemeinschaft der selbständig und frei gewordenen Iche, der individuell gewordenen Iche hinstellen. (GA104, S. 157) 384 Das wiederum verlangt selbstverständlich, dass man sein Ich genügend festigt, bevor man fähig ist, ohne Schaden in ein anderes Wesen einzutauchen (GA12, S. 76). Einblick in das wahre Selbst Eine weitere Frucht der intuitiven Erkenntnisstufe besteht im Einblick in das eigene wahre geistige Wesen (GA234, S. 108). Dieses Wesen kann das „ höhere Selbst “ des Menschen genannt werden, denn es erweist sich als von solcher Größe und Erhabenheit, dass man es nie ganz wahrnehmen kann: 382 Der Leser erinnert sich an dieser Stelle an Eben Alexanders Schilderung des Übergangs vom „ Gateway “ zum „ Core “ . 383 Nachdem Steiner im Jahre 1913 mit der Theosophischen Gesellschaft endgültig gebrochen hatte (vgl. GA28, S. 407 - 415), benannte er die Deutsche Sektion dieser Gesellschaft, deren Leiter er war, in „ Anthroposophische Gesellschaft “ um. Seit dieser Zeit bezeichnet der Begriff „ Anthroposophie “ das von Steiner schriftlich und mündlich formulierte Gedankengut oder, anders gesagt, die in Worte gefassten übersinnlichen Schauungen Steiners. Unter Anthroposophen sind dann diejenigen zu verstehen, die dieses Gedankengut als grundsätzlich den Tatsachen entsprechend erachten. 384 Vgl. GA12, S. 76; GA13, S. 393. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1231 Denn welche Stufe man auch erstiegen haben mag auf dem Wege in die übersinnlichen Welten hinauf: es gibt immer noch höhere Stufen. Auf solchen wird man immer noch mehr wahrnehmen von seinem „ höheren Selbst “ . (GA13, S. 388) Steiner spricht in diesem Zusammenhang auch vom „ wahren Ich “ des Menschen (vgl. GA16, S. 88, 91) 385 oder von seinem „ ewigen Wesenskern “ (GA25, S. 106, 140; GA215, S. 62, 63, 67), da diese Wesenheit bei jedem Menschen in den Tiefen der Seele immer vorhanden ist (GA13, S. 358; GA17, S. 88; GA147, S. 137). Der Mensch erkennt, dass sein geistiger Wesenskern nicht nur ungeboren ist, weil er schon vor der Geburt in der geistigen Welt präexistiert, sondern auch unsterblich, weil er nach dem Tode weiterexistiert, (GA215, S. 63) und dass er den Tod des physischen Menschen und die Auflösung der mit ihm verbundenen Persönlichkeit überdauern wird (GA10, S. 156f.). Man erlangt somit Einsicht in die Tatsache der Reinkarnation: „ Auf diesem Punkte wird das Erfühlen von wiederholten Erdenleben zu einem wirklichen Erlebnis “ (GA13, S. 320) 386 . Gleichzeitig erlangt man die Einsicht, dass das wahre Selbst in seiner geistigen Heimat mit den göttlich-geistigen Wesenheiten zusammenhängt und mit ihnen dort eine innige Einheit bildet. Es zeigt sich also an diesem Punkt, dass der Mensch tatsächlich, wie Thomas Nagel vermutet hat, eine „ world soul in disguise “ ist. 387 Man gewinnt aber auch eine neue Perspektive auf das alltägliche Selbst. Dieses hört auf, das Zentrum der eigenen Individualität zu sein, und erweist sich als ein Werkzeug des wahren Selbst, ein Werkzeug, an welchem beständig gearbeitet, das immer vollkommener gestaltet werden kann und muss: Er sieht ein, daß sein niederes Selbst, wie es gegenwärtig sein Dasein ausmacht, nur eine der Gestalten ist, die sein höheres Wesen annehmen kann. Und er erblickt die Möglichkeit vor sich, von seinem höheren Selbst aus an sich zu arbeiten, auf daß er vollkommener und immer vollkommener werde. (GA10, S. 157) Die andere Seite der Einsicht in das eigene wahre Selbst besteht in der Entdeckung, dass die Trennung zwischen eigenem Selbst und den Gegenständen der Welt in einem bestimmen Sinn eine Illusion ist, weil man sich in den Dingen befindet und erkennt: „ Das Ich hat sich ergossen über alle Wesen; es ist mit ihnen zusammengeflossen. Das Leben der Dinge in der Seele ist nun die Intuition. Es ist eben ganz wörtlich zu nehmen, wenn man von der Intuition sagt: man kriecht durch sie in alle Dinge hinein “ (GA12, S. 18). 388 385 Vgl. auch GA113, S. 53; GA147, S. 129f., 137 f; GA215, S. 38, 63 usw. 386 Vgl. auch GA10, S. 157; GA17, S. 88 f; GA147, S. 115; GA234, S. 109 usw. 387 Vgl. das Kapitel „ Begriff der Objektivität “ . 388 Vgl. auch GA35, S. 139, 142, 143, 154; GA156, S. 22f., 27, 31. Man darf aber nicht vergessen, dass, wie soeben hervorgehoben, die Individualität des Menschen in diesem Zustand nicht verloren geht. 1232 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Liebesfähigkeit Nur am Rande möchte ich darauf hinweisen, dass Steiner der Entwicklung der Liebesfähigkeit eine große Bedeutung für die Intuition beimisst (GA16, S. 52f.). 389 Liebesfähigkeit, echtes Mitgefühl sind nach Steiner allgemein eine gute Vorbereitung für die Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeit (GA147, S. 144), und eine Seele, welche die Folgen der eigenen Lieblosigkeit und des Gefühlsmangels in die geistige Welt hinaufträgt, erlebt diese Mängel als besonders schlimm und verbittert (ebd., S. 143). Hingebungsvolle Liebe ist auf der Stufe der Intuition unerlässlich, denn sie ermöglicht es dem Menschen, sich mit vollem Bewusstsein im Wachzustand vom Körperlichen freizumachen: Wenn man während des ganzen Übens zu alledem hinzuentwickelt eine Fähigkeit, die gewöhnlich nicht als eine Erkenntnisfähigkeit angesehen wird, die aber doch eine solche auch ist - wenn man das entwickelt, was Liebe der Seele ist, volle Hingabe an das, was einem entgegentritt, so stark, daß einem diese Liebe bleibt, wenn man auch auf das eigene Selbst jetzt sieht, daß man das, was als Neues in der Seele auftritt, lieben kann mit einer wirklich hingebungsvollen Liebe - , dann entwickelt sich die Möglichkeit, mit vollem Bewußtsein im Wachzustande sich freizumachen im innerlichen Erleben von dem Körperlichen. (GA231, S. 27) Liebe erweist sich ferner als notwendig, um die eigene Individualität der vorigen Inkarnation zu finden (GA231, S. 43). Und drittens zeigt sich im Vollzug des übersinnlichen Prozesses, dass ein Wesen, das sich der geistigen Welt zu erkennen gibt, die Tendenz hat, der Seele des Forschers zu entfliehen und in die äußere geistige Welt hinauszudringen (GA138, S. 81f.). Wer diesem Wesen Liebe entgegenzubringen vermag, den nimmt es quasi mit, und erst dadurch, dass man mitgenommen wird, kann man dieses Wesen kennenlernen (ebd., S. 82; vgl. GA16, S. 52). Kurz gesagt: Ohne Liebe ist Geist- Erkenntnis auf höheren Stufen nicht möglich (GA231, S. 41). Aus dem Umstand, dass man den Wesenheiten der Intuitionswelt Liebe entgegenbringen soll, ergibt sich aber auch die Forderung, das Selbstgefühl in erhöhtem Grade zu entwickeln, so dass man sich in der geistigen Umgebung nicht verliert, nicht gleichsam in sie hinausfließt (GA147, S. 142; GA17, S. 61). Das Selbstgefühl muss in einem Maß gestärkt werden, wie es sich in der Sinneswelt nicht entwickeln darf, wenn man nicht „ ein ausgepichter Egoist sein will “ (GA147, S. 142). Die Frage nach der Objektivität der Forschungsresultate der übersinnlichen Erkenntnismethoden Nach diesem kursorischen Überblick über die übersinnlichen Erkenntnisstufen, die Übungen zur Erlangung dieser Erkenntnisfähigkeiten und deren 389 Vgl. auch GA108, S. 29f.; GA138, S. 81 f; GA147, S. 142 - 144; GA231, S. 27f. und 39 - 43; GA322, S. 85 - 87. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1233 wichtigste Forschungsergebnisse können wir uns jetzt der aus der Sicht des vorliegendes Buches zentralen Frage widmen: Inwiefern kann man den Erkenntnisresultaten der übersinnlichen Erkenntnismethoden Wissenschaftlichkeit zuschreiben? Das Problem des erkenntnistheoretischen Status seiner Forschungen war, wie wir bereits gesehen haben, für Steiner von zentraler Bedeutung. Er war stets bemüht, Disziplin, Strenge und Kontrolle der übersinnlichen Forschung herauszustellen. In dem bereits erwähnten, aus der Sicht der philosophischen Grundlegung der Anthroposophie wichtigen Vortrag in Bologna stellte er fest, dass die Praxis der übersinnlichen Forschung zeige, dass ihre Ergebnisse zuverlässig seien: Man kann geneigt sein, alles, was so [auf dem Wege der übersinnlichen Forschung] erlebt wird, in das Gebiet der Illusion, der Halluzination, der Autosuggestion und so weiter zu verweisen. Eine theoretische Widerlegung solcher Bedenken muß im Grunde naturgemäß unmöglich sein. Denn es kann sich hierbei nicht um eine theoretische Auseinandersetzung über den Bestand einer übersinnlichen Welt handeln, sondern nur um mögliche Erlebnisse und Beobachtungen, die sich in genau der gleichen Art dem Bewußtsein ergeben wie die Beobachtungen, welche durch die äußeren Sinnesorgane vermittelt werden. Daher kann für die entsprechende übersinnliche Welt keine andere Art der Anerkennung erzwungen werden, wie diejenige ist, welche der Mensch der Farben-, der Tonwelt und so weiter entgegenbringt. Berücksichtigt muß nur werden, daß dann, wenn die Übungen in der rechten Art, vor allem mit nie erlahmender Selbstkontrolle gemacht werden, in der unmittelbaren Erfahrung sich der Unterschied des vorgestellten Übersinnlichen von dem wahrgenommenen mit der gleichen Sicherheit für den Geistesforscher ergibt, wie sich in bezug auf die Sinneswelt der Unterschied ergibt zwischen einem vorgestellten Stücke heißen Eisens und einem wirklich berührten. Gerade im Hinblick auf den Unterschied zwischen Halluzination, Illusion und übersinnlicher Wirklichkeit eignet sich der Geistesforscher durch seine Übungen eine immer untrüglicher werdende Praxis an. Naturgemäß ist aber auch, daß der besonnene Geistesforscher im eminentesten Sinne kritisch sein muß gegenüber den einzelnen von ihm gemachten übersinnlichen Beobachtungen. Und er wird eigentlich niemals in bezug auf positive Ergebnisse der übersinnlichen Forschung anders sprechen als mit dem Vorbehalt: dies oder jenes ist beobachtet worden; und die dabei geübte kritische Vorsicht berechtigt zu der Annahme, daß jeder, welcher sich durch entsprechende Übungen in Verhältnis bringen kann zu der übersinnlichen Welt, dieselben Beobachtungen machen wird. Differenzen in den Angaben der einzelnen Geistesforscher können eigentlich nicht in einem anderen Licht gesehen werden, als die voneinander differierenden Angaben verschiedener Reisenden, welche dieselbe Gegend besucht haben und beschreiben. (GA35, S. 121f., Hervorhebung im Original) Wenn man sich auf die Einzelheiten des Weges zur Erlangung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten einlässt, bemerkt man, dass entlang dieses Weges „ Orientierungsmarken “ hinterlegt sind, welche die Zuverlässigkeit und die Objektivität der übersinnlichen Erkenntnisresultate gewährleisten 1234 11 Übersinnliche Forschungsmethoden sollen. Die Frage ist jedoch, ob diese Vorsichtsmaßnahmen den Anforderungen an wissenschaftliches Wissen genügen. Steiner hat im Kapitel „ Charakter der Geheimwissenschaft “ seines klassischen Werkes Geheimwissenschaft im Umriss festgestellt, dass der Weg zu den übersinnlichen Tatsachen ein „ beweisender “ ist (GA13, S. 41), was zum Ausdruck bringen soll, dass er durchaus wissenschaftlichen Charakter habe: Wer sich in eine geheimwissenschaftliche Darstellung einläßt, der wird bald einsehen, daß durch sie Vorstellungen und Ideen erworben werden, die man vorher nicht gehabt hat. So kommt man zu neuen Gedanken auch über das, was man vorher über das Wesen des „ Beweisens “ gemeint hat. Man lernt erkennen, daß für die naturwissenschaftliche Darstellung das „ Beweisen “ etwas ist, was an diese gewissermaßen von außen herangebracht wird. Im geisteswissenschaftlichen Denken liegt aber die Betätigung, welche die Seele beim naturwissenschaftlichen Denken auf den Beweis wendet, schon in dem Suchen nach den Tatsachen. Man kann diese nicht finden, wenn nicht der Weg zu ihnen schon ein beweisender ist. Wer diesen Weg wirklich durchschreitet, hat auch schon das Beweisende erlebt; es kann nichts durch einen von außen hinzugefügten Beweis geleistet werden. Daß man dieses im Charakter der Geheimwissenschaft verkennt, ruft viele Mißverständnisse hervor (GA13, S. 40f., Hervorhebung im Original). Heute verlangt man von der Wissenschaft keine Beweise mehr, weil man - wie wir es im Abschnitt „ Einige theoretische Probleme des empirischen Forschungsparadigmas “ gesehen haben - bereits in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts realisierte, dass empirische Wissenschaft ihre Behauptungen und insbesondere ihre Theorien unmöglich beweisen kann. Was man von der heutigen (Natur-)Wissenschaft verlangt, ist die Erfüllung von drei 390 Hauptkriterien: Die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung müssen erstens objektiv sein, sie müssen zweitens auf empirischem Weg erlangt werden und sie müssen drittens replizierbar sein. Im Weiteren werde ich zunächst versuchen aufzuzeigen, dass die geisteswisenschaftlichen Forschungsmethoden die Objektivität ihrer Forschungsergebnisse durchaus gewährleisten, um mich dann im zweiten Schritt der Untersuchung der Realisierbarkeit der zwei verbleibenden Bedingungen der Wissenschaftlichkeit auf den Wegen der übersinnlichen Forschung zu widmen. Im Kapitel „ Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals “ haben wir festgestellt, dass Objektivität jenen (kognitiven) Urteilen zugeschrieben werden kann, die auf Basis einer möglichst breiten Erfahrung bei Gefahr subjektiver Verzerrungen unter Ausschaltung ebendieser Einflüsse gefällt werden. Die Frage, die jetzt zu beantworten ist, ist also, ob die Ergebnisse der Forschung mittels der von Steiner beschriebenen übersinnlichen Erkennt- 390 Das am Ende des Kapitels „ Was ist Wissenschaft “ formulierte vierte Kriterium, die materialistische Fundierung der wissenschaftlichen Erklärungen, kann aufgrund der Betrachtungen im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ fallengelassen werden. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1235 nismethoden der Imagination, Inspiration und Intuition diesen Kriterien genügen oder nicht. Die erste Frage, die man hier klären muss, ist, ob es sich im Falle dieser Erkenntnisresultate überhaupt um kognitive Urteile im Sinne des genannten Kapitels handelt. Diese Frage kann man eindeutig mit ja beantworten. Zwar „ fließen “ auf den höheren Erkenntnisstufen (Inspiration, Intuition) die übersinnlichen Erkenntnisse eher „ zu “ 391 , als dass sie durch mühsame Forschung unter Einbezug komplexer Experimente und noch komplexerer Forschungsinstrumente gewonnen werden müssen, aber bis man diese Stufe der Einsicht erlangt, muss man große Anstrengungen unternommen haben (wir werden noch von einigen von ihnen sprechen). Abgesehen davon ist ein Geistesforscher nie bloß ein „ Rohr “ für die übersinnlichen Wesenheiten. Er muss in jedem Falle die ihm zukommenden Wahrnehmungen, Einsichten, ja sogar Offenbarungen abwägen und zu jeder Zeit entscheiden, ob sie vertrauenswürdig oder eine Illusion sind. Der Geistesforscher ist kein Medium, das einfach übermittelt, was ihm aus der übersinnlichen Welt zukommt, sondern eben ein Forscher, der zu jeder Zeit Kontrolle über seine Forschungsresultate ausübt und ihre Zuverlässigkeit aufgrund interner Merkmale überprüfen muss. Was er dann der Welt mitteilt, ist also durchaus ein Ergebnis seines kognitiven Urteils. 392 Das Problem der Vollständigkeit der Urteilsgrundlage in der übersinnlichen Forschung möchte ich gegen Ende dieses Kapitels behandeln. Es obliegt uns also jetzt, der Frage nachzugehen, ob und wenn ja in welchem Ausmaß die subjektivierenden Einflüsse aus dem übersinnlichen Erkenntnisprozess ausgeschlossen werden. Wir haben gesehen, dass auf der Erkenntnisstufe der Imagination zunächst kaum von einem solchen Ausschluss die Rede sein kann. Nicht nur ist die imaginative Welt ein „ unruhiges Gebiet “ , in welchem überall nur „ Beweglichkeit und Verwandlung “ herrschen, was die Orientierung bedeutend erschwert (GA13, S. 351). Wir haben auch gesehen, dass auf dieser Stufe die Innenwelt des Forschers, seine Gefühle, Vorstellungen, Leidenschaften aus ihm heraustreten (GA12, S. 42) und von der übersinnlichen „ Außenwelt “ praktisch nicht zu trennen sind, was die Unterscheidung Selbst/ Welt zunächst unmöglich macht (ebd., S. 43). Dazu kommt noch, dass die eigenen Gefühle, Leidenschaften, Wünsche, Begierden usw. oft in umgekehrter Form, gleichsam als Spiegelbild der Wirklichkeit, erscheinen (ebd., S. 42f.), dass sie sich in das Gegenteil kleiden (ebd., S. 43f.). Unter solchen Umständen von den objektiven Forschungsresultaten zu sprechen, scheint ein „ Ding der Unmöglichkeit “ zu sein. 391 Die geistige Wesenheiten sprechen ihr Wesen dem Erkennenden zu: „ Dem Geheimschüler offenbaren sich allmählich von der Geisteswelt aus Wahrheiten. Er hört auf geistige Art zu sich sprechen. - Alle höheren Wahrheiten werden durch solches ‚ inneres Einsprechen ‘ erreicht “ (GA10, S. 51f.). 392 Zum Unterschied zwischen Geistesforscher und Medium bzw. Hellseher werden wir an späterer Stelle zurückkommen. 1236 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Auf der anderen Seite kommen bereits auf dieser Erkenntnisstufe Elemente zum Tragen, welche auf die Notwendigkeit des Ausschlusses der eigenen Subjektivität auf dem Weg zur Erlangung der Imaginationen hinweisen. Bereits eine der ersten Übungen auf dem Weg zur Imaginationsfähigkeit besteht darin, dass man - wie bereits oben geschildert - „ innere Ruhe “ zu erlangen sucht, was einen ungewöhnlich hohen Grad der Distanzierung vom gewöhnlichen Selbst erfordert. Die entsprechende Übung ist einfach zu beschreiben, wer jedoch probiert hat, sie durchzuführen, wird wissen, dass das ganz und gar nicht leicht ist: Die Kräfte der Selbstliebe wehren sich gegen eine solche Distanzierung. Wird sie allerdings erreicht, gewinnt der Mensch eine „ objektivere “ Haltung sich und der Welt gegenüber, als dies im gewöhnlichen Leben der Fall ist, was der Objektivität der Forschungsresultate der übersinnlichen Erkenntnismethoden sicherlich förderlich ist. Das Erfordernis der Überwindung der Selbstliebe nimmt eine völlig andere Dimension mit der Entwicklung der anfänglichen Imaginationsfähigkeiten an. Die durch die Konzentrationsübungen - unter sehr intensiver innerer Anstrengung - erworbenen Imaginationen sind zunächst nichts anderes als verobjektivierte Bilder des eigenen inneren Wesens (GA13, S. 325). Um jedoch zu den Imaginationen der „ äußeren “ geistigen Welt zu gelangen, müssen sie unterdrückt, aus dem Bewusstsein gelöscht werden. Dies stellt sich als eine alles andere als einfache Aufgabe heraus, denn gegen eine solche Auslöschung kämpfen die stärksten Kräfte der Selbstliebe, welche zu einer mächtigen Kraft in der Seele anwachen. Es ist ein starker Trieb da, sich in der Welt beseligt zu fühlen, welche man sich erst selbst herangeschaffen hat. Und man muß gewissermaßen das in der oben erwähnten Art auslöschen können, um das man sich erst mit aller Anstrengung bemüht hat. In der erreichten imaginativen Welt muß man sich auslöschen. Dagegen aber kämpfen die stärksten Triebe des Selbstsinnes an. (Ebd.) Um die hier geforderte „ Auslöschung “ seiner selbst zu erreichen, muss man auf die bereits hoch entwickelte moralische Haltung zurückgreifen: [D]ie moralische Kraft, die zu der gekennzeichneten Besiegung des Selbstsinnes notwendig ist, [kann] nicht erlangt werden [. . .], ohne daß die moralische Verfassung der Seele auf eine entsprechende Stufe gebracht wird. Fortschritt in der Geistesschulung ist nicht denkbar, ohne daß zugleich ein moralischer Fortschritt sich notwendig ergibt. Ohne moralische Kraft ist die erwähnte Besiegung des Selbstsinnes nicht möglich. (GA13, S. 326) Bereits um diese verhältnismäßig niedrige Stufe der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten erlangen zu können, muss der Mensch also über einen hohen Grad der Selbstlosigkeit verfügen, was wiederum der Eliminierung der Subjektivität aus dem Erkenntnisprozess förderlich sein dürfte. Ähnliches lässt sich über die Übungen zur Entwicklung der Fähigkeit der Denkbeobachtung sagen, die eine Zwischenstufe zwischen Imagination und Inspiration einnimmt. In meiner Beschreibung der Methode der Entwicklung 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1237 dieser Fähigkeit habe ich die Rolle des Willens hervorgehoben. 393 Ich habe jedoch damals (absichtlich) nicht erwähnt, dass der hier angesetzte Wille einen völlig anderen Charakter als der uns aus dem Alltagsleben bekannte hat. In der Fortsetzung der hier in der Fußnote 93 angeführten Passage schreibt Steiner Folgendes: Es ist [. . .] zu diesem Entdecken des Gedankenlebens die Aufwendung bewussten Willens notwendig. Das kann aber auch nicht ohne weiteres der Wille sein, der im gewöhnlichen Bewusstsein zutage tritt. [. . .] Im gewöhnlichen Leben fühlt man sich selbst im Mittelpunkte dessen, was man will oder was man wünscht. [. . .] Der Wille strömt von dem Ich aus und taucht in das Begehren, in die Leibesbewegung, in die Handlung unter. Ein Wille in dieser Richtung ist unwirksam für das Erwachen der Seele aus dem gewöhnlichen Bewusstsein. (GA20, S. 162f.) Im Weiteren schreibt Steiner, dass es eine Willensrichtung gibt, welche der gewöhnlichen gleichsam entgegengesetzt ist: Es ist diejenige, welche wirksam ist, wenn man, ohne unmittelbaren Hinblick auf ein äußeres Ergebnis, das eigene Ich zu lenken sucht. In den Bemühungen, die man macht, um sein Denken zu einem sinngemäßen zu gestalten, sein Fühlen zu vervollkommnen, in allen Impulsen der Selbsterziehung äußert sich diese Willensrichtung. (Ebd., S. 163). Steiner spricht in diesem Zusammenhang von einem „ in Hingabe entwickelten Willen “ (ebd.) oder sogar von einer „ Umkehrung des Willens “ (ebd., S. 164), der für die Entwicklung der erstrebten Fähigkeit nötig ist. Er weist darauf hin, dass man diese Willensrichtung u. a. dadurch schulen kann, dass man „ mit innigerem Gemütsanteil “ das Leben der Natur, insbesondere das selbstlose Wachsen der Pflanzen betrachtet, und betont, dass der alltägliche Wille, wenn er auf das Gedankenleben in der charakterisierten Art angewendet wird, nicht zum Erwachen des schauenden Bewusstseins, sondern „ nur zu einer Herabstimmung dieses gewöhnlichen führen, zu wachendem Träumen, Fantasterei, visionsgleichen Zuständen und ähnlichem “ (ebd.). „ In solchem Denken über das Leben der Natur schwingt der Wille leise mit; und er ist da ein in Hingabe entwickelter Wille, der die Seele lenkt; der nicht aus ihr den Ursprung nimmt, sondern auf sie seine Wirkung richtet “ (ebd., S. 163f.). Steiner benutzt den Ausdruck „ Umkehrung des Willens “ . Mir scheint es berechtigt, den Willen, der für das Erlangen der Fähigkeit, das Denken zu beobachten, und somit des „ schauenden Bewusstseins “ notwendig ist, als selbstlosen Willen zu bezeichnen. Vom Erfordernis der Selbstlosigkeit auf der Stufe der Inspiration haben wir recht ausführlich im Abschnitt „ Einige Bedingungen der Inspiration: 393 „ Ein Gedanke, der nicht einfach hingenommen wird aus dem gewöhnlichen Verlauf des Lebens, sondern der mit Willen in das Bewußtsein gerückt wird, um ihn in seiner Wesenheit als Gedanke zu erleben, löst in der Seele andere Kräfte los, als ein solcher, der durch auftretende äußere Eindrücke oder durch den gewöhnlichen Verlauf des Seelenlebens hervorgerufen wird “ (GA20, S. 161f.). 1238 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Verwandlungsfähigkeit, Selbstlosigkeit “ gesprochen. Hier soll der Erörterung lediglich hinzugefügt werden, dass eine der zentralen Eigenschaften dieser Erkenntnisstufe ist, dass der Geistesforscher sich zu den Phänomenen der von ihm wahrgenommenen geistigen Welt selbstlos verhalten muss, um diese Phänomene nicht zu beeinflussen, um ihnen überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich ihm zu offenbaren (GA12, S. 49). In der physischen Welt fällt die Willkür des Ich des Menschen weg, weil die Gegenstände uns durch unsere Wahrnehmungsorgane sagen: „ So und so sind wir. “ In der geistigen Welt ist dies anders: Will der Mensch sich für die Inspiration vorbereiten, so muß er sein Inneres so weit bringen, daß ihm diese Selbstlosigkeit eigen ist, auch wenn nichts von außen dazu zwingt. Er muß innerlich schaffen lernen, jedoch so, daß sein „ Ich “ bei diesem Schaffen nicht im geringsten eine eigenmächtige Rolle spielt. (Ebd.) Die Notwendigkeit der Überwindung der eigenen alltäglichen Persönlichkeit kommt übrigens ebenfalls sehr deutlich in dem zum Tragen, was Steiner die „ vierte Eigenschaft “ 394 nennt, die sich der angehende Geistesforscher aneignen muss: Die vierte Eigenschaft: das Verlangen nach Befreiung, dient dann dazu, das Ätherorgan in der Nähe des Herzens zur Reifung zu bringen. Wird diese Eigenschaft zur Seelengewohnheit, dann befreit sich der Mensch von allem, was nur mit den Fähigkeiten seiner persönlichen Natur zusammenhängt. Er hört auf, die Dinge von seinem Sonderstandpunkte aus zu betrachten. Die Grenzen seines engen Selbst, die ihn an diesen Standpunkt fesseln, verschwinden. Die Geheimnisse der geistigen Welt erhalten Zugang zu seinem Innern. Dies ist die Befreiung. Denn jene Fesseln zwingen den Menschen, die Dinge und Wesen so anzusehen, wie es seiner persönlichen Art entspricht. Von dieser persönlichen Art, die Dinge zu betrachten, muß der Geheimschüler unabhängig, frei werden. (GA10, S. 147f., Hervorhebung im Original) Wenn der angehende Geistesforscher diese Bedingung erfüllt hat, hat er, möchte man meinen, erreicht, was Thomas Nagel den „ view from nowhere “ des „ objektiven Selbst “ (Nagel 1986, S. 60 - 66) nennt. Der Charakter der Übungen und die Zuverlässigkeit der übersinnlichen Erkenntnisresultate Ein weiterer Beitrag zur Ausschaltung der Subjektivität aus dem übersinnlichen Erkenntnisprozess ergibt sich aus dem Charakter der Übungen, welche zur Erlangung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten führen. Wir haben diese Übungen bereits betrachtet, ohne auf ihren spezifischen Beitrag zur 394 Die anderen drei sind: in den Gedanken das Wahre von der Erscheinung zu scheiden; die richtige Schätzung des Wahren und Wirklichen gegenüber der Erscheinung; die Ausübung der „ sechs Eigenschaften “ : Gedankenkontrolle, Kontrolle der Handlungen, Beharrlichkeit, Duldsamkeit, Glaube und Gleichmut (GA10, S. 145f.). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1239 Eliminierung der subjektivierenden Einflüsse gesondert aufmerksam gemacht zu haben. Dies soll jetzt geschehen. Weil Steiner selbst es in einer äußerst präzisen und klaren Form in seiner Geheimwissenschaft getan hat, erlaube ich mir die entsprechende Passage in extenso zu zitieren. Steiner weist in ihr zwar auf die Gründe hin, warum die Übungen durch ihren spezifischen Charakter die Entstehung einer Täuschung im übersinnlichen Erkenntnisprozess mit dem Aufstieg der Erkenntnisstufen zunehmend ausschließen, aber ich glaube, dass sich seine Bemerkungen ohne Weiteres auf das Problem der Ausschließung der Subjektivität aus dem übersinnlichen Erkenntnisprozess übertragen lassen: [Die Übungen] müssen nämlich so eingerichtet sein, daß das Bewußtsein des Geistesschülers während der inneren Versenkung genau alles überschaut, was in der Seele vorgeht. Zuerst wird für die Herbeiführung der Imagination ein Sinnbild geformt. In diesem sind noch Vorstellungen von äußeren Wahrnehmungen. Der Mensch ist nicht allein an ihrem Inhalte beteiligt; er macht ihn nicht selbst. Also kann er sich einer Täuschung darüber hingeben, wie er zustande kommt; er kann seinen Ursprung falsch deuten. Aber der Geistesschüler entfernt diesen Inhalt aus seinem Bewußtsein, wenn er zu den Übungen für die Inspiration aufsteigt. Da versenkt er sich nur noch in seine eigene Seelentätigkeit, welche das Sinnbild gestaltet hat. Auch da ist noch Irrtum möglich. Der Mensch hat sich durch Erziehung, Lernen usw. die Art seiner Seelentätigkeit angeeignet. Er kann nicht alles über ihren Ursprung wissen. Nun aber entfernt der Geistesschüler auch noch diese eigene Seelentätigkeit aus dem Bewußtsein. Wenn nun etwas bleibt, so haftet an diesem nichts, was nicht zu überschauen ist. In dieses kann sich nichts einmischen, was nicht in bezug auf seinen ganzen Inhalt zu beurteilen ist. In seiner Intuition hat also der Geistesschüler etwas, was ihm zeigt, wie eine ganz klare Wirklichkeit der geistig-seelischen Welt beschaffen ist. Wenn er nun die also erkannten Kennzeichen der geistig-seelischen Wirklichkeit auf alles anwendet, was an seine Beobachtung herantritt, dann kann er Schein von Wirklichkeit unterscheiden. Und er kann sicher sein, daß er bei Anwendung dieses Gesetzes vor der Täuschung in der übersinnlichen Welt ebenso bewahrt bleiben wird, wie es ihm in der physisch-sinnlichen Welt nicht geschehen kann, ein vorgestelltes heißes Eisenstück für ein solches zu halten, das wirklich brennt. Es ist selbstverständlich, daß man sich so nur zu denjenigen Erkenntnissen verhalten wird, welche man als seine eigenen Erlebnisse in den übersinnlichen Welten ansieht, und nicht zu denen, die man als Mitteilungen von anderen empfängt und welche man mit seinem physischen Verstande und seinem gesunden Wahrheitsgefühle begreift. Der Geistesschüler wird sich bemühen, eine genaue Grenzscheide zu ziehen zwischen dem, was er sich auf die eine, was auf die andere Art erworben hat. Er wird willig auf der einen Seite die Mitteilungen über die höheren Welten aufnehmen und sie durch seine Urteilsfähigkeit zu begreifen suchen. Wenn er aber etwas als Selbsterfahrung, als eine von ihm selbst gemachte Beobachtung bezeichnet, so wird er geprüft haben, ob ihm diese genau mit den Eigenschaften entgegengetreten ist, welche er an der untrügerischen Intuition wahrnehmen gelernt hat. (GA13, S. 386f., Hervorhebung von mir, MBM) 1240 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Man kann diesen Erörterungen entnehmen, mit welcher Sorgfalt der Geistesforscher mit seinen übersinnlichen Wahrnehmungen umgeht. Alles bloß Zufällige, jegliche unbewusste oder halbbewusste Beeinflussung, sei es durch die eigene Persönlichkeit, sei es durch die Umwelt, wird auf diesem Weg sorgfältig kontrolliert und gefiltert, so dass am Ende nur die ungetrübten geistigen Tatsachen von dem Forscher berücksichtigt werden. Die „ Hüter “ Ich habe bereits auf einige Aspekte des Erwerbs der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten hingewiesen, welche davon zeugen, dass die Subjektivität des Forschers aus diesem Prozess weitgehend ausgeschlossen ist. Ein Problem, das sich auf dem Weg zur Erlangung der Objektivität der übersinnlichen Forschung angedeutet hat, ist dennoch noch nicht ausgeräumt: das Problem der Projektion der eigenen Innenwelt in die „ äußere “ geistige Welt und der sich mit ihr verbindenden grundsätzlichen Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen zwei Bereichen: Selbst und Welt. Genau genommen gibt es zwei Hauptquellen der Probleme, die bei der übersinnlichen Erkenntnis auftreten können. Die erste ist, dass der Forscher die geistige Wirklichkeit unwillkürlich durch seine seelischen Eigenschaften färbt (GA13, S. 382), die zweite Quelle, dass man die neu gewonnene übersinnliche Erfahrung falsch deutet (ebd., S. 383). Was mit der ersten Quelle gemeint ist, braucht keine weitere Verdeutlichung. Anders verhält es mit der zweiten Quelle. Das Problem ist aus dem alltäglichen Leben gut bekannt: Man glaubt, in der Dunkelheit eine Katze zu sehen, aber bei näherem Hinschauen erweist sich die vermeintliche Katze als ein Stück Stoff auf dem Boden; oder man meint, ein Läuten an der Haustür zu hören, aber das Geräusch kommt aus dem Radio. Solche Missverständnisse bzw. falsche Interpretationen des Wahrgenommenen sind in der Sinneswelt verhältnismäßig einfach zu korrigieren: Man muss einfach nochmals oder genauer hinschauen. Allerdings gibt es auch Situationen, in denen eine Korrektur bedeutend schwieriger ist, z. B. im Falle einer Fata Morgana. In der geistigen Welt gestaltet sich die Korrektur dagegen nicht so einfach, weil sich die falsche Meinung des Forschers, sein unrichtiges Urteil mit den übersinnlichen Tatsachen vermischt, so dass die „ Tatsachen “ eine andere Nuance aufweisen und nicht mehr in ihrer reinen Form wahrnehmbar sind. „ Der Irrtum ist dann nicht in dem Menschen und die richtige Tatsache außer demselben, sondern der Irrtum ist selbst zum Bestandteil der äußeren Tatsache gemacht. Er kann deshalb auch nicht einfach durch eine unbefangene Beobachtung der Tatsache berichtigt werden “ (ebd., S. 384). Wie man diese ziemlich hoffnungslos stimmende Klippe überwinden kann, werden wir an einer späteren Stelle klären. Zunächst wenden wir uns dem Problem der Eliminierung der ersten Quelle der Subjektivität in der übersinnlichen Forschung zu. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1241 Die Begegnung mit dem „ kleinen Hüter der Schwelle “ Eine bestimmte Erfahrung, die man zur Erlangung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten zwingend machen muss, sorgt dafür, dass die erste Quelle der Subjektivität eliminiert werden kann. Steiner bezeichnet diese Erfahrung als „ die Begegnung mit dem (kleinen) Hüter der Schwelle “ (GA10, S. 193 - 203). 395 Sie besteht darin, dass man in übersinnlicher Schau seines eigenen Wesens ansichtig wird mit all seinen hellen, aber auch dunklen Seiten, und zwar auch mit den Eigenschaften, die im Alltagsleben völlig verborgen bleiben. Dies klingt verhältnismäßig harmlos, und so ist es ein wenig überraschend zu lesen, dass der Mensch „ erbebt in Furcht “ und „ vergeht fast in Scham “ , wenn er dieses Bild anschaut (GA147, S. 138), dass „ alle Zweifel, alle Ungewissheit über [die geistige] Welt [. . .] doch noch leichter zu ertragen [sind], als das Schauen dessen, was man zurücklassen muss, wenn man sie betreten will “ (GA16, S. 47). 396 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass in diesem Moment die ganze Last vor dem geistigen Augen steht, die sich im Laufe aller bisherigen Inkarnationen aufgetürmt hat. Man kann diese folgenschwere Begegnung als ein Gespräch verstehen, in dem sich der kleine Hüter mit folgenden Worten an den angehenden Geistesforscher wendet: Nun aber sollen dir selbst offenbar werden alle die guten und alle die schlimmen Seiten deiner vergangenen Lebensläufe. Sie waren bis jetzt in deine eigene Wesenheit hineinverwoben, sie waren in dir, und du konntest sie nicht sehen, wie du physisch dein eigenes Gehirn nicht sehen kannst. Jetzt aber lösen sie sich von dir los, sie treten aus deiner Persönlichkeit heraus. Sie nehmen eine selbständige Gestalt an, die du sehen kannst, wie du die Steine und Pflanzen der Außenwelt siehst. Und - ich bin es selbst, die Wesenheit, die sich einen Leib gebildet hat aus deinen edlen und deinen üblen Verrichtungen. Meine gespenstige Gestalt ist aus dem Kontobuche deines eigenen Lebens gewoben. Unsichtbar hast du mich bisher in dir selbst getragen. (GA10, S. 194f., Hervorhebung von mir, MBM) Die Schwierigkeit, mit welcher sich der angehende Forscher an diesem Punkt konfrontiert sieht, wird verständlicher, wenn man Folgendes bedenkt: Wie wir bereits gesehen haben, verbindet sich die Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisorgane mit der Fähigkeit, sich für die Zeit der übersinnlichen Forschung vom physischen Leib willentlich zu trennen. Als eine passende Vorstellung der Situation kann vielleicht das Bild des Schwertes dienen, das 395 Vgl. auch GA13, S. 376 - 384; GA16, S. 39 - 47; GA17, S. 45 - 51; GA138, S. 68 - 70; GA145, S. 182 - 184; GA147, S. 138 - 142. 396 Vgl. GA13, S. 379: „ Denn durch alles das, was man sich ohne geisteswissenschaftliche Schulung an Urteilskraft, Gefühlsleben und Charakter erwirbt, ist man nicht imstande, die Wahrnehmung der eigenen Wesenheit in ihrer wahren Gestalt ohne weiteres zu ertragen. Man würde durch diese Wahrnehmung alles Selbstgefühl, Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein verlieren. “ 1242 11 Übersinnliche Forschungsmethoden in einer Scheide steckt, aus ihr aber herausgezogen werden kann (GA113, S. 38 vgl. oben). Man muss sich vorstellen, dass im Alltagsleben das Schwert mit der Scheide, d. h. die übersinnliche Organisation des Menschen mit dem physischen Leib, verwachsen ist. Infolge der Übungen zur Erlangung der Imaginationsfähigkeit bekommt jedoch das Schwert die Fähigkeit, sich von der Scheide zu trennen. Aus der einen Persönlichkeit werden zwei. Eine solche Trennung der übersinnlichen Organisation vom physischen Leibe findet unter normalen Umständen nur im Tod statt. Es ist kein Zufall, dass die Berichte über Nahtoderlebnisse, die ja eine mehr oder weniger flüchtige Begegnung mit der geistigen Welt sind, eben nur von Menschen stammen, die fast durch den Tod hindurchgegangen sind. Schon dieser Umstand deutet darauf hin, dass eine solche Trennung nicht einfach zu bewerkstelligen ist. Man muss aber noch einen weiteren Aspekt einbeziehen. Die moderne Naturwissenschaft zeigt mit zunehmender Deutlichkeit, was für ein Wunderwerk unser physischer Leib ist. Je mehr wir ihn erforschen, desto mehr können wir über seine Komplexität und die in ihm herrschende Weisheit und Harmonie staunen. Die materialistische Wissenschaft meint, dass diese nichts anderes als Produkte einer sehr lange andauernden zufälligen Evolution seien. Hierin irrt sie sich: Die Weisheit und Harmonie unseres physischen Leibes sind nicht Zufallsprodukte, sondern die Widerspiegelung der Weisheit und Harmonie der geistigen Wesenheiten, welche diesen Leib in einem sehr langen, aber keineswegs zufälligen Prozess erschaffen haben. 397 Das Problem liegt aber darin, dass diese Weisheit und Harmonie nicht unsere Weisheit und Harmonie sind. Solange wir im Tempel unseres physischen Leibes (Joh 2,19) aufgehoben sind, können wir von seiner wundervollen Struktur wie von seinem Schutz profitieren. Sobald wir ihn aber verlassen, stehen wir der Welt gegenüber nackt da, mit allen unseren Schwächen und Unvollkommenheiten. Wiederum bildhaft kann man sich die Situation vielleicht folgendermaßen vergegenwärtigen: Wir sind mit unseren seelischen Fähigkeiten auf der Entwicklungsstufe eines kosmisch gesehen kleines Kindes, das durch die Welt in einem Rolls Royce chauffiert wird. Ohne dieses wundervolle Auto ist das Kind recht hilflos und wird es nicht weit gelangen. Es muss aber lernen, ohne diese großartige Karosse mit dem Leben zurechtzukommen. Wenn der Mensch in einem solch unvorbereiteten Zustand heraustritt aus seinem physischen Leibe, dann ist er nicht etwa ein Wesen von einer höheren, edleren, reineren Form als diejenige war, die er gehabt hat im physischen Leib, sondern ein Wesen mit all den Unvollkommenheiten, die er sich auf sein Karma geladen hat. Das alles bleibt unsichtbar, solange der Leibestempel unseren Ätherleib und astralischen Leib und unser Ich aufnimmt. Es wird sichtbar in dem Augenblick, wo wir mit den höheren Gliedern unserer Wesenheit heraustreten aus dem physischen Leibe. Da stehen, wenn wir nun zu gleicher Zeit hellsichtig werden, 397 Im Kapitel „ Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft “ werde ich mehr zu diesem Thema sagen. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1243 vor unserem Auge all die Neigungen und Leidenschaften, die wir noch haben aus dem, was wir in früheren Erdenleben gewesen sind. Man nehme einmal an, daß man im Laufe der künftigen Erdenzeit noch viele durchmachen werde; da wird man dieses oder jenes tun, dieses oder jenes vollbringen. Zu mancherlei von demjenigen, was man vollbringen wird, liegen schon die Neigungen, die Triebe und Leidenschaften jetzt vor; man hat sie herausgebildet durch Verkörperungen in der früheren Zeit. Alles, was der Mensch fähig ist, an diesen oder jenen Dingen in der Welt zu vollbringen, alles das, dessen er sich schuldig gemacht hat gegen diesen oder jenen Menschen - was er gegen diesen oder jenen Menschen in der Zukunft abzutragen hat - alles das ist in diesem Astralleib und Ätherleib verkörpert, wenn er heraustritt aus dem physischen Leib. Wir treten uns selber gleichsam seelisch-geistig nackt entgegen, wenn wir beim Heraustreten zugleich hellsichtig sind; das heißt wir stehen uns so vor dem geistigen Auge, daß wir jetzt wissen, um wie viel wir schlechter sind, als das sein würde, wenn wir jene Vollkommenheit erreicht hätten, welche die Götter hatten, damit sie schaffen konnten den Wunderbau unseres physischen Leibes. Wir sehen in diesem Augenblick, wie tief wir unter jener Vollkommenheit stehen, die uns vorschweben muß als unser künftiges Entwickelungsideal. Wir wissen in diesem Augenblick, wie tief wir unter die Welt der Vollkommenheit heruntergestiegen sind. (GA113, S. 40f.) Wenn man die Last der ganzen karmischen Vergangenheit, die auf einem im Moment des Eintritts in die (eigentliche) geistige Welt liegt, berücksichtigt, so wird man verstehen: Wie unser Leib „ ungeeignet [. . .] für ein Eisenbad von 900°C [ist], so [. . . ist] das, was wir unser Selbst nennen, mit dem, was wir lieben in der gewöhnlichen Welt, ungeeignet in der geistigen Welt [ist] “ (GA138, S. 69). Man muss deshalb vor dem Tor dieser Welt tatsächlich alles, was man sich bis jetzt erworben hat, zurücklassen (ebd., S. 61, 68, 69). 398 Selbst die Erinnerungen an sein irdisches Dasein, welche ihm im Geistgespräch mit Gedankenlebewesen den Einblick in die Vorstufen der geistigen Welt ermöglicht hatten, müssen vom Menschen jetzt getilgt werden: „ Die Seele muss in der Tat sich vor einen geistigen Abgrund stellen, und an demselben den Willensimpuls fassen, ihr Wollen, Fühlen und Denken zu vergessen. Sie muss auf ihre Vergangenheit in ihrem Bewusstsein verzichten “ (GA17, S. 86f.). Man muss also ein neuer Mensch werden, um in die geistige Welt eintreten zu können (zu dürfen). Und nur als ein neu geborener Mensch kann man Einlass in die eigentliche geistige Welt finden. Man wird an dieser Stelle an die bedeutsamen Worte des Johannesevangeliums erinnert: „ Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes hineingehen “ (Joh 3,5). Diese Erfahrung hat eine entschieden moralische Dimension. Steiner charakterisiert sie einmal so, dass man im Gegensatz zu den tagtäglichen Situationen, in welchen man bereut, etwas Falsches, Irrtümliches getan oder gedacht zu haben, an der Schwelle zur geistigen Welt sich selbst als einen grundsätzlichen Irrtum empfindet (GA16, S. 41). Steiner lässt durchblicken, 398 Vgl. GA16, S. 41; GA17, S. 86 - 88. 1244 11 Übersinnliche Forschungsmethoden dass diese Erfahrung außerordentlich schwer zu ertragen ist. Es hat „ etwas Vernichtendes für das eigene Selbst. Man empfindet seine Innerlichkeit schmerzvoll zurückgestoßen von allem, was man ersehnt. Dieser Schmerz [. . .] überragt weit alles, was man an Schmerzen in der Sinneswelt empfinden kann “ (GA16, S. 41). 399 Er bezeichnet diese Erfahrung einmal auch als „ das erschütterndste Erlebnis, das man haben kann “ (GA147, S. 129). 400 Man braucht inneren Mut, innere Furchtlosigkeit, um sie ertragen zu können (GA16, S. 41; GA17, S. 87; GA297, S. 141). Die Bedeutung der Begegnung mit dem Hüter der Schwelle hinsichtlich der Objektivität der übersinnlichen Forschungsergebnisse ist hoffentlich deutlich geworden. Wenn es zu den Eigentümlichkeiten der imaginativen Erkenntnis gehört, dass sich unser Innenwesen in die „ äußere “ geistige Welt projiziert und sich das Erkenntnisobjekt unter dem Einfluss unserer Urteile, unserer Sympathien oder Antipathien verändert (übrigens auch unter dem Einfluss jener persönlichen Eigenschaften, die uns im gewöhnlichen Leben verborgen bleiben [GA13, S. 376]), so ist von entscheidender Bedeutung, dass der Geistesforscher zu rückhaltloser Selbsterkenntnis voranschreitet. Dies ist durch die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle, die sich als eine der ersten vollbewussten Erfahrungen in der übersinnlichen Welt einstellt, gewährleistet. Erst dank dieser Begegnung lernt der Geistesforscher, sich selbst aus dem Wahrgenommenen auszuschalten (ebd.), wobei eine zuverlässige Wahrnehmung der geistigen Welt ohne den Einblick in das wahre eigene Wesen mit allen seinen Unvollkommenheiten unmöglich ist (GA13, S. 379). Erst die erfolgreich überstandene Begegnung mit dem kleinen Hüter lässt den Geistesforscher gebührend beurteilen, ob das, was man in der übersinnlichen Welt wahrnimmt, eine Realität oder nur eine aus den Tiefen der eigener Persönlichkeit aufsteigende Täuschung ist, denn erst dank dieser Begegnung erkennt man sich und seine Eigenschaften und kann das, was man kennt, mit dem vergleichen, was man sieht (GA10, S. 152f.). Ohne eine solche Begegnung wäre der Geistesforscher nicht imstande, die geistige Welt in ihrer wahren Gestalt zu erkennen, er könnte „ Täuschung nach Täuschung verfallen “ (GA13, S. 381), „ [d]enn es wäre ihm ganz unmöglich, zu unterscheiden zwischen dem, was er in die Dinge hineinsieht, und dem, was sie wirklich sind “ (ebd.). Anhand dieser Betrachtungen ist, wie ich hoffe, ersichtlich geworden, dass es auf dem Weg der übersinnlichen Forschung möglich ist, die eigene Subjektivität aus den Forschungsresultaten weitgehend auszuschalten, so dass ein hoher Grad an Objektivität gewährleistet ist. Wir werden im Folgenden sehen, wie auf diesen Wegen die Subjektivität des Forschers noch radikaler ausgeschaltet wird. Man kann aber bereits den vorangehen- 399 Vgl. GA145, S. 183; GA147, S. 136; GA297, S. 142. 400 Vgl. auch z. B. GA231, S. 21 f und 47. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1245 den Schilderungen entnehmen, wie teuer die Objektivität der übersinnlichen Forschung erkauft werden muss. An dieser Stelle stellt sich die Frage: Wenn die sog. Nahtoderfahrungen, wie oben suggeriert wurde, tatsächlich dadurch entstehen, dass sie das Resultat eines (ungewollten) Austritts aus dem physischen Leib sind, warum begegnet in ihnen nicht der kleine Hüter der Schwelle? Es wurde ja oben behauptet, dass diese Begegnung zwingend den (gewollten) Austritt aus dem physischen Leib begleitet oder diesem folgt. Die Abwesenheit des Hüters der Schwelle erklärt sich durch zweierlei. Zum einen muss diese Begegnung nicht zwingend den Austritt aus dem physischen Leib und den Eintritt in die geistige Welt begleiten. Steiner weist ausdrücklich darauf hin, dass diese Begegnung beim Eintritt in die geistige Welt unter bestimmten Umständen vermieden werden kann. In einem solchen Fall ist man aber, wie oben dargelegt, nicht imstande, gesicherte Erkenntnisse über diese Welt zu gewinnen (ebd.). Zweitens findet diese Begegnung auch im gewöhnlichen Tod nicht statt (GA10, S. 196). Im gewöhnlichen Tod ist die Gestalt des Hüters vor der sterbenden Person verhüllt und nur die geistigen Mächte, welche das Schicksal des Menschen in den folgenden Inkarnationen bestimmen, nehmen diese Gestalt wahr, um die künftigen Schicksale der Person so zu gestalten, dass sie der Hüter läutern, sie von ihren Unvollkommenheiten und Schwächen befreien kann (ebd.). Sollte der sterbende Mensch den kleinen Hüter zu Gesicht bekommen, hätte dies eine vernichtende, paralysierende Auswirkung auf seine Existenz zwischen dem Tod und der neuen Geburt und folglich auch für seine künftige Inkarnation(en). Der Hüter enthüllt sich dem Menschen erst allmählich im Laufe der Existenz zwischen dem Tod und der neuen Geburt, dann aber hat er nicht die vernichtende Wirkung, die er im Alltagsleben haben würde, weil der Mensch bereits Einsicht in andere Dimensionen der Existenz und andere Gesetzmäßigkeiten hat (GA13, S. 381). Es ist also zum Wohl des Menschen, auch des Menschen, der eine Nahtoderfahrung durchmacht, dass die Gestalt des Hüters in diesem Moment vor ihm verhüllt bleibt. Die Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle: Freiheit von den Fesseln der Gemeinschaft Die Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle hat aber noch einige weitere Aspekte, welche aus der Sicht der Objektivität der übersinnlichen Forschungsergebnisse von Bedeutung sind. Ich habe im Zuge der Beschreibung einiger Eigenschaften der Stufe der Intuition auf das Phänomen der Spaltung der Persönlichkeit hingewiesen. Die oben geschilderte Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle findet statt, wenn sich die Bindungen zwischen Willen, Denken und Fühlen innerhalb des Astral- und des Lebensleibes zu lösen beginnen (GA10, S. 193), also wenn der angehende Forscher die Fähigkeit der Inspiration erlangt, weshalb ich zu diesem Phänomen an 1246 11 Übersinnliche Forschungsmethoden dieser Stelle zurückkehre. Welche Bedeutung hat aber die genannte Spaltung für die Objektivität der übersinnlichen Forschungsergebnisse? Das wird ersichtlich, wenn man bedenkt, dass die Erfahrung, die der Menschen in diesem Moment macht, die (teilweise) Befreiung von den Einflüssen der Mächte bedeutet, die durch die Familie, Volk, oder Menschenrasse wirken: [I]n dem Leben einer Familie, eines Volkes, einer Rasse wirken außer den einzelnen Menschen auch die ganz wirklichen Familienseelen, Volksseelen, Rassengeister. Ja, in einem gewissen Sinne sind die einzelnen Menschen nur die ausführenden Organe dieser Familienseelen, Rassengeister und so weiter. In voller Wahrheit kann man davon sprechen, daß sich zum Beispiel eine Volksseele des einzelnen zu ihrem Volke gehörigen Menschen bedient, um gewisse Arbeiten auszuführen. Die Volksseele steigt nicht bis zur sinnlichen Wirklichkeit herab. Sie wandelt in höheren Welten. Und um in der physisch-sinnlichen Welt zu wirken, bedient sie sich der physischen Organe des einzelnen Menschen. Es ist in einem höheren Sinne gerade so, wie wenn sich ein Bautechniker zur Ausführung der Einzelheiten des Baues der Arbeiter bedient. - Jeder Mensch erhält im wahrsten Sinne des Wortes seine Arbeit von der Familien-, Volks- oder Rassenseele zugeteilt. Nun wird der Sinnesmensch jedoch keineswegs in den höheren Plan seiner Arbeit eingeweiht. Er arbeitet unbewußt an den Zielen der Volks-, Rassenseelen und so weiter mit. Von dem Zeitpunkte an, wo der Geheimschüler dem Hüter der Schwelle begegnet, hat er nicht bloß seine eigenen Aufgaben als Persönlichkeit zu kennen, sondern er muß wissentlich mitarbeiten an denen seines Volkes, seiner Rasse. (GA10, S. 200, Hervorhebung im Original) Es wird erst auf dieser Stufe offensichtlich, dass, wie dies die Gegenwartswissenschaft oft behauptet, der Mensch in seinem gewöhnlichen Leben zum großen Teil tatsächlich unfrei, bloß ein „ ausführendes Organ “ höherer Mächte ist und sich ihren Intentionen (unbewusst) fügen muss. Von einer höheren Warte aus ist diese Unfreiheit aber keine, weil das „ wahre Selbst “ des Menschen, seine wahre Individualität, deren „ irdischer Gesandte “ unser Alltagsselbst ist, in die Zusammenarbeit zwischen dem inkarnierten Menschen und den höheren Mächten (Familie-, Volk-, Rassenseelen usw.) „ einwilligt “ . Nichtsdestotrotz ist der inkarnierte Mensch in seinem seelischen Leben nicht ganz frei, er ist folglich auch in seinem Denken nicht ganz frei. Er denkt zumindest teilweise so, wie es ihm von den genannten Mächten „ eingeflüstert “ wird. Dieser Umstand hat offensichtlich eine einschränkende Wirkung auf die Möglichkeit der Objektivität der Erkenntnis, dieses Mal aber auch der gewöhnlichen alltäglichen oder wissenschaftlichen Erkenntnis. Man gewinnt die wahre innere Freiheit also erst, nachdem die Persönlichkeitsspaltung eingetreten ist. 401 Man kann Bacons Terminologie folgend sagen, dass sich der Mensch erst an diesem Wendepunkt seiner Existenz von den „ Idolen des Marktes “ und des „ Stammes “ (bzw. in der modernen Termino- 401 Vgl. GA10, S. 203, wo Steiner von „ der Empfindung der neuen Freiheit “ infolge der erfolgreich bestandenen Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle spricht. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1247 logie: von den Memen) befreit. 402 Auch zu diesem Zeitpunkt ist - wie wir später genauer erfahren werden - die Freiheit aber noch eingeschränkt. Ein ähnlicher Schluss ergibt sich aus der Betrachtung eines weiteren Aspektes der Begegnung mit dem Hüter. Gewöhnlich nehmen wir an, dass die menschliche Persönlichkeit hauptsächlich einerseits durch die genetischen Bedingtheiten, andererseits durch die Einflüsse der erzieherischen Maßnahmen von Eltern, Lehrern u. a. bedingt ist. Die Einsicht in die Wirklichkeit der geistigen Welt und insbesondere die des „ höheren Selbst “ des Menschen führt dazu, dass die Bedeutung dieser Bedingtheiten und Einflüsse relativiert wird. Es zeigt sich, dass der Hauptakteur an der Formung des Charakters des Menschen seine ewige, sich fortlaufend inkarnierende Individualität ist. Auf der anderen Seite erweist sich aber im Moment der Begegnung mit dem (kleinen) Hüter der Schwelle, dass auch noch andere Einflüsse an der Formung der Persönlichkeit des Menschen beteiligt sind, die seine Freiheit einschränken. In Fortsetzung des bereits oben zitierten „ Gesprächs “ mit dem kleinen Hüter der Schwelle erfährt der angehende Geistesforscher von ihm Folgendes: Über dir walteten bisher Mächte, welche dir unsichtbar waren. Sie bewirkten, daß während deiner bisherigen Lebensläufe jede deiner guten Taten ihren Lohn und jede deiner üblen Handlungen ihre schlimmen Folgen hatten. Durch ihren Einfluß baute sich dein Charakter aus deinen Lebenserfahrungen und aus deinen Gedanken auf. Sie verursachten dein Schicksal. Sie bestimmten das Maß von Lust und Schmerz, das dir in einer deiner Verkörperungen zugemessen war, nach deinem Verhalten in früheren Verkörperungen. Sie herrschten über dir in Form des allumfassenden Karmagesetzes. Diese Mächte werden nun einen Teil ihrer Zügel von dir loslösen. (GA10, S. 194) Da der Charakter des Forschers - ob es sich hier um einen Geistesforscher oder einem gewöhnlichen Wissenschaftler handelt, ist an dieser Stelle unerheblich - Einfluss auf die Resultate der von ihm unternommenen Forschung hat, können sie vor der Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle unmöglich objektiv im absoluten Sinne sein, weil sie zumindest zum Teil durch Kräfte bedingt sind, über welche der Forscher keine Kontrolle hat. In der Tat enthalten die emotionalen und volitionalen Komponenten des gewöhnlichen Denkens die karmischen Ergebnisse voriger Erdenleben (GA26, S. 74). Die hohe (wenn auch nicht absolute) Objektivität der Erkenntnis, die zum größten Teil durch die Qualitäten des Denkens bedingt ist, kann also erst nach der erfolgreichen Begegnung mit dem kleinen Hüter eintreten. Interessanterweise ist eine der Folgen der Spaltung der Persönlichkeit des Geistesforschers, dass „ [d]ie ganze Welt [. . .] als Gedankengebäude [erscheint], das vor einem steht, wie die Pflanzen- oder Tierwelt im physisch-sinnlichen Gebiete “ (GA13, S. 374). Gedanken werden gleichsam nach außen versetzt, sie erhalten die Qualität der ontologischen Objektivität. 402 Mehr zu diesem Thema weiter unten. 1248 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Der „ große Hüter der Schwelle “ und die Überwindung der zweiten Quelle der Täuschung Wir haben bis jetzt von den Gefahren der möglichen Täuschung im übersinnlichen Erkenntnisprozess gesprochen, welche sich aus den Projektionen und Färbungen der eigenen Persönlichkeit und aus den undurchsichtigen Einflüssen der (sinnlichen oder übersinnlichen) Umwelt ergeben. Diese Quellen der Täuschung können durch die Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle neutralisiert werden. Wir haben aber gesehen, dass es noch eine zweite Quelle der Täuschung gibt, welche die Zuverlässigkeit der übersinnlichen Forschungsresultate gefährdet: die Möglichkeit, dass der Geistesforscher seine übersinnliche Wahrnehmung falsch deutet. Diese Quelle der Täuschung wird durch eine weitere entscheidende Wesensbegegnung überwunden. Nachdem der angehende Geistesforscher in der Gestalt des kleinen Hüters der Schwelle rücksichtslos und eindringlich Selbsterkenntnis gewonnen hat, tritt ihm eine erhabene Lichtgestalt in den Weg. Deren Schönheit zu beschreiben ist schwierig in den Worten unserer Sprache. - Diese Begegnung findet statt, wenn sich die Organe des Denkens, Fühlens und Wollens auch für den physischen Leib so weit voneinander gelöst haben, dass die Regelung ihrer gegenseitigen Beziehungen nicht mehr durch sie selbst, sondern durch das höhere Bewusstsein geschieht. (GA10, S. 210f.) Diese Gestalt kann als der „ große Hüter der Schwelle “ bezeichnet werden (GA10, S. 213; GA13, S. 390). Der große Hüter fordert den Menschen dazu auf, energisch an sich weiterzuarbeiten, denn nur dann wird die bis dahin eroberte seelisch-geistige Welt eine Wahrheit bleiben und sich nicht in eine Illusion verwandeln (GA13, S. 390; vgl. GA10, S. 210 - 215). Der Hüter stellt dem Menschen aber auch eine Bedingung: Er muss sich gleichsam geloben, alle erworbenen Kräfte zur Erlösung seiner Mitwelt zu verwenden. Diese Forderung des Hüters gibt Steiner mit folgenden Worten wieder: „ Als einzelner hast du bis heute gestrebt; nun gliedere dich ein in das Ganze, damit du nicht nur dich mitbringst in die übersinnliche Welt, sondern alles andere, was in der sinnlichen vorhanden ist “ (GA10, S. 211f., vgl. GA145, S. 149). Folgt der Mensch dieser Aufforderung nicht, wird ihm von dem großen Hüter der Schwelle der Eingang in die höheren Regionen der geistigen Welt verwehrt. Gelobt er aber, dann steht ihm vor der Seele als fernes, großes Ziel die Vereinigung mit dem großen Hüter (GA10, S. 212f.). Der angehende Forscher ist in diesem Augenblick mit der Alternative konfrontiert, entweder weiterhin unablässig, aber auch völlig selbstlos zu arbeiten, um sich einst mit der vor ihm stehenden hehren Gestalt vereinigen zu können, oder aber sich mit dem bis dahin Gewonnenen zufriedenzugeben und sich mit der persönlichen Seligkeit, die er sich durch das bisherige Anstrengung erworben hat, zu begnügen (ebd., S. 214). Die richtige Wahl - und Steiner macht unmissverständlich deutlich, dass es in dieser Situation nur eine richtige Wahl gibt - 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1249 kann man aber nur dann treffen, wenn man sich vollkommen von Selbstsucht befreit hat, weil die von da an zu leistende Arbeit unter vollständigem Verzicht darauf, irgendwelche Früchte für sich ernten zu können, erbracht wird (ebd., S. 213). Wählt der Erkenntnissuchende den „ weißen Pfad “ (ebd., S. 214), gelobt er, an „ der Entwicklung und Befreiung aller Wesen, die Menschen und Genossen des Menschen sind “ (ebd.), zu arbeiten, dann verwandelt sich allmählich der große Hüter der Schwelle zur Christus-Gestalt und der Suchende wird in „ das erhabene Geheimnis [. . .], das mit dem Christus-Namen verknüpft ist “ eingeweiht (GA13, S. 395). Christus zeigt sich ihm als das „ große menschliche Erdenvorbild “ (ebd.). Der Erkenntnissuchende erwirbt sich somit auch das Verständnis dafür, was sich geschichtlich während Christi Leben abgespielt hat (ebd.). 403 Auf diese Dimension der Begegnung mit dem großen Hüter der Schwelle werden wir ausführlicher im nächsten Kapitel eingehen. Von zentraler Bedeutung für die Möglichkeit der Objektivität der übersinnlichen Forschung ist es jedoch, dass sich durch die Begegnung mit dem großen Hüter der Schwelle der Geistesforscher den Zutritt in die höchsten Regionen der geistigen Welt erwirbt (GA10, S. 212), in welcher jegliche persönliche Färbung der übersinnlichen Erfahrung endgültig neutralisiert wird: Der „ Hüter der Schwelle “ wird für jeden einzelnen Menschen eine individuelle Gestalt bis zu einem gewissen Grade annehmen. Die Begegnung mit ihm entspricht ja gerade demjenigen Erlebnis, durch welches der persönliche Charakter der übersinnlichen Beobachtungen überwunden und die Möglichkeit gegeben wird, in eine Region des Erlebens einzutreten, die von persönlicher Färbung frei und für jede Menschenwesenheit gültig ist. (GA13, S. 391) 404 Der Eintritt in diese Sphäre ermöglicht es dem Geistesforscher, die zweite Quelle der Täuschung zu neutralisieren (GA13, S. 387), sie bietet aber auch die Garantie dafür, dass die von diesem Moment an erworbenen übersinnlichen Erkenntnisse von jeglichem bloß persönlichen Elemente befreit sind. 403 Steiner stellt in einem Vortragszyklus fest, dass für den modernen Menschen alles Streben nach übersinnlicher Erkenntnis „ ein Appell [. . .] an das Mysterium von Golgatha [ist] “ (GA215, S. 142. Vgl. ebd. S. 119 - 122). 404 Vgl.: „ [D]ann befreit sich der Mensch von allem, was nur mit den Fähigkeiten seiner persönlichen Natur zusammenhängt. Er hört auf, die Dinge von seinem Sonderstandpunkte zu betrachten. Die Grenzen seines engen Selbsts, die ihn an diesen Standpunkt fesseln, verschwinden “ (GA10, S. 147, Hervorhebung im Original). Diese letzte Passage in GA10 steht nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Erfahrung der Begegnung mit dem großen Hüter der Schwelle, sondern im Kontext der Entwicklung bestimmter Seelenorgane. Dennoch kann man m. E. die beiden Beschreibungen als Darstellungen zweier verschiedener Aspekte eines Prozesses betrachten. 1250 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Die Proben Auf dem übersinnlichen Erkenntnisweg gibt es noch weitere Vorsichtsmaßnahmen zur Überprüfung der Korrektheit der Einsichten eines Geistesforschers bzw. eines angehenden Geistesforschers. Es handelt sich dabei um drei zu bestehende Proben (Feuer-, Wasser- und Luftprobe) (GA10, S. 75 - 90), von welchen besonders die zweite im gegenwärtigen Kontext von Bedeutung ist. Ich werde jedoch alle drei schildern, weil auch die erste und die dritte sich auf einer späteren Stufe dieser Darstellung als relevant erweisen werden. Im Zuge der ersten Probe lernt der angehende Geistesforscher, wie sich die Naturdinge und Lebewesen für das „ geistige Ohr “ und das „ geistige Auge “ kundgeben (ebd., S. 76). Wir haben am Anfang dieses Kapitels feststellen müssen, dass uns in der alltäglichen Wahrnehmung die Naturdinge (z. B. Pflanzen) ihre eigentliche Beschaffenheit, die ihnen zukommende - wenn ich so sagen darf - Herrlichkeit nicht offenbaren. Sie zeigen sich uns wie von einem Schleier der Bedeutungslosigkeit verhüllt. 405 Dieser Schleier fällt infolge eines Vorgangs, den man als „ geistigen Verbrennungsprozess “ bezeichnen kann, wovon sich der Name dieser Probe ableitet (ebd., S. 77). Was von dem künftigen Geistesforscher verlangt wird, um diese Probe zu bestehen, sind Selbstvertrauen, Mut und Standhaftigkeit (ebd., S. 77), also gewisse Charaktereigenschaften eher als Qualitäten des Erkenntnisvermögens, weshalb diese Probe für die Objektivitätsproblematik der übersinnlichen Forschungsresultate nur bedingt relevant ist. Der angehende Geistesforscher erlangt durch das Bestehen der Probe zwar eine wahrere Anschauung der Eigenschaften der ihn umgebenden Wesen, was ihn zweifelsohne der objektiven Erkenntnis der Welt ein Stück näherbringt, aber dabei handelt es sich eben bloß um eine Anschauung der Welt und noch nicht um wissenschaftliche Einsicht (ebd., S. 76). Die zweite Probe (die sog. Wasserprobe) testet direkt die Zuverlässigkeit der übersinnlichen Wahrnehmung des angehenden Geistesforschers und seiner Fähigkeit, sich in der übersinnlichen Welt zu orientieren. Sie besteht darin, dass der angehende Geistesforscher einen Auftrag bekommt, den er in der übersinnlichen Welt zu erfüllen hat. Dies mag zunächst verhältnismäßig unproblematisch scheinen, der springende Punkt besteht aber darin, dass der Auftrag in einer Schrift angegeben ist, die nur in der übersinnlichen Welt zugänglich und nur dort zu erlernen ist. Die Fähigkeit, die dem angehenden Geistesforscher gestellte Aufgabe auszuführen, zeugt also davon, ob er eine untrügliche Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der übersinnlichen Welt erlangt hat. Er muss nämlich nicht nur die Zeichen der übersinnlichen Schrift richtig wahrnehmen können, er muss sie auch lesen, also richtig deuten können (ebd., S. 79). Und dazu muss er seine Subjektivität, seine Wünsche, Präfe- 405 Wir werden im nächsten Kapitel auf die Gründe für dieses Phänomen eingehen. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1251 renzen, Vorlieben, seine Neigungen und Aversionen, seine Sympathien und Antipathien, völlig ausschalten: Der Kandidat darf, um die angegebene Veränderung auf dem höheren Gebiet des Daseins hervorzubringen, lediglich dem folgen, was sich ihm auf Grund seiner höheren Wahrnehmung und als Folge seines Lesens der verborgenen Schrift ergibt. Würde er während seiner Handlung irgend etwas von seinen Wünschen, Meinungen und so weiter einmischen, folgte er nur einen Augenblick nicht den Gesetzen, die er als richtig erkannt hat, sondern seiner Willkür: dann würde etwas ganz anderes geschehen, als geschehen soll. In diesem Falle verlöre der Kandidat sofort die Richtung auf sein Ziel der Handlung, und Verwirrung träte ein. (Ebd., S. 82f.) Das Bestehen dieser Probe erkennt man an gewissen genau bestimmten Veränderungen in der übersinnlichen Welt (ebd., S. 82). Wird die Probe nicht den Vorgaben gemäß vollzogen, so muss sie wiederholt werden. Der Name „ Wasserprobe “ ergibt sich daraus, dass dem Kandidaten im Vollzug seiner Aufgabe die Stütze der äußeren Welt ebenso fehlt wie einem Schwimmer, der nach dem Sprung ins Wasser den Grund unter den Füßen verliert (ebd.). Die Wasserprobe testet vor allem zwei Eigenschaften des Kandidaten: zum einen, ob er seine Selbstbeherrschung (ebd., S. 83), zum anderen, ob er seine gesunde und sichere Urteilskraft in ausreichendem Maß ausgebildet hat (ebd., S. 84). Es ist sofort ersichtlich, dass die Fähigkeiten, seine Subjektivität auszuschalten und gesunde Urteilskraft walten zu lassen, von unmittelbarer Relevanz für die Objektivitätsproblematik der übersinnlichen Erkenntnis sind. Die dritte Probe schließlich (die sog. Luftprobe) testet die Fähigkeit des angehenden Geistesforschers, sich frei und sicher in der höheren Welt zu bewegen (ebd., S. 80). Bei dieser Probe steht vor dem Kandidaten kein Ziel, das er erreichen, keine geistige Pflicht, die er erfüllen soll. Das heißt aber nicht, dass er beliebig handeln kann. Vielmehr muss er zeigen, dass er aus sich selbst, aus seiner wahren geistigen Natur, seinem „ höheren Selbst “ die Antriebe zum Handeln schöpfen kann, und zwar ohne Zögern und Zweifeln: Alles, was nötig ist, das besteht darinnen, rasch mit sich selbst zurecht zu kommen. Denn man muß hier sein „ höheres Selbst “ im wahrsten Sinne des Wortes finden. Man muß sich rasch entschließen, auf die Eingebung des Geistes in allen Dingen zu hören. Zeit zu irgendwelchen Bedenken, Zweifeln und so weiter hat man hier nicht mehr. Jede Minute Zögerung würde nur beweisen, daß man noch nicht reif ist. [. . .] Alle Verlockungen zum Handeln, ja selbst zum Denken, an die ein Mensch vorher gewöhnt war, hören auf. Um nicht untätig zu bleiben, darf der Mensch sich selbst nicht verlieren. Denn nur in sich selbst kann er den einzigen festen Punkt finden, an den er sich zu halten vermag. (Ebd., S. 85f., Hervorhebung im Original) Die Probe verlangt also die Ausbildung einer Eigenschaft, die man gewöhnlich als „ Geistesgegenwart “ bezeichnet (ebd., S. 86). Es wird aber aus der obigen Beschreibung des Charakters dieser Probe ebenfalls ersichtlich, dass der Kandidat an diesem Punkt beweisen muss, dass er aus eigenem Antrieb in 1252 11 Übersinnliche Forschungsmethoden vollkommener Harmonie mit den geistigen Gesetzmäßigkeiten handeln kann. Diese Qualität setzt voraus und verbürgt, dass man in seiner Erkenntnis diesen Gesetzmäßigkeiten treu bleiben kann. Anhand dieser Charakterisierung sollte deutlich werden, dass zumindest die zweite der drei Proben einen weiteren Prüfstein bietet, durch den die Zuverlässigkeit der übersinnlichen Einsichten bzw. Erkenntnisse des Geistesforschers „ auf Herz und Nieren “ überprüft werden können. Nebenbei sei in diesem Zusammenhang auf Jesu Gespräch mit Nikodemus (Joh 3,1-21) hingewiesen, in dem Jesus von der Geburt „ aus Wasser und Geist “ spricht. Ich halte es für möglich, dass er damit eben die Wasser- und Luft-Probe als Bedingung des Eintretens in die geistige Welt meinte. Diese Deutung gewinnt an Plausibilität, wenn man bedenkt, dass das an dieser Stelle mit „ Geist “ übersetzte griechische Wort πνεῦμα auch „ Wind “ oder „ Hauch “ meint, was von „ Luft “ nicht weit entfernt ist. Fazit Ich hoffe, mit den obigen Ausführungen gezeigt zu haben, dass man es bei der Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten der Imagination, Inspiration und Intuition mit einem auf der einen Seite sehr komplexen, vielfältigen und feinem, auf der anderen Seite äußerst anspruchsvollen Vorgang zu tun hat. Der Verdacht, dass es sich um ein dilettantisches Herumpfuschen handelt, das auch ein beliebiger Meditationskurs leistet, ist weit von der Wirklichkeit entfernt. Wenn man sich auf die Intimität dieser Entwicklung einlässt, mindestens soweit sie oben dargestellt werden konnte, sollte man die Behauptung Steiners, dass der Weg zu den wissenschaftlichen Tatsachen ein beweisender ist, durchaus nachvollziehen können. Man muss dabei selbstverständlich berücksichtigen, dass Steiner diese Aussage zu einer Zeit traf, als noch die Meinung herrschte, dass eines der zentralsten Merkmale der Wissenschaft die Fähigkeit ist, ihre Behauptungen zu beweisen, was die neuere Wissenschaftstheorie längst aufgegeben hat. Heute würde man formulieren: Der Weg zu den übersinnlichen Tatsachen, den der Geistesforscher beschreiten muss, ist derart, dass er die Objektivität und somit auch die Zuverlässigkeit der auf diesem Weg erlangten Forschungsergebnisse sichert. Man kann aber noch weitergehen und behaupten, dass der Ausschluss der Subjektivität aus den Forschungsresultaten auf dem Forschungsweg der Geisteswissenschaft Steiners vollständiger ist als dies in der Naturwissenschaft je der Fall sein kann, dass ihre Forschungsresultate also in dieser Hinsicht 406 objektiver als die Forschungsresultate der herkömmlichen Natur- 406 Die Frage der Vollständigkeit der Urteilsgrundlage der übersinnlichen Forschungsresultate, die ebenfalls eine Bedingung der Objektivität der Forschungsresultate bildet, haben wir bis jetzt nicht behandelt. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1253 wissenschaft sind. Die Geisteswissenschaft ist insofern nicht nur wissenschaftlich, sondern sogar wissenschaftlicher als die Naturwissenschaft selbst. 407 Geistesforscher und Hellseher, Eingeweihter und Hellseher Im Lichte der vorangehenden Ausführungen wird man besser die wichtige Unterscheidung verstehen können, die Steiner zwischen dem Hellseher und dem geistigen Forscher (GA15, S. 56f.) bzw. Eingeweihten (GA15, S. 56f.; GA114, S. 10ff.) macht. Ausdrücklich spricht er in Bezug auf die Einsichten in die geistigen Welt von geistiger bzw. übersinnlicher Forschung und nicht von Ergebnissen des Hellsehens (z. B. GA113, S. 82, 86). Steiner grenzt seine Erkenntnismethoden auch mit aller Deutlichkeit von der „ Trivialmystik “ (GA113, S. 28) und vom „ visionären Träumen und Mediumismus “ (GA10, S. 216) ab und lehnt das Hellsehen als Grundlage bzw. Hauptquelle der Einsichten in die geistigen Welten explizit ab: „ Alles Visonäre, Mediumistische [. . .] bleibt auf diesem Seelenweg [auf dem Seelenweg der Geisteswissenschaft] ausgeschlossen “ (GA16, S. 85). Diese Art der Einsicht in die übersinnliche Welt bezeichnet er auch oft als „ traumhaft-pathologisch “ (GA113, S. 27f.). Was ist mit der genannten Unterscheidung gemeint? Wir haben bereits mehrmals darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Berichte über das nachtodliche Leben wesentlich voneinander unterscheiden, was eine gesicherte Erkenntnis über diese Bereiche praktisch verunmöglicht. Ähnlich verhält es sich mit den Berichten verschiedener sog. Medien, die angeben, Kontakt mit Verstorbenen gehabt zu haben. Abgesehen von den Fällen von mehr oder weniger evidentem Betrug konnten auch vertrauenswürdige Medien im besten Fall eine unsichere Auskunft über die Wirklichkeit auf der anderen Seite der „ Schwelle des Todes “ geben. Dazu zähle ich z. B. Winifred Coombe Tenannt alias „ Mrs Willet “ (1874 - 1956), deren übernormale Fähigkeiten u. a. von William James bewundert wurden, und Edgar Cayce (1877 - 1945), der als einer der größten Hellseher und Heiler des 20. Jahrhunderts gilt und der, obwohl er lange vor der Entstehung der New-Age-Bewegung lebte, von manchen für einen ihrer Wegbereiter und eine Hauptquelle ihrer Überzeugungen gehalten wird. Vor allem das wissenschaftliche Interesse an solchen Medien ist heute weit weniger ausgeprägt als an der Wende zum 20. Jahrhundert, wenn es auch später noch manche bedeutende Medien gab wie z. B. Wolf Messing (1899 - 1974), 408 der in der Nähe von Warschau geboren wurde und dessen ungewöhnliche Fähigkeiten 407 Ich habe dies bereits in meiner Dissertation nachgewiesen (vgl. Majorek 2002). Helmut Zander erwähnt diese Dissertation in seiner Anthroposophie in Deutschland kritisch, geht aber auf meine Argumente überhaupt nicht ein (Zander, H.: Anthroposophie in Deutschland. Vandenhoeck & Rupert: Göttingen 2007, S. 538). 408 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Wolf_Messing (heruntergeladen am 5. 12. 2013). 1254 11 Übersinnliche Forschungsmethoden so ausgeprägt waren, dass er die Offiziere des KGB schulte, José Arigo (1921 - 1971), 409 den sog. Psycho-Chirurgen, Jane Roberts (1929 - 1984), 410 die vor allem für ihre Kontakte mit einem geistigen Wesen namens Seth bekannt war, oder James Van Praagh (geb. 1958), 411 der u. a. den Bestseller Talking to Heaven (1999) schrieb und die kurzlebige paranormale Talkshow „ Beyond with James Van Praagh “ moderierte. Stattdessen entfaltete sich in jüngster Vergangenheit ein lebhaftes Interesse für das Phänomen des Hellsehens. Dieses Interesse wird von der recht umfangreichen Literatur zu diesem Thema bezeugt. Genannt seien, wiederum in chronologischer Reihenfolge: Pete A. Sanders: You Are Psychic! , 1989, die deutsche Übersetzung des Buches unter dem Titel Das Handbuch übersinnlicher Wahrnehmung ging 2013 in die 14. Auflage; James Van Praagh: Heaven and Earth, 2001, die deutsche Übersetzung dieses Buches, Die Weite zwischen Himmel und Erde. Entdecken Sie Ihre übersinnlichen Fähigkeiten, erreichte 2006 die 5. Auflage; Harald Wessbecher: Das dritte Auge öffnen, 2001; Eleonore Jacobi: Channeln. Praxisbuch für die Kontaktaufnahme mit der Geistigen Welt, 2006; Anton Styger: Erlebnisse mit den Zwischenwelten. Seelenbefreiungen, 2008; Pier Hänni: Wanderer in zwei Welten, Sam Hess - Begegnungen mit Totengeistern und der anderen Dimensionen des Lebens, 2010; Dorian Schmidt: Lebenskräfte - Bildekräfte. Methodische Grundlagen zur Erforschung des Lebendigen, 2010; Karsten Massei: Schule der Elementarwesen, 2011. Wie die hohen Auflagezahlen mancher Titel zeigen, verkauft sich derartige Literatur gut. Sogar das im Selbstverlag herausgegebene Buch von Styger konnte in der Schweiz zum Beststeller aufsteigen. Einige dieser Publikationen (z. B. Pete A. Sanders ’ : You Are Psychic! , James Van Praaghs Heaven and Earth, Harald Wessbechers Das drittte Auge öffnen oder Dorian Schmidts Lebenskräfte - Bildekräfte. Methodische Grundlagen zur Erforschung des Lebendigen) bieten konkrete Anleitungen zur Entwicklung der übersinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten. Worin, wenn überhaupt, unterscheiden sich diese Anweisungen von der Methode Steiners? Und woher sollte man die Zuversicht nehmen, dass Steiner und nicht einer der anderen Autoren die richtigen Angaben zur Entwicklung der übersinnlichen Fähigkeiten liefert? Es würde uns an dieser Stelle viel zu weit führen, die Anweisungen von Sanders, Van Praagh, Wessbecher, Schmidt und anderen ausführlich zu behandeln. Ich möchte deshalb nur ein paar recht allgemeine Beobachtungen bezüglich der hier vorgeschlagenen Wege zur Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten anfügen. Aus bestimmten Gründen werden wir zu diesem Thema auch im letzten Kapitel zurückkehren müssen. Die erste solche allgemeine Beobachtung ist die folgende: Liest man die entsprechen- 409 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Zé_Arigó (heruntergeladen am 5. 12. 2013). 410 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Jane_Roberts (heruntergeladen am 5. 12. 2013). 411 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ James_Van_Praagh (heruntergeladen am 5. 12. 2013). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1255 den Anweisungen zur Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten, so stellt man fest, dass sie wesentlich voneinander abweichen. Während z. B. Sanders von vier „ psychic senses “ spricht ( „ psychic feeling “ , „ psychic intuition “ , „ psychic hearing “ , „ psychic vision “ [Sanders 1989, S. 20 - 24]), spricht Wessbecher von einer einheitlichen Methode der Ausdehnung des gewöhnlichen Bewusstseins, durch die es das Erkenntnisobjekt durchdringt, eins mit ihm wird und es „ ganzheitlich versteht “ (Wessbecher 2008, S. 76 - 79), weist aber auch auf mannigfaltige körperliche „ Energietore “ hin (ebd., S. 174 - 176), „ in denen die [übersinnlichen] Wirkungskräfte besonders eindringlich und leicht wahrnehmbar sind “ (ebd., S. 174), und sogar auf die „ klassischen “ Chakras des Hinduismus und Buddhismus (ebd., S. 184 - 208). Van Praagh schreibt von einem einheitlichen „ sechsten Sinn “ , mit dem wir alle „ zur Welt gekommen sind “ (Van Praagh 2006, S. 39). Er beruht grundsätzlich auf den geschärften Wahrnehmungen der „ normalen “ fünf Sinne, schließt aber eine besonders subtile denkerische Verarbeitung dieser Informationen ein, durch die man sie zu einer „ Intuition “ , einer „ inneren Stimme “ erheben kann (ebd.). Auf einer weiteren Entwicklungsstufe kommt für ihn noch „ das Lesen der Aura “ hinzu (ebd., S. 61ff.). Er gibt darüber hinaus spezifische Übungen an, die der Entwicklung dieser Fähigkeiten dienen sollen (ebd., S. 201 - 229). Schmidt wiederum betont die „ Vertiefung der menschlichen Wahrnehmung “ durch die „ Selbstbeobachtung des Denkens “ (Schmidt 2011, S. 20 - 23), womit er sich gewissen Aspekten der Steiner ’ schen Methode nähert. Es ist zu erwähnen, dass Schmidt ein Anthroposoph ist und in seinen Ausführungen explizit Bezug auf Steiners Schriften nimmt. Er versteht seine Methode aber als einen selbstständigen, von dem Steiners deutlich zu unterscheidenden Weg (vgl. seine Gegenüberstellung von Steiners Methode, so wie sie in der Schrift Grenzen der Naturerkenntnis [GA322] skizzenhaft dargestellt wird, und seiner eigenen Methode [Schmidt ebd., S. 208f.]). Was bei der Lektüre dieser Werke weiter auffällt, ist, dass ihre Autoren praktisch keinen Bezug auf ähnliche Werke anderer Autoren nehmen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass jeder in seinem eigenen Universum lebt, mit wenig Kenntnis und wenig Interesse für die Universen der anderen. Ferner fällt auf, dass die genannten Autoren (für Schmidt gilt dies eingeschränkt) ihren Ausgangspunkt nicht, wie Steiner, bei der Erkraftung des Denkens, sondern bei der Verstärkung der gewöhnlichen, leiblich bedingten Wahrnehmungsfähigkeiten nehmen. Viertens fehlen bei allen fast vollständig detaillierte Angaben zu Übungen, während Steiner solche besonders in Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten beschreibt. Gegenüber Steiner entsteht somit der Eindruck der Oberflächlichkeit, ja sogar des Dilettantismus. Es fällt fünftens auf, dass keine dieser Methoden von der von Steiner so betonten Trennung zwischen dem „ inneren Menschen “ und dem physischen Leibt spricht. Im Gegenteil, man hat den Eindruck, dass diese Methoden eigentlich eine gewisse Verfeinerung der bereits im physischen Leibe vor- 1256 11 Übersinnliche Forschungsmethoden handenen bzw. verankerten Empfindungsfähigkeiten beschreiben. Sechstens fällt auf, dass keine dieser Methoden Bezug auf die Begegnungen mit den Hütern der Schwelle und auf die oben dargestellten „ drei Proben “ macht. Dies ist besonders auffällig und bedenklich bei Schmidt, der sich - wie erwähnt - als Anthroposoph versteht und expliziten Bezug auf Steiners Schriften nimmt. Mindestens er sollte wissen, dass ohne diese Erfahrungen jegliche objektive Einsicht in die geistigen Welt grundsätzlich unmöglich ist. Siebtens fällt auf, dass den genannten Autoren die Unterscheidung zwischen verschiedenen Stufen der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten (in Steiners Terminologie: Imagination, Inspiration, Intuition) gänzlich unbekannt ist. Schmidt bildet hier wiederum eine Ausnahme, insofern er diese Stufen erwähnt (Schmidt 2011, S. 21), seine Methode führt aber gemäß seinen eigenen Angaben nur bis zur Stufe der Imagination (ebd., S. 196f.). Es fällt schließlich achtens auf, dass die übersinnlichen Eindrücke, welche die genannten und auch andere Autoren schildern, weit von der Konkretheit und Detailliertheit der übersinnlichen Forschungsergebnisse Steiners entfernt sind. Sie verbleiben auf der Ebene allgemeiner „ Intuitionen “ (im alltäglichen, nicht technischen Sinn) bzw. allgemeiner Visionen von Auren, Lebenskräften usw. Was ihnen besonders fehlt, ist die Einsicht in die Vielfalt der geistigen Wesen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen, welche nicht nur die „ Bewohner “ der geistigen Welt(en) sind, sondern sie in einem bestimmen Sinne ausmachen. Van Praagh schreibt zwar von Engeln als „ unseren Geistesführern “ (Van Praagh 2006, S. 110 - 132), scheint aber keine Ahnung davon zu haben, dass diese lediglich die unterste Sprosse einer gewaltigen geistigen Leiter bilden, welche weit über sie hinausragt. Das Fehlen einer solchen Einsicht bei den genannten Autoren ist sofort verständlich, wenn man weiß, dass sie sich erst auf den höheren Stufen der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten öffnet. An diesem Punkt wird erneut deutlich, dass die Einsicht in die geistige Welt der genannten Autoren im Vergleich mit dem von Steiner geschilderten umfangreichen und detaillierten Panorama dieser Welt(en) äußerst eingeschränkt ist. Was ergibt sich aus diesem kursorischen Vergleich für den Unterschied zwischen Hellsehen und Geisteswissenschaft? Ich möchte auf vier Kernaspekte hinweisen. Erstens: Die Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten im Sinne Steiners, nicht aber die Entwicklung des Hellsehens nimmt ihren Ausgangspunkt beim logischen Denken, um durch bestimmte Übungen (Meditationen) eine solche Erkraftung des Seelenlebens zu erwirken, die es der Seele ermöglicht, in die geistige Welt einzudringen, sie wahrzunehmen. Wir haben auf diesen denkerischen Ausgangspunkt des Steiner ’ schen Erkenntnisweges ausführlicher am Anfang dieses Kapitels aufmerksam gemacht, als wir zunächst von der erzieherischen Rolle der Wissenschaft, danach vom denkerischen Ausgangspunkt des Steiner ’ schen Erkenntnisweges gesprochen haben. Man muss aber bedenken, dass jede Meditationsübung im Sinne Steiners auf die Entwicklung der inneren Kraft 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1257 der Seele durch die besondere Handhabung der bewussten Denkfähigkeit des Menschen zielt und dazu führt, dass aus den Tiefen der Seele - und ausdrücklich nicht des Leibes - Kräfte aufsteigen, „ deren sich der Mensch im gewöhnlichen Leben nicht bewusst ist “ (GA35, S. 146). Zweitens strebt der Geistesforscher die Entwicklung von Fähigkeiten an, die ihn zunehmend von seinem physischen Leib unabhängig machen, sodass er auf einer bestimmten, verhältnismäßig anfänglichen Stufe diesen Leib willentlich für kurze Zeitabschnitte verlassen, und unabhängig von ihm mittels der entwickelten übersinnlichen „ Wahrnehmungsorgane “ Beobachtungen der geistigen Welt machen kann. Der Hellseher hingegen entwickelt, verstärkt, verfeinert die Wahrnehmungsfähigkeiten, die im physischen Leib verankert sind. Die Wirkung dieser inneren Versenkung ist eine solche, daß sich durch sie der Mensch als einer geistigen Realität seines eigenen Wesens bewußt wird, von welcher er sonst keine Wahrnehmung hat. Bevor er solche [meditative] Übungen anstellt, erkennt er sich als eine Wesenheit, welche durch körperliche Organe von sich und von der Welt etwas weiß. Nach solchen Übungen weiß er, daß er ein Leben in sich entfalten kann, auch ohne daß ihm seine körperlichen Organe ein solches Leben vermitteln. Er weiß, daß er sich geistig abtrennen kann von seinem physischen Körper und daß er durch diese Abtrennung nicht in den Zustand der Bewußtlosigkeit versinken muß. Und er erlangt nicht nur von sich selbst eine solche Erkenntnis, sondern auch von einer übersinnlichen Welt, welche sich für die gewöhnliche Erkenntnis hinter der physisch-sinnlichen Welt verbirgt und in welcher die wahren Ursachen dieser letzteren liegen. (GA35, S. 146f.) Ein wenig plakativ kann man diesen Unterschied folgendermaßen zum Ausdruck bringen: dem Hellseher fehlt auf dem Weg zu seinen Einsichten der Durchgang durch den Tod (GA113, S. 34f., vgl. den Abschnitt „ Erleuchtung und Austritt aus dem Leib “ ). Drittens ist zwar dem Geistesforscher, nicht aber einem Hellseher bewusst, dass die übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten qualitativ deutlich voneinander unterschieden sind. Die allererste Stufe dieser Fähigkeiten, die Imagination (im Steiners Sinn), liefert zwar gewisse Eindrücke der übersinnlichen Welt, sie sind jedoch äußerst unzuverlässig: Die Welt der Imagination ist ein „ unruhiges Gebiet “ (GA13, S. 351), in welchem es praktisch unmöglich ist, gesicherte Interpretationen des Wahrgenommenen zu erlangen, u. a. deshalb, weil sich die Eigenschaften der Seele mit der „ äußeren “ geistigen Welt bis zur Ununterscheidbarkeit verbinden. Um objektive Einsicht in die geistige Welt erlangen zu können, müssen die anfänglichen Imaginationen unterdrückt werden (vgl. oben). Dies eröffnet die Möglichkeit, die Stufe der Inspiration zu erreichen. Erst der Aufstieg zur Inspiration wiederum macht es möglich, die übersinnlichen Phänomene zu entziffern (bildhaft gesprochen: Imagination liefert die Buchstaben, Inspiration ermöglicht es, sie zu lesen). Doch auch auf der Stufe der Inspiration ist Irrtum möglich (GA13, S. 386). Erst in der Intuition hat „ der Geistesschüler etwas, was ihm zeigt, wie eine ganz 1258 11 Übersinnliche Forschungsmethoden klare Wirklichkeit der geistig-seelischen Welt beschaffen ist “ (ebd.). 412 Bleibt ein Mensch auf der Stufe der Imagination stehen, so kann er die Resultate seiner Wahrnehmungen nicht objektiv beurteilen. Er ist auch unfrei, was die Inhalte dieser Wahrnehmungen anbetrifft. Wir haben gesehen, dass erst das erfolgreiche Bestehen der dritten (Luft-)Probe dem Geistesforschers „ Bewegungsfreiheit “ in der geistigen Welt gewährt. In keinem der erwähnten Werke findet man auch nur einen Funken Bewusstsein für die Notwendigkeit, eine solche Probe zu bestehen. Ein Hellseher bekommt vielmehr auf einer niedrigeren Stufe gewisse Inhalte „ serviert “ , und er hat dann keinen Einfluss darauf, welche Aspekte der übersinnlichen Welt er überschaut. Man kann diese Situation mit der eines Touristen vergleichen, der eine kurze Reise ins Ausland bucht und mit einem Bus von einem Ort des ihm unbekannten Landes zu einem anderen gefahren wird. Wenn die Reiseveranstalter zuverlässig sind, wird man auf diesem Weg einen guten Überblick über die wichtigsten Sehenswürdigkeiten des fremden Landes gewinnen. Aber auch in diesem Fall wäre unser Tourist gut beraten, sich keine Illusionen darüber zu machen, dass er das Land und seine Leute bereits kennengelernt habe. Das Allermeiste, vielleicht sogar das Allerwichtigste bleibt ihm nämlich während eines solchen Kurzaufenthalts verborgen. Im weniger günstigen Fall und insbesondere wenn die Reise nur sehr kurz ist und die Veranstalter unzuverlässig sind, kann man sich auf dieser Grundlage überhaupt kein objektives Bild des fremden Landes bilden. Der vierte Aspekt der Unterscheidung zwischen dem Hellseher und dem Eingeweihten bzw. dem Geistesforscher besteht schließlich darin, dass erst der Eingeweihte, nicht aber der Hellseher die Proben bestanden hat, die sicherstellen, dass er die geistige Welt und ihre Phänomene wahrheitsgemäß, objektiv wahrnimmt und interpretiert. Es handelt sich einerseits um die Wasserprobe, andererseits und vor allem um die Begegnungen mit den beiden Hütern der Schwelle. Wir haben gesehen, dass erst das Bestehen der zweiten Probe die Zuverlässigkeit des Einblicks in die geistige Welt sichert, und erst die erfolgreich bestandene Begegnung mit dem kleinen Hüter ermöglicht dem Eingeweihten, sein Inneres von der objektiv außer ihm existierenden geistigen Welt zu trennen und die Täuschungen, die durch das Hineintragen seiner eigenen Wesenheit in die übersinnliche Welt entstehen können, zu überwinden. Und erst die erfolgreich bestandene Begegnung mit dem großen Hüter ermöglicht den Eintritt in die höchsten Gebiete der übersinnlichen Welt und somit jene Erkenntnisse, die „ von persönlicher Färbung frei und für jede Menschenwesenheit gültig “ sind. Ohne diese Begegnungen hat man zwar gewisse Einsichten in die übersinnliche Welt, aber kein echtes Verständnis der wahrgenommenen Phänomene. Deshalb 412 Ebd. Steiner bezeichnet die Forschungsmethode der Anthroposophie oft als „ exaktes Hellsehen “ (z. B. GA25, S. 8; GA84, S. 188; GA211, S. 145) oder „ exakte Clairvoyance “ (z. B. GA84, S. 134; GA211, S. 145; GA215, S. 13). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1259 betont Steiner, dass das bloße Hellsehen zwingend um höhere Erkenntnisfähigkeiten ergänzt werden müsse, um zuverlässige Ergebnisse liefern zu können. Auf der anderen Seite ist es vollkommen berechtigt zu erwarten, dass alle, die die in diesem Kapitel genannten Proben bestanden haben, in der geistigen Welt dasselbe sehen, wenn sie dasselbe schauen: „ [J]eder, welcher sich durch entsprechende Übungen in Verhältnis bringen kann zu der übersinnlichen Welt, [wird] dieselben Beobachtungen machen “ (GA35, S. 122). Die Unterschiede zwischen ihren Berichten werden nicht größer sein als die Unterschiede zwischen Berichten „ verschiedener Reisenden, welche dieselbe Gegend besucht haben und beschreiben “ (ebd.). Wobei vorbehalten werden muss, dass sie, wenn sie unterschiedliche Aspekte der übersinnlichen Welt untersuchen, selbstverständlich zu unterschiedlichen Einsichten kommen. Wie wichtig es für Steiner war, seine geistige Forschung vom Mediumismus und Hellsehen abzugrenzen, mag der Umstand bezeugen, dass er seinem klassischen Werk Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? in der Ausgabe von 1918 ein langes Nachwort hinzufügte, das auf genau diesen Unterschied nochmals eingeht. Steiner betont darin, dass sich seine Erkenntnismethoden an die Erfahrung des Denkens anlehne, das inhaltlich von der Leiblichkeit völlig unabhängig bleibe und somit Forschungsresultate zu Tage fördere, die der übersinnlichen Sphäre entnommen seien. Die Offenbarungen des Mediumismus bzw. des niederen Hellsehens seien dagegen stärker als das gewöhnliche Seelenleben von der Leiblichkeit abhängig und gäben im Endeffekt keine Auskunft über die geistigen Gebiete, sondern - entgegen dem Anschein - über die untersinnliche Sphäre. Seiner Wichtigkeit und Prägnanz wegen erlaube ich mir, dieses Nachwort hier vollständig im Wortlaut wiederzugeben: Der Weg zu übersinnlicher Erkenntnis, der in dieser Schrift gekennzeichnet wird, führt zu einem seelischen Erleben, demgegenüber es von ganz besonderer Wichtigkeit ist, daß, wer es anstrebt, sich keinen Täuschungen und Mißverständnissen über dasselbe hingibt und es liegt dem Menschen nahe, sich über dasjenige zu täuschen, was hier in Betracht kommt. Eine der Täuschungen, die besonders schwerwiegende, entsteht, wenn man das ganze Gebiet des Seelenerlebens, von dem in wahrer Geisteswissenschaft die Rede ist, so verschiebt, daß es in der Umgebung des Aberglaubens, des visionären Träumens, des Mediumismus und mancher anderer Entartungen des Menschenstrebens eingereiht erscheint. Diese Verschiebung rührt oft davon her, daß Menschen, welche in ihrer von echtem Erkenntnisstreben abliegenden Art sich einen Weg in die übersinnliche Wirklichkeit suchen möchten und die dabei auf die genannten Entartungen verfallen, mit solchen verwechselt werden, die den in dieser Schrift gezeichneten Weg gehen wollen. Was auf dem hier gemeinten Weg von der Menschenseele durchlebt wird, das verläuft durchaus im Felde rein geistig-seelischen Erfahrens. Es ist nur dadurch möglich, solches zu durchleben, daß sich der Mensch auch noch für andere innere Erfahrungen so frei und unabhängig von dem Leibesleben machen kann, wie er im Erleben des gewöhnlichen Bewußtseins nur ist, wenn er sich über 1260 11 Übersinnliche Forschungsmethoden das von außen Wahrgenommene oder das im Innern Gewünschte, Gefühlte, Gewollte Gedanken macht, die nicht aus dem Wahrgenommenen, Gefühlten, Gewollten selbst herrühren. Es gibt Menschen, die an das Vorhandensein solcher Gedanken überhaupt nicht glauben. Diese meinen: der Mensch könne nichts denken, was er nicht aus der Wahrnehmung oder dem leiblich bedingten Innenleben herauszieht und alle Gedanken seien nur gewissermaßen Schattenbilder von Wahrnehmungen oder von inneren Erlebnissen. Wer dieses behauptet, der tut es nur, weil er sich niemals zu der Fähigkeit gebracht hat, mit seiner Seele das reine, in sich beruhende Gedankenleben zu erleben. Wer aber solches erlebt hat, für den ist es Erfahrung geworden, daß überall, wo im Seelenleben Denken waltet, in dem Maße, als dieses Denken andere Seelenverrichtungen durchdringt, der Mensch in einer Tätigkeit begriffen ist, an deren Zustandekommen sein Leib unbeteiligt ist. Im gewöhnlichen Seelenleben ist ja fast immer das Denken mit anderen Seelenverrichtungen: Wahrnehmen, Fühlen, Wollen und so weiter vermischt diese anderen Verrichtungen kommen durch den Leib zustande. Aber in sie spielt das Denken hinein. Und in dem Maße, in dem es hineinspielt, geht in dem Menschen und durch den Menschen etwas vor sich, an dem der Leib nicht mitbeteiligt ist. Die Menschen, welche dieses in Abrede stellen, können nicht über die Täuschung hinauskommen, welche dadurch entsteht, daß sie die denkerische Betätigung immer mit anderen Verrichtungen vereinigt beobachten. Aber man kann im inneren Erleben sich seelisch dazu aufraffen, den denkerischen Teil des Innenlebens auch abgesondert von allem andern für sich zu erfahren. Man kann aus dem Umfange des Seelenlebens etwas herauslösen, das nur in reinen Gedanken besteht In Gedanken, die in sich bestehen, aus denen alles ausgeschaltet ist, was Wahrnehmung oder leiblich bedingtes Innenleben geben. Solche Gedanken offenbaren sich durch sich selbst, durch das, was sie sind, als ein geistig, ein übersinnlich Wesenhaftes. Und die Seele, die mit solchen Gedanken sich vereinigt, indem sie während dieser Vereinigung alles Wahrnehmen, alles Erinnern, alles sonstige Innenleben ausschließt, weiß sich mit dem Denken selbst in einem übersinnlichen Gebiet und erlebt sich außerhalb des Leibes. Für denjenigen, welcher diesen ganzen Sachverhalt durchschaut, kann die Frage gar nicht mehr in Betracht kommen: gibt es ein Erleben der Seele in einem übersinnlichen Element außerhalb des Leibes? Denn für ihn hieße es in Abrede stellen, was er aus der Erfahrung weiß. Für ihn gibt es nur die Frage: was verhindert die Menschen, eine solche sichere Tatsache anzuerkennen? Und zu dieser Frage findet er die Antwort, daß die in Frage kommende Tatsache eine solche ist, die sich nicht offenbart, wenn der Mensch sich nicht vorher in eine solche Seelenverfassung versetzt, daß er die Offenbarung empfangen kann. Nun werden zunächst die Menschen mißtrauisch, wenn sie selbst etwas erst rein seelisch tun sollen, damit sich ihnen ein an sich von ihnen Unabhängiges offenbare. Sie glauben da, weil sie sich vorbereiten müssen, die Offenbarung zu empfangen, sie machen den Inhalt der Offenbarung. Sie wollen Erfahrungen, zu denen der Mensch nichts tut, gegenüber denen er ganz passiv bleibt. Sind solche Menschen außerdem noch unbekannt mit den einfachsten Anforderungen an wissenschaftliches Erfassen eines Tatbestandes, dann sehen sie in Seelen-Inhalten oder Seelenhervorbringungen, bei denen die Seele unter den Grad von bewußter Eigenbetätigung herabgedrückt ist, der im Sinneswahrnehmen und im willkürlichen Tun vorliegt, eine objektive Offenbarung eines nicht sinnlichen Wesenhaften. Solche Seelen-Inhalte sind die visionären Erlebnisse, die 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1261 mediumistischen Offenbarungen. - Was aber durch solche Offenbarungen zutage tritt, ist keine übersinnliche, es ist eine untersinnliche Welt. Das menschliche bewußte Wachleben verläuft nicht völlig in dem Leibe, es verläuft vor allem der bewußte Teil dieses Lebens an der Grenze zwischen Leib und physischer Außenwelt; so das Wahrnehmungsleben, bei dem, was in den Sinnesorganen vorgeht, ebensogut das Hineinragen eines außerleiblichen Vorganges in den Leib ist wie ein Durchdringen dieses Vorganges vom Leibe aus; und so das Willensleben, das auf einem Hineinstellen des menschlichen Wesens in das Weltenwesen beruht, so daß, was im Menschen durch seinen Willen geschieht, zugleich Glied des Weltgeschehens ist. In diesem an der Leibesgrenze verlaufenden seelischen Erleben ist der Mensch in hohem Grade abhängig von seiner Leibesorganisation; aber es spielt die denkerische Betätigung in dieses Erleben hinein, und in dem Maße, als das der Fall ist, macht sich in Sinneswahrnehmung und Wollen der Mensch vom Leibe unabhängig. Im visionären Erleben und im mediumistischen Hervorbringen tritt der Mensch völlig in die Abhängigkeit vom Leibe ein. Er schaltet aus seinem Seelenleben dasjenige aus, was ihn in Wahrnehmung und Wollen vom Leibe unabhängig macht. Und dadurch werden Seelen-Inhalte und Seelen-Hervorbringungen bloße Offenbarungen des Leibeslebens. Visionäres Erleben und mediumistisches Hervorbringen sind die Ergebnisse des Umstandes, daß der Mensch bei diesem Erleben und Hervorbringen mit seiner Seele weniger vom Leibe unabhängig ist als im gewöhnlichen Wahrnehmungs- und Willensleben. Bei dem Erleben des Übersinnlichen, das in dieser Schrift gemeint ist, geht nun die Entwickelung des Seelen-Erlebens gerade nach der entgegengesetzten Richtung gegenüber der visionären oder mediumistischen. Die Seele macht sich fortschreitend unabhängiger vom Leibe, als sie im Wahrnehmungs- und Willensleben ist. Sie erreicht diejenige Unabhängigkeit, die im Erleben reiner Gedanken zu fassen ist, für eine viel breitere Seelenbetätigung. Für die hier gemeinte übersinnliche Seelenbetätigung ist es außerordentlich bedeutsam, in voller Klarheit das Erleben des reinen Denkens zu durchschauen. Denn im Grunde ist dieses Erleben selbst schon eine übersinnliche Seelenbetätigung. Nur eine solche, durch die man noch nichts Übersinnliches schaut. Man lebt mit dem reinen Denken im Übersinnlichen; aber man erlebt nur dieses auf eine übersinnliche Art; man erlebt noch nichts anderes Übersinnliches. Und das übersinnliche Erleben muß sein eine Fortsetzung desjenigen Seelen-Erlebens, das schon im Vereinigen mit dem reinen Denken erreicht werden kann. Deshalb ist es so bedeutungsvoll, diese Vereinigung richtig erfahren zu können. Denn von dem Verständnisse dieser Vereinigung aus leuchtet das Licht, das auch rechte Einsicht in das Wesen der übersinnlichen Erkenntnis bringen kann. Sobald das Seelen- Erleben unter die Bewußtseinsklarheit, die im Denken sich auslebt, heruntersinken würde, wäre sie für die wahre Erkenntnis der übersinnlichen Welt auf einem Irrwege. Sie würde erfaßt von den Leibesverrichtungen; was sie erlebt und hervorbringt, ist dann nicht Offenbarung des Übersinnlichen durch sie, sondern Leibesoffenbarung im Bereich der untersinnlichen Welt. (GA10, S. 216 - 221) Für Rudolf Steiner war die Abgrenzung der geisteswissenschaftlichen Forschungsmethode vom Mediumismus und vom Hellsehen ebenso wichtig wie für die heutige Wissenschaft die Abgrenzung von der sog. Pseudowissen- 1262 11 Übersinnliche Forschungsmethoden schaft. 413 Die Notwendigkeit einer solchen Trennung wird mit fortschreitender Bekanntschaft mit Steiners Schriften und Vortragsniederschriften zunehmend klar. Dann fällt nämlich auf, wie wissenschaftlich Steiners Ausdrucksweise ist. Sie ist einerseits, wie bereits erwähnt, schlicht und emotional äußerst zurückhaltend, andererseits ungewöhnlich präzis. Diese beiden Behauptungen ausreichend zu belegen, würdeeine eigenständige Abhandlung benötigen. Ich möchte mich deshalb an dieser Stelle mit einem einzelnen Beispiel begnügen. Im Zuge seiner Diskussion der anfänglichen übersinnlichen Forschungsergebnisse im Vortrag vom 25. August 1909 in München kommt Steiner darauf zu sprechen, dass sich der Geistesforscher auf einer „ gewissen Stufe “ seiner Entwicklung mit der Welt der Elementengeister vertraut macht. Und dann ergänzt er diese Feststellung mit der folgenden, quasi methodologischen Bemerkung: Ich bitte diejenigen, die sich seit längerer Zeit mit Geisteswissenschaft befassen, jedes Wort, das gesagt wird, recht auf die Waagschale zu legen und zu berücksichtigen, daß die Worte gebraucht werden nicht annähernd, sondern ganz genau. Ich sagte nicht Elementargeister, sondern ich sagte Elementengeister; und es ist immer nur die Rede von demjenigen, das gerade an der betreffenden Stelle genannt wird. (GA113, S. 49) Tatsächlich hätten wohl die meisten Zuhörer des Vortrags, aber auch viele Leser der Nachschrift diesen subtilen, aber wichtigen Unterschied übersehen. Die Gefahr einer Verwechslung dieser zwei völlig unterschiedlichen Seinsebenen ist heute vielleicht sogar besonders groß, weil man gegenwärtig in esoterischen Kreisen gerne von „ Elementargeistern “ spricht (vgl. oben das Buch von Karsten Massei), ein Verständnis für die Elementengeister (geistige Wesenheiten von einer unvergleichbar höheren Entwicklungsstufe als die Elementargeister) hingegen kaum vorhanden ist. Der Hinweis auf die Elementengeister macht übrigens einen weiteren wesentlichen Unterschied 413 Vgl. dazu z. B. diese Äußerungen Steiners: „ Das Geistige muß von einer anderen Seite her - wenn auch ebenso streng wissenschaftlich - geholt werden, wie die Naturwissenschaft das natürliche Dasein von der einen Seite her erkennt “ (GA182, S. 23). „ Und wenn man von der Geisteswissenschaft spricht, so darf diese nicht nur so gedacht werden, daß sie sich bloß erhebt über die Natur, sondern daß sie zu gleicher Zeit vollwertige Naturwissenschaft ist “ (GA194, S. 161). „ Wir brauchen eine Erkenntnis des Geistes, die so stark ist, daß sie zu gleicher Zeit Naturwissenschaft werden kann “ (ebd., S. 169). Nebenbei sei bemerkt, dass auch innerhalb der anthroposophischen Gemeinschaft diese Unterscheidung nicht gebührend berücksichtigt wird. Denn auch hier gibt es heute eher Hellseher als Eingeweihte, was sogar zu gewissen Zerwürfnissen führt: Während die Schriften von Dorian Schmidt oder Karsten Massei verhältnismäßig unkontrovers sind, stoßen die Ansichten von Judith von Halle (vgl. z. B. Halle von 2010) bei einigen auf vehementen Widerstand (vgl. z. B. Prokofieff 2013). Diese Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten würden sich erst auf der Ebene der geisteswissenschaftlichen Forschung überwinden lassen, was sich jedoch als äußerst anspruchsvoll erweist. Auf die Gründe dieser Schwierigkeit werden wir noch ausführlicher am Ende dieses Kapitels eingehen. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1263 zwischen Steiners übersinnlichen Forschungsergebnissen und den Veröffentlichungen verschiedener Hellseher deutlich: Reichtum und Detailliertheit der Einsicht in die Phänomene und Gesetzmäßigkeiten und vor allem Wesenheiten der geistigen Welt(en) sind bei Steiner unvergleichbar größer als bei den populären Hellsehern. Ich komme darauf im nächsten Kapitel ( „ Einige Forschungsresultate der Geisteswissenschaft “ ) zu sprechen. Geistesforscher und Naturwissenschaftler Zum Abschluss dieses Abschnitts unserer Betrachtungen möchte ich noch kurz auf zwei Eigenschaften der übersinnlichen Forschung aufmerksam machen, die nicht direkt mit der Frage der Objektivität bzw. Wissenschaftlichkeit ihrer Ergebnisse zusammenhängen, jedoch wesentlich für das Verstehen des Charakters dieser Forschung und die Beseitigung möglicherMissverständnisse sind. Zum einen muss hervorgehoben werden, dass die übersinnliche Forschung alles andere als einfach und schnell ist. Aufgrund der Berichte über die übersinnliche Einsichten verschiedener Medien bzw. Hellseher mag sich die Vorstellung einstellen, dass sich auch im Falle des Geistesforschers die Suche nach übersinnlichen Tatsachen sehr einfach gestaltet: Die entsprechenden Einsichten fluten nur so in sein Bewusstsein herein, sobald die entsprechenden Bedingungen hergestellt sind. Dem ist entschieden nicht so. Steiner hat mehrmals betont, dass die übersinnliche Forschung langwierig und mühsam ist, dass sie durchaus mit den Strapazen der naturwissenschaftlichen Forschung vergleichbar ist, ja diese übertrifft: Man glaubt gewöhnlich, und diejenigen, die die Sachen oberflächlich beurteilen, sprechen es oft aus: Geistesforschung ist etwas, wobei der Mensch sich so seinen Gedanken hingibt und etwas ausphantasiert - das ist leicht, während im Laboratorium, in der Klinik und auf der Sternwarte zu forschen, etwas Schwieriges, Entsagungsvolles ist. - Aber so ist es nicht. Denn was der Mensch als eine solche innere Seelenfähigkeit ausarbeiten muß, das nimmt zum mindesten eine ebensolange, ja auch viel längere innere Arbeit in Anspruch als irgendeine äußerlich angeeignete Wissenschaftlichkeit, wie sie heute in der Naturwissenschaft etwa üblich ist. Es sollte von denjenigen, die sich bekannt machen wollen mit dem, was hier Geistesforschung genannt wird, überhaupt nicht der Einwand erhoben werden: In der Naturforschung darf man kein Dilettant sein, wenn man mitreden will, da muß man wirklich etwas verstehen. - Was der Geistesforscher vorbringt, wird gewöhnlich so betrachtet, als ob es nur so leicht erworben würde gegenüber dem, was in der Naturforschung mit vieler Mühe erreicht wird. Aber es ist nur der Weg ein anderer. Bei der Naturforschung handelt es sich um das Verarbeiten der äußeren Wahrnehmungen und Tatsachen. Der Geistesforscher dagegen muß zuerst daran gehen, seine eigene innere Anschauungsfähigkeit zu entwickeln. (GA231, S. 20f.) Denn braucht man schon zehn Jahre, um etwas von dem Einfluß der Gestirne auf das Menschenleben zu erkennen, so braucht man, um wenige Schritte des Weges aus dem vorirdischen Leben in das Erdenleben hinein mit allen Details zu erforschen, eigentlich nicht zehn Jahre, sondern man brauchte eigentlich dazu 1264 11 Übersinnliche Forschungsmethoden ein ganzes Menschenleben. Daher war es ganz berechtigt, die einzelnen Wissensgebiete aufzuteilen. So lebte sich also jeder in das Gebiet hinein, worauf er sich besonders konzentrierte, und alles andere ließ er sich von den Genossen geben. Er hatte damit zugleich jenes innere Erlebnis, das im Produzieren der Erkenntnis besteht, und das andere Erlebnis, das im Empfangen der nicht selbst produzierten Erkenntnis besteht. (GA231, S. 51) Zum anderen möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die übersinnliche Forschung alles andere als „ Honigschlecken “ ist. Wir haben zwar bereits davon gesprochen, dass die Begegnungen mit den beiden Hütern der Schwelle dem angehenden Geistesforscher einiges an Mut und Entsagen abverlangen. Es konnte aber der Eindruck entstehen, dass, sobald diese Prüfungen bestanden sind, der Geistesforscher in einem permanenten Zustand der Glückseligkeit, im Nirwana ist. Dem ist ebenfalls entschieden nicht so. Man muss nämlich berücksichtigen, dass die übersinnlichen Forschung nur in einem leibfreien Zustand stattfinden kann. Das hat zur Folge, dass sich der Geistesforscher für die Momente - und es sind dies bloß Momente - , in welchen er bewusst in die geistige Welt eindringen will, von seinem physischen Körper trennen muss. Und dies ist schmerzhaft: Wenn der Mensch irgendwo eine Wunde hat, dann schmerzt ihn das. Warum? Weil sein geistiges Wesen dadurch, daß der physische Leib verletzt wird, an dieser Stelle den physischen Leib nicht richtig durchdringen kann. Aller Schmerz rührt davon her, daß man irgendwie den physischen Leib nicht durchdringen kann. Und wenn man an etwas äußerlichem Schmerz erlebt, so ist es auch aus dem Grunde, weil man sich damit nicht vereinigen kann. Hat man das leere Bewußtsein erlangt, in das eine ganz andere Welt als diejenige, an die man gewöhnt ist, hereinflutet, dann hat man für die Momente, in denen man diese inspirierte Erkenntnis hat, den ganzen physischen Menschen nicht, dann ist alles wund, dann schmerzt alles. Das muß man zunächst durchmachen. Man muß sozusagen das Verlassen des physischen Leibes als richtigen Schmerz, als richtiges Leid durchmachen, um zur inspirierten Erkenntnis zu gelangen, um dazu zu gelangen im unmittelbaren Anschauen, nicht bloß im Begreifen. (GA234, S. 93) Doch der Zustand, den man durchlebt, gerade wenn man dazu kommt, die Fähigkeit der inneren Aktivität zu entwickeln, ohne zunächst auch einen Inhalt zu haben, dieser Zustand erfordert eine starke Überwindung. Und eigentlich ist diese Überwindung, die man dabei nötig hat, der Probier- und Prüfstein dafür, ob diese Geistesforschung eine ehrliche und echte ist. Denn in dem Moment, wo man sich dazu nur anschickt, mit leerem Bewußtsein, mit einfachem Wachbewußtsein, ohne daß dieses Wachbewußtsein einen Inhalt hat, zu leben, in diesem Moment breitet sich über das ganze Seelenleben ein unsäglicher Schmerz, eine unbegrenzte Entbehrung aus. Alles, was man sonst als Schmerzen in der Welt erleben kann, ist eigentlich gering gegenüber diesem geistig-seelischen Schmerz, den man in diesem Augenblicke der Erkenntnis erlebt. Und über diesen Schmerz muß man hinwegkommen. Denn dieser Schmerz ist eben der Ausdruck einer Kraft, die ihr physisches Abbild in allen möglichen Formen der Entbehrung hat: im Hunger, der uns zum Essen anleitet, im Durst, der uns zum Trinken zwingt und so weiter. Jetzt fühlen wir in der Seele etwas, was an uns herankommen muß, und wir fühlen 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1265 es als einen unsäglichen Schmerz. Aber leben wir in dem Schmerz eine Weile, fühlen wir so recht unser Inneres selbst als ein schmerzerfülltes, das heißt, sind wir eine Weile Schmerz, ist unser eigenes Menschenwesen für unser Bewußtsein eine Weile nichts anderes als ein Zusammenhang von Schmerz, dann bleibt dieses Bewußtsein nicht länger leer, dann erfüllt sich dieses Bewußtsein, und es erfüllt sich nun nicht mit sinnlichem Inhalt, wie wir ihn durch Augen, Ohren und so weiter erhalten, sondern es erfüllt sich das Bewußtsein jetzt mit geistigem Inhalt. (GA231, S. 21f.) Man muß einen unsäglichen Schmerz durchmachen, wenn man in der Erkenntnis die sinnlich-physische Welt verlassen muß und eindringen will in die geistige Welt. Dieser Schmerz, möchte ich sagen, färbt schon ab auf das gesamte Menschenleben. (Ebd., S. 47) Deshalb spricht Steiner vom Erkenntnisschmerz, Erkenntnisleid (GA234, S. 92), vom Initiationsschmerz (ebd., S. 93) als einem bedeutenden Signum der Geistesforschung. Dieser Aspekt der übersinnlichen Forschung ist zu berücksichtigen, wenn man sich ein adäquates Bild von ihr erarbeiten und sie insbesondere mit der gewöhnlichen naturwissenschaftlichen Forschung vergleichen will. Wer war Rudolf Steiner? Die obigen Überlegungen werfen ein wichtiges Licht auf die scheinbar triviale Frage: Wer war Rudolf Steiner? Wir haben uns der Antwort auf diese Frage bereits am Anfang des vorliegenden Kapitels genähert, indem ich wir die wichtigsten Stationen von Steiners Biografie betrachteten. Ich möchte in den nachfolgenden Zeilen eine weitere Facette zu dieser Antwort beitragen. Liest man Steiners Biografien in den gängigen Lexika, Enzyklopädien usw., so muss man leider feststellen, dass er praktisch ausnahmslos falsch bezeichnet wird. Typisch für Steiners Bild in der Öffentlichkeit ist diese Darstellung, die der Ankündigung der Kritischen Ausgabe seiner Schriften im Verlag Frommann-Holzboog entnommen ist: Von den einen als scharfsinniger Philosoph, hellsichtiger Visionär und geistiger Architekt einer künftigen Kulturstufe der Menschheit verstanden, wird Steiner auf der anderen Seite oft als dilettantischer Eklektiker und opportunistischer Scharlatan, gar als Rassist, Antisemit und Ewiggestriger charakterisiert, der sich und seinen unkritischen Anhängern den Übergang in die Moderne verstellt und in seiner Anthroposophie eine zweifelhafte Ersatzreligion geschaffen habe. 414 Betrachtet man andere der breiten Öffentlichkeit zugängliche Texte, so findet man dieses Bild grundsätzlich bestätigt. So schreibt z. B. die englische Wikipedia: 414 http: / / www.frommann-holzboog.de/ site/ suche/ detailansicht.php? wid=127000000 (heruntergeladen am 6. 12. 2014). 1266 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Rudolf Joseph Lorenz Steiner (25/ 27 February 1861 - 30 March 1925) was an Austrian philosopher, social reformer, architect, and esotericist. Steiner gained initial recognition at the end of the nineteenth century as a literary critic and published philosophical works including The Philosophy of Freedom. At the beginning of the twentieth century, he founded a spiritual movement, anthroposophy, with roots in German idealist philosophy and theosophy; other influences include Goethean science and Rosicrucianism. 415 Die bedeutende englische Zeitung The Independent stellte fest: Steiner was an Austrian, playwright and artist who lived between 1861 and 1925. He founded a spiritual movement called Anthroposophy, which works on the basis that children's creative, spiritual and moral dimensions need as much attention as their intellectual ones. During his life, he was known as a literary scholar, artist, playwright and social thinker. 416 Und die deutsche Wikipedia fasst Steiners Leistung folgendermaßen zusammen: Rudolf Joseph Lorenz Steiner (*27. Februar 1861 in Kraljevec, Kaisertum Österreich, heute Kroatien; † 30. März 1925 in Dornach, Schweiz) war ein österreichischer Esoteriker und Philosoph. Er begründete die Anthroposophie, eine esoterische Weltanschauung, die an die Theosophie, das Rosenkreuzertum, die Gnosis sowie die idealistische Philosophie anschließt und zu den neumystischen Einheitskonzeptionen der Zeit um 1900 gezählt wird. Auf Grundlage dieser Lehre gab Steiner einflussreiche Anregungen für verschiedene Lebensbereiche, etwa Pädagogik (Waldorfpädagogik), Kunst (Eurythmie, anthroposophische Architektur), Medizin (anthroposophische Medizin), Religion (die Christengemeinschaft) oder Landwirtschaft (biologisch-dynamische Landwirtschaft). 417 Die vorangehenden Betrachtungen haben hoffentlich deutlich gemacht, dass alle diese biographischen Skizzen - und man könnte ihre Liste beliebig ergänzen - den Kern der Sache nicht treffen. Steiner war weder Philosoph noch Künstler, weder Dramatiker noch Esoteriker noch hellsichtiger Visionär. Was war er dann? Um Steiners Persönlichkeit gerecht zu werden, fehlt ein wesentlicher Begriff - nicht nur den Autoren der obigen Biografien, sondern unserer ganzen Kultur. Wir haben die Begriffe: Priester, Schaman, Visionär, Mystiker, Hellseher, Guru, Esoteriker, Medium usw., was uns fehlt, ist der Begriff des Geistesforschers oder des Eingeweihten, des Initiierten (in die heiligen Geheimnisse der göttlich-geistigen Welt). Unsere Kultur hat vollständig die Vorstellung verloren (oder vielleicht hat sie diese Vorstellung nie gehabt? ), dass man in die göttlich-geistige Welt nicht nur mittels Visionen, Eingebungen, mediumistischen Begabungen und dergleichen, sondern mittels diszip- 415 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Rudolf_Steiner (heruntergeladen am 6. 12. 2014). 416 http: / / www.independent.co.uk/ news/ education/ education-news/ the-big-questionwho-was-rudolf-steiner-and-what-were-his-revolutionary-teaching-ideas - 433407.html (heruntergeladen am 6. 12. 2014). 417 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Rudolf_Steiner (heruntergeladen am 6. 12. 2014). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1267 linierter, der bewussten und besonnenen Kontrolle vollständig unterliegender Forschungsmethoden eindringen kann, dass man in dieser Welt wissenschaftlich forschen kann und dass dieses Forschen im Vergleich mit der Alltagswissenschaft etwas Gehobenes, ja Heiliges bedeutet, weil man sich in den höheren Regionen der geistigen Welt unter Wesenheiten befindet, die von den Menschen immer (und zu Recht) als „ Götter “ bezeichnet wurden. Mit ihnen zu verkehren verlangt aber selbstverständlich von dazu qualifizierten Menschen eine angemessene Haltung, die vielleicht am besten der Begriff „ heilige Scheu “ umreißt. Zugang zu diesen Regionen setzt also tatsächlich eine Weihe (eine „ rituelle Handlung, durch die jmd. o. etw. in besonderer Weise geheiligt od. in den Dienst Gottes gestellt wird; Konsekration “ , Duden 1996, S. 1723) voraus, und die Person, die diesen Zugang erlangt, kann als Eingeweihter im eigentlichsten Sinne des Wortes bezeichnet werden. Typisch für den Zustand der gegenwärtigen Kulturblindheit auf diesem Gebiet ist, was man in den allgemein zugänglichen Referenzwerken als Erklärung für die hier relevanten Begriffe findet. So schreibt z. B. die englische Wikipedia über „ Initiation “ : Initiation is a rite of passage marking entrance or acceptance into a group or society. It could also be a formal admission to adulthood in a community or one of its formal components. In an extended sense it can also signify a transformation in which the initiate is ‘ reborn ’ into a new role. Examples of initiation ceremonies might include Hindu diksha, Christian baptism or confirmation, Jewish bar or bat mitzvah, acceptance into a fraternal organization, secret society or religious order, or graduation from school or recruit training. A person taking the initiation ceremony in traditional rites, such as those depicted in these pictures, is called an initiate. 418 Und das Shorter Oxford English Dictionary on historical Principles erklärt denselben Begriff folgendermaßen: Initiation [. . .] 2. Formal introduction by preliminary instruction or initial ceremony into some office, society, etc., or to participation in some principles or observances. (SOEDHP 1992, S. 1074) Die deutsche Wikipedia liefert diese Erklärung: Ein Eingeweihter bzw. Insider ist jemand, der Informationen besitzt, über die Außenstehende bzw. die Allgemeinheit keine Kenntnis haben. Er kennt sich also in einem konkreten Sachverhalt genau aus oder ist in bestimmten Dingen oder Verhältnissen eingeweiht. Der Begriff hat sich im Deutschen gegen Ende des 20. Jahrhunderts etabliert und ist aus dem angelsächsischen Sprachraum (engl. inside, „ im Inneren “ , „ innen befindlich “ ) übernommen. Es wird deutlich, dass diese Funktion oder Stellung der Person von „ außen “ betrachtet wird. 419 418 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Initiation (heruntergeladen am 12. 12. 2014). 419 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Insider (heruntergeladen am 12. 12. 2014). 1268 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Und der Duden schreibt einfach: Eingeweihte [. . .] jmd., der in etw. eingeweiht, von jmdm. ins Vertrauen gezogen worden ist; jmd., der von Dingen Kenntnis hat, die nicht jedem bekannt, zugänglich sind. (Duden 1996, S. 400) Es ist offensichtlich, dass die Dimension der Weihe eines Eingeweihten aus dem allgemeinen Bewusstsein völlig verschwunden ist. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass unsere Kultur und ihre führenden Repräsentanten, die „ Intellektuellen “ und Wissenschaftler, die Vorstellung größtenteils verloren haben, dass es überhaupt eine heilige, göttlich-geistige Dimension der Wirklichkeit gibt. Weil man diese Vorstellung nicht mehr hat, kann man Steiner unmöglich gerecht werden. Man muss seine Leistung auf die für unsere Kultur verständliche Ebene herunterziehen bzw. reduzieren und ihn als „ Philosophen “ , „ Denker “ , „ Dramatiker “ , „ Visionär “ , „ Esoteriker “ und dergleichen bezeichnen. Er war im Kern nichts von alledem. Es ist zu hoffen, dass die vorliegende Schrift dazu beitragen wird, dass diese kulturelle Blindheit überwunden wird und dass in nicht allzu ferner Zukunft Steiner als der bezeichnet wird, der er wirklich war: der moderne Eingeweihte, Geistesforscher, der Wissenschaftler der unsichtbaren Welt 420 . Steiners übersinnliche Erkenntnismethoden und ihre Resultate und die Rätsel und Aporien der Objektivität Ich habe mich bis jetzt bei der Überprüfung des Wissenschaftlichkeitsstatus der Steiner ’ schen übersinnlichen Erkenntnismethoden hauptsächlich auf einen Aspekt dieses Problems konzentriert, und zwar auf die Frage, inwiefern die Subjektivität des Forschers bei der Anwendung dieser Methoden eliminiert wird. Der Ausschluss der Subjektivität des Forschers wie auch sonstiger subjektivierender Einflüsse aus den Erkenntnisresultaten einer wissenschaftlichen Disziplin ist die kardinale Bedingung der Objektivität dieser Resultate und diese bilden, wie im Kapitel „ Was ist Wissenschaft? “ dargelegt, wiederum eine der zentralen Bedingungen der Wissenschaftlichkeit einer Disziplin. Wir haben aber im genannten Kapitel darüber hinaus einige Aporien des Objektivitätsbegriffs identifiziert, die den Eindruck erwecken, dass das Erreichen objektiver Erkenntnis prinzipiell unmöglich ist. Von diesen habe ich bereits in Majorek 2002 fünf ausgemacht: 1. Erkenntnis wird gewöhnlich als eine Art Bild der Wirklichkeit betrachtet, ein Bild kann aber nie als objektiv bezeichnet werden. 2. In jedem Erkenntnisgewinnungsprozess spielt ein subjektives Erkenntnisinteresse des Forschers mit, was es unmöglich erscheinen lässt, objektive Erkenntnis zu erzielen. 3. In jedem Erkenntnisgewinnungsprozess spielen die ethischen Werte des Forschers eine wichtige Rolle, die aber werden gewöhnlich als subjektiv (kul- 420 Diesen Begriff entnehme ich A. P. Shepherd, der sein Buch über Steiner betitelte: A Scientist of the Invisible (Shepherd 1961). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1269 turell bedingt) erachtet, was wiederum prinzipiellen Zweifeln an der Möglichkeit des Erlangens objektiver Erkenntnis schürt. 4. Das Denken wird als eine Art Handlung erlebt, eine Handlung kann aber weder subjektiv noch objektiv sein. 5. Das Sosein des Denkens entspricht nicht seinem Dasein, was die Möglichkeit objektiver Erkenntnis radikal in Frage stellt. Ergänzend zu diesen habe ich im Kapitel „ Begriff der Objektivität “ vier weitere Rätsel des Objektivitätsbegriffs herausgestellt, die ich als Aporien bezeichne: 6) die Existenz von Memen; 7) die Argumente der Vertreter des Konstruktivismus für die These, dass objektive Erkenntnis unmöglich zu erreichen sei; 8) das Problem der unbekannten Wurzel des Denkens und schließlich 9) das Paradox, dass objektive Erkenntnis unmöglich scheint, zugleich aber erreichbar sein muss. Es obliegt uns jetzt zu untersuchen, wie sich diese Aporien der Objektivität im Lichte der oben geschilderten Ergebnisse der übersinnlichen Forschungsmethoden darstellen und ob sie die Möglichkeit des Erlangens objektiver Forschungsergebnisse auf diesem Weg prinzipiell in Frage stellen. Aus Gründen, die alsbald ersichtlich werden, werde ich die Betrachtung der Folgen der Einsicht in den Charakter der übersinnlichen Erkenntnismethoden für die Aporien der Objektivität nicht mit der ersten (wie kann ein Bild der Wirklichkeit, das die Erkenntnis zu sein hofft, qua Bild oder Replik je objektiv sein? ), sondern mit der fünften Aporie beginnen: Wenn die Erscheinungsform des Denkens im gewöhnlichen Bewusstsein tatsächlich dem Dasein der Gedanken radikal widerspricht, wie kann Wissen, das letztlich stets im Medium der Gedanken formuliert wird, je als objektiv gelten? 5. Aporie: Das Sosein des Denkens entspricht nicht seinem Dasein Wir haben in den Abschnitten „ Der Ausgangspunkt: das Denken “ und „ Von der Beobachtung der Gedanken über die Beobachtung des Denkens zur Einsicht in den Ätherleib “ gesehen, dass die gewöhnliche Denkfähigkeit bedeutend ausgebaut, verfeinert, erstarkt werden kann, dass man die Fähigkeit erlangen kann, von der Beobachtung der Gedanken zur Beobachtung des Denkens als Tätigkeit überzugehen. Ich habe in den genannten Abschnitten nur das für das Verständnis der übersinnlichen Erkenntnisstufen Nötigste dargestellt. Jetzt möchte ich ergänzend einiges zu dem Charakter des Denkens sagen, das durch die meditativen Übungen erlangt werden kann, weil eine solche Ergänzung für die hier in Betracht kommende Aporie der Objektivität entscheidend ist. Es ist eine Binsenwahrheit, dass unser alltägliches Denken abstrakt, kalt, grau, man könnte auch sagen: theoretisch ist. Es wird keineswegs als etwas Reales erlebt, weshalb man die Frage nach der Beziehung der Begriffe zur Wirklichkeit stellen muss (vgl. den Abschnitt „ Einige theoretischen Probleme des empirischen Forschungsparadigmas “ ) und weshalb die fünfte Aporie der Objektivität entsteht. Es mag deshalb überraschen, ja, als Provokation erscheinen, wenn man im grundlegenden philosophischen Werk Steiners, 1270 11 Übersinnliche Forschungsmethoden in seiner Philosophie der Freiheit, die folgende, zur Auflage von 1918 hinzugefügte Passage liest: Die Schwierigkeit, das Denken in seinem Wesen beobachtend zu erfassen, liegt darin, daß dieses Wesen der betrachtenden Seele nur allzu leicht schon entschlüpft ist, wenn diese es in die Richtung ihrer Aufmerksamkeit bringen will. Dann bleibt ihr nur das tote Abstrakte, die Leichname des lebendigen Denkens. Sieht man nur auf dieses Abstrakte, so wird man leicht ihm gegenüber sich gedrängt finden, in das „ lebensvolle “ Element der Gefühlsmystik, oder auch der Willensmetaphysik einzutreten. Man wird es absonderlich finden, wenn jemand in „ bloßen Gedanken “ das Wesen der Wirklichkeit ergreifen will. Aber wer sich dazu bringt, das Leben im Denken wahrhaft zu haben, der gelangt zur Einsicht, daß dem inneren Reichtum und der in sich ruhenden, aber zugleich in sich bewegten Erfahrung innerhalb dieses Lebens das Weben in bloßen Gefühlen oder das Anschauen des Willenselementes nicht einmal verglichen werden kann, geschweige denn, daß diese über jenes gesetzt werden dürften. Gerade von diesem Reichtum, von dieser inneren Fülle des Erlebens rührt es her, daß sein Gegenbild in der gewöhnlichen Seeleneinstellung tot, abstrakt aussieht. Keine andere menschliche Seelenbetätigung wird so leicht zu verkennen sein wie das Denken. Das Wollen, das Fühlen, sie erwärmen die Menschenseele auch noch im Nacherleben ihres Ursprungszustandes. Das Denken läßt nur allzuleicht in diesem Nacherleben kalt; es scheint das Seelenleben auszutrocknen. Doch dies ist eben nur der stark sich geltend machende Schatten seiner lichtdurchwobenen, warm in die Welterscheinungen untertauchenden Wirklichkeit. Dieses Untertauchen geschieht mit einer in der Denkbetätigung selbst dahinfließenden Kraft, welche Kraft der Liebe in geistiger Art ist. Man darf nicht einwendend sagen, wer so Liebe im tätigen Denken sieht, der verlegt ein Gefühl, die Liebe, in dasselbe. Denn dieser Einwand ist in Wahrheit eine Bestätigung des hier geltend Gemachten. Wer nämlich zum wesenhaften Denken sich hinwendet, der findet in demselben sowohl Gefühl wie Willen, die letztern auch in den Tiefen ihrer Wirklichkeit; wer von dem Denken sich ab- und nur dem „ bloßen “ Fühlen und Wollen zuwendet, der verliert aus diesen die wahre Wirklichkeit. Wer im Denken intuitiv erleben will, der wird auch dem gefühlsmäßigen und willensartigen Erleben gerecht; nicht aber kann gerecht sein gegen die intuitiv-denkerische Durchdringung des Daseins die Gefühlsmystik und die Willensmetaphysik. Die letztern werden nur allzuleicht zu dem Urteil kommen, daß sie im Wirklichen stehen; der intuitiv Denkende aber gefühllos und wirklichkeitsfremd in abstrakten Gedanken, ein schattenhaftes, kaltes Weltbild formt. (GA4, S. 142 - 144) Hier ist die Rede vom „ lebendigen “ , „ wesenhaften “ bzw. „ intuitiven “ im Gegensatz zum alltäglichen Denken, welches im Vergleich mit dem „ lebendigen Denken “ wie ein Leichnam erscheint. Was meint Steiner mit diesen Begriffen? Es wird heute behauptet, dass die Gedanken bloß Produkte der Gehirnaktivität seien. Es ist eines der elementaren Ergebnisse der Anwendung der übersinnlichen Erkenntnismethoden, dass diese Behauptung völlig falsch ist. Das Gehirn ist nicht der Produzent der Gedanken, es ist bloß ein Spiegelungsapparat, der das Bewusstwerden der Gedanken (und der anderen seelischen Phänomene wie Gefühle, Willensimpulse usw.) ermöglicht. In 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1271 einem verhältnismäßig späten Vortragszyklus formulierte Steiner diese grundlegende Einsicht folgendermaßen: Das gewöhnliche irdische Seelenleben fließt ab in den innerlich erlebten Erscheinungen des Denkens, Fühlens und Wollens. In Wirklichkeit liegt dem allem zugrunde, dass mit dem Aufwachen in dem physischen Organismus des Menschen enthalten sind [. . .] ein ätherischer Organismus, ein astralischer Organismus und eine Ich-Wesenheit. [. . .] Im Wachzustande kommt aber klar in das gewöhnliche Bewusstsein nur dasjenige herein, was von der Tätigkeit des ätherischen, des astralischen Organismus und der Ich-Wesenheit als Gedanken vom physischen Organismus reflektiert wird. (GA215, S. 143) Bereits früher beschrieb er, wie die spiegelnde Funktion des Gehirns für die Gedanken zustande kommt: Der Mensch nimmt, indem er denkt, eigentlich nur die letzte Phase seiner denkerischen Tätigkeit, seines denkerischen Erlebens, wahr. [. . .] Denken Sie sich einmal, Sie würden sich hinstellen und Ihr Gesicht in einem Spiegel sehen wollen. Wenn Sie keinen Spiegel da haben, können Sie Ihr Gesicht nicht sehen. [. . .] Wollen Sie es sehen, so müssen Sie irgend etwas, was an Materie daliegt, so bearbeiten, daß es ein Spiegel wird. Das heißt, Sie müssen es erst zubereiten, damit es das Spiegelbild hervorbringen kann. Wenn Sie das getan haben und dann hineinschauen, sehen Sie Ihr Gesicht. - Dasselbe muss die Seele machen mit dem Gehirn, was ein Mensch mit dem Spiegel machen würde. Es geht der eigentlichen denkerischen Tätigkeit der Wahrnehmung des Gedankens eine solche Tätigkeit voraus, die, wenn Sie zum Beispiel den Gedanken „ Löwe “ wahrnehmen wollen, erst tief drinnen die Teile des Gehirns so in Bewegung versetzt, daß diese Spiegel werden für die Wahrnehmung des Gedankens „ Löwe “ . Und der, welcher das Gehirn erst zum Spiegel macht, das sind Sie selber. Was Sie als Gedanken zuletzt wahrnehmen, das sind Spiegelbilder; was Sie erst präparieren müssen, damit das betreffende Spiegelbild erscheint, das ist irgendeine Partie des Gehirnes. Sie sind es selbst mit Ihrer Seelentätigkeit, der das Gehirn in diejenige Struktur und in die Fähigkeit bringt, um das, was Sie denken, als Gedanke spiegeln zu können. (GA151, S. 73f.) 421 Diese Beschreibung ist aus Sicht der heutigen Neurobiologie sicherlich nicht ganz befriedigend, weil sie bloß in allgemeinen Begriffen vom „ Präparieren einer Partie des Gehirns “ spricht, während wir heute gerne konkret von der Übertragung elektrischer Impulse innerhalb eines bestimmten Neuronenensembles sprechen. Sie stammt aber bereits aus dem Jahr 1914, als die Kenntnisse der Gehirntätigkeit unvergleichbar rudimentärer waren als heute. Trotz seiner Allgemeinheit wirft dieser Gedankengang jedoch ein sehr wichtiges neuartiges Licht auf die Funktion des Gehirns in unserem gewöhnlichen Seelenleben. Auf die Folgen dieser Einsicht werde ich ausführlicher im nächsten Kapitel ( „ Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft “ ) eingehen. Für unser gegenwärtiges Problem ist lediglich relevant, dass man 421 Vgl. GA215, S. 30, vgl. auch Majorek 2002, 6.5.2.3 „ Erkenntnis ohne Spiegel “ , S. 406f. 1272 11 Übersinnliche Forschungsmethoden die gewöhnliche Abhängigkeit vom Spiegelungsapparat des Gehirns überwinden kann. Der Erwerb der Fähigkeit, das Denken (im Gegensatz zum Gedanken) zu beobachten, setzt eine solche Befreiung voraus. Der damit verbundene Aufstieg von schattenhaften Gedanken zum „ lebendigen “ , „ wesenhaften “ , „ intuitiven “ Denken bedeutet, dass man die Fähigkeit erlangt, „ ein Vorstellen herbeizuführen, welches im ätherischen Organismus verläuft, aber zugleich vollbewusst ist wie das wissenschaftliche Denken, das wir in der Mathematik oder in der Naturwissenschaft anwenden “ (GA215, S. 29, Hervorhebung von mir, MBM). Das kann durch die oben genannte Übungen erreicht werden, denn durch solche Übungen befreit man sich - zumindest teilweise - in seiner seelischen Aktivität von der Abhängigkeit vom physischen Leib (ebd., auch S. 35, 46). Erst vom im Lebensbzw. Ätherleib erlebten Denken kann man sagen, dass es real ist (GA215, S. 18). 422 Erst dann nimmt das Denken, das jetzt außerhalb des physischen Leibes verläuft und das Steiner als „ ätherisches Denken “ bezeichnet (ebd., S. 47), realen Charakter an. Mit dem Erlangen des Bewusstseins des ätherischen Leibes ändert sich aber auch grundlegend das Erlebnis des Verhältnisses dessen, was der Mensch gewöhnlich als sein Inneres empfindet, zu dem, was er als außerhalb seines Selbst erlebt, einer Erfahrung, welcher wir bereits oben in Verbindung mit dem „ Denk-Erlebnis “ begegnet sind: Im ätherischen imaginativen Anschauen wächst sozusagen der eigene ätherische Organismus mit dem Ätherischen des Kosmos zusammen; man fühlt sich in gleicher Art in seinem eigenen ätherischen Organismus und im Ätherischen des Kosmos darinnen. Was man nun da erlebt durch den Zusammenfluss des eigenen ätherischen Organismus und des ätherischen Webens und Treibens im Kosmos, das ist man nun imstande, in scharf konturierte Bildvorstellungen zu bringen und es dann auch in menschliche Sprache zu kleiden und so auszudrücken, dass es in der menschlichen Sprache erscheinen kann. Auf dieser Weise kann man wieder eine Philosophie gewinnen. (GA215, S. 31) Wir sehen in diesen Schilderungen des Zusammenfließens des Inneren und des Äußeren des Menschen, welche Steiner 1922 formulierte, eine starke Parallele zu der Qualität des Erfahrung, welche er später als charakteristisch für das „ Denk-Erlebnis “ beschrieben hat (GA232, S. 12). Was an dieser Stelle als eine neue Nuance hinzukommt, ist die Betonung des erlebten Wirklichkeitscharakters des „ ätherischen Denkens “ , eines Erlebnisses, das dem gewöhnlichen Denken, das doch sehr stark als ein grauer Schein empfunden wird, sicherlich nicht zuschreibbar ist, das aber die oben angeführte Charakterisierung der Qualitäten des „ intuitiven “ Denkens aus der Philosophie der Freiheit wiederholt und bestätigt. Das Thema des Realwerdens der zum Leben erweckten Gedanken wird übrigens auch viel früher, z. B. im Vortrag vom 26. August 1913, berührt. Dort sagt Steiner: „ Sobald wir mit unserem 422 Ein durch den physischen Leib gespiegeltes Denken bezeichnet Steiner manchmal als „ deplaciert “ (ebd., S. 41). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1273 ätherischen Leib in der elementarischen Welt uns bewegen, werden die Gedanken, ich möchte sagen dichter, lebendiger, selbständiger, wahrer in ihrer Wesenheit “ (GA147, S. 62). Den Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Denken, das im physischen Leib verankert ist oder genauer durch ihn widergespielt wird, und dem reinen Denken, das vom physischen Leib befreit ist, thematisiert Steiner in mehreren Vorträgen. So stellt er z. B. im Vortrag vom 26. August 1913 fest, dass das gewöhnliche Denken „ eigentlich nur der äußere, durch den physischen Leib hervorgerufene schattenhafte Abdruck [. . .] desjenigen Denkens [ist], das in den okkulten Untergründen ruht und das eigentlich Lebewesenheit genannt werden kann “ (ebd.) 423 Im Vortrag vom 1. Mai 1915 macht Steiner deutlich, dass das eigentliche Denken im Ätherleib verläuft und im physischen Gehirn nur seine Spuren hinterlässt (in GA161, S. 241f.), 424 und im Vortrag vom 6. Februar 1923 stellt er fest, dass man durch das reine oder lebendige Denken aus seinem Leib in eine nicht irdische Welt hinausgehoben wird (in GA257, S. 54). Im Vortrag vom 1. Mai 1915 erklärt Steiner, worin der Übergang vom gewöhnlichen zum reinen, lebendigen oder, wie er es dort nennt, „ imaginativen “ Denken besteht: „ Schreiten wir zum imaginativen Denken fort, dann denken wir im astralischen Leibe, und der ätherische Leib behält dann die Spuren, wie sonst, wenn im Ätherleibe gedacht wird, der physische Leib die Spuren behält “ (GA161, S. 242). Eine wichtige Qualität der Erfahrung des Denkens, das im ätherischen Leib erlebt wird, besteht darin, dass die Gedanken des zur Lebendigkeit erweckten Denkens ein eigenständiges Leben gewinnen, während der Denker im gewöhnlichen Denken Herr seiner Gedanken ist, sie beliebig verbindet und trennt, sie von einem Gedanken zum anderen führt, sie gleichsam „ schubst “ . Den Charakter des imaginativen Denkens vergleicht Steiner bildhaft mit den Eindrücken eines Kopfes, der in einem Ameisenhaufen steckt: In der elementarischen Welt ist man nicht in der Lage, solchen passiven Gedanken gegenüberzustehen wie in der physisch-sinnlichen Welt. Wenn man sich wirklich mit der hellsichtigen Seele einlebt in die elementarische Welt, dann ist das so, wie wenn die Gedanken nicht Dinge wären, die man beherrscht, sondern die Gedanken werden wie lebendige Wesen. Stellen Sie sich einmal vor, Ihre Gedanken wären nicht so, dass Sie sie machen und verbinden und trennen, sondern in Ihrem Bewusstsein fingen die Gedanken, jeder derselben, ein Eigenleben an, ein wesenhaftes Leben. [. . .] Ich kann nicht anders, als ein groteskes Bild gebrauchen; aber dieses Bild kann uns ein wenig aufmerksam machen, wie anders das Denken werden muss in der elementarischen Welt, als es in der physisch-sinnlichen Welt ist. Denken Sie sich, Sie steckten Ihren Kopf in einen Ameisenhaufen, und das Denken hörte auf. Dafür hätten Sie Ameisen statt Ihrer Gedanken im Kopfe. So 423 Zu dem Thema des schattenhaften Charakters unserer gewöhnlichen Gedanken vgl. auch z. B. GA108, S. 241; GA130, S. 84 f; GA194, S. 203. 424 Vgl. auch den Vortrag vom 2. Mai, GA161, S. 252. 1274 11 Übersinnliche Forschungsmethoden werden die Gedanken, wenn Sie untertauchen mit Ihrer Seele in die elementarische Welt, dass sie sich selber verbinden und trennen, dass sie ein Eigenleben für sich führen. (GA147, S. 58) 425 Diese Befreiung des ätherischen, lebendigen, intuitiven, wesenhaften Denkens von der Willkür des Denkenden ist eine allgemeine Eigenschaft der Erfahrung außerhalb des physischen Leibes. Dazu Steiner: Die für die Geistes-Erkenntnis vorbereitende meditative Tätigkeit der Seele ist ein stufenweises Besiegen der „ Angst vor dem Leeren “ des Seelenwesens. Aber diese Leere ist nur eine „ Leere der Natur “ , in der sich die „ Fülle des Geistes “ offenbaren kann, wenn man sie ergreifen will. Und in dieser „ Fülle des Geistes “ taucht die Seele nicht mit der Willkür ein, die ihr eignet, wenn sie sich durch den Körper im Naturdasein betätigt; sie taucht in sie ein, indem ihr der Geist den schaffenden Willen zeigt, vor dem die nur innerhalb des Natürlichen bestehende Willkür so dahinschmilzt wie die Natur selbst. (GA36, S. 364) Eine fortschreitende übersinnliche Erkenntnis erfährt allmählich, dass unsere alltäglichen schattenhaften Gedanken eigentlich nichts anderes als Reduktionen der übersinnlichen Wirklichkeit sind(und das Gehirn im Sinne von James ’ ein „ reducing valve “ ), sie sind das „ Auslöschen der übersinnlichen Wirklichkeit auf der Wand unserer Seele “ : Wenn Sie sehen, daß die Hand ein Schattenbild an die Wand wirft, so werden Sie sagen: Wenn die Hand nicht da wäre, so würde auch das Schattenbild nicht entstehen. Das Schattenbild ist seinem Urbilde ähnlich, aber es hat eine besondere Eigentümlichkeit, es ist eigentlich - nichts! Denn gerade weil die Hand das Licht abhält, dadurch, daß an die Stelle des Lichtes das Nicht-Licht tritt, dadurch entsteht das Schattenbild. Also durch Auslöschung des Lichtes durch die Hand entsteht das Schattenbild. Genau ebenso entstehen unsere Begriffe in Wirklichkeit. Wir meinen nur, daß wir sie aus uns herausspinnen. Sie entstehen dadurch, daß hinter unserer denkenden Seele die übersinnliche Wirklichkeit steht und auf diese Seele ihre Schattenbilder wirft. Und der Begriff ist eigentlich nichts anderes als das Auslöschen der übersinnlichen Wirklichkeit auf der Wand unserer Seele. Und weil unsere Begriffe den Urbildern der übersinnlichen Welt ähnlich sind - wie das 425 Vgl. auch diese klassische Stelle aus der Geheimwissenschaft im Umriss: „ Dadurch, daß man sich unablässig zum Eigentum macht, was die Geistesforschung sagt, gewöhnt man sich an ein Denken, das nicht aus den sinnlichen Beobachtungen schöpft. Man lernt erkennen, wie im Innern der Seele Gedanke sich an Gedanke webt, wie Gedanke den Gedanken sucht, auch wenn die Gedankenverbindungen nicht durch die Macht der Sinnenbeobachtung bewirkt werden. Das Wesentliche dabei ist, daß man so gewahr wird, wie die Gedankenwelt inneres Leben hat, wie man sich, indem man wirklich denkt, im Bereiche einer übersinnlichen lebendigen Welt schon befindet. Man sagt sich: Es ist etwas in mir, was einen Gedanken-Organismus ausbildet; aber ich bin doch eines mit diesem „ Etwas “ . Man erlebt so in der Hingabe an sinnlichkeitsfreies Denken, daß etwas Wesenhaftes besteht, was einfließt in unser Innenleben, wie die Eigenschaften der Sinnendinge durch unsere physischen Organe in uns einfließen, wenn wir sinnlich beobachten. Da draußen im Raume - so sagt sich der Beobachter der Sinnenwelt - ist eine Rose; sie ist mir nicht “ (GA13, S. 341f.). Vgl. auch GA148, S. 308 und GA161, S. 165. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1275 Schattenbild der Hand seinem Urbilde ähnlich ist - , darum sind die Begriffe etwas, was im Menschen eine Ahnung hervorrufen kann von den übersinnlichen Wirklichkeiten. Daß der Mensch meint, das Begriffsnetz aus sich herauszuspinnen, kommt daher, weil er zunächst keine Anschauung hat von dieser übersinnlichen Welt. Aber sie ist da und wirkt, sie wirft ihre Schattenbilder. (GA108, S. 240f.) 426 Die geistige Welt erweist sich tatsächlich als wesensgleich mit dem, was wir als Gedanken kennen: „ Vor allen Dingen muß betont werden, daß diese Welt [Geisterland] aus dem Stoffe (auch das Wort ‚ Stoff ‘ ist natürlich hier in uneigentlichem Sinn gebraucht) gewoben ist, aus dem der menschliche Gedanke besteht “ (GA9, S. 120). Wir haben aber bereits erfahren, dass diese übersinnliche Wirklichkeit letztendlich die der geistigen Wesenheiten ist. Der schattenhafte Gedanke unseres alltäglichen Bewusstseins ist mithin letztendlich der Schatten einer Wesenheit: „ Aber so wie der Gedanke im Menschen lebt, ist er nur ein Schattenbild, ein Schemen seiner wirklichen Wesenheit. Wie der Schatten eines Gegenstandes an einer Wand sich zum wirklichen Gegenstand verhält, der diesen Schatten wirft, so verhält sich der Gedanke, der durch den menschlichen Kopf erscheint, zu der Wesenheit im ‚ Geisterland ‘ , die diesem Gedanken entspricht “ (GA9, S. 120f.). 427 Im Zuge der Steigerung des Bewusstseins durch die Übungen zur Erlangung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten enthüllt sich, was wir als Begriff, als abstrakten Gedanken kennen, als eine Offenbarung der Wesen: Der Mensch denkt während des Alltagslebens über das nach, was ihn umgibt. Er macht sich Vorstellungen, um den Zusammenhang der Dinge zu begreifen. Er sucht das durch Begriffe zu verstehen, was seine Sinne wahrnehmen. Auf solche Vorstellungen und Begriffe beziehen sich die Schlaferlebnisse. Was früher dunkler, schattenhafter Begriff war, gewinnt etwas Klangvolles, Lebendiges, was man eben nur mit den Tönen und Worten der Sinneswelt vergleichen kann. Es wird dem Menschen immer mehr so, wie wenn ihm die Lösung der Rätsel, über die er nachdenken muß, aus einer höheren Welt in Tönen und Worten zugeraunt würde. Und er vermag dann dasjenige, was ihm aus einer anderen Welt zukommt, mit dem gewöhnlichen Leben zu verbinden. Was vorher nur sein Gedanke erreichen konnte, ist jetzt für ihn Erlebnis, so lebendig und inhaltvoll wie nur irgendein Erlebnis der Sinneswelt sein kann. Die Dinge und Wesen dieser Sinneswelt sind eben durchaus nicht bloß das, als was sie der Sinneswahrnehmung erscheinen. Sie sind der Ausdruck und Ausfluß einer geistigen Welt. Diese vorher verborgene Geisteswelt tönt jetzt für den Geheimschüler aus seiner ganzen Umgebung heraus. (GA10, S. 175f.) Im Lichte der obigen Ausführungen löst sich die fünfte Aporie der Objektivität auf. Es zeigt sich, dass die Gedanken des gewöhnlichen Bewusstseins 426 Vgl. GA113, S. 164: „ [Die] Gedanken in der menschlichen Seele sind ja nur Schattenbilder ihrer Wirklichkeiten; draußen in der spirituellen Welt entsprechen unseren Gedanken gewisse geistige Wesenheiten. “ 427 Vgl. auch GA113, S. 158, wo Steiner feststellt, dass die Götter die Welt nach Gedanken geformt haben. 1276 11 Übersinnliche Forschungsmethoden tatsächlich überhaupt nicht dem Dasein der Gedanken an sich entsprechen, sondern nur Schatten dieser Wirklichkeit, „ deplazierte Gedanken “ sind. Es zeigt sich aber auch, dass sich diese für die Möglichkeit objektiver Erkenntnis fatale Einschränkung unserer gewöhnlichen Erkenntnisfähigkeit überwinden lässt, dass sich der Mensch zu einem Bewusstsein erheben kann, in welchem er nicht mehr mit Schatten, sondern mit geistigen Wirklichkeiten zu tun hat. Um mit Platon in der Sprache seines berühmten Höhlengleichnisses zu sprechen: Der Mensch kann sich von den Fesseln seines physischen Leibes befreien, die Höhle verlassen, und anstelle der durch das Feuer an den Wänden der Höhle erzeugten Schatten der Gegenstände die wahre, geistige Sonne erblicken, welche der Ursprung alles Seins ist. Die oben diskutierten Einsichten helfen übrigens in entscheidender Weise auch bei der Lösung der 8. Aporie, des Rätsels des Objektivitätsbegriffs. Es zeigt sich nämlich im Lichte der Geistesforschung, dass die Wurzel unserer Gedanken nicht in unserem Gehirn, sondern in der geistigen Welt liegen. Der Begriff ist nichts anderes als „ das Auslöschen der übersinnlichen Wirklichkeit auf der Wand unserer Seele “ . Das Hantieren mit den Begriffen im alltäglichen Bewusstsein ist demnach nichts anderes als ein schwacher und „ deplazierter “ Abglanz des Verkehrs mit den Wesenheiten der geistigen Welt. 1. Aporie: Erkenntnis als Bild Im Lichte des bis jetzt Gesagten löst sich auch die erste Aporie der Objektivität auf, nämlich das Problem, wie objektive Erkenntnis möglich ist, wenn sie ein bloßer Zusatz zur außermenschlichen Wirklichkeit, eine Art Abbild oder Fotografie ist. Die wahre Erkenntnis ist keineswegs ein bloßes gedankliches (Ab-)Bild der Wirklichkeit: Die Gedanken sind nicht Bilder, sie sind die Manifestationen von Wesenheiten. Diese wiederum bleiben dem Menschen nicht für immer verhüllt. Sie sind zunächst zwar unsichtbar, dann aber offenbaren sie sich dem Menschen, indem sie zu ihm im Zustand der Inspiration „ sprechen “ , und auf der Stufe der Intuition ist der Mensch sogar fähig, sie in ihrem innersten Wesen zu erkennen, in ihr Inneres einzudringen: „ Die Imagination führt ihn dazu, die Wahrnehmungen nicht mehr als äußere Eigenschaften von Wesen zu empfinden, sondern in ihnen Ausflüße von Seelisch-Geistigem zu erkennen; die Inspiration führt ihn weiter in das Innere der Wesen: Er lernt durch sie verstehen, was diese Wesenheiten für einander sind; in der Intuition dringt er in die Wesen selbst ein “ (GA13, S. 357). Eine weitere Nuance des hier angesprochenen Problems muss noch erwähnt werden. Denjenigen, die vor allem mit Steiners „ frühen “ erkenntnistheoretischen Schriften (GA1 - GA6) vertraut sind und seine späteren „ anthroposophischen “ Schriften wenig bis gar nicht kennen, würde Steiner (innerhalb der üblichen philosophischen Konventionen) als Idealist, sogar als Idealist platonischer Prägung gelten: Ideen sind für ihn Realitäten, Denken ein Organ der Auffassung der Ideen, wie das Auge Organ der Auffassung des 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1277 Lichtes und das Ohr des Tons ist (GA1, S. 126). Der Erkenntnisakt besteht für ihn aber nicht wie für Platon im Gewahrwerden der Idee, sondern in der Zusammenfügung der Idee mit der dieser Idee korrespondierenden Wahrnehmung. Denn die Erscheinungswelt, so wie sie sich unseren Sinnen darbietet, ist unvollständig und verlangt nach einer Ergänzung durch unsere denkerische Tätigkeit (GA2, S. 62). Die sinnlich wahrgenommene Welt ist nicht, wie gemeinhin angenommen, Wirklichkeit, sondern lediglich eine Hälfte der Wirklichkeit, zu welcher die zweite Hälfte, ein Erzeugnis des menschlichen Denkens, hinzukommen muss, wenn die vollständige Wirklichkeit entstehen soll. Die sinnliche Erfahrung ist für Steiner eine untergeordnete Form der Erfahrung, das Denken eine höhere Erfahrung in der Erfahrung (GA2, S. 42ff.). Erkenntnis besteht also nicht in der Übereinstimmung zwischen der Wahrnehmung und dem denkerischen Abbild dieser Wahrnehmung, sondern in der Ergänzung der Wahrnehmung durch die denkerische Tätigkeit des Menschen um das dieser Wahrnehmung in ihrer ursprünglichen Form fehlende ideelle Element. Der Erkenntnisakt vereint also gleichsam die zwei Sprachen, die aus dem gleichen „ Urwesen “ stammen (GA1, S. 333). Diese Sicht der Erkenntnis wirft ein erhellendes Licht auf die Tunnel-Metapher, deren sich Steiner oft zur Charakterisierung des Verhältnisses zwischen der Geisteswissenschaft und der Naturwissenschaft bediente und welche ich bereits oben erwähnte. 428 Eine Äußerung Steiners kann gleichwohl Anlass zu einem tiefen Missverständnis geben: Das Resultat dieser Untersuchungen ist, daß die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. (GA3, 11, Hervorhebung im Original) Diese Äußerung bestätigt einerseits die Behauptung, dass bereits für den frühen Steiner Erkenntnis keine Spiegelung der Realität, sondern etwas in der Welt wesentlich Neues darstellt. Auf der anderen Seite aber rückt Steiner sie in die Nähe des modernen Konstruktivismus, was ihn als einen erkenntnistheoretischen Relativisten erscheinen lässt, der die Möglichkeit der Erkenntnis der Wirklichkeit grundsätzlich negiert. Steiner so aufzufassen wäre ein schwerwiegendes Missverständnis, denn seine ganze frühe philosophische Tätigkeit war auf die Überwindung des Kantianismus (bzw. Neokantianismus) mit seiner Kernthese der Unerreichbarkeit der „ Dinge an sich “ gerichtet. Wie soll man dann die Behauptung des freien Erzeugnisses der Wahrheit durch den Menschen anders als konstruktivistisch und relativistisch ver- 428 Im Abschnitt „ Steiner und die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie; Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft “ . 1278 11 Übersinnliche Forschungsmethoden stehen? Die Auflösung des Paradoxes ergibt sich, wenn man die folgende Stelle aus GA7 aufmerksam studiert: Das Licht, das auf mich selbst fällt bei meiner Erweckung, fällt auch auf das, was ich von den Dingen der Welt mir angeeignet habe. Ein Licht blitzt in mir auf und beleuchtet mich, und mit mir alles, was ich von der Welt erkenne. Was immer ich erkenne, es bliebe blindes Wissen, wenn nicht dieses Licht darauf fiele. Ich könnte die ganze Welt erkennend durchdringen: sie wäre nicht, was sie in mir werden muß, wenn die Erkenntnis nicht in mir zu einem höheren Dasein erweckt würde. Was ich durch diese Erweckung zu den Dingen hinzubringe, ist nicht eine neue Idee, ist nicht eine inhaltliche Bereicherung meines Wissens; es ist ein Hinaufheben des Wissens, der Erkenntnis, auf eine höhere Stufe, auf der allen Dingen ein neuer Glanz verliehen wird. So lange ich die Erkenntnis nicht zu dieser Stufe erhebe, bleibt mir alles Wissen im höheren Sinne wertlos. Die Dinge sind auch ohne mich da. Sie haben ihr Sein in sich. Was soll es für eine Bedeutung haben, daß ich mit ihrem Sein, das sie draußen ohne mich haben, auch noch ein geistiges Sein verknüpfe, das in mir die Dinge wiederholte? Handelte es sich um eine bloße Wiederholung der Dinge: es wäre sinnlos, diese zu vollführen. - Aber es handelt sich nur so lange um eine bloße Wiederholung, als ich nicht mit meinem eigenen Selbst den in mich aufgenommenen geistigen Inhalt der Dinge zu einem höheren Dasein erwecke. Geschieht dies, dann habe ich das Wesen der Dinge in mir nicht wiederholt, sondern ich habe es auf einer höheren Stufe wiedergeboren. Mit der Erweckung meines Selbst vollzieht sich eine geistige Wiedergeburt der Dinge der Welt. Was die Dinge in dieser Wiedergeburt zeigen, das ist ihnen vorher nicht eigen. Da draußen steht der Baum. Ich fasse ihn in meinen Geist auf. Ich werfe mein inneres Licht auf das, was ich erfaßt habe. Der Baum wird in mir zu mehr, als er draußen ist. Was von ihm durch das Tor der Sinne einzieht, wird in einen geistigen Inhalt aufgenommen. Ein ideelles Gegenstück zu dem Baume ist in mir. Das sagt über den Baum unendlich viel aus, was mir der Baum draußen nicht sagen kann. Aus mir heraus leuchtet dem Baume erst entgegen, was er ist. Der Baum ist nun nicht mehr das einzelne Wesen, das er draußen im Raume ist. Er wird ein Glied der ganzen geistigen Welt, die in mir lebt. Er verbindet seinen Inhalt mit anderen Ideen, die in mir sind. Er wird ein Glied der ganzen Ideenwelt, die das Pflanzenreich umfaßt; er gliedert sich weiter in die Stufenfolge alles Lebendigen ein. (GA7, S. 21f.) Es zeigt sich also, dass das der Wahrnehmung hinzugefügte Element nicht das des gewöhnlichen abstrakten „ Lehnstuhldenkens “ ist, sondern dass es sich bei dieser „ Ergänzung “ um ein geistiges Element handelt, das dem Menschen erst dann zugänglich wird, wenn er eine tiefe seelische Umwandlung durchmacht, die mit einer neuen Geburt vergleichbar ist und eine Art geistige Wiedergeburt der Dinge der Welt zur Folge hat. Nicht jede Verbindung einer Idee mit einer Wahrnehmung kann also das Neue in die Welt tragen bzw. es konstituieren. Schließlich kann man eine Idee auch falsch mit einer Wahrnehmung verbinden: Wir können durchaus falsch denken, falsche Meinungen haben. Erst nach seiner geistigen „ Wiedergeburt “ ist der Mensch fähig, die sich seinen Sinnen darbietende Seite der Wirklichkeit durch die in seinem Innern in Harmonie mit dem Weltwesen auftauchende ideelle Seite derselben zu ergänzen. Dieser Vorgang bleibt im Grunde auch auf der 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1279 übersinnlichen Stufe der Erkenntnis bestehen, obschon dort die übersinnliche Wahrnehmung (Imagination) nicht bloß durch eine wie auch immer lebendige Idee, sondern durch ein Wesen ergänzt wird. Dieser entscheidende Punkt entgeht gewöhnlich der Aufmerksamkeit, denn man liest Steiner durch die Brille der gängigen Lebensauffassung und vergisst gerne, dass er seit seiner Kindheit mit der geistigen Wirklichkeit der Welt so vertraut war wie Durchschnittsmenschen mit Stühlen und Bäumen. In diesem erhöhten Sinne ist Erkenntnis tatsächlich ein freies Erzeugnis des Menschen, das ohne seine Aktivität nie zustande kommen könnte. Der Erkenntnisakt wird dadurch von seiner üblichen pragmatischen Funktion zu einer Art die Welt transformierenden Tätigkeit erhoben: Der wahre Erkenntnisakt erhöht den Wert der Welt. Die Welt wird reicher dank ihres Durchgangs durch den Menschen: Die Welt hat die Menschen nötig, weil sie dadurch mit ihrem eigenen Inhalte sich immer wieder neu und neu erfüllt. Es ist ein nicht Stoffaber Gedankenwechsel zwischen der Welt und dem Menschen. Die Welt gibt ihre Weltengedanken an den menschlichen Ätherleib ab, und die Welt empfängt sie im durchmenschlichten Zustande wiederum zurück. Der Mensch ist nicht um seiner selbst allein, der Mensch ist um der Welten willen da. (GA234, S. 114) Was Steiner nicht in die Nähe des Konstruktivismus, sondern vielmehr in die Nähe der paulinischen Theologie bringt: Denn ich denke, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll. Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes. (Röm 8,18-19) Im Lichte dieser Tatsachen ist der Erkenntnisprozess und seine Ergebnisse alles andere als ein bloßes Bild der Wirklichkeit außerhalb des Menschen. Im Gegenteil, das Erkennen ist ein Vollenden des Weltprozesses (GA1, S. 166), ein „ Glied in der Gestaltung der Welt-Wirklichkeit “ (GA2, S. 104), in welchem der Mensch das „ gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt “ (GA4, S. 258) in seinem Denken „ ergreift “ (ebd.). Es ist aus dieser Sicht gleichsam der „ Weltengrund “ (GA1, S. 199), der uns, wenn wir mit ihm in Harmonie stehen, zur Erkenntnis treibt. 2. Aporie: Das Problem des Erkenntnisinteresses Die zweite Aporie der Objektivität entzündete sich an der scheinbaren Ausweglosigkeit der Situation, in welcher der Mensch zu gleicher Zeit persönliches Interesse aufbringen muss, um überhaupt erkennen zu wollen, und sich auf der anderen Seite vollständig von den bloß persönlichen Elementen befreien muss, um objektive Erkenntnis erlangen zu können. Nun, wir haben bereits bei der Betrachtung der anfänglichen Stufen der Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten zur Kenntnis genommen, dass diese Entwicklung notwendigerweise eine bedeutende Distanzie- 1280 11 Übersinnliche Forschungsmethoden rung von der Sinneswelt, eine Art Abkopplung von ihr impliziert. Diese ist notwendig, um die Kraft zu erlangen, sich von seinem physischen Leib zu trennen, was wiederum eine notwendige Bedingung für die Einprägung der astralischen Wahrnehmungsorgane in den Lebensleib bildet. Wir haben ebenfalls gesehen, dass eine wesentliche Komponente des Sich-von-der- Welt-Distanzierens darin besteht, die gewöhnlichen Interessen für die sinnliche Welt für die „ Feiertagsaugenblicke “ des Lebens abzutöten. Betrachten wir jetzt dieses Moment genauer: [D]as Wesentlichste zur Herbeiführung eines solchen Zustandes [es handelt sich hier um den Zustand der Befreiung des Lebensleibes vom physischen Leibe] besteht darin, daß der Mensch eine Umwandlung, gleichsam eine Umstülpung seiner Interessensphäre erlebt. Für das gewöhnliche Leben ist der Mensch ausgestattet mit gewissen Interessen. Sie wissen, daß diese Interessen vom Morgen bis zum Abend spielen. Der Mensch - und er hat damit ganz recht, denn er muß in dieser Welt leben - interessiert sich für dasjenige, was auf seine Augen, seine Ohren, auf seinen physischen Verstand, auf seine physischen Empfindungen und so weiter wirkt; er interessiert sich für dasjenige, was in der Außenwelt ihm entgegentritt; er hat für das eine mehr, für das andere weniger Interesse; er widmet dem einen mehr, dem anderen weniger Aufmerksamkeit; das ist so natürlich. Und in diesen auf- und abwogenden Interessen, die ihn fesseln mit gewissen Anziehungskräften an den Teppich der Außenwelt, lebt der Mensch, lebt ja wahrhaftig ganz allein die weitaus größte Mehrzahl der gegenwärtigen Menschen. (GA113, S. 35f.) Wenn der Mensch sich im Zuge der Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten aber lernen muss, sich von seinen gewöhnlichen Interessen zu befreien, was kann ihn dann überhaupt dazu bewegen, irgendetwas erkennen zu wollen? Es gibt eine zweifache Antwort auf diese Frage. Zum einen, wie bereits im obigen Zitat angedeutet ( „ daß wir dazu die andern Interessen fügen “ ), ist es möglich, sich andere, nicht egoistische, nicht durch subjektive Bedürfnisse oder sonstige Präferenzen bedingte Interessen anzueignen. Wir haben anlässlich der Entwicklung der Fähigkeit der Beobachtung des Denkens von der Notwendigkeit der „ Umkehrung des Willens “ gesprochen und dabei darauf aufmerksam gemacht, dass man sich die Fähigkeit anerziehen muss, aus einem völlig selbstlosen Willen zu handeln. Man kann die Entwicklung der Fähigkeit des selbstlosen Interesses als eine Art Steigerung eines solchen umgekehrten Willens betrachten. Tatsächlich bildet die Entwicklung einer solchen Fähigkeit des selbstlosen Interesses eine notwendige Bedingung für das Erreichen der Stufe der Inspiration: Es kann gar nicht scharf genug betont werden, daß eigentlich alle Formen des Interesses, die sich im gewöhnlichen Leben als Lust und Leid gegenüber von Wahrheit und Irrtum ausleben, erst schweigen müssen und dann eine ganz andere Interessenart, die ohne alle Selbstsucht ist, eintreten muß, wenn etwas für die Erkenntnis durch Inspiration geschehen soll. Diese eine Eigenschaft des inneren 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1281 Seelenlebens ist aber eben nur eines unter den Mitteln zur Vorbereitung für die Inspiration. (GA12, S. 77) Der andere Aspekt der Antwort auf die Frage, worin die Erkenntnismotivation der Geistesforschers gründet, ergibt sich daraus, dass Erkenntnis nicht bloß ein egoistisches Anliegen des Menschen ist, sondern ein Ansinnen der Welt an den Menschen. Die geistigen Wesenheiten, welche sich hinter dem Schleier der Sinneswelt verbergen, wollen vom Menschen erkannt werden. Bei genauer Beobachtung kündet sich ein solcher Wille-zur-Erkenntnis auf der Seite der geistigen Welt bereits auf der Stufe der begrifflichen Erkenntnis an. In seiner Philosophie der Freiheit beschreibt Steiner diese leise Bitte seitens der geistigen Welt wie folgt: Wir treten der konkreten Wahrnehmung gegenüber. Sie steht wie ein Rätsel vor uns. In uns macht sich der Drang geltend, ihr eigentliches Was, ihr Wesen, das sie nicht selbst ausspricht, zu erforschen. Dieser Drang ist nichts anderes als das Emporarbeiten eines Begriffes aus dem Dunkel unseres Bewusstseins. (GA4, S. 49, Hervorhebung im Original) Es ist ersichtlich, dass hier die Erkenntnisinitiative im Erkenntnisakt nicht vom erkennenden Subjekt, sondern vom Erkenntnisgegenstand ausgeht. Bedenkt man ferner, dass der Begriff der Sache nicht dem erkennenden Menschen, sondern der Sache selbst gehört, ihr Wesen, letztendlich die geistige Wesenheit ist, deren Schatten sich an der „ Wand unserer Seele “ abzeichnen, zeigt sich, dass im selbstlosen Erkenntnisprozess der Erkenntnisgegenstand selbst es ist, der sich zu erkennen gibt. Wir haben soeben gesehen, dass es eigentlich der „ Weltengrund “ selbst ist, der uns zur Erkenntnis (im höheren Sinn) treibt. Somit besteht durchaus die Möglichkeit einer Erkenntnis, welche zwar motiviert ist, welche gleichzeitig aber den Ansporn zur Erkenntnistätigkeit nicht aus egoistischen Impulsen, sondern aus dem Wesen der Welt schöpft. 3. Aporie: Das Problem der ethischen Werte Auch für die dritte Aporie der Objektivität, welche sich aus der Inhärenz der (als kontingent erachteten) ethischen Werte im Erkenntnisprozess ergibt, öffnet sich aufgrund der oben beschriebenen Eigenschaften der übersinnlichen Erkenntnismethoden und von deren Resultaten ein Weg zu ihrer Überwindung. Wir haben bei der Betrachtung der Inspiration gesehen, dass eines der Erkenntnisresultate dieser Erkenntnisform darin besteht, dass sich die vermeintlich kontingenten und kulturell bedingten ethischen Vorschriften ( „ Verhaltensregeln “ ) als in ihrer ursprünglichen Form in der geistigen Welt verankert erweisen: Deshalb ist es unberechtigt, ethische Werte als menschliche Erfindungen oder konventionelle Vereinbarungen abzutun: Und wenn man das, was man [. . .] durch die inspirierte Erkenntnis erringen kann, nun, indem man es zurückstrahlen läßt ins gewöhnliche Bewußtsein, in Begriffe 1282 11 Übersinnliche Forschungsmethoden und Ideen faßt, dann hat man damit die wirkliche, auch den ganzen Menschen umfassende Kosmologie. [. . .] Aber jetzt tritt innerhalb der kosmischen Ordnung auch die moralische Weltordnung auf. Es ist nicht so wie hier im Erdendasein, daß wir auf der einen Seite die Naturordnung haben, die ihre eigene Gesetzmäßigkeit hat und moralfrei ist, und auf der anderen Seite die moralische Weltenordnung, die nur in der Seele erlebt wird für das Erdendasein, sondern wir haben eine einheitliche Welt vor uns. Was wir als planetarischen Kosmos erleben, ist durchlebt und durchgeistigt von moralischen Impulsen in fortströmender Entwickelung. Wir leben zugleich in einem natürlichen und in einem moralischen Kosmos. (GA215, S. 87) Die zugegebenermaßen dunklen Ahnungen, welche wir im gewöhnlichen Bewusstsein in Bezug auf das Gute einer Handlung haben, erweisen sich also im Lichte der Inspiration als undeutliches Durchschimmern einer von menschlicher Willkür völlig unabhängigen Realität. Aus dieser Perspektive wundert es nicht, dass eine wirklichkeitsgemäße Erkenntnis auf ethische Grundlagen bauen muss. Wenn Erkenntnis in Harmonie mit der Welt bleiben soll, muss sie auch in Harmonie mit den moralischen Gesetzmäßigkeiten dieser Welt bleiben. Die Inhärenz der ethischen Werte in der Erkenntnistätigkeit ist kein Hindernis, sondern eine notwendige Bedingung auf dem Weg zur Objektivität der Erkenntnis. Diese ethische Dimension der Wirklichkeit manifestiert sich übrigens bereits auf der Stufe des intuitiven bzw. sinnlichkeitsfreien Denkens, von dem wir bemerkt haben, dass es in etwa zwischen der Imaginations- und Inspirationsstufe der übersinnlichen Erkenntnis steht. Es zeigt sich nun, dass sich die Erfahrung dieser Art des Denkens von der zuerst rein kognitiven zur ethischen Ebene erweitert: Der denkende Mensch beobachtet, wie sittliche Impulse in sein Denken einfließen (GA322, S. 52). Die Kraft zum sittlichen Handeln entspringt also bereits in einem solchen Bewusstseinszustand nicht den internalisierten ethischen Normen oder den Pflichtvorstellungen, sondern quillt aus einer - man möchte sagen - objektiven Notwendigkeit, unabhängig von subjektiven Intentionen des Handelnden hervor. 429 Wenn auch das Gefühl der Notwendigkeit und der Objektivität der auf diese Art empfangenen ethischen Impulse zunächst unerklärlich bleibt, so ist in ihrer Erscheinungsform zumindest eine Andeutung der Einsicht gegeben, dass Ethik keineswegs als eine bloß kontingente Erfindung des Menschengeschlechtes betrachtet werden darf. 4. Aporie: Das Problem des Denkens als Handlung Auch eine weitere verbleibende prinzipielle Schwierigkeit der Objektivität löst sich im Lichte der obigen Ausführungen auf: Wie ist es möglich, dass Wissenschaft und/ oder Denken, die alsAktivität betrachtet werden müssen, 429 Vgl. auch diese frühe Stelle: „ Und so erscheint uns unser Handeln direkt als eine Fortsetzung jener Art von Wirksamkeit, die auch die Natur erfüllt “ (GA1, S. 196). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1283 objektive und/ oder subjektive Ergebnisse liefern können, obschon andere Tätigkeiten aus der Sphäre dieser Dichotomie ausgeschlossen sind, weil sie notwendigerweise ein Element der Subjektivität enthalten (jemand muss sie persönlich, individuell wollen)? Die Erkenntnistätigkeit erweist sich als viel mehr denn bloßes „ Gedankenspinnen “ (anhand von Beobachtungen, Experimente usw.). Sie bleibt zwar auch auf ihrer übersinnlichen Stufe eine Tätigkeit, und tatsächlich übersteigt diese Aktivität in ihrer Intensität bei weitem die innere Aktivität eines denkenden Wissenschaftlers. Auch auf der Stufe der Intuition ist das „ Sichöffnen “ des Geistesforschers auf die Eingebungen der geistigen Welt mit ihren Wesenheiten ein relativ zum Alltagsbewusstsein exponentiell gesteigertes innerliches Aktivsein, das allerdings auf dem Weg der Ausschaltung jeglicher eigenen Aktivität erreicht wird. Diese innere Aktivität ist von jeder erdenklichen Subjektivität befreit und kann auch nicht mehr als Handlung bezeichnet werden. 6. Aporie: Das Problem der Meme Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, dass aus der von Richard Dawkins eingeführten Theorie der Meme eine zusätzliche Bedrohung für die Möglichkeit objektiver Erkenntnis erwächst, welche so gravierend ist, dass man sie als die (neue) sechste Aporie der Objektivität bezeichnen kann. Kann diese Bedrohung auf dem Weg der übersinnlichen Forschung überwunden werden? Ich glaube, es ist im Lichte der vorangehenden Betrachtungen verhältnismäßig leicht einzusehen, dass die Antwort auf diese Frage positiv ausfällt. Zum einen möchte ich daran erinnern, dass wir bei der Betrachtung der Initiationsübungen darauf aufmerksam gemacht haben, dass es sich bei ihnen nicht nur um die Auslöschung der früher willentlich in der Seele erzeugten Imaginationen, sondern auch um die Auslöschung der zur Erzeugung dieser Imaginationen verwendeten inneren Aktivität handelt. Daraus ist ersichtlich, dass auf dieser Stufe alle Elemente der bisherigen Persönlichkeit, einschließlich der kulturellen Prägungen, zum Schweigen gebracht werden müssen. Steiner weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Geistesforscher auf dem Weg zur intuitiven Erkenntnisfähigkeit aus seinem Bewusstsein nicht nur die Bilder verschwinden lässt, denen er sich zur Erlangung der Imagination hingegeben hat, sondern auch die eigene Seelentätigkeit, in die er sich zur Erlangung der Inspiration versenkt hat: „ Nun aber entfernt der Geistesschüler auch noch diese eigene Seelentätigkeit aus dem Bewußtsein. Wenn nun etwas bleibt, so haftet an diesem nichts, was nicht zu überschauen ist. In dieses kann sich nichts einmischen, was nicht in bezug auf seinen ganzen Inhalt zu beurteilen ist “ (GA13, S. 386). Bereits aus diesem Schritt resultiert also eine für die gewöhnliche Wissenschaft völlig unbekannte und unerreichbare Befreiung von den Fesseln der individuellen (und kontingenten) Lebenserfahrung. 1284 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Die Befreiung von jeglicher Bedingtheiten der Erziehung und der kulturellen Prägungen wird jedoch erst im Zusammenhang mit der Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle ersichtlich. Sie findet statt, wenn sich die gewöhnlichen Verbindungen zwischen Denken, Fühlen und Wollen im Astral- und im Lebensleib lockern. Der Mensch erfährt dann unmittelbar, dass alles, was an ihm herangezogen ist, [. . .] sich vollständig durch das Zerreißen der Fäden zwischen Wille, Denken und Gefühl [auflöst]. Er blickt auf die Ergebnisse aller bisherigen Erziehung zurück, wie man auf ein Haus blicken müßte, das in seinen einzelnen Ziegelsteinen auseinanderbröckelt und das man nun in neuer Form wieder aufbauen muß. (GA10, S. 202) Wir haben ebenfalls gesehen, dass die Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle noch eine weitere Folge hat: Die Bedingtheiten des Menschen durch die über den Menschen stehenden geistigen Wesenheiten, die Familien-, Volks-, Rassengeister, deren Einflüsse durchaus als ein Teil dessen, was Dawkins als „ Meme “ bezeichnet, betrachtet werden können, lösen sich auf. Denn nach der erfolgreichen Begegnung mit dem kleinen Hüter ist der Mensch nicht mehr unbewusst von diesen Mächten „ gesteuert “ , sondern „ er muß wissentlich mitarbeiten an [den Zielen] seines Volkes, seiner Rasse “ (GA10, S. 200). Die Notwendigkeit der vollständigen Befreiung von der bisherigen Persönlichkeit wird durch die Darstellung der Bedingungen für den Zutritt zur eigentlichen geistigen Welt (im Gegensatz zur Welt der Elemente oder der Seelenwelt, vgl. „ Einige Erkenntnisresultate der Imagination bzw. Inspiration “ ) unterstrichen. Wir erinnern uns daran, dass man vor dem Tor dieser Welt tatsächlich alles, was man bis jetzt erworben hat oder was einem anerzogen wurde, zurücklassen muss: „ Die Seele muss in der Tat sich vor einen geistigen Abgrund stellen, und an demselben den Willensimpuls fassen, ihr Wollen, Fühlen und Denken zu vergessen. Sie muss auf ihre Vergangenheit in ihrem Bewusstsein verzichten “ (GA17, S. 86f.). Die Erfahrung der Überschreitung der Schwelle zur geistigen Welt hat „ etwas Vernichtendes für das eigene Selbst. Man empfindet seine Innerlichkeit schmerzvoll zurückgestoßen von allem, was man ersehnt. Dieser Schmerz [. . .] überragt weit alles, was man an Schmerzen in der Sinneswelt empfinden kann “ (GA16, S. 41). 430 Es ist dies „ das erschütterndste Erlebnis, das man haben kann “ (GA147, S. 129). Die Macht der Meme kann also durchbrochen werden, jedoch zu einem sehr hohen Preis. Bei der Betrachtung der Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle sind wir auf eine Schwierigkeit gestoßen, die für die Möglichkeit objektiver Erkenntnis sogar noch einschneidender ist als der Einfluss der Meme: die Bedingtheit des Menschen durch unterschiedliche karmische Einflüsse. Jeder 430 Vgl. GA145, S. 183; GA147, S. 136; GA297, S. 142. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1285 Mensch trägt neben den Bedingtheiten, welche ihm aus seiner Erziehung in einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit erwachsen, auch solche in seiner Seele, die aus seinen früheren Lebensläufen resultieren und die seine Erkenntnisfähigkeiten prägen. Auch solche Einflüsse können sich einschränkend auf die Urteilsfähigkeit des Naturwissenschaftlers oder des Geistesforschers auswirken. Wie wir aber bereits gesehen haben, können diese karmischen Bedingtheiten durch die Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle und die dadurch erlangte eindringliche Selbsterkenntnis in hohem Maß neutralisiert werden: „ [Die Karmamächte] werden nun einen Teil ihrer Zügel von dir loslösen “ (GA10, S. 194). Dementsprechend bezeichnet Steiner den Geistesforscher bzw. Eingeweihten als einen „ objektiven Menschen im vollen Sinne des Wortes “ : Der einzelne Mensch in der physischen Welt gehört zu diesem oder jenem Volke, zu dieser oder jener Familie, zu dieser oder jener Staatsgemeinschaft; das ist alles recht so. Dies braucht er nicht zu verlieren, hier [in der Sinneswelt] braucht er das. Wenn er aber diese Gefühle anwenden wollte in der geistigen Welt, würde er eine sehr schlimme Mitgift mitbringen für die geistige Welt. Da heißt es nicht, irgendeine Sympathie für etwas zu entwickeln, sondern alles auf sich objektiv wirken zu lassen, nach dem im Objekte liegenden Wert. Man könnte auch sagen, wenn das allgemein verstanden würde: Ein objektiver Mensch im vollen Sinne des Wortes muß der Eingeweihte werden. (GA103, S. 184; Hervorhebung von mir, MBM) Es gibt schließlich eine weitere sehr wesentliche Bedingtheit der alltäglichen Erkenntnisfähigkeit des Menschen durch geistige Einflüsse. Ich habe auf sie im Ausgang dieses Kapitels aufmerksam gemacht, als ich auf das rätselhafte Phänomen hinwies, dass wir gewöhnlich durch technische Erzeugnisse, nicht aber durch Naturerzeugnisse (Blumen, Pflanzen, Tieren usw.) fasziniert sind. Auf diese Bedingtheit werden wir jedoch erst im übernächsten Kapitel eingehen. Es wird sich dann zeigen, dass sie keinen Einfluss auf die übersinnliche Erkenntnisresultate hat. 7. Aporie: Das Problem des Konstruktivismus Wir haben am Ende des vorigen Kapitels festgestellt, dass die These des Konstruktivismus (unsere Wahrnehmung der Welt ist durch unsere körperliche Konstitution bedingt, so dass wir nie Zugang zu den „ Dingen an sich “ haben) so gravierende Zweifel an der Möglichkeit objektiver Erkenntnis weckt, dass sie als die neue (siebte) Aporie der Objektivität betrachtet werden muss. Wie verhält sich diese Schwierigkeit angesichts der Einsichten in den Charakter der übersinnlich Erkenntnismethoden und deren Resultate? Auf einer ersten Ebene kann man behaupten, dass sich das Problem im Falle der übersinnlichen Erkenntnis auf eine fast triviale Art lösen lässt bzw. überhaupt nicht entsteht. Denn die übersinnliche Erkenntnis wird überhaupt nicht durch die Sinnesorgane des physischen Leibes erworben. Man kann jedoch das Problem auf die Ebene der übersinnlichen Wahrnehmungsorgane 1286 11 Übersinnliche Forschungsmethoden heben und behaupten, dass auch sie das, was sie wahrnehmen, infolge einer Interaktion zwischen den geistigen „ Dingen an sich “ und dem übersinnlichen Organismus des Menschen (den Lotusblumen) wahrnehmen, dass also auch diese „ Wahrnehmungen “ der geistigen Wirklichkeit an sich nicht entsprechen und nicht entsprechen können. So betrachtet ist die Rede von übersinnlichen Erkenntnismethoden keine Lösung, sondern lediglich eine Verschiebung des ursprünglichen Problems auf eine andere, die übersinnliche Ebene. Betrachten wir also die Situation genauer. Ich habe bereits in meiner Diskussion des Objektivitätsbegriffs darauf hingewiesen, dass das Problem der Objektivität der Erkenntnis nicht mit dem Charakter der Sinneswahrnehmung, sondern mit dem Charakter der gedanklichen Verarbeitung dieser Wahrnehmung zusammenhängt. Denn wenn verschiedene Menschen ihre verschiedenen Wahrnehmungen eines Elefanten (Bein, Stoßzahn, Bauch, Schwanz usw.) nur mittels eines Begriffs konzeptualisieren und kommunizieren könnten ( „ Dies ist ein Elefant “ ), würden sie nie auf die Idee kommen, dass ihre Wahrnehmungen voneinander divergieren. Dies mag ein etwas künstliches Beispiel sein, es deutet jedoch auf einen wichtigen Aspekt unserer Erkenntnistätigkeit: Die Sinne und ihre Leistungen sind für die Erkenntnis doch eher zweitrangig. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass wir Menschen z. B. Röntgenstrahlen (Alpha-, Beta-, Gammastrahlung, ultraviolette/ infrarote Strahlung, Radiowellen, sehr tiefe und sehr hohe Töne usw.) nicht wahrnehmen können, dieser Umstand führt uns jedoch normalerweise nicht zu dem Schluss, dass die Wirklichkeit an sich für uns und für unsere Erkenntnis für immer verschlossen bleiben muss. Im Gegenteil, solange wir Instrumente haben, welche das Vorhandensein und die Ausprägung einer Strahlung ermitteln und wir feststellen können, welche Eigenschaften die jeweilige Strahlung hat, wie sie verursacht wird, welche Wirkungen sie auf unterschiedliche Objekte ausübt, haben wir das Gefühl, dass wir das Wesentliche dieser für „ das Auge und das Ohr “ nicht wahrnehmbaren Objekten erkannt haben. Schließlich wurde die Entdeckung der Röntgenstrahlen als ein bedeutsamer Erkenntnisfortschritt gefeiert und nicht als ein neuer Beweis für die unüberschreitbaren Grenzen menschlicher Erkenntnis bedauert. Es mag sein, dass Lebewesen mit anderen Wahrnehmungsorganen, Fledermäuse, Bienen, Schmetterlinge, Hunde, vielleicht sogar Außerirdische, von deren Sinnesorganen und Eigenschaften wir keine Ahnung haben, die Welt anders als wir wahrnehmen, aber dies stört uns nicht besonders und führt nicht zu grundsätzlichen Zweifeln an der Möglichkeit einer Erkenntnis der Realität „ an sich “ . Man könnte nun argumentieren, dass eine solche offensichtliche und weit verbreite Erkenntniszuversicht bloß ein Resultat der mangelnden Einsicht in die tatsächlich vorhandenen Beschränkungen der menschlichen Erkenntnissituation sei, ein Resultat der Oberflächlichkeit der gewöhnlichen (auch wissenschaftlichen) Erkenntnisreflexion. Ist es tatsächlich so, oder sind unsere optimistischen Erkenntnisintuitionen tatsächlich berechtigt? 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1287 Steiner hat oft zu einem Bild gegriffen, dass hier Aufschluss geben kann. Nehmen wir an, wir haben ein Petschaft mit eigenem Namenszug. Wir drücken das Petschaft in weichen Siegellack. Es entsteht darin der Abdruck unseres Namens. Dieser ist mit dem Petschaft offensichtlich nicht identisch, und dennoch wurde für unsere Bedürfnisse das Wesentliche von dem Petschaft auf den Siegellack erfolgreich übertragen: Unser Name ist jetzt im Siegellack eingeprägt und für alle Menschen sichtbar und lesbar (GA34, S. 297; GA35, S. 96f.; 138; GA52, S. 134 - 135 usw.) Das Bild des Petschafts und des Siegelwachses wirkt heute altmodisch, lässt sich aber leicht auf die modernen Verhältnisse übertragen. Wenn Sie diese Worte lesen, verstehen Sie ihre Bedeutung unabhängig von der Art, Größe und Farbe der Buchstaben. Die sinnlich wahrnehmbare Form des Geschriebenen ist für das Verständnis des Textes unerheblich, und niemand würde auf die Idee gekommen, die Bedeutung dessen, was ich mitteilen will, durch die minuziöse Untersuchung der Zusammensetzung der gedruckten Buchstaben (Tintenqualität, ihre Zusammensetzung, Anzahl der Pixel pro Quadratmillimeter, falls der Text ausgedruckt wurde) zu ermitteln. Das Gleiche lässt sich über das Original oder über eine digitale Reproduktion von Leonardos Mona Lisa oder die digitalisierte Form von Bachs Brandenburger Konzerten sagen: Der Stoff, in dem die entsprechenden Inhalte festgehalten wurden, ist für uns großenteils irrelevant. Wir haben die Sache erkannt, wenn wir ihren geistigen Inhalt erkannt haben und nicht wenn wir das materielle Substrat der Sache kennen. Eine zumindest intuitive Einsicht in diese zentrale Eigenschaft des Erkenntnisprozesses lag u. a. Hempels deduktiv-nomologischem Modell der wissenschaftlichen Erklärung zugrunde, das die zentrale Rolle der Erkenntnis der Naturphänomene nicht ihrer sinnfälligen Form, sondern den hinter ihnen stehenden Gesetzen zuschrieb. Solche Gesetze sind jedoch von jeglicher sinnlich wahrnehmbaren Form unabhängig. Den Reichtum der uns umgebenden Welt auf einige wenige wissenschaftliche, womöglich abstrakt mathematisch formulierte Gesetze reduzieren zu wollen, ist sicherlich ein Holzweg. Es ist aber unbestritten, dass, wenn wir etwas verstehen (erkennen), wir nicht die sinnliche, wahrnehmbare Form der Phänomene beachten, sondern durch diese Form hindurch zu einer tieferen Ebene vordringen, die allein die Entstehung und die gegenseitige Verhältnisse zwischen den Phänomenen erklärlich machen kann. Im Lichte der übersinnlichen Erkenntnis erweist sich diese tiefere Ebene nicht als eine der abstrakten Naturgesetzmäßigkeiten, sondern der konkreten, sich durch diese Gesetze manifestierenden geistigen Wesenheiten: Naturgesetze sind auch nur errechnet. Sie sind gut dafür, daß wir sie technisch verwenden können; sie sind gut dazu, Maschinen machen zu können [. . .]; aber in das Wesen der Dinge führen sie nicht hinein. In das Wesen der Dinge führt nur das wirkliche Erkennen der Wesenheiten selber hinein. [. . .] 1288 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Das wirkliche Geschehen hat im Grunde genommen gar nichts mit den Naturgesetzen zu tun. Die Naturgesetze sind gut für die Anwendung der Kräfte. Aber die Wesenheit muß durch Initiationswissenschaft erkannt werden. (GA234, S. 58) Diese Wesenheiten kennen zu lernen, heißt jedoch nicht, ihr Erscheinungsbild - ob es sinnlich oder übersinnlich ist, ist hier unerheblich - , sondern ihre Absichten, Beweggründe, Intentionen kennen zu lernen, was sich sehr gut mit dem Erkennen der Intentionen eines Buchautors vergleichen lässt. Man kann die uns hier vorliegende Situation mit einem anderen Bild Steiners illustrieren: Wenn man irgendwo in einem durch den Regen aufgeweichten Feldweg Spuren findet, so wird man sicher nicht auf die Idee kommen, sie seien durch spontane Bewegungen des Erdbodens zustande gekommen. Man wird sofort erkennen, dass sie von einer Pferdekutsche stammen. Man kann sich dann weiter fragen: Woher kam die Kutsche, wohin fuhr sie? Und weiter: Wer saß in der Kutsche? Welche Absichten hatte er? Wenn wir diese Intentionen kennen, ist die Antwort auf die ursprüngliche Frage gegeben und wir müssen nicht weiter forschen. Wir wissen jetzt, woher die Spuren stammen (GA13, S. 170f.). 431 Der Erkenntnisprozess steigt also von der sinnlich wahrnehmbaren Ebene zur Ebene der im Geiste gegebenen Intentionen auf. Für diese ist aber das sinnlich wahrnehmbare Erscheinungsbild unerheblich. Der Konstruktivismus konstruiert eine prinzipielle Erkenntnisschranke, wo keine vorhanden ist, weil er unbemerkt der materialistischen Ontologie verhaftet ist: Die Materie der Phänomene, nicht die hinter ihnen stehenden Formen erscheinen ihm als für den Erkenntnisprozess entscheidend. Dringt die Materie der Objekte der Erkenntnis nicht in das Subjekt, so kann für den Konstruktivismus keine Rede von wirklicher Erkenntnis sein. Er verkennt damit, dass das Zentrale an der Erkenntnis nicht die Materie, sondern die Form, nicht der Buchstabe, sondern die Bedeutung ist. Diese kursorischen Bemerkungen mögen an dieser Stelle reichen, um die These zu belegen, dass die Hürde, die der Konstruktivismus der objektiven Erkenntnis in den Weg stellt, sich im Lichte der Einsicht in die Eigenschaften der übersinnlichen Erkenntnis auflöst. Um das Thema ausführlich zu behandeln, müsste man sicherlich ein gesondertes Buch schreiben. Fazit Die obigen Überlegungen zeigen, dass sich auf dem Weg der übersinnlichen Forschung alle Aporien der Objektivität entweder auflösen oder sich als überwindbar erweisen. Diese Auflösung der Aporien der Objektivität ist aber nur auf dem Weg der übersinnlichen Forschung möglich. Für jegliche gewöhnliche Erkenntnis, einschließlich der wissenschaftlichen oder natur- 431 Vgl. auch GA105, S. 92; GA113, S. 44; GA123, S. 33; GA73a, S. 366; GA158, S. 114f.; GA303, S. 34. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1289 wissenschaftlichen, bleiben sie bestehen. Das bedeutet aber, dass die gewöhnliche Erkenntnis nicht hoffen kann, je strenge Objektivität zu erreichen. Steiners Geisteswissenschaft erweist sich somit nochmals als objektiver und somit in einem entscheidenden Punkt wissenschaftlicher als die herkömmliche Wissenschaft. Dieses Ergebnis mag wie ein Märchen klingen. Aber auch die Botschaft von der Existenz Amerikas musste den Menschen des 15. Jahrhunderts als ein Märchen erscheinen. Heute ist die These von der Existenz Amerikas für fast alle Bewohner dieses Planeten eine Selbstverständlichkeit. Auf der anderen Seite ist es verständlich, dass jemandem, für den die obigen Betrachtungen wie ein Märchen anmuten, die Behauptung, dass eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt möglich ist, als Absurdität erscheint. Eine solche Haltung der akademischen Wissenschaft der Geisteswissenschaft Steiner gegenüber ist heute nachvollziehbar, obwohl sie eigentlich nicht nur nicht angemessen, sondern auch nicht berechtigt, ja, nicht rational ist. Wir haben bereits am Anfang dieses Kapitels gesehen, dass sich Steiner durchaus des Problems bewusst war und betonte, dass Anthroposophie auf ihre akademische Anerkennung warten kann (GA84, S. 178; GA35, S. 155; GA113, S. 14, 15, 25). Nach fast einhundert Jahren des Wartens scheint mir eine solche Anerkennung indes angebracht. Ich hoffe, dass das vorliegende Werk einen Beitrag dazu leisten wird. Das Wesen des Objektivitätsideals Im Folgenden möchte ich einen Abschnitt aus meiner Dissertation (6.8.4, S. 452f.) wörtlich zitieren, weil er mir immer noch - nach mehr als 10 Jahren - wichtig erscheint und weil ich das damals Geschriebene auch heute nicht besser formulieren kann: Ist man bereit, die sich aus dem Steiner ’ schen Weltbild ergebende Sicht des Erkenntnisprozesses zu akzeptieren oder zumindest als Möglichkeit gelten zu lassen, wirft sie ein ungewohntes Licht auf das Wesen des Objektivitätsideals, das als Ergänzung und Vertiefung der im vorigen Kapitel erreichten Einsicht betrachtet werden kann. Es zeigt sich, dass Sehnsucht und Suche des Menschen nach Objektivität nichts anderes sind als der Einbruch des dünnen Strahles der Realität des künftigen, gleichsam kosmischen Menschen in das gewöhnliche Bewusstsein. Das Streben nach Objektivität ist im wahrsten Sinne des Wortes die Sehnsucht nach der Befreiung aus den engen Grenzen des gewöhnlichen Selbst und nach dem Aufsteigen zu jenem, das in der Seele eines jedes Menschen schlummert, das aber nicht an die Grenzen seines Leibes gebunden ist, sondern bis zu den Grenzen des Kosmos reicht und in direkter Verbindung mit den Schöpferwesen dieses Kosmos steht. „ In der Sinnesanschauung muss sich der Mensch getrennt fühlen von der göttlichen Welt, der sein innerstes Wesen angehört. Durch die übersinnliche Erkenntnis verbindet er sich wieder mit dieser Welt. Dadurch mündet übersinnliche Erkenntnis in Religion ein “ (GA25, S. 87). Von einer anderen Warte aus kann 1290 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Steiner wiederum sagen: „ Der Mensch ist aus einem Weltenwesen ein Erdenwesen geworden; er ist dazu veranlagt, wieder ein Weltenwesen zu werden, nachdem er als Erdenwesen er selbst geworden ist “ (GA26, S. 216). Die Sehnsucht nach Objektivität ist nichts anderes als die Sehnsucht, dieses Weltwesen zu werden, die Verpflichtung zur Objektivität nichts anderes als die uns von unseren Schöpferwesen auferlegte Verpflichtung, dieses Ziel zu erreichen. Diese Sicht öffnet eine tiefere Perspektive auf Nagels „ objektives Selbst “ des „ zentrumslosen Blicks von Nirgendwo “ (Nagel 1986, S. 54 - 66; vgl. meine Diskussion von Nagels Position oben). Nagel schreibt: „ Nevertheless, it ’ s what we aim toward: a gradual liberation of the dormant objective self, trapped initially behind an individual perspective of human experience. The hope is to develop a detached perspective that can coexist with and comprehend the individual one “ (ebd., S. 85f.). Der Steiner ’ sche Erkenntnisweg zeigt, dass diese „ Befreiung des schlummernden objektiven Selbst “ im tiefsten, realsten Sinne möglich ist. Dass die Sehnsucht nach Objektivität und die Verpflichtung dazu erst seit kurzem, seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in das bewusste Geistesleben der Menschheit hereinleuchtet, hängt möglicherweise damit zusammen, dass sie erst jetzt für den wirklich autonom gewordenen (Selbst gewordenen) Menschen überhaupt kosmisch-evolutionär realisierbar sind. Erst der am Leib und aus dem Leib selbstständig und frei gewordene Mensch kann sich von diesem Leib befreien und nach seiner kosmisch-geistigen Heimat suchen. Objektivität ist nicht unmenschlich, wie viele gemeint und auch befürchtet haben. Sie verlangt nicht die Ausschaltung des Menschen - sie braucht den wahren Menschen. Aber auch nichts weniger. In diesem Sinne ist sie auch tatsächlich rücksichtslos, weil sie den niederen Menschen, den Menschen des gewöhnlichen Bewusstseins, nicht dulden, nicht ertragen kann. Sie will ihn vernichten. Die Sprache der Objektivität ist in Wirklichkeit die Sprache des großen Hüters der Schwelle, der die völlige Umgestaltung unseres Wesens verlangt, dafür aber - wörtlich - den Eintritt ins Paradies bietet. Das Streben nach Objektivität erweist sich somit in bestimmtem Sinne als „ der kleinste Samen “ , aus welchem der mächtige Baum des himmlischen Reiches wachsen kann (Mt 13,31-32). Eine Einschränkung: das Problem der Vollständigkeit der Urteilsgrundlage Die obigen Überlegungen haben, so hoffe ich, gezeigt, dass es keine prinzipiellen Gründe gibt, die das Erreichen objektiver Erkenntnis auf dem Weg der übersinnlichen Forschung verunmöglichen. Ich habe auch nachgewiesen, dass dieser Weg die Subjektivität viel radikaler ausschließt, als es die gewöhnliche Wissenschaft, ja sogar die Naturwissenschaft tut. Wir haben aber im vorigen Kapitel gesehen, dass es noch mindestens einen weiteren wichtigen Aspekt der Objektivitätsproblematik gibt, und zwar die Voll- 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1291 ständigkeit der Urteilsgrundlage, auf die sich die Erkenntnisurteile stützen. Wie oben ausführlicher dargelegt, setzt diese voraus, dass man alle für die Beurteilung des behandelten Problems relevanten Aspekte kennt und sie gebührend in seiner Urteilsfindung berücksichtigt. Wir haben auch festgestellt, dass ein Urteil, das auf einer unvollständigen Urteilsgrundlage gefällt wird, nicht den Status der Objektivität beanspruchen kann (zumindest wenn bekannt ist, dass die Urteilsgrundlage unvollständig ist). Wie verhält es sich mit der Erfüllung dieses Kriteriums der Objektivität bei der übersinnlichen Forschung? Wenn man sich mit den Inhalten der Schriften und Vorträge von Rudolf Steiner vertraut macht, stellt man fest, dass seine Schilderungen bestimmter Probleme an verschiedenen Stellen recht weit voneinander abweichen. Man gewinnt den Eindruck, dass er ein bestimmtes Problem von immer neuen Gesichtspunkten aus zu beleuchten pflegt, so dass es nicht einfach ist, zwei genau gleiche Schilderungen eines Themas zu finden. Die Aussagen sind zwar miteinander konsistent, ihr Zusammenhang ist jedoch der eines von verschiedenen Seiten fotografierten Baumes, mit allen Abweichungen der auf diesem Weg entstandenen Einzelbilder. 432 Keine Schilderung übersinnlicher Wirklichkeiten ist für sich erschöpfend. Steiner war sich dieses Problems sehr wohl bewusst. Mehr noch, er betonte, dass die Vielfalt der Darstellung beabsichtigt sei. Vgl. dazu paradigmatisch diese 1921 formulierte Passage: Doch braucht wirkliche Geist-Erkenntnis nicht einseitig dogmatisch zu werden. Sie kann die Fäden nach den verschiedensten verwandten Anschauungen hin ziehen. Sie kann, was sie sagen will, von den verschiedensten Gesichtspunkten her sagen und glaubt gerade dadurch fruchtbar wirken zu können. Dogmatiker aller Schattierungen mögen darin Widersprüche finden. Sie zeigen damit nur, daß ihre Gedanken dem Leben recht ferne stehen. In diesem könnten sie eben das finden, was sie Widersprüche nennen. Geisteswissenschaft kann ihnen zuliebe nicht, um ihre Widersprüche zu vermeiden, lebensfremd werden. “ (GA113, S. 7; vgl. auch ebd., S. 149). Dies bildet an sich noch kein Problem für die Objektivität der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse. Es ist schließlich unmöglich, in einem Vortrag und selbst in einer längeren Schrift alle relevanten Aspekte eines komplexen Erkenntnisproblems zu berücksichtigen. Solange man sich aber aller dieser Aspekte bewusst ist, ist an der Objektivität der Schilderung (möglicherweise) nichts auszusetzen. Das Problem greift jedoch tiefer. Es ist verhältnismäßig einfach, bedeutende Verschiebungen in den Aussagen von Steiner zu finden, was darauf deutet, dass er zu einer bestimmten Zeit nicht 432 Vgl. z. B. Steiners Schilderung der Organisation des Menschenwesens in den zwei klassischen Schriften Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (GA9, S. 20 - 48) und Die Geheimwissenschaft im Umriss (GA13, S. 41 - 60). 1292 11 Übersinnliche Forschungsmethoden nur nicht alles aufs Mal sagen wollte, sondern auch nicht sagen konnte, dass sich seine Einsicht in ein bestimmtes Problemgebiet mit der Zeit erweiterte und vertiefte. Wenn er z. B. in den wichtigen, im Mai 1908 in Hamburg gehaltenen Vorträgen über das Johannes-Evangelium das Leben Jesu und insbesondere die zwei deutlich voneinander abweichenden Jesus-Genealogien des Matthäus- und des Lukas-Evangeliums bespricht, gibt er keinen Hinweis auf die Existenz von zwei Jesus-Knaben (GA103, S. 205), von der er bereits einen Monat später (GA114, S. 97) und sehr prominent in seinen späteren Vorträgen spricht (z. B. GA117, S. 19, 119; GA148, S. 134, 190, 207, 221, 244, 284). Im gleiches Zyklus stellt Rudolf Steiner fest, dass Christus in der sechsten nachatlantischen Epoche (d. h. ca. nach dem Jahr 3500 n. Chr.) wiedererscheinen wird (GA103, S. 213), während er seit dem Anfang 1910 mehrmals deutlich davon spricht, dass eine solche ätherische Wiedererscheinung bereits ab ca. 1930 stattfinden wird (GA116, S. 77, 93, 99; GA130, S. 22, 68, 119; GA159, S. 282 usw.). Und im gleichen Zyklus bezeichnet Steiner die sechs geistigen Wesenheiten (die Elohim), die auf der Sonne ihren geistigen Wohnort haben, als den Logos (GA103, S. 56), während er später vom Logos als der Gesamtheit der geistigen Wesenheiten des Kosmos sprach (GA17, S. 86; GA147, S. 82; GA156, S. 71) usw. Es ist also sofort ersichtlich, dass auch der Geistesforscher nicht behaupten kann, dass er zu einer bestimmten Zeit seiner Forschung über alle für die Beurteilung eines bestimmten Erkenntnisproblems relevanten Fakten verfügt. Dies gesteht Steiner an einigen Stellen durchaus ein 433 und würde auch ihre Unwissenschaftlichkeit nicht beweisen. Im Gegenteil, solche Erkenntnisverschiebungen deuten darauf hin, dass man es mit echten Forschungsergebnissen zu tun hat, die sich eben mit der Zeit verändern. Schließlich unterliegen auch die strengsten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit der Zeit bedeutenden Verschiebungen, ja „ Revolutionen “ . Gäbe es keinen Fortschritt in den geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, hieße es, dass sie keine wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern bloße Dogmen oder Offenbarungen seien. Es ist gerade ihre Lebendigkeit, die von ihrer Wissenschaftlichkeit zeugt. Auf der anderen Seite führt die Einsicht in der Veränderbarkeit der geisteswissenschaftlichen Forschungserkenntnisse zu einer bedeutsamen Frage: Sind wir im Falle der übersinnlichen Forschung mit der gleichen Schwierigkeit konfrontiert, die wir für die gewöhnliche wissenschaftliche Forschung festgestellt haben: dass man ein gültiges Bild der Wirklichkeit, wenn überhaupt, dann nur am Peirce ’ schen idealen Ende des Weges erwarten kann? 433 Vgl. z. B. GA148, S. 227: „ [Jesus] Er kam in eine heidnische Gegend. Ich bemerke an dieser Stelle ausdrücklich: Wenn Sie mich fragen, wo das war, wo er da hinkam, so muß ich Ihnen heute noch sagen: Das weiß ich nicht. Vielleicht werden spätere Erforschungen ergeben, wo das war, aber den geografischen Ort aufzufinden ist mir noch nicht gelungen. Aber die Tatsache ist absolut klar. “ 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1293 In einem bestimmten Sinne muss man diese Frage mit ja beantworten. Es wäre völlig falsch zu meinen, dass Steiner für die Erkenntnisresultate der Geisteswissenschaft eine absolute Gültigkeit beanspruchte. Zum einen betonte er mehrfach, dass die menschliche Erkenntnis relativ zur Komplexität des Weltalls (inklusive des geistigen Weltalls) bescheiden ist. Das richtige Gefühl in Bezug auf die „ umfassende Weisheit der Welt “ charakterisierend, sagte er z. B.: „ Und von solcher Art wird dieses Gefühl sein, daß ein Unendliches empfunden wird, von dem wir immer nur einen kleinen Klumpen haben können “ (GA113, S. 161f.). Er wies auch darauf hin, dass die Erkenntnis eines (komplexen) Gegenstandes, und zwar nicht nur eines sinnlich wahrnehmbaren, sondern auch eines übersinnlichen, eines geistigen Gegenstandes nur durch laufende Bemühung und allmähliche Annäherung zustande kommen kann: Nun aber steht es mit der menschlichen Erkenntnis nicht so, daß sich ihr das Wesen der Dinge auf einmal ergeben kann. Es ist mit ihr vielmehr so, wie mit dem Bilde, das man zum Beispiel von einem Baume von einer gewissen Seite aus malt oder photografisch aufnimmt. Dieses Bild gibt das Aussehen des Baumes, von einem gewissen Gesichtspunkte aus, in voller Wahrheit. Wählt man einen anderen Gesichtspunkt, so wird das Bild ganz anders. Und erst eine Reihe von Bildern, von den verschiedensten Gesichtspunkten aus, kann durch das Zusammenwirken eine Gesamtvorstellung des Baumes geben. So aber kann der Mensch auch nur die Dinge und Wesenheiten der Welt betrachten. Alles, was er über sie sagen kann, muß er als Ansichten sagen, die von verschiedenen Gesichtspunkten aus gelten. So ist es nicht bloß bei der sinnenfälligen Beobachtung der Dinge, so ist es auch im Geistigen. (GA45, S. 15f., Hervorhebung im Original) Rudolf Steiner lässt aber auch erkennen, dass er sich bewusst war, dass seine individuellen Erkenntnisfähigkeiten auch prinzipiellen Einschränkungen unterworfen sind. So stellt er z. B. in seiner klassischen Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung im Zuge der Beschreibung der höchsten Gebiete der geistigen Welt in Bezug auf den „ Lebenskern “ der dort anzutreffenden geistigen Wesenheiten fest: Damit sind wir an die Grenze der „ drei Welten “ [gemeint sind: die sinnlich wahrnehmbare oder physische Welt, die Seelenwelt und die eigentliche geistige Welt] gelangt, denn der Kern stammt aus noch höheren Welten. Als der Mensch, seinen Bestandteilen nach, in einem vorangehenden Abschnitt beschrieben worden ist, wurde für ihn dieser Lebenskern angegeben und der „ Lebensgeist “ und „ Geistesmensch “ als seine Bestandteile genannt. Auch für andere Weltwesenheiten sind ähnliche Lebenskerne vorhanden. Sie stammen aus höheren Welten und werden in die drei angegebenen versetzt, um ihre Aufgaben darin zu vollbringen. (GA9, S. 100) Über diese „ noch höhere Welten “ gibt Steiner in dem genannten Buch und m. W. auch in seinen anderen Publikationen bzw. Vorträgen keine Auskunft. Ähnlich heißt es z. B. in einem Vortrag vom 14. April 1909: 1294 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Deshalb sind [. . .] die Seraphim, Cherubim, Throne, 434 für uns zunächst die höchste Hierarchie unter den göttlichen Wesenheiten, weil sie ihre Sonnensystem-Entwickelung bereits durchgemacht haben und zum großen kosmischen Opferdienst aufgestiegen sind. Diese Wesenheiten sind dadurch erst in wirklich unmittelbare Nähe gekommen der höchsten Göttlichkeit, von der wir zunächst überhaupt sprechen können, der Trinität, der dreifachen Göttlichkeit. Jenseits also der Seraphim haben wir zu sehen jene höchste Göttlichkeit, welche Sie bei fast allen Völkern finden als die dreifache Göttlichkeit, ausgedrückt als Brahma, Shiva, Vishnu, als Vater, Wort und Heiliger Geist. Dieser höchsten Göttlichkeit, der obersten Dreieinigkeit, entspringen gleichsam die Pläne zu einem jeden neuen Weltensystem. (GA110, S. 80) Über diese „ höchsten Göttlichkeit “ gibt Rudolf Steiner jedoch im Gegensatz zu den Seraphim, Cherubim und Thronen kaum Auskunft. Steiner sprach auch explizit von dem Zuwachs des übersinnlichen Wissens bzw. von der Erweiterung der übersinnlichen Erfahrung im Laufe der Zeit. 435 Mehr noch: Er betrachtete die übersinnliche Forschung stets als einen grundsätzlich offenen Prozess, welchem keine arbiträren Grenzen gesetzt werden können. 436 Steiner vertrat sogar die stärkere Meinung, dass sich die Form der Wahrheit mit der Zeit ändert: „ [E]iner jeden Zeit obliegt es, die Wahrheit gerade in derjenigen Gestalt zu empfangen, die diese Wahrheit für die betreffende Menschheitsepoche annehmen muss “ (GA113, S. 188). Ja, er stellte unmissverständlich fest: „ Eine absolut wahre Anschauung für alle Zeiten gibt es nicht. Die Menschen können die Welt nur anschauen, wie es ihrer Organisation entsprechend ist “ (ebd., S. 130), 437 denn: Eine jede Zeit hat ihre besondere Aufgabe; einer jeden Zeit obliegt es, die Wahrheit gerade in derjenigen Gestalt zu empfangen, die diese Wahrheit für die betreffende Menschheitsepoche annehmen muß. Dem alten Inder konnte man nicht eine solche Wahrheitsform geben, wie sie heute gegeben wird, ebensowenig dem alten Perser. Man mußte ihm die Wahrheit in der Gestalt geben, in welcher sie für seine Empfindungsfähigkeiten geeignet war. (Ebd., S. 188) 434 Die Namen dieser höchsten Hierarchien der geistig-göttlichen Welt sind der Tradition entnommen, die auf Dionysius Areopagita bzw. Pseudo-Dionysius Aeropagita (um 500 n. Chr.) zurückgeht (vgl. Dionysius the Areopagite 1965, S. 38 - 42). 435 „ Das richtigste ist, über die einzelnen wirklichen Erlebnisse, die man hat, immer mehr und mehr zur Klarheit zu kommen und abzuwarten, bis sich neue ergeben in völlig ungezwungener Art, die sich wie von selbst mit den schon vorhandenen verbinden. - Es tritt da nämlich bei dem Geheimschüler durch die Kraft der geistigen Welt, in die er nun einmal gekommen ist, und bei Anwendung der entsprechenden Übungen eine immer mehr um sich greifende Erweiterung des Bewußtseins im tiefen Schlafe ein “ (GA10, S. 178). 436 Vgl. bes. GA35, S. 325, aber auch GA28, S. 430; GA112, S. 123, 135, 183; GA174a, S. 93; GA297, S. 202 usw. 437 Vgl. auch ebd., S. 121: „ [D]as mystische Bewusstsein [ist] kein solches [. . .], das gleich ist in allen Zeiten [. . .]. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1295 Solche Formulierungen mögen diejenige überraschen, die zu der Meinung neigen, Steiner war ein machthungriger Schwindler, der seine naiven Nachfolger mit aufgeblasenen Heilsversprechen und der Behauptung eigener Unfehlbarkeit „ bei der Stange hielt “ . Das genaue Gegenteil ist wahr: Steiner hat nie die Unfehlbarkeit seiner Forschungen behauptet und vielmehr darauf hingewiesen, dass sich in seinen Forschungsergebnissen Irrtümer befinden können: Um einem möglichen Irrtum vorzubeugen, sei hier gleich gesagt, daß auch der geistigen Anschauung keine Unfehlbarkeit innewohnt. Auch diese Anschauung kann sich täuschen, kann ungenau, schief, verkehrt sehen. Von Irrtum frei ist auch auf diesem Felde kein Mensch; und stünde er noch so hoch. Deshalb soll man sich nicht daran stoßen, wenn Mitteilungen, die aus solchen geistigen Quellen stammen, nicht immer völlig übereinstimmen. Allein die Zuverlässigkeit der Beobachtung ist hier eine doch weit größere als in der äußerlichen Sinnenwelt. Und was verschiedene Eingeweihte über Geschichte und Vorgeschichte mitteilen können, wird im wesentlichen in Übereinstimmung sein. (GA11, S. 23) 438 Steiner ermunterte seine Nachfolger dazu, seine Forschungsergebnisse zu überprüfen: Der Verfasser sagt es unumwunden: er möchte vor allem Leser, welche nicht gewillt sind, auf blinden Glauben hin die vorgebrachten Dinge anzunehmen, sondern welche sich bemühen, das Mitgeteilte an den Erkenntnissen der eigenen Seele und an den Erfahrungen des eigenen Lebens zu prüfen. 439 Er möchte vor allem vorsichtige Leser, welche nur das logisch zu Rechtfertigende gelten lassen. Der Verfasser weiß, sein Buch wäre nichts wert, wenn es nur auf blinden Glauben angewiesen wäre; es ist nur in dem Maße tauglich, als es sich vor der unbefangenen Vernunft rechtfertigen kann. (GA13, S. 15). Immer wird betont, daß in den höheren Welten forschen kann nur derjenige, der sich besondere Fähigkeiten erworben hat. Wenn sie aber mitgeteilt ist, die Weisheit, so daß sie prüfbar ist, wie ist es dann? Die Prüfung der Weisheit ist in vielen Fällen nicht eingetreten.[. . .] Hätte es denn aber niemals einen geben können, der sich sagte: Mag zunächst diese Weisheit wo auch immer hergekommen sein - , ich prüfe sie, ob und wie sie zu den Erscheinungen des Lebens paßt, ob sie sich bewahrheitet im Leben; ich prüfe sie vor allem daraufhin, wie sie sich verhält zu dem, was uns die landläufige Weltanschauung, die auf der positiven Wissenschaft aufgebaut ist, gibt. (GA57, S. 159) 438 Vgl. auch diese Aussage: „ Ich gebe gerne zu, Geisteswissenschaft kann in manchen Einzelfragen irren. Sie ist am Anfang. Aber darum handelt sich nicht. Sondern es handelt sich darum, in welche Richtung gestrebt wird “ (GA73a, S. 400). Und weiter: „ Im einzelnen kann geirrt werden, aber es handelt sich darum, eine neue Richtung zu zeigen “ (ebd., S. 412). Vgl. auch z. B. GA130, S. 122. 439 Steiner fügte dieser Stelle die folgende Fußnote hinzu: „ Gemeint ist hier nicht etwa nur die geisteswissenschaftliche Prüfung durch die übersinnlichen Forschungsmethoden, sondern vor allem die durchaus mögliche vom gesunden, vorurteilslosen Denken und Menschenverstand aus “ . 1296 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Das, was der Erforscher der geistigen Welten findet, das übergibt er gerne als Anregung denen, die es von ihm entgegennehmen, und die untersuchen die äußeren bestätigenden Tatsachen. Ich habe auf diesen Zusammenhang geistiger und materieller Forschung oft hingewiesen. Wenn das, was in der geistigen Welt gefunden wird, wahr ist, dann bestätigt es sich in der physischen Welt. Das aber wird Ihnen jeder wahre Erforscher des Geisteslebens sagen: er gibt hin das, was er weiß aus der höheren Welt, und er fordert dann auf, alle äußeren Tatsachen zu prüfen an der Hand dieser Angaben. (GA113, S. 148. Vgl. auch z. B. GA114, S. 79, 97; GA130, S. 122) Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang an die im Abschnitt „ Imageprobleme der Naturwissenschaft “ erwähnte Tatsache, dass überraschend viele der in den Fachzeitschriften veröffentlichten Resultate nicht repliziert werden können. Dies allein zeugt davon, dass ein Forschungsergebnis nicht zwingend richtig sein muss, um als wissenschaftlich zu gelten. Selbst wenn sich einige von Steiners übersinnlichen Forschungsergebnisse als falsch erweisen würden, wäre dies also noch kein Grund, um seiner Forschungsmethode Wissenschaftlichkeit abzusprechen. Welche Folgen hat aber die Anerkennung der Grenzen der übersinnlichen Forschung für die Wissenschaftlichkeit ihrer Erkenntnisresultate? In meiner Dissertation sprach ich von der „ strengen oder absoluten Objektivität “ als einer Verfeinerung, Präzisierung des verbreiteten Verständnisses von Objektivität als „ Intersubjektivität “ . Ich habe damals die Bedingungen, die ein Erkenntnisprozess erfüllen muss, wenn seine Resultate als „ streng oder absolut objektiv “ gelten sollten, folgendermaßen formuliert: Dieser stärkere Begriff - man darf hier vielleicht vom Begriff der „ strengen “ oder „ absoluten “ Objektivität sprechen - beinhaltet jedoch einige Forderungen, deren Erfüllung vorerst utopisch anmutet: Strenge oder absolute Objektivität verlangt erstens den Zugang zu allen relevanten Aspekten des Problems und die Einsicht in ihre relative Gewichtung; sie verlangt zweitens einen idealisierten, perfekten Prozess der Beurteilung der zugänglichen Information (ideale „ Abwägungsfähigkeit “ ); und sie verlangt drittens - mit dem Vorigen zusammenhängend - , dass der Einfluss der Subjektivität völlig neutralisiert ist. (Majorek 2002, 5.2.6.2, S. 338) Heute würde ich nicht von „ strenger oder absoluter Objektivität “ sprechen, sondern zwei Stufen der Objektivität voneinander unterscheiden: Von absoluter Objektivität eines Urteils kann gesprochen werden, wenn der Erkenntnisprozess, der zu diesem Urteil führt, alle drei oben genannten Bedingungen erfüllt; von strenger Objektivität hingegen, wenn nur die zwei letzten Bedingungen erfüllt sind: Die Beurteilung der vorhandenen Information ist einwandfrei und der Einfluss der Subjektivität ist im entsprechenden Erkenntnisprozess völlig neutralisiert. Die Betrachtungen dieses Kapitels haben, so hoffe ich, gezeigt, dass auf dem Weg der übersinnlichen Forschung die zwei Bedingungen der strengen Objektivität erfüllt sind. Die dritte Bedingung, welche für die absolute Objektivität notwendig ist, wird auch auf dem Weg der Geistesforschung nicht realisiert (vgl. Majorek 2002, 6.8.2, S. 449). Der 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1297 übersinnliche Erkenntnisweg mündet in eine Erkenntnisgewinnungsform, aus der jegliche Subjektivität ausgeschlossen ist. Man gewinnt Zugang zu einer Region, „ die von persönlicher Färbung frei und für jede Menschenwesenheit gültig ist “ (GA13, S. 391). Diese Formulierung enthält aber auch einen Hinweis auf die Grenzen der Methode: Die Region ist „ lediglich “ für „ jede Menschenwesenheit “ gültig. Diese Formulierung ist sicherlich nicht zufällig, denn Steiner pflegte sich außerordentlich präzise auszudrücken. Sie weist implizit auf andere Regionen und andere Erkenntnisformen, die der „ Menschenwesenheit “ vielleicht nicht mehr zugänglich sind. Es führt jedoch zu keinem Erkenntnispessimismus oder gar Skeptizismus, wenn man schließen muss, dass absolute Objektivität der Erkenntnis vielleicht doch ein Privileg übermenschlicher Wesen bleiben wird. Mit der strengen Objektivität der übersinnlichen Forschungsergebnisse hat man, glaube ich, alles gewonnen, was man im Leben an sicherer Erkenntnis erreichen und brauchen kann. Wir haben übrigens gesehen, dass selbst das Erlangen „ strenger Objektivität “ auf dem Weg der Naturwissenschaft nicht möglich ist, erstens weil der Ausschluss der Subjektivität des Forschers auf diesem Weg nicht vollkommen sein kann, zweitens weil die Aporien der Objektivität in der naturwissenschaftlichen Forschung nicht überwunden werden können. Obwohl die Urteilsgrundlage im Falle der übersinnlichen Forschung nicht vollständig ist und vielleicht nie vollständig sein wird, stützen sich die Ergebnisse der geisteswissenschaftlichen Forschung in jedem Fall auf eine viel breitere Urteilsgrundlage als die Ergebnisse jeder herkömmlichen Wissenschaft, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die herkömmliche Wissenschaft, die wie gesehen dem ontologischen oder zumindest dem methodologischen Materialismus huldigt, zwangsläufig nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit, nämlich den materiellen, sichtbaren, berücksichtigt und den unsichtbaren, geistigen Teil völlig vernachlässigt. Nimmt man aber die Behauptung ernst, dass die geistige Wirklichkeit die sinnlich wahrnehmbare in ihrem prozentualen Anteil am Universum bei weitem übertrifft, dann muss man schließen, dass die Urteilsgrundlage der Geisteswissenschaft bei aller Einschränkung jene der materialistischen Wissenschaft haushoch übertrifft. Die künstliche und unberechtigte Einengung der Urteilsgrundlage ist es, was die materialistische Wissenschaft stets zu einseitigen Interpretationen ihrer Forschungsergebnisse verleitet. Wobei die Betonung hier eindeutig auf dem Begriff „ Interpretationen “ liegt: Steiner hob stets hervor, dass er nie die Forschungsergebnisse der materialistischen Wissenschaft bezweifelte oder ablehnte (GA56, S. 13; GA61, S. 257, 309, 311 usw.), diese seien nämlich großartig, bewunderungswürdig (GA164, S. 210), „ mustergültig “ (GA73, S. 165, 167). Was an der herkömmlichen Wissenschaft problematisch sei, seien die Schlussfolgerungen, welche aufgrund der Forschungsergebnisse gezogen werden und welche durch die metaphysisch aufgezwungene Suche nach „ mechanistischen Erklärungen “ präjudiziert werden (GA34, S. 182). Die herkömmliche Wissenschaft ist einseitig, weil sie die Existenz der übersinn- 1298 11 Übersinnliche Forschungsmethoden lichen bzw. geistigen Welt dogmatisch ablehnt. Für die Geisteswissenschaft hingegen forderte Steiner den Einklang mit den Forschungsergebnissen der akademischen Wissenschaft. Das Verhältnis zwischen den beiden Arten der Erkenntnis sah er nicht als eines der Konkurrenz, des Kampfes, des Entwederoder, sondern vielmehr als eines der Zusammenarbeit und gegenseitigen Ergänzung. 440 Wenn man alle vorangegangenen Überlegungen berücksichtigt, so kommt man zu einem eher überraschenden, ja paradoxen Schluss: Obschon die Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Steiners keine absolute Objektivität beanspruchen können, sind sie in jedem Fall bei weitem objektiver als die der herkömmlichen Naturwissenschaft. Somit erweist sich die Geisteswissenschaft hinsichtlich der Objektivität ihrer Forschungsergebnisse erneut nicht nur als wissenschaftlich, sondern sogar als wissenschaftlicher als die Naturwissenschaft. So findet die anfangs zitierte kühne Behauptung Steiners ihre Berechtigung: „ [I]ch werde Ihnen sprechen über eine Erkenntnisart, die zwar eine durchaus innere, intime Angelegenheit der Menschenseele ist, aber darin ebenso wissenschaftlich, ja so exakt sicher ist, nicht einmal wie ein äußeres naturwissenschaftliches Ergebnis nur, sondern wie die mathematischen oder geometrischen Ergebnisse der Wissenschaft selber “ (GA231, S. 13). Kann eine Wissenschaft des Übersinnlichen empirisch sein? Abgesehen von der Sicherung der Objektivität ihrer Erkenntnisresultate muss eine Disziplin, eine Forschungsrichtung jedoch noch andere Bedingungen erfüllen, um als wissenschaftlich (im strengen Sinne einer Naturwissenschaft) gelten zu dürfen. Am Ende des Kapitels „ Was ist Wissenschaft? “ haben wir drei weitere solche Bedingungen formuliert: 1) Wissenschaftliche Erklärungen dürfen sich ausschließlich auf natürliche Entitäten beziehen (müssen materialistisch sein). 2) Die Forschungsmethode einer (Natur-)Wissenschaft muss empirisch und darf nicht bloß spekulativ sein. 3) Die Forschungsergebnisse einer (Natur-)Wissenschaft müssen nachprüfbar sein. Im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ haben wir festgestellt, dass es heute angebracht ist, die Forderung der materialistischen Hintergrundsontologie an die Adresse der Wissenschaft zu streichen. Zu viele empirische Fakten sprechen deutlich dafür, dass die übersinnliche, geistige Welt eine Wirklichkeit ist. Sie sollte also nicht a priori aus dem Umfeld der wissenschaftlichen Forschung ausgeschlossen werden. Ein solcher Ausschluss wäre nur dann berechtigt, wenn man zeigen könnte, dass die wissenschaftliche Erforschung der übersinnlichen Wirklichkeit grundsätzlich unmöglich ist. Niemand hat jedoch einen solchen Nachweis erbracht. Die Tatsache also, dass die Geisteswissenschaft Steiners in ihrer Erklärungen der 440 Vgl. oben das Bild des Tunnelbaus, oder der „ zwei Sprachen “ (GA26, S. 98). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1299 Phänomene der Naturwelt auf übersinnliche Entitäten rekurriert, steht ihrer Anerkennung als Wissenschaft nicht im Weg. Wie verhält es sich aber mit den zwei anderen Bedingungen, der Fundierung in empirischen Forschungsmethoden und der Nachprüfbarkeit der Forschungsergebnisse? In diesem Abschnitt werde ich mich mit der Frage der empirischen Grundlegung der Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft befassen, im nächsten mit dem Problem der Nachprüfbarkeit ihrer Forschungsergebnisse. Ich habe bereits im Abschnitt „ Naturwissenschaft ist empirisch “ des Kapitels „ Was ist Wissenschaft “ nachgewiesen, dass der genaue Inhalt der These, dass Naturwissenschaft empirisch sei, nicht so einfach festzulegen ist, wie es zunächst erscheinen mag. Wir haben ebenfalls gesehen (im Abschnitt „ Kelly et al: Irreducible Mind. Toward a Psychology for the 21st Century “ des Kapitels „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ wie auch am Anfang dieses Kapitels), dass es heute Wissenschaftler gibt, die eine Erweiterung des üblichen Verständnisses der wissenschaftlichen Empirie, das sie auf die kontrollierte Experimente einschränken will, plädieren. 441 Es scheint mir im Lichte jener Betrachtungen angebracht zu behaupten, dass das wichtigste Merkmal des Empiriebegriffs die Fundierung der Erkenntnis in Erfahrung im Gegensatz zur bloßen denkerischen Spekulation ist, wobei unter dem Begriff der Erfahrung wiederum das durch Anschauung, Wahrnehmung, Empfindung und selbstverständlich Experiment gewonnene Wissen zu verstehen ist. Versteht man Empirie in diesem Sinne, so ist es verhältnismäßig leicht nachzuweisen, dass der (mögliche) Einwand, die Forschungsmethode der Geisteswissenschaft sei nicht empirisch, völlig unberechtigt ist. Aus den vorangehenden Schilderungen des Charakters der übersinnlichen Erkenntnismethoden ist deutlich geworden, dass sie mit gedanklicher Spekulation nichts zu tun haben, sondern sich auf die Wahrnehmung der übersinnlichen Wirklichkeit stützen. In der Tat betont Rudolf Steiner diesen Aspekt seiner Forschungsmethoden wiederholt. So weist er z. B. mit aller Deutlichkeit darauf hin, dass die Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft unmöglich durch theoretisierendes, spekulatives Denken zu gewinnen sind. Solche Forschungsergebnisse gründen ausschließlich in der übersinnlichen Erfahrung: Nur eine Mahnung sei noch an den Anfang gestellt, eine Warnung vor schematischen Wiederholungen. Wenn auf dem Gebiete des Okkultismus von solchen Wiederholungen die Rede ist, wie: die erste Kulturepoche wiederholt sich in der siebenten, die dritte in der fünften, dann kann leicht irgendeine Kombinationsgabe 441 Wobei eine solche extreme Verengung des Begriffs mir völlig unangebracht zu sein scheint. Auch völlig orthodoxe Naturwissenschaft lässt die Beobachtung, auch eine durch keine Instrumente verstärkte Beobachtung als eine legitime Methode der empirischen Forschung ( „ Feldforschung “ ) zu. Feldforschung wird zwar vor allem in eher „ weichen “ Wissenschaften angewandt (Anthropologie, Archäologie, Erziehungswissenschaft, Ethnologie usw.), hat aber z. B. auch in der Biologie ihre volle Berechtigung. 1300 11 Übersinnliche Forschungsmethoden sich betätigen wollen und solche Schemata auch für andere Verhältnisse aufsuchen wollen. Man könnte glauben, daß man das könnte, und in der Tat wird in vielen Büchern über Theosophie mancher Unfug dadurch getrieben. Da muß denn streng gewarnt werden, daß nicht solche Kombinationen entscheiden, sondern einzig die Anschauung, die geistige Anschauung, sonst wird man fehlgehen. Vor solchen Kombinationen muß gewarnt werden. Das was wir lesen können in der geistigen Welt, läßt sich zwar durch Logik begreifen, aber nicht finden. Erleben läßt es sich nur durch die Erfahrung. (GA106, S. 30) Wir haben früher zur Kenntnis genommen, dass das Denken den Ausgangspunkt der Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten bildet. Dies ist unbestritten. Auf der anderen Seite muss aber betont werden, dass das gewöhnliche - auch das wissenschaftlich geschulte - abstrakte Denken für die Erforschung der geistigen Tatsachen nicht anwendbar ist. In der geistigen Welt wird nicht spekuliert; die den geistigen Wirklichkeiten innewohnenden Gedanken werden dort für den Forscher zur Anschauung: Sie müssen schon auffassen, daß das auf der Erde am höchsten Geschätzte, das Denken, namentlich das abstrakte Denken, drüben in der geistigen Welt gar nicht geschätzt wird. Das, wofür der Kopf das Instrument ist, wird in der geistigen Welt gar nicht geschätzt, man kann es gar nicht anwenden. Dieses stolze Denken, durch das wir uns Vorstellungen verschaffen über die sinnlichen Dinge auf Erden, müssen wir zurücklassen. Philosophen gibt es nur auf Erden, denn gerade die Philosophie, die im abstrakten Denken besteht, muß auf der Erde zurückgelassen werden. Alles Seelenleben wird immer mehr und mehr, je weiter wir in die geistige, übersinnliche Welt hineinkommen, ein bildhaftes Vorstellen, ein Anschauen, und zwar ein solches Anschauen, daß die Gedanken, die in den Dingen sind, mit dem Anschauen kommen. Hier auf der Erde bilden wir uns die Gedanken, da drüben werden uns die Gedanken durch die Sachen selber geoffenbart, sie kommen an einen heran. Also, der Gedanke wird dort durch Anschauung errungen. Da handelt es sich darum, daß auch in der Anschauung alles, was der Mensch nun durchmachen soll, in der geistigen Welt an ihn herankomme. (GA231, S. 97) Es ist deshalb völlig fehl am Platz, von „ Rudolf Steiners Theorien “ (des Menschen, des Kosmos, der Weltentwicklung usw.) zu sprechen. Wissenschaftliche Theorien sind im eminentesten Sinne Produkte des abstrakten, spekulativen Denkens. Auf diesem Wege werden übersinnliche Forschungsresultate nie gewonnen. Wie soeben hervorgehoben, sind sie Resultate der (übersinnlichen) Erfahrung, der übersinnlichen Empirie, nicht der gedanklichen Spekulation. Ich habe bereits im Abschnitt „ Imagination: Ausbildung der seelischen Wahrnehmungsorgane “ den möglichen Einwand behandelt, dass der Begriff der „ übersinnlichen Wahrnehmungsorgane “ und folglich der „ übersinnlichen Wahrnehmung “ selbstwidersprüchlich sei: Wie kann man von Wahrnehmung sprechen, wo ex definitione ( „ übersinnliche Wirklichkeit “ ) mit den Sinnen nichts wahrzunehmen ist? Ich möchte die damaligen Erörterungen jetzt um einige weitere Gesichtspunkte ergänzen. Eine Einschränkung des 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1301 Wahrnehmungsbegriffs auf die leiblichen Wahrnehmungsorgane (Auge, Ohr, Nase usw.) wäre aber offensichtlich viel zu eng. Die heutige Naturwissenschaft akzeptiert nicht nur das Zeugnis der gewöhnlichen leiblichen Sinne, sondern auch jenes der durch die wissenschaftlichen Instrumente (Mikroskope, Teleskope, Teilchenbeschleuniger mit ihren Detektoren, Magnetresonanztomografen usw.) verstärkten Sinne als empirische Komponente ihrer Forschungsmethode. Die Überlegung hinter dieser Praxis ist sehr einfach: Die Wirklichkeit umfasst weit mehr als den Ausschnitt, der unseren leiblichen Sinnen zugänglich ist. Kosmische Strahlung, Gammastrahlung, Röntgenstrahlung, Ultraviolettstrahlung, Infrarotstrahlung, Radiowellen usw. gelten als genauso real wie das Licht, obwohl sie für unsere Sinne gar nicht wahrnehmbar sind. Wir wissen ferner, dass gewisse Tiere andere, feinere Wahrnehmungsmöglichkeiten als der Mensch haben: Fledermäuse oder Hunde hören besser als wir, Hunde, Kühe, Ratten usw. riechen besser, Adler, Habichte usw. sehen besser als der Mensch. Wir geben also bereitwillig zu, dass es wahrnehmbare, nicht bloß erdachte Wirklichkeit auch da gibt, wo unsere leiblichen Sinne nichts wahrnehmen. Ist es also nicht möglich zu vermuten, dass es wahrnehmbare, nicht bloß erdachte Wirklichkeit auch da gibt, wo weder unsere Sinne noch Tiere noch wissenschaftliche Instrumente „ wahrnehmen “ können? Wir haben bereits gesehen, dass die Grundlage der Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten die Umgestaltung des Astralleibes, des ätherischen und später sogar des physischen Leibes des angehenden Geistesforschers bildet. Der Hauptzweck dieser Umgestaltung besteht, wie wir bereits gesehen haben, darin, diesen „ feineren “ Wesensgliedern des Menschen neue Wahrnehmungsorgane anzuerziehen, welche sie befähigen, die Kundschaft der übersinnlichen Wirklichkeit auf ihrer verschiedenen Ebenen (Elementarwelt, astrale Welt, die eigentliche geistige Welt) zu empfangen. Entscheidend in unserem gegenwärtigen Zusammenhang ist allein, dass die Erfahrung der geistigen Wirklichkeit mittels der angedeuteten übersinnlichen „ Sinnesorgane “ eben eine Form der Wahrnehmung ist und mit gedanklicher Spekulation nichts zu tun hat. Es handelt sich also hier nicht um Resultate der mehr oder weniger willkürlichen menschlichen denkerischen Tätigkeit, sondern um Botschaften der außermenschlichen Wirklichkeiten, welche von dem Geistesforscher gleichsam passiv aufgenommen werden, wobei diese „ Passivität “ paradoxerweise ein im gewöhnlichen Leben und in gewöhnlicher Wissenschaft nie vorhandenes Ausmaß an Aktivität erfordert. Der springende Punkt ist jedoch, dass diese erhöhte Aktivität keine Inhalte liefert, sondern bloß die Folie bietet, auf welcher sich die objektive geistige Wirklichkeit manifestieren kann. Interessanterweise spricht Steiner in diesem Zusammenhang manchmal von der Entwicklung der übersinnlichen Anschauungsfähigkeit (GA231, S. 21) und betont die Parallelität zwischen der sinnlichen und übersinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit: „ [W]ir gelangen dazu, wirklich hineinzuschauen in die 1302 11 Übersinnliche Forschungsmethoden geistige Welt, wie wir durch unsere physischen Sinne in die physische Umgebung schauen “ (ebd., S. 41). 442 Die Hinweise darauf, dass es sich im Falle von übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten um (übersinnliche) Wahrnehmung und nicht Spekulation handelt, sind im Werk Steiners viel zu zahlreich, als dass man sie hier ausführlich aufzählen könnte. Steiner spricht in diesem Zusammenhang bezeichnenderweise immer wieder von den übersinnlichen Wahrnehmungsorganen als Vermittlern der übersinnlichen Tatsachen, 443 durch welche der Mensch „ die geistige Welt [ebenso] sieht, wie er heute die physische Welt sieht “ (GA106, S. 144). Ich möchte dieses Thema mit einem Zitat abschließen: Wirkliche Erkenntnis bietet heute dem, der sie sucht, eigentlich nur die Naturwissenschaft. Aber was lehrt die Naturwissenschaft vom Menschen? Sie lehrt das, was am Menschen mit der Geburt oder Empfängnis entsteht und mit dem Tode vergeht. Nichts anderes! Wenn man ehrlich sein will, so hat sie nichts anderes. Daher ist es für den, der auf diesem Gebiete ehrlich sein will, nicht anders möglich, als seinen Blick auf das zu richten, was heute nicht mit den üblichen naturwissenschaftlichen Mitteln erreicht werden kann, das heißt, eine wirkliche Seelen- und Geisteswissenschaft zu begründen, die wiederum auf einer Erfahrung und Beobachtung von Geistigem beruht, wie die alte Geisteserkenntnis. Und das kann nicht anders geschehen als mit den Mitteln, die Sie angegeben finden in meinen Büchern „ Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? “ , „ Die Geheimwissenschaft “ und anderen, indem sich der Mensch dadurch in die Möglichkeit versetzt, das Geistige wirklich zu schauen und darüber so zu sprechen, wie er über das spricht, was im Sinnlich-Materiellen vorliegt und zu einer gediegenen Naturwissenschaft geführt hat. (GA231, S. 61f.) Es handelt sich im Falle der übersinnlichen Erkenntnismethoden eindeutig um Erfahrung, um Beobachtung der übersinnlichen Wirklichkeit, nicht um eine gedankliche Spekulation. Es ist deshalb berechtigt, die Erkenntnisse, die durch diese übersinnlichen Erkenntnismethoden gewonnen werden, als eine Art „ höhere Empirie “ zu bezeichnen. 442 Auf einer gewissen Entwicklungsstufe können auch Gedanken nicht willkürlich produziert, sondern ebenfalls wahrgenommen, quasi geschaut werden: „ Alles Seelenleben wird immer mehr und mehr, je weiter wir in die geistige, übersinnliche Welt hineinkommen, ein bildhaftes Vorstellen, ein Anschauen, und zwar ein solches Anschauen, daß die Gedanken, die in den Dingen sind, mit dem Anschauen kommen. Hier auf der Erde bilden wir uns die Gedanken, da drüben werden uns die Gedanken durch die Sachen selber geoffenbart, sie kommen an einen heran. Also, der Gedanke wird dort durch Anschauung errungen. Da handelt es sich darum, daß auch in der Anschauung alles, was der Mensch nun durchmachen soll, in der geistigen Welt an ihn herankomme “ (GA231, S. 97). 443 Vgl. z. B. GA10, S. 166, 176, 180; GA13, S. 305, 326, 339, 349, 378, 379; GA26, S. 18, GA35, S. 8, 56, 121f., 276; GA109, S. 159, 160, 161 usw. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1303 Das Problem der Replizierbarkeit der Steiner ’ schen Forschungsresultate Ein Aspekt der geisteswissenschaftlichen Forschung allerdings gibt doch Anlass zu Zweifel: Rudolf Steiner steht (auch heute noch) praktisch allein da als Wissenschaftler der geistigen Welt. Ihm sind praktisch keine anderen Forscher begegnet, die seine Forschungsresultate hätten bestätigen können. Sie wurden bis jetzt nicht wiederholt, und die Replizierbarkeit der Forschungsresultate ist ein durchaus wichtiges Kriterium ihrer Wissenschaftlichkeit. Wir haben allerdings im Kapitel „ Was ist Wissenschaft? “ gesehen, dass es auch innerhalb der gewöhnlichen akademischen Wissenschaft unvernünftig wäre zu erwarten, dass ihre Ergebnisse „ zu jeder Zeit und durch jedermann “ repliziert werden könnten. Nur die dafür entsprechend qualifizierten Forscher, die über entsprechende, manchmal äußerst komplexe Vorrichtungen verfügen, können darauf hoffen, bestimmte wissenschaftliche Resultate unter günstigen Umständen wiederholen zu können. Es ist jedoch unbestritten, dass eine solche Replikation für alle Resultate der akademischen Wissenschaft zumindest prinzipiell möglich sein muss. Wie verhält es sich damit in der geisteswissenschaftlichen Forschung? Prinzipiell hindert nichts daran, die Forschungsresultate Steiners zu replizieren. Steiner betont vielmehr, dass „ in jedem Menschen Fähigkeiten [schlummern], durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann “ (GA10, S. 16), und er weist auch darauf hin, dass jeder Mensch, der die entsprechenden Fähigkeiten ausgebildet hat, zu denselben Ergebnissen kommen wird wie jeder andere Geistesforscher, weil er während der Ausbildung dieser Fähigkeiten die Illusionen von den objektiven Tatsachen der geistigen Wirklichkeit zu unterscheiden gelernt hat: [D]ie [im Zuge der übersinnlichen Forschung] geübte kritische Vorsicht berechtigt zu der Annahme, daß jeder, welcher sich durch entsprechende Übungen in Verhältnis bringen kann zu der übersinnlichen Welt, dieselben Beobachtungen machen wird. Differenzen in den Angaben der einzelnen Geistesforscher können eigentlich nicht in einem anderen Licht gesehen werden, als die voneinander differierenden Angaben verschiedener Reisenden, welche dieselbe Gegend besucht haben und beschreiben. (GA35, S. 121f.) Rudolf Steiner äußert zumal die Hoffnung, dass ihm bald andere Geistesforscher tatsächlich folgen werden (GA231, S. 46f.). Genau dies tat der 1981 verstorbene polnische Anthroposoph und Eingeweihte Robert M. Walter (7. 10. 1907 - 19. 11. 1981). Trotz der bahnbrechenden Wichtigkeit seiner Forschungen ist jedoch seine Person außerhalb des engen Kreises seiner Freunde und Schüler so gut wie unbekannt geblieben. Meines Wissens existiert nur eine Lizentiatsarbeit, welche sich mit dieser ungewöhnlichen Persönlichkeit befasst, und diese ist auch nur auf Polnisch und im Manuskript erhältlich (Puczynski 2004). Robert Walter wirkte praktisch ausschließlich durch persönliche Kontakte: Er hat praktisch nichts geschrieben und nur wenige öffentliche Vorträge gehalten, die zumal nur als Tonbandaufzeichnungen existieren. Im persönlichen Kontakt machte jedoch diese äußerlich absolut 1304 11 Übersinnliche Forschungsmethoden unscheinbare und äußerst bescheidene Persönlichkeit einen unvergesslichen Eindruck. Herr Walter sprach von der geistigen Welt und ihren Wesenheiten mit einer Selbstverständlichkeit, mit der ein Durchschnittsbürger von Tischen und Katzen zu sprechen pflegt. Er teilte mit, dass er die Ergebnisse von Steiners übersinnlichen Forschungen überprüfte und sie mit wenig Ausnahmen bestätigte. Das Ergebnis der zahlreichen Gespräche, die ich mit ihm als noch sehr junger Mann haben durfte, war, dass für mich kein Zweifel besteht, dass Steiners Methode und Resultate der Wirklichkeit entsprechen. Es ist mir jedoch vollkommen klar, dass für Menschen, die nicht das Glück hatten, Herrn Walter persönlich zu kennen, mein Zeugnis und das Zeugnis anderer, die ihn persönlich kannten, nicht überzeugend sein kann. Für sie stützen sich Steiners Behauptungen auf das Zeugnis einer einzigen Person, und das ist Steiner selbst. Und das ist für das heutige wissenschaftliche Bewusstsein sehr wenig, man sollte vielleicht sagen: zu wenig. Man kann diese Lage vielleicht mit der fiktiven Situation vergleichen, dass Christoph Kolumbus nicht mit zwei Schiffen (von den drei, mit denen er am 3. August 1492 in See stach) voll Seeleuten von seiner Amerikareise zurückkehrt wäre, sondern ganz allein. Seiner Behauptung, dass er ein neues Land entdeckt habe, hätte man unter diesen Umständen fast sicher keinen Glauben geschenkt. Die Frage ist deshalb völlig berechtigt: Wenn der Weg der übersinnlichen Forschung in der von Steiner beschriebenen Form tatsächlich auch für andere begehbar ist, warum hat in den jetzt mehr als 100 Jahren, die seit der ersten Veröffentlichung dieser Methoden (1904 in der theosophischen Zeitschrift Luzifer Gnosis) verflossen sind, praktisch niemand diese Resultate wiederholt? Die Antwort auf diese Frage ist verhältnismäßig einfach: Das Problem ist der Schwierigkeitsgrad dieses Weges, die ungewöhnliche Höhe der an den angehenden Geistesforscher gestellten Anforderungen. Einige dieser Anforderungen haben wir bereits angesprochen. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass die Entwicklung der übersinnlichen Fähigkeiten eine Art Absterben für die Welt der Sinne (zumindest für die „ Feiertagsaugenblicke “ des Lebens) erfordert; wir haben gesehen, dass die Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle, die eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der objektiven Forschung in der geistigen Welt bildet, alles an Mut und Selbstvertrauen, aber auch Bescheidenheit und Hoffnung, die der Mensch aufbringen kann, abverlangt. Wir haben ferner feststellen müssen, dass der Eintritt in die geistige Welt im eigentlichen Sinne verlangt, dass man sich, wie man im irdischen Leben geworden ist, völlig aufgibt, dass man bereit ist zu sterben in der Hoffnung, dadurch eine neue Existenz zu erlangen, und dass dies nicht weniger als „ das erschütterndste Erlebnis, das man haben kann “ , ist (GA147, S. 129). Man könnte jedoch einwerfen, dass es zahlreiche Menschen gibt, die gerne bereit sind, ihr Leben zu riskieren: Extrembergsteiger, Gleitschirmflieger, Basejumper usw., die aber wohl kaum in den Genuss eines Einblicks in die geistige Welt kommen. Nun, erstens ist nicht auszuschließen, 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1305 dass solche Mutproben eine gute Vorbereitung für eine künftige Begegnung mit dem Hüter sind, es muss aber zweitens festgehalten werden, dass Mut allein keine ausreichende „ Qualifikation “ für den (bewussten, willentlichen) Eintritt in die geistige Welt bildet. Wenn wir uns über diese zusätzlichen „ Qualifikationen “ Aufschluss geben wollen, müssen wir gewisse Einzelheiten der Begegnungen mit den oben erwähnten beiden Hütern genauer betrachten. Kleiner Hüter und Karma Wir haben bis jetzt (vgl. der Abschnitt „ Die Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle “ ) lediglich die „ Schreckensseite “ dieser Begegnung betrachtet: den Schmerz und die Scham über die Einsicht in die Tiefen der Bosheit, der man unwissend im Laufe seiner zahlreichen Inkarnationen verfallen ist. Die Notwendigkeit, den Schock dieser Einsicht ertragen zu müssen, ist aber nur ein Aspekt der genannten Begegnung. Denn nachdem der Hüter die verhängnisvollen Worte „ Meine gespenstige Gestalt ist aus dem Kontobuche deines eigenen Lebens gewoben. Unsichtbar hast du mich bisher in dir selbst getragen “ 444 gesprochen hat, spricht er weiter: Aber es war wohltätig für dich, daß es so war. Denn die Weisheit deines dir verborgenen Geschickes hat deshalb auch bisher an der Auslöschung der häßlichen Flecken in meiner Gestalt in dir gearbeitet. Jetzt, da ich aus dir herausgetreten bin, ist auch diese verborgene Weisheit von dir gewichen. Sie wird sich. Fernerhin nicht mehr um dich kümmern. Sie wird die Arbeit dann nur in deine eigenen Hände legen. Ich muß zu einer in sich vollkommenen, herrlichen Wesenheit werden, wenn ich nicht dem Verderben anheimfallen soll. Und geschähe das letztere, so würde ich auch dich selbst mit mir hinabziehen in eine dunkle, verderbte Welt. - Deine eigene Weisheit muß nun, wenn das letztere verhindert werden soll, so groß sein, daß sie die Aufgabe jener von dir gewichenen verborgenen Weisheit übernehmen kann. (GA10, S. 195) Was bedeutet „ Deine eigene Weisheit muß nun, wenn das letztere verhindert werden soll, so groß sein, daß sie die Aufgabe jener von dir gewichenen verborgenen Weisheit übernehmen kann “ ? Was ist mit der „ Weisheit deines dir verborgenen Geschickes “ , die „ bisher an der Auslöschung der häßlichen Flecken [meiner eigenen] Gestalt in [mir] gearbeitet “ hat, und die man jetzt übernehmen muss, konkret gemeint? Eine andere Facette des Monologes des Hüters gibt Aufschluss darüber: Über dir walteten bisher Mächte, welche dir unsichtbar waren. Sie bewirkten, daß während deiner bisherigen Lebensläufe jede deiner guten Taten ihren Lohn und jede deiner üblen Handlungen ihre schlimmen Folgen hatten. Durch ihren Einfluß baute sich dein Charakter aus deinen Lebenserfahrungen und aus deinen Gedanken auf. Sie verursachten dein Schicksal. Sie bestimmten das Maß von Lust und Schmerz, das dir in einer deiner Verkörperungen zugemessen war, nach deinem 444 Vgl. den Abschnitt „ Die Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle “ . 1306 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Verhalten in früheren Verkörperungen. Sie herrschten über dir in Form des allumfassenden Karmagesetzes. Diese Mächte werden nun einen Teil ihrer Zügel von dir loslösen. Diese Schilderung des Hüters ist uns bereits bekannt. 445 Sein Monolog geht aber weiter: Und etwas von der Arbeit, die sie an dir getan haben, mußt du nun selbst tun. - Dich traf bisher mancher schwere Schicksalsschlag. Du wußtest nicht warum? Es war die Folge einer schädlichen Tat in einem deiner vorhergehenden Lebensläufe. Du fandest Glück und Freude und nahmest sie hin. Auch sie waren die Wirkung früherer Taten. Du hast in deinem Charakter manche schöne Seiten, manche häßliche Flecken. Du hast beides selbst verursacht durch vorhergehende Erlebnisse und Gedanken. Du hast bisher die letzteren nicht gekannt; nur die Wirkungen waren dir offenbar. Sie aber, die karmischen Mächte, sahen alle deine vormaligen Lebenstaten, deine verborgensten Gedanken und Gefühle. Und sie haben danach bestimmt, wie du jetzt bist und wie du jetzt lebst. (GA10, S. 194) Wenn also der Hüter von der „ eigenen Weisheit “ spricht, die „ der Weisheit deines dir verborgenen Geschickes “ gewachsen sein muss, handelt es sich um nichts weniger als die Weisheit der karmischen Mächte, die man ersetzen muss. Und das heißt nichts Geringeres, als dass man fähig sein muss, die Weisheit der göttlichen Wesenheiten durch eigene Weisheit zu ersetzen. Man ist ab jetzt zumindest teilweise für die Gestaltung des eigenen Schicksals in künftigen Inkarnationen verantwortlich. Man müsste also etwa bereit sein, sich in einen Unfall mit schlimmen Folgen (z. B. Lähmung) zu verwickeln, wenn ein solches Ereignis mit seinen Folgen den kosmischen Karmagesetzen entspräche. Wer von uns kann mit der Hand auf dem Herzen sagen, dass er oder sie bereit ist, so etwas zu tun, und dass er oder sie genügend Weisheit hat, um eine solche Verantwortung auf sich nehmen zu können. Und doch spricht der Hüter der Schwelle unerbittlich weiter: Meine Schwelle aber ist gezimmert aus einem jeglichen Furchtgefühl, das noch in dir ist, und aus einer jeglichen Scheu vor der Kraft, die volle Verantwortung für all dein Tun und Denken selbst zu übernehmen. Solange du noch irgendeine Furcht vor der selbsteigenen Lenkung deines Geschickes hast, so lange ist in diese Schwelle nicht alles hineingebaut, was sie erhalten muß. Und solange ihr ein einziger Baustein noch fehlt, so lange müßtest du wie gebannt an dieser Schwelle stehenbleiben oder stolpern. Versuche nicht früher diese Schwelle zu überschreiten, bis du ganz frei von Furcht und bereit zu höchster Verantwortlichkeit dich fühlst. (GA10, S. 196) Wer von uns ist zur Übernahme von Verantwortung bereit? Aber damit ist noch nicht die ganze Tragweite der Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle beleuchtet. Wir haben gesehen, dass diese Begegnung dann stattfindet, wenn sich die Seelenkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens auf der 445 Vgl. Abschnitt „ Die Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle: Freiheit von den Fesseln der Gemeinschaft “ . 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1307 Ebene des Astral- und des Lebensleibes voneinander trennen. Damit ist die Befreiung des angehenden Forschers von den Einflüssen der über ihm stehenden geistigen Mächte verbunden: der Familienbzw. Volksseelen oder sogar Rassengeister, die sich des Einzelnen für ihre Zwecke bisher gleichsam bedienten. Wir haben bis jetzt den Befreiungsaspekt dieses Ereignisses herausgestellt. Es hat aber auch eine andere Seite, die bedeutend schwieriger zu ertragen ist: Erst der Geheimschüler lernt erkennen, was es heißt, ganz verlassen sein von Volks-, Stammes-, Rassengeistern. Erst er erfährt an sich selbst die Bedeutungslosigkeit aller solcher Erziehung für das Leben, das ihm nun bevorsteht. Denn alles, was an ihm herangezogen ist, löst sich vollständig auf durch das Zerreißen der Fäden zwischen Wille, Denken und Gefühl. Er blickt auf die Ergebnisse aller bisherigen Erziehung zurück, wie man auf ein Haus blicken müßte, das in seinen einzelnen Ziegelsteinen auseinanderbröckelt und das man nun in neuer Form wieder aufbauen muß. Es ist wieder mehr als ein bloßes Sinnbild, wenn man sagt: Nachdem der Hüter der Schwelle über seine ersten Forderungen sich ausgesprochen hat, dann erhebt sich von dem Orte aus, an dem er steht, ein Wirbelwind, der all die geistigen Leuchten zum Verlöschen bringt, die bisher den Lebensweg erhellt haben. Und eine völlige Finsternis breitet sich vor dem Geheimschüler aus. Sie wird nur unterbrochen von dem Schein, den der Hüter der Schwelle selbst ausstrahlt. Und aus der Dunkelheit heraus ertönen seine weiteren Ermahnungen: „ Überschreite meine Schwelle nicht, bevor du dir klar bist, daß du die Finsternis vor dir selbst durchleuchten wirst; tue auch nicht einen einzigen Schritt vorwärts, wenn es dir nicht zur Gewißheit geworden ist, daß du Brennstoff genug in deiner eigenen Lampe hast. Die Lampen von Führern, welche du bisher hattest, werden dir in der Zukunft fehlen. “ Nach diesen Worten hat der Schüler sich umzuwenden und den Blick nach hinten zu wenden. Der Hüter der Schwelle zieht nunmehr einen Vorhang hinweg, der bisher tiefe Lebensgeheimnisse verhüllt hat. Die Stammes-, Volks- und Rassengeister werden in ihrer vollen Wirksamkeit offenbar; und der Schüler sieht ebenso genau, wie er bisher geführt worden ist, als ihm anderseits klar wird, daß er nunmehr diese Führerschaft nicht mehr haben wird. (GA10, S. 201 - 203) Diese Worte machen klar, dass das Maß an Weisheit - nicht Klugheit, Schlauheit, Intelligenz, sondern Weisheit im wahrsten, tiefsten Sinne dieses Wortes - , das sich der Kandidat für die Einweihung angeeignet haben muss, bevor er die Hoffnung hegen kann, die Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle erfolgreich bestehen zu können, unermesslich viel höher liegt als das Maß der Weisheit eines Durchschnittsmenschen. Nimmt man diese Bedingung ernst, so wird einem die gewaltige Veränderung, die sich infolge der erfolgreich bestandenen Begegnung mit dem Hüter in Bezug auf die Bedeutung des Todes einstellt, fast als Nebensächlichkeit vorkommen: Eine Folge der glücklich überstandenen Begegnung mit dem „ Hüter der Schwelle “ ist, daß der nächste physische Tod dann für den Geheimschüler ein ganz anderes Ereignis ist, als vorher die Tode waren. Er erlebt bewußt das Sterben, indem er den physischen Körper ablegt, wie man ein Kleid ablegt, das abgenutzt oder vielleicht 1308 11 Übersinnliche Forschungsmethoden auch durch einen plötzlichen Riß unbrauchbar geworden ist. Dieser sein physischer Tod ist dann sozusagen eine erhebliche Tatsache nur für die anderen, welche mit ihm leben und die mit ihren Wahrnehmungen noch ganz auf die Sinnenwelt beschränkt sind. Für sie „ stirbt “ der Geheimschüler. Für ihn ändert sich nichts von Bedeutung in seiner ganzen Umgebung. Die ganze übersinnliche Welt, in die er eingetreten ist, stand vor dem Tode schon in entsprechender Art vor ihm, und dieselbe Welt wird auch nach dem Tode vor ihm stehen. (GA10, S. 199) Erst wenn man alle diese Aspekte der Begegnung mit dem (kleinen) Hüter der Schwelle einbezieht, kann man ermessen, welch hohe Anforderungen ein Kandidat für die Einweihung erfüllen muss, um diese Begegnung erfolgreich bestehen zu können. Und dann wird man sich vielleicht weniger wundern, dass die Zahl der Eingeweihten so gering ist. Der große Hüter und Samsara Wir haben bereits früher auch von der Begegnung mit dem großen Hüter und ihrer Bedeutung für das Erlangen objektiver Erkenntnis der geistigen Welten gesprochen. Schon der Umstand, dass Steiner bei dieser Begegnung von dem großen Hüter spricht, deutet darauf hin, dass es sich um eine noch größere Herausforderung für den angehenden Geistesforscher handelt. Die bisherigen Schilderungen dieser Begegnung geben jedoch kaum Aufschluss darüber, worin diese Herausforderung bestehen soll. Wir haben zwar von der Notwendigkeit gesprochen, sich von jeglichen selbstsüchtigen Motiven zu befreien und völlig selbstlos dem Wohl anderer Menschen (und anderer Wesen) zu widmen, aber eine solche Verpflichtung zur Selbstlosigkeit ist (vielleicht) eine verhältnismäßig einfache Klippe. Diese Klippe erscheint indes in einem anderen Licht, wenn man sich den Entwicklungsstand des Einweihungskandidaten vor Augen führt, den er oder sie erreicht haben muss, bevor die Begegnung mit dem großen Hüter überhaupt zustande kommen kann. Er ergibt sich aus der Botschaft des großen Hüters an den Kandidaten bzw. die Kandidatin: Du hast dich losgelöst aus der Sinnenwelt. Dein Heimatrecht in der übersinnlichen Welt ist erworben. Von hier aus kannst du nunmehr wirken. Du brauchst um deinetwillen deine physische Leiblichkeit in gegenwärtiger Gestalt nicht mehr. Wolltest du dir bloß die Fähigkeit erwerben, in dieser übersinnlichen Welt zu wohnen, du brauchtest nicht mehr in die sinnliche zurückzukehren. Aber nun blicke auf mich. Sieh, wie unermeßlich erhaben ich über all dem stehe, was du heute bereits aus dir gemacht hast. Du bist zu der gegenwärtigen Stufe deiner Vollendung gekommen durch die Fähigkeiten, welche du in der Sinnenwelt entwickeln konntest, solange du noch auf sie angewiesen warst. Nun aber muß für dich eine Zeit beginnen, in welcher deine befreiten Kräfte weiter an dieser Sinnenwelt arbeiten. Bisher hast du nur dich selbst erlöst, nun kannst du als ein Befreiter alle deine Genossen in der Sinnenwelt mitbefreien. Als einzelner hast du bis heute gestrebt; nun gliedere dich ein in das Ganze, damit du nicht nur dich mitbringst in die übersinnliche Welt, sondern alles andere, was in der sinnlichen 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1309 vorhanden ist. Mit meiner Gestalt wirst du dich einst vereinigen können, aber ich kann kein Seliger sein, solange es noch Unselige gibt! (GA10, S. 211f.) Um die ganze Tragweite dieser Worte würdigen zu können, muss man auf die Begriffe der östlichen religiösen Tradition zurückgreifen. Ein wichtiges Element der Lehre des Hinduismus und des Buddhismus bildet bekanntlich die Vorstellung des „ Samsara “ , des Kreislaufs der Inkarnationen (vgl. z. B. Smith 2005, Cuevas 2003). Die irdische Inkarnation des Menschen sei mit Leiden verbunden, eine Folge der auf diesseitige Erfüllung gerichteten Leidenschaften, Begierden und Wünsche des Menschen. Der Mensch könne sich aus diesem unheilvollen Kreislauf befreien, indem er sich von den irdischen Bindungen durch Erkenntnis (Erleuchtung) und innere Disziplin befreie. Er erreiche dadurch einen Zustand, der im Hinduismus als Moksha, im Buddhismus als Nirwana bezeichnet wird. Der Buddhismus spricht in diesem Zusammenhang von der Arhatschaft des Menschen (vgl. z. B. Swearer 2005, Bond 2003). Ein Arhat hat keine weitere Wiedergeburten vor sich; obwohl er mit dem Körper noch im Leben steht, ist er innerlich befreit und steht gleichsam außerhalb der Welt. Im Lichte der geisteswissenschaftlichen Forschung zeigt sich, dass diese Tradition durchaus einer Wirklichkeit entspricht, dass es für einen Menschen möglich ist, eine so hohe Stufe der Entwicklung zu erreichen, dass er keine weitere Belehrung mehr benötigt und sich zur Abtragung der karmischen „ Schuld “ nicht mehr inkarnieren muss. Ein Kandidat für höhere Stufen der Einweihung muss diese Ebene der Entwicklung erreicht haben. Aus der Perspektive der Geisteswissenschaft sind die irdischen Inkarnationen allerdings weniger Quelle des Leids als Möglichkeiten der Vervollkommnung, ja, man könnte auf die ägyptische Tradition zurückgreifen 446 und sagen: Sie dienen dem Ziel der Vergöttlichung des Menschen. 447 Ein wenig plakativ lässt sich dieser Unterschied zwischen der östlichen religiösen Tradition und den Erkenntnissen der modernen Geisteswissenschaft in die bekannten Worte von John Keats fassen: Die irdischen Inkarnationen sind nicht „ the vale of tears “ , sondern „ the vale of Soul making “ . 448 Aus den oben zitierten Worten des großen Hüters ist ersichtlich, dass sich ein moderner Initiierter freiwillig weiterhin inkarniert, und zwar solange es für andere Menschen nötig ist. Sie implizieren ferner, dass der angehende Geistesforscher bzw. Kandidat für die Einweihung bis zum 446 Vgl. das Kapitel „ Die neue Sicht der alten Geschichte “ . 447 Mehr darüber im nächsten Kapitel. 448 „ The common cognomen of this world among the misguided and superstitious is ‘ a vale of tears ’ from which we are to be redeemed by a certain arbitary interposition of God and taken to Heaven-What a little circumscribed straightened notion! Call the world if you Please ‚ The vale of Soul-making ‘ . Then you will find out the use of the world (I am speaking now in the highest terms for human nature admitting it to be immortal which I will here take for granted [. . .] “ Keats im Brief vom 19. 5. 1819 an seinen Bruder George und dessen Frau Georgiana. (http: / / www.mrbauld.com/ keatsva.html, heruntergeladen am 7. 12. 2014). 1310 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Moment der Begegnung mit dem großen Hüter die Stufe der Arhatschaft erreicht hat: Er kann jetzt nicht mehr durch die höheren geistigen Mächte dazu „ gezwungen “ werden, in eine neue irdische Inkarnation zu treten. Der oben erwähnte Verzicht auf selbstsüchtige Motive erscheint von hierher in einem neuen Licht. Denn der Mensch, der diese Stufe erreicht hat, hat „ sein Heimatrecht in der übersinnlichen Welt “ erworben. In einer traditionellen westlichen Sprache ausgedrückt heißt das, dass er im Paradies, im Himmel unter den „ Seligen “ für immer verbleiben darf, glückselig und den Anblick Gottes genießend. Steiner schreibt über diese Situation, dass der Mensch hier vor einer Entscheidung steht, der Wahl zwischen dem „ schwarzen Pfad “ der persönlichen Glückseligkeit und dem „ weißen Pfad “ des selbstlosen Dienstes an der Menschheit. Und er betont, dass die Verlockungen des Egoismus gewaltig sind, während auf der anderen Seite nur völlig selbstlose Liebe ruft: Man kann nun nicht sagen, es sei selbstverständlich, daß der Mensch den weißen Pfad wählen werde, wenn er so vor die Entscheidung gestellt wird. Das hängt nämlich ganz davon ab, ob er bei dieser Entscheidung schon so geläutert ist, daß keinerlei Selbstsucht ihm die Lockungen der Seligkeit begehrenswert erscheinen läßt. Denn diese Lockungen sind die denkbar größten. Und auf der anderen Seite sind eigentlich gar keine besonderen Lockungen vorhanden. Hier spricht gar nichts zum Egoismus. Was der Mensch in den höheren Regionen des Übersinnlichen erhalten wird, ist nichts, was zu ihm kommt, sondern lediglich etwas, das von ihm ausgeht: die Liebe zu seiner Mitwelt. Alles, was der Egoismus verlangt, wird nämlich durchaus nicht entbehrt auf dem schwarzen Pfade. Im Gegenteil: die Früchte dieses Pfades sind gerade die vollkommenste Befriedigung des Egoismus. Und will jemand nur für sich die Seligkeit, so wird er ganz gewiß diesen schwarzen Pfad wandeln, denn er ist der für ihn angemessene. (GA10, S. 214) Alle künftigen Anstrengungen eines solchen Menschen bringen ihm für seine eigene weitere Entwicklung nichts mehr. Was er tut, das wird nur der Förderung anderer Menschen dienen, das bringt er „ auf den Opferaltar der Menschheit “ (GA10, S. 213). Sich in dieser Situation für die weitere Arbeit in der Welt zu entscheiden, heißt, dass man - wenn ich so sagen darf - als ein Unschuldiger das Kreuz der irdischen Existenz auf sich nimmt. Man wird dadurch im wahrsten Sinne des Wortes ein Nachfolger Christi. Durch die Initiation des weißen Pfades gelangt der Mensch nicht zur frühzeitigen Seligkeit, sondern „ zu einem Punkte, auf dem er mitwirken kann in den Welten, wo das Menschenheil und die Menschenentwickelung durch geistige Arbeit gefördert werden “ (ebd., S. 114). Mit der Wahl des schwarzen Pfades (die, wie Steiner betont, durchaus denkbar ist) ist die Objektivität der übersinnlichen Erkenntnis unerreichbar 449 und mithin der Zugang zu den höchsten Gebieten der geistigen Welt verwehrt. Der große Hüter warnt nämlich: 449 Vgl. den Abschnitt „ Der große Hüter der Schwelle und die Überwindung der zweiten Quelle der Täuschung “ . 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1311 Ich wehre dir [. . .] den Einlaß in die höchsten Gebiete der übersinnlichen Welt, solange du nicht alle deine erworbenen Kräfte zur Erlösung deiner Mitwelt verwendet hast. Du magst mit dem schon Erlangten dich in den unteren Gebieten der übersinnlichen Welt aufhalten; vor der Pforte zu den höheren stehe ich aber „ als der Cherub mit dem feurigen Schwerte vor dem Paradiese “ und wehre dir den Eintritt so lange, als du noch Kräfte hast, die unangewendet geblieben sind in der sinnlichen Welt. (Ebd., S. 212, Hervorhebung im Original) Es sind aber gerade diese „ höchsten Gebiete der übersinnlichen Welt “ , in welchen man die Einsicht in die geistige Welt erlangt, die „ von persönlicher Färbung frei und für jede Menschenwesenheit gültig ist “ (GA13, S. 391). Nimmt man diese Schilderungen ernst, so wird ersichtlich, dass die Anforderungen, welche an einen wahren Geistesforscher gestellt werden, exponentiell höher sind als jene, denen ein (Natur-)Wissenschaftler genügen muss. Vor diesem Hintergrund ist Steiners Singularität auf dem Gebiet der Geisteswissenschaft weit weniger verwunderlich. Mancher mag sich auf die Seite von Helmut Zander (Zander 2007 a und b) schlagen und dies alles für Unsinn, vielleicht sogar für Betrug halten: Steiner habe dies alles erdichtet, um sich vor seinen fanatischen Anhängern als eine Art Buddha zu profilieren, um Macht über sie auszuüben. Wenn man die Fakten unvoreingenommen betrachtet, ergibt eine solche These aber keinen Sinn. Steiner ist nie auf seinem Status eines Arhats herumgeritten, er hat auch nie von sich behauptet, er habe diese Würde erlangt. Mehr noch: Die oben zitierten Aussagen über die Höhe der Anforderungen für die Einweihung, die an ihn von dem großen Hüter der Schwelle gestellt werden, finden sich im ganzen Œ uvre Steiners ein einziges Mal. Selbst unter Anthroposophen werden sie selten zur Kenntnis und noch seltener ernst genommen. Entgegen Zanders (zumal nie ausreichend belegten) Behauptungen war Steiner auch keineswegs machtgierig. Er hat sich seinen Mitmenschen gegenüber vielmehr stets äußerst liebevoll verhalten und oft musste er in Situationen vermittelnd eingreifen, in welchen seine Frau Maria ihre Macht auszuspielen versuchte (z. B. gegenüber den Eurythmistinnen, mit denen sie arbeitete). Steiner versuchte auch nie persönlich von seinem öffentlichen Erfolg zu profitieren, auch dann nicht, als er aufgrund seiner phänomenalen Popularität, besonders in den späteren Zeiten seines Wirkens (um 1921 - 1922), oft Vorträge vor Tausenden von Zuhörern hielt. Bis zum Ende seines Lebens wohnte er nicht auf einem Privatschiff (wie bekanntlich der Begründer der Scientology L. Ron Hubbart) oder in einer Luxusvilla, wie es viele moderne „ Gurus “ tun, sondern in einer kleiner Dachwohnung in Dornach und am Ende seines Lebens sogar in einem äußerst karg eingerichteten Arbeitsstudio in direkter Nähe zur Ruine des abgebrannten ersten Goetheanums. Erwähnt sei ferner, dass Steiner für die unzähligen persönlichen Beratungsgespräche, die ihm sehr viel Zeit und Kraft abverlangten, nie eine finanzielle Entschädigung erhielt. (Von dem einzigen Eingeweihten, der mir persönlich bekannt war, Herr Robert Walter, habe ich ebenfalls bereits berichtet, dass er im persön- 1312 11 Übersinnliche Forschungsmethoden lichen Umgang äußerst bescheiden war. Auch er hat nie ein Honorar für die sehr vielen persönlichen Beratungsgespräche, die er führte, verlangt.) Die Behauptung, man könne unmöglich in der geistigen Welt forschen, kann man mit Aussagen von Menschen des 19. Jahrhunderts vergleichen, man könne unmöglich in einem Gerät fliegen, das schwerer als Luft ist, oder man könne unmöglich auf dem Mond landen. Was heute als unmöglich erscheint, kann sehr wohl morgen Realität werden. Wenn man nicht selbst in die geistige Welt eindringen kann oder will, soll man dies anderen nicht dadurch „ verbieten “ , dass man es für unsinnig erklärt. Es ist auch nicht statthaft, von „ Ich kann das nicht machen “ auf „ Es kann nicht gemacht werden “ zu schließen. Die allerwenigsten von uns sind fähig, auf einem Hochseil Hunderte Meter zu laufen, und dennoch ist das möglich. Nicht viele würden es wagen, sich von einem Ballon in einer Höhe von fast 39 km auf die Erde zu stürzen und dabei die Schallgeschwindigkeit zu durchbrechen, aber Felix Baumgartner hat es getan. Behauptet man, dass die Forschung in der geistigen Welt unwissenschaftlich sei, ohne selbst überprüft zu haben, welches die Bedingungen einer solchen Forschung sind und ob sie den Anforderungen der Wissenschaftlichkeit entsprechen, so triff man keine wissenschaftliche Feststellung, sondern unternimmt eine dilettantische Spekulation. Wer eine solche Behauptung formuliert, der gleicht jenen Pharisäern, von denen Christus sagte: „ Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler! Denn ihr verschließt das Reich der Himmel vor den Menschen; denn ihr geht nicht hinein, und die, die hineingehen wollen, lasst ihr nicht hinein “ (Mt 23,13). 450 Exkurs: Rudolf Steiners übersinnliche Erkenntnismethoden und Edmund Husserl und C. G. Jung Am Ende meiner Dissertation habe ich in einem Abschnitt (6.10 „ Spuren übersinnlicher Erkenntnisresultate in der gegenwärtigen philosophischen Literatur “ , S. 462 - 479) versucht nachzuweisen, dass in der gegenwärtigen philosophischen Literatur durchaus Spuren dessen zu finden sind, was von Steiner bereits formuliert wurde. Ich habe dabei u. a. die sog. emotionale Intelligenz, einige Ideen von W. V. O. Quine und Thomas Kuhn, einige Beispiele aus der feministischen Literatur, Meyer-Abichs „ Mit-Wissenschaft “ , John McDowells Idee der begrifflichen Fähigkeit in der Wahrnehmung und Thomas Nagels Ideal des „ Blicks von nirgendwo “ behandelt. Ich möchte diese Erörterungen hier nicht wiederholen. Ich werde sie aber um einen kursorischen Blick 451 auf Aspekte von Edmund Husserls und C. G. Jungs Schriften ergänzen. 450 Vgl. Lk 11,52: „ Wehe euch Gesetzeslehrern! Denn ihr habt den Schlüssel der Erkenntnis weggenommen; ihr selbst seid nicht hineingegangen, und die, die hineingehen wollten, habt ihr gehindert. “ 451 Eine ausführliche Behandlung dieser Thematik würde den Rahmen des vorliegenden Werkes sprengen. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1313 Rudolf Steiner und Edmund Husserl Bekanntlich hat Husserl in seinem späten Werk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie die Erweiterung seiner ursprünglichen Idee der Epoché auf die von ihm als „ transzendentale Epoché “ bezeichnete Lebenseinstellung vollzogen. Meine These ist, dass Husserl mit seiner Idee der transzendentalen Epoché nichts anderes als einen Aufstieg in die geistige Welt intendierte. In anderen Worten: Die wahre oder eigentliche Absicht von Husserls transzendentaler Epoché ist die Transformation des gewöhnlichen Bewusstseins in eine Form, die frei von der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung ist und sich für den Blick in die geistige Welt öffnet. Es versteht sich von selbst, dass Husserl die Ziele der transzendentalen Epoché nie in solchen Begriffen formulierte, und es könnte daher völlig unbegründet, wenn nicht absurd scheinen, ihm Absichten, die er nie in Betracht gezogen hat, zu unterstellen. Doch gibt mir Husserl in gewisser Weise das Recht zu diesem Vorgehen. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit den Ansichten seiner Vorgänger bezieht er sich häufig auf die tieferen bzw. versteckten Ebenen ihrer Gedanken, Ebenen, die dem Denker selbst nicht bewusst zugänglich sind. So lenkt Husserl z. B. die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Descartes ’ Ideen „ einen tief verborgenen Sinn “ in sich tragen, welcher sie zerstört, sobald er an die Oberfläche gebracht werde (Husserl 2012, S. 81). Auch spricht er von der bloßen Rationalität, die durch „ verborgenen Widersinn “ infiziert sei (ebd., Hervorhebung von mir, MBM), oder vom „ verborgenen Motiv von Humes Skeptizismus “ (ebd., S. 96). Zwischen Husserls Charakterisierung der Natur und Aufgabe der transzendentalen Epoché und jenem Weg, der nach Steiner zur Realität der geistigen Welt führt, tun sich beeindruckende Parallelen auf. In § 35 seiner Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie macht Husserl deutlich, dass der erste Schritt auf dem Weg zur transzendentalen Epoché und damit zu der neuartigen Wissenschaft (sic! ) (ebd. S., S. 146; vgl. auch § 42, S. 165f.) oder der neuen Philosophie (ebd. § 41, S. 164) über die Aussetzung aller Gewissheiten der objektiven Wissenschaft führe (ebd. § 35, S. 146). Doch Husserl will mehr: „ Es bedarf also einer totalen Umstellung, einer ganz einzigartigen unversalen Epoché “ (ebd. § 39, S. 161, Hervorhebung im Original), deren Ergebnis ein radikaler Wandel der menschlichen Existenz ist: Es ist aber anstatt dieser Universalität der Enthaltung in Einzelschritten [der gewöhnlichen Epoché] eine ganz andere Weise der universalen Epoché möglich, nämlich die mit einem Schlage den durch die Gesamtheit des natürlichen Weltlebens und durch das gesamte (ob verborgene oder offene) Geflecht der Geltungen hindurchreichende Gesamtvollzug außer Aktion setzt, eben den, der als einheitliche „ natürliche Einstellung “ des „ schlicht “ „ geradehin “ Dahinleben ausmacht. 1314 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Durch die Vollzugsenthaltung, die diese ganze bisher ungebrochen verlaufende Lebensweise inhibiert, wird eine völlige Umstellung des gesamten Lebens gewonnen, eine durchaus neue Weise des Lebens. (Ebd. § 40, S. 162f.) Die transzendentale Epoché ist kein einmaliger Akt, sondern eine „ habituale Einstellung, zu der wir uns ein für allemal entschließen “ (ebd., S. 163). In Anspielung auf die berühmte Stelle in Goethes Faust stellt Husserl fest: „ [D] urch unsere transzendentale Reduktion [stehen wir] am Eingangstor des nie betretenen Reiches ‚ der Mütter der Erkenntnis ‘ [. . .] “ (ebd. § 42, S. 166). Die Erwähnung der „ Mütter “ ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich, denn Steiner lenkte in seinen Interpretationen dieser Passage von Goethes Faust immer wieder die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass das „ Reich der Mütter “ nichts anderes als die geistige Welt selbst sei. So heißt es bei Steiner etwa: Der Gang zu den Müttern: in aller Mystik ist das höchste Seelische ein Weibliches; die Erkenntnis ist ein Befruchtungsprozess. Das Feuer auf dem Dreifuß ist die Urmaterie. Das Reich der Mütter stellt den Urgrund aller Dinge dar; aus diesem stammt der Geist. Um in das geistige Reich - Devachan in der Sprache der Theosophie - einzugehen, dazu gehört eine moralische Qualifikation. Das Streben der Theosophie ist, die Menschen [dorthin] hinaufzuführen. Der Mensch muss sich [aber] erst dazu fähig machen, würdig machen. (GA53, S. 326) 452 Man ist versucht, hinter Husserls transzendentaler Reduktion bzw. Epoché, die vor die Tore des nie zuvor betretenen Reichs der Mütter führt, eine Hinführung zu jener geistigen Welt zu erblicken, von der Steiner spricht. Mancher andere Aspekt der transzendentalen Epoché unterstützt diese Interpretation. So erinnert Husserls radikale Forderung, die Einstellungen, welche für die natürliche menschlichen Existenz charakteristisch sind, aufzugeben und sich von der „ Vorgegebenheit der Welt “ zu befreien, stark an Steiners Postulat des vollständigen Ausschlusses aller Sinneswahrnehmungen während der Zeit der Meditation und die totale Konzentration auf den Meditationsinhalt. Nach Steiner sollte diese Haltung in einem bestimmten Stadium der inneren Ausbildung so entwickelt werden, dass der Meditierende vollständig Herr über die Einflüsse der äußeren Welt wird und die Fähigkeit erwirbt, aus dem Horizont seines Bewusstseins alle Wahrnehmungen und Empfindungen auszuschließen, denen er keine Aufmerksamkeit schenken will (GA10, S. 133f.). Aber die Fähigkeit, die äußere Welt durch die eigene innere Aktivität „ auszuklammern “ , ist nur ein untergeordneter 452 Der Stil dieser Passage ist eher telegrafisch. Das ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die Herausgeber des entsprechenden Bandes der GA über kein ordentliches Stenogramm des Vortrags, sondern lediglich über Notizen der Zuhörer verfügten. Vgl. GA53, S. 491 Notiz des Herausgebers: „ Textunterlagen: Die teils stenografischen, teils handschriftlichen Nachschriften und Notizen, die dem Text dieser Vorträge zugrunde liegen, sind von Steiner nicht durchgesehen worden. “ 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1315 Aspekt der meditativen Übungen. In einer klassischen Passage formuliert Steiner ihren Zweck folgendermaßen: In jedem Falle werden diese Mittel der inneren Versenkung das Ziel haben, die Seele loszureißen von der Sinneswahrnehmung und sie zu einer solchen Tätigkeit anzuregen, bei welcher der Eindruck auf die physischen Sinne bedeutungslos ist und die Entfaltung innerer schlummernder Seelenfähigkeiten das Wesentliche wird. (GA13, S. 314) Beabsichtigt wird also die Befreiung der Seele von ihrer gewöhnlichen Abhängigkeit von der Welt der Sinne. In dieser Hinsicht ist die Ähnlichkeit zwischen den beiden Ansätzen, der transzendentale Epoché von Husserl und Meditationsübungen von Steiner, augenscheinlich. Wie von Husserl für die Zeit der transzendentalen Epoché gefordert, soll sich auch gemäß Steiner für die Zeit der Meditation die Ausrichtung des Lebens völlig verwandeln, wobei Steiner diese Verwandlung präziser als Husserl formuliert: Es geht um die Trennung von den Sinneseindrücken und eine „ Wendung nach innen “ , eine innere Versenkung. Nicht Steiner ist übrigens der Epigone Husserls, sondern umgekehrt: Steiner veröffentlichte die Anweisungen zu den Meditationsübungen bereits 1904, während Husserls Krisis erst 1936 erschienen ist. Warum Husserl keinen Bezug auf Steiner nahm, ist mir nicht bekannt. Es besteht aber auch ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Ansätzen, was möglicherweise erklärt, warum Husserl durch seine transzendentale Epoché nicht zu den gleichen Ergebnissen kam wie Steiner durch seine Meditationsübungen, und insbesondere, warum Husserls Phänomenologie nicht dieselbe Tiefe und Breite des Einblicks in die Realität der geistigen Welt wie Steiners Anthroposophie entwickelte. Für Steiner war klar, dass die „ Ausklammerung “ der Welt und das Zerschneiden der inneren Bänder zu ihr nur einen ersten und vorläufigen Schritt auf dem Weg in die Welt des Geistes bildet. Was einer solchen via negativa folgen muss, ist erstens eine via positiva, die in der Stärkung der Seele durch spezifische Übungen besteht, und zweitens die Ausstattung der Seele mit einer inneren Struktur, die Entwicklung der Organe der übersinnlichen Wahrnehmung. Ohne eine solche innere Strukturierung und Differenzierung ist die Seele zwar fähig, sich von der Bindung an den Körper und an die Welt der körperlichen Sinne zu befreien, aber sie ist nicht in der Lage, etwas in der geistigen Welt wahrzunehmen. Sie befindet sich vielmehr in einem Zustand, der uns aus der Erfahrung des tiefen Schlafs vertraut ist, in welchem die Seele ebenfalls vom Körper getrennt, aber eben bewusstlos ist. Mir scheint, dass Husserl der Mangel an Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen inneren Strukturierung der Seele durch spezifische und strenge Übungen hinderte, den „ versteckten Zweck “ seiner transzendentalen Epoché zu erreichen. 1316 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Rudolf Steiner und Carl Gustav Jung Im Abschnitt „ Carl Gustav Jung: Das Rote Buch “ des Kapitels „ Einzug des Materialismus in die Wissenschaft “ haben wir uns mit Jungs Begegnung mit der geistigen Welt auseinandergesetzt, die er durch die Methode der „ aktiven Imagination “ erreichte. Wir haben damals festgestellt, dass Jung sich der Wirklichkeit der geistigen Welt bewusst war, dass er aber auf die Publikation der Ergebnisse seiner Erfahrungen verzichtete, vermutlich aus Furcht, dass seine wissenschaftliche Reputation unter einer solchen Veröffentlichung leiden würde. Diese Ergebnisse fanden aber in verschleierter Form Eingang in seine wissenschaftliche Schriften, als „ Theorie “ des kollektiven Unbewussten, der Archetypen usw. Nachdem wir uns mit Rudolf Steiners übersinnlichen Erkenntnismethoden bekannt gemacht haben, können wir die damalige Erörterung von Jungs Begegnung mit der geistigen Welt erweitern. Denn es sollte offensichtlich sein, dass Jungs Methode der aktiven Imagination frappierende Ähnlichkeiten mit Steiners erster Stufe der übersinnlichen Forschungsmethoden, der Imagination (im technischen Sinne), aufweist. Wir erinnern uns, dass Jung zunächst absichtlich im wachen Zustand Phantasien konstruierte und dann gleichsam in sie hineinschlüpfte, um ihnen freien Lauf zu lassen. Auf einer späteren Stufe praktizierte Jung auch „ Übungen in Bewusstseinsleere “ (Shamdasani 2009, S. 202), die darin bestanden, dass er seine Phantasien zurückhielt, um unbewusste psychische Inhalte zum Vorschein kommen zu lassen. Diese Übungen scheinen recht genau Steiners Übungen für die Imagination (Konzentration auf einem bildhaften, symbolischen Inhalt) und Inspiration ( „ leeres Bewusstsein “ , Konzentration auf die gedankliche Tätigkeit) zu entsprechen. Wir haben übrigens bei der Betrachtung von Jungs Rotem Buch gesehen, dass sich die Berührung mit der geistigen Welt bei ihm in besonders intensiven, lebhaften Träumen ereignete. Dies ist in Anbetracht der obigen Beschreibung des inneren Fortschreitens zur Imaginationsfähigkeit auf dem Weg von Steiners Geisteswissenschaft nicht nur nicht überraschend, sondern es entspricht im Gegenteil einer gewissen Gesetzmäßigkeit: Erstens können die astralischen Wahrnehmungsorgane ihre Wirksamkeit zunächst nur während des Schlafens entfalten, weil sie während des Wachens zu stark an die Gesetzmäßigkeiten des Lebensleibes und des physischen Leibes gebunden sind; zweitens sind die Eindrücke der geistigen Welt im Vergleich mit den gewöhnlichen Sinneseindrücken zunächst zu schwach, um sich im wachen Leben bemerkbar zu machen. Es bleibt jedoch nicht bei einer bloßen Ähnlichkeit beider Methoden. Einige von Jungs Äußerungen deuten unmissverständlich darauf hin, dass er wirklich an der Schwelle der geistigen Welt stand. In der folgenden Passage schreibt er z. B. davon, dass die geistige Welt eine Wirklichkeit sei, ein Wohnort realer geistiger Wesenheiten. Jung schildert darin die Begegnung 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1317 mit einem geistigen Wesen, dem er den Namen Izdubar gibt 453 und das folgende Worte an ihn richtet (Jung 2009, S. 285): So ist deine Seele dein eigenes Selbst in der geistigen Welt. Die geistige Welt aber ist als der Wohnort der Geister auch eine äußere Welt. Wie du auch nicht allein bist in der sichtbaren Welt, sondern umgeben von den Gegenständen, die dir gehören und nur dir gehorchen, so hast du auch Gedanken, die dir gehören und nur dir gehorchen. Wie du aber auch in der sichtbaren Welt von Dingen und Wesen umgeben bist, die weder dir gehören noch dir gehorchen, so bist du auch in der geistigen Welt von Gedanken und Gedankenwesen umgeben, die weder dir gehorchen, noch dir gehören. Wie deine leiblichen Kinder von dir gezeugt oder aus dir geboren sind, aufwachsen und sich von dir trennen, so zeugst oder gebierst du auch Gedankenwesen, die sich von dir trennen und ihr eigenes Leben leben. (Jung 2009, S. 287) Dass sich Jung der Existenz der geistigen Welt bewusst war und zumindest ansatzweise Einsicht in sie hat, steht also außer Zweifel. Und dennoch sind Jungs Erfahrungen, oder genauer gesagt seine „ Übersetzungen “ dieser Erfahrungen in eine wissenschaftlich zumindest einigermaßen akzeptable Sprache: die Theorien des kollektiven Unbewussten, der Archetypen usw., weit von den reichen und differenzierten Resultaten von Steiners übersinnlichen Forschungen entfernt. Es stellt sich deshalb die Frage, warum Jung, wenn er der geistigen Welt tatsächlich so nah kam, nicht zu denselben Resultaten gelangte wie Steiner. Ist diese Tatsache nicht sogar ein Hinweis darauf, dass Steiners angebliche Forschungsresultate eigentlich nichts anderes als Fantasien oder im besten Fall Plagiate aus den Steiner zugänglichen Schriften waren? Es ist zunächst nebenbei zu bemerken, dass die von einigen Autoren gegen Rudolf Steiner erhobenen Plagiatvorwürfe kurze Beine haben. Denn angenommen, dass man zeigen könnte, dass bestimmte Einzelheiten über die geistige Welt, die man bei Steiner entdeckt, in genau der gleichen Form in einer ihm bekannten Schrift zu finden sind (was übrigens einwandfrei nachzuweisen m. W. niemanden gelungen ist), dann stellt sich selbstverständlich die Frage, woher der Autor dieser Schrift diese Einzelheiten hatte. Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten: Er/ Sie hat sie 1) aus einem anderen Werk abgeschrieben; 2) erfunden; 3) selbst in der geistigen Welt erforscht. Wenn man behaupten/ nachweisen würde, dass er/ sie von einem anderen Werk abgeschrieben hat, dann stellt sich die Frage nach dem Ursprung der Einzelheiten erneut. Behauptet man, dass die Einzelheiten frei erfunden sind, dann ist man eine Erklärung dafür schuldig, wie es möglich ist, so viele so detaillierte, komplexe, oft völlig überraschende und kontraintuitive Fakten frei zu erfinden. Räumt man jedoch ein, dass irgendjemand irgendwann die 453 Izdubar ist übrigens der Name, mit dem Gilgamesch, der Held des nach ihm benannten Epos, belegt wurde. Er beruht auf einer Fehldeutung der Keilschrift (http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Gilgamesh#cite_note - 7, heruntergeladen am 13. 12. 2014). 1318 11 Übersinnliche Forschungsmethoden betreffenden Fakten in der geistigen Welt erforschte, so muss man begründen, warum man Steiner eine Fähigkeit abspricht, die man einem anderen zubilligt. Es ergeben sich also letztlich eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder sind praktisch alle vermeintlichen Fakten über die geistige Welt eine reine Erfindung, oder sie entsprechen einer Wirklichkeit, die auf diese oder jene Art beobachtet, wahrgenommen, erforscht usw. werden kann. Besteht man darauf, dass alle oder die meisten „ übersinnlichen Fakten “ eine reine Erfindung sind, ist man mit der oben angedeuteten Erklärungsschwierigkeit konfrontiert. Wenn sie aber tatsächlich einer übersinnlichen Wirklichkeit, einer geistigen Welt entsprechen, dann ist die Tatsache, dass unterschiedliche Personen über gleiche Phänomene sprechen, nicht mehr verwunderlich, als wenn verschiedene Personen denselben Baum beschreiben. Es ist sogar verständlich, dass ihre Beschreibungen dieses Baumes nicht identisch sind, schließlich sehen sie den Baum von divergierenden Blickwinkeln aus. Wenn sie jedoch denselben Baum beschreiben und ihre Berichte sich zum größten Teil decken, dann deutet das durchaus nicht darauf, dass sie voneinander abgeschrieben haben, sondern lediglich darauf, dass ein und derselbe Baum vor ihnen stand. Steiner hob immer wieder hervor, dass er die Tatsachen, von denen er berichtet, eigenständig erforscht und sie erst anschließend mit den existierenden Dokumenten verglichen habe. In keinem Fall handelt es sich bei ihm um bloßes Abschreiben aus anderen Quellen. Als locus classicus bezüglich der Haltung Steiners in dieser Materie kann diese Stelle aus seiner Autobiografie dienen: An meiner Stellung zum Christentum wird voll anschaulich, wie ich in der Geisteswissenschaft gar nichts auf dem Wege gesucht und gefunden habe, den manche Menschen mir zuschreiben. Die stellen die Sache so hin, als ob ich aus alten Überlieferungen die Geist-Erkenntnis zusammengestellt hätte. Gnostische und andere Lehren hätte ich verarbeitet. Was im „ Christentum als mystische Tatsache “ an Geist-Erkenntnis gewonnen ist, das ist aus der Geistwelt selbst unmittelbar herausgeholt. Erst um Zuhörern beim Vortrag, Lesern des Buches den Einklang des geistig Erschauten mit den historischen Überlieferungen zu zeigen, nahm ich diese vor und fügte sie dem Inhalte ein. Aber nichts, was in diesen Dokumenten steht, habe ich diesem Inhalte eingefügt, wenn ich es nicht erst im Geiste vor mir gehabt habe. (GA28, S. 365f.) 454 Jungs Beschreibungen der von ihm erlebten geistigen Phänomene weichen jedoch so weit von Steiners Beschreibungen der Eigenschaften der geistigen Welt ab, dass es sich dabei kaum um unterschiedliche Darstellungen des- 454 Vgl. auch z. B. diese Stelle: „ Man sieht, daß von mir die Geisteswissenschaft niemals als eine Entlehnung geschichtlich überlieferter Anschauungen genommen, sondern als eine unmittelbar gegenwärtig zu erringende Erkenntnis dargestellt worden ist. Daß die Terminologie älterer Zeiten zuweilen gebraucht wird, hat seinen Grund darin, weil die neuere Zeit, der geisteswissenschaftliches Erkennen fernliegt, eine solche Terminologie nicht hat und man noch immer leichter durch die alte als durch eine frei erfundene verstanden wird “ (GA113, S. 26, Hervorhebung im Original). 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1319 selben „ Baumes “ handeln kann. Woran mag das liegen? Ich glaube, die Antwort auf diese Frage ist verhältnismäßig einfach, und sie entlastet Rudolf Steiner von dem möglichen Vorwurf, dass er seine Fakten bloß erfunden habe. 455 Die Antwort könnte darin liegen, dass Jung vermutlich nie eine Begegnung mit dem kleinen, geschweige denn dem großen Hüter der Schwelle hatte und sie daher auch nicht erfolgreich bestand. Zumindest sind mir keine Spuren einer solchen Begegnung in den Schriften von C. G. Jung bekannt. Wenn Jung aber diese Begegnungen nicht hatte, dann konnte er seine innere, in imaginativen Bildern erscheinende Welt nicht von der „ äußeren “ geistigen Welt differenzieren und folglich keine objektive, durch die Projektionen seiner eigenen Persönlichkeit ungefärbte Einsicht in die „ äußere “ geistige Welt haben. Wir erinnern uns daran, dass der Geistesforscher dazu zwingend über die Stufe der Imagination zur Inspiration und sogar über diese hinaus zur Intuition schreiten muss, denn nur sie liefert einwandfreie, objektive Erkenntnisse der geistigen Welt. Offenbar ist es Jung gelungen, mithilfe seiner Übungen eine recht lebhafte Imaginationsfähigkeit zu entwickeln; aus welchen Gründen auch immer war er aber nicht imstande, sie zu transzendieren und durch die folgenden, weit schwierigeren Übungen die höheren übersinnlichen Fähigkeiten zu erwerben. Der angehende Geistesforscher muss, nachdem er die Fähigkeit erworben hat, imaginative Bilder in seiner Seele zu erzeugen, darauf verzichten, diese zu unterdrücken, wogegen „ die stärksten Triebe des Selbstsinnes “ ankämpfen (GA13, S. 325). Denn „ es ist ein starker Trieb da, sich in der Welt beseligt zu fühlen, welche man sich erst selbst herangeschaffen hat “ (ebd.). Erst eine solche Unterdrückung, Erlöschung der imaginativen Bilder ebnet den Weg zu höheren Stufen der übersinnlichen Erkenntnis. Jung war vermutlich nicht imstande, diesen Schritt zu unternehmen, er gab sich damit zufrieden, innerhalb der imaginativen Bilder zu verbleiben. Er blieb also an der Schwelle zur geistigen Welt stehen, ohne in diese Welt wirklich einzutreten, geschweige denn diese Welt zu erforschen. Dass jedoch einer so großen und vielseitig begabten Persönlichkeit wie C. G. Jung dies letztendlich nicht gelungen ist, zeugt davon, wie hoch die Anforderungen an den wahren Geistesforscher sind. Und dies macht wiederum erklärlich, wieso heute immer noch nicht besonders viele Steiners herumlaufen. Fazit Durch die knappe Darstellung gewisser Aspekte der Ansichten bzw. Erfahrungen von Edmund Husserl und C. G. Jung wollte ich zeigen, dass sich in den Werken der bekanntesten intellektuellen Autoritäten des 20. Jahrhunderts Spuren der Einsichten, aber auch Sehnsüchte finden lassen, die in 455 Den Vorwurf der „ Erfindung “ könnte man übrigens ebenso gut auch gegen C. G. Jung erheben. Schließlich wurden seine Erfahrungen ebenfalls von niemanden wiederholt. 1320 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Rudolf Steiners Geisteswissenschaft ihre Ausarbeitung bzw. Erfüllung finden. Schlussbemerkung Am Anfang dieses Kapitels haben wir von Hoffnungen gewisser „ Träumer “ und „ Fantasten “ auf eine neue Form der Erkenntnis bzw. Wissenschaft gesprochen. Nun zeigt sich, dass ihre „ Träume “ wahr geworden sind 456 : Bei der Geisteswissenschaft Steiners haben wir mit einer Erkenntnismethode zu tun, die die Ahnungen Bacons und Nagels erfüllt: Sie setzt auf den Umbau, die Verwandlung des Menschen als Bedingung einer realitätsgetreuen Erkenntnis. Diese Verwandlung führt dazu, dass der Mensch die göttlichgeistige Welt wissenschaftlich erforschen kann, womit sich die Hoffnung der Vertreter des Paradigmas der qualitativen Forschung auf eine Annäherung von Wissenschaft und Spiritualität erfüllen würde. Die von der Geisteswissenschaft Steiners angeregte Verwandlung des Menschen kann als eine Fortsetzung der alten indischen Tradition der geistigen Disziplin des Yoga oder des Buddhismus betrachtet werden. Auf die Ähnlichkeiten zwischen den Übungen zur Entwicklung der sechzehnblättrigen Lotusblume und dem achtgliedrigen Pfad Buddhas habe ich hingewiesen. Es wäre jedoch falsch, Steiners Anweisungen zur Verwandlung des Menschen als bloß aufgewärmtes „ altes Zeug “ zu betrachten. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die von Rudolf Steiner beschriebenen Übungen zur Erlangung der Imagination, Inspiration und Intuition der Reifung des menschlichen Wesens, die sich dank des Durchgangs durch das wissenschaftliche Zeitalter vollzogen hat, Rechnung tragen. Ich habe am Anfang dieses Kapitels darauf hingewiesen, dass Steiner der Naturwissenschaft grundsätzlich positiv gegenüberstand (obwohl er ihre Einseitigkeit kritisierte). Der Grund für diese positive Einstellung lag jedoch nicht in den offensichtlichen praktischen Errungenschaften, welche wir der Naturwissenschaft und ihrer „ Tochter “ , der Technologie, verdanken, sondern vielmehr in dem Umstand, dass die Naturwissenschaft die Erzieherin der Menschheit war und immer noch ist. Dank der in der Naturwissenschaft entwickelten methodischen Strenge und Präzision haben sich die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen und insbesondere sein Denken gefestigt und verselbstständigt. Der Mensch ist eine auf sich selbst gestellte, von jeglicher Autorität freie Persönlichkeit geworden. Steiners übersinnliche Erkenntnismethoden sind so angelegt, dass sie auf diesem Fundament aufbauen, weshalb sie, wie oben dargelegt, mit dem Denken anfangen, um es über die bisherige, dank der Naturwissenschaft erfolgte Entwicklungsstufe hinauszuführen. Wir haben gesehen, wie oft Steiner von der Notwendigkeit, das Denken zu verstärken, zu erkraften sprach. Seine 456 Genauer gesagt: wahr waren, noch bevor sie formuliert wurden. Denn Steiners Geisteswissenschaft war bereits lange vor diesen „ Träumereien “ vorhanden, nur die „ Träumer “ wussten offensichtlich nichts von ihrer Existenz. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1321 methodische Geste ist einleuchtend: Er nimmt den Menschen dort auf, wo er in der heutigen Zeit am weitesten entwickelt ist, und führt ihn weiter, zu höheren Erkenntnisfähigkeiten. Steiner betrachtete seine Geisteswissenschaft als Fortsetzerin der Naturwissenschaft, weil sie mit der an der Naturwissenschaft entwickelten und ihr eigenen methodischen Strenge die Forschung in dem Gebiet anleitet, das der Naturwissenschaft verschlossen bleibt: die übersinnliche, geistige Welt. Die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners erweist sich aber auch in dem Sinne als eine Fortsetzerin der Naturwissenschaft, dass sie auf den durch diese entwickelten gestärkten Erkenntniskräften des Menschen aufbaut und ihre Stärke weiterentwickelt, obschon zugegebenermaßen in einer metamorphosierten Form. Es geht in der Geisteswissenschaft sicher nicht darum, z. B. noch feinere und komplexere mathematische Beweise zu entwickeln, sondern darum, das Denken auf eine qualitativ neue Ebene zu heben, es geht darum, von der Beobachtung des Produktes des Denkens zur Beobachtung der Denktätigkeit als solcher überzugehen. Der mit diesem bescheidenen Schritt eingeleitete Prozess führt letztendlich zu einer völligen Verwandlung des geistig-seelischen Wesens des Menschen, die in der Initiation oder Einweihung, im bewussten und willkürlichen Eintreten in die geistige Welt kulminiert. Die von der betreffenden Person auf diesem Weg erworbenen neuen Erkenntnisfähigkeiten der Imagination, Inspiration und Intuition eröffnen aber die Möglichkeit, in dieser Welt nicht nur zu verweilen, sondern sie auch zu erforschen. Ich hoffe, in diesem Kapitel gezeigt zu haben, dass diese Methoden die Bedingungen der Wissenschaft im strengen Sinne (der Naturwissenschaft) erfüllen. Sie sind empirisch im höheren Sinne des Wortes: Sie gründen auf der Beobachtung der übersinnlichen Wirklichkeit mittels übersinnlicher Wahrnehmungsorgane. Insbesondere die Intuition erfüllt überdies das Hauptkriterium der Wissenschaftlichkeit: die Objektivität der Forschungsergebnisse, und zwar in einem weit höheren Maß, als sie der akademischen (Natur-)Wissenschaft möglich ist. Es ist also berechtigt, diese Forschungsmethoden als wissenschaftlich und die unter ihrer Anwendung gewonnenen Einsichten als Wissenschaft zu bezeichnen. Man kann diese Wissenschaft in Anlehnung an ihr Forschungsgebiet als Geisteswissenschaft, man kann sie aber auch in Anlehnung an ihren essentiellen Charakter als Initiationswissenschaft bezeichnen. 457 Sicher ist aber, dass die mit den übersinnlichen Forschungsmethoden gewonnenen Resultate nichts mit Mythen oder Märchen zu tun haben, sondern auf ebenso solidem Fundament gründen wie die Forschungsergebnisse der heutigen Physik oder Biologie. 458 457 Vgl. z. B. GA25, S. 88; GA84, S. 281; GA187, S. 93, 100, 104, 112; GA234, S. 43, 54, 55, 58, 117, 124 usw. 458 Es ist mir völlig schleierhaft, wie ein Wissenschaftler im Ernst behaupten kann (so Zander in seinem anthroposophiekritischen Hauptwerk, vgl. Zander 2007 a und 2007 b), dass Steiners Geisteswissenschaft nichts als ein Plagiat theosophischer Schriften sei. Es genügt, z. B. einige Seiten von Blavatsky zu lesen, um festzustellen, dass trotz gewisser 1322 11 Übersinnliche Forschungsmethoden Das wichtigste Hindernis auf dem Weg zur breiten akademischen Anerkennung der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie liegt zweifelsohne darin, dass Steiner in den vergangenen fast 100 Jahren zumindest immer noch keine allgemein bekannten Nachfolger gefunden hat, die seine Forschungsergebnisse hätten bestätigen können. Denn Nachprüfbarkeit der Forschungsergebnisse für andere Forscher, die sich für das gleiche Gebiet spezialisiert haben, bildet das dritte Element des kleinsten gemeinsamen Nenners der (Natur-) Wissenschaft. Obwohl aber Steiners Forschungsresultate prinzipiell durchaus reproduzierbar sind, wurden sie bis jetzt kaum wiederholt. Ich habe versucht, die Gründe für das Fehlen von Nachfolgern verständlich zu machen: Die Herausforderungen des wahren Forschens in der geistigen Welt und der Einweihung sind gewaltig. Sie sind exponentiell strenger als jede Herausforderung, die ein Wissenschaftler auf dem Weg zur Fachkompetenz auf seinem Gebiet erfüllen muss. Ein Durchschnittswissenschaftler kann diese Herausforderungen keineswegs ohne Weiteres erfüllen. Vielleicht liegt darin der Grund, warum Wissenschaftler nicht einmal den Versuch unternehmen, Steiners Angaben durch ihre konkrete praktische Anwendung zu überprüfen. Vielleicht haben sie eine mehr oder weniger bewusste Angst vor dem Scheitern und wollen lieber die Herausforderung als Märchen, als Einbildung eines Fantasten herunterspielen? Solange keine neuen Geistesforscher bzw. Eingeweihten sich der Welt bekannt machen, wird Steiners übersinnlicher Erkenntnisweg allerdings mit Zweifel belastet sein. Das wird sich erst ändern, wenn viele von der wissenschaftlichen Erforschung des geistigen „ Amerikas “ erzählen und damit erkennen lassen, dass eine solche Erforschung möglich ist. Mit der Zeit werden sich sicher solche Wanderer im Geiste auf den Weg machen, Menschen, die bereit sind, in Rudolf Steiners Fußstapfen zu treten. inhaltlicher Überschneidungen die beiden Autoren methodisch betrachtet auf zwei völlig verschiedenen Planeten leben. Wo Blavatsky bereitwillig zugibt, dass die Quelle ihrer Einsichten alte Manuskripte seien ( „ Vor der Autorin liegt ein uraltes Manuskript, eine Sammlung von Palmblättern, die durch ein unbekanntes spezielles Verfahren gegen Einwirkung von Wasser, Feuer und Luft geschützt sind “ , Blavatsky 1888, S. 73; ob diese Aussage stimmt oder nicht, sei hier dahingestellt), dass sie es also ist, die abschreibt, weist Steiner wiederholt darauf hin, dass er nur die Ergebnisse eigener Forschung vermittelt. Wo sich Blavatskys Werke als manchmal interessante, manchmal fragwürdige Erzählungen lesen, sind Steiners geschriebene geisteswissenschaftlichen Werke streng wissenschaftlich verfasste Abhandlungen. 11 Übersinnliche Forschungsmethoden 1323 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Naturwissenschaft: Glaubenssache In diesem Kapitel werde ich in möglichst knapper Form die wichtigsten Ergebnisse der Erforschung der natürlichen und der geistigen Welt mittels der im vorigen Kapitel dargestellten übersinnlichen Erkenntnismethoden der Imagination, Inspiration und Intuition wiedergeben, wie sie von Steiner in seinen Vorträgen und Schriften dargestellt wurden. Dieses Vorhaben verlangt zumindest eine Vorbemerkung: Man könnte meinen, dass die Ergebnisse von Rudolf Steiners geisteswissenschaftlicher Forschung lediglich für diejenigen relevant sind, die sich für sie interessieren, die an sie „ glauben “ , kurz: für die sog. Anthroposophen. Die verbleibende (überwältigende) Mehrheit der Menschheit gehen diese Ergebnisse nichts an, sie haben also in einem wissenschaftlichen Werk, wie es das vorliegende zu sein beansprucht, nichts zu suchen. Ich bin anderer Meinung. Ich bin dezidiert davon überzeugt, dass diese Ergebnisse alle Menschen betreffen und unbedingt so schnell und so breit wie möglich bekannt gemacht werden sollten, denn sie haben Essentielles beizutragen zu unserem Verständnis der uns umgebenden Welt. Es handelt sich bei ihnen nämlich nicht um Hirngespinste eines Sonderlings, sondern - wie im vorigen Kapitel nachgewiesen - um wissenschaftliche Wahrheiten. Und so wie die Wahrheiten gewöhnlicher Wissenschaft unser Leben entscheidend geprägt, verändert, bereichert haben, so werden auch die Wahrheiten der Geisteswissenschaft, wenn sie breite Akzeptanz finden, Wesentliches zu unserer Lebensführung, zu unzähligen praktischen Entscheidungen, die tagtäglich getroffen werden, beitragen und somit entscheidend helfen, die tiefe Krise, in der sich unsere heutige Zivilisation gegenwärtig in vielerlei Hinsicht befindet (vgl. dazu das Kapitel „ Die Zukunft der Menschheit “ ), zu überwinden. Beispiele solcher praktischen Konsequenzen der geisteswissenschaftlichen Einsichten für das allgemeine öffentliche Leben werde ich im nächsten Kapitel geben. Hier möchte ich noch darauf aufmerksam machen, dass sich die Rolle der Geisteswissenschaft Steiners im heutigen öffentlichen Leben im Wesentlichen nicht von der Rolle der heute anerkannten akademischen Wissenschaft unterscheidet. Es wird allgemein akzeptiert, dass die Forschungsergebnisse dieser Wissenschaft die öffentliche Entscheidungsfindung beeinflussen. Ja, die Hilfe der Wissenschaft wird - z. B. im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung oder der Zulassung neuer Medikamente und genmanipulierter Organismus - von den politischen Entscheidungsträger aktiv gesucht. Denn man brauche doch, so wird gesagt, eine rationale Urteilsgrundlage, um solche schwierigen Entscheidungen zu treffen, und eine rationale, objektive, vorurteilslose, unparteiische Urteilsgrundlage könne nur von der Wissenschaft geliefert werden. Die Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft dürfen keine Rolle im öffentlichen Leben spielen, denn diese seien ebenso eine Sache des Glaubens wie die Religionen. Betrachtet man jedoch die Realitäten des heutigen öffentlichen Lebens nüchtern, so stellt man fest, dass für die überwältigenden Mehrheit der Entscheidungsträger wie allgemeiner der breiten Öffentlichkeit auch die Forschungsergebnisse der akademischen Wissenschaft nichts anderes als Glaubensartikel sind. Denn welcher Politiker oder gar welcher „ Mann auf der Straße “ weiß, wie die Forschungsergebnisse der akademischen Naturwissenschaft zustande kommen? Die Methoden und Instrumente, welche in der Wissenschaft Anwendung finden, sind so komplex geworden, dass es einem Laien schlicht unmöglich ist, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob die in den wissenschaftlichen Zeitschriften publizierten Forschungsergebnisse stichhaltig oder nicht stichhaltig, wahr oder falsch sind. Betrachten wir nur zwei Beispiele wissenschaftlicher Forschungsergebnisse, nicht weil sie komplexer und weniger verständlich als die meisten anderen sind, sondern deshalb, weil sie in der Öffentlichkeit hohe Wellen geschlagen haben. Am 4. Juni 2012 hat CERN bekanntgegeben, dass ein neues Teilchen entdeckt worden sei, dessen Parameter dem lange gesuchten Higgs- Boson, dem sog. „ Gottesteilchen, entsprechen. Diese Entdeckung wurde dann im März 2013 in einer großangelegten Pressekonferenz bestätigt. Im gleichen Jahr erhielten Peter Higgs und François Englert den Nobelpreis für Physik „ for the theoretical discovery of a mechanism that contributes to our understanding of the origin of mass of subatomic particles, and which recently was confirmed through the discovery of the predicted fundamental particle, by the ATLAS and CMS experiments at CERN ’ s Large Hadron Collider “ 459 . Welcher Nichtfachmann weiß aber, warum diese Entdeckung so wichtig war? Wer kann sagen, welche Rolle das Higgs-Boson im sog. Standardmodell der Partikelphysik spielt? Welcher Laie versteht diese Theorie? Welcher kann die Forschungsmethoden nachvollziehen, mit denen das Teilchen entdeckt wurde? Ich werde sicher niemanden kränken, wenn ich behaupte, dass keiner (mich eingeschlossen) dazu imstande ist. Betrachten wir ein zweites Beispiel: Anfang 2014 ging die Nachricht um die Welt, dass die Forscher einer amerikanischen Sternwarte auf der Antarktis die Spuren einer bestimmten Form der kosmischen Hintergrundstrahlung entdeckt haben, welche die sog. Inflationstheorie der Entstehung des Universums bestätigte. Die Nachricht wurde sofort über die ganze Welt verbreitet. (Big Bang boost W0314; Big Bang traces NYT0314; Big Bang traces BBC180314 alle in: Science News 032014). Das Schweizer Radio und Fern- 459 http: / / www.nobelprize.org/ nobel_prizes/ physics/ laureates/ 2013/ (heruntergeladen am 20. 3. 2013). 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1325 sehen (SRF) berichtete am 21. 3. 2014 folgendermaßen über diese Entdeckung: 460 Warum sieht das Universum in alle Himmelsrichtungen sehr ähnlich aus? Viele Astrophysiker glauben, dass es ganz zu Beginn, in den allerersten Sekundenbruchteilen des Urknalls, eine Inflation durchgemacht hat - eine irrsinnige und unglaublich schnelle Ausdehnung jenseits menschlicher Vorstellungskraft, die dem Universum seine einheitliche Gestalt gab. Eine verlockende Theorie - mit einem Haken: Es gibt dazu kaum Daten, weil uns kaum Strahlungssignale aus jener Zeit vor gut 13,8 Milliarden Jahren erreichen. Doch nun ist es einem Forscherteam gelungen, solche Signale einzufangen; mit BICEP2, einem Teleskop, das in der Nähe des Südpols steht. Konkret haben die Forscher die kosmische Hintergrundstrahlung angeschaut. Das ist eine Art Schnappschuss des Urknalls; die älteste Strahlung, die wir aus dem Weltall empfangen. Durch ihre Analyse kann man sehr weit in der Zeit zurückschauen. Mit ihrem Teleskop haben die Forscher in dieser Strahlung nach einem ganz konkreten Muster gesucht - und wurden tatsächlich fündig. Das ist eine kleine Sensation, denn dieses Muster ist sehr schwach und schwer zu sehen. Sensationell an dem Muster ist zudem, dass es dafür nur eine wirklich stichhaltige Erklärung gibt: Gravitationswellen. Diese Wellen haben der Theorie zufolge am Beginn des Universums den Raum gestreckt und gedehnt - und der kosmischen Hintergrundstrahlung jenes spezielle Muster aufgeprägt, das die Forscher mit ihrem Teleskop am Südpol suchten und fanden. Und woher stammen wiederum die Gravitationswellen? Eben aus der Inflation, der Phase der gewaltigen und rasanten Aufblähung. 461 In der Pressemitteilung des Schweizer Radio und Fernsehers SRF erfahren wir ferner Folgendes über die kosmische Hintergrundstrahlung: Diese Strahlung entstand kurz nach dem Urknall. Sie war zuerst in der heißen Ur- Suppe gefangen, die das Universum damals ausfüllte. Erst gut 400.000 Jahre nach dem Urknall bildeten sich Atome aus der Ur-Suppe. Das Universum wurde durchsichtig; die Strahlung konnte entfliehen. Seither wandert sie durchs All. Und erneut kann man fragen: Welcher Laie weiß, was die Theorie der Hyperinflation besagt, wer kann ihre mathematische Formulierung nachvollziehen? Ferner: Was ist mit der kosmischen Hintergrundstrahlung konkret gemeint, warum soll sie überhaupt im Kosmos vorhanden sein? Was soll man sich konkret unter Gravitationswellen vorstellen und wie soll das Muster in diesen Gravitationswellen aussehen, nach welchem die Forscher gesucht haben? Und wiederum lautet die Antwort auf diese Frage sicherlich: Keiner (mich eingeschlossen) weiß das. 462 460 Für mein Argument ist unerheblich, dass sich diese „ Entdeckung “ später als ein Artefakt entpuppte (Nature 16. 10. 2014). 461 http: / / www.srf.ch/ wissen/ natur/ news-vom-urknall-lauter-jubel-leise-skepsis (heruntergeladen am 31. 3. 2014). 462 Die Liste der Probleme der Inflationstheorie kann man beliebig ergänzen. Bei näherem Hinschauen erweist sich, dass diese Entdeckung uns Einblick in das Universum aus der 1326 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft In der Mitteilung des Schweizer Radios und Fernsehens wird erwähnt, dass die Entdeckung mit einem besonderen Teleskop namens BICEP2 gemacht wurde, und auf eine Webseite des Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics verwiesen, wo man Weiteres über dieses Teleskop finden kann. Dort erfahren wir Folgendes: BICEP2 builds on the small aperture telescope design of BICEP1, but greatly increases the number of detectors to increase mapping speed. The BICEP2 detectors are polarization sensitive bolometers made from a pair of transition edge sensors coupled to orthogonal phased antenna arrays. The transition edge sensors provide background-limited sensitivity at the observing frequency of 150 GHz while antenna arrays improve the scalability of the design. 463 Und wieder stellt sich die Frage: Wer weiß konkret, was dieses Instrument zu leisten fähig ist und was nicht? Was sind die möglichen Fehlerquellen bzw. Interpretationsschwierigkeiten usw.? Bereits diese zwei Beispiele sind ausreichend, um das von mir angesprochene Problem zu veranschaulichen: Für den „ Mann auf der Straße “ sind die Forschungsergebnisse der modernen Naturwissenschaft eine Glaubenssache. Die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse werden den Menschen verkündet wie früher religiöse Offenbarungen, mit dem Unterschied, dass früher die Offenbarungen aus dem Munde der Priester, Seher oder Mystiker flossen, während ihre Quelle heute die Wissenschaftler sind. Die Menschen haben zwar wenig Ahnung, wie die wissenschaftlichen Offenbarungen zustande kommen, sie glauben aber, dass die Wissenschaftler „ nach bestem Wissen und Gewissen “ forschen und ihre Forschungsergebnisse die Welt korrekt ( „ so wie sie wirklich ist “ ) abbilden. Das Problem geht aber noch tiefer: die Wissenschaftler verstehen sich nicht einmal untereinander. Ein Nobelpreisträger in Medizin und Physiologie wird höchstwahrscheinlich fast ebenso wenig Ahnung vom Higgs-Boson oder die Hyperinflationstheorie haben wie ein Astrophysiker von der Wirkungsweise der Mitochondrien. Ich habe bereits vor über dreißig Jahren mit einem führenden polnischen Nuklearphysiker gesprochen, der sich schon damals darüber beklagte, dass er sich auf seinem spezifischen Gebiete nur mit einem Handvoll Spezialisten in der Welt austauschen könne. Seit dieser Zeit ist die Spezialisierung und Aufsplitterung der wissenschaftlichen Forschung wesentlich weiter fortgeschritten. Doch selbst diejenigen erweisen sich als überfordert, die sich eigentlich auskennen sollten. Wir haben gesehen, dass sich in der letzten Zeit Fälle von wissenschaftlichem Betrug mehren, dass immer öfter in den wissenschaft- Zeit von einem Billionstel eines Billionstels einer billionstel Sekunde nach dem Urknall gewährt (Carroll 2014). Können wir dies wirklich nachvollziehen? Zudem ist die Inflationstheorie eng mit der Multiversen-Theorie verknüpft. Kann ein Laie rational über den Wahrheitsgehalt dieser Theorie entscheiden? 463 http: / / www.cfa.harvard.edu/ CMB/ bicep2/ (heruntergeladen am 31. 3. 2014). 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1327 lichen Zeitschriften Artikel veröffentlicht werden, die sich als Betrug oder zumindest als „ gemogelt “ herausstellen. Diese Artikel wurden aber vor ihrer Veröffentlichung von Spezialisten begutachtet! Wenn nicht einmal sie imstande sind, „ die Spreu vom Weizen zu trennen “ , wer dann? Man versteht also die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung nicht ganz, man hat eigentlich wenig Ahnung, wie diese Ergebnisse zustande gekommen sind, und ist auch nicht imstande, die Ergebnisse zu reproduzieren. Man ist aber bereit, den Wissenschaftlern und ihren Methoden zu glauben und wichtige praktische Entscheidungen von den Resultaten ihrer Forschungen abhängig zu machen. Nun, ich möchte behaupten, dass sich in dieser Hinsicht die Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft nicht wesentlich von den Forschungsergebnissen der Naturwissenschaft unterscheiden. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass sowohl die Ergebnisse als auch der Forschungsweg der Geisteswissenschaft für „ den Mann auf der Straße “ eher nachzuvollziehen sind als jene der Naturwissenschaft. Ich habe im vorigen Kapitel die Forschungsmethoden der Geisteswissenschaft dargestellt und ich hoffe, dass diese Darstellung nicht schwerer, sondern für das breite Publikum leichter verständlich als die Darstellung der Einzelheiten der Arbeitsweise eines modernen Computers, eines Teilchenbeschleunigers oder eines BICEP2-Teleskops war. Und so wie der Laie in „ groben Zügen “ ein Verständnis für ein Higgs-Boson oder für die Gravitationswellen entwickeln kann (in „ groben Zügen “ haben wir die Ausführungen über die Strahlung, welche eine Spur der Hyperinflation sein soll, ja verstanden), so kann man, und zwar in wesentlich stärkerem Maß, ein Verständnis für die Forschungsresultate der Geisteswissenschaft entwickeln. Folglich scheint es mir angebracht, sich in Bezug auf die Forschungsresultate der übersinnlichen Forschung zu sagen: Selbst wenn wir gegenwärtig nicht imstande sind, diese Forschungswege zu begehen, sind wir bereit, wichtige praktische Entscheidungen zu treffen, welche auf sie gestützt sind, weil diese Forschungsergebnisse uns glaubwürdig und zuverlässig erscheinen. Was ich hier ausgeführt habe, ist nicht neu. Es entspricht in etwa der Haltung Rudolf Steiners in Bezug auf das Verhältnis zwischen den Forschungsresultaten der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft. Bereits Steiner hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Menschen an die Wissenschaft eher glauben, als dass sie ihre Forschungsresultate überschauen (GA243, S. 222). Er hat überdies herausgestellt, dass die Forschungsresultate der Geisteswissenschaft, obwohl sie schwer in eigenständiger Erkenntnisbemühung zu reproduzieren sind, 464 für jeden verständlich sind, der sie verstehen will (ebd., S. 219). Rudolf Steiner betonte stets, dass man nicht Geistesforscher zu sein braucht, um die Ergebnisse der Geistesfor- 464 In der Tat braucht man dafür die richtigen bzw. günstigen Voraussetzungen aus den vorigen Inkarnationen (ebd., S. 225). 1328 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft schung verstehen zu können, so wenig wie man Wissenschaftler sein muss, um die Ergebnisse der Wissenschaft verstehen zu können. 465 Es gibt aber selbstverständlich einen wesentlichen Unterschied zwischen den Ergebnissen der geisteswissenschaftlichen und den Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschung, welcher gegen erstere spricht. Jeder Laie kann sagen: Wenn er im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen getroffen hätte, hätte er die Möglichkeit gehabt, sich zum Wissenschaftler einer bestimmten Fachrichtung ausbilden zu lassen. Der verhältnismäßig breite Zugang zur wissenschaftlichen Ausbildung und die Tatsache, dass Forschungen entlang mehr oder weniger gemeinsamen Bahnen verlaufen und sich Forschungsergebnisse konsequenterweise gegenseitig stützen, spricht für die Naturwissenschaft und gegen die Geisteswissenschaft, innerhalb der Steiner immer noch ziemlich allein steht. Dass sich dies ändert, ist aber, wie ich bereits angedeutet habe, lediglich eine Frage der Zeit. Am Anfang der Naturwissenschaft standen auch vereinzelte Forscher, überragende Geister wie Galileo Galilei und Johannes Kepler, und es dauerte gut 200 Jahre, bis sich die Wissenschaft zu einem breiten Beruf entwickelte. Was die übersinnliche Forschung anbetrifft, so pflegte der im letzten Kapitel erwähnte Robert Walter zu sagen, dass es nicht schwieriger sei, sich ein Maß an Hellsehen anzuerziehen, als eine Doktorarbeit zu schreiben. 466 Wer aber ist heute bereit, einige Jahre seines Lebens einem solchen Zweck zu widmen, wenn man dafür kein Stipendium bekommt, sein Lebensunterhalt irgendwie verdienen muss und am Ende dieser „ Doktorarbeit “ kein gute Aussichten auf eine lukrative Karriere winken? Tatsächlich wurden geisteswissenschaftliche Forschungsergebnisse bereits zur Grundlage praktischer Anwendungen gemacht, und diese haben sich als fruchtbar für das Leben erwiesen. Es genügt, an die Erfolge der biodynamischen Landwirtschaft, der Rudolf-Steiner-Pädagogik und Rudolf- Steiner-Heilpädagogik zu erinnern. Die Möglichkeiten der praktischen Verwertung der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse sind damit aber bei weitem nicht erschöpft. Im Gegenteil: Jeder Tag bietet neue Herausforderungen und damit neue Möglichkeiten des Einsatzes. Daher hatte Steiner völlig recht, wenn er behauptete, dass es ein Irrtum sei zu meinen, dass die Geisteswissenschaft einen nichts angehe (GA243, S. 226). Es gibt zudem mindestens zwei weitere Gründe, warum man von der Kenntnis der Forschungsresultate der Geisteswissenschaft profitieren kann: Zum einen wird das Leben verständlicher und man gewinnt dadurch Kraft und Mut, um mit den persönlichen Herausforderungen des Alltags fertig zu werden. Auch die Schicksalsschläge, Enttäuschungen, Niederlagen, allerlei leidvolle Erlebnisse erscheinen in einem neuen Licht und werden erträglicher. Zum anderen 465 Vgl. z. B. GA52, S. 369; GA62, S. 145, 408; GA63, S. 400; GA138, S. 120; GA153, S. 120 usw. 466 Er meinte wohl die recht anfänglichen Stufen der Hellsichtigkeit. Ihre höchsten Errungenschaften sind, wie wir gesehen haben, äußerst schwierig zu erreichen. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1329 führt das Studium dieser Resultate dazu, dass sich die Fähigkeiten, in die geistige Welt zu schauen, entwickeln und reifen. Steiner hat auf diese Eigenschaft der geisteswissenschaftlichen Forschungsresultate in den am Ende seines Lebens niedergeschriebenen sog. „ anthroposophischen Leitsätzen “ hingewiesen: Es handelt sich ja nicht darum, dass der anthroposophische Inhalt nur äußerlich angehört oder gelesen werde, sondern dass er in das lebendige Seelenwesen aufgenommen werde. Im Fortdenken und Fortfühlen des Aufgenommenen liegt ein Wesentliches. [. . .] Man sagt nur mit scheinbarem Recht: was nützt es mir, noch soviel von geistigen Welten zu hören, wenn ich nicht selbst in solche Welten hineinschauen kann. Man berücksichtigt dabei nicht, dass dieses Hineinschauen gefördert wird, wenn über die Verarbeitung des anthroposophischen Inhaltes so gedacht wird, wie es hier angedeutet ist. Die Vorträge am Goetheanum sind so gehalten, dass ihr Inhalt lebendig und frei in den Gemütern der Zuhörer fortwirken kann. Und so ist auch der Inhalt der Zyklen. Da ist kein totes Material zur bloßen äußeren Mitteilung; da ist Stoff, der unter verschiedene Gesichtspunkte gerückt das Schauen in geistige Welten anregt. Man sollte nicht glauben: den Inhalt der Vorträge höre ich an; die Erkenntnis der geistigen Welt eigne ich mir durch Meditation an. So wird man nie im wahren Sinne weiterkommen. Beides muss in der Seele zusammenwirken. Und das Fortdenken und Fortfühlen des anthroposophischen Inhaltes ist auch Seelenübung. Man lebt sich in die geistige Welt schauend hinein, wenn man so, wie es hier gesagt ist, mit diesem Inhalt verfährt. (GA26, S. 55f. Vgl. GA243, S. 225 467 ) Aus diesem Grund verstand Steiner das Studium der Forschungsresultate der Geisteswissenschaft als erste Etappe auf dem Weg der Entwicklung eigener übersinnlicher Erkenntnisfähigkeiten, die zur imaginativen Erkenntnisfähigkeit (im Sinne des vorigen Kapitels) führt (GA13, S. 393). Robert Walter hat mir einmal in einem persönlichen Gespräch gesagt, dass er Geisteswissenschaft einundzwanzig Jahre lang studierte, bevor er so weit war, dass er eigene übersinnliche Forschungsergebnisse hatte. Es gibt aber noch einen anderen Grund, die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sich in sie zu vertiefen. Für Rudolf Steiner war die Rezeption dieser Erkenntnisse nicht 467 „ Es muß zunächst dasjenige erforscht werden, was aus der geistigen Welt erforscht werden soll, durch diejenigen Menschen, die in ihrem gegenwärtigen Leben Kräfte zu Hilfe nehmen können aus früheren Inkarnationen, die sie befähigen, dasjenige heraufzubringen, was notwendig ist, um zu forschen; daß ferner das, was so erforscht wird, von einer Anzahl von Menschen, von immer mehr und mehr Menschen aufgenommen werde, verstanden werde in Ideen, wie es verstanden werden kann; und daß dadurch, wenn in gesundem Verstehen das spirituell Erforschte aufgenommen wird, gerade für diese anderen Menschen aus dem Verstehen heraus die Grundlage geschaffen wird, auch wirklich in die geistige Welt hineinzuschauen. - Denn ich habe es ja oftmals ausgesprochen: Es ist der gesündeste Weg, um wirklich in die geistige Welt hineinzukommen, sich zunächst mit der Lektüre zu befassen oder mit dem Aufnehmen dessen, was aus der geistigen Welt verkündet wird. “ 1330 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft allein eine Vorbereitung für das eigene übersinnliche Schauen. Sie ist vielmehr wichtig, ja entscheidend für die künftige Entwicklung der Menschheit: Heute leben wir in einem Zeitalter, in dem es dem Menschen, der ganzen Menschheit besonders vorgesetzt ist, geistige Tatsachen unmittelbar als geistige Tatsachen zu ergreifen; das heißt, die Initiationswissenschaft, die hineinschaut in das geistige Leben, unmittelbar äußerlich als Menschenerkenntnis zu verbreiten. Dieses Zeitalter, das ja eben erst angefangen hat, darf nicht ablaufen, ohne daß in rein geistiger Weise diejenigen, die man gebildete Menschen nennt, die hauptsächlichsten zu erreichenden geistigen Tatsachen, also nicht die irdischen, nicht die physisch-sinnlichen Tatsachen, sondern diese geistigen Tatsachen wirklich erkennen. Es muß also von jetzt ab für dieses Zeitalter ein energisches Vertreten von einer unmittelbar in die geistige Welt hineinleuchtenden Geisteswissenschaft vorhanden sein, sonst würde die Menschheit auf Erden ihre Aufgabe in dem ihr vorgesetzten Sinne gar nicht erreichen können. Wir müssen in ein spirituelles Zeitalter immer mehr und mehr einlaufen. (GA243, S. 138) Schließlich möchte ich hier eine kleine persönliche Bemerkung anfügen. Obschon ich nicht behaupten kann, dass ich solche Forschungsergebnisse ebenfalls aufweisen kann, kann ich mit eigener Erfahrung bezeugen, dass das Studium dieser Ergebnisse tatsächlich Veränderungen in meiner Seele bewirkt. Da ich ebenfalls schon „ Lichtblicke “ geistiger Erfahrungen hatte, sind für mich die Ergebnisse, welche ich demnächst schildern werde, nicht sonderbare Märchen, welche von einem Sonderling erzählt werden, sondern vielmehr Berichte eines vertrauenswürdigen Reisenden aus einem Land, das ich zwar noch nie (richtig) gesehen habe, das ich aber hoffe, demnächst besuchen zu können. Aus dieser persönlichen Bemerkung ergibt sich eine Art methodische Vorbemerkung, welche ich meinen weiteren Ausführungen vorausgehen lassen möchte. Ich werde im Weiteren die erzählende Form verwenden ( „ Es ist so und so “ ), nicht die umschreibende Form ( „ Steiner behauptet/ stellt fest “ bzw. „ Geisteswissenschaft behauptet/ stellt fest “ ) verwenden. Diese Form scheint mir aus zwei Gründen angebracht. Nach etwa 40 Jahren des Studiums der geisteswissenschaftlichen Forschung Steiners bin ich von der Richtigkeit ihrer Ergebnisse überzeugt. Steiner hat immer darauf hingewiesen, dass keine eigenen übersichtlichen Erkenntnisfähigkeiten nötig sind, um seine Forschungsergebnisse zu überprüfen. Bekanntlich muss die Erde nicht auf einer riesigen Schildkröte stehen, um im leeren kosmischen Raum nicht herunterzufallen. Dasselbe gilt für alle Himmelskörper: Sie brauchen keine Stütze, sie tragen sich gegenseitig. Ebenso gilt für die Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft: Ihre Ergebnisse bewahrheiten sich, indem sie sich gegenseitig stützen und tragen. 468 468 Vgl. z. B. GA21, S. 53; GA82, S. 250; GA243, S. 228f., 232; GA346, S. 44f. usw. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1331 Der andere Grund ist dieser: Im heutigen Diskurs wird in Bezug auf die Forschungsergebnisse der Naturwissenschaft durchweg in der Form gesprochen: „ Das Gehirn speichert/ entscheidet “ und nicht „ Die Wissenschaftler/ die Wissenschaft behauptet, dass das Gehirn speichert/ entscheidet “ oder „ Der Mensch stammt von den Affen ab “ und nicht „ Die meisten Wissenschaftler behaupten, dass der Mensch von den Affen abstammt “ . Was für die meisten Menschen heute als Wahrheit gilt, wird ohne Vorbehalt dargestellt. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass diejenigen, für die die Forschungsresultate der Geisteswissenschaft ebensolche Wahrheit geworden sind, wie sie die Naturwissenschaften für andere sind, sich ebensolcher Formen bedienen, umso mehr, als es, wie im vorigen Kapitel dargelegt, sehr gute Gründe für die Ansicht gibt, dass die Forschungsresultate der Geisteswissenschaft objektiver und zuverlässiger, also wissenschaftlicher als die Forschungsresultate der heutigen Naturwissenschaft sind. Diese Bemerkung sollte aber nicht so verstanden werden, dass ich der Meinung bin, die Forschungsergebnisse Steiners keine Fehler enthalten können. Davon war auch Steiner durchaus nicht überzeugt. Dies ist gilt aber auch für die Forschungsresultate der Wissenschaft. Einige Forschungsresultate der Geisteswissenschaft Ich möchte die Betrachtung der wichtigsten Forschungsresultate der Geisteswissenschaft mit einer längeren „ Leseprobe “ aus Rudolf Steiners klassischer Schrift Geheimwissenschaft im Umriss anfangen. Dies deshalb, weil, wie wir es im Kapitel „ Was ist Wissenschaft “ gesehen haben, den nichtmaterialistischen Erklärungen der Phänomene der Erfahrungswelt oft vorgeworfen wird, dass es ihnen am Erklärungsdetail mangele und sie oft auf das Mantra „ God did it, and his ways are mysterious “ reduziert werden können. Wenn man die Erklärungen der Geisteswissenschaft für das breite Publikum darstellt, versucht man dies natürlich so allgemein verständlich wie nur möglich zu machen. Überdies versucht man, sie in einer möglichst kompakten Form zu präsentieren. Dabei vereinfacht man gezwungenermaßen stark dasjenige, was für Personen, welche mit den Mitteilungen der Geisteswissenschaft vertraut sind, auf einer völlig anderen Ebene dargestellt werden könnte. Der Vorgang, der hier zum Tragen kommt, kann man mit der Arbeit eines Journalisten vergleichen, der einen Artikel aus einer Fachzeitschrift für eine Zeitung oder eine populärwissenschaftliche Zeitschrift in einer allgemein verständlichen Form umschreibt. Um nun nicht den Eindruck zu erwecken, dass die Geisteswissenschaft nichts anderes als populärwissenschaftliche Literatur ist, ist es sinnvoll, eine längere Passage „ im Wortlaut “ zu zitieren, so dass sich der Leser/ die Leserin eine Vorstellung bilden kann, mit welch hoher Erklärungskomplexität man es hier zu tun hat. Die angeführte Passage beschreibt den Anfang der Entwicklung der Erde in ihrer ersten „ Inkarnation “ , die Rudolf Steiner als „ Saturn “ bezeichnet. Manches wird hier 1332 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft für den Leser/ die Leserin wahrscheinlich zunächst recht unverständlich sein; es könnte aber hilfreich sein, zu dieser Passage zurückzukehren, nachdem man einige nachfolgenden Abschnitte, und insbesondere den Abschnitt „ Geschichte der Entwicklung der Menschheit “ gelesen hat. Die Wesenheiten, deren sich das übersinnliche Erkennen bei der Betrachtung des Saturn bewußt wird, waren auf einer ganz anderen Entwickelungsstufe als die gegenwärtigen, sinnlich wahrnehmbaren Erdenwesen. Da stellen sich vor dieses Erkennen zunächst Wesen hin, welche einen physischen Leib nicht hatten wie der gegenwärtige Mensch. Man muß sich nun auch hüten, an die gegenwärtige physische Körperlichkeit des Menschen zu denken, wenn hier von „ physischem Leibe “ die Rede ist. Man muß vielmehr sorgfältig unterscheiden zwischen physischem Leib und mineralischem Leib. Ein physischer Leib ist derjenige, welcher von den physischen Gesetzen beherrscht wird, die man gegenwärtig in dem Mineralreiche beobachtet. Der gegenwärtige physische Menschenleib ist nun nicht bloß von solchen physischen Gesetzen beherrscht, sondern er ist außerdem noch durchsetzt von mineralischem Stoffe. Von einem solchen physisch-mineralischen Leib kann auf dem Saturn noch nicht die Rede sein. Da gibt es nur eine physische Körperlichkeit, die von physischen Gesetzen beherrscht ist; aber diese physischen Gesetze äußern sich nur durch Wärmewirkungen. Also der physische Körper ist ein feiner, dünner, ätherischer Wärmekörper. Und aus solchen Wärmekörpern besteht der ganze Saturn. Diese Wärmekörper sind die erste Anlage des gegenwärtigen physisch-mineralischen Menschenleibes. Dieser hat sich aus jenem dadurch gebildet, daß dem ersteren sich die später erst gebildeten gasförmigen, flüssigen und festen Stoffe eingegliedert haben. Unter den Wesen, die sich vor das übersinnliche Bewußtsein in dem Augenblicke hinstellen, in dem dieses Bewußtsein den Saturnzustand vor sich hat, und von denen man als Satumbewohner außer dem Menschen reden kann, sind zum Beispiel solche, welche einen physischen Leib überhaupt nicht nötig hatten. Das unterste Glied ihrer Wesenheit war ein Ätherleib. Sie hatten dafür auch ein Glied über die menschlichen Wesensglieder hinaus. Der Mensch hat als höchstes Glied den Geistesmenschen. Diese Wesen haben noch ein höheres. Und zwischen Ätherleib und Geistesmenschen haben sie alle in dieser Schrift geschilderten Glieder, welche sich auch beim Menschen finden: Astralleib, Ich, Geistselbst und Lebensgeist. Wie unsere Erde von einem Luftkreis umgeben ist, so war es auch der Saturn; nur war bei ihm dieser „ Luftkreis “ geistiger Art. 469 Er bestand eigentlich aus den eben genannten und noch andern Wesenheiten. Es gab nun eine fortwährende Wechselwirkung zwischen den Wärmekörpern des Saturn und den charakterisierten Wesen. Diese senkten 469 Rudolf Steiner fügt dieser Formulierung die folgende Fussnote zu: „ Eine ganz genaue Sprechweise müßte, um das innere Erleben bei der Geistesforschung exakt auszudrücken, statt ‚ der Saturn war von einem Luftkreis umgeben ‘ sagen: ‚ Indem das übersinnliche Erkennen sich des Saturn bewußt wird, stellt sich vor dieses Bewußtsein auch ein Luftkreis des Saturn ‘ oder ‚ stellen sich andere, so oder so geartete Wesen ‘ . Die Umsetzung in die Redewendung: ‚ dies oder das ist da ‘ muß gestattet sein, denn im Grunde findet dieselbe Umsetzung auch in der Ausgestaltung des Sprachgebrauchs für das wirkliche Seelenerlebnis bei der sinnenfälligen Wahrnehmung statt, aber man wird gegenüber der folgenden Darstellung sich dieses gegenwärtig halten müssen. Es ist ja auch schon aus dem Zusammenhang der Darstellung gegeben. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1333 ihre Wesensglieder in die physischen Wärmeleiber des Saturn hinein. Und während in diesen Wärmeleibern selbst kein Leben war, drückte sich das Leben ihrer Umwohner in ihnen aus. Man könnte sie mit Spiegeln vergleichen; nur spiegelten sich aus ihnen nicht die Bilder der genannten Lebewesen, sondern deren Lebenszustände. Im Saturn selbst hätte man also nichts Lebendiges entdecken können; doch wirkte er belebend auf seine Umgebung des Himmelsraumes, da er in diese wie ein Echo das ihm zugesandte Leben zurückstrahlte. Der ganze Saturn erschien wie ein Spiegel des Himmelslebens. Sehr hohe Wesenheiten, deren Leben der Saturn zurückstrahlt, mögen „ Geister der Weisheit “ genannt werden. (In der christlichen Geisteswissenschaft führen sie den Namen „ Kyriotetes “ , das ist „ Herrschaften “ .) Ihre Tätigkeit auf dem Saturn beginnt nicht erst mit der geschilderten mittleren Epoche von dessen Entwickelung. Sie ist in einer gewissen Weise sogar da schon abgeschlossen. Bevor sie dazu kommen konnten, aus den Wärmekörpern des Saturn sich der Spiegelung ihres eigenen Lebens bewußt zu werden, mußten sie diese Wärmekörper erst dazu bringen, diese Spiegelung bewirken zu können. Deshalb setzte ihre Tätigkeit bald nach dem Beginn der Saturnentwickelung ein. Als dies geschah, war die Saturnkörperlichkeit noch ungeordnete Stofflichkeit, die nichts hätte spiegeln können. - Und indem man diese ungeordnete Stofflichkeit betrachtet, hat man sich durch die geistige Beobachtung an den Anfang der Saturnentwickelung versetzt. Das, was da zu beobachten ist, das trägt nun noch gar nicht den späteren Wärmecharakter. Man kann, wenn man es charakterisieren will, nur von einer Eigenschaft sprechen, welche sich vergleichen läßt mit dem menschlichen Willen. Es ist durch und durch nichts als Wille. Man hat es also da mit einem ganz seelischen Zustande zu tun. Soll man verfolgen, woher dieser „ Wille “ kam, so sieht man ihn entstehen durch den Ausfluß erhabener Wesen, die ihre Entwickelung in nur zu erahnenden Stufen bis zu der Höhe gebracht haben, daß sie, als die Saturnentwickelung begann, aus ihrem eigenen Wesen den „ Willen “ ausströmen konnten. Nachdem diese Ausströmung eine Zeitlang gedauert hatte, verbindet sich mit dem Willen die Tätigkeit der oben charakterisierten «Geister der Weisheit». Dadurch erhält allmählich der vorher ganz eigenschaftslose Wille die Eigenschaft, Leben in den Himmelsraum zurückzustrahlen. - Man kann die Wesen, welche ihre Seligkeit darin empfinden, im Beginne der Saturnentwickelung Willen auszuströmen, die „ Geister des Willens “ nennen. (In der christlichen esoterischen Wissenschaft werden sie „ Throne “ genannt.) - Nachdem durch das Zusammenwirken des Willens und des Lebens eine gewisse Stufe der Saturnentwickelung erreicht ist, setzt die Wirkung anderer Wesen ein, welche sich ebenfalls im Umkreise des Saturn befinden. Man kann sie die „ Geister der Bewegung “ nennen. (Christlich: „ Dynameis “ , „ Mächte “ .) Sie haben keinen physischen und keinen Lebensleib. Ihr niedrigstes Glied ist der Astralleib. Wenn die Saturnkörper die Fähigkeit erlangt haben, das Leben zu spiegeln, so vermag sich dieses zurückgestrahlte Leben zu durchdringen mit den Eigenschaften, welche in den Astralleibern der „ Geister der Bewegung “ ihren Sitz haben. Die Folge davon ist, daß es so erscheint, als ob Empfindungsäußerungen, Gefühle und ähnliche seelische Kräfte von dem Saturn in den Himmelsraum hinausgeschleudert würden. Der ganze Saturn erscheint wie ein beseeltes Wesen, das Sympathien und Antipathien kundgibt. Es sind aber diese seelischen Äußerungen keineswegs seine eigenen, sondern nur die zurückgeschleuderten seelischen Wirkungen der „ Geister der Bewegung “ . - Hat auch dieses eine gewisse 1334 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Epoche hindurch gedauert, so beginnt die Tätigkeit weiterer Wesen, welche „ Geister der Form “ genannt seien. Auch deren unterstes Glied ist ein Astralleib. Doch steht dieser auf einer andern Stufe der Entwickelung als derjenige der „ Geister der Bewegung “ . Während diese dem zurückgestrahlten Leben nur allgemeine Empfindungsäußerungen mitteilen, wirkt der Astralleib der „ Geister der Form “ (christlich: „ Exusiai “ , „ Gewalten “ ) so, daß die Empfindungsäußerungen wie von einzelnen Wesen in den Weltenraum hinausgeschleudert werden. Man könnte sagen, die „ Geister der Bewegung “ lassen den Saturn im ganzen wie ein beseeltes Wesen erscheinen. Die „ Geister der Form “ teilen dieses Leben in einzelne Lebewesen ab, so daß er jetzt wie eine Zusammenfügung solcher Seelenwesen erscheint. (GA13, S. 158 - 163) Nach dieser „ Leseprobe “ können wir jetzt zu der Betrachtung der wichtigsten Forschungsresultate der Geisteswissenschaft in einer stark vereinfachten Form übergehen. Die wahren Ursachen der Wirklichkeit sind erst in der geistigen Welt zu finden Die erste, elementarste Ergebnis der übersinnlichen Forschung besteht in der Einsicht, dass die wahren Ursachen der Wirklichkeit in der geistigen Welt zu finden sind, dass die Welt, so wie sie sich unseren leiblichen Sinnen offenbart, nur ein äußeres Kleid der wahren Wirklichkeit ist (GA113, S. 61). Steiner vergleicht das Verhältnis zwischen der sinnlichen Welt und der ihr zugrundeliegenden Welt des Geistes mit dem Verhältnis zwischen der Physiognomie des Menschen und dem ihr zugrunde liegenden und sie bestimmenden seelisch-geistigen Leben des Menschen. Die physische Welt ist in diesem Sinne nichts anderes als die Physiognomie des Geistes (GA104, S. 34, 35, 37). Eine fast logische Folge dieser Erkenntnis ist die Einsicht, dass die wahren Ursachen der Naturprozesse nicht innerhalb des durch die Sinne zu erschließenden Geschehens, sondern in der geistigen Welt, bei den geistigen Wesenheiten, welche in dieser Welt leben und walten, zu finden sind. In der Außenwelt, die dem Menschen für den äußeren Blick sehr häufig erscheinen kann wie ein buntes Gewirr der mannigfaltigsten Tatsachen, ist gar nichts, was nicht in einer weisen Art gelenkt wäre, nichts, wobei nicht geistige Wesenheiten, geistige Kräfte und geistige Tatsachen im Spiele wären; und man versteht alles, was da geschieht, nur, wenn man einsehen lernt, wie sich die geistigen Geschehnisse gruppiert haben unter der Lenkung jener Mächte, die charakterisiert worden sind von den verschiedensten Seiten her. (GA113, S. 94) 470 Diese Welt des Geistes erweist sich zumal als viel realer und auch viel schöner und intensiver als die Welt der Sinne: Wenn man Tote begleitet in [die geistige Welt], dann fühlt man alles doppelt schwer, dreifach schwer, dreifach hell, dreifach laut, alles viel realer, und die ganze 470 Vgl. auch GA35, S. 146f.; GA113, S. 12; 45f.; 71; GA173, S. 49 usw. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1335 physische Welt kommt einem recht schattenhaft vor. Wer in dieser Welt verkehrt durch das Initiatenbewusstsein, für den wird die physische Welt eine Summe von Gemälden, und es könnte schon sein, dass ein solcher Initiat, der aus seinen Aufgaben heraus viel in dieser Weise mit Toten verkehrt hat, Ihnen sagen würde: Ihr seid ja alle nur aufgemalt. Ihr seid ja gar keine Wirklichkeit. Da seid Ihr auf Euren Stühlen aufgemalt. - Denn die eigentlichen Wirklichkeiten, die entdeckt man erst da auf der anderen Seite des Daseins. Da ist alles viel realer. (GA243, S. 65f.) [D]ie Erdenrealität wird zur Illusion gegenüber der mächtigen Realität, die einem dann entgegentritt, wenn man eine Individualität nach dem Tode verfolgt, wo sie drinnensteht in [der geistigen] Welt [. . .]. (Ebd., S. 67. Vgl. ebd, S. 75) Die geistige Welt ist auch insofern reicher, als manche ihrer Aspekte keine unmittelbare Entsprechung in der sinnlichen Welt finden, weshalb man das Verhältnis zwischen der Welt des Geistes und der Welt der Sinne mit dem Verhältnis zwischen einem Ozean und den in ihm schwimmenden Eisbergen vergleichen kann (GA9, S. 114; vgl. auch GA113, S. 72). Bis jetzt habe ich undifferenziert von der „ geistigen Welt “ im Gegensatz zu der den leiblichen Sinnen zugänglichen Welt gesprochen, die man gewöhnlich als „ physische Welt “ bezeichnet. Diese Redeweise ist in gewissem Sinn berechtigt, erweist sich aber bei genauerer Betrachtung der Verhältnisse in jener Welt, die man nach dem Tod betritt, als ungenau. Denn es gibt nicht nur eine Dualität von physischer Welt und geistiger Welt, sondern, wie wir bereits gesehen haben, viel eher drei Welten mit drei Arten von Gesetzmäßigkeiten: die physischen Welt, die der Naturwissenschaft bekannt ist, die Seelenwelt, die mit den Phänomenen des seelischen Lebens des Menschen (Gefühle, Leidenschaften usw.) verwandt ist (GA9, S. 71 - 93), und die eigentliche geistige Welt, die in etwa dem entspricht, was in der abendländischen religiösen Tradition als „ der Himmel “ bezeichnet wird (ebd., S. 94 - 113). Die zwei transzendenten Welten, die Seelenwelt und die eigentliche geistige Welt, können weiter in je sieben Sphären untergliedert werden, woraus sich ein recht komplexes, hierarchisch angeordnetes Gebilde ergibt. Es besteht eine bestimmte Hierarchie, denn die geistigen Wesenheiten, die die übersinnlichen Welten hauptsächlich „ bewohnen “ (neben den geistigen Entelechien der noch nicht oder schon nicht mehr in einer irdischen Inkarnation befindlichen Menschen) weisen unterschiedliche Stufen der Entwicklung und Erhabenheit auf. Man kann von neun Haupthierarchien sprechen: Engel, Erzengel, Archai, Geister der Form bzw. Exusiai, Geister der Bewegung bzw. Dynamis, Geister der Weisheit bzw. Kyriotetes, Geister des Willens bzw. Throne, Geister der Harmonien bzw. Cherubine und Geister der Liebe bzw. Seraphine 471 . Wie den griechischen Bezeichnungen dieser Hierarchien zu 471 Der Ursprung dieses Namens liegt bei Dionysius Aeropagita. Der Leser wird sich daran erinnern, dass ich in der Würdigung des von Moreira-Almeida und Santos herausgegebenen Werkes Exploring Frontiers of Mind-Brain Relationship geschrieben habe, dass die in diesem Werk diskutierten Tatsachen nicht nur auf das Fortdauern der konkreten 1336 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft entnehmen ist, waren sie bereits dem Altertum bekannt. Am klarsten und ausführlichsten wurden sie von (Pseudo-)Dionysios Aeropagita dargestellt, einem christlichen Philosophen und Theologen, der vermutlich im späten 5. und Anfang des 6. Jahrhunderts n. Chr. lebte (in einem Werk, dessen Titel in englischer Übersetzung Mystical Theology and the Celestial Hierarchies lautet). Die Existenz einer ausgedehnten Hierarchie geistiger Wesenheiten wurde aber zweifelsohne auch noch im Mittelalter ernst genommen, wovon z. B. das wunderschöne Mosaik in der Kuppel des Baptisteriums von San Giovanni in Florenz vom Anfang des 13. Jahrhunderts zeugt. Dass sich die übersinnliche Welt in verschiedene Sphären bzw. Bereiche unterteilen lässt, war übrigens ebenfalls noch im Mittelalter allgemein bekannt, wie die Aufteilung der Hölle und des Himmels in je neun Kreise bzw. Sphären und des Läuterungsberges in sieben „ Terrassen “ in Dantes Göttlicher Komödie eindrücklich erkennen lässt. Eine weitere elementare Errungenschaft der geisteswissenschaftlichen Forschung ist die Einsicht, dass die „ Substanz “ der geistigen Welt dieselbe ist wie die „ Substanz “ der menschlichen Gedanken. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Gedanken, so wie wir sie im gewöhnlichen Bewusstsein wahrnehmen, kaum ihrem eigentlichen Sein entsprechen. Wir haben bereits gesehen, dass unsere gewöhnlichen Begriffe eigentlich nur Schatten der übersinnlichen Wirklichkeiten in unserer Seele sind: [Die Begriffe] entstehen dadurch, dass hinter unserer denkenden Seele die übersinnliche Wirklichkeit steht und auf diese Seele ihre Schattenbilder wirft. Und der Begriff ist eigentlich nichts anderes als das Auslöschen der übersinnlichen Wirklichkeit auf der Wand unserer Seele. (GA108, S. 241) Hinter dem scheinbar toten, abstrakten Begriff steht ein lebendiger Gedanke, eine geistige Wesenheit: Vor allen Dingen muss betont werden, dass diese [geistige] Welt aus dem Stoffe (auch das Wort „ Stoff “ ist natürlich hier in einem uneigentlichen Sinne gebraucht) gewoben ist, aus dem der menschliche Gedanke besteht. Aber so wie der Gedanke im Menschen lebt, ist er nur ein Schattenbild, ein Schemen seiner wirklichen Wesenheit. Wie der Schatten eines Gegenstandes an einer Wand sich zum wirklichen Gegenstand verhält, der diesen Schatten wirft, so verhält sich der Gedanke, der durch den menschlichen Kopf erscheint, zu der Wesenheit im „ Geisterland “ , die diesem Gedanken entspricht. Wenn nun der geistige Sinn des Menschen erweckt ist, dann nimmt er diese Gedankenwesenheit wirklich wahr, wie das sinnliche Auge einen Tisch oder einen Stuhl wahrnimmt. Er wandelt in einer Umgebung von Gedankenwesen. Das sinnliche Auge nimmt den Löwen wahr und das auf Sinnliches gerichtete Denken bloß den Gedanken des Löwen als ein menschlichen Persönlichkeit nach dem Tod hinweisen, sondern auch auf die Existenz von übermenschlichen Wesen in einer Welt, die unserem gewöhnlichen Bewusstsein nicht zugänglich ist (vgl. das Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ ). 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1337 Schemen, als ein schattenhaftes Bild. Das geistige Auge sieht im „ Geisterland “ den Gedanken des Löwen so wirklich wie das sinnliche den physischen Löwen. (GA9, S. 94, Hervorhebung im Original) 472 Steiner bezeichnet diese lebendige, reale Archetypen unserer schattenhaften Begriffe manchmal als „ Gedankenlebewesen “ (GA17, S. 77, 84, 86 usw.). Die Einsicht, dass die eigentliche geistige Welt aus der Substanz der Gedanken gewoben ist, führt zu der Frage nach dem Verhältnis zwischen der geistigen und der sinnlichen Welt. Man könnte meinen, dass man in jenem Substanzdualismus landet, der seit Descartes die Philosophie plagt. Diese Befürchtung erweist sich als unbegründet, denn die Substanz der sinnlichen Welt, die Materie, erweist sich im Lichte der Geisteswissenschaft als gleichsam verdichtete Gedankensubstanz. Steiner bedient sich oft des Bildes der Verdichtung des Wassers zu Eis, um diesen Vorgang zu verdeutlichen: Wie ein Stück Eis, das auf dem Wasser schwimmt, Stoff ist des umgebenden Wassers, aber sich durch gewisse Eigenschaften von diesem abhebt, so sind die Sinnendinge Stoff der sie umgebenden Seelen- und Geisterwelt; und sie heben sich von diesen durch gewisse Eigenschaften ab, die sie sinnlich wahrnehmbar machen. Sie sind - halb bildlich gesprochen - verdichtete Geist- und Seelengebilde; und die Verdichtung bewirkt, dass die Sinne sich von ihnen Kenntnis verschaffen können. Ja, wie das Eis nur eine Form ist, in der das Wasser existiert, so sind die Sinnendinge nur eine Form, in der die Seelen- und Geistwesen existieren. Hat man das begriffen, so fasst man auch, dass, wie das Wasser in Eis, so die Geistin die Seelenwelt und diese in die Sinnenwelt übergehen können. (GA9, S. 114) 473 Wir wurden eigentlich für diese heute immer noch ungewöhnliche Sicht der Welt durch unsere Betrachtung der Ansichten der modernen Quantenphysik vorbereitet. Denn wir haben damals gesehen, dass sich auch innerhalb der „ orthodoxen “ physikalischen Betrachtungsweise die feste Materie in praktisch nichts auflöst, dass der vermeintlich feste Stoff letztlich Interaktion zwischen Elementarteilchen ist, die nichts als winzige und hochgradig vergängliche Pünktchen in der Unermesslichkeit des „ leeren “ Raumes sind. Die Einsicht, dass die sinnliche Welt letztendlich aus der „ Substanz “ der Gedanken besteht, ermöglicht es auch, die Frage zu beantworten (vgl. den Abschnitt „ Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas “ ), wie es möglich ist, dass menschliche Gedanken überhaupt mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Dies ist deshalb möglich, weil die menschlichen Gedanken 472 Der Leser wird sich daran erinnern, dass Eben Alexander schrieb, er habe durch seine Erfahrung gelernt, dass das Denken nicht ein Produkt des Gehirns sei. Das wahre Denken sei vorphysisch (pre-physical), es sei ein Denken-hinter-dem-Denken. Das Denken außerhalb des Gehirns zu erleben, bedeute, eine Welt der unmittelbarer Verbindungen zu betreten, die unser gewöhnliches Denken hoffnungslos schläfrig und verkrampft (plodding) erscheinen lässt (Alexander 2012, S. 84; vgl. Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ ). 473 Vgl. auch GA13, S. 140; GA16, S. 31; GA104, S. 93, 126; GA104a, S. 45f. usw. 1338 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft tatsächlich die Wirklichkeit - obschon zunächst in einer bloß schattenhaften Form - beinhalten bzw. tragen: Nur weil die Dinge der Sinnenwelt nichts anderes sind als die verdichteten Geistwesenheiten, kann der Mensch, der sich durch seine Gedanken zu diesen Geistwesenheiten erhebt, in seinem Denken die Dinge verstehen. Es stammen die Sinnendinge aus der Geisterwelt, sie sind nur eine andere Form der Geisteswesenheiten; und wenn sich der Mensch Gedanken über die Dinge macht, so ist sein Inneres nur von der sinnlichen Form ab- und zu den geistigen Urbildern dieser Dinge hingerichtet. Ein Ding durch Gedanken verstehen ist ein Vorgang, der verglichen werden kann mit dem, durch welchen ein fester Körper zuerst im Feuer flüssig gemacht wird, damit ihn der Chemiker dann in seiner flüssigen Form untersuchen kann. (GA9, S. 114f.) Wesensglieder des Menschen Eine weitere elementare Einsicht der geisteswissenschaftlichen Forschung besteht in einer viel feineren Gliederung des menschlichen Wesens, als dies in der akademischen Wissenschaft der Fall ist. Diese betrachtet den Menschen als ein ausschließlich physisches Geschöpf und bemüht sich bekanntlich darum, auch die seelischen und geistigen (bzw. wie man dies zu bezeichnen pflegt) mentalen Phänomene auf die physischen, leiblichen Grundlagen, insbesondere auf die Aktivitäten des Gehirns und des Zentralnervensystems, zu reduzieren. Bereits am Anfang des vorigen Kapitels musste ich vorausgreifend diese Sicht des Menschen ergänzen, um die nachfolgende Darstellung, vor allem der Trennung der inneren Wesenheit des Menschen vom physischen Leib, welche sich im Zuge der Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten zwangsläufig einstellt, zumindest einigermaßen verständlich und nachvollziehbar zu machen. Ich habe damals von einer Viergliederung des Menschenwesens gesprochen: von seinem physischen Leib, der auch der akademischen Wissenschaft bekannt ist, und von den höheren Wesensglieder: dem sog. Ätherbzw. Lebensleib, 474 der für die Aufrechterhaltung der Lebensprozesse sorgt, dem Astralleib, der die Grundlage für alle Bewusstseinsprozesse liefert, und schließlich von dem Ich des Menschen, das den Kern seines Wesens und die Grundlagen seiner Individualität bildet. Diese Gliederung, obschon bereits sie als eine unnötige Komplikation der Wirklichkeit erscheinen mag, kann und muss verfeinert werden. Wir haben davon gesprochen, dass die obige Vierteilung in groben Zügen der noch dem Altertum bekannten Dreiteilung des Menschen in Leib, Seele und Geist entspricht, wobei von den vier obigen Gliedern sowohl der 474 Der Ätherbzw. Lebensleib entspricht dem, was Rupert Sheldrake in seinem Werk The New Science of Life als „ morphisches Feld “ bezeichnet (vgl. Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ ). Die ätherischen bzw. formativen Kräfte sind nicht nur im menschlichen bzw. tierischen oder pflanzlichen Ätherbzw. Lebensleib wirksam, sondern erstrecken ihre Wirksamkeit auf den ganzen Kosmos. Wir werden im nächsten Kapitel genauer auf diesen Punkt eingehen. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1339 physische als auch der ätherische bzw. Lebensleib als Elemente des „ Leibes “ zu verstehen sind. Im Lichte der geisteswissenschaftlichen Forschung zeigt sich jedoch, dass man sowohl den Leib als auch die Seele und den Geist des Menschen in jeweils drei Teile gliedern muss, so dass man im Endeffekt von drei mal drei Teilen des Menschen, also von neun bzw. neun plus eins, also zehn Wesensgliedern sprechen muss. Es zeigt sich, dass man zu der leiblichen Seite des Menschen außer dem physischen und Lebensleib noch ein weiteres Glied zählen muss, das die leibliche Grundlage der seelischen Bewusstseinsprozesse bildet. Dieses Glied, das eine besonders verfeinerte Form des Lebensleibes darstellt, ist der Seelenleib bzw. Empfindungsleib (GA9, S. 34). Auch die Seele des Menschen kann in drei Elemente gegliedert werden. Das niedrigste und gleichsam gröbste von ihnen ist der eigentliche Träger aller elementaren Bewusstseinszustände, also aller Empfindungen und Sinneswahrnehmungen, aber auch der Gefühle, Triebe, Instinkte und Leidenschaften (ebd., S. 32 - 34). Diese Seele kann als Empfindungsseele bezeichnet werden. Es ist zu betonen, dass die Empfindungen und sonstige seelische Regungen keine passiven Folgen der Aktivität des Seelenleibes sind, sondern sich der Tätigkeit, welche die Empfindungsseele im und am Empfindungsleib ausübt, verdanken (ebd., S. 32). Der Empfindungsleib ist mit der Empfindungsseele verwandt und bildet mit ihr eine Einheit, die als Astralleib bezeichnet werden kann (ebd., S. 46). Die Empfindungsseele ist jenes Glied der Seele des Menschen, das noch nicht von den Gedanken, die im Geist ihren Ursprung haben und durch das Ich in Erscheinung treten, durchleuchtet wird. Entfalten diese ihre Wirksamkeit in der Seele, finden in der Seele wesentliche Veränderungen statt, denn die Empfindungen, Gefühle, sogar Triebe und Leidenschaften werden, zumindest teilweise, den Gesetzmäßigkeit des Denkens, dem ideellen Leben des Menschen unterstellt. Dadurch verwandelt sich die Seele und es differenziert sich in ihr ein weiteres Glied, das man als Verstandesbzw. Gemütsseele bezeichnen kann (ebd., S. 35). Die denkerische Tätigkeit der Verstandesseele ist aber vor allem auf die Befriedigung der Bedürfnisse gerichtet, die in der Empfindungsseele ihren Sitz und Ursprung haben. Praktisch die ganze technische Zivilisation entspringt solchen Bedürfnissen. Denn wenn wir mit dem Auto zum Skigebiet fahren und dort mit dem Skilift hoch befördert werden, um dann das Vergnügen der Abfahrt zu genießen, oder wenn wir uns auf eine Kreuzfahrt begeben oder einfach zu Hause fernsehen oder mit dem Handy telefonieren, befriedigen wir gewöhnlich zur Hauptsache die Bedürfnisse der Empfindungsseele. Es gibt aber auch eine Dimension des Lebens, welche sich über solche Bedürfnisse erhebt: die hohen ethischen Ideale des Wahren, des Guten und des Schönen. Wenn man sich für sie einsetzt, sei es als ein nach der reinen Erkenntnis strebender Wissenschaftler, sei es als ein Mensch, der sein Leben an religiösen oder ethischen Idealen (z. B. der kantischen Pflichtethik) ausrichtet, leuchtet etwas in die Seele hinein, was als ein Strahl des ewigen Geistes bezeichnet werden kann. Was in der Seele als 1340 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft dieses Ewige aufleuchtet, verwandelt sie und erhebt sie zu einem Glied, die Bewusstseinsseele (ebd., S. 37). Durch sein Ich und durch die ihm eigene Fähigkeit, Gedanken wahrzunehmen, ist der Mensch auch im gewöhnlichen Leben mit der eigentlichen geistigen Welt verbunden, den Einflüssen dieser Welt zugänglich. Man muss aber bedenken, dass diese Welt nicht weniger als „ der Himmel “ in seiner ganzen Herrlichkeit und Erhabenheit ist, obschon in seinem gewöhnlichen Bewusstsein der Mensch herzlich wenig Ahnung davon hat, dass sich in seinen Gedanken geistige Schätze verbergen. Es kann deshalb nicht überraschen, dass diese geistige Welt vermittels der Gedanken dem Menschen eine gewisse Ausrichtung und auch eine gewisse Kraft verleiht, sich dem Wahren und Guten zuzuwenden und danach zu streben, eine Ausrichtung und eine Kraft, die seit eh und je die magnetische Anziehungskraft der (ethischen) Ideale ist. Der Mensch erlebt diese Kraft oft zunächst als einen unliebsamen Druck, als einen Zwang. Man kann aber die Ideale lieben und sich ihnen freiwillig zuwenden. Denn man kann merken, dass „ [d]as Geistige [. . .] die ewige Nahrung des Menschen [ist]. Und wie der Mensch aus der physischen Welt geboren ist, so wird er aus dem Geiste durch die ewigen Gesetze des Wahren und Guten geboren “ (ebd., S. 43). Oder in den Worten der Evangelien: „ Nicht von Brot soll der Mensch leben, sondern von jedem Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht “ (Mt 4,4, vgl. Lk 4,4). Geschieht dies, so fängt der Mensch an, aus seinem Ich, aus seinem eigenen freien Willen heraus zunächst die Welt, aber dann auch sich selbst zu verändern. Er fängt an, bewusst die „ Schätze im Himmel zu sammeln “ (Mt 6,20; Lk 12,33). Denn man merkt, dass der Friede und die Liebe in der Welt nur Platz greifen können, wenn sie in den Seelen der Menschen Platz gegriffen haben. Wie das alte chinesische Sprichwort besagt: Kein Friede im Staat ohne Friede im Dorf, kein Friede im Dorf ohne Friede in der Familie, kein Friede in der Familie ohne Friede in den Mitgliedern der Familie. 475 Fängt man aber an, an sich selbst im Sinne der ethischen Ideale zu arbeiten, dann verwandelt, verklärt man die eigenen Wesensglieder, prägt ihnen die Gesetze des Geistes ein. Diese Arbeit beginnt mit dem Astralleib, der am einfachsten zu verwandeln ist. Der Mensch kann allmählich Herr seiner eigenen Leidenschaften, Begierden, Triebe werden, so dass diese nicht mehr chaotisch und sogar dem Menschen und der Welt feindlich, sondern wie von allein den reinen Antrieben des Geistes folgen. Geschieht dies, so verwandelt sich der Astralleib allmählich in ein höheres Wesen des Menschen, das man als 475 Vgl. Laotse zu Tao Te King: Gut Gegründetes wird nicht erschüttert/ gut Gehegtes wird nicht entgleiten/ so wird es von den Nachfahren/ gepflegt und geachtet/ Entwickle Tugend in dir selbst/ und die Tugend wird wahrhaft sein/ Entwickle Tugend in der Familie/ und die Tugend wird reichlich sein/ Entwickle Tugend im Dorf/ und die Tugend wird gedeihen/ Entwickle Tugend im Staat und die Tugend wird wachsen/ Entwickle Tugend in der Welt/ und die Tugend wird überall sein (Spruch 54) (http: / / www.geokey.de/ literatur/ doc/ Tao_Te_King.pdf [heruntergeladen am 17. 12. 2014]). 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1341 Geistselbst bezeichnen kann (GA9, S. 47). Diese Arbeit kann dann auf den Lebensleib und schließlich auch auf die unsichtbare Grundlage des physischen Leibes ausgedehnt werden. Wird der Lebensleib vergeistigt, entsteht ein weiteres geistiges Glied des Menschen, das als Lebensgeist bezeichnet werden kann, und der vergeistigte physische Leib wird zum Geistesmenschen (ebd., S. 47f.). Folglich kann man den Menschen auch als eine siebengliedrige Wesenheit darstellen, das sich zusammensetzt aus: 1) physischem Leib, 2) Ätherbzw. Lebensleib, 3) Astralleib, 4) Ich, 5) Geistselbst als dem verwandelten Astralleib, 6) Lebensgeist als dem verwandelten Lebensleib, 7) Geistesmensch als dem verwandelten physischen Leib (vgl. ebd., S. 48). Das Schicksal des Menschen nach dem Tode, Wiederverkörperung Eine weitere zentrale Erkenntnis, welche sich aus der Erforschung der übersinnlichen Welten ergibt, ist die Einsicht in das Schicksal des Menschen nach dem Tod und in die Tatsache der Wiederverkörperung bzw. Reinkarnation 476 . Ohne hier auf Einzelheiten eingehen zu wollen, 477 ist zu sagen, dass der Tod zunächst eine Trennung vom physischen Leib bedeutet, welche u. U. schmerzhaft sein kann, wenn man im Leben an diesem Leib seelisch intensiv haftete. Nach dem Tod wird man sich dann bewusst, dass man als eine geistigseelische Wesenheit weiterhin Bestand hat, weiterhin „ lebt “ . Mehr noch, man lebt sogar intensiver als im irdischen Leben. Denn im Gegensatz zum physischen Leib des Menschen bleibt sein Lebensleib zunächst unversehrt und hat, weil er nicht mehr den physischen Leib versorgen und unterhalten muss, sogar mehr Kräfte zur Verfügung, als dies je im Laufe des irdischen Lebens der Fall war. Da dieser Leib der eigentliche Träger der Erinnerungen ist, hat die Befreiung von ihm zur Folge, dass das vergangene Leben mit allen seinen Einzelheiten und Nuancen, auch solchen, welche im irdischen Leben längst vergessen wurden, wie ein gewaltiges Panorama vor dem seelischen Auge des Verstorbenen ausgebreitet liegt. 478 Dieser Zustand der intensiven Erinnerung an das vergangene Leben dauert aber lediglich ungefähr drei Tage, dann löst sich der Lebensleib im kosmischen Äther auf, aus welchem er kurz vor der Geburt zusammengefügt worden war. Die direkten Erinnerungen erlöschen und der Mensch betritt die nächste Phase seiner nachtodlichen Existenz. Diese besteht darin, dass er eine Art Läuterungsprozess durchmacht, der dazu dient, die Seele von den übermäßigen Bindungen an die sinnliche Welt zu befreien. Man kann sich dieses Geschehen am Beispiel eines Rauchers veranschaulichen. Hat man sich im irdischen Leben das Rauchen 476 Die Behauptung, es gebe Reinkarnation, ist selbstverständlich höchst umstritten und mit dem Christentum unvereinbar. Immerhin bekennen sich heuteaber 20 % der Christen zum Glauben an Reinkarnation (Bischofberger 2014). 477 Aber vgl. GA9, S. 49 - 70; 83 - 94; 100 - 113; GA13, S. 98 - 106. 478 Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, dass sich ein ähnliches Phänomen im Zuge der Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten bereits zu Lebzeiten einstellt. 1342 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft angewöhnt, bleibt ein Bedürfnis nach dem entsprechenden Genuss auch nach dem Tod in der Seele bestehen. Wir haben dies sehr anschaulich aus George Ritchies Nahtodbericht erfahren. 479 Allein, in der geistigen Welt gibt es keine Zigaretten und auch keine Sinnesorgane, welche die Empfindung des Rauchens vermitteln würden. Folglich muss dieses Bedürfnis ungestillt bleiben (außer dass es einem gelingt, wie Ritchie es im Fall der alkoholsüchtigen Verstorbenen geschildert hat, in die Seele eines Betrunkenen hineinzuschlüpfen). Ein unbefriedigtes Bedürfnis erzeugt jedoch einen Schmerz, der sich mit den Entzugssymptomen eines Zigarettenrauchers, eines Alkoholikers oder eines Drogensüchtigen vergleichen lässt, wobei der Schmerz desto intensiver ist, je stärker die Abhängigkeit von einem bestimmten Genuss war. Dieser dauert so lange, bis sich das Bedürfnis im Astralleib aufgelöst hat. Dies muss nach der objektiven Zeit bemessen nicht allzu lang sein, es fühlt sich aber wie eine Ewigkeit an. Man kann das hier zutage tretende Phänomen mit der Erfahrung eines Zahnarztbesuches vergleichen. Nehmen wir an, der Zahnarzt arbeitet an unseren Zähnen ohne Betäubungsmittel. Wer das erfahren hat, wird wissen, dass sich fünf Minuten Bohren in einem schmerzenden Zahn als eine kleine Ewigkeit anfühlen. Da im nachtodlichen Leben die seelischen Schmerzen, welche sich aus ungelöschten Begierden ergeben, ebenso intensiv sein können, empfindet der Mensch den Läuterungsprozess als eine Art Ewigkeit. Vermutlich deshalb sind die Vorstellungen der „ ewigen Hölle “ entstanden. Sie entsprechen nicht der Wirklichkeit: Alle Menschen überwinden diesen Zustand nach einer kürzeren oder längeren Zeit (auf ihre Länge werden wir demnächst ausführlicher eingehen) und widmen sich weiteren Aufgaben. Die Auflösung der übermäßigen Bindungen an die sinnliche Welt soll jedoch nicht bloß als eine „ göttliche Strafe “ verstanden werden. Vielmehr muss man berücksichtigen, dass solche Bindungen den Effekt haben, dass die Aufmerksamkeit der verstorbenen Person auf die bereits verlassene sinnliche Welt gerichtet ist und dass folglich diese Person zunächst wie blind für die sie umgebende seelische Welt ist. Hat man im Leben starke egoistische Neigungen entwickelt, wird man sich auch in der seelischen Welt einsam fühlen, denn die in der Seele noch vorhandenen Egoismen trüben, ja versperren die Sicht auf die umgebenden verstorbenen Verwandten und die höheren geistigen Wesenheiten. Sind die gröbsten sinnlichen Begierden überwunden, so schreitet der Mensch zur Läuterung subtilerer Bindungen an die sinnliche Welt (z. B. Naturschwärmerei [GA9, S. 91] oder des Tatendrangs, der sich nur in der sinnlichen Umgebung ausleben kann [ebd., S. 92]), bis die Seele von solchen Bindungen völlig frei ist und sich ungehindert dem Geist ergeben kann. Einen weiteren, nicht minder wichtigen Aspekt der Erfahrung unmittelbar nach dem Tod bildet eine Art ethische Abrechnung mit dem vergangenen Leben. Die verstorbene Person, oder genauer genommen die Seele und der 479 S. das Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ . 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1343 Geist des verstorbenen Menschen durchlaufen das vergangene Leben in einem Rückblick, in welchem alle Taten, Handlungen zum Vorschein kommen. Dieser Rückblick ist durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet. Zum einen erfolgt er in der umgekehrten Reihenfolge: Man wird zunächst mit den Taten konfrontiert, welche man unmittelbar vor dem Tod verübte. Zum anderenerlebt man diese Taten und ihre Folgen jetzt nicht aus der eigenen Perspektive, sondern aus der Perspektive der Person bzw. Personen, welche die Adressaten dieser Taten waren. Hat man einer Person z. B. eine Ohrfeige verpasst, wird man nicht den eigenen Zorn, der zu dieser Handlung führte, oder die Befriedigung erleben, welche sich nach der Ausführung der Tat einstellte, sondern den Schmerz, das Seelenleid und Körperleid, des Empfängers der Ohrfeige (GA100, S. 57, 77; GA120, S. 72; GA243, S. 64f.). Der Sinn dieser Erfahrung liegt darin, dass der Mensch dadurch die Impulse bekommt, in der nachfolgenden Inkarnation das von ihm verursachte Unrecht wiedergutzumachen. Denn die Erfahrung des Schmerzes, welche durch eigene Taten verursacht wurde, führt im nachtodlichen Leben (im Gegensatz zum Leben zwischen Geburt und Tod) unweigerlich zum Gefühl der Reue und zum Impuls, das Unrecht zu korrigieren. Denn man nimmt im nachtodlichen Leben eine moralische Verfehlung nicht als so relativ wahr, wie dies oft im irdischen Leben der Fall ist, sondern betrachtet sie aus der Perspektive der kosmischen, göttlichen Gerechtigkeit, welche durchdringend und streng ist. Man empfindet auch jegliche Abweichung von den kosmischen moralischen Gesetzen - und wir haben gesehen, dass bereits auf der Stufe der Inspiration diese Gesetze sich als ebenso objektiv wie die aus dem irdischen Leben bekannte Naturgesetze erweisen - als einen wesentlichen Makel, als ein Hindernis auf dem weiteren Weg der Seele im Leben nach dem Tod. Die beiden Aspekte der Läuterung der Seele, die Befreiung von übermäßigen Bindungen an die sinnliche Welt und der ethische Rückblick auf das vergangene Leben, nehmen insgesamt in etwa ein Drittel der Dauer des abgeschlossenen Lebens in Anspruch (GA13, S. 106; GA243, S. 64). Für eine Person, die mit neunzig gestorben ist, wird der Durchgang durch den Läuterungsprozess also in etwa dreißig Jahre, für eine Person, welche mit dreißig gestorben ist, lediglich zehn Jahre in Anspruch nehmen. Nach dieser Zeit löst sich der Teil des Astralleibes, der mit dem irdischen Leben stark verbunden war und nur in ihm Befriedigung finden konnte, endgültig auf, und jener, der bereits durchgeistigt wurde (Geistselbst), betritt zusammen mit dem geistigen Kern, dem Ich des Menschen, eine weitere Stufe der nachtodlichen Existenz, die eigentliche geistige Welt. Bei einem verstorbenen Menschen haben wir es also nicht mit einem, sondern mit drei Leichnamen zu tun: zunächst mit dem physischen Leichnam, dann mit dem ätherischen, der etwa drei Tage nach dem physischen Tod abgelegt wird und sich größtenteils im kosmischen Äther auflöst, und schließlich mit dem astralischen, der etwa nach einem Drittel der Lebensdauer nach dem Tod abgelegt wird, der aber dauerhafter als der ätherische Leichnam ist (GA13, S. 105). 1344 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Der verbleibende geistige Kern des Menschen betritt jetzt die eigentliche geistige Welt. In der Terminologie der christlichen Tradition ausgedrückt, befindet sich dieser Kern im Himmel. Es ist wichtig, dies zu betonen, denn die landläufigen religiösen Vorstellungen reservieren dieses Privileg nur für die auserwählten, reinsten, besten Seelen. Diese Vorstellungen entsprechen nicht der Realität. Jeder Mensch (bzw. sein geistiger Kern) betritt zu einem bestimmten Zeitpunkt nach dem Tod den „ Himmel “ und verbringt die allermeiste Zeit bis zu seiner nächsten Verkörperung in diesem Bereich. Hier darf der Mensch die Früchte seines vorigen Lebens ernten. Und zwar geschieht dies in etwa nach dem Vorbild des berühmten Gleichnisses von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14-30; Lk 19,12-27): Je mehr der Mensch auf einem Gebiet nach geistigen (nicht irdischen) Maßen geleistet hat, desto mehr Steigerung der entsprechenden Fähigkeiten kann er erhoffen. Zeichnet sich ein Mensch in seinem irdischen Leben durch eine ausgeprägte Familien- oder Freundesliebe aus, so wird die zugrundeliegende Fähigkeit in der ersten Region der geistigen Welt gesteigert (GA9, S. 105). War der Mensch in seinem letzten Leben eine besonders fromme Persönlichkeit, so wird er in der zweiten Region eine Steigerung seiner Fähigkeit erfahren, sich als Glied des Ganzen zu erkennen und entsprechend zu verhalten (ebd., S. 106). Zeichnete sich ein Mensch in seinem vorigen Erdenleben durch eine besondere künstlerische oder geistige Begabung aus und vermochte er diese konstruktiv einzusetzen, so wird er in der vierten Region der geistigen Welt die Steigerung dieser Fähigkeiten erfahren. Denn: „ Aus dieser Region saugen [. . .] Künstler, Gelehrte, große Erfinder während ihres Aufenthaltes im Geisterland ihre Impulse und steigern hier ihr Genie, um bei einer Wiederverkörperung in verstärktem Maße zur Fortentwickelung der menschlichen Kultur beitragen zu können “ (ebd., S. 108). Der geistige Kern des Menschen wandert so durch alle sieben Regionen des Geisterlandes (ich werde nicht jede dieser Regionen ausführlich charakterisieren, vgl. aber ebd., S. 100 - 113), und verbleibt die meiste Zeit dort, wo er sich gemäß seinem letzten Leben am meisten „ heimisch “ fühlt, umseine besonderen Begabungen für die nächste Inkarnation vorzubereiten. Es ist äußerst wichtig zu berücksichtigen, dass sich der Mensch in der geistigen Welt nicht nur in der Gesellschaft seiner Verwandten und Freunde aus der vorigen Inkarnation befindet ( „ Die Menschen, mit welchen man in der physischen Welt zusammengelebt hat, findet man in der geistigen Welt wieder “ 480 [ebd., S. 105]), sondern auch in der Gegenwart der erhabenen geistigen Wesenheiten, welche in dieser Welt ihre Heimat haben (ebd., S. 112). Ihre Herrlichkeit erstrahlt in dieser Welt in vollem Glanz und der Mensch kann sie unverhüllt wahrnehmen und sie als sein fernes Ideal betrachtet. Einige Menschen vermögen es, eine wie auch 480 Somit bestätigen sich die Berichte der Personen, welche eine Nahtoderfahrung gehabt haben und erzählen, dass sie „ auf der anderen Seite “ von ihren verstorbenen Verwandten empfangen worden sind. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1345 immer eingeschränkte Erinnerung dieser Herrlichkeit nach der Geburt zu behalten, weshalb William Wordsworth in seiner berühmten „ Ode. Intimations of Immortality from Recollections of Early Childhood “ sagen konnte: Not in entire forgetfulness, And not in utter nakedness, But trailing clouds of glory do we come From God, who is our home: Heaven lies about us in our infancy! Der Ausdruck „ trailing clouds of glory “ kann hier durchaus im doppelten Sinne verstanden werden. Zum einen ist diese Herrlichkeit, wie bereits angedeutet, eine Erinnerung an die Erfahrung der erhabenen geistigen Wesenheiten, in deren Gesellschaft man in der geistigen Welt lebte. Auf der anderen Seite aber, und dies muss hier unbedingt ergänzend gesagt werden, hat diese Herrlichkeit auch mit der Erfahrung des eigenen inneren Wesens, des wahren Selbst des Menschen zu tun. Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, dass dieses „ wahre Selbst “ sich erst den höheren übersinnlichen Fähigkeiten des Menschen allmählich offenbart, denn dieses Wesen hat selbst einen sehr hohen Ursprung, ja es ist, wie wir demnächst genauer sehen werden, göttlichen Ursprungs. Es ist aus diesem Grund völlig berechtigt zu behaupten, dass die geistige Welt die eigentliche Heimat des Menschen ist. Auf der anderen Seite muss er sich aus Gründen, die erst im Laufe dieser Schilderung klar werden, das Recht auf den Aufenthalt in dieser Region erst erobern. Gelingt ihm das, erreicht er eine neue, erhabene Stufe seiner Entwicklung: Als ein Glied der göttlichen Weltordnung kann sich das Selbst fühlen. Die Schranken und Gesetze des irdischen Lebens berühren es nicht in seiner innersten Wesenheit. Die Kraft zu allem, was es vollführt, kommt ihm aus der geistigen Welt. Die geistige Welt aber ist eine Einheit. Wer in ihr lebt, weiß, wie das Ewige an der Vergangenheit geschaffen hat, und er kann von dem Ewigen aus die Richtung für die Zukunft bestimmen. Der Blick über die Vergangenheit weitet sich zu einem vollkommenen. Ein Mensch, der diese Stufe erreicht hat, gibt sich selbst Ziele, die er in einer nächsten Verkörperung ausführen soll. Vom „ Geisterland “ aus beeinflußt er seine Zukunft, so daß sie im Sinne des Wahren und Geistigen verläuft. Der Mensch befindet sich während des Zwischenzustandes zwischen zwei Verkörperungen in Gegenwart aller derjenigen erhabenen Wesen, vor deren Blicken die göttliche Weisheit unverhüllt ausgebreitet liegt. Denn er hat die Stufe erklommen, auf der er sie verstehen kann. In der sechsten Region des „ Geisterlandes “ wird der Mensch in allen seinen Handlungen dasjenige vollbringen, was dem wahren Wesen der Welt am angemessensten ist, denn er kann nicht nach dem suchen, was ihm frommt, sondern einzig nach dem, was geschehen soll nach dem richtigen Gang der Weltordnung. (GA9, S. 112) Bis jetzt haben wir den Aufenthalt in der (eigentlichen) geistigen Welt vor allem als Folge der Erfahrungen der letzten Inkarnation des Menschen betrachtet. Dieser Aufenthalt ist aber auch im gleichen Maße eine Vorbereitung 1346 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft für die nachfolgende Inkarnation. Hier muss sogleich ein mögliches Missverständnis ausgeräumt werden. Die geisteswissenschaftliche Erforschung übersinnlicher Welten zeigt zwar auf, dass Reinkarnation eine Wirklichkeit ist und ohne diesen Begriff der Sinn des irdischen Leben nicht zu verstehen ist, doch ebenso erweist sie gewisse vor allem östliche Vorstellungen, nach denen sich nicht allein der Mensch, sondern auch Tiere und sogar Pflanzen reinkarnieren, als irrtümlich. Der Mensch kann nur wieder in eine menschliche Inkarnation eintreten, und von einer Reinkarnation von Tieren oder Pflanzen kann nicht die Rede sein. Die Vorbereitung für die nächste Inkarnation hat vor allem zwei Dimensionen: Zum einen wird vom Menschen bzw. seinem geistigen Kern unter der Anleitung und Führung der erhabenen geistigen Wesenheiten das künftige Schicksal des Menschen gewoben. Dieses muss nämlich so gestaltet werden, dass es einerseits den Gesetzen der kosmischen Gerechtigkeit (dem sog. Karmagesetz) genügt, d. h., dass der Mensch die gerechten Folgen seiner früheren Taten im negativen wie auch im positiven Sinne (schließlich sündigt man nicht nur im Leben, sondern man bewirkt auch viel Gutes! ) erfahren kann, dass er aber andererseits genügend Gelegenheit hat, um in seinem künftigen Leben auf seinem irdischen Pilgerpfad zum Geist weiterkommen kann. Das Wirken des Karmagesetzes soll nicht fatalistisch verstanden werden. Denn obschon die allermeisten wichtigen Ereignisse des künftigen Lebens in groben Zügen prädeterminiert sind, sind das doch erstens nicht absolut alle Ereignisse, erfolgt zweitens die Determination bloß in „ groben Zügen “ und lässt drittens jedes Lebensereignis, das einem widerfährt, es zum großen Teil offen, wie die Person, die eine bestimmte Erfahrung macht, auf sie reagiert. Ein Schicksalsschlag kann einen brechen, kann aber auch den Willen stählen und zum weiteren Fortschritt anspornen. Die Festlegung des Schicksals in der vorgeburtlichen Existenz tut auch der Freiheit des Menschen keineswegs Abbruch. Denn der betroffene Person will gerade dieses Schicksal haben, wie hart es auch immer sein mag, weil sie aus der Perspektive der geistigen Welt die Einsicht hat, dass genau dieses Schicksal das bestmögliche und im Lichte der kosmischen Moralgesetze das Gerechteste (unter Berücksichtigung der früheren Lebensläufe der Individualität) für den Menschen ist. Steiner greift in diesem Zusammenhang oft zu folgendem Bild: Fällt einem Passanten von einem Dach ein Ziegelstein auf den Kopf, müsse man sich vorstellen, dass die betroffene Person selbst schnell auf das Dach gelaufen ist, um den Ziegelstein loszulösen, und dann ebenso schnell wieder auf die Straße hinunter, um von diesem Ziegelstein getroffen zu werden (GA130, S. 262; GA143, S. 85). Man kann sich die Situation auch so vorstellen: Ein Mensch will sich ein Haus bauen. Er berät sich mit Architekten und lässt das Haus genau nach seinen besten Vorstellungen und Wünschen und nach den fachlichen Kompetenzen der Architekten erstellen. Steht das Haus dann, wäre es unsinnig zu behaupten, dass der Auftraggeber in seiner Freiheit eingeschränkt ist, wenn er in das Haus einziehen muss: Er will in genau diesem Haus wohnen! 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1347 Damit kommen wir zum zweiten wichtigen Aspekt der geistigen Vorbereitung für die nächste Inkarnation: Der wesentliche Teil der Arbeit des Menschen im Leben zwischen Tod und neuer Geburt besteht darin, dass er - wiederum unter Anleitung und Führung der erhabenen geistigen Wesenheiten - das Modell seines künftigen physischen Leibes entwirft (vgl. z. B. GA231, S. 57 - 95). Spätestens auf dieser Stufe zeigt sich unmissverständlich und eindrücklich, dass die Theorie, der physische Leib werde nach dem im genetischen Material festgelegten Bauplan erstellt, im besten Fall äußerst einseitig und kurzsichtig ist. Es ist offensichtlich, dass jeder Mensch auch bezüglich seines physischen Leibes eine Individualität, und nicht bloß eine Kopie oder Mischung der physischen Leiber seiner Eltern ist. Selbst eineiige Zwillinge, obschon oft am Anfang des Lebens praktisch voneinander ununterscheidbar, wachsen mit der Zeit nicht nur seelisch, sondern auch physisch auseinander. Der physische Leib des Menschen ist ein unvorstellbar komplexes Gebilde. Das Gehirn gilt bekanntlich der heutigen Wissenschaft als komplexeste Struktur im Universum. Aber auch andere Organe des Leibes zeichnen sich durch eine hohe Komplexität aus, welche künstlich nicht nachzuahmen ist. Das harmonische Zusammenspiel der vielen Organe und Systeme des physischen Leibes ist etwas, was die Wissenschaft zwar konstatieren kann und muss, aber nicht wirklich zu erklären imstande ist. Der physische Leib ist keineswegs ein Produkt der Gene. Er ist ein Erzeugnis der Tätigkeit der erhabensten geistigen Wesenheiten. Es war keine Übertreibung, als Christus von seinem (und allgemeiner: dem menschlichen) Leib als von einem Tempel sprach (Joh 2,19-21; vgl. auch 1. Kor 6,19). Nun, in groben Zügen ist der physische Leib eines Menschen dem physischen Leib eines anderen gleich, weshalb man die Organe eines Menschen einem anderen einpflanzen kann. Auf einer feineren Ebene ist jedoch jeder Leib eigenartig und individuell (schon deshalb sind Transplantationen nicht einfach), und dies aus gutem Grund. Denn die seelisch-geistige Individualität des Menschen kann sich nur dann im irdischen Leben offenbaren, wenn sie über die entsprechenden physischen Grundlagen verfügt. Auf dem gegenwärtigen Entwicklungsstadium der Menschheit (in der Zukunft wird sich das ändern, s. unten) muss jede seelische und jede geistigen Begabung über ein körperliches Werkzeug verfügen, um sich manifestieren zu können. Deshalb ist es nicht völlig abwegig, wenn die heutige Wissenschaft nach der Grundlage der individuellen Fähigkeiten des Menschen in unterschiedlichen Arealen des Gehirns sucht. Es ist zwar lange nicht nur das Gehirn und das Zentralnervensystem, das die physische Basis der geistig-seelischen Individualität des Menschen bietet; andere Organe, Herz, Lunge, Niere, Leber usw., haben hier auch eine wesentliche Rolle zu spielen (es ist nicht von ungefähr, dass man sagt: „ Mir ist eine Laus über die Leber gelaufen “ , oder „ Mir geht etwas an die Nieren “ , Wendungen, die es ganz ähnlich in verschiedenen Sprachen gibt), aber viele der individuellen Eigenschaften des Menschen sind tatsächlich im Gehirn verankert. Nur werden sie nicht vom Gehirn erzeugt. Im 1348 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Gegenteil: Das Gehirn wird im Laufe der embryonalen Entwicklung nach dem Maß des in der geistigen Welt vorbereiteten Modells plastisch geformt, so dass es möglichst effizient als physisches Werkzeug der Individualität dienen kann. Das geistige „ Modell “ des physischen Gehirns wie auch allgemeiner des ganzen physischen Leibes wird in einer komplexen und langen Arbeit in der geistigen Welt veranlagt, um sich dann in dem Material, das von den Eltern zur Verfügung gestellt wird, ausprägen zu können. Der sich inkarnierende Mensch zieht also buchstäblich in das von ihm selbst entworfene Haus ein. Der Aufenthalt der menschlichen Wesenheit in der geistigen Welt dauert in der Regel einige Hundert Jahre (ca. 1300 [GA93, S. 187; GA93a, S. 65]), also viel länger, als es das Maß des irdischen Lebens ist. Es kommt aber schließlich die Zeit, da die Vorbereitungen abgeschlossen sind, und die Aufmerksamkeit des Menschen wendet sich von seiner geistigen Umgebung ab und der Erde und dem Leben auf der Erde zu. Allmählich fängt er an, nach den geeigneten Eltern, welche die bestmöglichen physischen (leiblichen) und seelischen Voraussetzungen für das künftige Leben bieten können, Ausschau zu halten. Man leitet die Schritte dieser Menschen so ein (wiederum unter Aufsicht und Führung der hohen geistigen Wesenheiten), dass sie zusammenkommen, sich ineinander verlieben und dass in ihnen der Wunsch geweckt wird, ein Kind zu zeugen. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist es nicht übertrieben, wenn Shakespeare sagt, dass der Moment des Verliebtsein von den Sternen geleitet wird, 481 d. h. den Bedürfnissen und Wünschen der sich inkarnierenden Individualität entspringt. Dass dann oft die Inkarnation doch nicht möglich ist, dass das zweite, dritte usw. Kind eines Ehepaars eher mit bereits vorgefundenen als neu zu erschaffenden Inkarnationsbedingungen rechnen muss, dass die moderne Reproduktionsmedizin mit In-vitro-Fertilisation, intrauterine Insemination, intrazytoplasmatische Spermieninjektion, Leihmutterschaft und anderen Techniken zusätzliche Möglichkeiten, aber auch Komplikationen auf diesem Feld geschaffen hat, liegt auf der Hand, muss aber hier nicht ausführlich diskutiert werden. Allmählich bildet sich auch um den geistigen Kern des Menschen ein neuer Astralleib, der den Eigenschaften der geistigen Individualität entspricht. Wird dieser Prozess abgeschlossen, so verliert der Mensch, der bisher Zeuge seines Aufbaus war, vorübergehend das Bewusstsein. Denn der innere Blick geht ihm verloren, und die Organe für die Wahrnehmung der sinnlichen Welt existieren noch nicht (GA13, S. 117). Der Astralleib verlangt jetzt nach einem neuen Ätherleib, der aus der kosmischen Äthersubstanz gebildet wird, und nach einem neuen physischen Leib, der im Organismus der künftigen Mutter geformt wird. Da sich die menschliche Individualität an diesen Prozessen unter normalen Umständen nicht bewusst beteiligen kann, müssen die geistigen Wesenheiten die Anglie- 481 „ From forth the fatal loins of these two foes/ A pair of star-cross ’ d lovers take their life “ Romeo and Juliet, Prolog. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1349 derung der Ätherleibes und dann den Prozess des Einzugs in den (keimhaft vorhandenen) physischen Leib leiten. Bevor der neue Ätherleib an den Astralleib angegliedert wird, bevor also der sich inkarnierende Mensch das Bewusstsein für die sich mit ihm abspielenden Vorgänge verliert, findet ein Ereignis statt, welches oft von großer Tragweite für das künftige Leben ist. Wir haben gesehen, dass sich der Mensch in früheren Inkarnationen durch seine Taten positive und oft auch negative Voraussetzungen für sein künftiges Leben geschaffen hat. Wir haben auch gesehen, dass unmittelbar nach dem Tod eine Art Panorama des vergangenen Lebens vor dem geistigen Auge der verstorbenen Person steht, bevor sie dieses vergangene Leben später in systematischer Weise ethischmoralisch verarbeitet. Wie nach dem Tod ein „ Erinnerungsgemälde “ (GA13, S. 118f.) des vergangenen Lebens vor der geistigen Entität des Menschen stand, so erscheint vor der Angliederung des neuen Ätherleibes dem sich inkarnierenden Menschen ein Vorblick auf sein kommendes Leben, das nicht nur die sonnigen Seiten offenbart, sondern auch alle Hindernisse, Schicksalsschläge, alles Leid, das auf ihn wartet. Dieses Bild kann einen gewaltigen Schock auf die sich inkarnierende Individualität ausüben. Obschon auch das Leid des Lebens aus der höheren Warte, welche ihr früher eigen war, durchaus gewollt ist, ist der Wille zur Inkarnation dann gestört, was sich in seelischen Störungen und Abnormitäten nach der Geburt niederschlagen kann (GA109, S. 196, 205). Geschichte der Entwicklung der Menschheit Die Wiedergabe der wichtigsten Ergebnisse der geisteswissenschaftlichen Erforschung der übersinnlichen Welten wäre arg unvollständig, wenn man sie nicht um eine Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Universums und der Menschheit ergänzen würde. Denn es muss als eine der zentralen Errungenschaften der modernen Geistesforschung angerechnet werden, dass sie mit dem statischen religiösen Bild der Entstehung der Welt und des Menschen, das in seiner trivialen Form behauptet, dass die Welt von Gott in sieben Tagen von je vierundzwanzig Stunden vor etwa 10.000 Jahren auf einen Schlag geschaffen wurde, radikal bricht. Aus der übersinnlichen Forschung ergibt sich im Kontrast zu der religiösen Überlieferung eine sehr lange und komplexe Evolution des Universums und der Menschheit, ein Bild also, das die moderne wissenschaftliche Vorstellung aufgreift und bestätigt, wenn sie es auch radikal spiritualisiert. Steiner hat mehrmals gegenüber Darwin und Haeckel seine Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht, denn nur dank ihren Leistungen war es ihm möglich, den Verlauf der geistigen Evolution des Universums und der Menschheit übersinnlich zu erforschen. Und erst als ich in diesen Jahren 1906 bis 1909 einfach die modernen naturwissenschaftlichen Vorstellungen der Seele imprägnierte, um sie in die Region zu bringen, wo sonst die Imaginationen sitzen, war es mir möglich, vorzudringen bis Sonne 1350 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft und Saturn. Ich benutzte also diese naturwissenschaftlichen Vorstellungen nicht, um mit ihnen so zu erkennen, wie Haeckel oder Huxley erkannten, sondern ich benutzte sie als innerliche Aktivität, um über diese Begrenzung hinauszukommen, der die Initiaten in der Zeit unterlagen, als eine neuere naturwissenschaftliche Denkungsart noch nicht vorhanden war, und man daher nur innerlich durch Imprägnieren der Traumwelt mit Imaginationen in das höhere Bewußtsein hineinkam. Es ist also hier zur Abfassung meiner „ Geheimwissenschaft “ der Versuch gemacht worden, die ganz bewußte Vorstellungswelt, die sich sonst nur auf äußerliche Naturgegenstände bezieht, innerlich zu nehmen und damit die imaginative Welt zu imprägnieren. Da ergab sich dann die Möglichkeit, in diese ganze Kette: Saturn, Sonne, Mond 482 einzudringen. (GA243, S. 184f.) In knappster Form 483 lässt sich sagen, dass die Erforschung der übersinnlichen Welten die Tatsache ans Licht bringt, dass unser heutiges Universum mit unserer Erde bereits die vierte „ Inkarnation “ des Kosmos ist. Die Idee, dass der Kosmos ebenso wie der Mensch durch wiederholte „ Inkarnationen “ oder Verkörperungen hindurchgeht, mag zunächst absurd erscheinen: Ich möchte aber daran erinnern, dass der berühmte britische Physiker und Mathematiker Roger Penrose OM, FRS (geb. 1931) in seinem Buch Cycles of Time: An Extraordinary New View of the Universe (Penrose 2010) eine Theorie des zyklischen Universums vorgeschlagen hat, welche davon ausgeht, dass das Ende eines früheren Universums der Anfang (der Urknall) eines neuen sei. Penrose deutet diesen Prozess recht materialistisch und meint, er wiederhole sich in einer unendlich langen Sequenz. Das Prinzip der „ Reinkarnation “ des Universums ist aber bei ihm eindeutig erkennbar. Die Wirklichkeit, so wie sie die geistige Forschung offenlegt, weicht von dieser Vorstellung in mindestens zwei wesentlichen Punkten ab: Zum einen zeigt sie, dass die Entwicklung des Universums nicht allein von physischen Kräften und Gesetzen gesteuert und vorangetrieben wird, sondern dass sie durch hohe geistige Wesenheiten geleitet wird; zum anderen ist diese Entwicklung nicht einfach zyklisch (nicht bloß „ der ewige Wiederkunft des Gleichen “ 484 , um mit Nietzsche zu sprechen), sondern weist eine deutliche, progressive Entwicklung auf. Die erste „ Inkarnation “ unseres Universums bezeichnet Steiner mit dem terminus technicus „ Saturn “ , wobei damit ausdrücklich nicht der heutige Planet gemeint ist. Die Grundlage dieses Universums wurde von den hohen geistigen Wesenheiten, den Geistern des Willens (Thronen), gelegt, die bereits eine solch hohe Entwicklungsstufe erreicht haben, dass sie ein Teil ihrer Substanz, man könnte ein wenig prosaisch sagen: ein Teil ihres Leibes opfern 482 Was diese Begriffe in diesem Kontext bedeuten, werden wir demnächst erfahren. 483 Für eine unvergleichbar differenziertere und detailreichere Darstellung dieser Entwicklung vgl. GA13, S. 137 - 298. 484 „ Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins “ (Also sprach Zarathustra, Kapitel „ Der Genesende “ ). 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1351 konnten, sodass daraus ein neuer Kosmos entstehen konnte. Die Tatsache, dass es an diesem Anfang unserer Welt bereits hochentwickelte geistige Wesenheiten teilnahmen - außer den Thronen gab es übrigens auch andere geistige Wesen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen, einige von ihnen sogar erhabener als die Throne - , deutet darauf hin, dass die ganze kosmische Entwicklung noch früher angefangen hatte. Wir müssen aber und können auf diese frühere Entwicklung hier nicht eingehen. Wie bereits früher erwähnt, weist Steiner auf eine inhärente Beschränkung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten hin: So wie der Mensch, der auf einem offenen Feld steht, in alle Richtungen gleich weit sehen kann und einige Elemente des alten Bildes verliert, dafür aber neue gewinnt, wenn er seinen Standpunkt um ein paar Kilometer verschiebt, so überblickt der geistig Schauende, der in der Vergangenheit und in die Zukunft forscht, zu jedem bestimmten Zeitpunkt nur einen begrenzten Ausschnitt der ganzen Geschichte des Kosmos, und dieser Ausschnitt verschiebt sich mit der fortschreitenden Zeitentwicklung. Auf dem alten Saturn wurde die erste Anlage des physischen Leibes gelegt, wobei man sich diesen Leib nicht als jene komplexe, äußerst differenzierte Struktur vorstellen darf, als welche wir ihn heute kennen. Der physische Leib war unendlich viel einfacher, aber auch unendlich feiner als der heutige. Seine endgültige Dichte kann man mit der „ Dichte “ der heutigen Wärme vergleichen, es fehlte ihm auch jegliche individuelle Differenzierung, denn damals war in ihm noch keine individuelle menschliche Seele und kein individueller menschlicher Geist vorhanden. Nach verschiedenen komplexen Entwicklungsprozessen, an welchen unterschiedliche geistige Wesenheiten, unterschiedliche geistige Hierarchien beteiligt waren, auf die wir hier nicht näher eingehen können, 485 verfeinerte sich das Gebilde Saturn, so dass selbst die feinmaterielle Wärme verschwand und der ganze damalige Kosmos in einen rein geistigen Zustand, eine Art kosmischen Schlaf überging (man kann diesen Zustand in Anlehnung an die östliche Tradition Pralaya nennen). Nach einer gewissen Zeit rein geistiger Entwicklung, welche man mit der Entwicklung des geistigen Kerns des Menschen in der geistigen Welt nach dem Tod vergleichen kann, 486 verdichtete sich das Universum wieder zu einer neuen materiellen Form. Unterdessen haben die erhabenen geistigen Wesenheiten, welche man in der christlichen Tradition als Kyriotetes (Geister der Weisheit) kennt, eine Stufe ihrer Entwicklung erklommen, auf welcher sie imstande waren, einen Teil ihrer Substanz (ihres „ Leibes “ ) für das Wohl der weiteren Evolution des Kosmos zu opfern. Diese Substanz bildete den Anfang des Ätherbzw. Lebensleibes des Menschen: Dem menschlichen physischen Leib, der die Frucht der Saturnentwicklung war, wurde auf dieser alten Sonne der Ätherleib eingegliedert, so dass der menschliche Vorfahr jetzt aus dem 485 Vgl. aber GA13, S. 151 - 173. 486 Obschon diese Zeit unvergleichbar länger dauerte als die Zeit des Aufenthaltes des Menschen in der geistigen Welt zwischen zwei Inkarnationen. 1352 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft physischen und dem Ätherleib bestand, wobei der frühere Ätherleib unendlich weniger differenziert als der heutige war. Diese beiden Glieder der menschlichen Wesenheit durchliefen auf der alten Sonne allerlei Entwicklungsprozesse, die sie auf einen wesentlich höheren Stand brachten, wobei zu vermerken ist, dass der physische Leib eine wesentlich längere Entwicklung hinter sich hatte und er am Ende dieser Prozesse auf einem höheren Niveau als der Ätherleib stand. Allmählich verdichtete sich auch die Substanz des neuen Planeten zu einem Zustand, den man als gasförmig (im Gegensatz zum feineren Wärmezustand des alten Saturn) bezeichnen kann. Der Planet im Zentrum des neuen Kosmos begann zu leuchten, weshalb man ihn „ Sonne “ ( „ alte Sonne “ ) nennen kann, wobei unter diesem Namen wiederum ausdrücklich nicht die heutige Sonne zu verstehen ist. Jede Entwicklungsstufe jeder „ Klasse “ von Wesenheiten, ob es sich dabei um die geistigen Wesenheiten (einer der neun oben erwähnten Hierarchien) oder die Menschen bzw. Vorfahren der heutigen Menschen handelt, verfolgt ein „ Ziel “ , das durch die höhere kosmische Weisheit veranlagt ist. Es ist mir selbstverständlich bewusst, dass es heute unanständig ist, von Zielen in der Natur zu sprechen. Sobald man jedoch einsieht, dass hinter der sog. Natur die Taten der geistigen Wesenheiten stehen, die nicht nur über Bewusstsein, sondern auch über ein im Vergleich zum Menschen weit höher entwickeltes Bewusstsein verfügen, 487 erscheint eine solche Idee weit weniger abwegig. Im Übrigen wagen es heute auch einige Wissenschaftler wieder, den Begriff des Ziels zu verwenden. So stellte der oben erwähnte Roger Penrose fest: I ’ m not sure that the word “ purpose ” one might use in connection with the universe or the laws of physics is quite the same as the way we use the word in a personal sense: when we intend to do something. But there is a certain sense in which I would say that the universe has a purpose. It ’ s not just there by chance. Some people take the view that the universe is simply there and it runs along - it ’ s a bit as though it just sort of computes, and we happen by accident to find ourselves in this thing. I don ’ t think that ’ s a very fruitful or helpful way of looking at the universe. I think there is something much deeper about it, about its existence, which we have very little inkling of at the moment.about it. 488 Die „ wichtige Tatsache “ besteht nun darin, dass nicht alle Wesen der jeweiligen „ Klasse “ das ihnen „ vorgeschriebene “ Ziel in der für diese Aufgabe vorgesehenen Zeit erreichen (vgl. paradigmatisch dazu GA13, S. 179). Das hat zur Folge, dass einige von ihnen in der Entwicklung zurückbleiben (man könnte ein wenig prosaisch sagen, dass sie die „ Schulklasse “ wiederholen müssen). Dies gilt, wie bereits erwähnt, sowohl für die Menschenvorfahren als auch, obschon dies zunächst überraschend erscheinen mag, für die 487 Auf der anderen Seite muss man zugeben, dass es nicht ganz angebracht ist, im Fall solcher Wesenheiten von Zielen im menschlichen Sinne zu sprechen. 488 http: / / triablogue.blogspot.ch/ 2010/ 09/ roger-penrose-on-cosmic-purpose.html (heruntergeladen am 17. 12. 2014). 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1353 geistige Wesenheiten, welche höher, manchmal wesentlich höher als der Mensch stehen. Denn auch sie unterliegen dem Gesetz der Entwicklung und auch sie können den Anforderungen ihrer Entwicklung u. U. nicht genügen können. Was solche Abweichungen von der normalen Entwicklung der geistigen Wesenheiten betrifft, so werden wir sie vorläufig unberücksichtigt lassen (vgl. aber ebd., S. 179 - 183), es muss aber erwähnt werden, dass unter den Vorfahren des Menschen einige waren, welche das vorgesehene Ziel der Saturn-Entwicklung nicht erreichten. Folglich gliederten sie sich auf der alten Sonne zu einem eigenständigen Reich aus, das neben dem „ menschlichen “ Reich bestand und das die erste Anlage des heutigen Tierreiches bildete. Dieser Punkt ist insofern wichtig, als er zeigt, dass es entgegen der in der heutigen Wissenschaft und in der Öffentlichkeit verbreiteten Meinung nicht der Mensch ist, der von den Tieren abstammt, sondern umgekehrt die Tiere von den Menschen. 489 Die Tiere muss man als „ zurückgebliebene “ Menschen betrachten, nicht die Menschen als höchstentwickelte Tiere. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass es innerhalb des Tierreichs eine ungeheure breite Spanne an Entwicklungsstufen gibt, was sich durch die unterschiedlichen Entwicklungsgeschichten verschiedener Untergruppen des zunächst recht einheitlichen „ Urtierreichs “ erklären lässt. Überdies muss berücksichtigt werden, dass ein solches „ Zurückbleiben “ gewisser Wesenheiten nicht immer negativ zu bewerten ist. Der Mensch ist im Hinblick auf seine heutige physische Konstitution auf die Existenz von Tieren, Pflanzen und Mineralien in seiner Umgebung angewiesen. Man kann also das „ Zurückbleiben “ gewisser Wesenheiten als ein Versagen auffassen, das Ziel ihrer Evolution zu erreichen, man kann es aber auch als ein Opfer betrachten, das von der weisen kosmischen Führung von ihnen verlangt wird. Weshalb es durchaus Sinn macht, mit Paulus zu sagen: „ Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes “ (Röm 8,19). Nach einer gewissen Zeit erreichen die meisten Wesenheiten der Sonne ihre Entwicklungsziele, der physische Leib der Menschenvorfahren erreicht den Abschluss der zweiten, der Ätherleib den Abschluss der ersten Stufe seiner Vollkommenheit, und dieser Planet geht mit seinem Kosmos in den Zustand der Vergeistigung, des geistigen „ Schlafes “ über. Währenddessen schreitet die Entwicklung weiter und auch die Entwicklung des Menschen im Leben nach dem Tod hört nicht auf. Nach dieser zweiten Pralaya verdichten sich die Substanzen wieder und ein neuer, dritter Kosmos entsteht, den man als den „ alten Mond “ bezeichnen kann (der wiederum nicht identisch mit dem heutigen Mond ist). Während der alten Sonne und der zweiten Pralaya 489 Ich möchte daran erinnern, dass Bergson die Überzeugung äußerte, dass Tiere und Pflanzen eine Art abgefallenes Nebenprodukt der Evolution der Menschheit seien (Bergson 2006, S. 270. Vgl. das Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ ). 1354 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft haben die Wesenheiten der Hierarchie der Dynamis (Geister der Bewegung) die Stufe ihrer Entwicklung erklommen, die es ihnen jetzt erlaubt, aus Teilen ihrer Substanz, ihres „ Leibes “ , ein Opfer zu machen, um den weiteren Fortschritt des Kosmos und der sich in ihm befindenden Wesenheiten zu ermöglichen. Ihre Gabe für diese Entwicklung ist die erste Anlage dessen, was wir früher als den Astralleib des Menschen bezeichnet haben, also eine erste Anlage für die Empfindungsfähigkeit und das Bewusstsein. Der menschliche Vorfahr besteht also jetzt aus drei Gliedern: aus dem physischen Leib, dem Ätherleib und dem Astralleib, wobei streng genommen erwähnt werden müsste, dass die Eingliederung des Astralleibes nicht ganz am Anfang der Entwicklung des „ alten Mondes “ stattfindet. Eine weitere Folge der Wirksamkeit der Dynamis wie auch (später) der Exusiai (Geister der Form) ist, dass sich die Substanz des „ alten Mondes “ allmählich verdichtet und die Stufe der Flüssigkeit, später die zähflüssige Form (GA13, S. 191) und noch später sogar feste Konsistenz erreicht, welche sich mit der Dichte von Horn vergleichen lässt (ebd., S. 193). Dass der menschliche Vorfahr auf dem alten Mond mit einem Astralleib ausgestattet wurde, deutet darauf hin, dass er auch über Bewusstsein verfügte. Obwohl bereits auf dem alten Saturn und auf der alten Sonne von einer Art Bewusstsein des Menschenvorfahren gesprochen werden kann (auf dem alten Saturn war es ein Bewusstsein, das dem der Mineralien, und auf der alten Sonne eines, das dem der Pflanzen entspricht), werden diese Stufen des Bewusstsein jedoch heute gewöhnlich als „ Unterbewusstsein “ eingeschätzt. Erst auf dem alten Mond kann von Bewusstsein im heutigen Sinne gesprochen werden. Das damalige Bewusstsein des Menschen war jedoch noch weit von dem heutigen Tagesbewusstsein entfernt. Es lässt sich am ehesten mit dem heutigen Traumbewusstsein vergleichen, wobei zwei wichtige Momente zu berücksichtigen sind. Zum einen entsprachen die Bilder der damaligen „ Träume “ der äußeren Wirklichkeit, obwohl sie diese keineswegs abbildeten, und ermöglichten somit dem Menschenvorfahren, sich nach ihnen zu richten, sich durch sie in seiner Umgebung zu orientieren. Zum anderen wurden durch diese Bilder nicht nur die physischen Tatsachen der damaligen Umgebung des Menschenvorfahren vorgestellt, sondern auch die hinter diesen Tatsachen wirkenden geistigen Wesenheiten und ihre Tätigkeiten (ebd., S. 200). Der Menschenvorfahr lebte also damals durchaus in direkter Anwesenheit der Götter, obschon er diese nicht in einem hellen, sondern nur in einem traumhaften Bewusstsein wahrnahm. 490 Wir können hier unmöglich auf alle Einzelheiten und Komplikationen der Entwicklung des alten Mondes eingehen, es muss aber noch hinzugefügt 490 Es sei an dieser Stelle an Liptons Überzeugung erinnert, dass die Evolution ein Aufstieg zu höherem Bewusstsein ist: Die Erfahrungen des Lebens werden gesammelt, und sie bereichern das ewige, geistige Selbst (Lipton 2008, S. 166, vgl. das Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ ). 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1355 werden, dass wie bereits auf dem Saturn und auch auf der Sonne einige Wesenheiten ihr Ziel nicht erreichten, was dazu führte, dass sich auf dem alten Mond von dem am Ende der alten Sonne befindlichen Reich des Menschenvorfahren und Reich des Tiervorfahrens ein drittes Reich abspaltete, das die Anlage der heutigen Pflanzenwelt bildete. Am Ende der Mondentwicklung hat sich dieser Zustand wiederholt, so dass sich auf dem nächsten Planeten bzw. im nächsten Kosmos, und zwar dem der heutigen Erde, aus dem früheren Urpflanzenreich das heutige Mineralreich trennte. Diese Behauptung scheint jegliche Logik auf den Kopf zu stellen, denn sie läuft auf die Feststellung hinaus, dass vereinfacht gesagt die Steine dem Menschen und nicht die Menschen den Steinen entsprungen sind. Man kann sie sich jedoch verständlicher machen, wenn man sich das Beispiel der Kohle vor Augen führt, deren Entstehung aus Pflanzen allgemein bekannt ist. Diesen Fall auf viel größere Zeitdimensionen extrapolierend, kann man vielleicht zu der Überzeugung kommen, dass auch andere mineralischen Substanzen in ihrer „ vorigen Inkarnation “ andere, und zwar lebensähnlichere und weichere Eigenschaften als die heutigen aufwiesen. Die hier angedeutete „ auf den Kopf gestellte “ Logik ermöglicht es übrigens, die Entstehung des Menschen und des Bewusstseins plausibel zu erklären. Denn bekanntlich ist die heutige materialistische Logik mit der Schwierigkeit konfrontiert, die Entstehung des Bewusstseins (und des Selbstbewusstseins) aus „ Steinen “ erklären zu müssen, was bis jetzt niemandem gelungen ist und einige Philosophen (z. B. Galen Strawson) zu der Annahme des Panpsychismus bewogen hat. Nach dem Abschluss der Entwicklung des alten Mondes gehen seine Substanzen und Wesenheiten in den Zustand der Pralaya über, aus dem sie durch die Reifung der Früchte ihrer Entwicklung auf dem Mond später als ein neuer Kosmos, der unserer heutigen Erde, wiedererscheinen. Den Gang der Entwicklung der Erde muss hier ein wenig detaillierter als der des alten Saturns, der alten Sonne und des alten Mondes geschildert werden, um gewisse Phänomene unseres heutigen Lebens erklärlich machen zu können, aber auch in diesem Fall wird es unmöglich sein, auf alle Einzelheiten dieser Entwicklung einzugehen. Der interessierte Leser sei auf den entsprechenden Abschnitt der Geheimwissenschaft im Umriss von Steiner (GA13, S. 218 - 298) verwiesen. Als die Wesenheiten und Substanzen unseres Universums aus ihrem kosmischen „ Schlaf “ heraustraten, waren die Substanzen aller himmlischen Körper unseres Sonnensystems in einer einheitlichen Mischung vorhanden. Diese Tatsache ist auch für diejenigen, die mit den diesbezüglichen wissenschaftlichen Vorstellungen vertraut sind, nicht besonders überraschend, denn auch sie gehen davon aus, dass unser Sonnensystem aus einer einheitlichen Molekülwolke hervorgegangen ist. Für die Wissenschaft ist allerdings wesentlich schwieriger nachzuvollziehen, dass bereits in diesem Urzustand unseres Planetensystems in der feinmateriellen Masse nicht nur diverse 1356 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft geistige Hierarchien, welche bereits an den früheren Entwicklungen beteiligt waren, sondern auch die Menschenvorfahren vorhanden waren. Dies mag zunächst wiederum absurd erscheinen, denn gemäß der gängigen Vorstellung stürzte bereits in den frühen Stadien des Sonnensystems fast die gesamte Materie des Sonnennebels infolge der Rotation des Nebels ins Zentrum und bildete den sog. Protostern, der sich weiter verdichtete, bis der Druck und die Temperatur darin so weit stieg, dass es zur Kernfusion, dem Verschmelzen von Wasserstoffzu Heliumkernen, kam. Aus Sicht der heutigen Wissenschaft kann auf dieser Entwicklungsstufe des Kosmos selbstverständlich keine Rede von menschlicher Existenz sein. Wenn man sich aber den Entstehungsprozess des Sonnensystems nicht ganz so materialistisch vorstellt, ist es einleuchtend, dass der Mensch auch ohne den heutigen festen materiellen Körper existieren kann. Wir haben bereits gesehen, dass er z. B. nach dem Tod eben ohne einen solchen Körper und dennoch als eine durchaus geschlossene Individualität existiert. Die damaligen Verhältnisse müssen so vorgestellt werden, dass sich die menschliche Wesenheit, welche aus dem Astralleib und Ätherleib zusammengesetzt war, im Umkreis der sich allmählich verdichtenden Erde noch im Schoß der sie führenden geistigen Wesenheiten befand und dass ihr physischer Leib, der bloß aus einer kleinen Wärmehülle bestand, das astral-ätherische Wesen des Menschen wie der Becher eine Eichelfrucht umschloss (ebd., S. 222). Es ist sofort einsichtig, dass in diesem Zustand keine Rede von den heutigen Lebens- und Ernährungsprozessen des physischen Leibes die Rede sein kann und ebenso wenig von geschlechtlicher Fortpflanzung und vom Leben und Tod des Menschen. Man kann aber bereits in diesem frühen Stadium vom Bewusstsein des damaligen Menschen sprechen, wobei es noch sehr an das bereits auf dem alten Mond erreichte Stadium des Traumbewusstseins erinnert und zum Inhalt eher die geistigen Wesenheiten der Umgebung des Menschen und ihre Tätigkeiten als irgendwelche physische Prozesse hatte. Diese Verhältnisse unterlagen einer wesentlichen Veränderung, als gewisse erhabene geistige Wesenheiten, welche sich bis dahin in dieser und um diese ursprünglichen Stofflichkeit befanden, sich entschlossen, sie zu verlassen und einen eigenen Himmelskörper - die heutige Sonne - zu bilden, um den Bedingungen ihrer (raschen) Entwicklung Genüge zu tun. Die Himmelskörper sind nicht bloß mehr oder weniger heiße oder kalte materielle Kugeln, sondern, unabhängig von der Art ihrer Stofflichkeit, vor allem ein Sitz, ein Wohnort, eine Kolonie bestimmter geistiger Wesenheiten, deren Eigenschaften sie entsprechen (GA231, S. 84, 98, 106). 491 491 „ Es ist ja eigentlich für eine wirklich eindringende Erkenntnis kindisch, daß sich die heutige Wissenschaft die Sonne so vorstellt wie einen Gasball, der im Weltenall draußen ist. Das ist ja nur der Anblick, den die Sonne zur Erde her zeigt. Sobald man die Sonne mit jenen Geistesaugen, Seelenaugen beschaut, die man nach dem Tode hat, sie von auswärts im Weltenall beschaut, ist die Sonne ja ein geistiges Wesen, oder vielmehr eine Versammlung von geistigen Wesenheiten “ (GA231, S. 84). Das Gleiche gilt auch für andere Himmelskörper. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1357 Der Austritt der Sonne hatte zur Folge, dass sich die übrig gebliebenen Substanzen der Erde wesentlich verdichtet haben, und zwar zum ersten Mal in der gesamten Geschichte des Kosmos zu einer Konsistenz, die man als „ fest “ bezeichnen kann (GA13, S. 229). Zunächst aber waren die Menschenseelen noch imstande, die Formung der physischen Leiber zu gewährleisten, denn der Mensch nahm sich für seinen Leib nur die feinsten Substanzen der Erde in einer Verdünnung, die dem Geruchssinn wahrnehmbar ist. Die Menschenleiber waren damals eher wie Schatten, anders als unsere heutigen soliden Menschenkörper (ebd., S. 230). Zu etwa derselben Zeit war auch eine weitere geistige Hierarchie, die der Exusiai (Geister der Form), so weit vorgerückt, dass sie aus ihrem Wesen der Erdenentwicklung etwas opfern konnte: Sie begabten die Menschenwesen mit dem Funken ihres Feuers, wodurch das vierte Glied des menschlichen Wesenheit, das Ich im Menschen, entfacht wurde (ebd., S. 244). Eine Folge dieser Eingliederung war, dass die frühere sehr enge Verbindung, die zwischen dem Menschen und den geistigen Wesenheiten seiner Umgebung bestand, ein wenig gelockert wurde. Der Mensch fühlte sich nicht mehr wie ein Glied eines erhabenen geistigen Organismus, aber immerhin noch untrennbar mit der geistigen Welt und ihren Wesenheiten verbunden (ebd., S. 245). Das Eingreifen des menschlichen Ich in die Entwicklung ist aber nicht so zu verstehen, dass sich die Menschen bereits als Individualitäten im heutigen Sinne empfanden. Durch die unterschiedlichen Einflüsse unterschiedlicher Teile der Erde wurden die physischen Leiber der Menschen zwar zu Vorläufern der späteren „ Rassen “ ausdifferenziert (ebd., S. 230), von einem individuellen Selbstbewusstsein kann aber auf dieser Stufe noch nicht die Rede sein. Wie der physische Leib am Anfang des alten Saturns, der Ätherleib am Anfang der Sonne und der Astralleib am Anfang des Mondes, so ist das Ich zu diesem Zeitpunkt erst am Anfang seiner Evolution und verhältnismäßig rudimentär. Es ist kosmisch gesehen immer noch ein Baby. Wenn man sich den Abstand zwischen den heutigen physischen Leibern und ihren primitiven Vorfahren auf dem alten Saturn vor Augen führt, kann man ermessen, welche gewaltige Entwicklungszukunft vor diesem vierten und von einer bestimmten Warte aus betrachtet höchsten Glied des Menschen liegt. Das Selbst des Menschen ist wie auch seine anderen Glieder (physischer Leib, Ätherleib, und Astralleib) göttlichen Ursprungs, es ist der Substanz der Geister der Form entnommen. Der Mensch ist in seinem innersten Wesen eigentlich ein Gottessohn. 492 492 Der bekannte amerikanische Kolumnist David Brooks wies vor kurzem auf eine seines Erachtens wichtige und von der Wissenschaft unzulänglich beachtete, obschon dem Volksmund durchaus bekannte Dimension der menschlichen Person hin, welche er als „ Tiefe “ bezeichnete. In seinem Feuilleton unter dem Titel „ The Deepest Self “ charakterisierte er die „ tiefe Person “ folgendermaßen: „ A person of deep character has certain qualities: in the realm of intellect, she has permanent convictions about fundamental things; in the realm of emotions, she has a web of unconditional loves; in the realm of action, she has permanent commitments to transcendent projects that cannot be 1358 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Wir werden demnächst sehen, wieso er sich dieser Tatsache im alltäglichen Leben nicht bewusst ist. Die Verdichtung der Substanzen der Erde schritt nach dem Austritt der Sonne fort, was allmählich dazu führte, dass die Menschen die Fähigkeit verloren, aus ihrem geistig-seelischen Kern die Prozesse im (verdichteten) physischen Leib zu kontrollieren. Es drohte die Gefahr, dass die Entwicklung des Menschen auf der Erde zum Stillstand kommen würde. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, entschlossen sich gewisse hohe geistige Wesenheiten, die gröbsten physischen Substanzen der Erde zu entziehen und auf einen neuen Himmelskörper zu verlagern. Der heutige Mond ist entstanden, der die „ Heimat “ der soeben genannten Wesenheiten wurde. Nebenbei sei erwähnt, dass dieses geisteswissenschaftliche Forschungsergebnis die im Kapitel „ Empirische Rätsel der Naturwissenschaft “ erwähnte überraschend große Ähnlichkeit der physischen Zusammensetzung der Erde und des Mondes verständlich macht, die in der letzten Zeit zur Hypothese führte, dass der Mond doch durch Abspaltung von der Erde und nicht durch eine Kollision der Erde mit einem Planetoid entstanden ist. 493 Nach dem Austritt des Mondes hielt zwar der Prozess der Verhärtung der irdischen Substanzen an, so dass der geistig-seelische Kern des Menschen die Kontrolle über den physischen Leib wiedererlangte, mit der Zeit aber schritt diese Verhärtung so weit voran, dass eine wesentliche Veränderung im Verhältnis zwischen dem seelisch-geistigen und dem physischen Elemente des Menschenwesens eintreten musste. Bis dahin bildete sich der seelischgeistige Kern des Menschen den physischen Leib nach eigenen Bedürfnissen und verließ ihn, nachdem er abgenutzt war, um sich einen weiteren physischen Leib aus den Substanzen der Erde zu bilden. Von einem Tod des Menschen kann unter diesen Umständen noch keine Rede sein. Die fortschreitende Verhärtung führte dazu, dass die Seele die Fähigkeit verloren, sich einen physischen Leib direkt aus der Erdensubstanz zu bilden, und es nötig wurde, die den Leib belebenden geistigen Kräfte in diesem zu belassen, sie gleichzeitig aber auf je zwei Individuen mit unterschiedlichen Eigenschaften aufzuteilen: einem passiven, empfänglichen und einem aktiven, zeugenden. Auf diese Weise tritt die Trennung in ein weibliches und ein männliches Geschlecht in Erscheinung (ebd., S. 231) und es entsteht das, was wir heute als Vererbung kennen (ebd., S. 234). completed in a single lifetime “ (Brooks 2014). Die Anerkennung einer solchen Dimension der Person, und insbesondere ihrer Ausrichtung auf Ziele und Ideale, die das Maß eines Lebens transzendieren, scheint sich mir einer wie auch immer dunklen Ahnung des göttlichen Ursprungs des innersten Kerns des Menschen zu verdanken. 493 Auch die anderen Planeten unseres Sonnensystems sind als Abspaltungen der Erde zu betrachten. Sie fanden entweder noch vor dem Austritt der Sonne oder aber zwischen diesem und dem Austritt des Mondes statt. Wir können aber darauf nicht eingehen (vgl. dazu ebd., S. 240 - 242). 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1359 Geraume Zeit nach dem Austritt des Mondes, als die Menschen bereits nach Geschlechtern getrennt waren, fand ein Ereignis statt, das von größter Tragweite für die ganze weitere Entwicklung war. Die hohen geistigen Wesenheiten, welche die Trennung des Mondes von der Erde bewirkten und die über das neuerworbene Ich auf den Menschen wirkten, wollten das (wachsende) Bewusstsein des Menschen so gestalten, dass es ein treuer Spiegel des weisheitsvollen geistigen Weltalls ist. Diese „ Pläne “ wurden durch das Eingreifen gewisser geistiger Wesenheiten durchkreuzt, die die ihnen bestimmte Mondentwicklung nicht vollständig absolviert hatten. Folglich hatten sie nicht die Kraft, auf das menschliche Ich zu wirken, konnten aber den Astralleib des Menschen so beeinflussen, dass ihm eine gewisse Selbstständigkeit gegenüber den Einflüssen der Mondwesen verliehen wurde (ebd., S. 247). Dadurch verlor das menschliche Bewusstsein den Charakter eines bloßen Spiegels des Weltalls, der Mensch wurde der Herr seiner Erkenntnis, somit aber auch anfällig für Irrtum. Ferner geriet dadurch das Ich des Menschen in Abhängigkeit vom Astralleib, der eigentlich ein niederes Glied der Menschennatur darstellt, und der Blick auf die göttliche Natur des Ich wurde getrübt (ebd., S. 252). In der Folge war der Mensch den fortdauernden Einflüssen des niederen Elementes seiner Natur ausgesetzt und er fühlte sich in seinem verkörperten Zustand nur teilweise als eine Individualität, vor allem aber als Glied einer Gruppe (ebd.). Eine weitere Konsequenz dieses Vorgangs war die Entstehung eines gewissen Gegensatzes zwischen den Einflüssen der Sonnengeister und den Einflüssen der Wesenheiten mit unregelmäßiger Mondentwicklung: Wo sich der Mensch früher spontan den Geboten der Sonnengeister unterordnete, gewann er nunmehr die Fähigkeit, sich ihnen zu widersetzen. Er gewann also Freiheit. Schließlich führte die Entstehung des Gegensatzes zwischen den Sonnengeistern und den Wesenheiten mit unregelmäßiger Mondentwicklung dazu, dass der Mensch die Fähigkeit verlor, die geistigen Wirkungen der Sonnengeister wahrzunehmen. Sie verbargen sich hinter den (sinnlichen) Eindrücken der Außenwelt (ebd., S. 249). Seit jener Zeit sieht also der Mensch die Sonnenstrahlen, nimmt aber nicht mehr wahr, dass sie bloß ein Kleid für die Taten und Kräfte der geistigen Sonnenwesen sind (GA113, S. 61). Interessanterweise hatte der kontroverse ägyptische Pharao Echnaton, der von ca. 1334 bis 1324 v. Chr. regierte, zumindest eine Ahnung von dieser Wirklichkeit, weshalb er die Sonnenstrahlen mit Händen versehen abbilden ließ. In der biblischen Geschichte der Versuchung und des Falls des Menschen lässt sich unschwer eine bildhafte Darstellung der oben geschilderten Entwicklung erkennen. Die biblische Geschichte ist mithin kein Märchen, sondern eine Wiedergabe der wichtigen Tatsachen der menschlichen Evolution, wenn sie diese auch in einer den Bedürfnisse der damaligen Menschheit geschuldeten Bildersprache darstellt. Die Bibel setzt die „ Versuchung “ völlig wahrheitsgetreu nach der Geschlechtertrennung an, obschon sie vermuten lässt, dass der ursprüngliche Mensch ein Hermaphrodit war (1. Mo- 1360 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft se 1,27 „ Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er [ihn 494 ] “ ). Die Präzision und Tatsachentreue der biblischen Wiedergabe an dieser Stelle wirft wiederum ein bemerkenswertes Licht auf den Charakter der Bibel im Ganzen, wir können aber dieses Thema hier nicht verfolgen. Bekanntlich wird die geistige Kraft, die den Menschen verführt, vom Baum der Erkenntnis zu essen und ihm somit Einsicht in die sinnliche Welt (1. Mose 3,7, „ Da wurden ihrer beider Augen aufgetan und sie erkannten, dass sie nackt waren [. . .] “ ) und Freiheit verleiht, ihn aber des Blicks in die geistige Welt (teilweise) beraubt (GA13, S. 249, 252) und dem Irrtum aussetzt, als Schlange bezeichnet und später mit dem Teufel identifiziert. Die geisteswissenschaftliche Forschung zeigt jedoch, dass diese Identifikation falsch ist. Zum einen, weil dem Einfluss der geistigen Kräfte, die sich in der Versuchungsgeschichte geltend gemacht haben, nicht nur Negatives (bildhaft gesprochen: „ Auswurf aus dem Paradies “ ), sondern auch Positives, nämlich die Freiheit des Menschen, zuzuschreiben ist. Zum anderen aber deshalb, weil an diesem wichtigen Punkt der Menschheitsevolution nicht eine, sondern zwei, und zwar radikal verschiedene geistige Kräfte am Werk waren, obschon nicht ganz gleichzeitig. Die eine ( „ die Schlange “ ) ist vor allem daran „ interessiert “ , den Menschen aus seiner bisherigen starken Abhängigkeit von den ihn führenden geistigen Kräften zu lösen, ihm Freiheit zu geben. Die andere will vor allem verhindern, dass der Mensch überhaupt ein Bewusstsein der geistigen Welt hat, sie will ihm vorgaukeln, die sinnliche Welt sei die einzige wahre Wirklichkeit ( „ Es ist dies die Kraft, welche den Menschen im physisch-sinnlichen Dasein verhindert, die hinter der Oberfläche des Sinnlichen liegenden geistig-seelischen Wesenheiten der Außenwelt wahrzunehmen “ , ebd., S. 390). Man kann den Unterschied zwischen diesen zwei Arten von geistigen Kräften so schildern: Die ersteren stellen sich auf den Standpunkt, dass die geistige Welt die einzig wichtige Realität sei, und verachten das Irdische, das Stoffliche. Sie sehen keinen Sinn, keinen Gewinn in der irdischen Inkarnation des Menschen und wollen ihn davon nach Möglichkeit abhalten. Die anderen hingegen, den ersteren diametral entgegengesetzt, wollen den Menschen von seinen geistigen „ Eltern “ abschnüren, ihn auf die irdische Existenz beschränken. Sie wollen, dass er das Paradies auf Erden herstellt und sich völlig von sich selbst abhängig macht, denn sie sind in dem bloß Stofflichen der Erde wirksam. Dem Anführer der erstgenannten Kräfte kann man mit Steiner den Namen Luzifer geben und von seinen Scharen als von den „ luziferischen Wesen “ sprechen, den Anführer der letzteren Kräften kann man mit dem Namen Ahriman bezeichnen und von den seinigen als von „ ahrimanischen Wesen “ sprechen. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, 494 Die üblichen Übersetzungen setzen hier „ sie “ ein, um die Passage verständlicher zu machen. Die Mehrzahl ist aber eigentlich nicht angebracht. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1361 dass, während die luziferischen Wesen eine unregelmäßige Entwicklung auf dem alten Mond aufweisen, die Entwicklung der ahrimanischen Wesen Unregelmäßigkeiten auf einer bereits viel früheren Stufe aufweist (ebd., S. 256). Die Einsicht in die komplexe Natur des „ Bösen “ , in seine Dualität, gehört zu den zentralen Errungenschaften des geisteswissenschaftlichen Forschung Steiners. Zu den bisher geschilderten Folgen des Falls des Menschen bzw. der Einwirkung zunächst der luziferischen und dann der ahrimanischen Kräfte auf die Evolution der Menschheit müssen noch zwei weitere hinzugefügt werden. Dadurch, dass der Mensch jetzt der unmittelbaren Führung der Sonnengeister entzogen ist, wurde er während seiner Verkörperung mittels seines irrtumsanfälligen Astralleibes den irdischen Einflüssen ausgesetzt, die auf seinen physischen Leib zerstörerisch wirkten. Die Folge davon war, dass der Mensch zum ersten Mal in seiner Entwicklungsgeschichte mit Krankheit und Tod konfrontiert wurde (GA13, S. 250). Denn obwohl der Mensch bereits früher nur einen Teil seiner Existenz in der irdischen Verkörperung verbrachte, den anderen aber in einer leibfreien Existenz in der rein geistigen Welt, wurde die Ablösung vom Leib nicht als Sterben empfunden. War nämlich dieser Leib nicht mehr brauchbar, konnte er vom Menschen verlassen werden im Wissen und in der Zuversicht, dass ihm zu angemessener Zeit ein anderer bereitgestellt wird. Wir erinnern uns, dass auf einer früheren Entwicklungsstufe der geistig-seelische Kern des Menschen sogar fähig war, eigenmächtig den ihm entsprechenden physischen Leib zu erzeugen. Das war nach dem „ Fall “ des Menschen nicht mehr möglich. Der Leib wurde härter, die Bindung an ihn enger, der Austritt aus ihn wesentlich schwieriger: Der Tod im heutigen Sinne hielt Einzug in die Menschheitsgeschichte. Da überdies zu gleicher Zeit dem Menschen der Ausblick auf die geistige Welt und somit die Einsicht in die Zukunft und die göttlichen Pläne verloren ging, wurde die Zukunft für den Menschen ungewiss. Die Folge davon war, dass die Gefühle der Furcht und Angst, darunter auch die Angst vor dem Tod, im Menschen Platz griffen (ebd., S. 256). Die geschilderten Vorgänge ereigneten sich während der dritten Entwicklungsphase der Menschheit auf der Erde. (Die erste, die sog. polarische, ist der Zeitraum, als Erde, Sonne und Mond noch eine Einheit bildeten, die zweite, die sog. hyperboräische, betrifft vor allem einen Kontinent, der sich zwischen dem heutigen Afrika, Asien und Australien erstreckte [ „ Lemurien “ , ebd., S. 259]; es ist die Zeit, als sich die Sonne von der Erde trennte.) Wir können hier auf die Einzelheiten dieser Phase nicht eingehen. Es soll nur erwähnt werden, dass die Menschen damals stark den Einwirkungen der der Menschheit feindlichen Kräfte ausgesetzt waren, dabei aber über aus heutiger Sicht übermenschliche Willenskräfte verfügten. Dies führte dazu, dass der Kontinent in einer gewaltigen Feuerkatastrophe endete, welche durch die Einwirkung der (verirrten bzw. verführten) menschlichen Willenskräfte auf die Naturkräfte verursacht wurde (wozu man wissen muss, dass die Verknüp- 1362 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft fung zwischen den menschlichen Willenskräften und den Naturgewalten viel intimer als heute war). Die weitere Entwicklung der Menschheit setzte sich auf dem als Atlantis bekannten Kontinent fort, der sich zwischen Amerika und Europa erstreckte. Wir können auch hier nicht auf Einzelheiten eingehen und müssen uns darauf beschränken zu erwähnen, dass dieser Kontinent ebenfalls in einer Katastrophe endete, deren Ursache die moralischen Verfehlungen der Menschheit waren: Atlantis wurde überflutet und versank. Die Echos dieses Ereignisses sind u. a. in der biblischen Geschichte von der Sintflut enthalten. Wenn man hier von moralischen Verfehlungen spricht, so muss berücksichtigt werden, dass die Freiheit des Menschen und somit die Verantwortung für seine Handlungen noch stark eingeschränkt war, weil er weder über den heutigen Grad an Eigenständigkeit und Unabhängigkeit verfügte (er war immer noch vor allem ein Gruppenwesen) noch die heutige intellektuelle Kraft besaß. Letztere bildete sich erst gegen Ende von Atlantis aus, von rationalem Denken im heutigen Sinne kann bis dahin keine Rede sein. Es ist mir klar, dass es „ unanständig “ ist, in wissenschaftlicher Gesellschaft von Atlantis zu sprechen, obwohl es immerhin von keinem Geringeren als Platon erwähnt wurde. 495 Ich will dennoch meine Hoffnung ausdrücken, dass die Existenz von Atlantis demnächst auch von der offiziellen Wissenschaft anerkannt wird, und verweise in diesem Zusammenhang auf Alfred Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung: Erst verspottet, wurde auch sie schließlich (in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts) anerkannt. Vieles ist nur eine Frage der Zeit. Ich möchte außerdem folgende Erwägung ins Spiel bringen: Nach neusten Forschungen nahm die Megalithkultur im prähistorischen England auf den fernen schottischen Inseln ihren Ursprung (Balter 2014). Dies wie auch die Tatsache, dass sich die meisten megalithischen Bauten auf der westlichen Seite der britischen Inseln (und in Irland) befinden, ist nicht einfach zu erklären. Es ist ebenfalls nicht einfach zu erklären, wo diese seltsame Kultur ihren „ geistigen “ Ursprung hatte und wozu die seltsamen Bauten dienen sollten. Sollte sich einst westlich der britischen Inseln ein mächtiger Kontinent erstreckt haben, deren megalitische Kultur ein Überbleibsel des untergegangenen Atlantis ist? Der Untergang von Atlantis war mit der Vernichtung zahlreicher Menschen verbunden, wobei man bedenken muss, dass es sich „ bloß “ um die Vernichtung der Leiber handelt, denn die Seelen überlebten die Katastrophe selbstverständlich unversehrt. Große Gruppen von Menschen hatten allerdings unter weiser Führung der hohen Initiierten den alten Kontinent bereits verlassen. Sie wanderten vor allem Richtung Osten aus, um von Asien aus neue Zivilisationen zu gründen. Die erste dieser Zivilisationen entwickelte sich auf dem Gebiet des heutigen Indiens und kann deshalb die altindische 495 Vgl. Timaios (24 e - 25 d) und Kritias (112 e - 121 c). 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1363 Kultur genannt werden - „ alt- “ , weil sie wesentlich weiter zurückliegt als die sog. Industal-Zivilisation, die auf ca. 2500 - 1900 v. Chr. datiert wird (Kulke und Rothermund 2004, S. 21 - 23). Nach dem Stand der akademischen Wissenschaft entstanden die ersten neolithischen Siedlungen auf dem Subkontinent um 7000 v. Chr. (Possehl 2003, S. 24 - 25), was ziemlich genau den Ergebnissen der Forschungen der Geisteswissenschaft entspricht, welche diese Kultur auf die Zeitperiode zwischen ca. 7200 und 5050 v. Chr. datiert (GA180, S. 192ff.). Die urindische Zivilisation hatte wenig an zivilisatorischen Errungenschaften im heutigen Sinne des Wortes zu bieten. Ich habe erwähnt, dass die Menschen von Atlantis über keine bis wenige denkerischen Fähigkeiten verfügten. Es wäre jedoch verfehlt zu meinen, dass sie deshalb in äußerst primitiven Verhältnissen in den Wäldern oder in Höhlen lebten. Im Gegenteil, die atlantische Zivilisation war verhältnismäßig hoch entwickelt. Diese zivilisatorischen Errungenschaften sind jedoch nicht infolge der Anwendung denkerischer Kräfte, sondern der Kräfte und Fähigkeiten des (ursprünglichen) Hellsehens entstanden. Die damalige Menschheit verfügte über eine hoch ausgebildete Fähigkeit, welche man als „ traumhaftes Hellsehen “ bezeichnen kann: Sie stand unter direkter Führung und Leitung geistiger Wesenheiten, obschon ihre Anweisungen nicht mit dem wachen, hellen Bewusstsein, das uns heute eigen ist, sondern in traumähnlichem Zustand empfangen wurden. Wenngleich diese Fähigkeiten bereits im Schwinden waren, hatten die Angehörigen der altindischen Zivilisation noch lebhafte Erinnerungen an die früheren (atlantischen) Zeiten, als der Verkehr mit den Göttern viel lebhafter war. Sie schenkten der sie umgebenden sinnlichen Welt wenig Aufmerksamkeit und beschränkten ihre irdischen Tätigkeiten auf das notwendige Minimum. Die zweite große Zivilisation der nachatlantischen Zeit entfaltete sich auf dem Gebiet des heutigen Irans, der bekanntlich früher Persien hieß, weshalb diese Zivilisation als altpersische bezeichnet werden kann. Ihre geisteswissenschaftliche Datierung (ca. 5000 - ca. 2900 v. Chr.) entspricht nicht ganz genau der geläufigen akademischen Meinung, nach der das sog. Proto- Elamitenreich und das Elamitenreich auf 3200 - 2800 v. Chr. zu datieren sind. Eine neuere gemeinsame Studie der iranischen Cultural Heritage Organization, des Louvre und des Institut français de recherche en Iran hat allerdings ergeben, dass die ältesten Siedlungen in Tepe Sialk, wo sich die Überreste des ca. 3000 v. Chr. erbauten Ziggurats befinden, auf 5500 bis 6000 v. Chr. zu datieren sind. 496 Die geisteswissenschaftliche Forschung zeigt, dass sich diese Kultur bereits wesentlich stärker der Eroberung des physischen Raums und vor allem der Entwicklung des Ackerbaus wie auch der Errichtung großer Bauten widmete, was sich mit den Ergebnissen der akademischen Forschung ziemlich genau deckt, die dieser Periode solche Errungenschaften wie Pflug, 496 http: / / www.tehrantimes.com/ highlights/ 98787-sialk-ancient-hills-once-the-earliestziggurats-in-the-world (heruntergeladen am 4. 4. 2014). 1364 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Segelboot und Kupferwerkzeuge zuschreibt. 497 Diese Zuwendung zur Erde wurde umso wichtiger und notwendiger, als die hellseherischen Fähigkeiten des Menschen zunehmend schwächer wurden, so dass er vermehrt auf eigene Denkkräfte angewiesen war. Dennoch waren diese Denkkräfte immer noch nicht allen Menschen zugänglich. Sie waren vielmehr ein Privileg einer kleinen Elite: der Priester und Herrscher. Die Mehrheit lebte hingegen weiterhin als Glieder einer Gruppe, sie gehörte einer Gruppenseele an (ob man diese Gruppenseele im Sinne einer Familie, eines Stammes oder eines Volk verstehen will, ist nebensächlich) und empfand sich als Werkzeug der Interessen und Absichten der Gruppe. Es sei daran erinnert, dass sich noch am Anfang der ägyptischen Zivilisation die Menschen, sogar die Beamten am Hof des Pharaos, als ausführende Organe des Königs empfanden. 498 Auch aus den Erzählungen der Bibel wird ersichtlich, dass sich noch zu Moses Zeiten die Menschen primär als Angehörige einer Volksgemeinschaft (mit religiösen Wurzeln), eben als Israeliten empfanden. Die sich abschwächenden hellseherischen Kräfte waren unterdessen zunehmend den Einflüssen der sich unregelmäßig entwickelnden (luziferischen und ahrimanischen) geistigen Wesenheiten ausgesetzt, so dass sich die gleichsam kosmische Notwendigkeit ergab, in der alltäglichen Lebensführung immer häufiger auf sie zu verzichten. Lediglich besonders geeignete Menschen konnten unter günstigen Umständen und unter der strengen Führung sachkundiger Personen an geweihten Stätten in die geistige Welt eingeführt werden. 499 Solche Personen, die Eingeweihten, wurden dann die natürlichen Führer des Volkes. Die nächste nachatlantische Zivilisation (ca. 2900 - 747 v. Chr.) entwickelte sich vor allem auf dem Gebiet des heutigen Ägypten und Irak (des alten Babylonien und Assyrien) und kann deshalb die ägyptisch-babylonische bzw. ägyptisch-chaldäische (die Chaldäer haben die babylonischen Gebiete ab ca. 1000 v. Chr. allmählich erobert) genannt werden (GA13, S. 282ff.; GA113, S. 166ff.). Die Geschichte dieser Periode ist verhältnismäßig gut erforscht, man muss also nicht ausführlich auf sie eingehen. Die geisteswissenschaftliche Forschung kann aber zu dem akademischen Bild einige Elemente hinzufügen. Der Prozess des allmählichen Verlustes der hellseherischen Fähigkeiten und somit der allmählichen Ablösung von der direkten Führung der Menschheit durch die geistigen Kräfte schreitet in dieser Epoche weiter voran, obschon das Einweihungsprinzip wirksam bleibt: Einige wenige Menschen können zu wahrhafter Einsicht in die geistige Welt geführt werden. Unterdessen werden die denkerischen Kräfte des Menschen (einiger weniger Menschen) stärker, so dass sie fähig werden, physische bzw. astronomische Gesetzmäßigkeiten zu erforschen und somit das praktische Leben zu leiten 497 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Proto-Elamite (heruntergeladen am 4. 4. 2014). 498 Vgl. Kapitel „ Neue Sicht der alten Geschichte “ . 499 Was Bauten wie die Cheops-Pyramide, Newgrange oder das Hypogäum von Ħ al- Saflieni erklärlich macht. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1365 und zu steuern, ob es sich um die Voraussage der Nilüberflutungen oder den Bau der Pyramiden handelt. „ Dem Ägypter war die Erde ein Feld seiner Arbeit, das ihm in einem Zustand übergeben wurde, den er durch seine eigenen Verstandeskräfte so umzuwandeln hatte, dass er als Abdruck menschlicher Macht erschien “ (GA13, S. 283). Die Geisteswissenschaft erhellt auch das große Interesse der Ägypter für das Schicksal des Menschen nach dem Tod, das sich z. B. im Totenbuch der Ägypter niederschlägt. Diese aus der Sicht unserer heutigen materialistischen Kultur fast pathologische Hinwendung zum Nachtodlichen lässt sich dadurch erklären, dass sich die Ägypter, obwohl sie die direkte Sicht der geistigen Welt mehrheitlich verloren hatten, noch immer bewusst waren, dass die Gesetze der physischen Welt die Offenbarungen der Gesetze der jenseitigen, göttlichen Welt sind, jener Welt, aus welcher der Mensch geboren wird und zu welcher er nach dem Tod zurückkehrt und die seine wahre Heimat ist. Deshalb waren für diese Menschen die Anweisungen, die sie darüber unterrichteten, wie man sich im irdischen Leben nach den Absichten der geistigen Mächten verhalten soll, so dass man nach dem Tod mit diesen Mächten vereinigt sein kann, von existenzieller Bedeutung (ebd., S. 284). Die nächste Epoche (747 v. Chr. - 1413 n. Chr.) bildet die griechisch-lateinische Kultur. Diese ist uns so gut vertraut, dass hier nur einige vereinzelte Bemerkungen aus der Sicht der Geisteswissenschaft genügen, um die wichtigsten Punkte dieser Entwicklungsstufe zu verdeutlichen, obschon es selbstverständlich möglich wäre, die Sache wesentlich zu vertiefen. In der vierten nachatlantischen Epoche trübt sich der Blick des Menschen in die geistige Welt endgültig, und zwar so sehr, dass auch in den Mysterienstätten allmählich nur noch verhältnismäßig niedrige Einweihungsstufen erreicht werden 500 und gegen Ende dieser Periode auch in diesen Stätten keine gesunden Einsichten mehr gewonnen wurden und sie letztendlich verschwanden. Ein Symptom dafür ist, dass für die alten Griechen das Leben nach dem Tod nichts weiter als ein wenig ergiebiges und wenig interessantes Schattendasein im unterirdischen Hades war (ebd., S. 288; vgl. „ Neue Sicht der alten Geschichte “ ). 501 Die Herrlichkeit der himmlischen Geisteswelt war ihnen bereits vollkommen abhandengekommen. Auf der anderen Seite entwickelten sich in dieser Zeit die Denkkräfte weiter und wurden einer viel größeren Gruppe von Menschen zugänglich, als dies noch im alten Ägypten der Fall war, was sich z. B. in der Entstehung der Philosophie mit 500 Obschon die orphischen und eleusinischen Mysterien in ihrer Blüte durchaus noch eine kulturell wichtige Rolle spielten (GA13, S. 286). 501 Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist die folgende Passage aus der Odyssee. Es spricht die durch Totenopfer aus dem Hades heraufbeschworene Seele des Achilles zu Odysseus: „ Preise mir jetzt nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus./ Lieber möcht ich fürwahr dem unbegüterten Meier,/ Der nur kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun,/ Als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen “ (Odyssee, Elfter Gesang 488 - 491 (Homer 1980, S. 153). 1366 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft ihren zahlreichen Schulen und Schülern niederschlägt. Dieser Aspekt ist so zentral, dass man die ganze griechisch-lateinische Epoche als die Epoche der Entwicklung der Verstandesseele bezeichnen kann (die ägyptisch-chaldäische Epoche zeichnet sich durch die Entwicklung der Empfindungsseele, die altpersische durch die des Empfindungsleibes und die altindische durch des Ätherleibes aus). Die Entwicklung der Denkkräfte (der Verstandesseele) hat wiederum dazu beigetragen, dass sich die Individualität des Menschen befestigte und er sich nicht mehr als Glied einer Gruppe verstand. Diese Veränderung offenbarte sich darin, dass der Mensch sich nicht mehr allein als Bürger einer Polis ( „ Ich bin ein Athener “ ), sondern als ein selbstbewusster individueller Bürger mit individuellen Rechten empfand, die man auch gegen die Obrigkeit durchzusetzen willens war, und zwar auch dann, wenn man kein Aristokrat und keine vermögende Person war. Symptomatisch in dieser Hinsicht ist z. B. die Haltung Pauls nach seiner Festnahme in Philippi (Apostel 16,36-40). Seit dem 15. Jahrhundert befinden wir uns in der fünften nachatlantischen Epoche, die noch bis ungefähr 3570 n. Chr. dauern wird. Um den Charakter dieser Entwicklungsepoche besser verstehen zu können, muss man auf einen Aspekt der bisherigen Entwicklung aufmerksam machen, der bis jetzt unerwähnt geblieben ist. Wir haben in der obigen Schilderung der Entwicklung der Erde unser Augenmerk einerseits auf die zivilisatorischen, andererseits auf die inneren Entwicklungen der Menschheit im Laufe ihrer komplexen Evolution seit dem Anfang unseres heutigen Planeten konzentriert. Es ist jedoch möglich, ja notwendig, diese Evolution insbesondere seit der Zeit nach der atlantischen Katastrophe mit der Entfaltung bestimmter Seelenglieder des Menschen, so wie sie im Abschnitt „ Wesensglieder des Menschen “ kurz dargestellt wurden, zu verknüpfen. Denn so wie man sagen kann, dass die Zeit des alten Saturns zur Hauptsache der Ausarbeitung des menschlichen physischen Leibes, die Zeit der alten Sonne der des Ätherbzw. Lebensleibes und die Zeit des alten Mondes der des Astralleibes gewidmet war, so sind die späteren nachatlantischen Entwicklungsepochen der Menschheit der Entfaltung und Ausdifferenzierung der spezifischen Seelenglieder des Menschen gewidmet, und zwar die altägyptische Epoche der Empfindungsseele, die altgriechische der Verstandesseele (was die Entstehung der Philosophie in dieser Epoche erklärlich macht) und unsere jetzige, fünfte nachatlantische Entwicklungsepoche der Entwicklung der Bewusstseinsseele. Diese hat sich bis jetzt vor allem im sog. Westen entfaltet, also in Westeuropa mit Großbritannien und Nordamerika, aber auch in Japan; eine Verschiebung des Schwerpunktes nach Osten (China) zeichnet sich aber bereits ab. Die Hauptaufgabe der ganzen nachatlantischen Entwicklungsperiode kann als allmähliche Eroberung der sinnlich-physischen Welt durch die menschlichen Kräfte, vor allem die denkerischen, betrachtet werden (ebd., S. 282). Wir wissen, welchen bedeutsamen Beitrag dazu die Naturwissenschaft und die auf ihrer Grundlage erwachsene Technologie besonders in der Zeit seit der 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1367 „ wissenschaftlichen Revolution “ geleistet hat. Das Zusammentreffen der Entstehung der Naturwissenschaft mit der Entwicklung der Bewusstseinsseele ist selbstverständlich kein Zufall. Um den Grund für diese Koinzidenz verstehen zu können, muss man ein wenig mehr über den Charakter dieses Gliedes der Menschennatur sagen. Steiners Bezeichnung „ Bewusstseinsseele “ gibt nicht eindeutig Aufschluss über seinen essentiellen Charakter. Schließlich besteht die Natur der Seele überhaupt, von ihrem untersten Glied, der Empfindungsseele, an, darin, dass sie mit dem Bewusstsein und den Bewusstseinsprozessen zu tun hat. Das Unterscheidungsmerkmal der Bewusstseinsseele kann man darin erblicken, dass erst in ihr der Mensch fähig ist, sich des geistigen Kerns seiner Wesenheit, seines eigenen Selbst bzw. Ichs bewusst zu werden: „ In der Bewusstseinsseele enthüllt sich erst die wirkliche Natur des „ Ich “ . Denn während sich die Seele in Empfindung und Verstand an anderes verliert, ergreift sie als Bewusstseinsseele ihre eigene Wesenheit “ (ebd., S. 69). (Daher wäre es nicht unangebracht, dieses Glied der Seele nicht als Bewusstseinsseele, sondern als Selbstbewusstseinsseele zu bezeichnen.) Wir haben bereits gesehen, dass dieses Ich göttlichen Ursprungs ist, und wir wissen, dass die wenigsten Menschen sich heute dieser Tatsache bewusst sind, obwohl sie nachweislich in der Epoche der Bewusstseinsseele leben. Dies ist kein Widerspruch, denn die jetzige Epoche hat, verhältnismäßig gesprochen, erst vor kurzem angefangen. Es kann deshalb nicht überraschen, dass ihr Ziel noch nicht erreicht wurde. Auf der anderen Seite aber sind die Vorboten des vertieften Selbstbewusstseins des Menschen durchaus bereits jetzt wahrnehmbar, und zwar gerade auf dem Gebiete des gedanklichen Lebens des Menschen. Für den Menschen der Epoche der Verstandesseele waren seine Gedanken noch die höchste ihm zugängliche Wirklichkeit (abgesehen von der geoffenbarten Wahrheiten der Religion, selbst diese waren ihm aber als Gedanken zugänglich). Nicht umsonst erblickte Plato in den reinen Ideen die höchste Ebene, zu welcher sich der Mensch erheben konnte. Wird sich der Mensch der wahren, göttlichen Natur seines Ichs selbst nur dumpf bewusst, so realisiert er, dass es etwas noch Höheres als die gedankliche Welt geben muss, er gewinnt Distanz zu seinen Gedanken und hat das Gefühl, dass sie nicht unbedingt den sicheren Boden für seine Weltanschauung bilden können, dass er noch etwas anderes braucht, um eine solche Sicherheit gewinnen zu können, er will seine Gedanken überprüfen. Paradigmatisch lässt sich diese innere Situation an Descartes nachweisen, denn bei ihm geht der Zweifel Hand in Hand mit der Entdeckung des Ich. Bei Descartes begrenzt sich jedoch das Bedürfnis nach einer Überprüfung der Gedanken bekanntlich auf eine gedankliche Überprüfung. Dies kann man als ein Überbleibselder früheren Epoche der Entwicklung der Menschheit betrachten. Bereits mit Galileo Galilei kommen die Menschen aber auf die Idee, dass die Gedanken nicht an anderen Gedanken, sondern an der Wirklichkeit mittels Experiment überprüft werden müssen, und mit dieser Entdeckung wird die moderne Wissenschaft geboren. 1368 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Ergänzend ist zu sagen, dass zu dieser Geburt noch eine weitere Entwicklung wesentlich beigetragen hat, die heute immer noch praktisch ausschließlich der übersinnlichen Forschung zugänglich ist. Verfolgt man nämlich mit den Erkenntnismitteln der Geisteswissenschaft die Entwicklung des Denkens seit seinen Anfängen auf Atlantis, so stellt man Folgendes fest: In der Frühzeit der Entwicklung der Menschheit stand der Mensch einer Welt gegenüber, in welcher er sich der göttlich-geistigen Wesenheiten bewusst war (GA26, S. 94). Zu dieser Zeit kann von Denken im heutigen Sinne nicht die Rede sein. Mit der Zeit trat das Göttlich-Geistige aus dem menschlichen Bewusstsein einen Schritt zurück, es verbarg sich vor ihm mit einem Schleier, und der Mensch lebte nicht mehr in der direkten Anwesenheit der Götter, sondern hatte nur noch mit ihren Offenbarungen zu tun. Auch auf dieser Stufe ist aber das bewusste Denken noch nicht möglich. Die Entwicklung schreitet voran: Das Göttliche verhüllt sich weiter, und der Mensch nimmt die Welt nicht mehr als eine direkte Offenbarung des Göttlichen wahr, sondern kann sie nur noch als Wirkung des Göttlichen empfinden. Eine deutliche Spaltung zwischen dem Göttlich-Geistigen und dem Kosmisch-Irdischen trat auf (GA26, S. 94f.). Die frühere Entwicklung der Menschheit kann man als die „ vorreligiöse Zeit “ bezeichnen (GA113, S. 26), denn in ihr war das Göttliche für die Menschen so allgegenwärtig, dass es keine Erzählungen und keine Vermittlung brauchte, um mit ihm zu verkehren. 502 Es gibt bezeichnenderweise keine Priester im Paradies. Adam brauchte keinen Moses, um mit Gott zu sprechen. Erst als sich das Göttliche ausreichend weit vom Menschen entfernte bzw. sich vor ihm verhüllte, entstand das Bedürfnis nach Erinnerung an dieses Göttliche, nach einer Wiederverbindung mit ihm, nach Religion also (re + ligare heißt „ wiederverbinden “ ). Es bedurfte religiöser Erzählungen und Priester. Diese Entwicklung ließ aber zum ersten Mal Platz für das Aufkommen von etwas, was man als Gedanken bezeichnen kann. Die frühen Gedanken empfanden die Menschen allerdings keineswegs als ihre Produkte, so wie wir sie heute empfinden. Bis ca. zum 9. Jahrhundert n. Chr. betrachtete der Mensch Gedanken vielmehr als Eingebungen einer geistigen Welt, wenn auch die Intensität dieses Erlebnisses mit der Zeit abnahm (GA26, S. 59). Der Mensch bildete die Gedanken nicht, sondern er nahm sie wahr, schaute sie gleichsam objektiv in der Welt, so wie er auch die Farben der Gegenstände schaute. Erst danach zeichnet sich der Übergang vom geoffenbarten Gedanken zur persönlichen Intelligenz ab. Der Mensch entwickelt das Bewusstsein: „ Ich bilde die Gedanken. “ Ein Echo dieser Entwicklung findet sich im Universalienstreit des Mittelalters, in dem die Realisten (z. B. Thomas von Aquin) die alte Ansicht bzw. die alte Seelenverfassung vertraten, dass die Universalien in der 502 Es zeigt sich also, dass die Erzählungen vom „ goldenen Zeitalter “ , in welchem die Menschen direkten Verkehr mit den Göttern hatten (vgl. das Kapitel „ Neue Sicht der alten Geschichte “ ) durchaus in der Realität gründen. Solche Erzählungen sind nichts anderes als Erinnerungen an die hier angedeutete, längst vergangene Zeit. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1369 Welt existieren, 503 während die Nominalisten (z. B. Pierre d ’ Ailly) die „ moderne “ Seelenverfassung zum Ausdruck brachten, indem sie behaupteten, dass jene bloß (künstliche, vom Menschen erfundene) Namen seien, welche in der Seele und von der Seele gebildet werden. 504 Es ist nachvollziehbar, dass der Übergang von der Auffassung, dass die Gedanken quasi objektiv wahrgenommen werden, zu der Ansicht, dass sie in der Seele jedes Menschen individuell gebildet werden, zu der Entstehung des Bedürfnisses nach der Überprüfung der Gedanken entscheidend beigetragen hat. Das gegenwärtige Bewusstseinszeitalter hat also wesentliche Aufgaben zu erfüllen: die weitere Eroberung der sinnlich-physischen Welt durch die menschliche Intelligenz, aber auch die Befestigung der Individualität und Selbstständigkeit des Menschen, seiner inneren Freiheit, bis zu der Stufe, da der Mensch sich der wahren Natur seines Selbst bewusst wird. In diesem Sinn sind die bisherigen Entwicklungen auf diesem Gebiet und insbesondere die Errungenschaften der Naturwissenschaft und der Technik auch aus der Perspektive der Geisteswissenschaft zu begrüßen. Dies ist auch der tiefere Grund, weshalb Steiner sich oft positiv über die Naturwissenschaft und Technik äußerte. Die Epoche der Bewusstseinsseele birgt jedoch in sich zugleich Gefahren, die der früheren Menschheit nicht bekannt waren und für die ein klares Bewusstsein entwickelt werden sollte. Denn man muss sich im Klaren sein, dass der Mensch mit dem Verlust der Lebendigkeit seiner Gedanken, mit dem Ersterben der Gedanken in seiner Seele unter viel intensiveren Einfluss jener geistigen Mächte geriet, die wir als ahrimanische bezeichnet haben und die darauf gerichtet sind, den Menschen an die physisch-sinnliche Welt zu ketten und ihn von den göttlich-geistigen Mächten seines Ursprungs abzukoppeln. Steiner schilderte diese Gefahr in der kurz vor seinem Tod verfassten Schrift folgendermaßen: Indem die Gedanken an den physischen Leib übergehen, verlieren sie die Lebendigkeit. Sie werden tot; geistig tote Gebilde. Sie waren vorher, indem sie dem Menschen angehörten, noch immer zugleich Organe der göttlich-geistigen Wesenheiten, zu denen der Mensch gehört. Sie wollten im Menschen wesenhaft. Und dadurch fühlte sich der Mensch durch sie mit der geistigen Welt lebendig verbunden. Mit den toten Gedanken fühlt er sich abgelöst von der geistigen Welt. Er fühlt sich ganz versetzt in die physische Welt. 503 „ Wenn ein Ding von dem her benannt wird, was ihm und vielen gemeinsam ist, dann sagt man, dass ein solcher Name ein Universale bezeichnet, denn der Name bezeichnet so eine vielen Dingen gemeinsame Natur oder Disposition “ (Thomas von Aquin, In Perihermeneias, zitiert nach Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, S. 180). 504 „ Da es ein Universale nicht dem Sein nach, sondern der Repräsentation nach gibt, ist recht verstanden ein Allgemeinbegriff, was von der Seele gebildet und mehreren Dingen in dem Sinn gemeinsam ist, dass es sie gemeinsam vorstellig macht “ (Pierre d ’ Ailly, Tractatus de anima, zitiert nach Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, S. 183). 1370 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Damit aber ist er in die Sphäre der ahrimanischen Geistigkeit versetzt. Diese hat keine starke Macht in den Gebieten, in denen die Wesenheiten der höheren Hierarchien den Menschen so in ihrer Sphäre halten, daß sie entweder, wie in Urzeiten, selbst im Menschen wirken oder, wie später, durch ihren beseelten oder lebendigen Abglanz. Solange dieses ins Menschenwirken hereingehende Wirken übersinnlicher Wesenheiten besteht, das heißt bis etwa zum fünfzehnten Jahrhundert, haben innerhalb der Menschheitsentwickelung die ahrimanischen Mächte nur eine - man möchte sagen - leise anklingende Macht. [. . .] Was vor fünf Jahrhunderten für das Bewußtsein des Menschen begonnen hat, es hatte sich für einen weiteren Umfang seiner Gesamtwesenheit schon vollzogen zur Zeit, als das Mysterium von Golgatha in die irdische Erscheinung getreten ist. Da war es, daß unwahrnehmbar für das damals bei den meisten Menschen vorhandene Bewußtsein, allmählich die Menschheitsentwickelung aus einer Welt, in der Ahriman wenig, in eine solche hineinglitt, in der er viel Macht hat. Dieses Gleiten in eine andere Weltschichte erreichte ihre Vollendung eben im fünfzehnten Jahrhundert. Ahrimans Einfluß auf den Menschen in dieser Weltschichte ist deshalb möglich und kann verheerend wirken, weil in dieser Schichte das dem Menschen verwandte Götterwirken erstorben ist. Aber der Mensch konnte zur Entfaltung des freien Willens gar nicht auf eine andere Art kommen als dadurch, daß er sich in eine Sphäre begab, in der die vom Urbeginn mit ihm verbundenen göttlich-geistigen Wesen nicht lebendig waren. (GA26, S. 83f.) Diese Gefahr ist heute tatsächlich eminent. Zahlreiche Phänomene des gegenwärtigen öffentlichen Lebens, auf welche wir bereits im Abschnitt „ Die Zukunft der Menschheit “ hingewiesen haben, sprechen eine klare und deutliche Sprache. Jegliche Vorstellung, der Mensch sei autark, von den geistigen Wesenheiten völlig frei und unabhängig und auf sie nicht angewiesen, treibt den Menschen in die Arme Ahrimans. Denn eine solche Vorstellung ist eine Illusion, und überdies eine gefährliche Illusion. Wir können zwar ungeheuer kluge Maschinen bauen und sie auf dem Mars setzen, vielleicht wird sogar demnächst auch ein Mensch auf dem Mars landen können, aber wir sind nicht fähig, einen menschlichen Leib zu bauen. Wir können diesen Leib zwar flicken und sind unglaublich geschickt in solchen Flickarbeiten geworden, ihn aus einer Zelle aufzubauen, sind wir dennoch außerstande. Wir können auch nicht Pflanzen und Tiere aufbauen und wachsen lassen, und sind doch auf ihre Existenz absolut angewiesen. Und der Architekt und die Baumeister unseres Leibes wie auch der Pflanzen und der Tiere sind die geistigen Wesenheiten, welche die Entwicklung der Menschheit seit der Saturn-Zeit begleiten und betreuen. Aber nicht nur unser Leib oder die Leiber der Pflanzen und Tiere brauchen die geistigen Pflege, auch unser Bewusstsein braucht die Erfrischung der Nacht und auch diese verdanken wir keinem anderen als den geistigen Wesenheiten unseres Ursprungs. Sich von ihnen trennen zu wollen, ist eine gefährliche Absurdität und kommt fast einem spirituellen Suizid gleich. Wir schulden diesen Wesenheiten Dank und Anerkennung, nicht Gleichgültigkeit oder sogar 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1371 Hohn. Bis vor kurzem war es nicht entscheidend, dass sich die Menschen die Einsicht in diese Situation erwarben. Sie waren nämlich immer noch in einer sanften Art von der geistigen Mächten geführt. Jetzt, da die Zeit der menschlichen Freiheit endgültig angebrochen ist, erwächst der Menschheit ungleich größere Verantwortung für ihre Zukunft als dies je in der Vergangenheit der Fall war. Und diese Verantwortung beschränkt sich keineswegs auf das Problem der Klimaerwärmung, obwohl diese als ein wichtiges Symbol für die gesteigerte Verantwortung des Menschen gelten kann. Größere Herausforderungen erwarten uns. Denn „ [das] Zeitalter, in dem der Mensch unbewußt in der gefährlichen Ahriman-Sphäre sein Dasein entfalten darf, ist vorüber “ (GA26, S. 86). Der Mensch muss jetzt folgenschwere Entscheidungen fällen, welche seine ganze Zukunft betreffen. Die Menschheit ist der ahrimanischen Gefahr nicht schutzlos ausgeliefert. Um von den „ Schutzmaßnahmen “ auf diesem Gebiet sprechen zu können, müssen wir in der Schilderung der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit einige Schritte zurücklegen. Inkarnation Christi Mit dem Aufbruch ins Zeitalter der Bewusstseinsseele ist die Menschheit viel stärker als je zuvor den gefährlichen Einflüssen der ahrimanischen Geister ausgesetzt. Der weisen geistigen Führung der Menschheit war schon lange bewusst, dass diese Zeit kommen muss und kommen wird. Vorkehrungen mussten rechtzeitig getroffen werden, so dass, wenn die stärksten vermaterialisierenden Kräfte ihre Wirksamkeit voll entfalten, die Menschheit über ausreichende Abwehrkräfte gegen ihre Verführungen verfügt. Und so haben die hohen göttlich-geistigen Führer der kosmischen Evolution beschlossen, einen von ihnen auf die Erde zu schicken, um durch seine Inkarnation im menschlichen Leib diesem Leib den Impuls, die Kraft einzupflanzen, den ahrimanischen Versuchungen zu widerstehen. Dieser eine ist der Christus der Evangelien: ein hohes göttliches Wesen, das bis zu seiner irdischen Inkarnation seine Existenz in der Sonnensphäre mit seinen göttlich-geistigen Genossen verbrachte. Aber dasjenige geistige Wesen, dem der Mensch sein eigentliches Dasein verdankt, das in des Menschen tiefstem Ich einmal leben muß, [. . .] der Geist, den der Zarathustra auf der Sonne suchen mußte, der im Blitz und Donner dem Moses sich kundgab, war in einem Menschen erschienen, in dem Jesus von Nazareth. Das war die Entwickelung: aus dem Weltenall heruntergestiegen zunächst bis zu den physischen Elementen, dann bis in einen menschlichen Leib hinein; da erst war das göttliche Ich, von dem der Mensch stammte und auf das der Schreiber des Lukas-Evangeliums den Stammbaum des Jesus von Nazareth zurückführt, wiedergeboren. (GA112, S. 22f.) Ich habe gesagt, die hohen göttlich-geistigen Führer der kosmischen Evolution hätten beschlossen, den Christus auf die Erde zu entsenden. Diese 1372 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Formulierung sollte in keiner Weise den Opfercharakter seiner Tat, der zurecht so stark in der religiösen christlichen Tradition betont wird, schmälern. Seine Tat war eine freie Tat, die auch unterlassen werden konnte. Man muss bedenken, dass allein die Inkarnation in einem menschlichen Leib für dieses Wesen eine schier unvorstellbare Entbehrung bedeutete. Selbst der Umzug eines reichen Königs aus seinem Palast in eine Favela in Rio reicht als Vergleich nicht aus, um die Schärfe des Kontrastes zwischen der göttlichgeistigen Existenz auf der Sonne und der Existenz eines armes Schreiners in Palästina des ersten Jahrhunderts zum Ausdruck zu bringen. Wir wissen auch, dass Christus bis zum Ende darum rang, seinem Entschluss treu zu bleiben (Mt 26,39,42; Mk 14,35-36; Lk 22,42-44). Was war die Bedeutung seiner Opfertat im Lichte der Geisteswissenschaft? Es wäre ein Leichtes, ein ganzes Buch mit Zitaten aus Steiners Schriften und Vorträgen zu diesem Thema zu füllen. Ich verzichte darauf aus verständlichen Gründen. In knappsten Worten lässt sich sagen, dass Christus durch seine Inkarnation in den menschlichen Leib die Kraft eingepflanzt hat, die Verführungen sowohl von Ahriman als auch von Luzifer zu widerstehen. Man muss dabei bedenken, dass die ursprüngliche „ Versuchung “ zwar vom Astralleib des Menschen ausging, aber Folgen bis in die Konstitution des physischen Leibes hatte: Einerseits verlor der Mensch infolge des luziferischen Einflusses die Fähigkeit, hinter den physischen Lichtoffenbarungen die göttlich-geistige Wirksamkeit wahrzunehmen, andererseits wurde infolge der Einwirkung der ahrimanischen Kräfte sein physischer Leib gebrechlich, der Tot trat in die Evolution der Menschheit ein. Christi ermöglicht es dem Menschen durch seine Inkarnation, die beiden störenden Einflüsse Luzifers und Ahrimans allmählich zu überwinden: 505 In jenem Augenblicke seines Lebens, in welchem der Astralleib des Christus Jesus alles das in sich hatte, was durch den luziferischen Einschlag verhüllt werden kann, begann sein Auftreten als Lehrer der Menschheit. Von diesem Augenblicke an war in die menschliche Erdenentwickelung die Anlage eingepflanzt, die Weisheit aufzunehmen, durch welche nach und nach das physische Erdenziel erreicht werden kann. In jenem Augenblicke, da sich das Ereignis von Golgatha vollzog, war die andere Anlage in die Menschheit eingeimpft, wodurch der Einfluß Ahrimans zum Guten gewendet werden kann. Aus dem Leben heraus kann nunmehr der Mensch durch das Tor des Todes hindurch das mitnehmen, was ihn befreit von der Vereinsamung in der geistigen Welt. (GA13, S. 292; Vgl. auch GA112, S. 102) Es ist deshalb kein Zufall, dass Christus zwischen zwei „ Übeltätern “ gekreuzigt wurde. Es ist ein Symbol dafür, dass Christus den mittleren Weg zwischen zwei geistigen Kräften, zwei geistigen Abirrungen darstellt, 505 Diese Wirksamkeit Christi entfaltet sich daher bis in das Knochensystem des Menschen hinein (GA112, S. 187f.). 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1373 dass er die Kraft ist, die es dem Menschen ermöglicht, den mittleren Weg zwischen diesen zwei zu befolgen. 506 Wenn in der obigen Passage davon die Rede ist, dass der Astralleib Jesu Christi alles in sich hatte, was durch den luziferischen Einschlag verhüllt werden kann, dann muss diese Aussage so verstanden werden, dass Jesus Christus nach seiner Taufe im Jordan der direkten, unverhüllten Einsicht in die geistige Welt fähig war und in vollständiger Harmonie mit dieser Welt handeln konnte und handelte. Deshalb konnte Jesus sagen: „ Ich rede, was ich bei dem Vater gesehen habe “ (Joh 8,38), und: „ Wenn ihr den Sohn des Menschen erhöht haben werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und dass ich nichts von mir selbst tue, sondern wie der Vater mich gelehrt hat, das rede ich “ (Joh 8,28). Insbesondere war er sich seiner Ewigkeit, dass er bereits vor der Erdenevolution existierte, völlig bewusst, weshalb er sagen konnte: „ Wahrlich, wahrlich sage ich euch: Ehe Abraham war, bin ich “ (Joh 8,58). Und später: „ Vater, ich will, dass die, welche du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin, damit sie meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast, denn du hast mich geliebt vor Grundlegung der Welt “ (Joh 17,24). Man muss aber an dieser Stelle auch bedenken, dass der Mensch kaum für die Folgen der Versuchung verantwortlich gemacht werden kann. Er stand damals (wie auch heute) auf einer unvergleichbar tieferen Entwicklungsstufe als sein „ Versucher “ und konnte sich ihm kaum widersetzen. Es ist bezeichnend, dass die Bibel die Versuchung so schildert, dass just in dem Moment, als die Schlange sich den Menschen nähert, Gott nicht bei ihnen ist und sie nicht vor der Schlange verteidigen kann (1 Moses 3, 1 - 9). Kann oder will er nicht? Der allwissende Gott musste wissen, was im Paradies vor sich ging, er wusste auch, dass die Menschen der Versuchung kaum widerstehen können werden. Warum hat er sie dann überhaupt zugelassen? Weil der (partiellen) Abkoppelung des Menschen von der göttlich-geistigen Führung auch Positives abgewonnen werden konnte: die Freiheit. 507 Eine Menschheit, die dauernd von den geistigen Wesenheiten geführt wird, würde zwar nicht irren, sie würde aber auch nicht frei werden. Aber ohne frei zu werden, hätte die Menschheit auch nicht die wahre Liebe entwickeln können. Denn Liebe kann 506 Diese mittlere Stellung Christi findet übrigens ihre äußerst eindrucksvolle bildhafte Darstellung in der monumentalen Holzskulptur des sog. Menschrepräsentanten, an der Steiner bis zum Ende seines Lebens arbeitete. Sie befindet sich heute im Goetheanum in Dornach. 507 Damit übereinstimmend berichtet Alexander, dass ihm Om mitteilte, dass das Böse notwendig sei, weil ohne es freier Wille unmöglich sei, und ohne den freien Willen gäbe es keine Verwandlung, keinen Fortschritt, keine Chance für die Menschen zu werden, was Gott für sie ersehne (Alexander 2012, S. 48; vgl. das Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ ). 1374 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft nicht erzwungen werden, sie muss eine freie Gabe eines Wesens an ein anderes Wesen sein. Die Liebe eines Kindes für seine Eltern ist keine wahre Liebe, sie ist ein Instinkt, der sich aus der tiefen Abhängigkeit ergibt. Sie kann sich aber im erwachsenen Menschen in wahre Liebe verwandeln, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind. Eine erste dieser Bedingungen ist aber, dass das Kind unabhängig von seinen Eltern wird. So musste auch die Menschheit mündig, d. h. (teilweise) unabhängig von ihren Schöpfern werden, um aus innerer Freiheit sich ihnen und der von ihnen geschaffenen Welt in Liebe wieder zuwenden zu können. Die Entwicklung dieser Liebe, nicht als einer bloß erotischen oder gar sexuellen, sondern als einer kosmischen Kraft, ist die zentrale Aufgabe der Menschheit auf der Erde: den Kosmos der Weisheit, den sie als Gabe der Wirksamkeiten der hohen göttlich-geistigen Wesenheiten aus der Vergangenheit erhalten hat, in den Kosmos der Liebe zu verwandeln (GA13, S. 415). Heute spricht die uns umgebende, uns tragende und umsorgende Natur in jeder ihrer Offenbarungen die Sprache der Weisheit. Je mehr wir in die Tiefen der einfachsten Pflanze, ja einzelner Zellen einzudringen vermögen, desto mehr staunen wir über das weisheitsvolle, harmonische Zusammenspiel aller ihrer Teile. Die Weisheit der Natur ist die Erbschaft der Vergangenheit der kosmischen Evolution über die Äonen der Saturn-, Sonne- und Mond-Entwicklung. In der Zukunft wird die Natur außer der Sprache der Weisheit auch die Sprache der Liebe sprechen. Diese aber wird ihr vom Menschen als seine freie Tat und als sein besonderer, einzigartiger, unendlich wertvoller Beitrag zu der bisherigen Entwicklung des Kosmos eingepflanzt. Die künftige Natur wird nicht nur den süßen Duft der Blumen, sie wird auch den Duft der Liebe ausstrahlen. Und der Lehrer dieser Liebe ist kein anderer als Christus. Nicht von ungefähr sprach er von nur einem neuen Gebot, dessen Einhaltung er von seinen Jüngern verlangte: „ Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, damit, wie ich auch geliebt habe, auch ihr einander liebt. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt “ (Joh 13, 34 - 35; vgl. auch 15,12; 15,17). Aber er gibt den Jüngern auch die Kraft, diese Liebe zu entfalten: „ Gerechter Vater! - Und die Welt hat dich nicht erkannt; ich aber habe dich erkannt, und diese haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, womit du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen “ (Joh 17,25-26). Die Liebe, die Christus die Menschen lehrt, ist eine wahre kosmische Liebe, sie ist die Liebe, welche Gottvater für den Christus hat, und zwar vor Grundlegung der Welt. Es ist tatsächlich so, dass er denen, die ihn aufnehmen, das Recht (die Kraft) gibt, „ Kinder Gottes zu werden “ (Joh 1,12). Rudolf Steiner hat das in den folgenden Worten geschildert: Im Menschen der Erde muß [die] Kraft der Liebe ihren Anfang nehmen. Und der „ Kosmos der Weisheit “ entwickelt sich in einen „ Kosmos der Liebe “ hinein. Aus alledem, was das „ Ich “ in sich entfalten kann, soll Liebe werden. Als das umfassende „ Vorbild der Liebe “ stellt sich bei seiner Offenbarung das hohe 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1375 Sonnenwesen dar [. . .]. In das Innerste des menschlichen Wesenskernes ist damit der Keim der Liebe gesenkt. Und von da aus soll er in die ganze Entwickelung einströmen. Wie sich die vorher gebildete Weisheit in den Kräften der sinnlichen Außenwelt der Erde, in den gegenwärtigen „ Naturkräften “ offenbart, so wird sich in Zukunft die Liebe selbst in allen Erscheinungen als neue Naturkraft offenbaren. Das ist das Geheimnis aller Entwickelung in die Zukunft hinein: daß die Erkenntnis, daß auch alles, was der Mensch vollbringt aus dem wahren Verständnis der Entwickelung heraus, eine Aussaat ist, die als Liebe reifen muß. Und so viel als Kraft der Liebe entsteht, so viel Schöpferisches wird für die Zukunft geleistet. (GA13, S. 415; vgl. GA104, S. 150) Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass Steiner nur in einem öffentlichen Vortrag (Nürnberg, 17. 6. 1908) von dieser Wesenheit als vom „ Zentralwesen “ , dem „ Mittelpunktwesen “ der menschlichen Evolution, der „ größten Wesenheit, die über den Erdball geschritten ist “ , als dem „ Urgrund alle Dinge “ sprach (GA104, S. 34f.). In der Tat kann man das Wesen der Geisteswissenschaft bzw. der Anthroposophie als eine neue, den Bedürfnissen unseres Zeitalters angepasste Verkündigung des Christus-Ereignisses bezeichnen (GA112, S. 11). Aus Sicht der Geisteswissenschaft ist die Evolution der Menschheit und des Kosmos weder, wie es die materialistische Evolutionstheorie unterstellt, ein stetiges Wachstum, eine stetige Steigerung der Komplexität und Perfektion, noch, wie es die „ Alten “ befürchteten, ein stetiger Abfall vom goldenen zum ehernen Zeitalter. Sie ist vielmehr U-förmig, wie sie schon von Schelling gedacht war. Sie hat in geistiger Höhe begonnen (GA116, S. 70 - 74), insofern die Menschheit zunächst einen erhabenen Status „ im Schoß “ der göttlich-geistigen Wesenheiten innehatte. Sie war aber von diesen Wesenheiten vollständig abhängig, so wie der Säugling von seiner Mutter. Es folgte ein allmählicher Abstieg, während dessen die Menschheit zwar ihre ursprüngliche geistige Höhe größtenteils verlor, aber an Unabhängigkeit, Selbstständigkeit, Reife gewann. Die Zeit der Inkarnation Christi markiert den Tiefpunkt dieser absteigenden Bewegung und zugleich den Moment, da der Menschheit der nötige Schwung verliehen wurde, um den aufsteigenden Ast ihrer Entwicklung erklimmen zu können. Es könnte behauptet werden, dass von dieser aufsteigenden Entwicklung nicht viel zu bemerken ist. Ja, die Menschheit ist seit Christi Geburt noch viel stärker der Materialität verfallen und hat sich in zwei verheerende Weltkriege verwickelt, von den zahlreichen mörderischen Konflikten seit 1945 ganz zu schweigen. (Da ich diese Worte schreibe, wird in Ruanda des 20. Jahrestages der Massaker der Hutu an den Tutsis im Jahr 1994 gedacht, dem innerhalb von drei Monaten 800.000 bis eine Million Menschen auf brutalste Weise zum Opfer fielen.) Man muss aber bedenken, dass, erstens, wie ich bereits angedeutet habe, die Ankunft Christi auf der Erde vor dem tiefsten Abstieg der Menschheit in den Materialismus „ geplant “ war, so dass die Heilungskräfte bereits wirksam sind, wenn diese Zeit naht. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Menschheit bereits 1376 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft bedeutende Schritte zu mehr Liebe und mehr Geist gemacht hat, und zwar besonders in der allerletzten Zeit. Denn einerseits hat sich zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Einsicht durchgesetzt, dass Kriege keine Lösung der Konflikte zwischen den Menschen darstellen, dass man Konflikte durch Verhandlungen und Gespräche, nicht durch Gewaltanwendung beilegen sollte. Gewiss werden auf der ganzen Welt immer noch zahlreiche Kriege ausgetragen werden, die Bereitschaft der Völker, „ für das Vaterland “ zu kämpfen und zu sterben, hat aber seit dem Ersten Weltkrieg, wo diese Bereitschaft noch stark ausgeprägt war, merklich abgenommen. Andererseits hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass die Strafen im Sinne des Kodex Hammurabi oder des Mosaischen Gesetzes ( „ Auge für Auge, Zahn für Zahn “ ) doch nicht der Weisheit letzter Schluss sind. Heute werden in den meisten Ländern der Welt (interessanterweise vor allem in der christlichen Welt) den Dieben die Hände nicht abgeschnitten, die Ehebrecher werden nicht gesteinigt und die Mörder werden nicht umgebracht. Es scheint also eine Tendenz zu Milde und Barmherzigkeit zu geben. Pinkers kontroverses Buch The Better Angels of Our Nature. Why Violence Has Declined (Pinker 2011) zeichnet diese Abkehr von der Gewalt eindrücklich nach. Was in seiner Analyse wie auch in anderen Interpretationen dieses Trends fehlt, ist eine Zuschreibung dieser willkommenen Entwicklung zu jenen Kräften, die der Evolution der Menschheit vor 2000 Jahren von Christus eingepflanzt wurden. Drittens kann vermutet werden, dass Sehnsucht nach Spiritualität, die entgegen den Voraussagen und Hoffnungen der Materialisten anwächst und sich in Phänomenen wie New Age, Aufschwung heidnischer Kulte, Stärkung des Islam oder sogar die phänomenale Popularität der Harry-Potter-Bücher weltweit manifestiert, ebenfalls (vielleicht sogar paradoxerweise) dem Christus-Impuls zu verdanken ist. Denn man kann immer hoffen, dass der Mensch, der in irgendeiner Form den Weg vom Materialismus zur Spiritualität findet, letztendlich auch den Weg zu Christus finden wird. Und schließlich mehren sich viertens, wie ich im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus “ dargelegt habe, gerade in der allerletzten Zeit die Anzeichen dafür, dass nicht nur unter gewöhnlichen Bürgern, sondern auch unter den Wissenschaftlern die Sehnsucht nach Geistigkeit deutlich wächst. Die Wirksamkeit Christi wird sich auch in der nächsten Zeit bedeutend steigern. Steiner hat bereits um 1910 darauf hingewiesen, dass die sog. Wiederkunft Christi (Apg 1,10-11) ab ca. 1930 einsetzen wird (GA118, S. 33, 51, 72, 84 usw.). Unter dieser Wiederkunft ist jedoch nicht jene gewaltige Umwälzung auf der Erde und im Himmel zu verstehen, welche die Vollendung der Heilgeschichte ankündigt, die Gründung des Reichs Gottes, von der in den Evangelien (Mt 24,4-31; Mk 13,24-37; Lk 21, 7 - 36) und in der Offenbarung des Johannes die Rede ist (Offb 19,11-22,21). Die Schilderung der Apostelgeschichte ist weit weniger dramatisch. Dort heißt es schlicht: 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1377 Und als er dies gesagt hatte, wurde er von ihren Blicken emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf vor ihren Augen weg. Und als sie gespannt zum Himmel schauten, wie er auffuhr, siehe, da standen zwei Männer in weißen Kleidern bei ihnen, die auch sprachen: Männer von Galiläa, was steht ihr und seht hinauf zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen worden ist, wird so kommen, wie ihr ihn habt hingehen sehen in den Himmel. (Apg 1, 9 - 11) Es ist hier von keinen gewaltigen Zeichen „ am Himmel und auf der Erde “ die Rede, weil die Apostelgeschichte nicht wie die Apokalypse von der Parusie, von dem endgültigen Sieg Christi spricht (darauf werden wir demnächst kurz eingehen), sondern vom Erscheinen Christi in seiner ätherischen Gestalt, das sich nicht am Ende der Zeit, sondern bereits gegenwärtig abspielt. Die Wolken der Apostelgeschichte sind ein bildhaftes Symbol für die ätherische Welt, in die Christus verschwindet. Schließlich wäre es widersinnig zu meinen, dass ein 70 Kilogramm schwerer Mann auf realen Wolken in den Himmel transportiert wird. Auf die Tatsache, dass der Leib Christi nach seiner Auferstehung kein gewöhnlicher physischer Leib war, wurden wir übrigens durch den Evangelisten Johannes bereits vorbereitet, als er uns schilderte, wie Christus am Abend des Tages seiner Auferstehung (Joh 20,19) und dann wiederum nach acht Tagen (Joh 20,26) die versammelten Jünger besuchte und dabei durch eine verschlossene Tür hindurchgegangen ist und dennoch, zumindest bei der zweiten Begegnung mit den Jüngern, berührt werden konnte. Sein Auferstehungsleib war kein gewöhnlicher physischer Leib, gerade deshalb konnte er in „ Wolken “ entschwinden. In der Begrifflichkeit der Geisteswissenschaft ausgedrückt handelt es sich darum, dass sich der ätherische Leib Christi, der nach seiner Auferstehung mit besonderen Eigenschaften ausgestattet war, in der allgemeinen ätherischen Substanz des Kosmos gleichsam auflöst und sich somit dem hellseherischen Blick der Jünger entzieht. Wie erwähnt, sagte Steiner voraus, dass ab den 1930er-Jahren Christus in seiner ätherischen Gestalt einer zunehmend großen Zahl von Menschen erneut erscheinen wird, eine Voraussage, die sich, wie wir im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus “ gesehen haben, eindrücklich bestätigte (vgl. Abschnitt „ Hillerdal und Gustafsson: Sie erlebten Christus “ wie auch die zahlreiche Berichte von der Begegnung mit dem „ Lichtwesen “ , die aus den Berichten über Nahtoderfahrungen bekannt sind). Es ist unverkennbar, dass Menschen, die eine Begegnung mit dem Auferstandenen in seiner ätherischen Gestalt gehabt haben, anders im Leben stehen als Menschen, die eine solche Erfahrung nicht hatten. Darin zeigt sich die Wirksamkeit einer solchen Begegnung, die Kraft, welche von ihr ausgeht. Künftige Wissenschaft Eine besondere Facette der Wirksamkeit des Christus-Impulses wird sich in der Wissenschaft bemerkbar machen. Die heutige materialistische Wissenschaft wird allmählich durch eine neue Sicht der Welt ersetzt werden, die die 1378 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Wirksamkeit Christi bis in die innersten Windungen der „ Materie “ erkennen und anerkennen wird. Das meiste, was man die heutige materialistische Wissenschaft in allen Ländern nennen kann, steht unter [dem] Einfluß [der zurückgebliebenen 508 ägyptischchaldäischen Geister]. Aber daneben macht sich eine andere Strömung geltend, die darauf hinzielt, daß der Mensch bei allem, was er tut, endlich das finden wird, was man das Christus-Prinzip nennen kann. Es gibt heute zum Beispiel Menschen, welche sagen: Unsere Welt besteht im letzten Grunde aus Atomen. Wer flößt denn dem Menschen die Gedanken ein, daß die Welt aus Atomen bestehe? Das sind die während der ägyptisch-chaldäischen Zeit zurückgebliebenen übermenschlichen Engelwesenheiten. Was werden nun die Wesenheiten lehren, welche ihr Ziel im alten ägyptischchaldäischen Kulturgebiet erreicht haben, und die damals den Christus kennengelernt haben? Sie werden dem Menschen andere Gedanken einflößen können als die, daß es nur stoffliche Atome gebe; denn sie werden den Menschen lehren können, daß bis in die kleinsten Teile der Welt hinein die Substanz von dem Geiste des Christus durchzogen ist. Und so sonderbar es erscheinen mag: Künftig werden Chemiker und Physiker kommen, welche Chemie und Physik nicht so lehren, wie man sie heute lehrt unter dem Einfluß der zurückgebliebenen ägyptisch-chaldäischen Geister, sondern welche lehren werden: Die Materie ist aufgebaut in dem Sinne, wie der Christus sie nach und nach angeordnet hat! - Man wird den Christus bis in die Gesetze der Chemie und Physik hinein finden. Eine spirituelle Chemie, eine spirituelle Physik ist das, was in der Zukunft kommen wird. Heute erscheint das ganz gewiß vielen Leuten als eine Träumerei oder Schlimmeres. Aber was oft die Vernunft der kommenden Zeiten ist, das ist für die vorhergehenden Torheit. (GA15, S. 65f.) Wie Steiner in dieser Passage andeutet, mutet die Behauptung, die künftige Wissenschaft werde die Wirksamkeit Christi bis in die Gesetze der Chemie und Physik anerkennen, heute wie ein Wahnsinn an. Ich möchte jedoch an dieser Stelle an die Frage bzw. das Rätsel erinnern, welches ich zu Beginn des Kapitels „ Rudolf Steiners übersinnliche Erkenntnismethoden “ gestellt habe: Wieso eigentlich erscheint uns ein iPhone interessanter als ein Grashalm, der doch unvergleichbar komplexer als jedes menschliche Erzeugnis ist. Die Antwort auf diese scheinbar triviale Frage ist alles andere als trivial und hat weitreichende Konsequenzen. Wir haben oben gesehen, dass hinter dem sog. Sündenfall des Menschen eine geistige Macht steht, welche wir als Luzifer bezeichnet haben, eine Macht, die daran interessiert ist, den Menschen von den ihn führenden Geistesmächten abzutrennen, ihm die Freiheit zu geben und seine Erkenntnis des Charakters eines treuen Spiegels der himmlischen Vorgänge, den sie bis dahin hatten, zu berauben. Die Folge dieses Eingriffs war, wie wir gesehen haben, dass die Menschheit tatsächlich Freiheit erlangte, 508 Luziferisch-ahrimanischen. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1379 dass sie aber auch das vorausschauende Bewusstsein verlor (was der Ursprung der Angst ist) und für den Erkenntnis- und den moralischen Irrtum anfällig wurde. Auch traten nun Krankheit und Tod in die Menschheitsgeschichte. Wir haben aber auch gesehen, dass die Verstrickung der Menschheit in die Einflüsse der luziferischen Mächte anderen geistigen Wesenheiten Einlass in die Evolution der Menschheit gewährte. Wir haben die führende Macht dieser Strömung mit dem Namen Ahriman bezeichnet. Während die luziferischen Geister vor allem daran interessiert sind, den Menschen seiner wahren geistigen Väter abtrünnig zu machen (GA194, S. 17), liegt das Interesse der ahrimanischen Mächte darin, ihn zu beherrschen, ihn von sich abhängig zu machen und allmählich in ihre Machtsphäre einzubeziehen (ebd., S. 17f.). Um dieses Ziel zu erreichen, verhüllen sie den Blick auf die göttlichen Wirkungen in der Natur: Nun ist aber im Laufe der menschlichen Entwickelung durch den Einfluß Luzifers eine andere Macht in die Menschenseele eingezogen. Es ist diejenige, welche als die Kraft Ahrimans in früheren Abschnitten dieses Buches bezeichnet ist. Es ist dies die Kraft, welche den Menschen im physisch-sinnlichen Dasein verhindert, die hinter der Oberfläche des Sinnlichen liegenden geistig-seelischen Wesenheiten der Außenwelt wahrzunehmen. (GA13, S. 390) Wir sehen also, dass unser Unvermögen, die Schönheit, die Erhabenheit eines Grashalmes nicht höher als die Schönheit eines iPhones zu stellen, nicht bloß ein trivialer Zufall, sondern ein wichtiges Resultat der gezielten Wirkung bestimmter geistiger Wesenheiten ist. Die oben erwähnten Zweifel Bacons an der Leistungsfähigkeit der Sinne (vgl. im Kapitel „ Was ist Wissenschaft “ den Abschnitt „ Wissenschaft ist empirisch “ ) erweisen sich im Lichte der Geisteswissenschaft als durchaus berechtigt. Der menschliche Wahrnehmungsapparat ist ein „ unebener Spiegel, der seine eigene Eigenschaften den verschiedenen Gegenständen verleiht “ (Bacon 1990, Aphorismus 41) und insbesondere zentrale Aspekte der Wirklichkeit völlig ausblendet. Dieses Unvermögen ist nicht bloß eine Schwäche, es ist eine - wenn ich es so bezeichnen darf - geistige Krankheit, an welche alle heute lebenden Menschen leiden. Und weil alle daran leiden, ist diese Krankheit zur Normalität geworden und niemand merkt, dass er oder sie eigentlich krank ist. Die Wirkung der ahrimanischen Kräfte lässt sich sehr gut durch ein von Christian Andersen in seinem Märchen „ Schneekönigin “ entworfenes Bild veranschaulichen. Darin geht es um einen teuflischen Spiegel, der alles Schöne ins Häßliche verdreht. Die Teufel wollten den Spiegel vor Gott und die Engel bringen, aber er zerbrach in Billionen von Stücken, was jedoch ein noch größeres Unheil nach sich zog: [D]enn einige Stücke waren kaum so groß wie ein Sandkorn, und diese flogen ringsumher in der weiten Welt, und wo jemand sie in das Auge bekam, da blieben sie sitzen, und da sahen die Menschen alles verkehrt oder hatten nur Augen für das Verkehrte bei einer Sache; denn jede kleine Spiegelscherbe hatte dieselben Kräfte 1380 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft behalten, welche der ganze Spiegel besaß. Einige Menschen bekamen sogar eine Spiegelscherbe in das Herz und dann war es ganz greulich; das Herz wurde einem Klumpen Eis gleich. 509 Mir scheint, dass Andersen eine verblüffend genaue Ahnung der Wirkung der ahrimanischen Kräfte auf den Menschen hatte: Sie berauben den Menschen der Kraft, die Schönheit der natürlichen Welt zu sehen, und töten sein Herz, seine Fähigkeit für Mitgefühl ab. Die Folgen dieser Krankheit sind, wie gesagt, alles andere als trivial, sie sind im Gegenteil gravierend. Denn sie bewirkt, dass der Mensch seine Freiheit und Erfüllung nur in der Erzeugung und Nutzung technischer Geräte erblickt, anstatt sich an den göttlichen Wirkungen in der Natur erfreuen zu können. Man will eben das neuste iPhone haben, um mit ihm zu spielen und sich mit Freunden über allerlei Banalitäten austauschen zu können, anstatt den himmlischen Anblick der Fackellillien (um Huxleys Beispiel aufzugreifen, Huxley 2011, S. 28) zu genießen. Man will einen größeren Fernseher, ein neues Auto, ein schönes Haus, eine Weltreise usw. Welche Folgen dieser Lebensstil für die Umwelt, für den Planeten und vor allem für die Menschen hat, die von ihm nicht profitieren, sondern unter ihm indirekt leiden, wissen wir heute zur Genüge. Diese Feststellung sollte selbstverständlich nicht als ein Plädoyer für den Rückkehr in die „ Höhle “ verstanden werden. Wir brauchen die Technik, wir haben an ihr, wie auch allgemeiner an der materialistischen Wissenschaft, eine Menge gelernt, sind reifer, stärker, selbständiger geworden: Wären durch die weise Weltenführung während der ägyptisch-chaldäischen Zeit [gewisse] Wesenheiten nicht zurückgeblieben, so würde es der gegenwärtigen Kultur an der nötigen Schwere fehlen. Es würden dann nur die Kräfte wirken, welche den Menschen mit voller Gewalt ins Geistige bringen wollen. Die Menschen würden nur allzusehr geneigt sein, sich diesen Kräften zu überlassen. Sie würden Schwärmer werden. Solche Menschen würden nur etwas wissen wollen von einem Leben, das so schnell wie möglich sich vergeistigt; und eine Gesinnung wäre für sie maßgebend, die eine gewisse Verachtung des Physisch-Materiellen zeigte. Die gegenwärtige Kulturepoche kann aber ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn die Kräfte der materiellen Welt zur vollsten Blüte gebracht und so allmählich auch ihr Gebiet der Geistigkeit erobert wird. (GA15, S. 54) Dafür sollten wir ihnen und den hinter ihnen stehenden Mächten dankbar sein. Es ist aber heute entscheidend zu erkennen, dass alles, was uns diese Mächte, sei es an Schönheit der Kunst, sei es an Faszination der Technik zu bieten haben, dem Menschen und seinem spirituellen Fortschritt dienen sollte und nicht umgekehrt. In unserer heutigen Wissenschaft leben die Kräfte der alten ägyptischen und chaldäischen Welt, die damals fortschreitende Kräfte waren, jetzt aber zurückgebliebene darstellen, und die man erkennen muß, wenn man den Charakter der 509 http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ hans-christian-andersen-m - 1227/ 80 (heruntergeladen am 9. 1. 2015). 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1381 Gegenwart richtig würdigen will. Diese Kräfte werden dem Menschen der Gegenwart schaden, wenn er ihre Bedeutung nicht kennt; er wird keinen Schaden durch sie nehmen, sondern sie zu guten Zielen führen, wenn er sich ihres Wirkens bewußt ist und sich dadurch in das rechte Verhältnis zu ihnen bringt. Diese Kräfte müssen ihre Verwertung finden; man würde sonst nicht die großen Errungenschaften in der Technik, Industrie und so weiter in der Gegenwart haben. Es sind Kräfte, die luziferischen Wesenheiten der untersten Stufe angehören. Wenn man sie nicht in richtiger Weise erkennt, dann hält man die materialistischen Impulse der Gegenwart für die einzig möglichen, und sieht nicht die anderen Kräfte, welche hinaufführen in das Spirituelle. (GA15, S. 53) Der Mensch muss die Kraft und die Weisheit haben, die Mitte zwischen den zwei Abirrungen zu halten, der luziferischen, die ihn von der Erde in die geistige Welt zerrt, und der ahrimanischen, die ihn an die materielle Erde kettet. Er muss zu seinen göttlichen Vätern halten, das aber heißt ganz konkret: zu Christus, der sagte: „ Seht euch an, wie die Lilien blühen! Sie können weder spinnen noch weben. Ich sage euch, selbst König Salomo war in seiner ganzen Herrlichkeit nicht so prächtig gekleidet wie eine dieser Blumen “ (Lk 12,27, vgl. Mt 6,28-29), denn er wusste, wie herrlich die bescheidensten Blumen sind. Und er sagte auch: „ Häuft in dieser Welt keine Reichtümer an! Ihr wisst, wie schnell Motten und Rost sie zerfressen oder Diebe sie stehlen! Sammelt euch vielmehr Schätze im Himmel, die unvergänglich sind und die kein Dieb mitnehmen kann “ (Mt 6,19-20; vgl. Lk 12,33), denn er wusste, dass weder Geld noch sonstige materielle Schätze dem Menschen langfristig nutzen können. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass in der Zukunft die luziferischen und ahrimanischen Impulse allmählich überwunden und somit die Fähigkeit der Einsicht in die geistige Welt unter den Menschen wieder weit verbreitet sein wird, erscheint die Vision einer künftigen durchchristeten Wissenschaft weniger verrückt, als es noch am Anfang dieses Abschnitts erscheinen konnte. Die Rolle des Christus in der Einweihung An dieser Stelle kann eine bedeutsame Frage aufkommen: Wenn in der Geisteswissenschaft bzw. Anthroposophie die Rolle des Christus so hochgehalten wird, wieso spielte diese Wesenheit eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle in der Darstellung der Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten, die im vorigen Kapitel geboten wurde? Diese Frage ist umso mehr von Bedeutung, als die Anthroposophie nicht allein von Seiten der Wissenschaft als eine Pseudowissenschaft abgetan, sondern auch von Seiten der christlichen Konfessionen als unchristlich angegriffen wird, weil sie z. B. Reinkarnation „ predige “ , von geistigen Wesen, sogar Göttern, anstatt von einem Gott in drei Personen spreche, seltsame Vorstellungen in Bezug auf Christus hege ( „ Sonnengeist “ ), sogar die Frechheit habe, von zwei Jesusknaben und nicht von einem Jesus zu sprechen usw. Wie die Beschuldigungen 1382 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft der akademischen Wissenschaft gegen die Anthroposophie unberechtigt sind, so sind auch die Vorwürfe von religiöser Seite völlig unberechtigt. Ich hoffe, die vorausgehenden Zeilen haben bereits einiges dazu beigetragen, diesen Vorwürfen die Grundlage zu entziehen. Die scheinbar geringe Rolle, welche Christus in der obigen Darstellung der Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten spielt, bleibt jedoch in diesem Zusammenhang weiterhin ein Rätsel. Ich möchte mich im Folgenden diesem Rätsel zumindest kurz zuwenden. Wir haben bereits im Kapitel „ Steiners übersinnliche Erkenntnismethoden “ gesehen, dass sich der große Hüter der Schwelle nach einer erfolgreichen Begegnung dem Eingeweihten als das Christus-Wesen offenbart. Christus also ist es, der den Unbefugten den Einlass zu den höchsten Gebieten der geistigen Welt versperrt, er ist es auch, der sich bereits früher als eine „ erhabene Lichtgestalt “ zeigte, deren Schönheit „ zu beschreiben [. . .] schwierig in den Worten unserer Sprache [ist] “ (GA9, S. 210). Dies mag den Eindruck erwecken, dass die Christus-Wesenheit bis zu diesem Moment, d. h. auf dem ganzen langen Wege der Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten, keine Rolle spielte. Dies ist aber nicht der Fall. Ich habe bereits früher den bedeutsamen Ausspruch Steiners zitiert, dass für den modernen Menschen alles Streben nach übersinnlicher Erkenntnis „ ein Appell [. . .] an das Mysterium von Golgatha [ist] “ (GA215, S. 142). Man kann diese Aussage noch verstärken: So kann die moderne Esoterik aufgefaßt werden als die Erhebung des Christus- Impulses zum treibenden Elemente in der Führung jener Seelen, welche sich gemäß den Entwickelungsbedingungen der neueren Zeit zu einer Erkenntnis der höheren Welten durchringen wollen. (GA15, S. 60) Wenngleich Steiner auch einen spezifisch christlichen Einweihungsweg, der sich eng am Johannes-Evangelium orientiert, detailliert darstellt (z. B. GA97, S. 26; GA103, S. 191 - 193 usw.), nehmen doch die von ihm beschriebenen Übungen, die dem Erlangen der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten dienen, keinen direkten Bezug auf Christus. Wie soll man dann die Feststellung verstehen, dass für die modernen Menschen alles Streben nach übersinnlicher Erkenntnis „ ein Appell an das Mysterium von Golgatha ist “ ? Rudolf Steiner macht an verschiedenen Stellen klar, dass erst durch die Einwirkung der Inkarnation des Christus auf den Leib von Jesus von Nazareth die Seele des Menschen überhaupt die Kraft (wieder-)gewonnen 510 hat, in die geistige Welt zu schauen: [D]ie Sache ist so, daß zuerst für den schauenden Menschen wieder die [geistige] Welt auftaucht, nachdem eine Zeitlang das Christus-Prinzip die Seele durchchristet hat. Hat der Christus eine Weile in der Seele gewirkt, dann wird diese Seele dadurch, daß sie von der Christus-Substanz durchdrungen wird, durch ihre 510 Wir haben gesehen, dass die frühere Menschheit über die Fähigkeit des „ träumerischen “ Hellsehens verfügte. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1383 Christianisierung reif, wiederum hineinzudringen in das [geistige] Reich [. . .]. (GA113, S. 122) Wird das Gemüt warm und von Enthusiasmus erfüllt für das Göttliche, wenn es verchristet wird, so werden auf der anderen Seite unsere anderen geistigen Fähigkeiten, durch welche wir die Welt verstehen und begreifen, erfassen und einsehen, durchleuchtet, durchströmt und durchkraftet [. . .]. (Ebd., S. 123) Die unerlöste menschliche Vernunft nur allein könnte sich nicht in die geistige Welt erheben. Die erlöste menschliche Vernunft, die das wirkliche Verhältnis zu Christus hat, die dringt ein in die geistige Welt. (GA74, S. 105) Die entscheidende Bedeutung des Christus-Impulses in der modernen Einweihung wird jedoch erst dann sichtbar, wenn man die Rolle der Bauten wie die Cheops-Pyramide, Newgrange oder das Hypogäum von Ħ al-Saflieni geisteswissenschaftlich untersucht. Ich habe im Kapitel „ Neue Sicht der alten Geschichte “ die Vermutung geäußert, dass derartige Bauten nicht bloß Gräber waren, sondern dass sich in ihnen gewisse Zeremonien abspielten, welche sich möglicherweise über längere Zeit hinzogen und der Anwesenheit mehrerer Personen bedurften, was z. B. die sonst unverständlichen Luftschächte der Cheops-Pyramide erklärlich machen würde. Die geisteswissenschaftliche Forschung bestätigt diese Vermutung. Im Kapitel „ Steiners übersinnliche Erkenntnismethoden “ habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass die Einprägung der im Astralleib entwickelten übersinnlichen „ Erkenntnisorgane “ in den Ätherleib, welche die Vorbedingung für die Fähigkeit zur übersinnlichen Wahrnehmung bildet (Übergang von der „ Reinigung “ zur „ Erleuchtung “ ), voraussetzt, dass der Ätherleib für eine kurze Zeit vom physischen Leib abgetrennt wird. Die übersinnliche Forschung der Geisteswissenschaft bringt nun ans Licht, dass die alten Einweihungsmethoden verlangten, dass der zur Einweihung geführte Mysterienschüler in einen todesähnlichen Zustand versetzt wurde, der dreieinhalb Tage dauerte. Während dieser Zeit war sein Ätherleib zum größten Teil aus seinem physischen Leib herausgehoben und er konnte Beobachtungen in der geistigen Welt anstellen, die ihn nachher zu einem Boten der geistigen Welt für seine Mitmenschen machten: Die alte Einweihung verlief ja in folgender Weise. Der Mensch lernte zuerst in vollem Umfange alles das, was wir heute in der Anthroposophie lernen. Das war die Vorbereitung zu der alten Einweihung. Dann wurde das alles hingeleitet zu einem gewissen Abschluß. Dieser Abschluß wurde dadurch bewirkt, daß der Betreffende dreieinhalb Tage im Grabe ruhte, wie tot war. Wenn dann sein Ätherleib herausgehoben war und er in seinem Ätherleib die geistige Welt durchwanderte, wurde er ein Zeuge der geistigen Welt. Es war notwendig, daß für diese Zeit, wo der Mensch zuerst eingeweiht werden sollte in die geistigen Welten, der Ätherleib herausgehoben wurde, damit der Mensch innerhalb der Kräfte des Ätherleibes zur Anschauung der geistigen Welt kam. Diese Kräfte hatte man früher nicht im normalen tagwachen Bewußtseinszustand zur Verfügung, der Mensch mußte in einen abnormen Bewußtseinszustand gebracht werden. (GA112, S. 135; vgl. auch GA104, S, S. 70; GA139, S. 132f.) 1384 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Es ist nachvollziehbar, dass diese Prozedur gefährlich war und nur unter kompetenter Aufsicht entsprechend geschulter Priester stattfinden konnte. Dies erklärt die rätselhaften Einrichtungen der genannten Bauten. Sie waren so konstruiert, dass in ihnen wiederholt Zeremonien, an welchen mehrere Menschen teilnahmen, stattfinden konnten. Die alten Mysterien waren also keine Märchen, Mythen oder Fantasien. Sie waren durchaus reale Orte der Begegnung mit der realen geistigen Welt und ihren Wesenheiten. Die Mysterienstätten mit ihren Bauten werden heute oft als Gräber interpretiert, sie waren aber alles andere als dies, nämlich Quellen des geistigen Lebens! Sie hatten aber auch tatsächlich etwas mit Grab und Begräbnis zu tun: Der Neophyt wurde dort fast zu Tode gebracht. Im Lichte der Geisteswissenschaft zeigt sich jedoch, dass dank der Einwirkung des Christus-Impulses solche Einrichtungen für die Erweckung der übersinnlichen Erkenntnisorgane des Menschen bzw. seine Einweihung nicht mehr nötig sind. Diese kann heute im gewöhnlichen, wachen Zustand, unter vollständiger Kontrolle des Ich des Menschen, stattfinden, weil die Trennung seines Ätherleibes von seinem physischen Leib nur ganz kurz zu sein braucht: Wenn der Mensch die Reife erlangt, daß er einen so starken Impuls von dem Christus erhält, daß dieser Christus-Impuls, wenn auch nur für kurze Zeit, in ihm seinen Blutumlauf beeinflussen kann, so daß sich dieser Christus-Einfluß in einem besonderen Blutumlauf ausdrückt, in einem Einfluß bis in das Physische hinein, dann ist der Mensch imstande, eingeweiht zu werden innerhalb des physischen Leibes. Dazu ist der Christus-Impuls imstande. Wer sich wirklich in die Tatsachen, die damals geschehen sind durch das Ereignis von Palästina und durch das Mysterium von Golgatha, versenken kann, so stark, daß er ganz darinnen lebt und sie ihm gegenständlich werden, so daß er das geistig lebendig vor sich sieht, daß es wirkt wie eine Kraft, die sich selbst seinem Blutumlauf mitteilt, der erlangt durch dieses Erlebnis dasselbe, was früher erlangt wurde durch das Heraustreten des Ätherleibes. (GA112, S. 136) Die Einweihung, die Christus an Lazarus vollzog (Joh 11,1-44), stellt eine Art Übergang von der alten zur neuen Form dar. Gewöhnlich wird dieses Ereignis als Erweckung eines Toten interpretiert. Dies ist ein Irrtum. Lazarus musste (noch) dreieinhalb Tage in einem todesähnlichen Zustand verharren (selbst seine engsten Verwandten glaubten ihn wirklich tot) bis er als Sehender von Christus wieder zum Leben gebracht wurde. Der wesentliche Unterschied zwischen dieser Einweihung und den „ klassischen “ Einweihungen des Altertums besteht darin, dass Christi Macht so groß war, dass er das Geschehen nicht persönlich überwachen musste und dennoch sicher sein konnte, dass das Ergebnis der Einweihung das richtige sein wird. 511 Es ist also völlig berechtigt zu behaupten, dass die Entwicklung der übersinnlichen 511 Am Rande sei erwähnt, dass das Altertum auch Propheten kannte, denen sich das Göttlich-Geistige, offenbarte (GA8, S. 112; GA106, S. 109; GA139, S. 132f.; GA153, S. 43f. usw.) 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1385 Erkenntnisfähigkeiten der Imagination, Inspiration und Intuition nach den von Rudolf Steiner beschriebenen Methoden eine Fortsetzung der Einweihungsmethoden der Frühzeit unter dem Vorzeichen der Inkarnation Christi ist. Während in grauer Vergangenheit der Neophyt bei seiner Einweihung vollständig auf die Hilfe und Leitung erfahrener Priester angewiesen war, erfolgt sie heute grundsätzlich ohne derartige Unterstützung. Der angehende Geistesforscher ist lediglich auf sich selbst und auf die Hilfe Christi angewiesen. Wenn es sich aber mit der Rolle des Christus auf dem Wege der Entwicklung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten so verhält, warum nehmen Steiners Übungen keinen expliziten Bezug auf das Leben, Leiden und Auferstehen Christi? Mir scheint, dass die Erklärung darin zu suchen ist, dass Rudolf Steiner einen Weg zur Erforschung der geistigen Welt aufzeigen wollte, den jeder gleich welcher Religion beschreiten kann. Man muss hier bedenken, dass die Unabhängigkeit von der religiösen Orientierung einen der Kernpunkte der Ausrichtung der Theosophischen Gesellschaft bildete. Dies wurde z. B. in den Statuten des Leipziger Zweiges der Theosophischen Gesellschaft vom 17. April 1906 deutlich zum Ausdruck gebracht: Der Zweck des Vereins ist, a. den Kern einer allgemeinen Bruderschaft der Menschheit zu bilden, ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens, des Geschlechtes, der Kaste oder Farbe. (Zander 2007a, S. 166) Nach der Abspaltung der Anthroposophischen von der Theosophischen Gesellschaft (die erste Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft fand am 3. Februar 1913 in Berlin statt [Lindenberg 1988, S. 330]) wurde unter Mitwirkung von Steiner der erste Punkt der Statuten am 28. Februar 1913 folgendermaßen formuliert: Der Verein hat folgende Leitsätze: 1. Es können in der Gesellschaft alle diejenigen Menschen brüderlich zusammenwirken, welche als Grundlage eines liebevollen Zusammenwirkens ein gemeinsames [sic] geistiges, in allen Menschenseelen betrachten, wie auch diese verschieden sein mögen in bezug auf Glauben, Nation, Stand, Geschlecht usw. “ (Ebd.) Die innere Geste hinter der religionsfreien Ausrichtung der Übungen zur Erlangung der übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten kann also in etwa so formuliert werden: Jeder ist unabhängig von seinem religiösen Hintergrund berechtigt, nach Einweihung zu streben. Dafür braucht man sich zu keinen Dogmen (von der betreffenden Person unüberprüfte Behauptungen) zu bekennen. Spätestens nach der Begegnung mit dem großen Hüter der Schwelle wird jedoch jeder Eingeweihte einsehen, dass Christus keine Erfindung der Christen, sondern eine Welt-, eine kosmische Wirklichkeit ist und dass man sich tatsächlich seiner Kräften bediente, als man nach der übersinnlichen Erkenntnis strebte, gleichviel ob man das bewusst oder unwissend tat. 1386 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Die Zukunft der Erde Da wir bereits flüchtig das Thema der Mission der Menschheit auf der Erde, die Entwicklung der Freiheit und der (kosmischen) Liebe berührt haben, ist es angebracht, dass wir uns abschließend zumindest in groben Zügen mit der Zukunft der Erde und der Menschheit befassen. Zunächst muss man sich die Frage stellen, wie es überhaupt möglich sein sollte, wissenschaftlich zuverlässige Aussagen über die Zukunft zu machen, insbesondere wenn man annimmt, dass der Mensch über einen freien Willen verfügt. Wenn die Zukunft vorherbestimmt ist, ist der freie Wille schließlich unmöglich, so der Einwand. Die Schwierigkeit ist nicht so unüberwindbar, wie es zunächst scheinen mag. Wir haben bereits gesehen, dass jeder Mensch während seines Aufenthaltes in der geistigen Welt seine künftige Existenz mit Hilfe und unter Aufsicht hoher göttlich-geistiger Wesenheiten „ plant “ . Diese „ Planung “ eliminiert seinen freien Willen nicht: erstens, weil sie eben seine Planung ist; zweitens, weil sie nicht jedes Detail seiner künftigen Existenz, sondern bloß ihren allgemeinen Rahmen festlegt. Viel Spielraum bleibt erhalten. Hat aber jemand zu dem geistigen Ort Zugang, an welchem diese Pläne festgelegt werden, kann er den allgemeinen Rahmen der künftigen Existenz eines Menschen erfahren. Etwas Ähnliches lässt sich auch über die künftige Entwicklung der Menschheit und der Erde sagen. Die Zukunft liegt in einem allgemeinen Rahmen, der die notwendige karmische Konsequenz vergangener Entwicklungen ist, fest und kann bereits jetzt in der geistigen Welt erforscht werden. Freilich bleibt auch hier sehr viel Spielraum für die menschliche Freiheit und die sich aus ihr ergebenden Variationen der künftigen Evolution. Wir leben gegenwärtig in der fünften Epoche der nachatlantischen Entwicklung, im Zeitalter der Bewusstseinsseele. Ihm folgt die Entfaltung des Geistselbst. Die Aufgabe dieser Epoche wird es sein, Harmonie zwischen Verstand und Spiritualität herzustellen (GA13, S. 298, 413; GA104, S. 159), oder anders gesagt: das Spirituelle des Ostens mit dem Intellektuellen des Westens in Einklang zu bringen (GA104, S. 160). Dieses Ziel zu erreichen wird denjenigen Menschen möglich, die in sich den Impuls Jesu Christi aufgenommen haben, denn „ [d]er recht verstandene Christus-Impuls wirkt dahin, daß die Menschenseele, welche ihn aufgenommen hat, sich als Glied einer geistigen Welt fühlt und als solches erkennt und verhält, außerhalb welcher sie vorher gestanden hat “ (GA13, S. 409). Die sechste Epoche ist in der Offenbarung des Johannes mit dem Namen der Philadelphia-Gemeinde verbunden (Offb 3,7-13; vgl. GA104,. 93, 95, 105 usw.). Die gegenwärtige fünfte nachatlantische Epoche kann als eine Art Wiederholung der dritten (ägyptisch-chaldäischen) Epoche auf einem höheren Niveau betrachtet werden (GA13, S. 408; GA15, S. 51ff.), was das große Interesse an den ägyptischen Altertümern unter unseren Zeitgenossen erklärlich macht. Die sechste nachatlantische Kulturepoche wird die Wiederholung (wiederum auf höherem 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1387 Niveau) der zweiten, persischen Epoche sein und die Harmonie zwischen der materiellen Kultur und der Einsicht in die geistige Welt bringen (GA13, S. 298). Bereits in dieser Epoche wird die zunehmend große Zahl der Menschen die Fähigkeit des Hellsehens wiedererlangen, wobei im Gegensatz zu dem Hellsehen der vorchristlichen Zeiten, das wir als „ träumerisch “ bezeichnet haben, das neue Hellsehen vereint mit der Sinnes- und Verstandeserkenntnis auftreten wird, die sich die Menschheit in früheren Epochen erworben hat (GA114, S. 39 f; vgl. auch z. B. GA112, S. 235). Eine solche Entwicklung mag heute äußerst unwahrscheinlich anmuten. Denn vielen scheint der gegenwärtige technologische Fortschritt unaufhaltsam und sie verbinden mit der Vision der technologisierten Zukunft (Stichwort: Omega-Punkt, s. Intermezzo „ Einige soziale Folgen . . . “ ) den Glauben an den unendlichen (technologischen) Fortschritt und die Überzeugung, dass die letzten Reste des Aberglaubens an die geistige Welt in nicht allzu ferner Zukunft verschwinden werden. Indessen spricht die unvoreingenommene Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit eindeutig eine andere Sprache. Sie lehrt, dass jede Kultur entsteht, sich verhältnismäßig schnell entwickelt, ihr Apogäum erreicht und dann vergeht, um einer anderen, anders gearteter Kultur Platz zu machen. So fingen die Ägypter verhältnismäßig bald nach dem Aufblühen dessen, was heute als das Alte Reich benannt wird, mit dem Pyramidenbau an. Die Bauten wurden aber keineswegs immer größer bis zum Ende ihrer Kultur in der ptolemäischen Zeit. Vielmehr erreichte der Pyramidenbau sein Apogäum bereits mit der Cheops-Pyramide. Ähnlich verhielte es sich mit dem Bau der mächtigen Tempel im Neuen Reich. Auch dieser Brauch erreichte sein Apogäum etwa in der Zeit von Ramses II. und wurde nicht durch noch imposantere Bauten fortgesetzt. Das Gleiche gilt für die griechische und römische Kultur. Auch die mittelalterlichen Kathedralen (die auffälligerweise viel weniger imposant sind als die ägyptischen Tempel) fanden (mit wenigen Ausnahmen wie den Petersdom in Rom) keine Steigerung in der Renaissance oder im Barock. Dies ist insofern merkwürdig, als die technischen Möglichkeiten für eine weitere Steigerung durchaus vorhanden waren. Es ist, als ob man das Interesse an der Errichtung solcher Bauten verloren hätte. Heute beobachten wir einerseits weitere schnelle Fortschritte der Technik (z. B. Robotik), auf der anderen Seite mehren sich bereits Anzeichen dafür, dass in bestimmten Bereichen der Höhepunkt der Entwicklung bereits überschritten ist. So gibt es heute keinen noch größeren und schnelleren Nachfolger der Concorde, und auch weitere Landungen auf dem Mond sind nicht in Sicht. 512 Es werden zwar vage Pläne für eine Landung der Menschen auf dem Mars formuliert, ob es aber je dazu kommen wird, ist unsicher. Das Unternehmen wäre nämlich einerseits technisch (und menschlich - die Länge der Reise! ) sehr anspruchsvoll und deshalb sehr teuer, andererseits erscheint der Nutzen eines solchen Aben- 512 Obwohl China eine solche Landung immer noch plant. 1388 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft teuers eher bescheiden. Wichtiger aber als diese praktischen Überlegungen ist die Tatsache, dass heute die allgemeine Begeisterung der breiten Öffentlichkeit, welche die ersten Schritte der Menschheit auf dem Wege der bemannten Raumfahrt begleitete, schlicht und einfach fehlt. Man hat schon fast vergessen, dass die erste Mondlandung am 21. Juli 1969 von Hunderten Millionen von Menschen auf der ganzen Welt mit größter Begeisterung im Fernsehen verfolgt wurde. Wo ist diese Begeisterung für die Raumfahrt heute? Ähnliches lässt sich auch über andere technologischen Errungenschaften sagen. Die Errichtung des Eifelturms 1889 war ein Weltereignis, ebenso wie die Fertigstellung des Empire State Building 1931. Die Fertigstellung des Burj Khalifa in Dubai 2010 wurde von der Weltöffentlichkeit lediglich zur Kenntnis genommen. Werden wir je nicht nur 830 m (Burj Khalifa), sondern, sagen wir, 1500 m hohe Häuser bauen wollen? Es ist also damit zu rechnen, dass sich auch unsere heutige technologische Zivilisation nicht immer weiter entwickeln wird, sondern dass die künftigen Menschen das Interesse an der Fortsetzung und Überbietung ihrer Errungenschaften verlieren werden. Der Glaube an den unendlichen technologischen Fortschritt ist eine Illusion, die sich aus der Beschränktheit unserer Betrachtungsweise ergibt. In der siebten Kulturepoche wird „ [a]ll die wundervolle Weisheit des alten Indiertums, welche die damaligen großen Lehrer verkündigen konnten, [. . .] als Lebenswahrheit der Menschenseelen [. . .] wieder da sein können “ (GA13, S. 409). Die hellseherischen Fähigkeiten, die den alten Indern eigen waren, werden wieder aufblühen und zu einer weit verbreiteten Eigenschaft der Menschen werden. Nach dieser Epoche wird ein zerstörerisches Ereignis gewaltigen Ausmaßes die Erde erschüttern, das Steiner gewöhnlich als „ Krieg aller gegen alle “ bezeichnet (GA104, S. 76). Er meint damit eine „ verheerende moralische Verwicklung “ (ebd.) infolge des überbordenden Egoismus (ebd., S. 77). Ein kleines Häuflein Menschen, die es bis dahin verstanden haben, das Christus-Prinzip aufzunehmen und sich ihm gemäß zu spiritualisieren, wird diesen Krieg überleben und den Anfang einer neuen Entwicklung bilden, so wie eine Gruppe von Menschen, welche aus Atlantis auswanderten den Anfang unserer Entwicklungsepoche bildete (ebd.). (Dabei handelt es sich wiederum um eine kleine Gruppe physischer Menschen, denn selbstverständlich werden alle Menschenseelen bzw. -geister den „ Krieg aller gegen alle “ überdauern.) Die Hauptaufgabe der Epoche nach diesem Kriege wird das Ernten der geistigen Schätze der postatlantischen Entwicklung sein. Es wird sich dann offenbaren, welchen Beitrag jede Epoche, die indische, persische, ägyptische usw., zum geistigen Fortschritt der Menschheit geleistet hat, ihre bis dahin verborgenen geistigen Errungenschaften werden „ entsiegelt “ (ebd., S. 106f., vgl. Apokalypse 6.1 - 17). In dieser Phase wird auch die endgültige Spiritualisierung der Intelligenz erreicht (GA104, S. 109). Ein besonderes Charakteristikum dieser Zeit wird sein, dass der physische Leib des Menschen viel biegsamer als heute ist, was zur Folge 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1389 haben wird, dass sich das Innere des Menschen viel intensiver und viel deutlicher als in unserer Gegenwart in seiner Physiognomie manifestieren wird: Auf der Stirne und in der ganzen Physiognomie wird dem Menschen geschrieben sein, ob er gut ist oder böse. Das Innerste der Seele wird der Mensch als Physiognomie in seinem Antlitz tragen, ja, der ganze Leib wird ein Abbild sein dessen, was in seiner Seele lebt. Wie sich der Mensch in sich selbst entwickelt hat, ob er die guten oder bösen Triebe entfaltet hat, das wird an seiner Stirne geschrieben sein. (Ebd., S. 99) In der siebten und letzten (großen) Entwicklungsepoche der Erde 513 schreitet die Spiritualisierung des Menschen so weit voran, dass die Erde sich wieder mit der Sonne vereinigen wird. Wir haben bereits gesehen, dass diese beiden Himmelskörper (mit dem Mond) einst einen Himmelskörper bildeten, wobei sich Sonne und Mond später zum Wohl des Menschen abspalteten. Nun kann dieser Vorgang rückläufig gemacht werden: Erde und Sonne waren ein Körper. Die Erde hat sich aus der Sonne herausentwickelt und der Mond hat sich abgespalten. Wir haben gesagt, daß das hat geschehen müssen wegen des richtigen Maßes der Entwicklung. Nun aber, wo der Mensch diese Entwickelungsstufen durchgemacht hat, nachdem er sich vergeistigt hat, ist er reif, sich wiederum mit den Kräfteverhältnissen zu vereinigen, welche auf der Sonne sind. Er kann das Tempo der Sonne mitmachen. Es findet nun ein wichtiger Weltenvorgang statt: die Erde vereinigt sich wiederum mit der Sonne. (Ebd., S. 189; vgl. z. B. GA12, S. 273, 288) Der erste Impuls zur Wiedervereinigung von Erde und Sonne wurde durch das Opfer Christi auf Golgatha gegeben: Der erste Anstoß zum Sonnewerden unserer Erde ist damals gegeben worden, als das Blut aus den Wunden des Erlösers auf Golgatha floss. Da fing die Erde zu leuchten an, zunächst astralisch, also nur für den Hellseher sichtbar. Aber in der Zukunft wird das astralische Licht zum physischen Licht werden, und die Erde wird ein leuchtender Körper, ein Sonnen-Körper werden. (GA112, S. 255) Diese Feststellung mag absurd anmuten. Es ist deshalb nützlich, abermals daran zu erinnern, dass manche Absurditäten der Vergangenheit heute zu Selbstverständlichkeiten geworden sind. Es war einmal eine Absurdität zu behaupten, dass sich die Erde mit großer Geschwindigkeit um die Sonne dreht oder dass es Berge auf dem Monde gibt. Es kann also aus logischer Sicht nicht ausgeschlossen werden, dass auch Absurditäten von heute übermorgen 513 Man darf die siebte postatlantische Epoche nicht mit der siebten „ großen “ Entwicklungsepoche verwechseln. Im Fall der „ großen “ Epochen handelt es sich um die polarische, hyperboräische, lemurische, atlantische, postatlantische (d. h. die unsere mit ihren sieben „ Unterepochen “ ), die sechste (nach dem „ Krieg aller gegen alle “ ), und die siebte große Epoche. 1390 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft zu Selbstverständlichkeiten mutieren. Wir müssen aber nicht bis übermorgen warten, wir können schon heute den Schein der Absurdität der obigen Aussage zumindest einigermaßen entkräften. Streng genommen bezieht sich der Eindruck der Absurdität nur auf einen Aspekt der fraglichen Behauptung: auf die Unterstellung, dass der Mensch die Vereinigung der Erde mit der Sonne mitmachen kann. Denn aus Sicht der gegenwärtigen Wissenschaft gibt es nichts auszusetzen an der Behauptung, dass sich die Erde und die Sonne einst vereinigen werden. Ganz im Gegenteil: Ein solches Schicksal unserer Erde sieht auch die orthodoxe Astrophysik, für sie bedeutet dieses „ Verschlucken “ der Erde durch die absterbende Sonne, die sich zu einem roten Riesen aufbläht, allerdings das unwiderrufliche Ende jeglichen Lebens auf Erden. Dies stellt für sie aber kein Problem dar, da die Menschheit, zumal die heutige, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr am Leben sein wird, denn die Wissenschaft beraumt das Ende erst in 1,75 bis 3,25 Milliarden Jahren an (Rushby et al. 2013). Dies ist jedoch ein schwacher Trost für jemanden, der von der Wirklichkeit der Reinkarnation überzeugt ist. Glücklicherweise kann man sich die künftige Entwicklung des Sonnensystems und der Menschheit in ihm anders vorstellen. Wir haben bereits gesehen, dass der Mensch schon lange vor der Evolution der Erde existierte (obschon in völlig anderer Form als heute). Wir haben ebenfalls gesehen, dass der physische Leib des Menschen im Anfangsstadium der Erde völlig anders als der heutige Körper aussah. Er war eher ein Hauch als ein fester Stoff. Dennoch war er ein physischer Körper, und nach dem „ Fall “ des Menschen wurde er bedeutend solider, bis er schließlich die heutige, recht feste Form annahm (wenn er auch dann noch zu mehr als 80 % aus Wasser besteht und der Anteil der wirklich festen Substanz in ihm bloß der Menge der Asche entspricht, die nach dem Verbrennen der Leiche übrig bleibt). Der heutige Mensch ist auf seinen physischen Leib angewiesen, ohne ihn ist er überhaupt nicht handlungsfähig, kann er seinen (freien) Willen nicht betätigen. Das Ziel der Entwicklung der Erde besteht aber u. a. auch darin, diesen Umstand zu verändern, den Menschen von seinem physischen Leib unabhängig zu machen: „ [D]as höchste Ideal menschlicher Entwickelung [besteht in der] Vergeistigung, welche der Mensch durch seine eigene Arbeit erlangt “ (GA13, S. 413). An dieser Stelle erweist sich die Wichtigkeit des „ seltsamen “ Auferstehungsleibes Christi: Er ist gleichsam ein Modell dessen, was der Mensch am Ende der Erdenevolution erlangen soll: einen von der Substanz her betrachtet reinen Ätherleib, der jedoch so weit „ verdichtet “ ist, dass er die Handlungsfähigkeit und den Ausdruck der Individualität ohne die Stütze der mineralischen Substanz des gewöhnlichen physischen Leibes ermöglicht 514 (GA130, S. 222f.). Und ein solcher Leib ist auch nach der 514 Man muss an dieser Stelle scharf zwischen dem mineralischen und physischen Aspekt des physischen Leibes unterscheiden. Der physische Leib braucht nicht mit der mineralischen Substanz, mit welcher der heutige physische Leib durchsetzt ist, aus- 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1391 Vereinigung der Sonne mit der Erde durchaus „ existenzfähig “ . Entscheidend ist aber, dass ein solcher Leib nur unter der Mitwirkung von Christus, durch seine Hilfe vom Menschen erlangt werden kann. Deshalb wird sich am Ende der Erdenentwicklung die Menschheit gleichsam in zwei Arten spalten: in Menschen, die dieses Ziel erreichen, weil sie ein Verhältnis zu Christus entwickelt haben, und solche, die es versäumen: So also werden wir [. . .] die zwei Arten von Menschen, die am Ziel der Erdenentwickelung vor uns stehen [folgendermaßen] charakterisieren können: Wir haben solche Menschen, welche in sich das Christus-Prinzip aufgenommen haben, welche dadurch ihren astralischen Leib umgebildet und von Christus die Hilfe erlangt haben, auch den Ätherleib umzuwandeln, und andere haben wir, die nicht hingekommen sind zum Christus-Prinzip, die auch nicht in der Lage waren, irgend etwas im Ätherleib zu verändern, denn sie konnten nicht den Helfer finden, den Christus. (GA104, S. 248) Bekanntlich spricht auch die Apokalypse von der Aufteilung der Menschheit in zwei Gruppen (Offb 7,1-17). Die oben angesprochene Vereinigung der Erde mit der Sonne ist nun allerdings nicht im heutigen materialistischen Sinne als eine Art Verschlingen der harten Erde durch die sich ausdehnende Sonne vorzustellen. Vielmehr handelt sich darum, dass sich die ganze Materialität der beiden Himmelskörper allmählich verfeinern wird, bis sie sich schließlich völlig auflöst, vergeistigt. Und die Kraft, welche die Materie zur Auflösung bringen wird, ist keine andere als die Kraft der Liebe, deren Samen von Christus auf die Erde gebracht worden ist (GA104, S. 172). Wir haben früher von der „ gefährlichen Sphäre Ahrimans “ gesprochen (GA26, S. 86), ohne herauszustellen, worin ihre Gefährlichkeit besteht. Erst aus der Perspektive des Endpunkts der Erdenentwicklung lässt sich ein angemessenes Urteil darüber bilden. Denn dann zeigt sich, dass die oben erwähnte Spaltung in zwei Arten von Menschen auch eine kosmische Dimension haben wird: Neben der regelmäßig entwickelten Erde mit den ihr zugehörigen Wesenheiten (allen voran den Menschen) wird eine „ Nebenerde “ (GA104, S. 178) aus verhärteter, „ verfleischlichter “ Materie entstehen (ebd. S. 190), auf die alle Wesenheiten verbannt werden, die nicht fähig sind, das Materielle in das Geistige zu verwandeln (ebd. S. 178). Dieses Schicksal betrifft jene Menschen, die sich geweigert haben, das Christus-Prinzip aufzunehmen, wobei unter „ Weigerung “ keine bloß passive Ablehnung bzw. passiver Unwille, sondern „ energische [. . .], böswillige [. . .] und unintelligente [. . .] geistige [. . .] Opposition “ zu verstehen ist (ebd. S. 217). Damit ist aber die Entwicklung der Menschheit noch lange nicht abgeschlossen. Am Ende der Evolution wird die Erde, wie bereits früher Saturn, Sonne, und Mond, in den vergeistigten Zustand der Pralaya, des „ kosmischen gestattet zu sein. Auf dem alten Saturn existierten die heutigen mineralischen Substanzen gar nicht - wie erinnern uns, dass dieser Weltkörper aus reiner Wärme bestand - , der physische Leib existierte aber bereits damals in seiner ersten Anlage. 1392 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft Schlafes “ , übergehen, 515 aus welchem sie als ein neuer Kosmos bzw. Planet (Steiner bezeichnet ihn mit dem Namen Jupiter [GA13, S. S. 400, 401, 412 usw.; GA104, S. 151, 187, 195 usw.]) hervortreten wird. Darauf weist die Apokalypse mit dem Namen „ neues Jerusalem “ hin (Offb 21,1-22,5). Eine der zentralen Aufgaben der „ guten Menschheit “ auf diesem Planet wird es sein, an der „ schlechten Menschheit “ so zu arbeiten, dass ihr die nochmalige Möglichkeit erteilt wird, an den regelmäßigen Entwicklungsstrom anzuschließen (GA13, S. 412). Nach dem Abschluss dieser Evolutionsetappe wird unsere heutige Erde noch zwei „ Inkarnationen “ durchmachen ( „ Venus “ und „ Vulkan “ ), um schließlich ein endgültiges Ziel der Entwicklung der Menschheit, die Vergöttlichung des Menschen, 516 zu erreichen. Wir brauchen hier jedoch auf diese sehr fernen Ziele nicht einzugehen. (Es sollte gleichwohl erwähnt werden, dass selbst das Ende des Vulkans möglicherweise noch nicht das endgültige Ende der Evolution sein wird. Sicher ist lediglich, dass es heute selbst den hohen Eingeweihten nicht möglich ist, noch weiter in die Zukunft zu schauen. Dies liegt aber nicht an der Sache, sondern eher an dem Umstand, dass wir zu jedem Zeitpunkt lediglich einen begrenzten Ausschnitt des zeitlichen Horizontes überblicken können. Wir stehen immer in der Mitte der Zeit [GA104, S. 222]). Man könnte an dieser Stelle der Geisteswissenschaft (oder auch mir) vorwerfen, dass sie unter dem Mantel der „ Wissenschaftlichkeit “ religiöse Lehrinhalte, und zwar ausgerechnet christliche (also weder jüdische, noch hinduistische, noch islamische usw.), zu schmuggeln versucht. Dies sei eben schlicht und einfach eine Religion, keine Wissenschaft. Der Einwand ist verständlich, aber verfehlt. Ich habe im vorigen Kapitel ausführlich dargestellt, dass die Forschungsmethoden stringenter als alle Forschungsmethoden der herkömmlichen Naturwissenschaft sind, dass folglich die Forschungsergebnisse, welche sich aus der Anwendung dieser Methoden ergeben, nicht minder wissenschaftlich, sondern tatsächlich wissenschaftlicher als die Forschungsergebnisse der heutigen Naturwissenschaft sind. So wie wir mithilfe der Naturwissenschaften Brücken über Flüsse bauen können und zuversichtlich sein dürfen, dass sie uns tragen werden, so können wir auf der Grundlage der Geisteswissenschaft Brücken in die Zukunft bauen können, im Vertrauen darauf, dass sie uns sicher in diese Zukunft führen werden, wenn wir ihnen Vertrauen schenken werden. 515 Auch die „ Nebenerde “ wird dann spiritualisiert und eine astralische Form annehmen. Die astralischen Formen der Menschen, die zu diesem Entwicklungsstrom gehören, werden sich jedoch wesentlich von den Formen der regelmäßig entwickelten Menschen unterscheiden. Sie werden Züge tragen wie in der Apokalypse das „ Tier mit sieben Köpfen und zehn Hörner “ (Offb 13,1). Aus Platzgründen ist es nicht möglich, ausführlicher auf die Bedeutung dieses Symbols einzugehen (vgl. aber GA104, S. 217). 516 Der Leser wird sich erinnern, dass die alten Ägypter nur den Pharao als den Göttern gleich betrachteten. 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1393 Besonders anstößig werden manche Leser wohl die obigen Schilderungen der Spaltung der Menschheit in zwei Ströme finden. Sie werden argumentieren, dass die Gleichstellung der vermaterialisierenden (ahrimanischen) Tendenzen mit dem „ Bösen “ jeglicher Grundlage entbehre. Wir verdanken doch der Entwicklung der materiellen Zivilisation so viel! Dies ist nicht zu bestreiten und diese Entwicklung mit ihren Vorzügen wurde bereits, so hoffe ich, gebührend gewürdigt. Es lässt sich aber ebenfalls nicht bestreiten, dass diese Entwicklung, wenn sie einseitig wird, starke negative, zersetzende, ja den einzelnen Menschen wie auch die menschliche Gemeinschaft zerstörende Folgen hat: Was vor fünf Jahrhunderten für das Bewußtsein des Menschen begonnen hat, es hatte sich für einen weiteren Umfang seiner Gesamtwesenheit schon vollzogen zur Zeit, als das Mysterium von Golgatha in die irdische Erscheinung getreten ist. Da war es, daß unwahrnehmbar für das damals bei den meisten Menschen vorhandene Bewußtsein, allmählich die Menschheitsentwickelung aus einer Welt, in der Ahriman wenig, in eine solche hineinglitt, in der er viel Macht hat. Dieses Gleiten in eine andere Weltschichte erreichte ihre Vollendung eben im fünfzehnten Jahrhundert. Ahrimans Einfluß auf den Menschen in dieser Weltschichte ist deshalb möglich und kann verheerend wirken, weil in dieser Schichte das dem Menschen verwandte Götterwirken erstorben ist. Aber der Mensch konnte zur Entfaltung des freien Willens gar nicht auf eine andere Art kommen als dadurch, daß er sich in eine Sphäre begab, in der die vom Urbeginn mit ihm verbundenen göttlich-geistigen Wesen nicht lebendig waren. [. . .] Aber dieses Zeitalter, in dem der Mensch unbewußt in der gefährlichen Ahriman- Sphäre sein Dasein entfalten darf, ist vorüber. (GA26, S. 84 - 86) Anzeichen für diese Auswirkung der vermaterialisierenden (ahrimanischen) Impulse gibt es heute zur Genüge. Wir haben bereits im Kapitel „ Die Zukunft der Menschheit “ einige von ihnen angesprochen. Das Leid und Elend unzähliger Menschen, welche die Folgen des überbordenden Konsums und der „ liberalen Marktwirtschaft “ tragen müssen, die sich das Leben nehmen, weil sie den Druck der auf den Wettbewerb ausgerichteten Gesellschaft nicht aushalten, oder am Drogenkonsum zugrunde gehen, ist nicht zu bestreiten und nicht zu übersehen. Und man braucht nicht besonders hellsichtig zu sein, um zu merken, dass diese Entwicklungen doch mit dem Überhandnehmen der materialistischen Welt- und Wertvorstellungen in unserer Zeit, welche die Existenz der geistigen Welt und ihre Bedeutung im Leben des Menschen negieren, direkt zusammenhängen. 517 Dass wir die 517 Vgl. z. B. das kürzlich erschienene Buch des Bonner Sozialwissenschaftlers Meinhard Miegels Hybris. Die überforderte Gesellschaft, in dem er Problemzonen der westlichen Gesellschaft benennt. Miegel meint, dass nicht nur die Wirtschaft, sondern die westliche Kultur schlechthin in der Krise sei (Miegel 2014). Miegel führt diese Krise zwar nicht explizit auf die materialistische Ideologie in unserer Gesellschaft zurück, räumt jedoch ein, dass die großen Zivilisationen der Vergangenheit ihre schöpferische Kräfte aus 1394 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft zerstörerischen Nebenwirkungen bzw. Auswirkungen des Materialismus immer noch nicht als solche erkannt haben, ist verständlich. Als Marie Sk ł odowska-Curie (1867 - 1934) die Pechblende und andere uranhaltige Mineralien untersuchte, hatte sie keine Ahnung davon, dass die Strahlung, welche sie abgeben, für die Gesundheit gefährlich ist. Sie arbeitete ohne Schutz und starb an aplastischer Anämie. Nuklearenergie hat uns großen Segen gebracht, aber heute wissen wir, dass radioaktive Strahlung für das Leben höchst gefährlich ist und dass diese Form der Energie nur mit äußerster Vorsicht zu genießen ist. Mögen wir bald genug lernen, dass die ungezähmten materialistischen (ahrimanischen) Einflüsse ebenso gefährlich für das seelisch-geistige Leben des Menschen ist wie die radioaktive Strahlung für seinen Körper. Schlussbemerkung Was ich auf den vorhergehenden Seiten in knapper Form geschildert habe, ist nur ein kleiner Bruchteil dessen, was an Ergebnissen der geisteswissenschaftlichen Forschung Steiners in der über 360 Bände zählenden und immer noch nicht vollständigen Gesamtausgabe seiner Schriften und Vorträge vorliegt. Man muss außerdem berücksichtigen, dass Geisteswissenschaft nicht am Ende, sondern vielmehr erst am Anfang ihrer Wirksamkeit steht. 518 Man kann ihren Reifestand vielleicht nicht mit dem der Naturwissenschaft zur Zeit Galileo Galileis, aber sehr wohl mit dem Stand zur Zeit Newtons vergleichen. Steiner hat der Welt zweifelsohne bahnbrechende Forschungsergebnisse geliefert, aber unendlich viel mehr wartet noch darauf, durch künftige Geistesforscher entdeckt zu werden. Es sei daran erinnert, dass sich in künftigen Entwicklungsepochen der Menschheit die Hellsicht zu einer normalen Eigenschaft des Menschen entwickeln wird. Damit ist das Forschen in der geistigen Welt nicht nur für einige wenige besonders geeignete Individuen möglich, sondern es wird zu einer ähnlichen Selbstverständlichkeit werden, wie es heute das Forschen auf naturwissenschaftlichem Gebiet ist. Die Geisteswissenschaft wird zu einer voll ausgereiften Wissenschaft, die von einer breiten Forschungsgemeinschaft getragen ist. ihren religiösen Überzeugungen bezogen (Miegel 2014, S. 152f.). Meine Rückführung der heutigen Krise auf die Verbreitung der materialistischen Weltanschauung scheint mir deshalb auch im Sinne seines Buches durchaus berechtigt zu sein. 518 Steiner hat selbst eingeräumt, dass z. B. die geisteswissenschaftliche Medizin noch ganz am Anfang steht und erst in der Zukunft eine ausgereifte Wissenschaft sein wird: „ Das, was ich gestern von dem medizinischen Buche gesagt habe [gemeint ist das Werk Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA27, das Steiner mit seiner medizinisch geschulten Mitarbeiterin Dr. Ita Wegman geschrieben hat und postum 1925 erschien], wird nur den allerersten, elementaren Anfang darstellen können, und das wird nach langer Zeit, wenn wir nicht mehr leben werden, die ausgebildete Wissenschaft erst werden “ (GA243, S. 215). 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft 1395 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse für das soziale Leben und die Wissenschaft: die Steiner ’ sche Revolution Die Betrachtungen des vorausgehenden Kapitels ergaben, dass die Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft eine Art zweite kopernikanische Revolution in der Weltanschauung bedeuten. Denn sie zeigen, dass die seit der kopernikanischen Revolution entwickelte materialistisch-mechanistische Sichtweise des Universums radikal unvollständig und ergänzungsbedürftig ist. Diese Einsicht hat selbstverständlich weitestgehende praktische Folgen. Und ich meine hier nicht nur und nicht in erster Linie die praktischen Folgen, welche die Impulse der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners bereits auf solchen Gebieten wie Landwirtschaft, Medizin, Pädagogik, Heilpädagogik, Architektur usw. gezeitigt haben. Nein, die „ Umwertung aller Werte “ muss viel weiter gehen. Denn Gott ist nicht tot. Im Gegenteil: Götter leben! Im Licht der Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft muss praktisch alles radikal neu und anders werden: von der Physik bis zu Astrophysik, mit allen dazwischenliegenden Stufen der Einzelwissenschaften, von der pränatalen Diagnose, dem Schwangerschaftsabbruch und der Neonatologie bis zur Sterbehilfe, von der Landwirtschaft bis zur Raumfahrt, vom Schulwesen bis zur Industrie. Denn diese Forschungsergebnisse bedeuten nicht weniger als eine abermalige Entthronung des Menschen. Die kopernikanische Revolution brachte den Verlust der zentralen Stellung der Erde im Kosmos und des Menschen in der Schöpfung mit sich. Die Steiner ’ sche Revolution bedeutet zwar auf der einen Seite die Wiedergewinnung der Sonderstellung des Menschen, aber zur gleichen Zeit den Verlust des Rechts auf das Verfügung über die Schöpfung nach eigenem Gutdünken. Wir haben uns in den letzten Jahrhunderten daran gewöhnt, dass wir mit der Erde und ihren Geschöpfen machen können, was wir wollen: Urwälder wurden gerodet, Tiere massenhaft geschlachtet, Flüsse umgeleitet, Seen getrocknet, neue geschaffen, Rohstoffe aus der Erde geholt, bis es nicht mehr geht, wobei wir rücksichtslos in Kauf nahmen, dass im Zuge dieser Ausbeutung die Umwelt verschmutzt und vergiftet wurde. Der von allen religiösen Banden und Hemmungen emanzipierte Vernunft maßte sich an, über der Natur und dem Kosmos zu stehen und über sie verfügen zu können. Die Menschheit wird durch die neue, Steiner ’ sche Revolution gezwungen, in ihre Planung und Beschlussfassungen Gesichtspunkte einzubeziehen, welche sie in den letzten Jahrhunderten nicht einmal im Traum ernst nehmen wollte: die Intentionen der übermenschlichen geistigen Wesenheiten, welche die Schöpfer des Menschen sind. Der Mensch wird erneut mit der Ewigkeit rechnen. Nicht weil er muss, sondern weil er will. Ich habe von der Entthronung des Menschen gesprochen. Diese Formulierung ist nicht ganz korrekt. Denn die Steiner ’ sche Revolution hat nicht die Entthronung des Menschen, sondern nur die Entthronung des Aufklärungsmenschen zur Folge. Mit der Aufklärung hat sich der Mensch der übermenschlichen Mächte entledigt und eine pragmatisch ausgerichtete Vernunft 519 auf den Thron Gottes gesetzt. Wie wir bereits gesehen haben, verdankt der Mensch der Entfaltung seiner Vernunft nicht nur die praktischen Errungenschaften des Alltagslebens: von der Badewanne und Zentralheizung bis zur Raumfahrt. Dank der Entfaltung seiner Vernunft ist der Mensch kosmisch mündig geworden; sein Wille ist frei geworden. Er hat sich, um ein Wort von Klaus Michael Meyer-Abich aufzunehmen, zu einem Homo interplanetaris praedator, zu einem interplanetarischen Eroberer (Meyer-Abich 1997, S. 310) entwickelt, der auf die rücksichtslose Nutzung der Natur im Dienste eigener Bedürfnisse ausgerichtet ist. Meyer-Abich sieht darin eine Adoleszenzkrise der wissenschaftlich-technischen Welt (ebd., S. 11). Sie führt letztlich dazu, dass die Erde in absehbarer Zeit aufhören wird, ein „ sicherer Betriebsraum “ ( „ safe operating space “ ) für Menschen zu sein (Steffen et al. 2015). Der Mensch kann die gewonnene Freiheit dafür verwenden, sich von seinen geistigen Ursprungsmächten, seinen geistigen Eltern zu trennen, abzuschnüren. Er kann aber auch in Harmonie mit ihnen handeln wollen, aus Dankbarkeit für das, was er von ihnen im Laufe der kosmischen Evolution an Geschenken bekommen hat. Denn die Welt, die Erde, sein physischer Leib sind nichts weniger als Geschenke der Götter. Und wenn man sich vor Augen führt, dass unsere Sonne kein Superofen ist, in dem Kernfusionreaktionen gigantisches Ausmaßes stattfinden, sondern ein Wohnort höherer geistiger Wesen, und dass in das Licht und in die Wärme der Sonne die Opfertaten dieser Wesen hineingeheimnisst sind und in ihnen ihre Liebe zu uns fließt, die unser Leben ermöglicht, dann steigert sich die Dankbarkeit diesen Wesen gegenüber für unsere menschliche Existenz auf Erden ins Unermessliche. Der Mensch kann somit seine durch die Entfaltung der Vernunft gewonnene Freiheit auch dafür nutzen, zu entdecken, dass seine tiefste und höchste Glückseligkeit, die Erfüllung aller seiner tiefsten Bedürfnisse im Handeln in Harmonie mit diesen Wesen besteht. Denn der Mensch ist viel mehr, viel größer, viel tiefer und viel herrlicher als seine Vernunft. Die Steiner ’ sche Revolution bedeutet nicht die Entthronung des Menschen. Im Gegenteil: Sie bedeutet, recht besehen, die Erhebung des Menschen. Denn sie verlangt zwar von ihm, dass er intellektuelle Bescheidenheit entwickelt (GA82, S. 113 f; GA84, S. 155f.) und lernt, dass seine Vernunft nicht die höchste ihm 519 Wir erinnern uns daran, dass einige Wissenschaftstheoretiker die moderne Wissenschaft als eine Art gehobene, verfeinerte Kochkunst betrachten. 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1397 zugängliche Erkenntniskraft und nicht das Maß aller Dinge ist, sie gibt ihm aber als Ausgleich für dieses Zugeständnis den Ausblick auf die Ewigkeit seiner tiefsten, innersten Natur, die Einsicht darin, dass die Menschen nichts Geringeres als die zehnte kosmische Hierarchie sind (GA93a, S. 98; GA110. S. 174) 520 und dass sie, obschon sie kosmisch betrachtet immer noch Kleinkinder sind, die von ihren Eltern gehegt und gepflegt werden müssen, in der Zukunft gleichermaßen Schöpfer im kosmischen Sinne werden wie die Seraphine, Cherubine, Throne, Kyriotetes, Dynamis und Exiusiai. Der Mensch wird mit der Ewigkeit rechnen wollen, weil er seinem Wesen nach ewig ist. Im Folgenden möchte ich zumindest kurz einige der Folgen der geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse für das Selbstverständnis des Menschen und für das künftige Menschenhandeln schildern. Die Stellung der Religionen Die wohl wichtigste Folge der geisteswissenschaftlichen Forschung ist das neue Verständnis der Stellung der Religionen in der Menschheitsentwicklung. Im scharfen Gegensatz zu der in der gegenwärtigen materialistischen Wissenschaft verbreiteten Sicht verbirgt sich hinter ihnen keine Erfindung des menschlichen Geistes bzw. des menschlichen Gehirns. 521 Sie sind vielmehr 520 Neben den Seraphinen, Cherubinen, Thronen, Geister der Weisheit (Kyriotetes), Geister der Bewegung (Dynamis), Geister der Form (Exusiai), Geister der Persönlichkeit (Archai), Erzengel, und Engel. 521 Vor kurzem ist ein Buch erschienen, das auf seinem Umschlag als „ erstmaliger Versuch “ einer Antwort auf die Frage gepriesen wird, ob es „ eine Biologie der Religionen beziehungsweise eine Biologie der Religionsentstehung “ gibt (Wunn, Urban, und Klein 2015). Die Autoren leiten die Entstehung der Religionen von dem Brauch her, das Territorium einer bestimmten prähistorischen Menschengruppe (z. B. eine Höhle) mit den Schädeln der Verstorbenen zu markieren und so zu verteidigen: „ Offensichtlich haben die Manipulationen an den Schädeln der Verstorbenen, also die noch aus dem Paläolithikum stammenden Handlungsmuster, letztlich zu Vorstellungen geführt, die wir heute der Welt der Religiösen zuordnen. Demnach hätten konkrete Ängste um die Sicherheit und Tragfähigkeit des Territoriums in demonstrativen Handlungen, nämlich der Betonung der Rechtmäßigkeit eines Territorialbesitzes durch Schädeldeponierung, resultiert. Diese Handlungen wurden bewusst wiederholt und ihre Wirksamkeit überprüft. Dabei wurde die Signalwirkung von konkurrierenden Gruppen offensichtlich verstanden und der Territorialbesitz mehr oder weniger respektiert. Auf diese Weise wurde der Usus der Schädeldeponierung im Sinne der instrumentalen Konditionierung verstärkt, sodass er über die Jahrhunderte erhalten blieb. Irgendwann wurde dann vermutlich die positive Wirkung des Signals den Schädeln oder den in ihnen weiter bestehenden Kräften der Verstorbenen zugeschrieben, über deren Weiterleben nach dem Tod sich immer konkretere Vorstellungen herausbildeten. Da die ersten, noch vagen Vorstellungen vom Weiterleben der Toten ebenfalls mit positiven Effekten verbunden waren (bessere Bewältigung der Trauer über den erfahrenen Verlust, Abschwächung der eigenen Angst vor der Auslöschung), wurden auch sie weitergegeben und dabei mit der Zeit immer detailreicher ausgeschmückt “ (ebd., S. 103f.). Eine interessante Theorie, auf die ich hier aus Platzgründen nicht ausführlich eingehen kann, 1398 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse eine Spur eines uralten Bewusstseins, das im traumhaften Hellsehen (z. B. GA26, S. 125; ebd., S. 127 522 ) mit den Göttern direkt vertraut war und noch während der atlantischen Entwicklungsepoche mit ihnen verkehrte. Wir müssen uns erinnern, daß in der atlantischen Zeit der Mensch in der Nacht nicht bewußtlos war, sondern daß er dann ebenso wahrnahm, wie er bei Tage wahrnahm, wenn man überhaupt in dieser Zeit von Tag und Nacht sprechen darf. Bei Tage nahm er die erste Spur dessen wahr, was wir heute so klar sehen als die Welt der Sinneswahrnehmungen. Bei Nacht war er ein Genosse der göttlichgeistigen Wesenheiten. Er brauchte keinen Beweis dafür, daß es Götter gab, ebensowenig wie wir heute einen Beweis dafür brauchen, daß es Mineralien gibt. Die Götter waren seine Genossen, er selbst war in der Nacht eine geistige Wesenheit. In seinem Astralleibe und Ich wandelte er in der geistigen Welt umher. Er war selbst ein Geist und traf Wesen, die mit ihm gleichartiger Natur waren. (GA106, S. 49) Die Götter sind keine Phantome der menschlichen Fantasie, sie sind überaus reale Wesen, die tatsächlich, wie in der Genesis symbolisch geschildert, unsere Welt und den Menschen erschaffen haben, obwohl dieser Prozess viel komplexer war und länger dauerte als die biblischen sechs Tage. Die Verschiedenheit der historisch bekannten Religionen erklärt sich dadurch, dass in der Vergangenheit die geistige Welt den verschiedenen Völkern in unterschiedlichen, den Bedürfnissen und Aufgaben des jeweiligen Volkes und der Zeitperiode angepasster Form erschien. Die (organisierten, institutionellen) Religionen zeigen sich also im Licht der Geisteswissenschaft als Echos einer erlebten Wirklichkeit, sie zeigen sich aber auch als ein „ Auslaufmodell “ der menschlichen Evolution - selbstverständlich sehr langfristig. Wie bereits angedeutet, wird künftig die Gabe der Hellsichtigkeit wieder zum Allgemeingut der Menschheit werden, obschon es im Gegensatz zum alten Hellsehen, das man als „ traumhaftes “ , nicht selbstbewusstes bezeichnen kann, durch und durch mit dem Aufrechterhalten des Ich-Bewusstseins vereinbar sein wird (GA112, S. 164). Die Zukunft gehört daher nicht den Religionen mit ihren Tempeln, Priestern und Ritualen, sie gehört den individuellen Menschen, welche selbstständig, ohne die Vermittlung von Autoritäten imstande sein werden, den Kontakt mit den Bewohnern der geistigen Welt, mit den Schöpfern des Menschen anzuknüpfen. 523 Die Zukunft ist also eine Spiritualität ohne Religion (Harris die jedoch mit der wahren Entstehung der Religion aus dem Nachklang der früheren direkten übersinnlichen Erfahrung der geistigen Welt und der geistigen Wesenheiten (Götter wie auch der Verstorbenen) nichts zu tun hat. 522 Vgl. auch GA59, S. 276; GA69a, S. 21; GA69b, S. 193f., 234, 235, 243, 246, 254; GA118; S. 78 usw.) 523 Es ist schließlich eines mündigen Menschen unwürdig, bei einem Priester (Bischof, Kardinal, Papst, Rabbi, Imam usw.) fragen zu müssen, ob er/ sie Kondome bzw. die Antibabypille benutzen, die Schwangerschaft abbrechen usw. darf oder nicht. 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1399 2014). 524 Diese Vision ist an sich nichts Neues. Bereits Jesus Christus wies auf eine solche Entwicklung hin: Frau, glaube mir, es kommt die Stunde, da ihr weder auf diesem Berg, noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. [. . .] Es kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die wahren Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn auch der Vater sucht solche als seine Anbeter. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten. (Joh 4,21-24) Die künftige Individualisierung des religiösen Lebens ist von umso größerer Bedeutung, als bis in unsere Tage Religionen eine eher entzweiende Wirkung haben: Ihre Verschiedenheit führen zu Konflikten, manchmal sogar zu Kriegen. Dies wird sich mit der zunehmenden Individualisierung der Spiritualität, vor allem aber mit der Ausbreitung der Hellsichtigkeit unter den Menschen entscheidend ändern. So wie wir heute (grundsätzlich) nur eine Wissenschaft in der ganzen Welt haben, so wird es in der Zukunft nur eine Geisteswissenschaft, nur eine Auffassung der geistigen Wirklichkeit geben (vgl. Joh 10,16 „ und es wird eine Herde, ein Hirte sein “ ). Meinungsverschiedenheiten werden sicherlich auch in diesem Bereich lange noch erhalten bleiben, sie werden aber ebenso wenig zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen wie heute die Meinungsverschiedenheiten zwischen gewöhnlichen Wissenschaftlern. Es wird nämlich die Einsicht herrschen, dass etwaige Unterschiede durch fortschreitende Erforschung der übersinnlichen Welt abgebaut werden können. Die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners bildet den ersten Anfang einer solchen in der ganzen Menschheit verbreiteten Wissenschaft der geistigen Welt. Die Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft weisen jedoch auch unmissverständlich darauf hin, dass die Religionen nicht auf derselben Stufe stehen. Dies ist gerade heute, da ich diese Worte schreibe - Europa steht unter dem Schock der Attentate auf die Redaktion der Zeitschrift Charlie Hebdo und des Geiseldramas in Paris - relevant. Aus der Sicht mancher Materialisten sind Religionen nicht nur allesamt eine Erfindung des „ überhitzten “ Gehirns des Menschen, sondern darüber hinaus auch gefährliche Erfindungen, da sie die Menschen dazu verleiten, sich im Namen ihres Gottes gegenseitig zu töten. 525 Im Licht der Geisteswissenschaft zeigt sich die Wirklichkeit als viel komplexer: Die verschiedenen geschichtlichen Religionen sind zwar allesamt Echos von realen übersinnlichen Erfahrungen, doch gibt es eine geistige Evolution der Menschheit, weshalb auch die religiösen Vorstellungen einem Fortschritt unterliegen. Das bedeutet wiederum, dass das, was auf einer 524 Obwohl ich mit Harris die Überzeugung von der Notwendigkeit der Entwicklung der Spiritualität ohne Religion teile, unterstütze ich selbstverständlich seine grundsätzlich materialistischen Überzeugungen nicht. 525 Vgl. Richard Dawkins in The God Delusion: „ Faith can be very very dangerous, and deliberately to implant it into the vulnerable mind of an innocent child is a grievous wrong “ (Dawkins 2007, S. 348). 1400 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse frühere Entwicklungsstufe der Menschheit angemessen war, heute nicht mehr angemessen sein muss. Dinosaurier waren auf der Erde einmal sehr verbreitet, heute wären sie inmitten einer modernen Stadt „ fehl am Platz “ . Dasselbe gilt auch für die Religion. Im Alten Testament können wir etwa lesen: „ Wer einen Menschen [so] schlägt, dass er stirbt, muss getötet werden (2. Mose 21,12) und „ Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß “ (2. Mose 21,24); bei Mose heißt es ferner, dass die Ehebrecher (3. Mose 20,10) und die Homosexuellen (5. Mose 20,13) gesteinigt werden sollen, dass ein Mann oder eine Frau, der/ die Unzucht mit einem Tier treibt, samt dem Tier getötet werden müsse (3. Mose 20,15-16); ebenso liest man, dass „ [w]enn irgend jemand seinem Vater oder seiner Mutter flucht, [. . .] er getötet werden “ müsse (3. Mose 20,9) oder dass ein „ störrischer und widerspenstiger “ Sohn, der „ auf die Stimme seines Vaters und auf die Stimme seiner Mutter “ nicht hört, von den Leute seiner Stadt gesteinigt werden solle (5. Mose 21,18-21). Solche Gebote haben ihre historische Berechtigung, sind aber heute offensichtlich nicht mehr angemessen. Um die Gründe für die tiefgreifende Veränderung des Gerechtigkeitsempfindens der Menschen besser verstehen zu können, die dazu geführt hat, dass wir heute in der westlichen Welt solche Strafen als völlig deplaziert erachten, muss man nochmals auf die im vorigen Kapitel geschilderte Evolution des Menschen während der Erde-Inkarnation unseres Planeten eingehen. Wir erinnern uns daran, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt dieser Evolution, während der sog. lemurischen Entwicklungsepoche, jenes Ereignis stattfand, das das Christentum als „ Sündenfall “ bezeichnet. Wir haben bereits damals darauf hingewiesen, dass es sich dabei um einen Eingriff der luziferischen Wesenheiten in die Evolution der Menschheit handelte, der u. a. zur Folge hatte, dass das Bewusstsein des Menschen seinen Charakter eines getreuen Spiegels des Kosmos verlor: Der Mensch wurde anfällig für den Irrtum und die der regulären Evolution widerstrebenden Impulse (das Böse) und er begann (unter dem Einfluss der ahrimanischen Wesenheiten), den Tod als eine wesentliche und schmerzhafte, unerwünschte Veränderung seiner Lebensumstände zu empfinden. Diese Darstellung muss jetzt um einige weiteren Aspekte ergänzt werden. Die führenden Wesenheiten der Hierarchie der Geister der Form (Exusiai) sahen nicht nur vor, dass der Mensch in seiner Erkenntnis die wahren Verhältnisse im Kosmos, selbstverständlich auch innerhalb des übersinnlichen Teils derselben, getreu widerspiegelt, sondern auch, dass sich die Menschen in vollkommener Harmonie untereinander entwickelten. Vor dem Eingriff der luziferischen Wesenheiten lebten die Menschen im „ Paradies “ nicht nur ohne Tod und ohne Anstrengung (Arbeit), sondern auch ohne Streit. Sie waren jedoch von den Göttern geführte, unfreie Wesen ohne Eigenständigkeit und Individualität. Ein wesentlicher Ausdruck dessen war es, dass sich die Erinnerung weit über die Grenzen der persönlichen Existenz erstreckte und sich die Menschen an die Taten ihrer Vorfahren mit gleicher 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1401 Lebendigkeit wie an die eigenen Taten erinnern konnten. Folglich betrachteten sie nicht nur ihre Existenz zwischen Geburt und Tod als eigene, sondern auch die Existenz ihrer Vorfahren. Das Ich lebte nicht im individuellen Leib, sondern wurde als in der ganzen Verwandtschaftslinie verankert empfunden (GA112, S. 95). Dies erklärt die scheinbar völlig unsinnige Behauptung der Bibel, dass Adam 930 Jahre gelebt habe und auch seinen direkten Nachfolger angeblich jeweils mehrere Hunderte Jahre lebten: Set 912, Enosch 905, Kenan 910 Jahre usw. (1. Mose 5,5-32). Nicht der Einzelne lebte so lange, sondern die gemeinschaftliche Erinnerung an den Gründungsvater einer Familienlinie. Menschen lebten also in Gemeinschaften, die an Blutverwandtschaft gebunden waren (GA112, S. 96). Der Eingriff der luziferischen Wesenheiten in die Geschicke der Menschheit hatte nun u. a. zur Folge, dass sich das Selbstbewusstsein des Menschen stärkte und er an Freiheit, Selbstständigkeit und Individualität gewann, was aber einerseits zum allmählichen Verlust der Erinnerung an die Ahnen, andererseits zur Entstehung von Konflikten unter den Menschen führte, deren erstes Beispiel wir in der Tötung Abels durch Kain finden (1. Mose 4,1-16). Der luziferische Eingriff wirkte also tatsächlich u. a. gegen alle jene Kräfte, welche die Menschen zusammenführten (GA112, S. 96). Würde man dieser Entwicklung freien Lauf gewähren, hätte sie bald zur Entstehung völliger Lieblosigkeit unter den individualisierten Menschen, zu einer Art Krieg aller gegen alle geführt (ebd., S. 102). Dem konnte auf zweierlei Weise entgegengewirkt werden: Einerseits war es möglich, dass die individuellen Menschen durch ihre persönlichen Anstrengungen den Einfluss der luziferischen Wesenheiten in ihrem Wesen (Astralleib) bekämpften. Dies konnte wiederum entweder durch die Abtötung der luziferisch inspirierten Gefühle (Hass, Ärger, Wut, Eifersucht usw.) (GA112, S. 99) geschehen oder aber durch die Bekämpfung des persönlichen Elements in der menschlichen Seele: „ Tötet das, was euch ein persönliches Ich gibt, und blickt hinauf in diejenigen alten Zeiten, wo die Blutsverwandtschaft noch so rege sprach, dass der Nachkommen sein Ich bis zum ersten Vorfahren hinauf empfand “ , lautete die Devise (GA112, S. 100). Eine Spur davon findet sich in der spirituellen Tradition des Ostens, die das Ich zu überwinden sucht, um sich im Nirwana mit dem Brahman im Zustand der „ glückseligen Egolosigkeit “ vereinigen zu können (Easwaran 2007, S. 268). Dem Buddhismus gilt das Ich bekanntlich sogar als eine bloße Illusion (Snelling 1987, S. 13f., 75f.). Andererseits wurden von den geistigen Führern der Menschheit Vorkehrungen getroffen, um ganze Gruppen von Menschen von den übermäßigen Einwirkungen der luziferischen Wesenheiten zu schützen. Dies war besonders innerhalb des alten hebräischen Volkes der Fall. Da innerhalb dieses Volkes der Schutz gegen die luziferischen Eingriffe nicht bloß von der persönlichen Anstrengung der einzelnen Menschen abhängig, sondern durch die das Volk führenden geistigen Wesenheiten gewährleistet war, welche ihren Einfluss durch das Blut des Menschen ausübten (GA112, S. 194), war es 1402 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse äußerst wichtig, die Reinheit dieses Blutes sicherzustellen. 526 Daraus ergab sich einerseits das Verbot der Ehe außerhalb der hebräischen Gemeinschaft (5. Mose 7,3; 1. Könige 11,2), andererseits die Todesstrafe für zahlreiche oben aufgeführte Vergehen. Die Überlegung dahinter war, dass jemand, der sich eines solchen Vergehens schuldig machte (des Ehebruchs, Homosexualität usw.), dazu durch die übermäßigen luziferischen Einflüsse in seinem Blut verführt wurde, das heißt aber, dass sein Blut gleichsam verunreinigt war. Nicht von ungefähr enden die entsprechenden Anweisungen Moses mit der Formel „ ihr Blut ist auf ihm/ ihnen “ (3. Mose 20,9; 11, 12, 13, 16 usw.). Dies wird oft als Hinweis darauf verstanden, dass der Tod des Betreffenden selbstverschuldet war. Die tiefere Bedeutung ist aber, dass sein Blut das Verschulden verursachte: Das „ verunreinigte “ Blut führte zum Verbrechen und folglich zur Strafe. Es war deshalb für das Wohl der Gemeinschaft besser, eine solche Person zu töten als die (mögliche) Verbreitung der Verunreinigung zu riskieren. Den Tod des „ Verbrechers “ zu verlangen, war für die geistigen Führer des jüdischen Volkes, welche durch Moses wirkten, umso leichter, als sie sich bewusst waren, dass die getötete Person eine weitere „ Chance “ in einer neuen Verkörperung haben wird, ihre Existenz und Entwicklung unter günstigeren Bedingungen weiterzuführen. Diese Situation änderte sich entscheidend mit der Inkarnation Christi. Denn Christus hat in das Menschen-Ich die Kraft gepflanzt, die störenden Einflüsse Luzifers im Astralleib zu überwinden, und es (wiederum) einerseits zur Einsicht in die geistige Welt, andererseits trotz der für die Erfüllung der Mission der Erde notwendigen Kultivierung der Individualität des Menschen zu einer neuen Harmonie untereinander, zu einer neuen Form der Liebe zu führen: Als der große Impuls auf die Erde kam, [. . .], als der Christus-Impuls kam, da erklang zuerst ganz klar und deutlich eine andere Rede. Und sie konnte so klar und deutlich gerade innerhalb des hebräischen Volkes vernommen werden, weil sich dieses Volk bis in die späteste Zeit hinein das bewahrt hatte, was wir als den Nachklang der alten atlantischen Eingeweihten hinstellen können. Christus verwandelte jene Rede der alten Eingeweihten und sagte: Es gibt eine Möglichkeit, daß der Mensch seine eigene Persönlichkeit pflegt, daß er nicht bloß den physischen Banden der Blutsbrüderschaft folgt, sondern daß er in sein Ich schaut und dort das Göttliche sucht und findet! In dem, was wir charakterisiert haben als den Christus-Impuls, liegt die Kraft, die, wenn wir uns mit ihr vereinen, es uns ermöglicht, trotz der Individualität des Ich ein geistiges Bruderband von Mensch zu Mensch zu stiften. (GA112, S. 101) Mit dem direkten Eingreifen Christi in die Evolution der Menschheit ist also der Keim der von den Blutsbanden unabhängigen geistigen Liebe gelegt 526 Die nachfolgende Überlegung dieses Paragraphs stammt von mir (MBM), nicht von Rudolf Steiner. 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1403 worden. Es kann deshalb nicht genug betont werden, welche zentrale Stellung das einzige neue Gebot, das Christus seinen Jüngern erteilt, in der Heilsgeschichte der Menschheit annimmt. Wir haben bereits im vorigen Kapitel von diesem Gebot gesprochen: „ Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, damit, wie ich auch geliebt habe, auch ihr einander liebt. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt “ (Joh 13,34-35). Die damaligen Erörterungen müssen jetzt um einige wichtige Elemente ergänzt werden. Denn Christus gebietet seinen Jüngern nicht nur, dass sie sich gegenseitig Liebe bezeugen, er spricht ausdrücklich davon, dass sie sich mit der Liebe lieben sollen, mit welcher er sie geliebt hat: „ Dies ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe “ (Joh 15,12). Oft wird als das zentrale Gebot des Christentums das der „ Nächstenliebe “ genannt: „ Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst “ (Mt 22,39, vgl. Mk 12,31). An dieser Stelle wird jedoch Christus von den Gelehrten nach dem wichtigsten Gebot Moses gefragt (3. Mose 19,18). Das Gebot der Nächstenliebe ist also kein spezifisch christliches Gebot, es ist bereits im alten Gesetz enthalten. Spezifisch christlich ist einzig und allein das neue Gebot, den Anderen nicht mit der egoistischen Liebe zu lieben, welche wir (fast) immer für uns selbst haben und dank derer wir die oft gewaltige Kraft haben, unser leibliches Leben zu verteidigen und zu sichern, sondern mit der Liebe, mit der Christus selbst liebte. Was für eine Liebe war das? Es war eine kosmische Liebe, mit der auch der Vater Christus liebte: Vater, ich will, dass die, welche du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin, damit sie meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast, denn du hast mich geliebt vor Grundlegung der Welt. Gerechter Vater! - Und die Welt hat dich nicht erkannt; ich aber habe dich erkannt, und diese haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, womit du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen. (Joh 17,24-26) Mit dem direkten Eingreifen des Christus ist also der Mensch durch die von den ihn führenden geistigen Wesenheiten im Blut veranlagten Schutzmaßnahmen gegen die luziferischen Einflüsse unabhängig geworden. Folglich wurde es aus höherer Warte betrachtet unnötig, das Blut des Volkes reinzuhalten und die Bestrafung mit dem Tod für bestimmte Vergehen war obsolet. Die Verantwortung für die individuelle Lebensführung wurde in die Hände des Einzelnen gelegt. Eine der wichtigsten Folgen dieser Veränderung ist die hohe Stellung, welche der Liebe und der Vergebung in der moralischen Führung des Menschen zukommt. Denn die Androhung der Strafe für ein Vergehen bewirkt zwar Furcht davor und führt zur Unterdrückung des Impulses, eine Übeltat zu verüben, die Veranlagung bleibt jedoch in der Seele vorhanden. Die Liebe und mit ihr die Vergebung gibt dem Betreffenden jedoch Hoffnung und Kraft, dass er seine Veranlagung wird verwandeln können. Strafe wirkt hemmend, Liebe wirkt befreiend, belebend, erhöhend. 1404 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Sie ist umso angemessener, als sie sich mit der Einsicht verknüpft, dass der Impuls zum Verbrechen nicht zur wahren Individualität des „ Übeltäters “ gehört - diese ist nämlich göttlicher Natur - , sondern der Verführung durch die geistig übergeordneten und somit stärkeren luziferischen Mächte entspringt. Deshalb der Ausspruch Christi: Nicht die Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das ist: „ Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer “ 527 . Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder. (Mt 9,12-13) Und seine barmherzige Behandlung der Ehebrecherin: „ Auch ich verurteile dich nicht. Geh hin und sündige von jetzt an nicht mehr! “ (Joh 8,11). Ein weiterer wichtiger Aspekt der Evolution der Menschheit und somit auch der religiösen Vorstellungen ergibt sich aus der Einsicht, dass der Christus-Impuls den Menschen individualisiert, ihn von den Blut- und Familienbanden befreit. Auf diese Tatsache wird in den Evangelien von Matthäus und im Lukas mit aller Deutlichkeit hingewiesen: Meint nicht, dass ich gekommen sei, Frieden auf die Erde zu bringen; ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und des Menschen Feinde [werden] seine eigenen Hausgenossen [sein]. (Mt 10,34-36; vgl. Lk 12,51-53) Christus spricht an dieser Stelle bezeichnenderweise nicht vom Krieg zwischen Völkern oder Nationen, sondern vom „ Krieg “ innerhalb einer Familie. Und dies nicht deshalb, weil er Gefallen an Streitigkeiten zwischen den Menschen findet, sondern weil er die Blutsbande auflösen muss, um dem Menschen die Entwicklung zu einer freien, selbstständigen, auf sich gestellten Persönlichkeit öffnen zu können. Die heute in der westlichen Welt überall deutlich wahrnehmbare Lockerung der Familienbande ist eine Erfüllung dieser Prophetie. Ein wichtiger Aspekt der Wirksamkeit des Christus-Impulses liegt jedoch ebenfalls darin, dass er nicht nur den Menschen von den Blutsbzw. Familienbanden befreit, sondern im Menschen etwas einpflanzt, was ihm über das Vererbungselement hinaus zu wachsen ermöglicht, was so etwas wie eine „ jungfräuliche Geburt “ in die Entwicklung des Menschen einführt: Es gibt in jedem Menschen etwas, was nicht durch den Keim angeregt wird, sondern was sozusagen jungfräulicher Geburt ist, was sich von ganz anderen Gebieten her in die Keimung ergießt. Es verbindet sich mit dem Keime des Menschen etwas, was nicht von Vater und Mutter abstammt und was doch zu ihm gehört, was doch für ihn bestimmt ist, was sich hineinergießt in sein Ich und was veredelt werden kann, wenn es das Christus-Prinzip aufnimmt. [. . .] Der Christus-Jesus [. . .] sprach zu demjenigen im Menschen, was nicht durch den Keim geht, sondern was aus dem Reiche des Göttlichen ist. (GA114, S. 222, 224) 527 Hos 6,6. 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1405 Dieser himmlische Keim steht jetzt allen Menschen zur Verfügung, wenn sie von ihm Gebrauch machen wollen. Die geistige Entwicklung ist ein gleichsam demokratisches Gut geworden, das in keinerlei Weise an die Besonderheiten des Vererbungsstromes und auf die besondere Blutreinheit angewiesen ist. Auf diese Weise wurde der Keim der wahren Gleichheit aller Menschen gelegt. Bis zur Inkarnation Christi waren es im Grunde geistige Wesenheiten, welche über die Wertigkeit des Menschen und somit über seine Stellung in der Gesellschaft entschieden. Seit dem direkten Eingreifen des Christus in die Geschicke der Menschheit ist der moralische Wert des Menschen von seiner Individualität abhängig. Daher richtet sich die Botschaft Christi an alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft und sozialer Position. Der Christus ist das „ Licht der Welt “ (Joh 8,12), das jeden Menschen erleuchtet (Joh 1,9). Er lehrt die Menschen, sich zum Gott als den gemeinsamen Vater aller Menschen zu wenden: „ Unser Vater. . . “ (Mt 6,9; Lk 11,2). Und er ist nicht zu den Reichen, Mächtigen, Gerechten, sondern zu den Armen, Schwachen, zu den Sündern gekommen, hat nicht die Reichen und die Weisen zu sich gerufen, sondern jene, die unter dem Joch des Lebens litten: Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen! Und ich werde euch Ruhe geben! Nehmt auf euch mein Joch, und lernt von mir! Denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen; denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. (Mt 11,28-30) Dies ist nicht bloß eine großzügige, barmherzige Geste. Hinter dieser Offenheit für die Armen und Unterdrückten verbirgt sich die Einsicht, dass die soziale Stellung des Menschen, die in der Vergangenheit im Grunde durch die höheren geistigen Mächte prädeterminiert war, nach der Inkarnation Christi von der individuellen Initiative des Einzelnen abhängt. Selbstverständlich geschehen derartige grundlegenden Umwälzungen nicht über Nacht. Im Gegenteil: Es braucht eine lange Zeit, bis sich die Auswirkungen des mit der Inkarnation Christi gelegten Impulses im Leben der Menschheit manifestierten. Es kann deshalb nicht überraschen, dass sich noch bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Vorstellung von der Wichtigkeit der richtigen Abstammung erhalten hat. Im Mittelalter wurden die Verwandten einer Person als consanguinei bezeichnet, d. h. als Menschen, die ihr Blut teilen. Man glaubte, dass die Säfte im Blut die Träger der Emotionen und des Geistes waren (Crouch 2005, S. 127). Dieser Glaube hing seinerseits mit den Vorstellungen über die Befruchtung und embryonale Entwicklung zusammen. Die vorherrschende Meinung der Zeit erbte die Aussicht der klassischen medizinischen Texte, dass sich der Embryo aus der Mischung des Menstruationsblutes mit den Spermien entwickele, die wiederum als das reinste Destillat des männlichen Blutes betrachtet wurden. „ [T]he menses provided the matter from which the child grew and the sperm gave it its shape and soul “ (ebd.). Es wurde ferner angenommen, dass das Blut die Veranlagungen der Eltern auf das Kind übertrage. Daher die damals 1406 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse verbreitete Überzeugung, dass aus adligem Blut kein schlechter Nachkommen entstehen könne: The idea that a child of corrupt blood could be born to a noble line seems absurd. A noble line brings forth only the best qualities and conducts itself generously. It is the corrupt and idle line that spews out wastrels and deals out bitterness. The finest fruit are produced from the finest tree. Noble heir, if your father is distinguished, wealthy, generous and upstanding, take care not to disgrace his blood! It is a dreadful disgrace to discredit noble birth, because of the distinction which comes with it. (Beccles 1939, zit. bei Crouch ebd.) Daraus ging die Vorstellung eines eigentümlichen „ blauen Blutes “ als Träger der charakteristischen Eigenschaften des Adels hervor und das Verbot, Ehen außerhalb der sozialen Klasse zu schließen. Diese Beschäftigung mit der Frage der Abstammung und der Reinheit des Blutes währte vom Mittelalter bis mindestens zum Ende des 19. Jahrhunderts. So waren nach Canino zur Zeit Shakespeares die oberen Klassen „ obsessed with family lineage and reputation “ (Canino 2007, S. I). Der Glaube an die Weitergabe der Eigenschaften der Vorfahren an die nächste Generation war der tiefere Grund für die Praxis der Erbmonarchie, die sich bekanntlich in einigen Ländern bis heute erhalten hat. Im Licht der Geisteswissenschaft zeigt sich, dass dieser Brauch durchaus seine Berechtigung hatte. Ich habe bereits im Exkurs „ Können Gene die Morphogenese erklären? “ deutlich gemacht, dass die heutige genorientierte Sicht der offensichtlichen Tatsache, dass die Eigenschaften der Eltern an den Nachkommen weitergegeben werden, viel zu kurz greift. Erstens sind nicht die Gene, sondern die Kräfte des Ätherleibes dafür verantwortlich, dass sich die Form des Organismus von Generation zu Generation fortpflanzt (vgl. paradigmatisch dazu GA9, S. 29), zweitens werden auch die seelischen Eigenschaften der Eltern auf den Nachkommen übertragen, und zwar die Charakterseite der Person (affektive Dispositionen, Leidenschaften, Triebe usw.) eher vom Vater, die intellektuellen Dispositionen, Fantasiekräfte hingegen eher von der Mutter (paradigmatisch dazu GA69b, S. 115 - 129). Interessanterweise zeigt sich im Licht der Geisteswissenschaft ebenfalls, dass in der Vergangenheit selbst die hellseherische Veranlagung im Blutstrom weitergegeben wurde (GA112, S. 229f.; GA142, S. 99), was den alttestamentarischen Brauch der Vererbung der priesterlichen Würde innerhalb einer Familienlinie erklärlich macht (2. Mose 29,4-46). Der Christus-Impuls brauchte mehr als 1500 Jahre, um sich durchzusetzen. Erst 1776 konnten die Autoren der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung plausibel behaupten: „ We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, that among these are life, liberty and the pursuit of happiness “ (Arnstein 1993, S. 106). Diese kühne Behauptung wurde dann bekanntlich 1789 in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürger- 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1407 rechte wiederholt. Im Licht der Geisteswissenschaft ist das Streben nach Gleichheit am Ende des 18. Jahrhunderts nicht in erster Linie eine Folge der Aufklärung, sondern ein Ergebnis bzw. ein Symptom der Ausbreitung des Christus-Impulses. Dasselbe lässt sich auch von der mit der Unabhängigkeitserklärung gegründeten amerikanischen Demokratie sagen. Dies war die erste Staatsform in der Geschichte der Menschheit, die mit der Tradition der Führung des Staates durch die auf Blutsbanden gestützte Aristokratie brach. Aus dieser Perspektive ist auch der Marxismus mit seinem Streben nach Gerechtigkeit für die Arbeiterklasse ein Symptom der Wirksamkeit des Christus-Impulses, obwohl es sich um eine korrumpierte Wirksamkeit handelt, denn der Marxismus vermengte das berechtigte Streben nach Gleichstellung der Unterprivilegierten unnötiger- und unberechtigterweise mit dem Materialismus und der Ablehnung der Religion. Die Anziehungskraft des Marxismus gründet also auf den Idealen des Christus-Impulses, während seine zerstörerische Wirkung (Gulags, Unterdrückung der individuellen Freiheiten, Planwirtschaft usw.) auf die Durchsetzung dieser Ideale mit den diesem Impuls völlig fremden materialistischen Vorstellungen und Kräften zurückzuführen ist. Die Einsicht in die Wirklichkeit der geistigen Evolution der Menschheit und insbesondere in die sich verstärkende Wirksamkeit des Christus-Impulses im Laufe der Jahrhunderte ermöglicht uns ebenfalls die im Kapitel „ Intermezzo: Einige soziale Folgen . . . “ erwähnte, zunächst unverständlich, ja paradox anmutende Tatsache erklärlich zu machen, dass im Gegensatz zu meiner dort skizzierten düsteren Vision solch negative gesellschaftliche Folgen kaum zu beobachten sind und die Materialisten sich oft keineswegs als schlechtere „ Christen “ als die sich zum Christentum bekennenden Personen erweisen. Gemäß zahlreichen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen sind die religiösen Personen im Schnitt nicht hilfsbereiter, nicht ehrlicher und auch nicht toleranter als Atheisten (Schnabel 2008, S. 141). 528 Dieses Phänomen lässt sich dadurch erklären, dass der Christus-Impuls seine Auswirkung auf alle Menschen hat: ob Christen oder Muslime, Buddhisten, oder Hinduisten, Gläubige oder Atheisten, er wirkt auf alle verfeinernd, veredelnd, besänftigend. 529 Es kann deshalb nicht überraschen, dass man auch unter Atheisten oder Muslimen auf „ gute Christen “ trifft. Um die Auswirkung des materialistischen Impulses als solchen beurteilen zu können, müsste man die Auswirkungen des Christus-Impulses von denen des rein materialistischen Impulses gleichsam abziehen. Dies ist in der Praxis kaum 528 Vgl. auch McKay und Whitehouse: „ Thus some aspects of ‚ religion ‘ may promote some aspects of ‚ morality ‘ , just as others serve to suppress or obstruct the same, or different, aspects. In short, in discussing whether religion is a force for good, we must be very clear what we mean by ‚ religion ‘ and what we mean by ‚ good ‘“ (McKay und Whitehouse 2014, S. 19). 529 Es ist jedoch davon auszugehen, das dieser Impuls am stärksten auf diejenigen Menschen und Menschengemeinschaften wirkt, die sich explizit zu Christus bekennen. 1408 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse möglich, wir haben aber, so meine ich sagen zu dürfen, eine Art Experiment in diese Richtung erlebt, und zwar die Nazi-Herrschaft. Die völlig rücksichtslose, unmenschliche Behandlung der „ Untermenschen “ (Juden, Slawen, Sinti und Roma usw.) war keine Folge irgendwelcher mentaler Pathologien, etwa sadistischer Neigungen, sondern die „ logische “ Folge einer verinnerlichten Ideologie, die von jeglichen Spuren christlicher Werte „ gereinigt “ war. Islam Die meisten Menschen dieser Weltschauen mit Schrecken auf die - zur Zeit des Schreibens - neusten Gräueltaten des so genannten „ Islamischen Staates “ (IS) wie auch anderer islamischen Milizen: Boko Haram im Norden Nigerias oder al-Shabaab in Somalia: die Verbrennung des jordanischen Kampfpiloten bei lebendigem Leib am 3. Februar 2015, 530 das Enthaupten der einundzwanzig koptischen Christen in Libyen am 15. Februar 2015 531 , die Verbrennung von fünfundvierzig Menschen in al-Baghadi in Westirak am 16. Februar 2015, 532 oder die Tötung von 147 christlichen Studenten und Studentinnen in der kenianischen Stadt Garissa. 533 Und während die allermeisten islamischen Theologen behaupten, dass solche Taten mit dem Islam nichts zu tun haben, muss darauf hingewiesen werden, dass der Anführer der IS-Miliz, Abu Bakr al-Baghdadi über ein Doktorat in islamischer Theologie verfügt, und dass er das Vorgehen des IS mit einer theologische Expertise rechtfertigt. 534 Irrt er sich tatsächlich so gewaltig in seiner Interpretation der Botschaft des Korans oder ist doch etwas „ dran “ ? Betrachtet man die geistige Evolution der Menschheit aus der oben dargelegten Perspektive, so erweist sich der Islam unzweideutig als eine Entwicklungsstörung. Der Islam ist sechs Jahrhunderte nach Christus entstanden, anerkennt jedoch die zentrale Rolle Christi in der Evolution der Menschheit und des Kosmos nicht und stuft Mohammed in der geistigen Hierarchie höher als Jesus Christus ein. Dies ist im Licht der Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft eindeutig ein Irrtum, ja eine vollständige Verdrehung der Wahrheit. Im Gegensatz zu anderen großen modernen Religionen, dem Hinduismus, Buddhismus und Judaismus, die die Rolle des Christus noch nicht erkannt haben, bildet der Islam eine Art Gegensatz zum Christentum, indem er seine Botschaft explizit negiert. Die zwingende 530 http: / / www.nzz.ch/ international/ naher-osten-und-nordafrika/ extremisten-verbrennen-jordanische-geisel-1.18475012 (heruntergeladen am 4. 2. 2015). 531 http: / / www.nzz.ch/ international/ aegypten-fliegt-luftangriffe-gegen-is-1.18484212 (heruntergeladen am 16. 2. 2015). 532 http: / / www.bbc.com/ news/ world-middle-east-31502863 (heruntergeladen am 16. 2. 2015). 533 http: / / www.srf.ch/ news/ international/ 147-tote-nach-geiselnahme-an-universitaetin-kenia (heruntergeladen am 3. 4. 2015). 534 http: / / www.srf.ch/ news/ international/ abu-bakr-al-baghdadi-der-werdegang-des-isschlaechters (heruntergeladen am 19. 2. 2015). 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1409 Folge dieses tiefen geistigen Irrtums ist, dass der Islam die spezifisch christliche Botschaft der (kosmischen) Liebe und Vergebung verkennt. Daher setzt er an die Stelle des christlichen Gebotes der Feindesliebe Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. 535 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen. (Mt 5,43. Vgl. Lk 6,27-28) Doch liebt eure Feinde, und tut Gutes, und leiht, ohne etwas wieder zu erhoffen! Und euer Lohn wird groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid nun barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! (Lk 6,35-36) das Gebot, Andersgläubige und Abtrünnige zu töten: Und kämpfet für Allahs Sache gegen jene, die euch bekämpfen, doch überschreitet das Maß nicht, denn Allah liebt nicht die Maßlosen. Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie von dort, von wo sie euch vertrieben; denn Verfolgung ist ärger als Totschlag. (Sure 2, 191 - 192) Sie wünschen, dass ihr ungläubig werdet, wie sie ungläubig sind, so dass ihr alle gleich seiet. Nehmet euch daher keinen von ihnen zum Freund, ehe sie nicht auswandern auf Allahs Weg. Und wenn sie sich abkehren, dann ergreifet sie und tötet sie, wo immer ihr sie auffindet; und nehmet euch keinen von ihnen zum Freunde oder zum Helfer. (Sure 4, 90) Angesichts solcher Aufforderungen zum Töten der Nichtmuslime, 536 verbunden mit dem Versprechen, dass die Kämpfer für die Sache Allahs Eingang ins Paradies finden werden, wenn sie Nichtgläubige töten oder im Kampf getötet werden (Sure 9, 111), kann es nicht wirklich überraschen, dass eine 2010 unter 45.000 Schülerinnen und Schülern der neunten Klasse in 61 Städten und Landkreisen in Deutschland durchgeführte Studie feststellte, dass unter muslimischen Jugendlichen - allerdings nur unter den männlichen - die Gewalttätigkeit mit zunehmender Bindung an den Islam wächst. Gemäß dieser Studie nimmt unter jungen Muslimen mit der Religiosität auch die Akzeptanz von Machismus, die Häufigkeit von Kontakten zu kriminellen Freunden und die Nutzung gewalthaltiger Medien zu. Unter christlichen Jugendlichen hingegen ist der Trend umgekehrt: Je religiöser sie sind, desto weniger neigen sie dazu, Gewalt anzuwenden. 537 Es kann auch nicht verwundern, wenn in einer vermutlich recht typischen Reaktion auf die Anschläge in Paris ein Muslim in Großbritannien äußerte, dass er den 535 3. Mose 19,18. 536 In einem Video, das am 20. Januar 2015 ins Internet gestellt wurde, hat der Anführer der nigerianischen islamischen Extremistengruppe Boko-Haram die Tötung von Zivilisten im blutigen Angriff auf die Stadt Baga und der Umgebung einige Tage zuvor als durch den Koran gefordert bezeichnet: „ Wir haben sie in der Tat getötet, so wie unser Gott es in seiner Heiligen Schrift angeordnet hat “ , sagte er (http: / / www.tagblatt.ch/ aktuell/ international/ international-sda/ Boko-Haram-droht-den-Koenigen-von-Afrika; art253652,4103505, heruntergeladen am 22. 1. 2015). 537 http: / / www.kfn.de/ versions/ kfn/ assets/ fob109.pdf (heruntergeladen am 10. 1. 2015). 1410 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Propheten Mohammed mehr als seine Mutter, seinen Vater und seine Kinder liebe und es nicht dulden werde, wenn der Prophet beleidigt werde: „ You can insult people, you can insult me, you can insult anybody else but not God, not the Prophet Mohammed. We are not allowing that. If they are doing that, that [Paris] will happen again and again “ . 538 Die Veröffentlichung der ersten Nummer von Charlie Hebdo nach dem Anschlag vom 7. 1. 2015 mit einer neuen Karikatur des Propheten Mohammed rief prompt erneut „ erzürnte Reaktionen “ in der arabischen Welt hervor. 539 Nicht von ungefähr spielt in den vom Islam geprägten Ländern wohl auch die Vorstellung von Rache (auch der Blutrache) immer noch eine wichtige Rolle, die in den vom Christentum geprägten Ländern längst praktisch keine Bedeutung mehr hat. Dies fällt umso stärker auf, als Rache bereits in der Tora explizit verboten ist (3. Mose 19,18). Auf dieser Linie liegt auch, dass sich islamische Staaten sehr schwer mit der Demokratie tun und dass in ihnen immer noch Scharia-Strafen ausgesprochen und vollzogen werden, die jenen entsprechen, welche von Moses gefordert wurden, obschon sie selbst innerhalb des Judaismus nicht mehr als angemessen gelten. Es überrascht ebenso wenig, dass der sog. Islamische Staat in seinen Eroberungszügen in Irak und Syrien auf eine Methode zurückgreift, die die Ausbreitung des Islams in den ersten Jahrhunderten entscheidend begünstigte: Terrorherrschaft. Es wird im Zuge der gegenwärtigen Diskussion über den Islam und den islamischen Terrorismus oft und zu Recht darauf hingewiesen, dass auch das Christentum keineswegs immer eine friedensstiftende Religion war, dass es selbst für die Kreuzzüge und zahlreiche andere Kriege im Namen der Religion verantwortlich war, dass auch in christlichen Ländern in der Vergangenheit grausamste Strafen vollzogen wurden usw. Dies ist unbestritten, der Vergleich des Islams von heute mit dem Christentum vor der Reformation, der in diesem Zusammenhang oft angeführt wird, hinkt jedoch in mancher Hinsicht. Denn ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Religionen besteht darin, dass es im ganzen Neuen Testament (anders als im Alten Testament! ) keinen Aufruf zum Töten anderer Menschen gibt, während solche Aufrufe im Koran nachweislich zu finden sind. Der Umstand, dass der 538 http: / / www.bbc.co.uk/ programmes/ p02gkbls (heruntergeladen am 10. 1. 2015). Es irritiert deshalb, wenn Papst Franziskus in seiner Reaktion auf die Charlie-Hebdo- Attacke die Meinung äußerte, dass jemand, der die Mutter eines anderen beleidige, damit rechnen müsse, dass er von ihm eine Ohrfeige bekomme (Ohlheiser 2015, BBC 15. 1. 2015). Erstens ist Satire auf den Propheten Mohammed im Verständnis jener, die sie veröffentlichen, keine Beleidigung des Propheten, zweitens würde ich als Christ eine Person, die meine Großmutter beleidigt, nicht ohrfeigen. Ich würde im extremen Fall Anzeige erstatten, aber nicht Selbstjustiz üben. Wenn jemand über Christus herzieht, sollte ein Christ Mitleid mit ihm empfinden, da er die Botschaft der Liebe noch nicht verstanden hat. 539 http: / / www.srf.ch/ news/ international/ oel-ins-feuer-mohammed-karikatur-erzuerntmuslime (heruntergeladen am 15. 1. 2015) 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1411 zutiefst friedensstiftende Charakter des Christentums recht lange auf seine Offenbarung warten ließ und immer noch lässt, erklärt sich dadurch, dass der christliche Impuls eben auf Liebe gegründet ist und sich diese nicht aufzwingen lässt. Deshalb braucht es sehr lange Zeit, bis die Reste anderer zwischenmenschlicher Umgangsformen endgültig überwunden werden. Wir können die Unterschiede zwischen Islam und Christentum hier nicht eingehend diskutieren. Jedenfalls ist es mir wichtig hervorzuheben, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Islam nicht auf das Problem der Meinungsfreiheit beschränken darf, sondern eine Hinterfragung seiner Grundüberzeugungen einschließen muss. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass Kanzlerin Angela Merkel die Islamgelehrten dazu aufgefordert hat, sich mit dem Verhältnis des Islams zum Terrorismus auseinanderzusetzen: „ Ich halte die Klärung dieser Frage durch die Geistlichkeit des Islams für wichtig. Dieser Frage kann nicht länger ausgewichen werden “ , sagte Merkel am 15. 1. 2015 im Bundestag. 540 Sollte sich die Einsicht verbreiten, dass das Töten von Menschen aus religiösen Gründen kein Passierschein zum Paradies ist, sondern gravierende negative Folgen im Leben nach dem Tod und in den nächsten Inkarnationen hat, werden sich, so ist zu hoffen, weniger Kandidaten für Selbstmordattentate und Terrorismus finden. Nur am Rande sei erwähnt, dass eine Weltanschauung, die von der Wirklichkeit der Reinkarnation ausgeht, inhärent friedensstiftend ist. Denn sie betrachtet jeden Schicksalsschlag, der den Menschen treffen kann, selbst den scheinbar ungerechtesten und unverschuldetsten, als Folge der Fehler der vergangenen oder aber als Versprechen einer Wiedergutmachung in künftigen Inkarnationen. Langfristig herrscht in der Welt Gerechtigkeit, auch wenn sie innerhalb einer Inkarnation nicht ersichtlich ist. Aus dieser Perspektive ist z. B. der Gedanke der Rache für ein Vergehen an einem selbst oder der eigenen Gruppe hinfällig. Die Herstellung kurzfristiger Gerechtigkeit ist Sache des staatlichen Rechtssystems, die Herstellung langfristiger Gerechtigkeit Sache Gottes, nicht des Individuums. 541 Außerkörperliche und Nahtoderfahrungen, Visionen von Sterbenden Die Einsicht in die Wirklichkeit der geistigen Welt hat neben der Klärung der vergangenen und künftigen Stellung der Religionen zur weiteren Folge, dass die außerkörperlichen und Nahtoderfahrungen wie auch die „ Visionen “ der Sterbenden ihre Rätselhaftigkeit verlieren. Die ersteren erweisen sich als durchaus möglich: Unter bestimmten, besonderen Umständen kann sich die für unser gewöhnliches Leben typische enge Verbindung des ätherischen und 540 http: / / www.srf.ch/ news/ international/ merkel-und-hollande-nehmen-muslime-in-diepflicht (heruntergeladen am 15. 1. 2015). 541 Selbstverständlich schließt diese Sicht der Lage das Recht auf Selbstverteidigung - individueller wie auch kollektiver - wie auch auf Gewaltprävention durch Anwendung von Gewalt nicht aus. 1412 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse des physischen Leibes lockern, was dazu führt, dass sich der Mensch als außerhalb seines Körpers existierend erlebt. Die Möglichkeit des Auftretens einer solchen Situation bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass alle AKE, von denen berichtet wird, darauf zurückzuführen sind. Bei einigen von ihnen mag es sich auch um Täuschungen handeln. Was die Nahtoderfahrungen und die Visionen der Sterbenden (insbesondere von Besuchen verstorbener Verwandter kurz vor dem Tode) anbetrifft, so zeigt sich im Licht der Geisteswissenschaft, dass sie tatsächlich Einblicke, obschon sehr flüchtige und eher oberflächliche, in die geistige Wirklichkeit geben. Es ist jedoch auch unter Einbezug der Betrachtungen des letzten Kapitels gar nicht einfach zu verstehen, wie konkret solche Erfahrungen überhaupt zustande kommen können. Wir haben nämlich im Kapitel „ Übersinnliche Erkenntnismethoden. . . “ gesehen, dass die Einsicht in die geistige Welt dadurch erlangt wird, dass erstens der Mensch seinem Astralleib durch die entsprechenden Übungen übersinnliche „ Wahrnehmungsorgane “ anerzieht, und zweitens, dass diese Organe in einem Zustand der Lockerung des Ätherleibes vom physischen Leib in jenen eingeprägt werden, so dass sich die Eindrücke, die durch übersinnliche Wahrnehmungsorgane empfangen werden, auf einer geeigneten Grundlage „ spiegeln “ und bewusst werden können. Ein Durchschnittsmensch verfügt jedoch weder über ausgebildete astrale Wahrnehmungsorgane noch über die geeignete „ Spiegelungsfläche “ im Ätherleib. Die Folgen dieses Zustands sind uns aus dem Alltagsleben wohlbekannt: Im Schlaf, wenn wir uns mit unserem Astralleib und Ich außerhalb des physischen und ätherischen Leibes befinden, haben wir keine bewusste Wahrnehmungen der geistigen Welt, in die wir nach dem Einschlafen eintauchen. Uns bleiben allein Träume, die entstehen, wenn der Astralleib mit dem Ich (am Abend) gerade die beiden niederen Wesensglieder verlässt oder wenn er (am Morgen) im Begriff ist, in sie einzutauchen. Dank der in diesem Zustand gelockerten Verbindung des Äther- und des Astralleibes sind gewisse chaotische bewusste Wahrnehmungen, gewöhnlich in fantasievolle Bilder gekleidete Eindrücke des physischen Leibes oder Reminiszenzen der vergangenen Erfahrungen, möglich. Aus diesen Überlegungen ergibt sich jedoch ein wichtiges Problem: Menschen, die von Nahtoderfahrungen berichten, dürften in der Regel ihre Astralwahrnehmungsorgane nicht ausgebildet haben. Wie ist es dann aber möglich, dass sie in ihrem Zustand überhaupt bewusste Erlebnisse haben? Diese Frage kann man noch weiter fassen: Ich habe im vorigen Kapitel behauptet, dass alle Menschen nach dem Tod durch eine Zeit der Seelenläuterung gehen und dass bei vielen dieser Läuterung ein recht schmerzhafter Prozess ist. Daraus folgt, dass sie eine Form des Bewusstseins nach dem Tod haben müssen. Sie haben aber keine Astralwahrnehmungsorgane. Wie ist es möglich, dass sie sich ihrer Erfahrungen in der Seelenwelt bewusst sind? Die Antwort auf diese Frage muss zwei Aspekte berücksichtigen. Zum einen deuten die Nahtoderfahrungen darauf hin, dass die Menschen, bei denen eine solche Lockerung oder Trennung des Ätherleibes vom physischen 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1413 Leibes stattgefunden hat, die normalerweise erst mit dem Tod eintritt, die gewöhnliche sinnliche Welt wahrnehmen können, und zwar auch dann, wenn ihre Augen nachweislich geschlossen und ihre Ohren blockiert sind (vgl. z. B. den Fall Pamela Reynolds), was selbstverständlich erklärungsbedürftig ist. Zum anderen impliziert die Behauptung, dass wir Menschen nach dem Tod eine „ Läuterungszeit “ durchmachen, die in etwa ein Drittel des vergangenen Lebens dauert, zwingend, dass auch lange (Jahre) nach dem „ wirklichen “ Tod Bewusstsein möglich ist, und zwar ohne die astralischen Wahrnehmungsorgane, was ebenfalls erklärungsbedürftig ist. Das Vorhandensein von Bewusstsein lange nach dem Tod kann auch nicht mit dem Umstand erklärt werden, dass im Gegensatz zum Schlaf das Paar Astralleib/ Ich nach dem Tod von dem vom physischen Leib befreiten Ätherleib begleitet wird, denn dieser Leib löst sich, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, bereits einige Tage nach dem Tod auf. Wir werden diese zwei Probleme separat angehen. Betrachten wir zunächst die Frage, wie das Bewusstsein, die Wahrnehmung der physischen Welt im Nahtodzustand (und ebenfalls gewöhnlich auch kurz nach dem „ wirklichen “ Tode) überhaupt möglich ist, wenn wir wissen, dass der Mensch ohne Sinnesorgane blind und taub ist und diese im Nahtodzustand nachweislich nicht wirksam sind? Um sich der Antwort auf diese Frage zu nähern, muss man sich zunächst die Frage stellen, welche Rolle die Sinnesorgane des physischen Leibes bei der Erzeugung der sinnlichen Wahrnehmungen genau spielen. Gewöhnlich geht man davon aus, dass die physischen Reize (z. B. das Licht) die physischen Rezeptoren (z. B. Stäbchen und Zapfen der Netzhaut) stimulieren, dass diese dann ihre Impulse über die vermittelnden Nervenzellen (im Fall des Auges die Horizontalzellen, Bipolarzellen, Amakrinen-Zellen und Ganglienzellen) an den Sehnerv leiten, der die empfangenen Impulse zur Sehhirnrinde leitet, wo sie zunächst verarbeitet werden, um dann an die höheren Zentren in anderen Partien des Gehirns (z. B. das sog. fusiforme Gesichtsfeld im Gyrus fusiformis des Temporallappens) weitergeleitet zu werden. Diese Erklärung gerät jedoch in Schwierigkeiten, wenn man berücksichtigt, dass sich die elektrische Aktivität des Kortex während der Wahrnehmung der Sinnesreize nicht wesentlich von der Aktivität im Restzustand unterscheidet und dass bei der Lösung von Höraufgaben (zumindest bei Ratten) die Hörrinde sogar weniger aktiviert ist als im Normalzustand. Wie im vorigen Kapitel herausgestellt, zeigt die geisteswissenschaftliche Forschung, dass die Sinneswahrnehmung nicht durch die physischen Organe, sondern durch die Aktivität der Empfindungsseele anhand der Aktivität des Empfindungsleibes (also eines Teils des Ätherleibes) evoziert wird. Die physischen Organe liefern also nur die elementare Grundlage, auf welcher die Seele des Menschen die Wahrnehmung „ hervorzaubern “ kann. Verlässt die Seele den physischen und ätherischen Körper im Schlaf, kann keine Wahrnehmung zustande kommen. Um ihre Aktivität entfalten zu können, braucht die Seele, wie erwähnt, die Dienste des Ätherleibes. Dieser ist 1414 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse zu Lebzeiten des Menschen fest mit dem physischen Leib verbunden, er wird vom physischen Leib förmlich aufgesogen: [Das] gewöhnliche Bewußtsein kommt eben dadurch zustande, daß das Leiblich- Körperhafte des Menschen dessen übersinnliche Wesenheit gewissermaßen aufsaugt und an deren Stelle wirkt. Die gewöhnliche Wahrnehmung der sinnlichen Welt ist diejenige Tätigkeit des Menschenorganismus, die durch Umwandlung der übersinnlichen Menschenwesenheit in Sinnliches sich vollzieht. Das gewöhnliche Vorstellen entsteht auf eben dieselbe Art. (GA35, S. 105) Das heißt aber, dass der Ätherleib in der charakteristischen Verbindung, die er für die Dauer des Lebens mit dem physischen Leib eingeht, seine Eigenständigkeit verliert. Man kann sich dies durch folgenden Vergleich veranschaulichen: Das Wasser ist durchsichtig und fließt. Wird es von einem Schwamm aufgesogen, so verschwindet es, wird unsichtbar und kann sich nicht mehr frei bewegen. Dies ist bildlich gesprochen der Zustand des Ätherleibes zu Lebzeiten des Menschen. Der Ätherleib wäre an sich fähig, die sinnliche Welt wahrzunehmen, verliert aber diese Eigenschaft aufgrund seiner festen Bindung an den physischen Leib. Er wird gleichsam blind und taub. Um wahrzunehmen, muss er sich Organe im physischen Leib schaffen, die als „ Fenster “ aus der Dunkelheit des physischen Leibes dienen können: unsere Sinnesorgane. Erst jetzt erlangt der Ätherleib wieder die Fähigkeit, die ihm in seinem leibfreien Zustand eigen ist: Deine Sinne hast du aus dieser anderen Welt [gemeint ist die ätherischen Welt, bzw. die Welt der Elemente]. Du wärest als Mensch sinnenlos, wenn diese andere Welt nicht durchdränge die gewöhnliche Welt, die du sonst siehst. Du stehst also als Mensch dadurch, daß dir deine Sinne eingesetzt sind in deinen Körper, im Zusammenhang mit dieser [anderen] Welt. (GA243, S. 95) So gesehen ist es sofort nachvollziehbar, dass der Ätherleib, sobald er vom physischen Leib befreit ist, seine ureigene Wahrnehmungsfähigkeit wiedererlangt. Er kann also im Nahtodzustand die Grundlage vermitteln, auf welcher die Seele (genauer: Empfindungsseele), die mit ihm jetzt immer noch verbunden ist, die Wahrnehmungen „ hervorzaubert “ . Was allerdings an den Wahrnehmungen im Nahtodzustand auffällt, ist, dass sie sich mit Ausnahme der Begegnung mit dem „ Lichtwesen “ und den verstorbenen Verwandten praktisch ausschließlich auf die „ diesseitige “ Wirklichkeit beziehen. Die Berichte schildern die übersinnliche Seite des Kosmos, die, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, hinter jedem sinnlich wahrnehmbaren Phänomen, jeder Blume, jedem Tier, jeder Wolke, jedem Sonnenstrahl vorhanden und wirksam ist, eigentlich gar nicht. Insbesondere muss man im Fall von Alexander und anderen die Frage stellen, wieso die beschriebene geistige Welt eigentlich unserer sinnlichen Welt so verblüffend ähnlich ist. Unterscheidet sich die geistige Welt wirklich so wenig von unserer, wie diese Berichte vorzugeben scheinen? Gibt es auch in jener Welt schöne Wiesen, Schmetterlinge, tanzende Bauern (Alexander) oder 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1415 wissenschaftliche Forschungsanstalten, in welchen Wissenschaftler an der Entwicklung der Kernkraftreaktoren arbeiten (Ritchie)? Aus der Sicht der Geisteswissenschaft muss man diese Frage mit einem eindeutigen „ Nein “ beantworten. Die wahre Form der geistigen Welt, insbesondere ihrer höheren Sphären, weicht wesentlich von dem ab, woran wir in der sinnlichen Welt gewöhnt sind. Die geistige Welt besteht aus der Gedankensubstanz (eigentlich Gedanken- „ Substanz “ ) und nicht aus Gras und Bäumen. Deshalb die oben genannten Schwierigkeiten bei der „ Übersetzung “ der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse in die Gedanken und Sprache des gewöhnlichen Bewusstseins. Dennoch: Die abstrakten Inhalte der Einsichten der NTE-Subjekte können (müssen nicht) durchaus korrekt sein. Ihre Form hingegen ist stark geprägt durch die Nähe dieser Personen zur irdischen Erfahrung und durch den Umstand, dass sie nicht über ausdifferenzierte übersinnliche Wahrnehmungsorgane verfügen. Auch der Geistesforscher muss mit störenden Erinnerungen an die sinnliche Erfahrung kämpfen, die sich wie ein Schleier vor die objektive Sicht auf die übersinnliche Wirklichkeit legen: Diesen Kampf lernt schließlich jeder zu Initiierende kennen. Er lernt kennen, wie in dem Momente, wo er sich erkennend hineinversetzen will in die geistige Welt, immer wieder und wiederum die Nachbilder der physischen Welt auftreten, wie etwas heraufkommt, was wie störende Bilder sich hinstellt vor die reinen Bilder der geistigen Welt. Und nur Geduld, Ausdauer können dasjenige überwinden, was da als ein starker innerer Kampf auftritt. Wenn man leichtsinnig zufrieden ist damit, daß das Bewußtsein mit Geistesbildern ausgefüllt wird, dann wird man sich sehr leicht in eine illusionäre Welt hineinträumen können, statt in die Welt geistiger Wirklichkeit hineinzukommen. Es ist für den wirklich zu Initiierenden eine außerordentlich starke, vernünftige innere Haltung notwendig. (GA243, S. 118) Die Dominanz der sinnlichen Wahrnehmungen und die starke Ähnlichkeit der im Nahtodzustand erlebten Wirklichkeit mit der gewöhnlichen sinnlichen Erfahrung lässt sich also dadurch erklären, dass der Ätherleib während der Nahtoderfahrungen, obschon kurzzeitig vom physischen Leib befreit, immer noch stark unter der Prägung der gewöhnlichen sinnlichen Erfahrungen steht. Wir kommen jetzt zum zweiten Teil des Rätsels: Wie kann es Bewusstsein noch lange nach dem Tod geben, wenn doch der Ätherleib, der eine notwendige Grundlage für das Bewusstwerden der Erfahrungen des Astralleibes bildet, sich bereits ein paar Tage nach dem Tod in der allgemeinen Ätherwelt (Welt der Elemente) auflöst? An diesem Punkt erweist sich, wie stark der heutige Mensch immer noch auch nach dem Tod auf die umsorgende Hilfe und Pflege der geistigen Wesenheiten angewiesen ist. Die geisteswissenschaftliche Forschung zeigt, dass die uns nach dem Tod umgebenden geistigen Wesenheiten, konkret Engel und Erzengel, uns helfen, nach dem Tod Bewusstsein zu entwickeln bzw. aufrechtzuerhalten. Nachdem wir unseren Ätherleib abgelegt haben, erhalten wir eine Art Angeloi-Organismus 1416 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse (GA173c, S. 169). Zu diesem gesellt sich bald auch ein Archangeloi-Organismus, der erst das starke, helle Bewusstsein, das für unser Leben zwischen Tod und neuer Geburt charakteristisch ist, möglich macht (ebd., S. 170f.). Andere Aspekte der Nahtod-Erfahrungen in geisteswissenschaftlicher Betrachtung Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft können auch andere prominente Aspekte der Nahtoderfahrungen verständlich machen. Wir erinnern uns daran, dass Menschen mit solchen Erfahrungen oft von einem Durchgang durch einen Tunnel berichten. Dieses Phänomen lässt sich leicht durch die Loslösung des Ätherleibes vom physischen Leib an der Grenze zum Tod erklären. Dadurch geht der Kontakt mit den physischen Wahrnehmungsorganen verloren und eine momentane „ Blindheit “ tritt ein, die allerdings von einem Ringen oder Läuten begleitet sein kann, welches die allerersten undifferenzierten übersinnlichen Wahrnehmungen sind. Nachdem sich die Loslösung des physischen und des ätherischen Leibes vollzogen hat, offenbaren sich die dem Ätherleib eigenen, oben beschriebenen Wahrnehmungsfähigkeiten und die betroffene Person kann wieder sehen und hören. Sie empfindet sich als unversehrt, denn ihre körperliche Gebrechlichkeit betraf nur den physischen Leib. Der Ätherleib kann selbstverständlich nicht physisch verletzt werden. Die Menschen mit NTE berichten auch oft davon, dass sie während ihres Erlebnisses verstorbenen Verwandten begegnet sind. Dies entspricht durchaus der Wirklichkeit der „ normalen “ Erlebnisse nach dem Tode. Denn in seinem nachtodlichen Leben kommt der Mensch zunächst mit jenen zusammen, mit denen er karmisch verbunden war. Die anderen sind für ihn wie durchsichtig, er geht förmlich durch sie hindurch, als ob sie gar nicht da wären: Vor allen Dingen kommt der Mensch nach dem Tode zusammen mit denjenigen Menschen, mit denen er durch das Leben karmisch verknüpft ist. Also es kann so sein, daß der Tote in der geistigen Welt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt vielen Menschenseelen begegnet, durch die er durchgeht - denn dort herrscht Durchgänglichkeit, nicht Undurchdringlichkeit - , an denen er sich vorbeibewegt, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf; sie sind für ihn nicht da. (GA178, S. 49f.) Ein karmisch völlig Fremder, der hier [in der geistigen Welt] lebt, ist für einen Toten mithin nicht wahrnehmbar, gar nicht vorhanden. Die Welt, die der Tote erlebt, ist begrenzt durch das Karma, das sich im diesseitigen Leben entwickelt hat. Nur ist diese Welt nicht beschränkt auf die Seelen, die hier auf Erden sind, sondern sie schließt auch jene Seelen ein, die selbst schon durch die Pforte des Todes gegangen sind. (GA182, S. 16) Dies gilt jedoch nur für die Zeit kurz nach dem Tod. Später erweitert sich der Kreis der Menschen, denen man begegnet, bedeutend und umfasst auch die Seelen, mit denen man im Leben nur sehr mittelbar karmisch verbunden war (GA182, S. 16 - 18). 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1417 Die obigen Überlegungen werfen auch ein Licht auf das rätselhafte Phänomen der Todesvisionen der Sterbenden, denen wir vor allem anhand des Buchs The Art of Dying von Peter und Elizabeth Fenwick begegnet sind. Die Erfahrungen der Begegnung mit den verstorbenen Verwandten sind keine Halluzinationen, sondern durchaus real. Sie werden erklärlich, wenn man bedenkt, dass die Ablösung der Ätherleibes vom physischen Leib zwar recht abrupt stattfinden kann, wie z. B. bei einem Unfalltod, dass sie sich aber auch graduell vollziehen kann, etwa bei einem längeren Siechtum. Im letzteren Fall kann der Sterbende dank der partiellen Befreiung des Ätherleibes vom physischen Leib Dinge und Personen wahrnehmen, die für andere Menschen nicht wahrnehmbar sind. Die Visionen von verstorbenen Verwandten treten bezeichnenderweise oft kurz vor dem Tod auf, also genau dann, wenn der Prozess der Ablösung des Ätherleibes vom physischen Leib bereits besonders weit fortgeschritten ist. Auch im Alltagsleben sind wir von Verstorbenen umgeben, ohne sie aber wahrnehmen zu können. „ Die Toten sind mitten unter uns “ (GA182, S. 57), kann man mit Rudolf Steiner sagen, und sie wirken auch in das physische Leben hinein (ebd., S. 109), besonders in die Sphäre, welche man als „ das Reich des Schicksalsmäßigen “ bezeichnen kann (ebd., S. 30f.) Wer aufmerksam ist, kann auch durchaus Momente „ erhaschen “ , in denen diese Wirkung auftritt. Die Begegnung mit den Verstorbenen lässt sich auch gezielt fördern. Wir werden dieses Thema hier nicht verfolgen, die interessierten Lesen seien auf GA182, besonders S. 46 - 57, verwiesen. Viele Menschen mit einer NTE berichten von einem Rückblick auf das vergangene Leben. Für dieses Lebenspanorama ist nach dem Tod eine Zeit von ungefähr drei Tagen anzusetzen. Selbstverständlich kann diese Rückschau bei einer NTE nicht drei Tage dauern, aber auch innerhalb des kurzen Zeitabschnitts, der bei einer NTE zur Verfügung steht, kann man das vergangene Leben, auch detailliert, durchaus überschauen, denn die Zeit wird außerhalb des physischen Leibes völlig anders erlebt als im alltäglichen Leben. Dass ein solches Lebenspanorama auch ohne den physischen Leib möglich ist, zeigt übrigens, dass die Erinnerungen keineswegs im Gehirn „ gespeichert “ werden. In dieser Hinsicht war die Intuition von Sheldrake (vgl. The Science Delusion) durchaus korrekt: Das Gehirn ist schlicht zu klein, um alle Lebenserfahrungen detailliert speichern zu können. Der Sitz des Gedächtnisses ist der Ätherleib (unter Mitwirkung der äußeren ätherischen Substanz der Welt), 542 nicht das Gehirn. Dass nach dem Tod Lebenserinnerungen lebhaft zur Verfügung stehen, lässt sich dadurch erklären, dass die Kräfte des Ätherleibes, die zu Lebzeiten für die Pflege und Aufrechterhaltung der Organe des physischen Leibes aufgewendet wurden, nach dem Tod frei sind und als Grundlage einer solchen Erinnerung dienen können. Im Kapitel 542 Einzelheiten in GA194, S. 141f. 1418 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse „ Empirische Rätsel der Naturwissenschaft “ haben wir das Phänomen des HSAM (Highly Superior Autobiographical Memory) gestreift. Auch dieses Phänomen wird im Licht der Geisteswissenschaft verständlicher. Es zeigt sich, dass unter bestimmten Umständen der Zugriff auf die Projektionsfläche der Lebenskräfte auch dann möglich ist, wenn der Ätherleib noch an den physischen Leib gekoppelt ist. Die Antwort auf die Frage, unter welchen Umständen dies möglich ist, muss der künftigen geisteswissenschaftlichen Forschung überlassen werden. Alexander: Proof of Heaven Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausführlicher auf Alexanders Schilderungen seiner Nahtoderfahrung eingehen, da diese ungewöhnlich umfangreich sind und gewisse durchaus interessante und wichtige Facetten aufweisen, die aus anderen Darstellungen dieser Art nicht bekannt sind. Der Leser erinnert sich, dass sich Alexander nach dem Verlust seines alltäglichen Bewusstseins zunächst in einer Art unterirdischem Gebiet befand, in welchem er wie von unmenschlichen, ja dämonischen Gestalten umgeben war. Diese Erfahrung entspricht durchaus der „ echten “ Erfahrung des Verstorbenen: Bald nachdem der Mensch gestorben ist, sieht man, wenn man ihm da folgt, unter den Menschenseelen, die gestorben sind, also auch um diejenigen Menschenseelen herum, die eben verstorben sind, merkwürdige dämonenartige Gestalten. Gerade am Eingange dieses Seelenlandes, das der Tote zu betreten hat, und das man mit einem gewissen hellseherischen Blick mit ihm betreten kann, sieht man dämonenhafte Gestalten [. . .]. (GA243, S. 166) Man mag an dieser Stelle fragen, warum denn andere von solchen Dämonen nicht berichten und weshalb umgekehrt Alexander keine Begegnungen mit verstorbenen Verwandten (mit einer Ausnahme) hatte. Man muss bedenken, dass eine NTE immer ein Sonderfall ist, der nicht allen Gesetzmäßigkeiten des gewöhnlichen Sterbens entspricht. Vielleicht bleibt man hier von einigen dunkleren Aspekten des Sterbens verschont. Alexander berichtete ferner davon, dass er sich zunächst in der „ Unterwelt “ befand, wo er das Gefühl hatte, er gehöre eigentlich nicht dorthin. Diese Erfahrung spiegelt ziemlich genau das wider, was die Seele eines Menschen nach dem Tod erleben wird, die zu Lebzeiten keine spirituellen Vorstellungen und Neigungen entwickelte. Diese Erfahrung schilderte Rudolf Steiner einmal folgendermaßen: Man muß eher Mitleid haben mit solchen Menschenseelen, als irgendein kritisches Urteil fällen. Denn nach dem Tode ist das Erlebnis nicht besonders leicht, innerhalb eines Reiches bleiben zu müssen, das dem Toten eigentlich nicht angemessen ist. Und dieses Reich ist eben dann in diesem Falle das mineralische und pflanzliche Reich, auch dasjenige mineralische Reich, das die Tiere in sich tragen, das der Mensch selber in sich trägt. Denn diese Wesen sind ja von dem mineralischen Reiche durchdrungen. Für solche, die keine spirituellen Vorstellungen in sich 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1419 aufgenommen haben, liegt nämlich die Sache so, daß sie zurückschrecken nach dem Tode vor diesem Erleben, das überall Empfindungen hervorruft: Sie können nicht hinein in das Reich, das da waltet in der tierischen Geistigkeit und im Menschlichen; sie können nur hinein in dasjenige, was mineralischer Natur, was pflanzlicher Natur ist. Ich kann nicht ausmalen, um was es sich da handelt; denn erstens hat die Sprache für das keine Worte, zweitens aber kann man sich nur langsam und allmählich dem nähern, was da eigentlich zugrunde liegt, weil dieses Nähern wirklich zunächst etwas Schreckhaftes hat. (GA182, S. 20f.) War dies die Erfahrung Alexanders? Er schildert doch, dass das Reich, in dem er sich befand ( „ Underworld “ , „ Realm of the Earthworm ’ s-Eye View “ , S. 29 - 32), tatsächlich vor allem mineralischer (Erde) und pflanzlicher (Wurzel) Natur war. Er berichtete ebenfalls, dass diese Erfahrung äußerst schwierig zu beschreiben sei. Und er sagte, dass er vor seiner NTE ein „ anständiger “ , materialistisch denkender Arzt war. Auch andere Aspekte seiner Erfahrungen werden verständlicher, wenn man sie auf dem Hintergrund der Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft betrachtet. Alexander schilderte drei Bereiche der übersinnlichen Welt: „ Underworld “ (Alexander 2012, S. 29 - 32), „ The Gateway “ (ebd., S. 38 - 41) und „ The Core “ (ebd., S. 45 - 49). Dies deckt sich ziemlich genau mit den Stadien des nachtodlichen Erlebnisses, welche ich oben geschildert habe: die Rückschau direkt nach dem Tode, die Läuterung, der Aufenthalt in der eigentlichen geistigen Welt, wobei man berücksichtigen muss, dass bei Alexander die Erfahrung zeitlich sehr komprimiert war und dass die erste Stufe durch seine materialistische Denkausrichtung verzerrt war. Alexander schreibt, dass er die Kommunikation mit seiner Führerin im „ Gateway “ in die irdische Sprache gleichsam übersetzen musste, um sie wiedergeben zu können (ebd., S. 41). Steiner stellte mindestens einmal explizit fest, dass er die Ergebnisse der übersinnlichen Forschung in die gewöhnliche Gedankenformen übersetzen muss, um sie der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können, denn die Gegenstände des geistigen Schauens seien keine gewöhnlichen Denkinhalte (GA13, S. 26f.). Alexander bemerkt, dass „ grandeur and immensity “ der geistigen Welt unsere Handlungen verunmöglichen würden, wenn sie uns im gewöhnlichen Bewusstsein dauernd präsent wären: Wir hätten keine Veranlassung, sie zu vollziehen (Alexander 2012, S. 81). Wir sind diesem Problem bereits bei Huxley begegnet, der berichtete, dass ihm unter dem Einfluss von Meskalin die gewöhnliche Handlungsantriebe als trivial und unwichtig erschienen. Es ist auch allgemein bekannt, dass Drogensüchtigen ihren Rausch den „ prosaischen “ , alltäglichen Beschäftigungen vorziehen. Steiner wies bereits 1914 darauf hin, dass die Abschwächung bzw. Auslöschung des übersinnlichen Bewusstseins notwendig für die alltägliche Erfahrung des Selbstbewusstseins und der Ich-Kontrolle ist, denn ohne Vorbereitung würden diese unter der Mächtigkeit der geistigen Erfahrung erlöschen (GA18, S. 601f.; GA112, S. 164). Alexander schreibt, dass er im „ Core “ entdeckte, dass das Universum auf Liebe gründet (Alexander 2012, 1420 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse S. 71), dass das Böse (welches nur einen kleinen Bruchteil des Universums ausmache) der Preis der menschlichen Freiheit sei (ebd. S. 84), dass unser wahres, tiefes Selbst völlig frei sei und dass wir es erreichen können, indem wir Taten der Liebe und Barmherzigkeit vollbringen (ebd. S. 85). Wir haben gesehen, dass die geisteswissenschaftliche Erforschung der übersinnlichen Welt ähnliche bis identische Einsichten zu Tage fördert. Die Parallelen ließen sich noch weiter fortsetzen. Es ist aber auch festzuhalten, dass die Erkenntnisse, die Alexander während seiner Woche im Koma zuteilwurden, bei aller Schönheit und Tiefe weit von der Fülle, Differenziertheit und Präzision der Erkenntnisse der Geisteswissenschaft entfernt sind. Bei ihr haben wir es mit einer wahren Wissenschaft der übersinnlichen Welten zu tun, im Fall von Alexander mit einer Erzählung ohne wissenschaftliche Gewähr, auch wenn Alexander diese für sich reklamiert (ebd. S. 71, 151, 162). Andere wichtige übersinnliche Erfahrungen im Lichte der Geisteswissenschaft Wir haben im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ einige Zeugnisse bedeutender Wissenschaftler betrachtet, welche über ihre eigenen übersinnlichen Erfahrungen oder von anderen berichteten. Ich möchte in diesem Zusammenhang insbesondere an die Werke von Swedenborg, Myers, Lodge, Stevenson, Hillerdal und Gustafsson und der Fenwicks (sowohl Past Lives als auch The Art of Dying) erinnern. Es würde uns hier zu weit führen, alle Parallelen zwischen den darin beschriebenen Erfahrungen und den Erkenntnissen der Geisteswissenschaft detailliert aufzuzeigen und zu diskutieren. Allgemein lässt sich sagen, dass solche Erfahrungen, z. B. Einblicke in die geistige Wirklichkeit wie bei Swedenborg, paranormale Phänomene wie bei Myers, Kommunikation mit Verstorbenen wie bei Lodge, Reinkarnationserfahrungen (Stevenson, die Fenwicks), Begegnungen mit Christus (Hillerdal und Gustafsson) oder übersinnliche Erfahrungen von Sterbenden bzw. die Erfahrung, von Verwandten geführt zu werden, (die Fenwicks) im Licht der Geisteswissenschaft durchaus Sinn machen und erklärlich sind. Man muss jedoch an dieser Stelle auch einen Vorbehalt anmelden: Sie bilden die übersinnliche Wirklichkeit nicht eins zu eins ab. Das Problem der auffallenden Ähnlichkeit der Welt der Nahtoderfahrungen und der sinnlichen Welt müssen wir hier nicht nochmals behandeln. Es gibt aber auch andere und oft gravierende Schwierigkeiten der ungeschulten übersinnlichen Erfahrung. Ich möchte an dieser Stelle nur zwei dieser Schwierigkeiten erwähnen. Zum einen kann sich das Subjekt solcher Erfahrung nicht sicher sein, dass das Wesen, das es wahrnimmt, tatsächlich dasjenige ist, das es zu sein scheint. Wir haben im Kapitel „ Übersinnliche Erkenntnismethoden. . . “ gesehen, dass sich die astralische Wirklichkeit gewöhnlich als die Spiegelung der wahren Verhältnisse manifestiert: Was als draußen erscheint, ist drinnen, was sich als sich uns nähernd 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1421 erscheint, entfernt sich in Wirklichkeit usw. Was wir damals nicht erwähnt haben, ist, dass sich gewisse geistige Wesenheiten gezielt anders darstellen können, als sie in Wirklichkeit sind, um den Menschen zu täuschen. Ein geschulter Geistesforscher kann solche Täuschungsmanöver durchschauen, ein ungeschulter Mensch wird ihnen gewöhnlich zum Opfer fallen. So zeigte geisteswissenschaftliche Forschung, dass Oliver Lodges Versuche, mit seinem verstorbenen Sohn Kontakt aufzunehmen, fehlgeschlagen sind. Rudolf Steiner hat sich mit diesem Fall ausführlich beschäftigt und kam zu dem Ergebnis, dass die von einem Medium vermittelten Versuchen, Kontakt mit dem verstorbenen Sohn aufzunehmen, nicht zu seiner Wesenheit, sondern nur zu einer Art Schale dieser Wesenheit geführt haben: Der Geistesforscher weiß: Wenn schon bei diesen Dingen auf diese Weise etwas herauskommt, so ist es jedenfalls nicht eine Manifestation einer wirklich geistigen Welt. Deshalb nannte ich im letzten Vortrage hier das, was auf solche Weise zutage tritt, gerade das Seelenloseste, dasjenige, woraus der Geist erst recht herausgetrieben ist, obwohl es den Geist manchmal nachbilden kann. Wenn auf diese Weise etwas herauskommt, so verhält sich das zum Geiste so, wie die tote Muschelschale sich zu der lebendigen Auster verhält, wenn die Auster draußen ist. (GA66, S. 216) In einem anderen Vortrag machte Steiner darauf aufmerksam, dass das Allermeiste, was bei den angeblichen Kontakten mit Raymonds Seele herauskam, nur Projektionen der seelischen Inhalte von Oliver Lodges Frau waren, die von dem Medium gleichsam „ abgelesen “ wurden (GA172, S. 226). Eine verwandte, obschon eigenständige Schwierigkeit zeigt sich in Stevensons Erforschung der Reinkarnationsphänomene. Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, dass der Aufenthalt in der geistigen Welt zwischen zwei Inkarnationen in der Regel etwa 1300 Jahre dauert. Stevenson hingegen berichtet mehrfach von Reinkarnationen, die lediglich einige Jahre nach dem Tod der früheren Persönlichkeit stattfanden. Diese Befunde widersprechen den Forschungsergebnissen der Geisteswissenschaft aber nur scheinbar. Was sich höchstwahrscheinlich dahinter verbirgt, ist eine Art geistige Verwirrung. Die Seele der sich inkarnierenden Person begegnet in der geistigen Welt der Seele der sich exkarnierenden Person und aus bestimmten, den gewöhnlichen Verhältnissen nicht entsprechenden Gründen nimmt sie deren Erinnerungen auf. Diese bleiben dann in der Seele der sich inkarnierenden Person auch nach ihrer irdischen Geburt vorhanden und kommen dann in frühen Kindheitsjahren dieser Person zum Vorschein: Diese hat das starke, aber irrige Gefühl, dass sie vor kurzem in einer anderen Person, die unweit von ihrem Geburtsort lebte, inkarniert war. Auffallend an diesen Fällen ist einerseits, dass derartige Erinnerungen fast ausschließlich in früher Kindheit vorhanden sind, also zu einer Zeit, in der Erinnerungen aus dem Leben vor der Geburt bei besonders veranlagten Personen noch relativ lebhaft sind (ich verweise auf Wordsworths Ode Intimations of Immortality, in der er schilderte, dass er als Kind noch Erinnerungen der vorgeburtliche 1422 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse geistigen Wirklichkeit hatte). Andererseits ist bemerkenswert, dass die angebliche frühere Inkarnation sich in unmittelbarer Nähe zur nächsten abspielen soll, während der Mensch sich in Wirklichkeit erst dann wieder inkarniert, wenn er wesentlich neue Erfahrungen auf der Erde sammeln kann, also in einer wesentlich veränderten oder in einer völlig anderen Kultur, als es jene seiner letzten Inkarnation war. Zum Schluss möchte ich noch auf ein besonderes Problem der heute so verbreiteten übersinnlichen Erfahrungen aufmerksam machen. Wir haben bereits in Verbindung mit den NTE darauf hingewiesen, dass sich kaum zwei Berichte vollständig decken. Anlässlich der Diskussion der Unterschiede zwischen dem Hellseher und dem Eingeweihten aus dem vorletzten Kapitel haben wir ebenfalls gesehen, dass die Beschreibungen der übersinnlichen Erfahrungen durch verschiedene Hellseher sehr weit voneinander abweichen, ein Umstand, der kaum zu ihrer Glaubwürdigkeit beiträgt. Die Geisteswissenschaft zeigt, dass dieser Zustand keineswegs ein Zufall oder eine inhärente Schwäche der Erforschung übersinnlicher Wirklichkeit ist, sondern eine gezielte Manipulation jener geistigen Wesenheiten, deren Bestreben es ist, den Menschen von seinem geistigen Ursprung abzukoppeln und an die sinnliche Welt zu fesseln. Wir haben diese Wesenheiten im vorigen Kapitel als „ ahrimanische Wesenheiten “ bezeichnet. Dazu sagte Steiner 1919: Man darf sich wiederum nicht philiströs vorstellen, daß Ahriman, wenn er herunterkommt, eine Art von „ Krampus “ ist, der den Menschen allen möglichen Schabernack antut. O nein, alle die Bequemlinge, die heute sagen: Wir wollen nichts von Geisteswissenschaft wissen - , die würden seinem Zauber verfallen, denn er würde in grandiosester Weise die Menschen in großen Mengen durch Zauberkünste zu Hellsehern machen können. Nur würde er allerdings die Menschen so zu Hellsehern machen, daß der einzelne Mensch furchtbar hellsichtig würde, aber ganz differenziert: Dasjenige, was der eine sehen würde, würde der andere nicht sehen, nicht ein dritter! Die Menschen würden alle durcheinanderkommen, und trotzdem sie ein Fundament von hellseherischer Weisheit empfangen würden, würden sie nur in Streit und Hader kommen können, denn die Gesichte der verschiedenen Menschen wären die verschiedensten. Schließlich aber würden die Menschen mit ihren Gesichten sehr zufrieden sein, denn sie würden ja ein jeder in die geistige Welt hineinsehen können. Die Folge davon würde aber wiederum sein, daß alles, was Erdenkultur ist, dem Ahriman verfiele! (GA191, 273f.) Es zeigt sich also an dieser Stelle erneut, wie wichtig es ist, über das bloße Hellsehen hinauszukommen und die wissenschaftlich disziplinierten übersinnlichen Erkenntnisfähigkeiten der Imagination, Inspiration und Intuition zu entwickeln. Das Verhältnis Geist/ Gehirn, Gehirn als „ reducing valve “ Im Zusammenhang mit den Nahtod- und außerkörperlichen Erfahrungen möchte ich noch einmal auf das Problem des Verhältnisses von Gehirn und 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1423 Bewusstsein zurückkommen, das ich bereits im Exkurs „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ angesprochen habe. Die geläufige Meinung ist, dass das Gehirn der Erzeuger des Bewusstseins sei, was selbstverständlich jegliche bewusste Erfahrung im Zustand des Hirntodes unmöglich machen würde. Wir haben aber bereits in jenem Exkurs gesehen, dass vieles darauf hindeutet, dass das Gehirn nicht so notwendig für unser Bewusstsein ist, wie dies heute allgemein angenommen wird (Menschen, die ein normales Leben mit nur einer Hälfte oder mit kümmerlichen Überresten des Gehirns leben, kluge Vögel mit einem sehr kleinen Gehirn usw.). Unter normalen Umständen scheint die Bedeutung des Gehirns für die Entstehung des Bewusstseins gleichwohl offensichtlich zu sein. Wie stellt sich dieses Problem bzw. wie stellen sich diese Probleme im Licht der Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft dar? Von zentraler Bedeutung ist die Einsicht, dass das Gehirn nicht der Produzent des Bewusstseins ist. Wir haben mehrmals gesehen, dass das Bewusstsein und bewusste Wesen, ja sogar Wesen mit einem Bewusstsein, das dem menschlichen weit überlegen ist, durchaus auch ohne Gehirn und ohne den physischen Leib möglich sind und tatsächlich existieren. Wenn man darüber hinaus weiß, dass es übermenschliche Wesen gibt, welche über keinen physischen Leib, folglich auch über kein Gehirn verfügen, die jedoch sehr wohl Bewusstsein haben, ja, ein Bewusstsein, das dem menschlichen bei weitem überlegen ist, dann erkennt man, dass das Gehirn keineswegs eine Bedingung sine qua non des Bewusstseins sein kann. Gleichwohl lebte noch nie ein inkarnierter Mensch ohne Gehirn. Welche Funktion hat es also? Es ist unbestritten, dass das Gehirn für unsere irdische Existenz eine wichtige Rolle spielt. Wir haben gesehen, dass während der nachtodlichen Existenz die Aktivität von höheren Wesen (Engeln und Erzengeln) nötig ist, um uns Menschen eine Art Ersatz für den physischen Leib zu erstellen, der uns erlaubt, das Bewusstsein in jener Existenz aufrechtzuerhalten. Erst ein Mensch, der bewusst die Wahrnehmungsorgane im Astral- und im Ätherleib ausbildet, also ein Initiierter, ist auf diese Hilfe nicht mehr angewiesen. Es ist jedoch völlig falsch zu meinen, dass die bewusstseinsschaffende Rolle des Gehirns dadurch zustande kommt, dass die Nervenzellen und Nervenzellenverbände komplexe „ Rechenoperationen “ durch den Austausch elektrischer Signale ausführen, aufgrund derer im Gehirn ein Bild der Welt entstehe so wie ein Film auf dem Bildschirm eines Computers infolge der Rechenoperationen des CPU (und der Grafik- und der Soundkarte) zu sehen und zu hören ist. Das Gehirn spielt, wie bereits im Kapitel „ Übersinnlichen Erkenntnismethoden . . . “ ausgeführt, vielmehr lediglich die Rolle eines Spiegels für das Bewusstsein. Das Bewusstsein existiert aber auch ohne diesen Spiegel. Man kann sich die Situation folgendermaßen verständlich machen: Um meine Augen, Ohren und meine Nase wahrnehmen zu können, brauche ich einen Spiegel, obwohl ich mir auch ohne ihn durchaus dessen bewusst bin, dass ich Augen, Ohren und eine Nase habe. Ähnliches gilt für die Gedanken: 1424 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Wenn ich meine Gedankenprozesse aufmerksam beobachte, kann ich durchaus feststellen, dass ein (neuer) Gedanke in mir bereits dunkel vorhanden ist, bevor ich ihn vollbewusst denken kann. 543 Um ihn aber vollbewusst wahrzunehmen, brauche ich noch etwas, und dieses Etwas ist die „ spiegelnde “ Tätigkeit meines Gehirns. Aldous Huxley nannte das Gehirn in seinem Buch The Doors of Perception ein „ reducing valve “ (Reduzierventil), ein Begriff, den z. B. Alexander aufgriff (Alexander 2012, S. 72, 81). Bereits zuvor hatte James die Mutmaßung geäußert, dass das Gehirn nicht Produzent der Gedanken bzw. des Bewusstseins, sondern eher eine Art Transmitter derselben sei (James zitiert in Beauregard 2012, S. 133), und einige Jahre später meinte Bergson, dass unser gewöhnliches Bewusstsein ein „ herabgemindertes Bewusstsein “ sei (Bergson 2006, S. 241f.). Geisteswissenschaftliche Forschung ergibt, dass diese Intuitionen durchaus korrekt sind. Denn das Gehirn ist einerseits ein für das Bewusstsein notwendiger „ Spiegel “ der geistigen Vorgänge, andererseits aber „ reflektiert “ es nur einen Bruchteil der wahren Wirklichkeit dieser Vorgänge, so dass z. B. unsere Alltagsgedanken (Ähnliches gilt auch für Gefühle und sogar die Sprache) ein Schatten ihres wahren Wesens sind (GA26, S. 47; 48 - 52; 74f.). Die Verschattung der Gedanken durch das Gehirn ist jedoch nicht nur ein Makel, sondern auch eine Notwendigkeit der menschlichen Natur. Denn wären wir uns im alltäglichen Leben des wahren Wesens der Gedanken bewusst, könnte der Mensch nicht zu Selbstbewusstsein und Freiheit gelangen (GA18, S. 601 - 603; GA26, S. 47; 67). Man kann sich das hier vorliegende Problem verdeutlichen, wenn man sich vorstellt, was es heißen würde, permanent im Nirwana leben zu müssen. Unter dem gewaltigen Eindruck dieser Erfahrung erlöscht bei einer unvorbereiteten Person förmlich das Selbstbewusstsein und man fühlt sich eins mit dem Kosmos. Alltägliche Aktivitäten werden uninteressant. Ein Mensch, der auf Dauer in einem solchen Zustand existieren würde, wäre für die Herausforderungen des gewöhnlichen Lebens völlig unbrauchbar. Will man aber die geistige Welt bewusst erforschen, muss die filternde Funktion des Gehirns ausgeschaltet werden. 544 Diese Tatsache deutet wiederum auf die Schwierigkeiten, die mit der geistigen Forschung einhergehen, bzw. auf die Größe der Anforderungen, welche ein Geistesforscher erfüllen muss. Denn will er bewusst in der geistigen Welt forschen, muss er einerseits über Organe verfügen, die das Gehirn und seine Funktionen ersetzen können, andererseits muss er über einen so hohen Grad des Selbstbewusstseins, der Selbstkontrolle, der Besonnenheit verfügen, dass er die Gewalt der Eindrücke, denen er gegenübersteht, verkraften kann. 543 Für eine ausführlichere Behandlung dieses Problems, vgl. Majorek 2002, 339 - 353, bes. 351 - 353. 544 „ Das Gehirn muß man ausschalten. Das ist ein furchtbar störendes Organ für die höhere Anschauung “ (GA243, S. 98; vgl. ebd., S. 102). 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1425 Drogenerfahrungen Ich möchte an dieser Stelle den Versuch wagen, auch die Drogenerfahrungen im Licht der Ergebnisse der geisteswissenschaftlichen Forschung zu erklären. Dies scheint mir deshalb berechtigt, weil manche von ihnen Ähnlichkeiten mit den außerkörperlichen und Nahtoderfahrungen und allgemeiner mit den religiösen Erfahrungen aufweisen. Es ist allgemein bekannt, dass Drogen tiefe, wenngleich eher undifferenzierte innere Erfahrungen erzeugen (gewisse Menschen vergleichen die Wirkung von Heroin z. B. mit dem Orgasmus), die oft mit religiösen Erlebnissen verglichen werden (Erfahrung der mystischen Einheit), weswegen man in diesem Zusammenhang von „ entheogenen “ (also das Göttliche im Innern erzeugenden) Substanzen spricht. Sie erzeugen das Gefühl der Dissoziation vom eigenen Leib, oft das Gefühl einer Öffnung anderen Menschen gegenüber, des Rauschs oder der Ekstase, schließlich auch Halluzinationen, manchmal sogar Visionen von Verstorbenen. Bereits bei der Besprechung von Huxleys Buch The Doors of Perception haben wir vermerkt, dass der Konsum von Meskalin eine bedeutende Steigerung der sinnlichen Wahrnehmungen zur Folge hat. Die geisteswissenschaftliche Einsicht in die Eigenschaften der geistigen Welt und das geisteswissenschaftliche Verständnis der komplexen Zusammensetzung der menschlichen Wesenheit machen die Wirkungsart und die Anziehungskraft von Drogen verständlich und geben so ein „ Gegenmittel “ an die Hand. Es ist eines der elementarsten Erlebnisse der geistigen Wirklichkeit, dass sie als viel realer, viel intensiver als die alltägliche Sinneswirklichkeit empfunden wird. Steiner beschreibt etwa die Erfahrung des bewussten Austritts aus dem Leib so: Und das Eigentümliche ist dabei, man fühlt sich, wenn man so aus seinem Leibe herausgegangen ist mit diesem zweiten Menschen, in einer Welt, die viel, viel wirklicher ist als unsere Erdenwelt. Es kommt einem dann die Erdenwelt und alles, was man da erlebt hat, wie Schatten vor gegenüber der dichten, anspruchsvollen Wirklichkeit, in die man jetzt eingetreten ist. (GA243, S. 65) 545 Steiner nennt die tiefere übersinnliche Erfahrung (Erschließung des „ inneren Wortes “ ) ein im höchsten Grad „ beseligendes “ Erlebnis: „ Der Strom einer göttlichen, einer gottbeseligenden Welt ergießt sich durch [den Menschen] “ (GA10, S. 38). 546 Diese Charakterisierung erinnert stark an die Beschreibungen des Himmels oder des Nirwanazustandes, deren Grundzug höchste Glückseligkeit ist. Sie erinnert aber zweifelsohne auch an Drogenerfahrungen, und auch die NTE-Berichte heben stets den Realitätsgrad und die Intensität der 545 Vgl. ebd. S. 66, 75, 92, 105, 166, 179. Vgl. auch GA173c, S. 168; GA178, S. 49. 546 Aufgrund meiner Erfahrungen in diesem Bereich kann ich diese Beschreibung durchaus bestätigen, obwohl ich nicht behaupten möchte, dass ich die an dieser Stelle von Steiner angedeutete Stufe der inneren Entwicklung erreicht habe. 1426 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Erfahrung hervor. 547 Wie kann man solche Ähnlichkeiten erklären? Haben die Drogenerfahrungen etwas mit den Erfahrungen gemein, die auf dem geisteswissenschaftlichen Erkenntnisweg gemacht werden, oder handelt es sich um zufällige Koinzidenzen? Ich glaube, dass die oben aufgezeichneten Parallelen zwischen den Drogenerfahrungen und den Erfahrungen eines Geistesforschers sachlich begründet sind. Mir sind keine konkreten Schilderungen Rudolf Steiners dazu bekannt, es ist jedoch naheliegend zu vermuten, dass die bewusstseinsverändernden Substanzen ihre Wirkung dadurch entfalten, dass sie eine partielle und vorübergehende Trennung des Ätherleibes vom physischen Leib erzeugen. Der vom physischen Leib befreite Ätherleib, der selbstverständlich weiterhin mit dem Astralleib und dem Ich der Person verbunden ist, ist dann imstande, gewisse allgemeine, unscharfe und recht chaotische übersinnliche Erfahrungen zu vermitteln, die, obwohl sie recht einfach sind, bereits so viel intensiver als die gewöhnlichen Erfahrungen im physischen Leib sind, dass sie eine unwiderstehliche Sehnsucht nach „ mehr “ erzeugen. Das Chaotische und Unbestimmte der Drogenerfahrungen ergibt sich daraus, dass die übersinnlichen Wahrnehmungsorgane des Konsumenten nicht ausgebildet sind und die übersinnlichen Wesenheiten, die das Bewusstsein nach dem gewöhnlichen Tod aufrechterhalten, in diesem Fall mit ihren „ Diensten “ nicht zur Verfügung stehen. Ein naheliegender Einwand gegen eine solche Interpretation wäre, dass es sich hier nachweislich nur um die Wirkung einer chemischen Substanz auf das chemische Gleichgewicht des Gehirns handle. Diese Erklärung greift aber eindeutig zu kurz, denn die chemischen Prozesse im Gehirn sind sicherlich nicht ausreichend, um Bewusstsein zu erzeugen (vgl. den Exkurs „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ ). Selbst die orthodoxe Neurobiologie ist davon überzeugt, dass dafür nicht nur chemische Botenstoffe, sondern auch die Nervenzellen mit ihrer elektrischen Aktivität nötig sind. Es ist deshalb auch aus der Sicht der orthodoxen Wissenschaft nicht erklärbar, wieso gewisse chemische Substanzen z. B. Halluzinationen hervorbringen. Diese Wirkung ist umso rätselhafter, als die neuesten Forschungsergebnisse darauf deuten, dass bewusstseinsverändernde Substanzen die elektrische Aktivität der Nervenzellen im Gehirn nicht steigern, sondern im Gegenteil unterdrücken (Carhart-Harris et al. 2012; vgl. das Kapitel „ Empirische Rätsel der Wissenschaft “ ). Dieser Paradox löst sich auf, wenn man annimmt, dass die lebhaften „ Halluzinationen “ unter dem Einfluss von Drogen nicht Resultat erhöhter elektrischer Gehirnaktivität, sondern vielmehr der partiellen und vorübergehenden Trennung des Äther- und des physischen Leibes sind, einer Trennung, die tatsächlich zur Verminderung der Gehirnaktivität führen muss. Wenn man dann ferner bedenkt, dass gewisse chemische Substanzen in 547 Alexander benutzt die Bezeichnung „ ultrareal “ für seine Erfahrungen (Alexander 2012, S. 129f.). 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1427 ausreichender Dosierung den Tod, also eine permanente und vollständige Trennung des Ätherleibes (mit dem Astralleib und Ich) vom physischen Leib, verursachen, dann wird der Gedanke plausibel erscheinen, dass bestimmte chemische Substanzen die Eigenschaft haben, eine bloß partielle und vorübergehende Trennung zu erzeugen. Aus dieser Perspektive erweist sich der Drogenkonsum also als Ersatz für die echte geistige Erfahrung. Was ein Geistesforscher sich nach langer Zeit und dank anstrengender, disziplinierter Übung erarbeitet bzw. anerzieht, die Fähigkeit, seinen Ätherleib willkürlich eine Zeit lang von seinem physischen Leib zu trennen, erreicht man viel schneller und ohne Anstrengung durch den Konsum von Drogen. Es muss nicht eigens hervorgehoben werden, dass dieser Weg keineswegs zur wissenschaftlichen Erforschung der geistigen Welt befähigt. Die Erlebnisse, die man so gewinnt, sind, wie gesagt, chaotisch, flüchtig und völlig unzuverlässig. Wenn Drogenkonsum grundsätzlich eine Art Ersatz für echte geistige Erfahrung ist, so fragt sich, wieso man diesen Konsum nicht allgemein zulassen sollte, zumal bewusstseinsverändernde Substanzen in der Vergangenheit in religiösen Ritualen und Zeremonien durchaus benutzt wurden. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich zunächst aus der Beobachtung der Nebenwirkungen dieser Substanzen, welche bekanntlich verheerend sein können und nicht nur das seelische Gleichgewicht, sondern sogar den physischen Organismus des Menschen unterminieren, sogar zerstören können. Auf der anderen Seite ist aus geisteswissenschaftlicher Perspektive darauf hinzuweisen, dass unsere heutigen physischen Leiber wesentlich anders konstituiert sind als die Leiber der Menschheit der Vorzeit (GA243, S. 70f.; 73f.). Die entsprechenden Veränderungen sind sehr subtil und können anatomisch kaum nachgewiesen werden, insbesondere weil wir über keine gut erhaltenen menschlichen Leichen aus der Vorzeit verfügen; sie sind jedoch da. Und diese Veränderungen bewirken, dass selbst die Substanzen, welche in der Vergangenheit u. U. eine vorteilhafte Wirkung hatten, heute gefährlich sind. Schließlich muss drittens darauf hingewiesen werden, dass wir heute eine Entwicklungsstufe erreicht haben, auf welcher der Mensch den Weg in die geistige Welt mit den geeigneten seelischen Übungen suchen muss (ebd., S. 69 - 72). Der Gebrauch chemischer Substanzen für diese Zwecke mag in der Vergangenheit durchaus angebracht gewesen sein, heute ist er es nicht mehr. Der freie Wille Um die Behandlung der Fragen, die das Verhältnis zwischen den verschiedenen Wesensgliedern des Menschen und insbesondere die Rolle des Gehirns bei der Erzeugung der bewussten Erfahrung berühren, abzuschließen, möchte ich das Problem des freien Willens aus der Perspektive der Geisteswissenschaft beleuchten. Wir haben im Exkurs „ Kann das Gehirn das Bewusstsein hervorbringen? “ dieses Problem angesprochen und darauf 1428 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse hingewiesen, dass die Gegner des freien Willens ein starkes Argument haben, und zwar die mehrmals empirisch bestätigte Tatsache, dass bereits vor dem Bewusstwerden einer Intention eine organische (elektrische) Aktivität der relevanten Gehirnzentren messbar ist. Wir haben jene Diskussion mit dem Hinweis abgeschlossen, dass Phänomene bekannt sind, bei welchen das Frühere keineswegs die Ursache des Späteren ist (das Hellwerden des Himmels ist nicht die Ursache des Sonnenaufgangs). Ich habe aber damals auch auf die große Tragweite der entsprechenden Forschungsbefunde hingewiesen: Es wird heute auf dem Hintergrund der angeblich wissenschaftlich bewiesenen Unfreiheit des Menschen oft dafür plädiert, das Rechtssystem umzukrempeln, denn es scheint manchen Experten ungerecht, Verbrecher für Taten zu bestrafen, für die sie moralisch nicht verantwortlich gemacht werden können. Wäre man wirklich konsequent, dürfte man, wie im „ Intermezzo “ dargelegt, dann auch keine Preise für besonders lobenswerte Leistungen mehr verleihen, denn wenn der Mensch keinen freien Willen hat, können die Autoren solcher Taten „ nichts dafür “ , dass sie sie vollbracht haben. Wäre der durchgehende Determinismus des mentalen Lebens eine Tatsache, so hätte das, wie im Abschnitt „ Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas “ aufgezeigt, auch vernichtende Folgen für die Möglichkeit von Rationalität. Denn wären unsere Gedankengänge durch die neuronale Aktivität des Gehirns determiniert, müsste man schlussfolgern, dass jegliche Meinungsunterschiede bloß das Ergebnis unterschiedlicher neuronaler Abläufe seien, die sich z. B. aus der nachweislich unterschiedlichen anatomischen Beschaffenheit der Gehirne ergeben. Eine angemessene Maßnahme, um solchen Meinungsunterschieden entgegenzuwirken, wäre dann aber nicht rationale Argumentation, sondern Hirnchirurgie. Berücksichtigt man die Abläufe zwischen der Seele (bzw. dem Ich) des Menschen und dem Gehirn, welche beim Bewusstwerden eines Gedankens stattfinden (vgl. das Kapitel „ Übersinnliche Erkenntnismethoden. . . “ ), so wird jedoch die zeitliche Verzögerung der bewussten Intention gegenüber der ihr Auftreten vorbereitenden neuronalen Tätigkeit nicht nur verständlich, sondern sogar notwendig. Ich habe bei der früheren Diskussion darauf aufmerksam gemacht, dass das bewusste Auftreten jedes Gedankens die entsprechende Vorbereitung des Spiegelungsapparates des Gehirns voraussetzt: Es geht der denkerischen Tätigkeit der Wahrnehmung des Gedankens eine solche Gedankenarbeit voraus, die, wenn Sie zum Beispiel den Gedanken ‚ Löwe ‘ wahrnehmen wollen, erst tief drinnen die Teile des Gehirns so in Bewegung versetzt, dass diese Spiegel werden für die Wahrnehmung des Gedankens ‚ Löwe ‘ . Und der, welcher das Gehirn erst zum Spiegel macht, das sind Sie selber. Was Sie als Gedanken zuletzt wahrnehmen, das sind Spiegelbilder; was Sie erst präparieren müssen, damit das betreffende Spiegelbild erscheint, das ist irgendeine Partie des Gehirnes. (GA151, S. 73) Die Vorbereitung der Intention, die „ Präparierung “ des Gehirns braucht aber selbstverständlich Zeit. Berücksichtigt man die geistige Ebene des Denk- 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1429 prozesses, so erscheint die Tatsache, dass der bewussten Intention eine neuronale Aktivität (das Bereitschaftspotential) vorausgeht, keineswegs als Bedrohung der Willensfreiheit. Diese neuronale Aktivität ist ebenso wenig die Ursache der bewussten Intention und somit die Vernichterin der Willensfreiheit, wie eben das Hellwerden des Himmels vor dem Sonnenaufgang die Ursache des Sonnenaufgangs ist. Es ist vielmehr die „ Sonne “ des Ich, die, um sich die Intention zu Bewusstsein zu bringen, die neuronale Aktivität (das Hellwerden des Himmels) erzeugt. Diese Sicht der Verhältnisse zwischen dem wahren Seelenleben des Menschen und dessen bewusster Spiegelung im Gehirn setzt aber selbstverständlich die Möglichkeit der Ausübung einer individuellen seelischen bzw. geistigen Aktivität des Selbst oder Ich voraus, die sich vor ihrem Bewusstwerden vollzieht. Eine solche Vorstellung ist für materialistisch gesinnte Menschen äußerst schwer zu akzeptieren, sie ist jedoch innerhalb des geisteswissenschaftlichen Weltbildes sofort einsichtig. Das eigentliche Ich des Menschen wird nicht im Gehirn erzeugt, es lebt auch nicht im Gehirn, es ist ein geistiges Wesen, das der irdischen Existenz des Menschen vorgängig ist und das mehrere irdische Inkarnationen durchschreitet. In einem Vortrag, den Rudolf Steiner 1911 auf dem IV. Internationalen Kongress für Philosophie in Bologna hielt, formulierte er diese Erkenntnis folgendermaßen: Und man wird deshalb zu einer besseren Vorstellung über das ‚ Ich ‘ erkenntnistheoretisch gelangen, wenn man es nicht innerhalb der Leibesorganisation befindlich vorstellt, und die Eindrücke ihm ‚ von außen ‘ geben lässt; sondern wenn man das ‚ Ich ‘ in die Gesetzmäßigkeiten der Dinge selbst verlegt, und in der Leibesorganisation nur etwas wie einen Spiegel sieht, welcher das außer dem Leibe liegende Weben des Ich im Transzendenten dem Ich durch die organische Leibestätigkeit zurückspiegelt. (GA35, S. 139) Das wahre menschliche Ich befindet sich also nicht im Kopf, sondern wird dort lediglich erlebt, weil es den Spiegel des Gehirns braucht, um sich sich selbst bewusst zu werden. Aber dieses - nennen wir es: wahre - Ich ist nicht bloß ein passiver Zuschauer der eigenen im Gehirn gespiegelten denkerischen Aktivität. Es ist viel mehr: Es ist auch ein aktiver Mitgestalter, gleichsam ein Bildhauer sowohl dieses Gehirns als auch des ganzen physischen Organismus: Denn dieselbe Seele ist es, die in der Zeit von der Geburt, oder sagen wir der Empfängnis bis zum Tode denkt, fühlt und will, dieselbe Seele ist es, die auch vorher da ist. [. . .] Diese Seele, die während des Lebens, weil sie sich den Leib fertig gebildet hat, weil sie sich ihn umgebildet hat zum Spiegelungsapparat, der ihr zurückstrahlt die Vorgänge, die ihr zum Bewußtsein kommen können, dieselbe Seele, die also sich bewußt gestaltet, weil sie gewissermaßen den Leib verfestigt hat, dieselbe Seele lebt in der übersinnlichen Welt, bevor sie zur Geburt, oder sagen wir Empfängnis kam, sie lebt in der übersinnlichen Welt, und in diesem Leben hängt sie mit der übersinnlichen Welt zusammen. Diese Seele ist vorhanden, nicht 1430 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte, bevor sie durch die Empfängnis zum sinnlichen Dasein schreitet. (GA72, S. 47) 548 Was das Gehirn betrifft, so ist heute bekannt, dass es sich noch lange nach der Geburt umgestaltet. Gewöhnlich wird diese Umgestaltung den „ plastischen Kräften “ des Gehirns zugeschrieben, obschon man eigentlich keine Ahnung hat, welche Kräfte diese Umgestaltung konkret leisten sollten. Die Forschungen der Geisteswissenschaft zeigen aber, dass das Gehirn von der geistigen Entelechie des sich inkarnierenden Menschen (unter Anleitung und Führung höherer Wesen, konkret der Engel [GA127, S. 62f.]) während der Embryonalentwicklung und nach der Geburt nach den Bedürfnissen dieses Wesens gestaltet, plastiziert wird: [D]er Mensch [trägt] durch seine Geburt in die physische Welt das hinein, was er mitgebracht hat als die Früchte der früheren Erdenleben. Wenn der Mensch geboren wird, ist zum Beispiel sein physisches Gehirn noch ein sehr unvollkommenes Werkzeug. Es muß nun des Menschen Seele in dieses Werkzeug erst die feineren Gliederungen hineinarbeiten, die es zum Vermittler alles dessen machen, wessen die Seele fähig ist. In der Tat arbeitet die Menschenseele, bevor sie vollbewußt ist, an dem Gehirn so, daß dieses ein solches Werkzeug werden kann, wie es gebraucht wird zum Ausleben all der Fähigkeiten, Anlagen, Eigenschaften und so weiter, welche der Seele eignen als Ergebnisse ihrer früheren Erdenleben. Diese Arbeit am eigenen Leib ist von Gesichtspunkten geleitet, die weiser sind als alles dasjenige, was der Mensch später aus seinem vollen Bewußtsein heraus an sich tun kann. (GA15, S. 11; vgl. GA127, S. 88f.) 549 Aber auch die Lebensverhältnisse, unter denen der Mensch in seiner künftigen Inkarnation leben und wirken wird, werden nicht einer sich inkarnierenden Seele willkürlich aufoktroyiert, sondern sind von ihr im Sinne der kosmischen Gerechtigkeit gewollt und werden von ihr während des Aufenthaltes in der geistigen Welt zwischen zwei Inkarnationen aktiv mitgestaltet: [W]enn wir uns so hereinleben von unserer Embryonalzeit durch die Geburt, durch die erste Kindheit in unser Leben, dann ist dasjenige, was mitgestaltet an unserem Leib, unser Karma. Wir haben zwischen unserem letzten Tod und unserer jetzigen Geburt durchlebt und haben es uns sogar angelegen sein lassen zu durchleben, wie wir das Karma zu erfahren haben, und was wir uns für einen Körper zu geben haben, damit er sein Karma ausleben kann. Wir wirken so, knetend, möchte ich sagen, durch die Seelenkräfte auf unseren Leib. Wir wirken sogar lokalisierend, indem wir uns an den Ort der Welt hinstellen, wo wir unser Karma ausleben können. Wir wirken also mit jenem Bewußtsein, das wir zwischen dem Tod und einer neuen Geburt haben, unser persönliches Schicksal aus. (GA165, S. 162) 548 Interessanterweise behauptete Alexander aufgrund seiner NTE, dass unser wahres Ich völlig frei sei (Alexander 2012, S. 85). 549 Steiner schrieb diese Passage 1911. Als ich in den 70er-Jahren Psychologie studierte, galt in der Wissenschaft immer noch das Dogma, dass das Gehirn mit der Geburt mit alle seinen Verschaltungen fertig vorliegt. 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1431 Diese Einsichten der Geisteswissenschaft ermöglichen es, Galen Strawsons berühmtes Argument gegen den freien Willen zu entkräften. In knapper Form lautet das Argument wie folgt: Unsere Handlungen sind durch unsere Persönlichkeit bedingt. Um für eigene Handlungen moralisch verantwortlich zu sein, müsste man für eigene Persönlichkeit verantwortlich sein. Das ist aber nicht möglich. Also kann man für seine Handlungen nicht moralisch verantwortlich sein. Und in einer ein wenig ausführlicheren Form: 1) Man tut, was man tut - in der Situation, in welcher man sich befindet, weil man so ist, wie man ist. 2) Wenn man verantwortlich sein soll für das, was man tut, muss man letzten Endes dafür verantwortlich sein, wie man ist - zumindest im Hinblick auf die mentale Beschaffenheit. 3) Man kann nicht verantwortlich sein dafür, wie man ist, egal in welcher Hinsicht, weil man ist, wie man ist, infolge der genetischen Ausstattung und der Früherfahrung. 4) Also kann man letzten Endes nicht verantwortlich sein für das, was man tut (Strawson 1994; vgl. auch Strawson 2010). Die dritte Prämisse von Strawsons Argument, nämlich dass der Mensch und sein Charakter Produkt der Gene und der Erziehung sei, ist nur innerhalb des materialistischen Weltbildes, im Rahmen dessen Strawson operiert, selbstverständlich, weshalb er es nicht für nötig erachtet, es zu begründen. Sie ist aus der Sicht der Geisteswissenschaft hinfällig. Im Licht der Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft verlieren die scheinbar „ wasserdichten “ und unumstößlichen Argumente gegen die Freiheit des Willens daher ihre Berechtigung. Herztransplantation und Persönlichkeitsveränderungen Um die Behandlung von Phänomenen abzuschließen, die innerhalb der materialistischen Wissenschaft schwer verständlich sind, möchte ich mich jetzt jenen seltsamen Erfahrungen von Menschen zuwenden, die infolge einer Herztransplantation tiefgreifende Persönlichkeitsveränderungen erlebt haben, wie sie Pearsalls Buch The Heart ’ s Code schildert. Ich wies anlässlich der Diskussion des Werkes darauf hin, dass Pearsall dieses Phänomen dadurch erklärlich zu machen versucht, dass er eine Art Zellgedächtnis postuliert, das die individuellen Eigenschaften des Menschen, auch seine seelischen, aufbewahrt. Mit der Transplantation des Organs würden sie folglich auf den Empfänger übertragen. Ich habe in meiner Diskussion auf gravierende Schwierigkeiten dieser Theorie hingewiesen. Die Phänomene, die Pearsall beschreibt, werden jedoch durch solche kritischen Überlegungen nicht angetastet. Kann man diese Phänomene im Licht der Geisteswissenschaft verständlich machen? Durchaus. Das Herz ist weit mehr als eine Pumpe, 550 es ist, und zwar jetzt nicht als physisches, sondern vor allem als ätherisches und auch astralisches 550 Ob die Funktion der Pumpe überhaupt die wichtigste Aufgabe des Herzens ist, ist eine andere Frage, die man aus der Sicht der Geisteswissenschaft beleuchten könnte und 1432 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Organ, viel mehr: Es ist eine Art karmisches Gedächtnis des Menschen. Aus der Darstellung des vorigen Kapitels wurde ersichtlich, dass allen physischen Organen des Menschen der ätherische bzw. Lebensleib zugrunde liegt, der sie erhält, aber auch, besonders in den frühen Entwicklungsstadien, gestaltet. Der konkreten Konfiguration des individuellen Ätherleibes eines Menschen liegen nicht nur die allgemeinen kosmischen Gesetzmäßigkeiten dieses Wesensgliedes zugrunde, welche für alle Menschen gleich sind, sondern auch die karmischen Bedingtheiten dieser Individualität, die an der Formung des geistigen Modells des (künftigen) physischen Leibes des Menschen in der geistigen Welt beteiligt sind. Diese individuellen Gestaltungskräfte werden dann von jenem Modell auf den individuell sich bildenden Astralleib und von diesem auf den wiederum individuell gebildeten Ätherleib übertragen, der schließlich die embryonale Substanz während der Schwangerschaft und auch noch nach der Geburt entsprechend individuell gestaltet (selbstverständlich unter Aufsicht und Mitwirkung der dafür „ zuständigen “ geistigen Wesenheiten) (GA127, S. 88f.; GA220, S. 155f.). Jedes Organ des menschlichen Leibes ist folglich einzigartig, obschon es nach einem allgemeinen „ Bauplan “ entstanden ist. Im Fall des Gehirns ist diese Einzigartigkeit verhältnismäßig leicht nachweisbar: Wir wissen, dass die Verschaltungen der Nervenzellen in jedem menschlichen Gehirn anders sind. Bei genauerer Betrachtung ließe sich aber dasselbe auch von allen anderen Organen des menschlichen Leibes sagen. Daraus folgt weiter, dass sich jedes Organ von Mensch zu Mensch unterschiedlich funktioniert, was die heute an Popularität gewinnende Idee der personifizierten Medizin durchaus sinnvoll macht, wenn auch die Gründe der Individualisierung des Leibes nicht in seiner genetischen Ausstattung zu suchen sind. Das Herz ist hier in einer besonderen Lage. Es ist das einzige Organ des menschlichen Körpers, in welchem nicht nur die karmischen Spuren der Taten der vergangenen Inkarnationen vorhanden sind, sondern auch der Abdruck aller Handlungen des Menschen in seiner jetzigen Inkarnation, zumindest seit der Geschlechtsreife, seit der Zeit also, als der Mensch zumindest einigermaßen für seine Handlungen verantwortlich ist: Von der Geschlechtsreife an schaltet sich auf dem Umwege durch den Astralleib die gesamte menschliche Tätigkeit in das Ätherherz ein, in dasjenige Organ, das aus den Abbildern der Sterne, aus den Abbildern des Kosmos geworden ist. Da schaltet sich das alles ein. (GA212, S. 123) Jedoch schreiben sich nicht nur die Spuren der Taten in das astral-ätherische Organ des Herzens ein, sondern auch die Absichten und Ideen, die sie motivierten (ebd., S. 126). Auf diese Weise wird es allmählich zu einer Art sollte. Aber diese Aufgabe liegt eindeutig außerhalb des Rahmens dieses Buches. Vgl. aber z. B. Manteuffel-Zöge 1977. Ferner http: / / www.dgfan.de/ media/ admin/ public/ pdfs/ fachbeitraege/ weitere-themen/ 2013/ dgfan_fachbeitrag_m-koegel_ist-das-herzeine-pumpe.pdf (heruntergeladen am 24. 1. 2015). 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1433 Mikrokosmos bzw. mikrokosmischem Gedächtnis der Persönlichkeit seines Trägers. Wenn man nun bedenkt, dass bei einer Herztransplantation nicht nur das physische Herz, sondern auch seine ätherisch-astralische Grundlage, der ätherisch-astralische Organismus, der dem lebenden Herzen zugrunde liegt, transplantiert wird, wird es nicht mehr überraschen, dass der Empfänger des Herzens nach der Operation neue, ihm völlig unbekannte Impulse, Handlungsintentionen und seelische Präferenzen empfindet. Derartige Veränderungen sind aus der Sicht der Geisteswissenschaft durchaus zu erwarten. Erklärungsbedürftig werden aus dieser Perspektive eigentlich nur die Fälle, in denen solche Veränderungen nicht beobachtbar sind. Folgen der Einsichten der Geisteswissenschaft für die Gesellschaft 551 Ich habe bereits am Anfang dieses Kapitels darauf hingewiesen, dass die Einsichten der Geisteswissenschaft weitestgehende Folgen für die Gesellschaft haben wird. Ich habe in diesem Zusammenhang von der „ Steiner ’ schen Revolution “ gesprochen, weil der Einbezug dieser Einsichten in unser praktisches, alltägliches Leben mindestens ebenso gewichtige Folgen für das Selbstverständnis des Menschen und seiner Stellung im Kosmos haben wird wie die kopernikanische Revolution für die Menschen im 16. Jahrhundert. Betrachten wir jetzt einige dieser Folgen genauer. Wer sich mit der Vorstellung anfreundet, dass es ein Leben nach dem Tod und die Reinkarnation gibt, wird seinem Leben eine völlig neue Ausrichtung geben. Denn aus seiner Perspektive liegt das Ziel der irdischen Existenz nicht in Konsum und Genuss, sondern in seelischem und geistigem Wachstum. Die Erde ist wahrlich „ the vale of soul making “ : „ [D]ie Menschenseele [ist] dazu da, [. . .] auf der Erde, immer vollkommener und vollkommener zu werden “ (GA112, S. 185). Dies ist in etwa auch die Lehre, die Menschen aus einer Nahtoderfahrung ziehen. Dieses Ziel vorausgesetzt, ist es die Aufgabe der Wirtschaft, dem Menschen und seinen seelisch-geistigen Bedürfnissen, also nicht nur und nicht vor allem seinen leiblichen Bedürfnissen, zu dienen. Die Gesellschaft muss so organisiert werden, dass der Mensch in ihr geistigseelisch wachsen kann und nicht zum Rädchen im Getriebe der Produktion verkommt. Der Mensch ist in den letzten Jahrhunderten ein Sklave der Materie geworden (GA106, S. 177, 179), er muss sich von dieser Sklaverei befreien. Eine derartige Neuausrichtung des sozialen Lebens wird zwangsläufig Folgen für das Erziehungswesen haben. Nicht nur werden die Lehrpläne radikal umgeschrieben werden müssen, um sie von der allgegenwärtigen materialistischen Indoktrination zu befreien, sondern auch und vor 551 Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass die Überlegungen dieses und des nächsten Abschnitts ( „ Folgen der Einsichten der Geisteswissenschaft für die Medizin “ ) meine persönlichen Meinungen und Vorstellungen darstellen und weder Steiners Schriften entnommen sind noch Ansichten der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft bzw. ihrer Leitung wiedergeben, obwohl sie sich mit diesen durchaus decken können. 1434 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse allem wird die Schule sich von ihrer gegenwärtigen pragmatischen Ausrichtung ( „ Vorbereitung auf die Arbeitswelt “ ) befreien müssen. Einen Anfang in dieser Richtung wurde bereits 1919 mit der Gründung der ersten Waldorf-Schule durch Rudolf Steiner gemacht. Bekanntlich werden an den Waldorf-Schulen alle Kinder ohne Selektion hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Begabungen in allen Fächern einschließlich Kunst-, Handwerk- und Bewegungsfächern von der ersten bis zur zwölften Klasse unterrichtet. Erst dann steht ihnen die Möglichkeit offen, sich aufgrund ihrer Erfahrung ein reifes Urteil zu bilden, für welche praktische Lebensbzw. Berufsrichtung sie aufgrund von Interessen und Dispositionen (eigentlich aufgrund der Erfahrungen der vorigen Inkarnationen) besonders geeignet sind. Die Einsicht in die Wirklichkeit der Reinkarnation wird selbstverständlich auch Folgen für die Gestaltung des Zusammenlebens der Menschen haben. Denn wenn man weiß, dass ein Leben auf Kosten anderer Menschen, durch Unterdrückung, Ausbeutung usw., in einer künftigen Inkarnationen „ bezahlt “ werden muss, wird man von manchen Verhaltensweisen Abstand nehmen und die Gesellschaft wird egalitärer und brüderlicher sein, als sie es heute ist. Der Reichtum wird gerecht (oder zumindest viel gerechter als heute) verteilt, weil erstens die Menschen erkennen werden, dass Reichtum zu ihrem seelischen Gedeihen nichts beiträgt ( „ Sammelt euch nicht Schätze auf der Erde, wo Motte und Fraß zerstören und wo Diebe durchgraben und stehlen, sammelt euch aber Schätze im Himmel “ , Mt 6,19-20), und weil sich zweitens die Einsicht durchsetzen wird, dass eigener Reichtum auf der Armut anderer aufbaut und negative Folgen in künftigen Inkarnationen hat. Zugleich macht die Einsicht in die Wirklichkeit der Reinkarnation soziale Ungleichheiten, ja Ungerechtigkeiten (einige Menschen werden in reichen, andere in armen Familien/ Ländern geboren, einige kommen mit zahlreichen Talenten, andere mit körperlicher oder geistiger Behinderung usw. zur Welt), erklärlich und erträglich. Diese sind nämlich nicht nur blinde Schicksalsschläge (z. B. müsste man im Fall des Down-Syndroms aus materialistischer Perspektive von einem chemischen bzw. genetischen „ Unfall “ sprechen) bzw. -geschenke, sondern grundsätzlich Folgen früherer Lebensläufe bzw. Vorbereitung für künftige Inkarnationen. 552 Diese einfache und beruhigenden Erklärung wird jedoch wesentlich komplizierter, wenn man bedenkt, dass nicht nur die „ guten “ Götter am Schicksal der Menschen beteiligt sind, sondern auch die sich unregelmäßig entwickelnden geistigen Wesenheiten. So geht die sehr ungleichmäßige Verteilung des Reichtums vor allem auf 552 Aus Sicht der Geisteswissenschaft kommt die geistige Behinderung dadurch zustande, dass die vorgeburtliche Vorschau auf die künftige schwierige Inkarnation zu einer Art Schock führt, der das vollständige Ergreifen der physischen Organisation durch die Seele des Menschen verunmöglicht (GA95, S. 56; GA99, S. 51), oder aber sie ist eine Art Aufopferung seitens der geistigen Individualität des Menschen, die das Leid einer eingeschränkten Inkarnation auf sich nimmt, um gleichsam Kräfte zu sparen für eine spätere Inkarnation z. B. als Genie. Mehr dazu weiter unten. 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1435 jenen Geist zurück, den wir im vorigen Kapitel mit dem Namen Ahriman bezeichnet haben. Es ist dementsprechend kein Zufall, dass der „ Teufel “ beim Versuch, Jesus zu verführen, behauptet, dass das Reichtum der Welt ihm gehöre: Und er führte ihn auf einen hohen Berg und zeigte ihm in einem Augenblick alle Reiche des Erdkreises. Und der Teufel sprach zu ihm: Dir will ich alle diese Macht und ihre Herrlichkeit geben; denn mir ist sie übergeben, und wem immer ich will, gebe ich sie. Wenn du nun vor mir anbeten willst, soll das alles dein sein. (Lk 4,5-7; vgl. Mt 4,8-9) Bezeichnenderweise stellt Jesus diese Behauptung nicht in Frage, sondern antwortet: „ Es steht geschrieben: ‚ Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen ‘“ (Lk 4,8): Der „ Teufel “ beansprucht zu Recht die Reichtümer der Erde. In unsere Terminologie übersetzt heißt das, dass Ahriman der Herrscher über die irdischen Schätze ist und er sie nach seinem Gusto verteilt. Was erklärt, weshalb sehr oft Menschen, die sich nicht besonders durch moralische Tugenden und allgemeine Menschlichkeit auszeichnen, sehr reich sind. Man kann vielleicht ein wenig plakativ sagen, dass ein reicher Mensch in der Regel im Grunde ein Knecht Ahrimans ist. Deshalb sagt Jesus: „ Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes hineinkommt “ (Mt 19,24). In dieser Hinsicht scheint mir die Grundidee des berühmten Werkes von John Rawls A Theory of Justice ein Echo des Reinkarnationsgedankens zu sein. Rawls geht bekanntlich davon aus, dass ein Höchstmaß an Gerechtigkeit dann erzielt wird, wenn die Menschen die Prinzipien der Gesellschaft unter der Voraussetzung eines „ Schleiers des Nichtwissens “ bezüglich ihrer eigenen Stellung in ihr bestimmen. Die Parallele zu unserem Zusammenhang ist evident: Lebt jemand in einer Inkarnation ungerechterweise in einer Situation der Überflusses und Übermacht, wird er oder sie in der nächsten (oder einer der nächsten) Inkarnation(en) in eine unterprivilegierten Stellung geboren. Aus dieser Sicht „ lohnt es sich “ , eine Gesellschaft zu schaffen, welche für möglichst viele Menschen möglichst günstige Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Rudolf Steiner hat eine solche künftige gesellschaftliche Organisation in seinem 1919 erschienenen kleinen Werk Die Kernpunkte der Sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft (GA23) dargestellt, seine Vorschläge wurden jedoch bis heute leider nie ernst genommen. Im Ausgang dieses Kapitels habe ich behauptet, dass die Einsichten der Geisteswissenschaft Folgen für die Landwirtschaft bis hin zur Raumfahrt haben werden. Was Letztere betrifft, so sollte aus den Betrachtungen des vorigen Kapitels deutlich geworden sein, dass z. B. die Suche nach Leben oder intelligentem Leben auf fernen Planeten (Exoplaneten) unsinnig ist. Das Leben ist viel näher, es findet sich auf allen Planeten unseres Sonnensystems, sogar auf der Sonne, nur handelt es sich um übersinnliches Leben. Eine andere Menschheit ist nirgendwo im Kosmos zu finden: Unsere Entwicklung 1436 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse auf Erden ist kosmisch gesehen einzigartig. Die Entscheidung, Milliarden auszugeben, um die materielle Oberfläche anderer Planeten zu erforschen, sei dennoch künftigen Generationen überlassen. Ich bin mir jedoch sicher, dass die heutigen Träume von der Gründung einer Kolonie auf dem Mond oder auf dem Mars irgendwann ad acta gelegt werden. Was die Landwirtschaft betrifft, so sollte aus den Betrachtungen des vorigen Kapitels ersichtlich geworden sein, dass sie sich in Zukunft radikal von der chemisch gestützten ab- und der organischen Anbauweise zuwenden wird. Denn es wird sich die Einsicht durchsetzen, dass chemische Eingriffe in die Landwirtschaft, sei es zum Düngen des Kulturbodens, sei es für die Schädlingsbekämpfung langfristig katastrophale Folgen haben (die bereits heute teilweise spürbar sind). Diese Mittel trennen nämlich den Ackerboden, die Pflanzen und die Tiere von den Einflüssen der geistigen Wesen und Kräfte, deren Wirksamkeit für ihre Erhaltung und ihr Gedeihen notwendig ist. Kunstdünger sind Drogen für den Ackerboden: Kurzfristig putschen sie auf, langfristig zerstören sie. Was man hingegen durch die bewusste Zusammenarbeit mit den in der Natur wirksamen geistigen Wesenheiten in der Landwirtschaft erreichen kann, wurde eindrücklich in Findhorn in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts gezeigt (Hawken 1975). Aber auch die von Rudolf Steiner 1924 initiierte biologisch-dynamische Landwirtschaft 553 basiert auf dem Prinzip bewusster Nutzung der kosmischen geistigen Kräfte zur Erhöhung der landwirtschaftlichen Erträge und zum Schutz der Pflanzen vor Schädlingen. Sie wird in Zukunft bestimmt größere Verbreitung finden, als dies heute der Fall ist. Folgen der Einsichten der Geisteswissenschaft für die Medizin Die Einsichten der Geisteswissenschaft werden sicherlich auch weitgehende Folgen in verschiedenen Bereichen der Medizin haben. Diese hier ausführlich zu behandeln, würde den Rahmen dieses Kapitels eindeutig sprengen. Dennoch einige Hinweise: Bereits aus der obigen Betrachtung der Folgen der Herztransplantation für die Persönlichkeit des Empfängers ist ersichtlich, dass es sich die Menschen in Zukunft zweimal überlegen werden, ob sie sich tatsächlich ein Organ (nicht unbedingt nur das Herz) eines anderen Menschen werden einpflanzen lassen. Dies gilt umso mehr, als sie auch die Einsicht haben werden, dass ein früher Tod bei Verzicht auf die Transplantation kein Ende ihrer Existenz, sondern nur das Ende dieses einen Lebens bedeutet und sie noch viele weitere Leben werden genießen können. Sie werden auch erkennen, dass sie sich, wenn sie sich der Transplantation unterziehen, übermäßig von den ahrimanischen Kräften abhängig machen, was nachteilige Folgen für ihre künftigen Inkarnationen haben kann. Ähnliche Überlegungen gelten auch für das Neuroenhancement und Neuro- 553 Vgl. Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft (GA327). 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1437 prothesen. Auch hier wird sich die Einsicht durchsetzen, dass die etwaigen Vorteile, welche man sich durch solche chemischen bzw. mechanisch-elektronischen Mittel verschaffen kann, eine übermäßige Abhängigkeit von den ahrimanischen Kräften mit nachteiligen Wirkungen in künftigen Inkarnationen mit sich bringen. Die Einsicht in die Wirklichkeit der Inkarnation eröffnet ferner eine neue Perspektive auf die Frage der Behandlung sog. Erbkrankheiten, der Anwendung lebenserhaltender Maßnahmen bei unheilbar Kranken, des Suizids und der sog. Sterbehilfe. Was die Behandlung der sog. Erbkrankheiten betrifft, so ist nochmals darauf hinzuweisen, dass der physische Leib nicht nur das Produkt chemisch-mechanischer Prozesse ist. An seinem Zustandekommen sind vielmehr göttliche Kräfte und Wesenheiten beteiligt. Funktionsstörungen wie auch Erbkrankheiten bzw. peri- oder postnatal auftretende oder sonstige endogene Störungen sind folglich nicht nur das Resultat eines „ chemischen Unfalls “ . Ihre Wurzeln liegen in karmischen Gegebenheiten der betreffenden Individualität bzw. sie sind Folgen des während des vorgeburtlichen Lebens in der geistigen Welt gefassten Entschlusses. Dies vorausgesetzt, wird man die Frage ihrer Behandlung anders angehen, als dies heute üblich ist. Würde ich als Mutter ein Embryo abtreiben wollen, von dem ich weiß, dass es Trisomie 21 hat, wenn ich ebenfalls weiß, dass die sich in dieses Embryo inkarnierende Individualität diesen Leib und diese Existenz will, und sich gleichsam an mich mit der Bitte wendet (indem ich schwanger geworden bin), diese Existenz zu ermöglichen? Die Einsicht in die Reinkarnation wirft selbstverständlich auch ein völlig neuartiges Licht auf die Frage der Anwendung von lebenserhaltenden Maßnahmen am Ende des Lebens. Wir haben bereits gesehen, dass Menschen mit Nahtoderfahrung die Angst vor dem Tod verlieren. Sie wissen, dass es ein Leben „ auf der anderen Seite “ gibt, und zwar ein unvergleichlich schöneres Leben als auf der Erde. Ist man von der Wirklichkeit der Inkarnation überzeugt, so verliert man die Angst vor dem Tod gleichsam doppelt: Man weiß nicht nur, dass es ein Leben im „ Jenseits “ gibt, sondern auch, dass es noch mehrere irdische Leben geben wird, in denen man die Gelegenheit haben wird, zu vervollständigen, was in diesem Leben bruchstückhaft geblieben ist. Würde ein von der Wirklichkeit des Lebens nach dem Tod und der Inkarnation überzeugter Mensch sein Leben mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, „ koste es, was es wolle “ , verlängern wollen? Die Antwort auf diese Frage ist ein klares Nein. Die verzweifelte Versuche mancher, ihr Leben um ein paar Monate mit Medikamenten zu verlängern, die Hunderttausende Franken, Euros oder Dollars kosten, entspringen der Angst vor dem Nichts nach dem Tode. Man stelle sich vor, was es für die Welt bedeuten würde, wenn diese Angst verschwände. In den ärmsten Ländern dieser Welt könnten für $ 350 000, die die Behandlung eines Gehirntumors einer amerikanischen Frau unter 65 im letzten Lebensjahr kostet (Malakoff 2011, S. 1547), etwa 1000 Menschen ein Jahr lang ernährt werden. (2014 schätzte die Welt- 1438 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse bank, dass 2010 ca. 1,22 Milliarden Menschen von $ 1,25 pro Tag oder weniger und 2,4 Milliarden von $ 2 pro Tag oder weniger lebten. 554 ) Ist ein amerikanisches Leben wirklich so viel wert wie 1000 afrikanische Leben? Wir leben aber in einer Zeit voller Widersprüche. Denn während einige Menschen verbittert darum kämpfen, ihr Leben um ein paar Monate zu verlängern, gibt es auf der anderen Seite immer mehr Menschen, die sich entschließen, aus dem Leben zu scheiden, weil sie z. B. unter unerträglichen Schmerzen leiden, keine Perspektive auf Genesung von einer schweren Krankheit sehen oder einfach „ lebensmüde “ sind. Die Zahl dieser Menschen könnte in Zukunft zunehmen, da angesichts der Überalterung der Bevölkerung in vielen entwickelten Ländern der soziale Druck entweder seitens der Familien oder der Staaten auf alte Menschen steigen dürfte, den jüngeren „ Platz zu machen “ . Ein vorzeitiges Aussteigen aus dem Leben macht auch durchaus Sinn, wenn man davon ausgeht, dass einen nach dem Tod einfach nichts erwartet. Wenn man weiß, dass es ein Leben nach dem Tod und Reinkarnation gibt, sieht es völlig anders aus. Denn ein Selbstmord ist ein Verstoß gegen die kosmische Führung der Menschheit, oder in religiösen Begriffen gesprochen: gegen die göttliche Vorsehung. Die Götter wissen besser als der Mensch in seiner alltäglichen Bewusstseinslage, wie lange und weshalb er so lange am Leben bleiben soll. Sich ihren Absichten zu entziehen (aber auch eigenen, denn das wahre Selbst des Menschen lebt in vollkommener Harmonie mit den Göttern), muss Folgen haben, und zwar sowohl für das Leben nach dem Tod als auch für die künftigen Inkarnationen. Wer Selbstmord begeht, wird im Leben nach dem Tod eine außergewöhnlichen Durst, ja eine Gier nach dem physischen Leib empfinden (GA93a, S. 95; GA94, S. 63f.) und in seiner nächsten Inkarnation keinen Halt finden und in ihr nicht zurechtkommen (GA72, S. 219). Aus der Reinkarnationsperspektive „ lohnt “ es sich nicht, Selbstmord zu verüben, weshalb Steiner feststellt: „ Und wenn einmal Geisteswissenschaft wirklich in die Empfindungen der Menschen übergegangen sein wird, wird es keinen Selbstmord mehr geben “ (GA175, S. 64). Dies mag eine unangenehme Wahrheit für diejenigen sein, die im Stillen hoffen, dass „ Exit &Co. “ wesentlich dazu beitragen werden, das Problem der Überalterung der Gesellschaft zu lösen, aber eine Wahrheit ist es nichtsdestotrotz. Auch für die Neonatologie ergeben sich schwerwiegende Konsequenzen. Bekanntlich ist es inzwischen möglich, extrem früh geborene Kinder (bereits in der 23. Schwangerschaftswoche, in der das Kind lediglich ca. 500 Gramm wiegt) am Leben zu erhalten. Dies verlangt jedoch den Einsatz komplexer Geräte (z. B. Beatmungsgeräte, da das so früh geborene Kind nicht selbstständig atmen kann) über längere Zeit und ist mit dem Risiko schwerer Behinderungen verbunden. Wie die Behandlung von tödlich erkrankten 554 http: / / www.worldbank.org/ en/ topic/ poverty/ overview (heruntergeladen am 11. 4. 2014). 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1439 Patienten bzw. Patienten im vegetativen Zustand stellt auch die Behandlung von extrem früh geborenen Kindern sowohl die Eltern als auch die Ärzte vor schwierigen ethischen Entscheidungen: Soll man alles Mögliche tun, um das Leben des Kindes zu retten und zu verlängern, und ihm dabei Leid zufügen und eine schwere Behinderung in Kauf nehmen, oder soll man ein solches Kind sterben lassen? Interessanterweise sind sich auch die Vertreter verschiedener Religionen uneinig, was das Richtige in dieser Situation ist. Die römisch-katholische Kirche spricht von einer klaren Tendenz, Lebensschutz vor die Lebensqualität zu stellen, die evangelisch-reformierte Kirche hingegen sieht Grenzen des medizinischen Eingriffs: Wenn er zu großes Leid verursacht, sollte er unterlassen werden. Aus jüdischer Perspektive wiederum steht im Vordergrund, dass ein Mensch, sobald er geboren ist, ein vollwertiger Mensch ist, dem man deshalb mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln helfen müsse. 555 Aus der Reinkarnationsperspektive der Geisteswissenschaft ergibt sich eine neue Dimension des Problems, welche die Entscheidungsfindung allerdings nicht vereinfacht, sondern eher noch komplizierter macht: der Gesichtspunkt des Kindes. Denn man muss berücksichtigen, dass es durchaus denkbar ist, dass das frühgeborene Kind bzw. die geistige Individualität, welche sich in einem solchen Kind inkarniert, nur die Erfahrung der Schwangerschaft durchmachen und in das spätere Leben - aus welchen Gründen auch immer - gar nicht eintreten wollte. Diese Sicht der Frühgeburt wird übrigens durch die Tatsache bestätigt, dass die Erfahrung der Neonatologieärzte lehrt, dass frühgeborene Kinder, die man aus unterschiedlichen Gründen sterben lässt, ohne Kampf sterben. Sie sterben friedlich, undramatisch, sie „ entschweben “ , wie Hans Ulrich Bucher, bis vor kurzem Chefarzt der Klinik für Neonatologie am Universitätspital Zürich, sagt. 556 Das Leben des Kindes um jeden Preis erhalten zu wollen, hieße also, diese Individualität ins Leben hineinzuzwingen, das von ihr gewünschte Schicksal zu durchkreuzen. Aus der geisteswissenschaftlichen Perspektive ist aber auch denkbar, dass die sich inkarnierende Individualität das irdische Leben um jeden Preis will, unabhängig davon, wie eingeschränkt dieses Leben später sein mag. Um in dieser Situation die richtige Entscheidung zu treffen, müsste man also nicht nur mit den Ärzten und den Eltern des Kindes, sondern mit der Individualität des Kindes sprechen. In den allermeisten Fällen fehlen uns jedoch immer noch die Möglichkeiten für einen solchen Dialog. Auch die Behandlung von Krankheiten, die nicht existentiell bedrohlich sind, wird sich durch den Eingang der Einsichten der Geisteswissenschaft in die Gemeinkultur entscheidend ändern. Wir haben bereits vermerkt, dass 555 http: / / www.srf.ch/ sendungen/ blickpunkt-religion/ aufgehuebscht-das-neue-klostermuseum-muri (heruntergeladen am 13. 4. 2014). 556 http: / / www.srf.ch/ sendungen/ kontext/ ethische-grenzen-in-der-medizinischen-behan dlung-fruehstgeborener (heruntergeladen am 16. 4. 2104). 1440 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse chemische Düngungsmittel eine Art Droge für den Ackerboden sind, die kurzfristig wirkt, langfristig aber zerstört. Ähnliches lässt sich über die chemischen Medikamente der heutigen Pharmazie sagen. Die Philosophie, die sich hinter ihrer Herstellung verbirgt, blendet selbstverständlich völlig die Rolle der höheren Wesensglieder des Menschen (Ätherleib, Astralleib) und deren Störung bei der Entstehung von Krankheiten aus und konzentriert sich ausschließlich auf ihren sinnlich wahrnehmbaren physischen Aspekt. Diese Philosophie missachtet ebenso selbstverständlich die mögliche Wirkung der kosmischen geistigen Kräfte im Heilungsprozess. Anders verhält sich die Situation im Fall der Homöopathie und der anthroposophischen Medizin. Homöopathische Arzneien wirken mehr oder weniger unbewusst, die Arzneien der anthroposophischen Medizin vollbewusst mit für die materialistisch-chemisch-mechanische Medizin unsichtbaren und deshalb inexistenten Faktoren. Es ist unmöglich, hier auf die Einzelheiten der Gründe der Wirksamkeit spezifischer homöopathischen bzw. anthroposophischen Arzneien einzugehen, 557 nur kurz sei aber darauf hingewiesen, dass die geisteswissenschaftlichen Einsichten die sonst völlig rätselhafte Wirksamkeit der homöopathisch verdünnten Präparate und Medikamente erklärlich machen. Aus Sicht der heutigen Chemie sind solche Präparate bloßes Wasser, denn der Anteil der Wirksubstanz in ihnen ist vernachlässigbar klein (z. B. bezeichnet die Potenz D8 die Verdünnung einer Substanz von 1 : 10 8 , was in etwa einem Tropfen in 5 m 3 Lösungsmittel entspricht; die Potenz D24 bezeichnet die Verdünnung einer Substanz von 1 : 10 24 , was ungefähr einem Tropfen bezogen auf das Volumen des Atlantiks entspricht). Der springende Punkt ist aber, dass man überhaupt nicht mit Substanzen heilt, sondern mit den sich im Wasser (oder in einem anderen Lösungsmittel) befindlichen Lebensbzw. Ätherkräften. Wasser (Flüssigkeit) ist ein Medium, das eine besonders günstige Umgebung für die Entfaltung der Wirksamkeit der Ätherkräfte bietet. 558 Diese Kräfte werden von spezifischen, bei der Herstellung der Arzneien verwendeten Substanzen gerade in ihrer höherer Verdünnung angeregt bzw. geformt und können dann auf die Ätherkräfte des menschlichen oder tierischen Organismus wirken, indem sie zur Aktivität stimulieren. Diese Aktivität ist es dann, der sich die heilende Wirkung des Präparats verdankt. Spezifische Rätsel enträtselt Wir haben im Kapitel „ Offene Fragen, Rätsel und Probleme der ‚ Mainstream ‘ - Naturwissenschaft “ zahlreiche „ Baustellen “ der modernen Wissenschaft besichtigt. Ich möchte im Folgenden den Versuch wagen, zumindest einige von ihnen im Licht der Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft zu „ abzuräumen “ . 557 Vgl. aber zunächst Steiner und Wegman 1925 (GA27). 558 Mehr darüber weiter unten. 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1441 Naturgesetze und eine Spinne im Badezimmer Im Abschnitt „ Tiefere Rätsel des naturwissenschaftlichen Paradigmas “ haben wir konstatiert, dass der Status der sog. Naturgesetze unklar ist. Dass gewisse Regelmäßigkeiten in der uns umgebenden Natur vorhanden sind, ist unbestritten. Sie gelten jedoch als unveränderlich, und dies ist rätselhaft. Hume nahm an, dass jegliches induktive Denken lediglich auf Gewohnheit basiert und künftige Veränderungen der beobachteten Regelmäßigkeiten „ einkalkulieren “ muss. Der Begriff des Naturgesetzes scheint aber deutlich mehr als nur eine gewohnheitsmäßige Regelmäßigkeit zu verlangen. Die Einsicht, dass die Natur nicht bloß eine Sammlung abstrakter Naturgesetzmäßigkeiten (und ihrer Folgen), sondern ein Kosmos geistiger, mit Bewusstsein und Willen begabter Wesenheiten ist, kann hier Abhilfe verschaffen. Die sog. Naturgesetzmäßigkeiten erweisen sich dann als Gedanken solcher Wesen (GA54, S. 344; GA93a, S. 218). Diese Idee mag zunächst absurd erscheinen, gelten uns doch unsere Mitmenschen gerade wegen ihres freien Willens als unberechenbar, wechselhaft, ja launisch. Die Naturgesetze sind aber offensichtlich alles andere als das. Man muss jedoch an dieser Stelle groß genug denken. Stellen wir uns vor, dass in einem Badezimmer ohne Fenster eine Spinne wohnt, die wissenschaftlich beobachten und denken kann. Stellen wir uns ferner vor, dass der Wohnungsinhaber einen sehr regelmäßigen Lebensstil pflegt, ein wenig nach dem Vorbild Immanuel Kants, von dem bekanntlich erzählt wird, dass seine Spaziergänge so regelmäßig waren, dass man nach ihnen die Uhr stellen konnte. Stellen wir uns ferner vor, dass der Wohnungsinhaber sein Badezimmer regelmäßig um 7 Uhr morgens betritt, das Licht anschaltet und es nach einer zehnminütiger Toilette wieder verlässt und dabei das Licht löscht. Dieselbe Prozedur wiederholt sich am Abend. Nach einer gewissen Zeit wird die Spinne gelernt haben, dass in ihrem Universum ein Naturgesetz herrscht, dass die Sonne immer um 7 Uhr morgens aufgeht und nach 10 Minuten wieder untergeht, wobei sie am Abend abermals auf und wieder untergeht. Da nun die Lebensspanne unserer Spinne bedeutend kürzer als die Lebensspanne des Wohnungsinhabers ist, wird die Spinne den Eindruck haben, dass ihr Naturgesetz ewig gilt. Sie wird wahrscheinlich nie merken, dass z. B. mit dem fortschreitenden Alter des Wohnungsinhabers seine Aufenthalte im Badezimmer allmählich ein wenig länger werden. Wenn es der Spinne oder vielleicht ihre Urururenkelin aber auffällt, wird sie eine komplizierte Theorie zur Erklärung dieses Phänomens aufstellen, z. B. annehmen, dass ihr Universum kleiner wird, weshalb die gleiche Menge Licht für längere Zeit ausreicht, und das einzig deshalb, weil der Wohnungsinhaber für die Spinne keine Realität ist. Aus der dunklen Ecke des Badezimmers, in der sie haust, sieht sie ihn nie, und selbst wenn sie ihn sehen würde, könnte sie mit ihm nichts anfangen, denn er überragt sie mit seinen Dimensionen so weit, dass sie ihn eher für einen riesigen Berg halten würde als für eine Person, die willentliche Handlungen ausführt. Wir 1442 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse begegnen diesem Problem tagtäglich, ohne es zu merken, weil wir die Welt aus unserer Perspektive betrachten. Eine einfache Reflexion sollte jedoch ausreichen, um zu erkennen, dass ein Mensch für eine Ameise, eine Fliege, eine Biene, eine Schnecke keine willensbegabte Person, sondern ein riesiger Berg oder auch nur ein riesiger Schatten ist. Ebenso scheint es mir möglich, dass in unserem Universum Wesenheiten leben, die unsere Vorstellungen so weit übersteigen, dass wir sie nicht als willensbegabte Personen zu erkennen vermögen, sondern nur als Sonnen oder gar Sonnensysteme und ihre Taten als unsere Naturgesetze. Wer diesem Gedankenexperiment folgt, wird die Idee weniger absurd finden, dass etwa die Ursachen, weshalb sich die Planeten unseres Sonnensystems um die Sonne oder der Mond um die Erde bewegt, keine abstrakte „ Naturgesetzmäßigkeiten “ sind, welche durch irgendeinen blinden Zufall zustande kamen, sondern der Willen und die Intentionen von Wesenheiten. Dann wird man es vielleicht auch einleuchtender finden, dass solche Phänomene wie z. B. die Umlaufzeiten der Planeten um die Sonne bzw. der Monde um die Planeten nicht zufällig sind, sondern den Intentionen von geistigen Wesenheiten entsprechen. In seiner Beschreibung der Wechsels zwischen der Nacht- und der Tageszeit während der frühen Stadien der Entwicklung unserer Erde drückte Rudolf Steiner diese wichtige Einsicht folgendermaßen aus: Man darf sich nun allerdings nicht denken, daß in jener Urzeit die Bewegung der Erde um die Sonne schon der gegenwärtigen ähnlich war. Es waren die Verhältnisse noch ganz anders. Es ist aber auch nützlich, schon hier zu ahnen, daß die Bewegungen der Himmelskörper als Folge der Beziehungen entstehen, welche die sie bewohnenden geistigen Wesen zueinander haben. Die Himmelskörper werden durch geistig-seelische Ursachen in solche Lagen und Bewegungen gebracht, daß im Physischen die geistigen Zustände sich ausleben können. (GA13, S. 226f.) Das sog. Naturgesetz ist also nichts anderes als Ausdruck des Willens und der Intention, letztendlich eine Tat der hohen geistigen Wesenheiten, der Götter. Deshalb muss man aus der Sicht der Geisteswissenschaft sagen, dass sich die wahre Erkenntnis der Natur nicht mit der Bestimmung der sog. Naturgesetze zufrieden geben kann. Sie muss über diese hinaus zur Erkenntnis der geistigen Wesenheiten fortschreiten, welche sich durch diese Gesetze offenbaren: Naturgesetze sind [. . .] nur errechnet. Sie sind gut dafür, daß wir sie technisch verwenden können; sie sind gut dazu, Maschinen machen zu können, wie wir die Menschen versichern können nach Versicherungsgesetzen; aber in das Wesen der Dinge führen sie nicht hinein. In das Wesen der Dinge führt nur das wirkliche Erkennen der Wesenheiten selber hinein. (GA234, S. 58) Daraus ergibt sich des Weiteren, dass unser Leib kein Automat ist, der nach bestimmten „ Naturgesetzen “ mechanisch „ funktioniert “ , sondern dass er in allen seinen „ Funktionen “ durch hohe geistige Wesenheiten unterhalten 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1443 wird. Unser Kosmos wird durch diese Wesenheiten aber nicht komplizierter, sondern reicher. Machen wir uns dies vollends klar, wird sich ein Gefühl grenzenloser Bewunderung und tiefer Dankbarkeit diesen Wesenheiten gegenüber einstellen. Denn wir sind auf diese Dienste unbedingt angewiesen: Atmung, Blutzirkulation, Verdauung, Bewegungsapparat, Schlaf oder die Fähigkeit, Hände und Beine, Zähne und Zunge zu bewegen, wir verdanken all dies und viel mehr nicht abstrakten Naturgesetzen, sondern den uns liebevoll umsorgenden geistigen Wesenheiten, unseren geistigen Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Es ist zutiefst befriedigend, diese grenzenlose Schuld anzuerkennen, und sich unseren treuen Pflegern mit Dankbarkeit zuzuwenden. Da die sog. „ Naturgesetze “ den Willen der göttlich-geistigen Wesenheiten widerspiegeln, ist auch verständlich, dass sich die „ Naturgesetze “ verändern können, obwohl sich diese Veränderungen in sehr großen Zeiträumen abspielen (GA112, S. 193). Diese Einsicht hat weitestgehende Folgen für unser Weltbild. Denn bekanntlich basieren die Theorien der heutigen Wissenschaft z. B. über den Verlauf der Evolution der Lebewesen auf der Erde oder die Entstehung des Universums nach dem Urknall auf wichtigen Annahmen bezüglich der Länge der Zeiträume, die diesen Entwicklungen „ zur Verfügung “ stehen. Diese wiederum stützen sich auf die Annahme der Konstanz der entsprechenden Naturgesetze, z. B. der Halbwertszeit von 14 C für die Beurteilung des Alters von organischem oder der Halbwertszeit anderer chemischer Elemente für die Beurteilung des Alters von anorganischem Material. Sind diese Annahmen falsch, so wäre auch das Alter bestimmter Versteinerungen, ja der ganzen Erde oder des Universums falsch bestimmt. Sollte sich das Universum oder die Erde etwa als viel jünger erweisen, als heute angenommen wird, 559 erwüchsen daraus z. B. für die Darwin ’ sche Evolutionstheorie ernste Schwierigkeiten, weil die Mechanismen, welche sie für die Entstehung der Gattungen anführt, sehr lange Zeiträume brauchen, um wirksam zu sein. Ich werde jedoch diese Problematik hier nicht weiter verfolgen. Einige „ kosmische “ Rätsel Betrachten wir jetzt einige der im Abschnitt „ Empirische Rätsel der Naturwissenschaft “ diskutierten offenen empirischen Fragen der Naturwissenschaft. 1) Das Rätsel der Verschiedenheit der Planeten unseres Sonnensystems Für die heutige Astronomie ist rätselhaft, warum die Planeten unseres Sonnensystems extrem unterschiedliche Beschaffenheiten aufweisen, denn 559 Ich bin keinesfalls ein Verfechter der „ jungen Erde “ der Kreationisten. Aber zwischen 10.000 und 4,5 Milliarden Jahren gibt es viele Möglichkeiten. 1444 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse diese Unterschiede scheinen unnötig zu sein und sind unter der heute herrschenden Annahme einer gemeinsamen Entstehung aller Planeten aus einer einheitlichen Molekülwolke (Urwolke) überdies schwer zu erklären. Diese Unterschiede werden aber verständlich, sobald man einsieht, dass die verschiedenen Planeten Wohnorte unterschiedlichen Gruppen von geistigen Wesenheiten sind. Diese Wesenheiten gestalten ihren jeweiligen Wohnort nach ihren Bedürfnissen aus, und da ihre Bedürfnisse aufgrund ihrer unterschiedlichen Beschaffenheit unterschiedlich sind, ergeben sich auch Unterschiede in der physischen Struktur ihres „ Heims “ . Die Erklärung der genauen Gründe für die spezifischen Eigenschaften konkreter Planeten muss der künftigen geisteswissenschaftlichen Forschung überlassen werden. 2) Das Rätsel der Ähnlichkeit des Mondes und der Erde Wir haben im selben Abschnitt gesehen, dass sich die heutige Astronomie zugleich mit einem Problem konfrontiert sieht, das dem obigen gewissermaßen entgegengesetzt ist: der Ähnlichkeit von Mond und Erde. Auch dieses Rätsel lässt sich leicht im Licht der Geisteswissenschaft lösen. Im vorigen Kapitel habe ich geschildert, dass der Mond aus der Erde ausgetreten ist, oder genauer gesagt: durch bestimmte geistige Wesenheiten von der Erde abgetrennt wurde, um die weitere Evolution des Menschen, welche zu einem Stillstand zu kommen drohte, zu ermöglichen. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist es selbstverständlich, dass die Beschaffenheit der beiden Himmelskörper sehr ähnlich ist. Die Hypothese der Kollision der Erde mit einem etwa marsgroßen Himmelskörper (gewöhnlich „ Theia “ genannt) erweist sich somit als hinfällig. 3) Sonnenkorona Ein weiteres Rätsel stellt die überraschend heiße Sonnenkorona dar. Auch dieses lässt sich aus der Sicht der Geisteswissenschaft verhältnismäßig einfach lösen. Die Sonne ist viel mehr als jene Gaskugel, die sich die heutige Wissenschaft zum Gegenstand ihrer Forschung macht. Auch sie ist ein „ Wohnort “ bzw. eine „ Kolonie “ von geistigen Wesen einer bestimmten Art. Der physische Planet bzw. Stern ist gleichwohl nicht alles, was zu dieser „ Kolonie “ gehört, vielmehr erstreckt sich der Bereich der Wirksamkeit der jeweiligen Wesen weit über den jeweiligen physischen Körper hinaus. Er ist eine große Sphäre, deren Mittelpunkt durch den physischen Körper gekennzeichnet ist. Diese Perspektive ermöglicht die Einsicht, dass sich die Wirkungen der geistigen Wesenheiten, welche auf der „ Sonne “ ihren „ Wohnsitz “ haben, nicht vom Mittelpunkt der Sonne in die Peripherie, sondern vielmehr von der Peripherie aus nach außen, aber auch nach innen verbreiten. Dies wiederum macht verständlich, dass die Sonnenkorona so heiß ist, obschon dort scheinbar keine Energiequelle vorhanden ist: Tatsächlich gibt es eine solche Quelle, sie ist aber rein geistiger Natur. Diese Energie, oder besser 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1445 gesagt: diese geistige Wirksamkeit, entspricht der Substanz des alten Saturns, die wir als „ Wärme “ bezeichnet haben und von der wir gesagt haben, dass sie nicht leuchtend war. Die Entdeckung der heißen Sonnenkorona kommt also der Entdeckung der geistigen Wirksamkeiten im Kosmos gleicht, die jedoch bis heute nicht als solche gedeutet wurde. 4) Dunkle Energie Ein weiteres tiefes Rätsel der heutigen Astronomie ist die sog. dunkle Energie. Nicht viel ist bis heute über die Eigenschaften dieser am Ende des letzten Jahrhunderts entdeckten Form der Energie bekannt, außer, dass sie im Gegensatz zur Gravitation abstoßende, nicht anziehende Wirkung auf die Materie ausübt, was die durch sie bewirkte zunehmende Ausdehnung des Universums erklärlich macht (oder machen soll). Interessanterweise hat Rudolf Steiner bereits 1920 und 1921 von Wirkungen gesprochen, die der Gravitation polar entgegengesetzt sind. Er bezeichnete sie als „ Saugwirkungen “ , im Gegensatz zu den „ Druckwirkungen “ der gewöhnlichen Materie. Er beschrieb diese Saugwirkungen als eine der Grundeigenschaften der ätherischen Kräfte (neben ihrer Kerneigenschaft, das Leben zu erzeugen und aufrechtzuerhalten). Ich füge dieser Betrachtung einige Zitate aus den entsprechenden Vorträgen bei, da die Materie sehr brisant und der genaue Wortlaut von Steiners Ausführungen besonders wichtig ist: Also, materiell darf der Äther nicht vorgestellt werden. Ja, aber dasjenige, was wir hier finden als jenseits der Wärmewirkungen, wohinein dann auch schon die Lichtwirkungen gehören, das dürfen wir so wenig materiell vorstellen, daß wir die heutige Eigenschaft des Materiellen, die Druckwirkung, nicht mehr drinnen finden, sondern nur Saugwirkungen. Das heißt, wir gehen aus dem Gebiet der ponderablen Materie hinaus und kommen in ein Gebiet, welches natürlich überall sich geltend macht, das aber entgegengesetzt sich offenbart dem Gebiet des Materiellen; das wir nur durch Saugwirkungen, die von jedem Punkt des Raumes ausgehen, vorstellen können, während wir das Materielle selbstverständlich als Druckwirkungen vorstellen. (Stuttgart, 11. 3. 1920, in GA321, S. 170f.) Diejenigen, die bei diesem vorigen Kurs, dem Kurs über Wärmelehre, dabei waren, werden sich vielleicht erinnern, daß ich darauf hingewiesen habe, daß wir eigentlich, wenn wir die Wärmeerscheinungen verfolgen im Zusammenhang mit den anderen Erscheinungen des Weltenalls, genötigt sind den Äther, von dem man gewöhnlich hypothetisch spricht, in konkreter Weise zu fassen, indem wir einfach in unsere Formeln, die wir haben, dann, wenn wir für die ponderable Materie einsetzen den Druck, die Druckkraft, für den Äther die Saugkraft einsetzen müssen. Mit anderen Worten: Wenn wir die Intensität der Kraft in der ponderablen Materie mit plus einsetzen, müssen wir die Intensität im Äther mit minus einsetzen. (Stuttgart, 8. 1. 1921, in GA323, S. 160) Diese Dinge zeigen uns innerhalb der Materie selbst die Notwendigkeit, in der Charakteristik der Kräfte von dem Positiven ins Negative einzutreten. Jetzt sehen wir merkwürdigerweise, wie wir im Planetensystem selber von dem Positiven, von der Gravitation, ins Negative, in die Rückstoßkraft eintreten müssen. (Ebd., S. 161) 1446 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Ist es möglich, dass die Entdeckung der „ dunklen Energie “ die Entdeckung der Ätherkräfte und ihrer Wirksamkeit im Kosmos ist? Die „ Saugwirkung “ der ätherischen Kräfte ermöglicht es übrigens, das von mir im Abschnitt „ Empirische Rätsel der Naturwissenschaft “ als die „ dümmste Frage “ bezeichnete Rätsel zu lösen: Wieso wächst das Gras nach oben? Ich habe damals auf den „ Widerspruch “ aufmerksam gemacht, dass Gras nach oben strebt, obwohl es weich und biegsam ist. Vorausgesetzt dass die Quelle der in der Natur wirkenden ätherischen Kräfte die Sonne ist und dass diese Kräfte „ Saugwirkung “ haben, löst sich das Rätsel auf: Die ätherischen Kräfte der Sonne können gerade die weichsten und leichtesten Substanzen am besten zu sich ziehen ( „ ansaugen “ ), was bewirkt, dass das Gras Richtung Sonne wächst. In ähnlicher Weise kann man selbstverständlich auch die Tatsache erklären, dass Pflanzen allgemein nach oben wachsen. Dies ist nicht nur und nicht vor allem dadurch bedingt, dass sie sich einen „ evolutionären Vorteil “ verschaffen wollen. Sie wollen nicht auf Kosten ihrer Nachbarn Zugang zu möglichst viel Sonnenenergie ergattern, sondern werden von der Sonne (liebevoll) angezogen. Gruppenverhalten der Tiere Gehen wir jetzt von der Betrachtung einiger Rätsel der Astronomie zu irdischen Problemen über. Wir haben im Abschnitt „ Empirische Rätsel der Naturwissenschaft “ gesehen, dass das Gruppenverhalten der Tiere, und insbesondere das koordinierte Verhalten von mehreren Tausenden Individuen in großen Vogel- oder Fischschwärmen schwierig zu erklären ist. Dieses Rätsel lässt sich leicht im Licht der Geisteswissenschaft lösen. Geisteswissenschaftliche Forschung zeigt nämlich, dass derartiges Verhalten nicht von den uns sinnlich zugänglichen einzelnen Exemplaren des Schwarms koordiniert wird, sondern von Entitäten, die man als Gruppenseelen der Tiere bezeichnen kann. Diese Entitäten, die dem menschlichen Ich entsprechen, jedoch nicht im physischen Leib inkarniert sind, sondern sich in der an die sinnliche Welt angrenzenden geistigen Welt aufhalten, kontrollieren die einzelnen Exemplare der Gattung etwa so wie das menschliche Ich die Bewegungen der Gliedmaße. Rudolf Steiner beschreibt die hier in Frage kommenden Verhältnisse einmal bildhaft folgendermaßen: Denken Sie sich einmal, Sie ergänzen gewissermaßen Ihren Leib. Binden Sie sich an jeden Finger Ihrer Hände einen Faden, also zehn Fäden an, und am Ende eines jeden Fadens eine Kugel in einer gewissen Ferne, die vielleicht sogar mit allerlei Figuren bemalt ist. Dann haben Sie also zehn solche Schnüre. Nun eignen Sie sich ein furchtbar behendes Spiel Ihrer Finger an, so daß sie alle möglichen Bewegungen machen. Und jetzt machen Sie das auch mit Ihren Zehen. An jede Zehe binden Sie sich einen Faden an, am Ende eines jeden Fadens eine Kugel mit Figuren. Und jetzt gewöhnen Sie sich, so geschickt zu springen und die Zehen so geschickt zu bewegen, dass etwas ganz Wunderbares entsteht aus dieser Form. Jeder Finger ist 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1447 viel länger und hat am Ende solch eine Kugel, die Figuren hat, und jede Ihrer Zehen hat das auch. Denken Sie sich, Sie sehen das nun mit Ihrer menschlichen Gestalt verbunden. Ihre Seele beherrscht das alles. Jede Kugel ist ein Einzelnes, aber in dem Augenblick, wo man das alles anschaut, glaubt man, das gehöre alles dazu. Sie sind nicht so verbunden mit allen diesen Kugeln und Schnüren wie mit Ihren Fingern und Zehen. Aber Sie beherrschen das alles. Das ist alles eine Einheit. Wenn Sie anfangen, das so zu beherrschen, wie ich es erzählt habe, so sehen Sie da oben die Löwenseele, und die einzelnen Löwen, die hängen so daran wie die Kugeln. Das ist eine Einheit. Vorher, wenn Sie die zwanzig Kugeln da liegen haben und schauen die zwanzig Kugeln an, dann ist das eine Welt für sich. Nun kommen Sie und fügen den Menschen dazu, fügen die ganze innere Beweglichkeit dazu - da wird es etwas ganz Neues. So ist es mit Ihrer Anschauung. Sie sehen da die Löwen einzeln herumgehen. Das ist so wie die Kugeln, die da herumgehen. Jetzt sehen Sie hin auf die selbstbewußte Löwenseele, die ja so wie ein Mensch ist in der geistigen Welt, und die einzelnen Löwen sehen Sie wie aufgefangen in den Kugeln, sehen da überall aus dem Selbstbewußtsein des Löwen die einzelnen Löwen herauskommen. Sie sind aufgestiegen zu einer ganz neuen Wesenheit. Und so steigen Sie für alles im Tierreich auf zu ganz neuen Wesenheiten. Die Tiere haben auch so etwas wie Menschen an sich, Seelenhaftes, aber das ist nicht in der Welt, in der der Mensch sein Seelenhaftes hat. Wenn Sie durch die Welt gehen, dann tragen Sie ganz aufdringlich auf der Erde Ihre Seele herum mit dem Selbstbewußtsein. Jedem Menschen können Sie Ihr Selbstbewußtsein an den Kopf werfen. Das kann der Löwe nicht. Aber da gibt es eine zweite Welt. Die grenzt an diese Welt, wo wir unser Selbstbewußtsein jedem Menschen an den Kopf werfen. Aber da droben, da tun das die Löwenseelen. Für die sind die einzelnen Löwen nur solche torkelnden Kugeln. (GA243, S. 41f.) Dank der Einsicht in die Existenz der Gruppenseelen der Tiere lassen sich auch solch rätselhafte Phänomene erklären wie das ungewöhnlich intelligente Verhalten einiger Vögel (allen voran der Krähen), die nur über ein sehr kleines Gehirn verfügen, oder auch die seltsame Vorahnungen von Tieren (z. B. die Weigerung der Elefanten vor dem Sumatra-Andamanen-Tsunami 2004, sich der Küste zu nähern, oder das seit dem Altertum bekannte Phänomen, dass Schlangen oder Ratten sich aus erdbebengefährdeten Orten zurückziehen [Mott 2003]). Nicht die individuellen Exemplare der Gattung verfügen über ungewöhnlich hohe Intelligenz oder ahnen katastrophale Ereignisse vorher, sondern die Gruppenseelen haben Einsicht in die geistige Entwicklungen und können somit im Voraus „ sehen “ , dass sich eine Katastrophe anbahnt. Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, dass es möglich ist, die künftigen Entwicklungen der Erde (in groben Umrissen) vorauszusagen, weil sie in der geistigen Welt präformiert sind, lange bevor sie physisch auftreten, so wie auch Ereignisse des künftigen Lebens eines Menschen in der geistigen Welt wegen seiner karmischen Vergangenheit beobachtet werden können, lange bevor sie sich in der physischen Welt vollziehen. Man muss davon ausgehen, dass die Gruppenseele der Tiere Zugang zu einer derartigen „ Vorschau “ hat und entsprechend handeln kann, indem sie etwa die durch 1448 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse das sich anbahnende Naturereignis betroffenen Exemplare der Gattung zum Aufsuchen nicht bedrohter Orte animiert. Die Einsicht, dass die Tiere wesentlich anders konstituiert sind als der Mensch, ermöglicht es, das Verhältnis zwischen dem Menschen und den Tieren klarer zu verstehen. Im Gegensatz zu den Menschen, deren Individualität im physischen Leib inkarniert ist, erreichen Tiere ihre Individualität erst in der geistigen Welt. Wir haben gesehen, dass sich in den naturwissenschaftlichen Zeitschriften seit längerer Zeit der Brauch eingebürgert hat, vom „ Menschen und anderen Tieren “ oder von „ Menschen und anderen Säugetieren “ zu sprechen, ein Brauch, der selbstverständlich nichts anderes als eine logische Konsequenz der Darwin ’ schen Evolutionstheorie ist. Sie lässt nämlich bloß graduelle, keine qualitativen Unterschiede zwischen dem Menschen und den Tieren zu. In letzter Zeit beobachtet man auch das verstärkte Bestreben, die Behandlung der Tiere in wissenschaftlichen Experimenten zu verbessern, was auch aus Sicht der Geisteswissenschaft sehr lobenswert ist. Solche Bestrebungen gehen jedoch manchmal so weit, dass sie die Sonderstellung des Menschen in Frage stellen, was uns in die Erklärungsnot bringt, weshalb wir es als berechtigt empfinden, eine Kuh zu schlachten, ohne dass der Schlachter sich des Mordes schuldig macht. So behauptete z. B. die Philosophin Hilal Sezgin, Autorin des Buches Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Sezgin 2014) in einer in der Schweiz ausgestrahlten Radiosendung: Was wir im Grunde immer noch haben trotz Darwin, obwohl wir offiziell nicht mehr glauben, dass wir die Krone der Schöpfung sind, ist die Vorstellung, dass wir ganz oben sind, die Evolution ist zu uns hochgekrochen. Das ist nicht so, und selbst wenn, dann gibt uns dies nicht mehr Recht, gibt uns nicht willkürliche Herrschaftsgewalt über alle anderen. 560 Die Tatsache, dass für ein Individuum bzw. für die Gruppenseele einer Tierart der Verlust eines physischen Exemplars keineswegs das Ende der Inkarnation ist (diese träte erst mit der Ausrottung einer Tierart ein), sondern nur dem Verlust einer an einem Finger befestigten Kugel gleicht, macht den qualitativen Unterschied zwischen dem Töten eines Tieres und dem Töten eines Menschen überdeutlich. Diese Überlegung sollte selbstverständlich nicht als ein Plädoyer für das wahllose Schlachten und Ausrottung von Tieren oder gegen die Verbesserung der Behandlung der Tieren in der Landwirtschaft, in der Wissenschaft oder im Alltag verstanden werden. Solche Verbesserung sind auch aus der geisteswissenschaftlichen Sicht sehr zu begrüßen. Vulkanausbrüche und Erdbeben Die Einsicht, dass Naturereignisse im Geiste „ präformiert “ sind, ermöglicht es auch, die Ursachen solcher Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Vulkan- 560 http: / / www.srf.ch/ sendungen/ blickpunkt-religion (heruntergeladen am 14. 4. 2014). 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1449 ausbrüche anders zu bewerten, als dies heute üblich ist. Geisteswissenschaftliche Forschung zeigt auf, dass derartige Ereignisse nicht nur mit der Bewegung der Erdkruste bzw. mit der punktuellen Erhöhung des Drucks innerhalb der flüssigen Magmamasse im Innern der Erde, sondern auch und vor allem mit den Taten der Menschen auf der Erde zusammenhängen. Die physischen Veränderungen, die gemeinhin als Ursachen der Erdbeben, Vulkanausbrüche usw. interpretiert werden, erweisen sich als bloße Folgeereignisse, deren wahre Ursachen im menschlichen Verhalten zu suchen sind. Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, dass der lemurische Kontinent in einer gewaltigen Feuerkatastrophe zerstört wurde, welche durch die Einwirkung der verirrten bzw. verführten menschlichen Willenskräfte auf die Naturkräfte verursacht wurde. Wir haben ebenfalls gesehen, dass der Untergang von Atlantis in einer riesigen Wasserkatastrophe (in der „ Sintflut “ ) eine Folge der moralischen Verfehlungen der Menschheit war. Obwohl sich seit jener Zeit die Verhältnisse in der Naturwelt wesentlich verändert haben und sich insbesondere die Erde wesentlich gefestigt hat, bleibt der Einfluss der menschlichen moralischen und unmoralischen Taten auf die Erde bestehen: Der Wille wirkt eben auf die Feuerschicht. So besteht ein Zusammenhang zwischen dem Inneren des Menschen und dem Inneren der Erde. [. . .] Wenn nun heute ganz bestimmte böse Willensimpulse zusammenwirken, dann wirken sie auf die Feuerschicht, und es kann dann sein, daß sich die Erschütterung der Feuerschicht fortsetzt auf die Wasserschicht, und durch die anderen Schichten hindurch, bis zur obersten. Dadurch kommen Erdbeben, Vulkaneruptionen, Seebeben und so weiter zum Ausbruch. (GA94, S. 182) Interessanterweise enthüllt sich der geisteswissenschaftlichen Forschung auch, dass solche Ereignisse in den vom Materialismus geprägten Epochen der menschlichen Entwicklung stark zunehmen. 561 Ich habe die Angaben über größere Erdbeben (über 6,0 auf der Richterskala), welche im Internet zugänglich sind 562 von 1900 bis 2012 ausgewertet und festgestellt, dass zwischen 1900 bis 1959 die Zahl solcher Ereignisse im Durchschnitt ca. 14 pro Jahr betrug. Von 1960 bis 2000 lag sie bei ca. 20 bis 22 Ereignissen pro Jahr. 2001 lag sie bei 14, dann sprang sie 2002 auf 28, 2003 auf 31 und blieb bei fast 30 Erdbeben pro Jahr bis zum Ende dieser Periode, mit Ausnahme von 2005 (21 Erdbeben) und 2006 (20 Erdbeben). Die Zahl solcher starker Beben nahm schließlich ab 2010 drastisch ab (2010: 12; 2011: 9; 2012: 5). Man muss diese Angaben selbstverständlich mit Vorsicht genießen, denn vermutlich wurden am Anfang des 20. Jahrhunderts nicht alle stärkeren Erdbeben registriert. Dennoch ist die Zunahme solcher Ereignisse in den letzten Jahren auffallend und die Koinzidenz von vielen sehr starken und in ihren Auswirkungen besonders 561 „ Insbesondere die materialistischen Epochen sind begleitet und gefolgt von Erdkatastrophen, Erdbeben und so weiter “ (GA94, S. 110). 562 http: / / earthquake.usgs.gov/ earthquakes/ world/ historical.php/ ; http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_20th-century_earthquakes (heruntergeladen am 15. 4. 2014). 1450 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse zerstörerischen Erdbeben innerhalb von nur einigen wenigen Jahren ist wohl in der neueren Geschichte einmalig: Erdbeben und Tsunami im Indischen Ozean am 26. 12. 2004 (9,1 auf der Richterskala; 230.000 Tote), Erdbeben in Sichuan, China, am 12. 5. 2008 (7,9; 87.000 Tote), Erdbeben auf Haiti am 12. 1. 2010 (7,0; 316.000 Tote), Erdbeben in Tohoku, Japan (welches das Atomkraftwerk Fukushima zerstörte) und Tsunami vom 11. 3. 2011 (9,0; 20.000 Tote), Erdbeben im Indischen Ozean in der Nähe von Aceh am 11. 4. 2012 (8,6; einige wenige Tote). Wenn die materialistische Ausrichtung des Menschen das Auftreten von Erdbeben und Vulkanausbrüchen zur Folge hat, dann müsste man erwarten, dass eine spirituelle Wende solche Ereignisse verhindert: Gereinigt vom Egoismus kann der menschliche Wille im Gegenteil [die Feuerschicht der Erde] besänftigen. [. . .] Eine stärkere Befolgung der fortschreitenden Entwickelung ist die einzige Alchimie, die nach und nach den Organismus und die Seele der Erde verwandeln könnte. (GA94, S. 111) Klimaerwärmung Diese Vermutung bestätigt sich in einem anderen Bereich, der zunächst mit Erdbeben nichts zu tun zu haben scheint: dem der Klimaerwärmung. Wissenschaftler stellten fest, dass die Durchschnittstemperatur der Erdoberfläche in der Dekade 2000 - 2010 mehr oder weniger konstant blieb, obschon der Ausstoß an Treibhausgasen in diesem Zeitraum weiter stieg. Die Wissenschaft entwickelte allerlei Theorien, um dieses rätselhafte Phänomen zu erklären, bis jetzt gibt es aber keinen Konsens darüber, wie es zu deuten ist (Doyle 2013). Eine Erklärung führt es auf eine zusätzliche Wärmeaufnahme durch die Ozeane zurück (Guemas et al. 2013; Kintisch 2014). 563 Dagegen zeigen die Forschungsresultate der Geisteswissenschaft, dass die Leidenschaften und Begierden der Menschen nicht nur Vulkanausbrüche und Erdbeben hervorrufen, sondern generell mit dem Feuer, mit der Wärme zusammenhängen. [Gwst] zeigt, wie Leidenschaften und Begierden in ähnlicher Weise mit dem Feuer zusammenhängen wie der positive und der negative Pol eines Magneten: die 563 Die Diskussion um das Problem der Verlangsamung der Erderwärmung ist selbstverständlich noch lange nicht abgeschlossen. So ist z. B. Ende April 2014 in Science ein Artikel erschienen, in welchem behauptet wird, dass diese (angebliche) Verlangsamung mehr oder weniger ein Mess- und Datenverarbeitungsfehler sei ( „ Major climate data sets have underestimated the rate of global warming in the last 15 years owing largely to poor data in the Arctic, the planet ’ s fastest warming region. A dearth of temperature stations there is one culprit; another is a data-smoothing algorithm that has been improperly tuning down temperatures there. The findings come from an unlikely source: a crystallographer and graduate student working on the temperature analyses in their spare time “ (Kintisch 2014 a). 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1451 Leidenschaften sind der eine Pol und das physische Feuer der andere, sie gehören aber zusammen. (GA54, S. 380) Es ist deshalb naheliegend zu vermuten, dass das „ Anheizen “ der egoistischen Leidenschaften und Begierden Folgen im Bereich der Wärmeschicht der Erde haben wird. Und es scheint mir unbestreitbar, dass solche egoistischen Leidenschaften und Begierden zumindest einer der treibenden Faktoren hinter der maßlosen Steigerung des Konsums sind, der wiederum die industrielle Produktion anheizt. Aus dieser Perspektive betrachtet wäre die Klimaerwärmung (die für mich eine unbestrittene Tatsache ist) zwar tatsächlich eine Folge der menschlichen Aktivität, aber nicht nur und vielleicht sogar nicht jener Aktivität, die zur Zunahme des Anteils des Kohlenstoffdioxids (CO 2 ) in der Atmosphäre führt, sondern gewisser seelischer Entwicklungen innerhalb der Menschheit. 1997 wurde das sog. Kyoto-Protokoll unterschrieben, das zum ersten Mal in der Geschichte völkerrechtlich verbindliche Zielwerte für den Ausstoß von Treibhausgasen festlegte, die bekanntlich für die hauptsächliche Ursache der Klimaerwärmung gehalten werden. Dieses Abkommen trat am 16. 2. 2005 in Kraft und wurde bis heute von 191 Staaten und von der Europäischen Union ratifiziert. Man kann diese Bekundung der Staatengemeinschaft der ganzen Welt (mit der bedeutenden Ausnahme der USA) als ein Zeichen des Willens zur Überwindung des rücksichtslosen Egoismus gegenüber der Erde werten. Dann ließe sich die in der letzten Dekade beobachtete Unterbrechung im Anstieg der Durchschnittstemperatur der Erdoberfläche als eine Reaktion des geistigen Erdorganismus auf die willkommene Absichtserklärung dieses Protokolls deuten. 564 In starkem Gegensatz zum oben skizzierten Zeitgeist des Egoismus implizieren die geisteswissenschaftlichen Einsichten eine schonende Lebensweise. Denn ein Mensch, der Einsicht in die geistigen Hintergründe der Welt hat, ist grundsätzlich nicht dazu geneigt, sein Leben an Geldgewinn und Konsum zu orientieren. Andere Werte, vor allem die Herstellung eines harmonischen Verhältnisses zwischen den geistigen Mächten und der menschlichen Gemeinschaft auf der Erde, stehen für ihn im Vordergrund. Die Ausbreitung einer solchen Lebenshaltung wird über die langfristige Überlebenschance der Menschheit entscheiden. Morphogenese Gehen wir jetzt von der Betrachtung der Makrozur Mikrowelt über. Wir haben in den Exkursen „ Können Gene die Leistungen erbringen, die ihnen zugeschrieben werden? “ und „ Können Proteine die Leistungen erbringen, 564 Ich muss hier wiederum anmerken, dass ich mich in den obigen Überlegungen weder auf die geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Rudolf Steiners noch die von Robert Walter stütze. Beiden war das Phänomen nicht bekannt (Rudolf Steiner starb 1925, Robert Walter 1981); sie konnten folglich keine Stellung dazu nehmen. 1452 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse die ihnen zugeschrieben werden? “ gesehen, dass die heutigen Erklärungen des Mechanismus der Morphogenese und der Wirksamkeit der Proteine mangelhaft sind. Gene können die Synthese von Proteinen (der Bausteine des Organismus), nicht aber von Organen und ganzen Organismen (des „ Hauses “ ) erklären. Die heutige Biologie will diese elementare und einfache Tatsache immer noch nicht wahrhaben. Die Funktion der Proteine ist bei genauem Hinschauen aus ihrer tertiären Struktur nicht erklärlich. Dieser Eindruck verdankt sich allein der Tatsache, dass die Proteine immer dort und dann beobachtet werden, wo und wenn sich die Effekte, die ihnen zugeschrieben werden, einstellen. Aber Korrelation ist nicht Verursachung, die Anwesenheit „ am richtigen Ort zur richtigen Zeit “ allein berechtigt uns nicht dazu, kausale Schlüsse zu ziehen. Können wir uns sicher sein, dass wir alles, was sich an einem gegebenen Ort zu einer gegebenen Zeit befindet, beobachtet haben? Die Astronomie brauchte ungefähr dreihundert Jahre, bis sie die Beobachtung machte, dass neben der Gravitation auch eine Art Antigravitation ( „ dunkle Energie “ ) im Universum vorhanden ist. Können wir mit Sicherheit ausschließen, dass wir in einhundert, zweihundert, dreihundert Jahren Wirkungsfaktoren beobachten werden, die uns heute unwahrnehmbar sind und die sich wie die Proteine „ zur richtigen Zeit am richtigen Ort “ befinden? Wir sind glücklicherweise nicht dazu verurteilt, noch Jahrhunderte warten zu müssen, bis uns die für das Verständnis der Rolle der Proteine und der wahren Mechanismen der Morphogenese nötigen Beobachtungen zur Verfügung stehen. Diese liegen nämlich der Geisteswissenschaft bereits heute vor. Unter Berücksichtigung ihrer Forschungsresultate ergibt sich ein völlig anderes Bild dieser Phänomene als jenes, das die orthodoxe Biologie entwirft. Ich habe im Exkurs „ Können Proteine die Leistungen erbringen . . . “ darauf aufmerksam gemacht, dass bei der Methode der Röntgenstrukturanalyse das untersuchte Protein nur in einer kristallinen Form bestrahlt werden kann. Dies hat zur Folge, dass man es bei den nachfolgenden Untersuchungen ihrer Funktionsweise nicht mit lebendigen Proteinen, sondern mit ihren Leichnamen zu tun hat. Das Leben wurde aus ihnen herausgetrieben, es bleibt eine starre Struktur übrig. Rudolf Steiner betonte mehrmals, dass die moderne Wissenschaft mit ihren Methoden nicht imstande ist, das Lebendige zu begreifen, dass ihr ausschließlich die Sphäre des Mineralischen, des Toten zur Verfügung steht, denn das Lebendige kann in seiner Eigenständigkeit nur mit den übersinnlichen Erkenntnismethoden, angefangen mit der Imagination, erforscht werden (z. B. GA54, S. 121; GA93a, S. 133). 565 Insbesondere wenn man die immer noch wenig erforschte Rolle des Wassers im Prozess 565 Vgl. z. B. diese prägnante Stelle: „ Die Wissenschaft will das Tier und die Pflanze ohne das Leben betrachten. Auch der größte Gelehrte ist heute nicht weiter, als dass er das Leben mit seinem Gefühl begreifen kann. Erst das imaginative Verstehen befähigt ihn, ins Leben hineinzuschauen “ (GA93a, S. 133). Vgl. auch z. B. GA54, S. 121; GA93, S. 160; GA162, S. 223f.; GA326, S. 67f.; GA335, S. 212 usw. 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1453 der Faltung der Proteine zu ihren charakteristischen Konformationen berücksichtigt, auf die ich im Exkurs aufmerksam gemacht habe, und bedenkt, dass in dem sich im lebenden Organismus befindenden Wasser stets Ätherkräfte wirksam sind (GA212, S. 57), 566 wird einem einsichtig, dass das Spiel der Kräfte zwischen den einzelnen Atomen des Proteins nur ein Element des Prozesses sein kann, der zur Bildung bestimmter Konformationen führt. Die Wissenschaftler beobachten, was sie beobachten können: den Stoff, und sie vernachlässigen gezwungenermaßen den Beitrag, den die Kräfte und Wirksamkeiten leisten, die sich ihrer Beobachtungsmethoden entziehen, weshalb sie aus dem Beobachteten höchst unplausible und unberechtigte Schlüsse ziehen, nämlich hier, dass die Konformationen aus der chemischen Zusammensetzung der Proteine resultieren. Ich habe in dem genannten Exkurs auf einen Artikel von Henzler- Wildman und Kern aufmerksam gemacht, der unterstreicht, dass Proteine keineswegs in ihrer in den Lehrbüchern abgebildeten Form verharren, sondern im Gegenteil permanent in Bewegung sind: Physicists, however, will object to a static picture: they see proteins as soft materials that sample a large ensemble of conformations around the average structure as a result of thermal energy. [. . .] To understand proteins in action, the fourth dimension, time, must be added to the snapshots of proteins frozen in crystal forms. (Henzler-Wildman und Kern 2007, S. 964) Ich habe damals geschrieben, dass die Berücksichtigung der zeitlichen Dynamik der Konformationen der Proteine, insbesondere in ihrer Wechselwirkung mit dem sie umgebenden wässrigen Medium, eine erste wesentliche Ergänzung des gängigen Bildes des Wesens dieser Substanzen bilden würde, und gefragt, wohin diese Ergänzung führen würde. Jetzt lässt sich diese Frage beantworten: Eine solche Ergänzung würde die Wissenschaftler näher an die Wirksamkeit der ätherischen Kräfte rücken. Erwartungsgemäß hoffen die Forscher, dass die Berücksichtigung der zeitlichen Dynamik der Proteine die Antworten auf die offenen Fragen in Bezug auf ihre Leistungen liefern wird. Wenn man sich diese Dynamik der Hauptakteure der Zelle zu dem bis jetzt Beobachteten hinzudenkt, wird das Rätselhafte zweifelsohne verständlicher. Aber auch dann verschwindet es nicht vollständig. Und somit kommen wir zu einer zweiten und entscheidenden Ergänzung des gängigen Bildes. Wir haben in dem genannten Exkurs gesehen, dass die Form des Werkzeuges keineswegs seine Funktion erklärlich macht; sie macht lediglich verständlich, warum bestimmte Werkzeuge 566 Vgl. z. B. diese Stelle: „ Sobald wir an den flüssigen Organismus herankommen, hat er gar nicht die Möglichkeit, etwa bloß sich so zu bewegen, wie sich Wasserwellen draußen bewegen, sondern der bewegt sich so, dass sein Bewegungsspiel ein Abbild ist dessen, was im Ätherleib des Menschen vor sich geht “ (GA212, S. 57). 1454 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse bestimmte Aufgaben erfüllen können. Es ist jedoch der Mensch, der sich der Werkzeuge für die Erfüllung bestimmter Aufgaben bedient, und es sind nicht die Werkzeuge selbst, die diese Funktionen quasi autark ausführen. Die Menschen sind die Akteure, nicht die Werkzeuge. Muss man sich die Verhältnisse in der Zelle nicht ähnlich denken? Die äußerst komplexen Aufgaben, die in der Zelle zu bewältigen sind, sind durch die wie auch immer komplex geformten Moleküle nicht allein zu bewältigen. Diese Moleküle sind bloß halb sichtbare Werkzeuge der wahren Akteure, die sich unserem naturwissenschaftlich forschenden Blick völlig entziehen. Steiner hat einmal die Probleme, welche sich bei unseren Versuchen ergeben, Einsicht in die Wirksamkeiten unseres Organismus (im konkreten Fall der Zellen) zu gewinnen, in ein prägnantes Bild gefasst. Abb. 30: GA194, S. 14. (Abgedruckt mit Genehmigung des Rudolf Steiner Verlag) Man muss sich das Verhältnis zwischen unserem Haupt mit seinem Bewusstsein und dem übrigen Leib so vorstellen, dass das Haupt, das zur vierten Stufe der Entwicklung gehört, wie eine kleine Insel aus dem Meer des übrigen Organismus, der zur achten Stufe der Entwicklung gehört, herausragt. Was ist damit gemeint? Ich habe im vorigen Kapitel dargestellt, dass der Mensch durch vier Entwicklungsstufen hindurchgegangen ist: Saturn, Sonne, Mond 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1455 und Erde. Er hat während dieser Entwicklung sein Bewusstsein von einer Stufe, die unterhalb der des Tiefschlafes liegt und die man als tiefe Trance bezeichnen kann (Saturn), bis zu dem gegenwärtigen gegenständlichen Wachbewusstsein gesteigert. Der menschliche Leib wurde aber durch die Geister der Form (Exusiai) geschaffen, die vier Entwicklungsstufen über dem Menschen (zwischen dem Menschen und ihnen befinden sich die Engel, der Erzengel und die Archai) und bereits heute auf der achten Entwicklungsstufe stehen (sie haben ihre Entwicklung vor dem alten Saturn begonnen). Sie befinden sich also auf einer höheren Entwicklungsstufe als der des „ Planeten “ (Vulkan), die uns derzeit als die letzte Entwicklungsstufe des Menschen erkennbar ist (GA194, S. 12f.). Wenn man sich den Unterschied zwischen der Entwicklungsstufe des Menschen auf dem alten Saturn (eine Art Stern aus Wärme) und dem gegenwärtigen Grad seiner Vollkommenheit vor Augen hält, dann kann man sich eine Vorstellung davon machen, was vier Entwicklungsstufen bedeuten, und folglich auch davon, wie unermesslich höher als der Mensch die Geister der Form, die Schöpfer seines irdischen Leibes, entwickelt sind. Wenn man sich wiederum den Grad ihrer Vollkommenheit und Weisheit zumindest annähernd vor Augen führt, dann ist man nicht mehr verwundert, dass man im Organismus Strukturen und Prozesse findet, deren Perfektion die Erkenntnismöglichkeiten menschlicher Intelligenz bei weitem übertrifft. Wenn man Forschungsberichte etwa aus dem Bereich subzellulärer Prozesse liest, ist man von Bewunderung und Dankbarkeit überwältigt, denn man hat den Eindruck, Einblick in das Wirken der Götter zu gewinnen. Man empfindet dabei keine Neigung, die beobachteten Prozesse oder Leistungen den Proteinen oder anderen in der Zelle zur Sichtbarkeit kommenden Strukturen zuzuschreiben. Man sieht sofort ein: Diese sind nur die sichtbaren Werkzeuge der unsichtbaren geistigen Wesenheiten. Ich habe in jenem Exkurs auch argumentiert, dass unsere heutigen wissenschaftlichen Erklärungen der Wirksamkeit der Proteine den Erklärungen der alten Griechen ähneln, die die Funktionsweise eines Laptops mithilfe ihrer Götter zu verstehen versucht hätten, mit dem Unterschied, dass heute der leblose Mechanismus als letzte Erklärungsinstanz fungiert. Diese Beobachtung ist keine Neuentdeckung. Bereits 1912 hat Rudolf Steiner mit der für ihn so charakteristischen Schärfe des Blickes auf diese Eigenschaft der modernen Kultur aufmerksam gemacht: Man richte den Blick hin auf die Kultur [. . .], so kann man sagen: Alles ist mechanisiert; und angebetet wird in Wahrheit heute innerhalb unserer materialistischen Kultur eigentlich nur der Mechanismus, wenn auch die Leute es nicht Gebete nennen und wenn sie auch nicht Frömmigkeit nennen. Aber die Seelenkräfte, wie man sie einst hingelenkt hat zu den geistigen Wesenheiten, sie lenkt man heute zu den Maschinen, zu den Mechanismen hin, widmet ihnen die Aufmerksamkeit, wie man sie einst, wirklich man kann sagen, den Göttern gewidmet hat. So ist es namentlich in bezug auf die Wissenschaft, diese Wissenschaft, die gar nicht weiß, wie wenig sie wirklich auf der einen Seite mit der 1456 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Wahrheit, mit der wirklichen Wahrheit zu tun hat, und andererseits, wie wenig sie mit wirklicher Logik zu tun hat. (GA139, S. 190) Die heutige Wissenschaft betet den Mechanismus an, mechanistische Betrachtungsweise eignet sich jedoch nur für die Erklärung der Funktionsweise von Mechanismen, Maschinen, sie versagt völlig bei der Erklärung von Lebewesen, geschweige denn von beseelten Lebewesen. Proteine und Morphogenese Resümierend kann man sagen, dass sich das in der heutigen Wissenschaft allgemein akzeptierte Standardmodell der Funktion der Proteine im Organismus als der Hauptakteure des zellulären Geschehens bei genauer Analyse als eine Verwechslung der wahren Akteure mit den von ihnen bewirkten Effekten darstellt, als Fehlschluss von einer Korrelation, der Anwesenheit von Proteinen bei gewissen Prozessen, auf die Ursächlichkeit dieser Moleküle für die beobachteten Veränderungen. Diese Sicht hat selbstverständlich weitgehende Folgen für das Verständnis aller organischen Prozesse. Im gegenwärtigen Kontext von besonderer Bedeutung ist, dass sie die Adäquatheit der für die gängige Interpretation der Morphogenese und der Evolution der Lebewesen und insbesondere des Menschen so zentrale Annahme radikal in Frage stellt, dass die in der DNS enthaltene Information, welche die Grundlage der Synthese der organismuseigenen Proteine bietet, ausreichend für die Steuerung der Prozesse der Morphogenese und der Funktionen des Organismus sei. Immerhin aber hat uns die moderne materialistische Wissenschaft, indem sie mit ihren imposanten Forschungsinstrumenten und -methoden das Wunder der subzellulären Wirklichkeit offenlegt, an den Punkt geführt, an dem die Wirksamkeiten der Kräfte und Wesen, die mittels dieser Methoden nicht sichtbar gemacht werden können, gleichsam mit Händen greifbar sind. Das Erforschte und Beobachtete wirft Fragen auf, auf welche die Antworten des gängigen Paradigmas unbefriedigend und unzureichend sind. Rupert Sheldrake wurde sich dieser Unzulänglichkeit der Antworten der gegenwärtigen Biologie auf die Fragen der Morphogenese bereits in den 70er Jahren bewusst. Er versuchte auf sie eine Antwort zu geben, indem er, zum Entsetzen der wissenschaftlichen Gemeinschaft, die Existenz von „ morphogenetischen Feldern “ postulierte. Aber auch diese können uns eigentlich nicht befriedigen. Die dringenden Fragen der Biologie können nur beantwortet werden, wenn die gängigen Erklärungsmuster um die Einsicht in die Wirksamkeit geistiger Wesenheiten ergänzt werden, welche sich, dem gewöhnlichen Bewusstsein unsichtbar, an den uns im gewöhnlichen Bewusstsein zugänglichen Phänomenen beteiligen. Es bestätigt sich somit die tiefe Weisheit eines Bildes, mit dem Steiner das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Geisteswissenschaft verdeutlichte: So wie ein Tunnel gewöhnlich gleichzeitig von zwei entgegengesetzten Seiten gebohrt wird, so sollen auch die Naturwissenschaft und die Geisteswissenschaft ihre Arbeit von zwei entgegen- 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1457 gesetzten Seiten anfangen, um sich in der Mitte zu treffen und so den Erfolg des Unternehmens zu ermöglichen. 567 Wissenschaft braucht die Ergänzung ihrer Forschung durch die Geisteswissenschaft, um die Fragen, die sie stellt, befriedigend beantworten zu können. An dieser Stelle werden viele Befürworter des materialistischen Erklärungsparadigmas sicherlich erwidern: Was für ein Unsinn, diese postulierte geistige Wesenheiten! Wir sind doch bereits heute imstande, Organe im Labor zu züchten, und in Zukunft werden wir sicherlich noch komplexere züchten können, und dies alles ohne jegliche Beteiligung irgendwelcher „ geistiger Wesen “ ! Tatsächlich ist es gelungen, gewisse Organe im Labor zu züchten. 568 Gerade heute, da ich diese Worte schreibe, berichtete BBC, dass vier Frauen in den Vereinigten Staaten Vaginen implantiert wurden, die im Labor hergestellt wurden (Gallaher 2014; Raya-Rivera et al. 2014). Dies muss aus einer bestimmten Perspektive betrachtet zweifelsohne als wichtiger Erfolg der regenerativen Medizin bewertet werden. Können wir uns aber sicher sein, dass dieser Erfolg „ ohne jegliche Beteiligung irgendwelcher geistigen Wesen “ zustande kam? Was wir beobachten können, ist, dass ein 3D-Gerüst des Organs anhand von Scans der Beckenregion für jede Frau hergestellt wurde. Daraufhin wurde eine kleine Gewebeprobe aus der schwach entwickelten Vulva entnommen und im Labor gezüchtet, bis eine große Ansammlung von Zellen der richtigen Art vorhanden war. Dann wurden Muskelzellen auf der Außenseite des Gerüsts und vaginale Belagzellen an der Innenseite angebracht. Schließlich wurden die Vaginen sorgfältig in einem Bioreaktor gezüchtet, bis sie chirurgisch in die Patientinnen implantiert werden konnten. Können wir uns aber sicher sein, dass dies tatsächlich alles war, was während des ganzen Prozesses passiert ist? Stellen wir uns eine einfache Frage: Was ist notwendig, damit aus einem befruchteten Hühnerei ein Küken schlüpft? Nicht viel eigentlich: Ein wenig Wärme genügt, selbst die Henne ist dazu nicht notwendig. Es reicht völlig, das Ei in einen Brutapparat zu legen, in dem die geeignete Temperatur (37 - 39°C) herrscht, und nach etwa drei Wochen wird aus dem Ei das Küken schlüpfen. Das ist Alltag, und hier braucht man wirklich keine Zauberei und keine „ geistige Wesenheiten “ . Ist das wirklich so einfach? Machen wir ein einfaches Gedankenexperiment: Wir legen in den Brutapparat statt eines ganzen befruchteten Eis lediglich seinen Inhalt: das Eiweiß mit dem Eigelb. Was wird daraus nach drei Wochen? Ein Küken? Eher nicht, wahrscheinlich lediglich ein ziemlich abgestandenes Rührei. Dieses Gedankenexperiment zeigt, dass der Eindruck, dass das befruchtete Ei lediglich Wärme braucht, um ein Küken hervorzaubern zu können, doch täuscht. Es braucht noch etwas. Aber was? Woran liegt es, dass aus einer Substanz, welche sich in einer 567 Vgl. z. B. GA30, S. 390; GA72, S. 130; GA73, S. 54; GA167, S. 129, 181 usw. 568 Z. B. Leber (Uygun et al. 2010), Nieren (Song et al. 2013), Herz (Maher 2013), sogar Teile des Gehirns (Lancaster et al. 2013). 1458 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse geschlossenen Eierschale befindet, ein Küken, und aus der gleichen Substanz, die sich ohne Schale in einem Behälter befindet, bloß ein Rührei entsteht? Ich möchte vorschlagen, dass der Unterschied darin liegt, dass auf das unbeschädigte Hühnerei geistige Kräfte (geistige Wesenheiten) aus der kosmischen Peripherie wirken, welche dafür sorgen, dass aus dieser Substanz eben ein Küken entsteht. Dass aber diese Kräfte ihre Aufgabe nicht erfüllen können (aus welchem Grund auch immer), wenn sich die identische Substanz in einem offenen Behälter befindet. Wir haben diese Wirkungen zunächst vernachlässigt, weil sie unsichtbar sind und zuverlässig immer wirken, wenn die geeigneten Bedingungen gegeben sind. Ich möchte hier an das Bild des Anzündens eines Feuers, das ich im Exkurs „ Können Proteine. . . “ gebraucht habe, erinnern. Die Menschheit brauchte Jahrtausende, bis man realisierte, dass eine Substanz, die wir als Sauerstoff kennen, zwingend notwendig ist, um Feuer zu entfachen. Seine Rolle blieb so lange unbekannt, weil dieses Gas einerseits für die Sinnesorgane nicht wahrzunehmen ist, andererseits immer dort vorhanden ist, wo der Mensch versucht, Feuer zu entfachen. Diese Überlegungen lassen sich einfach auf die Herstellung künstlicher Organe im Labor übertragen. Es ist eine Illusion zu meinen, dass es ausreichend ist, eine geeignete Substanz in einen Bioreaktor zu legen. Das Wachstum dieser Substanzen (Zellkulturen) wird nicht vom Bioreaktor besorgt, sondern von den geistigen Wesenheiten, welche auch in einem Bioreaktor wirksam sein können. Es muss nicht eigens erläutert werden, dass ebensolche geistigen Kräfte und Wesenheiten auf das sich in der Gebärmutter einer Frau entwickelnde Embryo wirken. Es würde aus einer Zygote nach neun Monaten nie und nimmer ein Kind entstehen, wenn diese Kräfte nicht zuverlässig wirken würden. Ein neugeborenes Kind ist kein Produkt eines mechanisch ablaufenden, materiellen Prozesses, es ist ein Wunder, ein jedes Mal neues und erstaunliches Kunstwerk der Götter. Eine schwangere Frau befindet sich wortwörtlich in einem gebenedeiten, begnadeten Zustand: In ihr sind die Götter besonders aktiv. Vererbung, genetische Information und ihre Rolle, Zwillinge Die um die geistige Perspektive erweiterte Sicht der Morphogenese steht selbstverständlich in keinem Konflikt mit den Tatsachen der Vererbung. Die sich inkarnierende Individualität wie auch die diese Inkarnation leiblich vorbereitenden geistigen Wesenheiten haben ein ganz bestimmtes, von ganz bestimmten Eltern (bzw. Spendern) zur Verfügung gestelltes physisches Material, und sie müssen das Beste unter gegebenen Umständen daraus machen. Da die leibliche Grundlage der sich inkarnierenden Person nur einen gewissen Spielraum für die aus der Peripherie wirkenden geistig-seelischen Einflüsse lässt, ähnelt das Kind den Eltern, obschon auch innerhalb einer Familie die Unterschiede oft frappierend sind: Einige Kinder sehen fast wie kleine Kopien der Mutter oder des Vaters aus, bei anderen lässt sich eine 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1459 solche Ähnlichkeit kaum erkennen. Manchmal kann man die Bemühung der sich inkarnierenden Individualität, das von den Eltern vererbte Material eigenen Bedürfnissen anzupassen, förmlich mit den Augen sehen. Direkt nach der Geburt meines ersten Sohnes, bei welcher ich anwesend war, bemerkte ich, dass seine Ohrläppchen, genau wie es meine sind, ein wenig spitz waren. Als ich am nächsten Tag meine Frau und meinen neugeborenen Sohn im Krankenhaus wieder besuchte, stellte ich mit Erstaunen fest, dass die Ohrläppchen meines Sohnes ihre Spitzen verloren hatten und rund waren. Die Arbeit der Individualität am vererbten Leib ist besonders auffällig im Fall von eineiigen Zwillingen. Das physische Material ist für beide Personen identisch, und aus diesem identischen Material lassen sich zunächst nur zwei fast identische Kopien ausgestalten. Interessanterweise passiert es aber regelmäßig, dass sich die beiden Zwillinge mit der Zeit in Bezug auf ihr physisches Aussehen voneinander entfernen, und zwar auch dann, wenn sie in der gleichen Familie verbleiben. In meiner langen „ Karriere “ als Lehrer hatte ich mehrmals mit eineiigen Zwillingspaaren zu tun. Bei einigen konnte ich die beiden bereits in einer der ersten Klassen voneinander unterscheiden. Ich kann mich aber an ein besonderes Paar erinnern, bei dem ich die beiden Mädchen erst in der achten Klasse deutlich auseinanderhalten konnte. Die Individualität gestaltet das ihr zur Verfügung gestellte Material noch lange nach der Geburt. Die von den Eltern zur Verfügung gestellte Substanz entspricht übrigens oft nicht den Bedürfnissen der sich inkarnierenden Individualität, weshalb sie manchmal nicht imstande ist, ihr geistig-seelisches Potential voll zu entfalten. Heilsame Kraft des Schlafes Betrachten wir jetzt ein Rätsel, das irgendwo in der Mitte zwischen Makro- und Mikrowelt steht: die erfrischende, lebenserhaltende Wirkung des Schlafes. Dass der Schlaf für den Menschen lebensnotwendig ist, steht außer Zweifel. Wir wissen auch sehr gut, dass Schlaf hilfreich ist, um Erinnerungen und handwerkliche und musikalische Fertigkeiten zu festigen. Warum dies so ist, bleibt aber, wie wir im Abschnitt „ Empirische Rätsel der Naturwissenschaft “ gesehen haben, rätselhaft, obschon in letzter Zeit gewisse naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse auftauchten, welche konkrete konstruktive Funktionen des Schlafs identifiziert haben. So zeigt sich z. B., dass während des Schlafes Abfallprodukte des Gehirnstoffwechsels aus dem Zwischenraum zwischen Gehirnzellen, wo sie sich während des Wachens anreichern, entfernt werden. Eine Funktion des Schlafes könnte daher darin bestehen, potentiell toxische Metaboliten, die Ergebnisse der Gehirnaktivität sind, vom Gehirngewebe zu entfernen (Xie et al. 2013). Ein anderer Befund deutet darauf hin, dass das Gehirn im Schlaf sogar erneuert wird. Bellesi et al. haben festgestellt, dass Hunderte von Gentranskripten, welche in Oligodendrozyten übersetzt werden, im Wachen und Schlafen differentiell exprimiert 1460 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse werden. Dabei werden Gene, die an der Phospholipidsynthese, Myelinisierung oder an der Vermehrung von Oligodenrozyten-Vorläuferzellen (OPC) beteiligt sind, präferentiell während des Schlafes transkribiert, während Gene, die in Verbindung mit Apoptose, zellulärer Stress-Reaktion und OPC-Differenzierung stehen, präferentiell während des Wachens transkribiert werden (Bellesi et al. 2013). Schließlich zeigt sich auch, dass der Mangel an Schlaf negative Folgen für die genetische Aktivität im Gehirn hat (Möller- Levet et al. 2013). Wir wissen also immer mehr darüber, dass der Schlaf nicht nur irgendwie allgemein der Ermüdung entgegenwirkt, sondern ganz bestimmte lebensfördernde physiologische Funktionen im Organismus ermöglicht. Wir wissen aber weiterhin eigentlich nicht, wieso er diese Fähigkeit hat. Betrachtet man den schlafenden Menschen mit den Erkenntnismitteln der Geisteswissenschaft, löst sich das Rätsel. Dann zeigt sich nämlich einerseits, wieso Menschen und Tiere den Schlaf brauchen, andererseits, worin genau die erfrischende Wirkung des Schlafes besteht. Was die erste Frage betrifft, so ist zu sagen, dass jegliche Bewusstseinsprozesse zerstörerisch auf den ätherisch-physischen Organismus des Menschen (aber auch der Tiere) wirken. Sie stützen sich auf die Abbauprozesse im Nervensystem (GA27, S. 17). 569 Diese das Nervensystem abbauende Wirkung des Bewusstseins ist besonders charakteristisch für die Bewusstseinsseele, die sich, wie wir gesehen haben, vornehmlich in der heutigen Zeit entwickelt, die aber nur dem Menschen, nicht den Tieren zukommt: „ Und die Art und Weise, wie die Bewußtseinsseele das Materielle und das Ätherische im Menschen verzehrt, ist eine Art intimer Feuerprozeß, ein Verwandlungsprozeß “ (GA346, S. 76). Dass das Bewusstsein das Gehirn zerstört, wird auch von der neuesten neurobiologischen Forschung nachgewiesen. So haben z. B. Möller-Levet et al. festgestellt, dass 711 Gene (sic! ) durch Schlafmangel beeinträchtigt wurden. Die betroffenen Gene werden mit zirkadianen Rhythmen, Schlaf-Homöostase, oxidativem Stress und Stoffwechsel in Verbindung gebracht (Möller-Levet et al. 2013). Die Forscher folgerten, dass zu den biologischen Prozessen, welche von Schlafdeprivation betroffen sind, Chromatinmodifizierung, Genexpressionsregulation, makromolekulare Stoffwechsel sowie Entzündungs-, Immun- und Stressreaktionen gehören. Es hat sich vor kurzem überdies herausgestellt, dass schon eine verhältnismäßig wenig anstrengende mentale Aktivität wie die Erkundung einer neuen Umgebung bei Mäusen eine erhebliche Anzahl von DNA-Doppelstrangbrüchen (DSB) im neuronalen Genom verursachen kann (Suberbielle et al. 2013). Was die förderliche Wirkung des Schlafes betrifft, so lässt sie sich aus geisteswissenschaftlicher Perspektive damit erklären, dass das seelisch-geistige Paar des Menschen, sein Astralleib mit dem Ich, im Schlaf den im Bett liegenden Leib verlassen und sich außerhalb seiner aufhalten kann (vgl. das 569 Vgl. auch z. B. GA67, S. 126f.; GA146, S. 80; GA162, S. 21; GA169, S. 85; GA185, S. 68. 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1461 Kapitel „ Übersinnliche Erkenntnismethoden. . . “ ). Was sie genau in diese Zeit vollbringen, welche Erlebnisse sie (für den Schlafenden selbstverständlich unbewusst) durchmachen, interessiert uns hier nicht. Relevant ist hier allein, dass der im Bett liegende Leib nicht „ entseelt “ und „ entgeistigt “ bleibt, denn ohne Seele und Geist müsste er einem Zerstörungsprozess anheimfallen, und zwar obwohl er weiterhin vom Ätherleib belebt wird (GA104, S. 71). Das leibliche Paar Ätherleib/ physischer Leib muss beseelt und von einem Ich versorgt werden. Nun zeigt sich den übersinnlichen Wahrnehmungsorganen, dass eine andere Seelen-Geistigkeit ihr Platz ausfüllt, sobald das seelischgeistige Paar des Menschen sein leibliches Paar verlässt. Anstelle der Geistseele treten in den Leib hohe geistige Wesenheiten ein, nämlich jene, die diesen physisch-ätherischen Leib in der langen Evolution seit dem alten Saturn erbauten. Steiner schilderte diesen Vorgang einmal wie folgt: Sie verlassen schnöde Ihren physischen und Ätherleib und überlassen sie mit dem Blut- und Nervensystem sich selber. Wenn es bloß auf Sie ankäme, würde in jeder Nacht dadurch, daß Sie Ihr Nerven- und Blutsystem verlassen, der physische Leib zugrunde gehen müssen. Er würde in demselben Augenblicke sterben, wo der astralische Leib und das Ich den physischen und den Ätherleib verlassen. Aber der hellsehende Blick sieht, wie dann andere Wesenheiten, höhere geistige Wesenheiten ihn ausfüllen. Er sieht, wie sie in ihn hineingehen und das tun, was der Mensch in der Nacht eben nicht tut: das Blut- und Nervensystem versorgen. Das sind dieselben Wesenheiten aber, welche den Menschen, soweit er aus einem physischen und Ätherleib besteht, geschaffen haben; nicht bloß heute, von Inkarnation zu Inkarnation. Es sind die gleichen Wesenheiten, die auf dem alten Saturn die erste Anlage des physischen Leibes entstehen ließen und die auf der Sonne den Ätherleib herausgebildet haben. Diese Wesenheiten, die gewaltet haben vom Urbeginn des Saturn- und Sonnendaseins an im physischen und Ätherleib, sie walten in ihm jede Nacht, während der Mensch schläft und den physischen und den Ätherleib schnöde verläßt, sozusagen sie dem Tod preisgibt; sie dringen hinein und versorgen sein Nerven- und Blutsystem. (Ebd.) 570 570 Vgl. auch diese Stelle: „ Wir sehen uns den Menschen an, wie er während des Tageslebens vor uns steht. Da ist er eine Wesenheit, bestehend aus physischem Leib, Ätherleib, astralischem Leib und Ich. Jetzt sehen wir uns den Menschen an während seines Nachtschlafens, wo er, seinem physischen und Ätherleibe nach, im Bette liegt. Da sieht das hellseherische Bewußtsein, wie höhere Wesenheiten hineinziehen in den physischen Leib und Ätherleib. Wer sind diese Wesenheiten? Es sind eben die Wesenheiten, von denen wir haben sagen können, daß sie ihren Schauplatz im allgemeinen auf der Sonne haben. Das ist keine Unmöglichkeit. Nur wer sich alles Geistige physisch vorstellt und alles Physische anwenden möchte auf die Vorstellungen geistiger Wesenheiten, der allein könnte sagen: Wie können Sonnenwesen, die auf der Sonne wohnen, in der Nacht in einen physischen und ätherischen Menschenleib einziehen? -Für Wesenheiten, die auf einer so erhabenen Höhe stehen, daß sie die Sonne bewohnen, gibt es nicht dieselben räumlichen Bedingungen wie für solche, die in der physischen Welt sind. Solche Wesenheiten können ganz gut die Sonne bewohnen und dennoch ihre Kräfte während 1462 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Diese Darstellung macht die erholsame Wirkung des Schlafes verständlich. Durch unsere Tagesaktivitäten fügen wir unserem Leib allerlei unsichtbare Schäden zu. Die Wesenheiten, welche in der Vergangenheit am Aufbau dieses Leibes gearbeitet haben, die seine wahren Architekten und Bauarbeiter sind, die ihn erstellt haben und in der embryonalen Entwicklung immer wieder erstellen, wissen am besten, wie solche Schäden zu reparieren sind, und sind am besten dafür geeignet, solche „ Flickarbeit “ zu erledigen. Manche Leser werden an dieser Stelle einwenden, dass eine solche Auskunft keine Erklärung sei, denn sie verletze erstens Ockhams Prinzip der Parsimonie und lasse uns zweitens weiterhin im Dunkeln darüber, wie die oben postulierten Wesenheiten ihre „ Flickarbeit “ verrichten. Was Ockhams Rasiermesser betrifft, so möchte ich an ein Argument Sheldrakes erinnern: Das materialistische-reduktionistische Programm der Naturwissenschaften, das dieses Prinzip stets als eine Art höchstes Gut gepriesen hat, hat es ad absurdum geführt, indem es, um die Gesetzmäßigkeiten unseres Universums ohne Rückgriff auf eine „ höhere Macht “ zu erklären, die Existenz von 10 500 Universen (Sheldrake 2012, S. 94) oder sogar 10 1016 postulierte. 571 Könnte es eine gravierendere Verletzung des Ockham ’ schen Prinzips geben? Zweitens, ich gebe gerne zu, dass die obige Erklärung nicht vollständig ist. Sie bietet jedoch eine Forschungsrichtung an, die m. E. vielversprechender ist, als die jene, die die Naturwissenschaft verfolgt. Einige Phänomene des Soziallebens im Lichte der Geisteswissenschaft Wir haben dieses Kapitel mit einer Betrachtung der Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsresultate für das Verständnis der Religionen in der Gesellschaften eröffnet und sind dann zur Beantwortung einiger offener Fragen der gegenwärtigen Naturwissenschaften sowie der Psychologie und Parapsychologie übergegangen. Die Geisteswissenschaft erklärt aber nicht nur die Makro- und die Mikrophänomene der Naturwelt, sondern auch bislang unerklärliche Phänomene der Sozialwelt. Eines davon haben wir bereits gestreift: die Entstehung und den Zerfall großer antiker Kulturen. Ein anderes, das sich im Kapitel „ Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus “ angekündigt hat, die Frage nach den Gründen für die Verblendung des logischen Positivismus, wartet noch auf seine Erklärung. Die Geisteswissenschaft hat eine einfache Antwort darauf. Wir haben im vorigen der Nacht in den physischen Leib des Menschen hineinsenden. Wir können also sagen: Bei Tage wacht der Mensch, das heißt, er bewohnt seinen physischen Leib und Ätherleib. In der Nacht schläft er, das heißt, er ist außerhalb seines physischen Leibes und seines Ätherleibes. Die Götter oder andere außerirdische Wesenheiten wachen in bezug auf des Menschen physischen Leib und Ätherleib während der Nacht. Wenn das auch eine halb bildliche Redensart ist, so ist sie doch durchaus zutreffend “ (GA112, S. 67f.). 571 http: / / www.technologyreview.com/ view/ 415747/ physicists-calculate-number-of-uni verses-in-the-multiverse/ (heruntergeladen am 15. 1. 2015). 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1463 Kapitel gesehen, dass der Grund, weshalb ein iPhone interessanter als ein Grashalm ist, darin liegt, dass die ahrimanischen Wesenheiten einen Schleier über die geistige Wirklichkeit „ in “ und „ hinter “ dem Grashalm legen. Sie sind es auch, die den Menschen die Überzeugung einflüstern, dass die Wirklichkeit ausschließlich materiell ist und sich durch Zurückführung auf strukturelle Überlegungen und physikalische Gesetze erklären lässt: Dieselben Wesenheiten, welche die alte ägyptisch-chaldäische Kultur geführt haben, standen damals nicht unter der Leitung des Christus, sondern sie haben sich erst seit der ägyptisch-chaldäischen Zeit der Führung des Christus unterstellt. Und darin besteht ihr Fortschritt, so daß sie jetzt unsere fünfte nachatlantische Kulturperiode unter dem Einflusse des Christus leiten; sie folgen ihm in den höheren Welten. Und das Zurückbleiben derjenigen Wesenheiten, von denen gesagt worden ist, daß sie als hemmende Kräfte wirken, rührt davon her, daß diese sich nicht unterstellt haben der Führung des Christus, so daß sie unabhängig von dem Christus weiter wirken. Daher wird immer deutlicher und deutlicher folgendes in der Kultur der Menschheit hervortreten. Es wird eine materialistische Strömung geben, die unter der Führung der zurückgebliebenen ägyptisch-chaldäischen Geister steht; sie wird einen materialistischen Charakter haben. Das meiste, was man die heutige materialistische Wissenschaft in allen Ländern nennen kann, steht unter diesem Einfluß. Aber daneben macht sich eine andere Strömung geltend, die darauf hinzielt, daß der Mensch bei allem, was er tut, endlich das finden wird, was man das Christus-Prinzip nennen kann. Es gibt heute zum Beispiel Menschen, welche sagen: Unsere Welt besteht im letzten Grunde aus Atomen. Wer flößt denn dem Menschen die Gedanken ein, daß die Welt aus Atomen bestehe? Das sind die während der ägyptisch-chaldäischen Zeit zurückgebliebenen übermenschlichen Engelwesenheiten. (GA15, S. 65f.) Dem Einfluss der zurückgebliebenen (ahrimanischen) ägyptisch-chaldäischen geistigen Wesen ist es also zuzuschreiben, dass nicht nur die Doyens des logischen Positivismus, sondern die meisten Vertreter der heutigen Wissenschaft von der materialistischen Ideologie durchdrungen sind. Nur während die logischen Positivisten ihre Fehler bereits in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts anerkannt und sich von ihren früheren Positionen verabschiedet haben, lässt ein derartiger Meinungsumschwung in den Naturwissenschaften immer noch auf sich warten. Die ahrimanischen Wesenheiten wirken aber selbstverständlich nicht nur in und durch die heutige Wissenschaft, ihr Einfluss lässt sich und ließ sich auf anderen Gebieten des sozialen Lebens erkennen. Und dieser Einfluss wirkt dort oft noch viel verheerender als in der Wissenschaft. Man muss bedenken, dass es die ahrimanischen Wesenheiten sind, welche die Gefühle der Furcht und Angst (vor allem vor dem Tode) in die Evolution der Menschheit gebracht haben: [Das früher vorhandene] vorausschauende Bewusstsein [des Menschen] ging verloren, als sich vor die Offenbarung der höheren geistigen Wesenheiten der Schleier der irdischen Wahrnehmungen hinwob und in ihnen die eigentlichen 1464 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Kräfte der Sonnenwesen sich verbargen. Ungewiß wurde nunmehr die Zukunft. Und damit pflanzte sich der Seele die Möglichkeit des Furchtgefühles ein. Die Furcht ist eine unmittelbare Folge des Irrtums. - Man sieht aber auch, wie mit dem luziferischen Einflusse der Mensch unabhängig wurde von bestimmten Kräften, denen er vorher willenlos hingegeben war. Er konnte nunmehr aus sich heraus Entschlüsse fassen. Die Freiheit ist das Ergebnis dieses Einflusses. Und die Furcht und ähnliche Gefühle sind nur Begleiterscheinungen der Entwickelung des Menschen zur Freiheit. Geistig angesehen stellt sich das Auftreten der Furcht so, daß innerhalb der Erdenkräfte, unter deren Einfluß der Mensch durch die luziferischen Mächte gelangt war, andere Mächte wirksam waren, die viel früher im Entwickelungslaufe als die luziferischen Unregelmäßigkeit angenommen hatten. Mit den Erdenkräften nahm der Mensch die Einflüsse dieser Mächte in sein Wesen herein. Sie gaben Gefühlen, die ohne sie ganz anders gewirkt hätten, die Eigenschaft der Furcht. Man kann diese Wesenheiten die ahrimanischen nennen [. . .]. (GA13, S. 258) Es sind also die ahrimanischen Wesenheiten, die in und durch Furcht und Angst wirken. Ihre Kräfte verbergen sich letztendlich hinter allen (Angriffs-) Kriegen und allen Terrorakten: von den römischen Eroberungen über den islamischen Siegeszug im 7. und des 8. Jahrhundert, die christlichen Kreuzzüge, Hitlers Wahn und Stalins blutige Herrschaft, bis zu den heutigen „ Heldentaten “ des sog. Islamischen Staates oder der Boko-Haram-Miliz. Ich schreibe diese Worte am 27. Januar 2015, also genau am 70. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslager Auschwitz durch die Rote Armee, in dem mindestens 1,1 Millionen Menschen, vor allem Juden, oft auf grausamste Art umgebracht wurden. Da ich selbst nur neun Jahre nach dem 2. Weltkrieg in Polen geboren wurde und dort aufwuchs, sind für mich die damaligen Gräueltaten immer noch sehr präsent und erschütternd. Gegen die Wiederholung derartiger Unmenschlichkeiten anzukämpfen, heißt nicht nur, gegen bestimmte Menschen, sondern gegen die der Menschheit feindlich gesinnten geistigen Gewalten zu kämpfen. In diesem Sinn schrieb bereits Paulus: Denn unser Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Gewalten, 572 gegen die Mächte, 573 gegen die Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die geistigen [Mächte] der Bosheit in der Himmelswelt. (Eph 6,12) Nur legte Paulus die Betonung auf „ Fleisch und Blut “ , nicht auf die zivilisatorischen Bedrohungen des menschlichen Fortschritts, weil zu seiner Zeit dieser Fortschritt vor allem durch die luziferischen Mächte bedroht war, die im Innern des Menschen wirken (GA145, S. 171), und nicht durch die ahrimanischen Mächte. Diese Situation hat sich jedoch in letzter Zeit grundsätzlich geändert. Mit dem Zeitalter der Bewusstseinseele, also etwa seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, ist die Menschheit in eine Phase ihrer Entwick- 572 Im griechischen Original: ἀρχή , also Archai, die siebte Hierarchie. 573 Im griechischen Original: ἐξουσία , also Exusiai, die sechste Hierarchie. 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1465 lung eingetreten, in welcher die ahrimanischen Kräfte eine viel größere Gefahr für sie darstellen, als sie die luziferischen Kräfte bedeuteten: Was vor fünf Jahrhunderten für das Bewußtsein des Menschen begonnen hat, es hatte sich für einen weiteren Umfang seiner Gesamtwesenheit schon vollzogen zur Zeit, als das Mysterium von Golgatha in die irdische Erscheinung getreten ist. Da war es, daß unwahrnehmbar für das damals bei den meisten Menschen vorhandene Bewußtsein, allmählich die Menschheitsentwickelung aus einer Welt, in der Ahriman wenig, in eine solche hineinglitt, in der er viel Macht hat. Dieses Gleiten in eine andere Weltschichte erreichte ihre Vollendung eben im fünfzehnten Jahrhundert. Ahrimans Einfluß auf den Menschen in dieser Weltschichte ist deshalb möglich und kann verheerend wirken, weil in dieser Schichte das dem Menschen verwandte Götterwirken erstorben ist. Aber der Mensch konnte zur Entfaltung des freien Willens gar nicht auf eine andere Art kommen als dadurch, daß er sich in eine Sphäre begab, in der die vom Urbeginn mit ihm verbundenen göttlich-geistigen Wesen nicht lebendig waren. (GA26, S. 84) Die Absicht dieser Mächte ist es, die Menschheit von der bisherigen, seit dem alten Saturn verlaufende Evolutionslinie abzubringen und sie für eine von den sie führenden göttlichen Wesenheiten völlig unabhängige Evolutionsreihe zu gewinnen, gleichsam eine völlig neue Evolutionsreihe zu beginnen (GA346, S. 259). Die Intention der Götter des Menschenursprungs ist es, den Menschen zur Würde des zehnten geistigen Hierarchie aufsteigen zu lassen, zum Status eines freien, schöpferischen Geisteswesens. Sie haben Christus auf die Erde geschickt, um diese Entwicklung zu ermöglichen, um die künftige Vereinigung der Sonne mit ihren hehren Geisteswesen und der Erde mit der Menschheit möglich zu machen. Die ahrimanischen Mächte wollen das verhindern, sie wollen das Mysterium von Golgatha unwirksam machen 574 und die Menschheit in einem irdischem „ Paradies “ gefangen halten. 575 Die Einwirkung Ahrimans sieht man im heutigen Leben in aller Deutlichkeit. Die gegenwärtige regelrechte Explosion der Unterhaltungsindustrie und der technischen Geräte, die das Leben interessanter, spannender, lustiger machen und Kommunikation zu jeder Zeit und an jedem Ort ermöglichen sollen usw., die aber den Menschen an seine sinnlichen Bedürfnisse fesseln und ihn von der geistigen Welt, welche als eine große Illusion betrachtet wird, abwenden, muss man in diesem Licht betrachten. 576 Ich will selbstverständ- 574 „ Also das Mysterium von Golgatha unwirksam zu machen, danach strebt diese ahrimanische Macht “ (GA346, S. 257). 575 Man kann den Kultfilm „ The Matrix “ als eine halbbewusste Ahnung dieser Sachlage interpretieren. 576 Vgl. diese Stelle: „ Der Mensch lernt zunächst gewisse Eindrücke, die er sonst in abstraktem Sinn hinnimmt, als Wirkungen der ahrimanischen Wesenheiten anschauen. So lernt er die Begierde - nicht diejenige, die von innen heraus kommt, die ist luziferisch, aber das, was von außen kommt, was dem Menschen von außen die Begierde erweckt, was also in den Dingen und Wesen um uns herum uns anzieht, so daß wir aus 1466 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse lich die moderne Zivilisation nicht verteufeln und in die Höhle zurückkehren. Die zivilisatorischen Errungenschaften der jüngsten Zeit sind unbestritten. Es ist jedoch wichtig, die Einseitigkeit dieses Fortschritts zu erkennen. Die Absichten der ahrimanischen Wesenheiten lassen sich aber auch hinter gewissen beunruhigenden Erscheinungen der gegenwärtigen Gesellschaft erkennen, auf die ich im Intermezzo „ Einige soziale Folgen . . . “ eingegangen bin. Es sind heute viele den gesellschaftlichen Zusammenhang zersetzenden Kräfte am Werk: Drogensucht, Jugendkriminalität, Jugendschwangerschaften, sexuelle Gewalt, Kriege, Terrorismus usw. Sie haben vielfältige Wurzeln. Sie sind aber mehr als nur Menschenwerk, hinter ihnen verbirgt sich die Wirksamkeit von geistigen Mächten, die den Menschen unter ihr Joch bringen wollen. Man vergleiche das religiöse Leben des Mittelalters mit dem heutigen Zustand. Damals war Europa selbstverständlich von christlichen Vorstellungen beherrscht. Heute sind sie größtenteils verschwunden oder zumindest völlig unwirksam geworden. Das sollte uns zu denken geben. Es ist übrigens aus Sicht der Geisteswissenschaft keine Überraschung, dass es die materialistische Wissenschaft der letzten Jahrhunderte ist, die wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen hat. Denn sie ist nicht nur, wie wir gesehen haben, direkt durch die ahrimanischen Kräfte inspiriert und infiziert, sondern sie bedient sich auch jener Erkenntniskraft des Menschen, die den bevorzugten Angriffspunkt für die ahrimanischen Mächte bietet: des Intellekts, den man gerne als Vernunft bezeichnet. Heute haben wir zunächst damit zu rechnen, daß die in der christlichen Tradition Satan genannte Macht die Gabe hat, sich sozusagen an dasjenige anzuhängen, was im Innern des Menschen mit einer solchen Selbständigkeit auftritt wie die Intellektualität; und dann, wenn gewissermaßen die im Menschen enthaltene Intellektualität ergriffen wird von der ahrimanischen Macht, dann kann der Mensch aus seiner Evolution herausgerissen werden in eine ganz andere Bahn, indem einfach sein Wesen nachgerissen wird von seinem Intellekt, bei dem Satan in der Lage ist anzuknüpfen. Das wäre bei keiner anderen seelischen oder geistigen Kraft, bei keiner anderen leiblichen Kraft im Menschen möglich als lediglich bei dem Intellekt, denn der Intellekt sitzt so im Menschen, daß er im Menschen das Allerselbständigste vorstellt; alles übrige hängt an gewissen göttlichen Mächten. Daher hat Satan es dann, wenn er sich zum Beispiel an das Fühlen, an das Empfinden, an das Begehren und Wünschen der Menschen heranmachen würde, immer noch zu tun mit den in diesen Seelenfähigkeiten darinsteckenden übermenschlichen Kräften. (GA346, S. 258) Auch an dieser Stelle muss betont werden, dass ich selbstverständlich die durch den Rückgriff auf die intellektuellen Kräfte erlangte Entwicklung der persönlichem Interesse dieser Anziehung folgen, also alles das, was uns von außen zum Genuß verlockt -erkennen als ahrimanische Impression. Dann lernt man erkennen als ahrimanische Impression alles das, was uns von außen Furcht einflößt, was dieFurcht in uns erregt von außen. Es sind zwei Pole, möchte ich sagen: Genuß und Furcht “ (GA145, S. 171). 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1467 materialistischen Wissenschaft nicht verteufeln will. Ich habe, glaube ich, auch ausreichend hervorgehoben, dass sie durchaus eine konstruktive Rolle im Fortschritt der Menschheit gespielt hat. Die Entfaltung der Wissenschaft war notwendig, denn der Mensch musste selbstständig, individuell werden, er musste sich von jeglicher Autorität, auch der Autorität der Kirche, befreien. Allerdings geriet er in der Folge unter ein anderes Joch: die Autorität der materialistischen Wissenschaft. Die materialistisch gesinnten Wissenschaftler sind die Priester der heutigen Gesellschaft. Der Unterschied zu den vergangenen Jahrhunderten besteht lediglich darin, dass sie nicht das Wort Gottes, sondern die Botschaft der ahrimanischen Wesenheiten predigen. Auch von diesem Joch muss sich der Mensch befreien und aus wirklich freien Stücken, aus eigener, auf vernünftige Überlegung gestützter Entscheidung den Weg zurück zu den geistigen Wesenheiten finden, welche seine bisherige Entwicklung schützend und führend begleitet haben: Die Intellektualität ist das erste, mit dem der Mensch sich ganz loslösen kann von den Wesenheiten, die seine persönliche Evolution bewirken, sie ist das erste, wo der Mensch durch seine ganz ureigene freie Kraft anknüpfen muß an diejenigen Mächte, die von Anfang an bei seiner Entwicklung gestanden haben. (GA346, S. 258) Wahnsinn? Die Liste der Antworten, welche die Forschungsresultate der Geisteswissenschaft auf die brennenden Fragen der Gegenwart geben können, ist endlos. Ich möchte es aber bei der obigen kleinen Auswahl bewenden lassen. Zum Schluss dieses Kapitels möchte ich meinen Ausführungen noch eine Art skeptische Bemerkung anfügen. Es würde mich nicht wundern, wenn bei manchem Leser, der sich geduldig durch die Seiten der drei letzten Kapitel meines Buches durchgearbeitet hat, jetzt die Frage im Vordergrund stünde: Wie ist es möglich, dass ein einigermaßen intelligenter Mensch (er hat in Philosophie an einer anständigen Universität promoviert, muss also einigermaßen intelligent sein) an solchen Unsinn glauben kann? Denn was er am Ende vorgetragen hat, kann nur als Blödsinn oder gar Wahnsinn klassifiziert werden! Den Leser, der zu einem solchen Urteil neigt, möchte ich abermals daran erinnern, dass Giordano Bruno verbrannt und Galileo Galilei beinahe verbrannt wurde, weil sie einen „ Unsinn “ vertreten haben, der heute als eine selbstverständliche Wahrheit gilt. Heute werden Menschen glücklicherweise für ihre Ansichten nicht mehr verbrannt (wenn auch gelegentlich noch der Wunsch geäußert wird, dass man die Schriften gewisser Menschen verbrennt), sie werden höchstens verbannt, verbannt nämlich aus der guten wissenschaftlich-akademischen Gesellschaft. Ich glaube, dass wir mit dem Urteil, was sich einem einigermaßen intelligenten Menschen zu glauben bzw. nicht zu glauben gebührt, abwarten müssen. Die Zeit wird es weisen, was Wahrheit und was Unsinn ist. Rudolf Steiner hat in diesem Zusammenhang 1468 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse oft auf die Christen in den Katakomben des antiken Roms verwiesen. Sie waren damals die Verachteten, Verschmähten und Verfolgten. Der Lauf der Zeit hat ihnen jedoch Recht gegeben: Zwei Bilder stehen vor der Seele des [Geistes]wissenschafters. Wer heute die große Kulturschöpfung des Christentums überblickt, wer das, was das Christentum in der Welt getan hat, ermessen will, der stelle sich zwei Bilder vor die Seele: Zuerst das alte kaiserliche Rom in der Zeit der ersten christlichen Jahrhunderte. Er sehe hin auf die Trümmer des alten Roms, die heute noch künden von dem, was damals in der gebildeten Welt vorgegangen ist. Aus diesem Bild wird er Trost und Sicherheit schöpfen können, wenn gesagt wird, die Gelehrten und Gebildeten wollen nichts wissen von Theosophie oder Geisteswissenschaft. Was wollten diejenigen, die da oben in diesen verfallenen Prachtgebäuden waren? Sie wollten - die Schaustellungen des Kolosseums! Und was hielten sie vom Christentum? Sie haben die Christen zu Pechfackeln gemacht und verbrannt! Rufen wir uns das so recht ins Gedächtnis. Und dann wenden wir den Blick zu einem anderen Bild. Dieses müssen wir allerdings an einem ganz anderen Orte suchen. Unter der Erde müssen wir es suchen, in den weit ausgedehnten Katakomben Roms, wo Mühselige und Beladene waren, die abseits standen von der Bildung und der tonangebenden Welt. Dahin, wo diese ihre Altäre aufrichteten, wo sie ihre Toten begruben und ihre heiligen Opfer darbrachten, dahin wenden wir unseren Blick. Und nachdem wir diese Bilder in unserer Seele hervorgerufen haben, fragen wir uns: Wie änderte sich das Bild im Laufe der Jahrhunderte? - Die unten waren, trugen in der Seele dasjenige, was die Welt eroberte, und das, was sich oben abspielte, ging zugrunde. Es mußte zurückweichen vor dem, was aus den verborgenen Stätten heraufdrang. So war der Gang der Dinge, und das ist für uns Trost und Hoffnung. Wir wissen es ganz genau, daß wir durch die eigentümlichen Zeitverhältnisse nur Spott und Hohn finden können. Wir finden, daß wir in ähnlicher Weise still und schlicht wirken müssen gerade bei denen, die vielleicht verachtet werden von den sogenannten Aufgeklärten. Wir wissen aber auch, daß das Bild ein ähnliches sein wird wie damals. Wir wissen, daß das, was früher verachtet wurde, entweder die anderen ergreifen und mitziehen wird, oder daß es über sie hinweggeht. Verwandeln wird ein richtiger Gesichtspunkt gegenüber der Geheimwissenschaft unsere Gesinnung, unsere Gefühle und Empfindungen. So gibt uns schon diese erste Betrachtung etwas von geistiger Gesundheit, die hervorgeht aus dem Willen zur Arbeit in der Welt, im Sinne der Aufwärtsentwicklung der Menschheit. Und diese Arbeit im Sinne unserer Gegenwart zu leisten, ist die Mission der Geheimwissenschaft in unserer Zeit. (GA56, S. 35f.) 577 Ich bin davon überzeugt, dass wenn nicht die kommenden Jahrzehnte, dann spätestens die kommenden Jahrhunderte ein ähnliches Umdenken in Bezug auf die Geisteswissenschaft bringen werden, wie dies einst beim Christentum der Fall war. 577 Vgl. z. B. GA102, S. 228f.; GA109, S. 283f.; GA157a, S. 39f.; ebd., S. 164f. u. a. 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse 1469 14 Schlusswort Wie ich im Kapitel „ Übersinnliche Erkenntnismethoden . . . “ gezeigt habe, ist die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners eine vollwertige Wissenschaft und der Naturwissenschaft ebenbürtig: Sie ist ebenso streng und zuverlässig, aber objektiver als diese. Die zwei letzten Kapitel sollten noch etwas anderes veranschaulichen: dass wir diese Wissenschaft heute überall brauchen. Moderne Wissenschaft entspringt und entspricht den wichtigen und berechtigten Bedürfnissen des modernen Menschen. Er will frei sein und will sich in seinen Handlungen auf eigene Erkenntnis stützen. Die Reformation des 16. Jahrhunderts war vielleicht das erste deutliche Zeichen des wachsenden Verlangens der Menschen, sich von den Banden der Autorität zu befreien. Weitere Schritte auf diesem Wege waren die Entwicklung der modernen politischen Demokratie und die Geburt der Wissenschaft, die dem Menschen die Mittel in die Hand gab, seine Handlungen auf das solide Fundamente eines in eigenständiger Arbeit gewonnenen, nicht durch Offenbarung geschenkten Wissens zu stellen. Aber der Mensch wird immer unvollständig bleiben, wenn sich seine freie Handlung nur auf das Wissen der sichtbaren Welt stützt. Denn diese ist nicht die einzige und nicht die wichtigste Realität. Der moderne Mensch hat zumindest eine Ahnung, dass es auch eine andere, geistige Wirklichkeit gibt, und eine der tiefsten, obschon nicht immer klar zu Bewusstsein gelangten menschlichen Bedürfnisse ist es, in Harmonie mit dieser seiner eigentlichen Heimat zu leben und zu handeln. Dies kann er in individueller Freiheit und Selbstständigkeit nur dann, wenn er eigene Einsicht in diese Realität hat. Sonst ist er wie ein Blinder, der seinen Weg durchs Leben unsicher abtasten muss oder auf die Hilfe von Sehenden angewiesen ist. Zuverlässige Einsicht in die Welt des Geistes und ihre Gesetze zu geben, das ist der Grundimpuls der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners. Wir stehen also heute vor der Entscheidung: Wollen wir die Mittel, die von dieser Wissenschaft angeboten werden, aufnehmen und nutzen, oder wollen wir das Angebot ausschlagen? Unterdessen wird die Entscheidung über die künftige Ausrichtung des menschlichen Tuns zunehmend dringender. Ich möchte nur einige der gegenwärtigen Gefährdungen aufzählen. Nach dem Fall des Kommunismus im Jahr 1989 wiegte man sich in der Illusion, dass eine neue Ära des Friedens und der Stabilität, des Wohlstands und des ungehinderten Fortschritts eingeläutet sei. So prognostizierte Fukuyama kurze Zeit später das Ende der soziokulturellen Entwicklung der Menschheit (Fukuyama 1992). Wir wurden in den nachfolgenden Jahrzehnten eines Besseren belehrt: Das neue Millennium spart nicht mit Krisen und Herausforderungen. Der 9. November 2001 mag als Symbol für die Geißel des Terrorismus stehen. Er war mit der Tötung von Osama bin Laden am 2. Mai 2011 keineswegs erledigt, sondern erreichte mit dem Eroberungszug der IS in Irak und Syrien und den Tötungen, Geiselnahmen und Entführungen von Boko Haram in Nigeria im Jahr 2014 neue Dimensionen. Der „ Arabische Frühling “ von 2010 und 2011 hat die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuscht: In Ägypten ist praktisch alles wieder beim Alten, Libyen ist unregierbar geworden, und der Versuch, den syrischen Diktator Bashar al-Assad zu entmachten, mündete in einen äußerst blutigen Krieg, in dem bis heute mehr als 250.000 Menschen getötet und fast 5 Millionen Menschen vertrieben wurden. 578 Das Jahr 2007 brachte die größte Wirtschaftskrise seit der „ Great Depression “ der 1930er Jahre. Die akuten Auswirkungen sind zwar inzwischen beseitigt, die Nachwehen sind jedoch zumindest in Europa immer noch spürbar: In Ländern wie Griechenland und Spanien sind breite Bevölkerungsschichten verarmt, die Arbeitslosenrate beträgt annähernd 25 %, und bei der Jugendarbeitslosigkeit sind die Zahlen noch schlechter: In Spanien liegt sie bei ca. 53 %, in Griechenland bei fast 50 %, in Italien bei 43 %, in Frankreich bei fast 25 %, in Belgien bei 24 %, in Polen bei 23 % und in der Euro-Zone insgesamt bei 23,5 %. 579 Angesichts der Perspektivlosigkeit macht sich gerade in der jüngeren Generation eine depressive Stimmung breit. Zwar hat uns die Wirtschaftskrise 2007 - 2008 gelehrt, dass man nicht ewig auf Pump leben kann, aber es fällt uns schwer, unseren Lebensstil umzustellen: Kaufen auf Kredit ist weiterhin in Mode. Das aggressive Gebaren Chinas im Südchinesischen Meer seit ca. 2012 und die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine durch die aktive Unterstützung der Separatisten in der Donbas-Region seitens Russlands haben uns 2014 eindringlich vor Augen geführt, dass der Kollaps des Kommunismus keineswegs die endgültige Überwindung der Gefahr multinationaler bewaffneter, möglicherweise sogar atomarer Konflikte bedeutet. Der Westen verhängte Wirtschaftssanktionen über Russland, woraufhin Russland Gegenmaßnahmen ergriff, und so geht nun wieder das Gespenst eines Kalten Krieges in Europa um. Die Destabilisierung der russischen Wirtschaft, die sich durch den Einbruch des Ölpreises weiter verstärkt, verheißt jedenfalls nichts Gutes für die Zukunft der Ost-West-Beziehungen. Die Tragödie im Mittelmeer vom 18. April 2015, bei der vermutlich mehr als 900 Bootsflüchtlinge ertrunken sind 580 - die bei weitem schlimmste derartige Katastrophe der letzten Jahre - , hat uns erneut mit aller Deutlichkeit die offene Wunde Afrika vor Augen geführt, wo Millionen von Menschen eine menschenunwürdige Existenz führen und bereit sind, ihr Leben zu riskieren in der Hoffnung, in Europa zumindest eine Perspektive auf ein würdigeres Dasein für sich und ihre Angehörigen zu erlangen. 578 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Syrian_Civil_War (heruntergeladen am 30. 1. 2015). 579 http: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 74795/ umfrage/ jugendarbeitslosigkeit-in-europa/ (heruntergeladen am 20. 12. 2014). 580 http: / / www.srf.ch/ news/ international/ fluechtlingsdrama-im-mittelmeer-900-totebefuerchtet (heruntergeladen am 20. 4. 2015). 14 Schlusswort 1471 Unsere Zeit ist ferner geprägt von einer erschreckend hohen Zahl an Morden. Tagtäglich werden weltweit fast 1200 Menschen umgebracht. 581 Unter den Tätern befinden sich viele Jugendliche, wenngleich sich in den letzten Jahren eine deutliche Abnahme der Jugendkriminalität abzeichnet. 582 Man hat noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemeint, dass unter dem Eindruck der Grausamkeiten des Ersten und vor allem des Zweiten Weltkrieges die Menschen gelernt haben, menschlich miteinander umzugehen. Die Schrecken des Bosnien-Krieges 1992 - 1995, des Ruanda - Genozids von 1994, wie auch in der neuesten Zeit die grausamen Verbrechen der IS-Kämpfer haben gezeigt, dass solche Hoffnungen verfrüht waren. Zugleich sind wir im neuen Millennium Zeugen eines anderen Krieges. 2006 erklärte die mexikanische Regierung unter dem damaligen Präsidenten Felipe Calderón den „ Krieg gegen Drogen “ , der immer noch nicht abgeschlossen ist. Bis 2013 haben mindestens 60.000 Menschen im Zuge von bewaffneten Auseinandersetzungen ihr Leben verloren, einige Schätzungen sprechen sogar von 130.000 getöteten und ca. 30.000 vermissten Personen. 583 Trotz dieser Anstrengungen, den Drogenhandel zu kontrollieren, steigt der Konsum weiter. In den USA nahmen 2012 23,9 Millionen Menschen über 12 Jahre, d. h. 9,2 % der Bevölkerung, illegale Drogen ein, verglichen mit 8,3 % im Jahr 2002, wobei der Hauptanteil dieser Steigerung auf den vermehrten Konsum von Marihuana zurückzuführen ist. 584 Eine weitere Aufgabe, die keineswegs erledigt ist, ist der Kampf gegen den Hunger. Das World Food Programme schreibt auf seiner Webseite: Was bedroht die Gesundheit der Menschen auf der ganzen Welt? Derselbe Feind, der die Menschheit schon immer bedrohte: Hunger und die durch Hunger verursachten Krankheiten. Allein im letzten Jahr starben mehr Menschen an Hunger und Unterernährung als durch AIDS, Malaria und Tuberkulose zusammen. Bei uns ist Hunger fast aus dem Bewusstsein verschwunden - er erscheint höchstens als flüchtiges Fernsehbild oder als dramatisches Zeitungsfoto. Und dennoch: Eine von acht Personen hat nicht genug zu essen, um gesund zu bleiben. Die meisten sind Kinder. 585 581 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_countries_by_intentional_homicide_rate (heruntergeladen am 20. 12. 2014). 582 Für Großbritannien vgl. https: / / www.gov.uk/ government/ uploads/ system/ uploa ds/ attachment_data/ file/ 276098/ youth-justice-stats-exec_summary.pdf, S. 3 (heruntergeladen am 20. 12. 2014); für die Vereinigten Staaten http: / / www.childtrends.org/ ? indicators=teen-homicide-suicide-and-firearm-deaths (heruntergeladen am 20. 12. 2014) und für die Schweiz http: / / www.srf.ch/ sendungen/ rendez-vous (heruntergeladen am 27. 1. 2015). 583 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Mexican_Drug_War (heruntergeladen am 20. 12. 2014). 584 http: / / www.drugabuse.gov/ publications/ drugfacts/ nationwide-trends (heruntergeladen am 20. 12. 2014). 585 http: / / one.wfp.org/ policies/ introduction/ other/ documents/ guide_winning_hunger/ GER/ home.html (heruntergeladen am 20. 12. 2014). 1472 14 Schlusswort Es ist selbstverständlich sehr erfreulich, dass es Menschen gibt, die dafür kämpfen, dass es in Zukunft weniger Hunger auf der Welt gibt, aber die traurige Realität ist immer noch, dass weltweit 300 Million Kinder nicht genug zu essen bekommen, um gesund aufwachsen zu können. 586 Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt, dass im Zeitraum 2010 - 2012 von den 7,1 Milliarden Menschen in der Welt fast 870 Millionen oder einer von acht an chronischer Unterernährung litten. 587 1982 wurde die Immunkrankheit AIDS identifiziert. Im Jahre 2000 erklärte der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton Aids zum „ Staatsfeind “ , da die Epidemie Regierungen stürzen, Chaos in der Weltwirtschaft verursachen und ethnische Konflikte auslösen könne. Der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge starben seit dem Ausbruch der Seuche 1981 schätzungsweise 39 Millionen Menschen an AIDS (2013 betrug die Zahl der Toten infolge von AIDS und verwandten Ursachen immerhin noch 1,3 Millionen); heute leben weltweit ca. 35 Millionen Menschen, davon 3,2 Millionen Kinder, mit AIDS. 588 Seit 2013 wütet in Westafrika (vor allem in Liberia, Guinea und Sierra Leone) die Ebola-Epidemie; bis heute (28. 1. 2015) liegt die Zahl der Toten bei über 8790. 589 Auch wenn diese Zahl relativ niedrig ist, ist die Letalitätsrate dieser Seuche mit ca. 70 % 590 der von AIDS vergleichbar. Dank der entschlossenen Reaktion zahlreicher Hilfsorganisationen, Regierungen und der Pharmaindustrie konnte diese Epidemie recht schnell eingegrenzt werden und es besteht die Hoffnung, dass sie bis Ende 2015 völlig eliminiert sein wird. 591 Man fragt sich jedoch: Was kommt danach? Vielleicht etwas noch Schlimmeres als AIDS oder Ebola? Am 28. Januar 2015 berichteten Wissenschaftler, die das Ebola-Virus untersuchten, dass es mutiert habe und möglicherweise ansteckender ist. 592 Und einen Tag zuvor, am 27. Januar 2015, stellte der Präsident der Weltbank, Jim Yong Kim, in Washington fest, dass die Welt „ gefährlich unvorbereitet “ für künftige mögliche Pandemien wie Ebola sei. 593 Das neue Millennium brachte weitere Herausforderungen mit sich, allen voran die Gefährdung des Planeten durch den Klimawandel. Eine erste 586 Ebd. 587 http: / / www.worldhunger.org/ articles/ Learn/ world%20hunger%20facts%202002.htm (heruntergeladen am 20. 12. 2014). 588 http: / / www.aids.gov/ federal-resources/ around-the-world/ global-aids-overview/ (heruntergeladen am 20. 12. 2014). 589 http: / / apps.who.int/ gho/ data/ view.ebola-sitrep.ebola-summary-20150127? lang=en (heruntergeladen am 28. 1. 2015). 590 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Ebola_virus_epidemic_in_West_Africa (heruntergeladen am 28. 1. 2015). 591 http: / / metro.co.uk/ 2015/ 01/ 04/ ebola-outbreak-will-end-in-2015-says-un-chief-50090 14/ (heruntergeladen am 28. 1. 2015). 592 http: / / www.bbc.com/ news/ health-31019097 (heruntergeladen am 29. 1. 2015). 593 http: / / www.bbc.com/ news/ world-31013636 (heruntergeladen am 28. 1. 2015). 14 Schlusswort 1473 Klimarahmenkonvention wurde bereits 1992 in Rio de Janeiro unterzeichnet, und 1997 kam es zur Verabschiedung des Kyoto-Protokolls, das die (verhältnismässig geringe) Reduktion der Emission der Treibhausgase vorsah. Die 20. UN-Klimakonferenz, welche im Dezember 2014 in Lima stattfand, brachte indessen wenig Fortschritt, es besteht jedoch Hoffnung, dass weitergehende und verbindlichere Ziele auf der 21. COP Konferenz fixiert werden, die vom 30. November bis zum 11. Dezember 2015 in Paris stattfinden wird - diesmal mit Beteiligung der Vereinigten Staaten und Chinas. Am 11. März 2011 wurde infolge des Tohoku-Erdbebens und des dadurch ausgelösten Tsunamis der Atommeiler von Fukushima erheblich beschädigt, was zu mehreren Kernschmelzen und zum Entweichen erheblicher Mengen an Radioaktivität in die Atmosphäre und in die Gewässer des Pazifischen Ozeans führte. Wir haben damals gelernt, dass selbst die so technikaffinen Japaner und somit wohl auch wir anderen den Dschinn der Nuklearenergie nicht vollends im Griff haben. Symptomatisch für die derzeitige Stimmung war das diesjährige World Economic Forum in Davos. Christian Kolbe, SRF-Wirtschaftsredakteur, charakterisierte das dortige Meinungsklima folgendermaßen: „ Die Partystimmung ist vorbei. Realität ist nun die neue Unsicherheit. Terrorismus, Währungsschwankungen, Wachstumsschwächen und geopolitischen Krisen lassen Investoren zurückhaltend sein “ . 594 Ist diese Anhäufung von Krisen nur ein Zufall? Oder sind sie, wie die Plagen im alten Ägypten (2. Mose 7,15- 12,36), eine Warnung der geistigen Wesenheiten an die von ihnen geführte Menschheit: „ Ändert euren Sinn! “ (Mt 3,2)? Bis heute haben wir unsere Hoffnungen in die Wissenschaft und Technologie gesetzt. Wir haben darauf vertraut, dass sie uns den Weg aus den zahlreichen Krisen weisen wird. Man muss allerdings mit aller Deutlichkeit feststellen, dass diese Hoffnung nur sehr bedingt begründet ist. Die Wissenschaft hat uns zwar Wissen gebracht, aber es ist ein unvollständiges Wissen, ein Wissen, das die geistigen Untergründe des Seins völlig ausblendet und ausschließt. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprach man innerhalb der Wissenschaft von Erkenntnisgrenzen: Das Geistige könne nicht erkannt, es müsse geglaubt werden. Aber immerhin wurde dieses Geistige damit noch als eine Dimension des Menschen anerkannt. Heute gibt es für die Wissenschaft keine Erkenntnisgrenzen mehr, weil es für sie einfach nichts Geistiges zu erkennen gibt. Solches vom Geist rein gewaschene Wissen kann jedoch den Menschen nie wirklich befriedigen, weil er sich seines geistigen Ursprungs immer zumindest dunkel bewusst ist. Dieses Wissen kann uns auch nicht wirklich gegen die Plagen des Terrorismus, der Kriege, der Drogen oder der Erdbeben helfen. 594 http: / / www.srf.ch/ news/ wirtschaft/ wef-2015/ die-partystimmung-ist-vorbei (heruntergeladen am 25. 1. 2015). 1474 14 Schlusswort Wir sind stolz auf unsere Zivilisation, darauf, dass wir es „ so weit gebracht haben “ . Dabei vergessen wir unsere Abhängigkeit von Kräften, die mit dieser Zivilisation herzlich wenig zu tun haben. Was sichert die seltsamen Eigenschaften des Wassers, ohne das kein Leben auf Erden möglich wäre? Was macht die Pflanzen und Tiere wachsen, ohne die wir überhaupt nicht leben könnten? Welche Kräfte sorgen für das Gleichgewicht der Naturwelt? Welche Kräfte verwandeln die befruchtete Eizelle in den Embryo, dann in das Kind, schließlich in einen erwachsenen Menschen? Wie lange können wir ohne Schlaf aushalten? Wieso erholen wir uns im Schlaf? Wie kann man Nahtoderfahrungen und die Visionen Sterbender erklären? Wie kann man die Persönlichkeitsveränderungen bei Herztransplantatempfänger erklären? Das sind nur einige wenige jener Fragen, auf die, wie wir gesehen haben, nur die um die Geisteswissenschaft erweiterte Wissenschaft Antwort geben kann. Man kann sich das Verhältnis der menschlichen zu den übermenschlichen Kräften, der „ Tiefen “ zu den „ Höhen “ unserer Zivilisation, vielleicht folgendermaßen veranschaulichen: Wie tief reicht unsere Zivilisation in die Erde? Die Fundamente der Häuser, die Wasserleitung usw. reichen einige Meter unter die Erde, die U-Bahnen usw. ein wenig tiefer, die tiefsten Minen einige Kilometer unter die Erdoberfläche, die tiefsten Bohrungen noch ein wenig tiefer. Wir haben sogar die Tiefen des Marianengraben erkundet (er verläuft fast 11 km unter der Wasseroberfläche), obschon wir nicht sagen können, dass wir unsere Zivilisation bis zu dieser Tiefe wirklich ausgeweitet haben. Wie groß ist aber der Radius der Erde? 6371 km. Unsere Zivilisation reicht also im besten Fall nicht tiefer als 0,17 % unter die Erdoberfläche. Sie ist also weniger als ein Nagel auf der Oberfläche des Erdenleibes! 595 Wenn wir aber die Höhe unserer Zivilisation mit den kosmischen Dimensionen vergleichen - gleichgültig, ob wir dafür das höchste Gebäude der Erde (Burj Khalifa in Dubai, 828 m), der Flughöhe kommerzieller Flugzeuge, die Umlaufbahn der Satelliten oder die weitesten Flüge der menschengemachten Flugobjekte (Marslandung, Sonnensonden, die Reise von Voyager 1, der die Grenzen des Sonnensystems überflogen haben soll) nehmen - , so sind diese Entfernungen verschwindend klein im Vergleich zu den Ausmaßen des uns bekannten Universums. 596 Und schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass unsere Zivilisation überhaupt nicht möglich wäre ohne die Wärme und das Licht, die uns 595 Die Dicke des Fingernagels beträgt ca. 1 mm, die Dicke des Leibes ca. 30 cm, also beträgt die Dicke des Fingernagels ca. 0,33 % der Dicke des Leibes. 596 Der Radius des Universums wird heute auf ca. 45 Milliarden Lichtjahre geschätzt (http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Universum#cite_note-1, heruntergeladen am 28. 1. 2015); am 27. Juni 2014 hat Voyager 1 eine Entfernung von ca. 1,909 x 10 10 km von der Erde erreicht d. h. ca. 127,63 Astronomische Einheiten, d. h ca. 0,0020182 Lichtjahre (der Radius des Sonnensystems wird auf ca. 1,6 Jahre geschätzt). Der Mensch hat also ca. 4,4 x 10 -12 % der Tiefe des Universums erreicht: 0.0000000000044 %). 14 Schlusswort 1475 von der Sonne gespendet werden. Es sei daran erinnert, dass die Sonne 99,9 % der Gesamtmasse unseres Sonnensystems ausmacht und dass ihr Durchmesser 109 Mal größer als der Durchmesser der Erde ist. Wir schreiben die uns von der Sonne gespendete Wärme und ihr Licht gewöhnlich den materiellen Kernfusionsprozessen in ihrem Innern zu. Doch mahnt das Rätsel der Sonnenkorona hier ebenso zur Vorsicht wie die Tatsache, dass wir die Prozesse im Innern der Sonne niemals aus nächsten Nähe untersuchen werden können. Sieht man die Sonne nicht als einen riesigen Fusionsreaktor, sondern als einen Wohnort erhabener geistiger Wesenheiten, wie ich es im Kapitel „ Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft “ dargelegt habe, so ändert sich die heute geläufige Vorstellung radikal und unsere Zivilisation erweist sich als existentiell von den Aktivitäten (und dem Wohlwollen) dieser Wesen abhängig. Bis jetzt haben wir vor allem von der Notwendigkeit der Erweiterung des herkömmlichen materialistisch-wissenschaftlichen Wissens um die geistige Dimension gesprochen. Aber der Mensch braucht nicht nur Wissen: Er braucht auch Werte und Ziele, die seiner Existenz Sinn und Halt geben können. Die materialistische Wissenschaft kann diese nicht liefern: Sie rühmt sich gerade, wertfrei zu sein (ob diese Annahme stimmt, sei hier dahingestellt). Ich habe im „ Intermezzo “ die gewagte Hypothese aufgestellt, dass manche der heute zu beobachtenden Phänomene, welche auf den Zerfall der althergebrachten moralischen Vorstellungen hindeuten, letztendlich auf die Verbreitung der materialistischen Metaphysik, der materialistischen Vorstellungen zurückzuführen seien. Diese Hypothese ist eigentlich nicht meine Erfindung. Bereits 1905 wies Rudolf Steiner mit voller Deutlichkeit auf diese Verbindung hin und appellierte eindringlich daran, solche Vorstellungen im Interesse des Menschheitsgedeihens zu bekämpfen: Es ist wichtig, dass nicht die materialistischen Bilder der Gegenwart in den- Menschenherzen Platz greifen, denn sie würden die Menschen in den zukünftigen Zeiten mit den brutalsten Neigungen ausstatten, die bloß auf die Sinnenwelt gerichtet sind, wenn es nicht wettgemacht wird durch geistige Vorstellungen. (GA93a, S. 135) Bis vor kurzem schöpften die Menschen ihre Zuversicht und ihre Orientierung aus den Religionen. Diese haben zwar - entgegen den Prophezeiungen verschiedener materialistisch gesinnter Denker - in der Gegenwart ihre Anziehungskraft nicht verloren, es zeigt sich aber, dass in der modernen vernetzten und durchmischten Welt ihre Vielfalt nicht nur bereichernd wirkt, sondern auch zu Konflikten führt. In einem kürzlich in den New York Times erschienenen Opposite Editorial zählte Timothy Egan die zahlreichen Konflikte mit religiösem Hintergrund auf, die 2014 in verschiedenen Teilen der Welt ausgetragen wurden: Schiiten gegen Sunniten in Irak, Boko-Haram- Muslime gegen Christen in Nigeria, Buddhisten gegen Muslime in Myanmar und Sri Lanka, Muslime gegen Juden in Israel bzw. Palästina usw. Wir haben 1476 14 Schlusswort uns darüber hinaus im vorigen Kapitel ein wenig ausführlicher mit dem Problem des islamischen Terrorismus auseinandergesetzt. Die zahlreichen heute ausgetragenen religiös motivierten Konflikte machen offensichtlich, dass wir mehr als Religion brauchen, um in Frieden miteinander zu leben. Vor geraumer Zeit stellte Thomas Sprat fest: [N]ow men are generally weary of the relics of antiquity, and satiated with religious disputes: now not only the eyes of men, but their hands are open, and prepared to labour: Now there is a universal desire, and appetite after knowledge, after the peaceable, the fruitful, the nourishing Knowledge: and not after that of ancient sects, which only yielded hard indigestible arguments, or sharp contentions instead of food [. . .]. (Sprat 1958, S. 158) Wir brauchen etwas, was über den divergierenden religiösen Meinungen steht, wir haben aber seit Sprats Zeiten gelernt, dass das wert- und sinnneutrale Wissen der herkömmlichen Wissenschaften den Hunger der Menschen nach Eintracht und Harmonie nicht stillen kann. Wir brauchen nicht Religion, nicht Wissen, sondern spiritualisiertes Wissen, um zu den erquickenden Quellen des Daseins, zum wahren Wasser des Lebens zu gelangen. Nur eine wahre Wissenschaft des Geistes, nur eine Geisteswissenschaft ist dieser Aufgabe gewachsen. 597 Die bedeutendste Lehre des Anfangs und der Mitte des 20. Jahrhunderts war m. E. die, dass manche scheinbar hehren Ideale, wie z. B. jene des Nationalsozialismus und des Kommunismus, Ideale, an welche Millionen von Menschen glaubten, nicht die erhoffte Erlösung bringen, sondern ins Verderben führen. Es gibt falsche Ideale, die nicht von den fortschreitenden Kräften der Menschheitsevolution, sondern von den diesen Kräften feindlich gesinnten zurückgebliebenen luziferischen und/ oder ahrimanischen Wesenheiten inspiriert sind. Die bedeutendste Lehre des Endes des 20. und des Anfangs des 21. Jahrhunderts wird m. E. sein, dass der rasante materielle und technologische Fortschritt, die Eroberung der natürlichen Welt, die besonders nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt haben, ebenfalls keine Erlösung 597 „ Alles Erkennen der Wahrheit, alles Leben und Handeln in der Welt des Geistes wird auf höheren Gebieten subtil, zart im Vergleich mit den Verrichtungen des gewöhnlichen Verstandes und des Lebens in der physischen Welt. Je mehr sich die Kreise des Menschen erweitern, desto feiner werden die Verrichtungen, die er vorzunehmen hat. - Weil dies so ist, deshalb kommen die Menschen in bezug auf höhere Gebiete zu so verschiedenen „ Ansichten “ und „ Standpunkten “ . Allein, es gibt auch über höhere Wahrheiten in Wirklichkeit nur eine Meinung. Man kann zu dieser einen Meinung kommen, wenn man sich durch Arbeit und Andacht dazu erhoben hat, die Wahrheit wirklich zu schauen. Nur derjenige kann zu einer Ansicht kommen, die von der einen wahren abweicht, der, nicht genügend vorbereitet, nach seinen Lieblingsvorstellungen, seinen gewohnten Gedanken usw. urteilt. Wie es nur eine Ansicht über einen mathematischen Lehrsatz gibt, so auch über die Dinge der höheren Welten, Aber man muß sich erst vorbereiten, um zu einer solchen „ Ansicht “ kommen zu können “ (GA10, S. 113). 14 Schlusswort 1477 bringen, sondern sich selbst überlassen letztendlich in eine Katastrophe führen würden. Selbstverständlich brauchen wir die (richtigen) Ideale, und selbstverständlich brauchen wir Technologie, aber vor allem brauchen wir den freien Blick auf und den Verkehr mit den geistigen Mächten unseres Ursprungs. Diesen Blick öffnen, diese Verbindung sichern kann die heutige Wissenschaft nicht, dies sind die richtig verstandenen Aufgaben der modernen Geisteswissenschaft. Nicholas Rescher meinte in Bezug auf die Erkenntnissituation des modernen Menschen, dass er sich mit seinen Erkenntnisbedürfnissen nur an die Wissenschaft wenden könne: The situation is simple and straightforward. If we want to know about the constituents of this world and their laws of operation, we have to turn to science - and in fact to the science of the day. Whatever its shortcomings or limitations, science is the only game in town with respect to our best available picture of the laws of nature. There is no place else to turn for information worthy of our trust. [. . .] If we want to be informed about the furnishings of the world and their modes of comportment, there is simply nowhere else to go. [. . .] Within the sphere of its appropriate jurisdiction, so to speak, science is supreme because it stands unrivaled and alone. Whatever be its limitations, science is our only resource for dealing adequately with the issues that constitute its proper domain. (Rescher 1999, S. 249f.) Es mag sein, dass „ within the sphere of its appropriate jurisdiction “ die heutige Wissenschaft keine ernsthafte Konkurrenz hat. Der springende Punkt ist aber, dass diese Sphäre überhaupt nicht allumfassend ist. Es gibt eine Sphäre der Wirklichkeit, die für diese Wissenschaft völlig im Dunklen liegt, völlig unerreichbar ist. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass sie 95 % der Wirklichkeit umfasst. Und diese „ dunkle Sphäre “ der Wissenschaft ist die Provinz der Geisteswissenschaft. Die geistigen Wesenheiten unseres Ursprungs, die uns Menschen, kosmische Babys, seit Äonen gehegt und gepflegt haben, haben dies nicht mit dem Ziel getan, dass wir jetzt, da wir mündig geworden sind, stehlen, räubern und morden, sondern dass wir ihr Werk in ihrem Sinne weiterführen. Diesen Sinn müssen wir aber zunächst erschließen. Dies kann nur mithilfe der Methoden der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners geschehen. Die Menschheit der grauen Vorzeit wusste noch von den göttlichen Kräften und suchte in ihren Mysterienstätten den Verkehr mit ihnen. Mysterien gaben den Menschen nicht allein Wissen, sondern auch Richtkräfte für ihr tägliches Leben (GA35, S. 407). In ihnen wurde nicht nur offenbart, was ist, sondern auch, was nach den Beschlüssen der geistigen Mächte sein soll, oder, mit Worten des Johannesevangeliums, es erklang neben dem „ Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott “ (Joh 1,1) auch das „ Folge mir nach! “ (Joh 1,43). Die alten Mysterienkräfte sind heute erschöpft, die Menschheitsevolution kann jedoch nicht weitergehen, wenn nicht neue Mysterienkräfte in sie 1478 14 Schlusswort einziehen (GA346, S. 17). 598 Die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners will der Menschheit solche neuen Mysterienkräfte geben, sie will die neuen Mysterien der Menschheit einläuten. Im Lichte der Geistesforschung erweisen die Worte aus dem Prolog des Johannesevangeliums ihre tiefe Wahrheit. Es ist an der Zeit, dass der dank der Naturwissenschaft kosmisch mündig gewordene Mensch aus freiem Willen dieser Wahrheit Rechnung trägt: „ So muß der Mensch verstehen lernen, daß er [. . .] aus eigener Entschließung sich anzuschließen hat an dasjenige Wesen, das ihn geleitet hat, solange er noch nicht kosmosmündig war “ (GA346, S. 258f. 599 ). Und das nicht nur um seinetwillen: Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes. Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden - nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat - auf Hoffnung hin, dass auch selbst die Schöpfung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit freigemacht werden wird zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. (Rom 8,19-21) 598 Vgl. auch diese Äußerung Rudolf Steiners: „ Und [. . .] der Mensch [muss] entweder verderben, oder er muss vorrücken mit gutem Willen zu einer Erkenntnis der übersinnlichen Welt. Anthroposophie hängt heute schon zusammen mit dem eigentlichen Fortgang der menschlichen Zivilisation. Aber das Elend, das heute innerhalb dieser Zivilisation gesehen werden kann, sollte eine Aufforderung sein, heranzutreten an eine übersinnliche Menschen- und Weltbetrachtung “ (GA231, S. 152f.). 599 Vgl. GA199, S. 189. 14 Schlusswort 1479 15 Literaturverzeichnis Alle Zitate aus der Bibel nach: Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel (Altes und Neues Testament, 6. Aufl. Wuppertal: R. Brockhaus, 2003. Angaben aus elektronischen Ausgaben der Zeitschriften haben oft keine Seitennummer. Kürzelverzeichnis AE = Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Jürgen Wendel und Fynn Ole Engler. Wien und New York: Springer 2009. AM 1978 = Paul Feyerabend: Against Method. London: Verso. AM 1993 = Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Frankfurt am Main: Suhrkamp. AM 2010 = Paul Feyerabend: Against Method. New Edition, Introducec by Ian Hacking. London und New York: Verso. AS = Philip Kitcher: The Advancement of Science. Science without Legend, Objectivity without Illusion. Oxford usw.: Oxford University Press 1993. KSI = David Bloor: Knowledge and Social Imagery, 2. Aufl. Chicago und London: The University of Chicago Press 1991. LA = Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt. Berlin-Schlachtensee: Im Weltkreis 1928. LA 1966 = Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt, 3. Aufl. Hamburg: Felix Meiner 1966. LL = Bruno Latour und Steve Woolgar: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Introduction by Jonas Salk. With a new postscript and index by the authors, Princeton (New Jersey) und Chichester (West Sussex): Princeton University Press 1986. Tlp = Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. In: ders.: Werkausgabe Band 1, 12. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 7 - 85. Verzeichnis der Werke Rudolf Steiners, auf welche Bezug genommen wurde Die Werke von Rudolf Steiner werden in der Arbeit ohne Angabe des Autors und des Titels, lediglich nach der Bibliographie-Nummer (GA-Nummer) der Gesamtausgabe zitiert. Diese Form scheint aus zwei Gründen ausreichend. Erstens, alle Bände der Gesamtausgabe mit Ausnahme von GA27 (verfasst von Steiner in Zusammenarbeit mit Dr. Ita Wegman) enthalten entweder Schriften und Aufsätze, welche von Steiner selber geschrieben wurden, oder die Aufzeichnungen der von ihm gehaltenen Vorträge, so dass sich das Vermerken des Verfassers erübrigt. Zweitens wurden die meisten Bände der Gesamtausgabe, außer den Schriften, welche von Steiner selbst zum Druck vorbereitet wurden (GA1 - GA28), von den jeweiligen Herausgebern der Schrift mit einem Titel versehen. Dieser hat deshalb eine verhältnismäßig geringe Bedeutung. Es soll auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass die in der Gesamtausgabe zusammengefassten Werke Steiners grob in vier Hauptkategorien aufgeteilt werden können: erstens seine Schriften (Bücher, Aufsätze, Briefe usw.) (GA1 - GA45), zweitens seine öffentlichen Vorträge (GA51 - GA84), drittens Vorträge, die vor Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft gehalten wurden (GA88 - GA270), viertens Vorträge und Kurse zu einzelnen Lebensgebieten (GA271 - GA354). In der vorliegenden Arbeit wird Bezug genommen auf Inhalte, welche allen vier Kategorien angehören. Es ist jedoch festzuhalten, dass der Charakter dessen, was Steiner zu bestimmten Themen gesagt hat, stets an den Charakter seines Publikums angepasst war. Schließlich muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Nachschriften (meistens Stenogramme) der von Steiner gehaltenen Vorträge nur in seltensten Fällen von ihm durchgeschaut und korrigiert wurden. Es ist deshalb damit zu rechnen, dass - wie Steiner selber es hervorhob (GA28, S. 445) - sich in diesen Nachschriften auch Fehlerhaftes findet. Bei allen GA Bänden gilt: Verlagsort: Dornach/ Schweiz; Verlag: Rudolf Steiner Verlag. GA1 Einleitungen#zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie). 4. Aufl. 1987. GA2 Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, mit besonderer Rücksicht auf Schiller. 8. Aufl. 2002. GA3 Wahrheit und Wissenschaft Vorspiel einer „ Philosophie der Freiheit “ . 5. Aufl. 1980. GA4 Die Philosophie der Freiheit. 16 Aufl. 1995. GA5 Friedrich Nietzsche ein Kämpfer gegen seine Zeit. 4. Aufl. 2000. GA6 Goethes Weltanschauung. 8. Aufl. 1990. GA7 Die Mystik im Anfange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung, 6. Aufl. 1987 GA8 Das Christentum als mystische Tatsache. 9. Aufl. 1989. GA9 Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung. 8. Aufl. 1986. GA10 Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904/ 1905), Tbausg. (Tb. 600). 8. Aufl. 1987. GA11 Aus der Akasha-Chronik. 6. Aufl. 1986. GA12 Die Stufen der höheren Erkenntnis (Aufsätze aus den Jahren 1905 - 1908, Tbausg. (Tb. 641, S. 11 - 78). 2. Aufl. 1991. GA13 Die Geheimwissenschaft im Umriss. 30. Aufl. 1989. GA15 Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit. Geisteswissenschaftliche Ergebnisse über die Menschheits-Entwickelung. 10. Aufl. 1987. 1482 15 Literaturverzeichnis GA16 Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen. In acht Meditationen. 7. Aufl. 1982 GA17 Die Schwelle der geistigen Welt. 7. Aufl. 1987. GA18 Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriss dargestellt. 9. Aufl. 1985. GA20 Vom Menschenrätsel - Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten. 5. Aufl. 1984. GA21 Von Seelenrätseln. Anthropologie und Anthroposophie. 5. Aufl. 1983. GA23 Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. 6. Aufl. 1976. GA25 Drei Schritte der Anthroposophie. Philosophie - Kosmologie - Religion, (10 Auto-Referate zum „ Französischen Kurs “ im Goetheanum vom 6. - 15. Sept. 1922), Tbausg. (Tb. 641, S. 81 - 162). 2. Aufl. 1991. GA26 Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie. Das Michael-Mysterium. 9. Aufl. 1989. GA27 (mit Ita Wegman): Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen (1925). 7. Aufl. 1991. GA28 Mein Lebensgang. 8. Aufl. 1982. GA29 Gesamte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900. 2. Aufl. 1960. GA30 Methodische Grundlagen der Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, Naturwissenschaft, Ästhetik und Seelenkunde 1884 - 1901. 3. Aufl. 1989. GA31 Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte. 3. Aufl. 1989. GA32 Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884 - 1902. 2. Aufl. 1971. GA33 Biographien und biographische Skizzen 1894 - 1905: Schopenhauer - Jean Paul - Uhland - Wieland: Literatur und geistiges Leben im neunzehnten Jahrhundert. 2. Aufl. 1992. GA34 Luzifer-Gnosis 1903 - 1908 grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus der Zeitschrift „ Luzifer “ und „ Lucifer-Gnosis “ . 2. Aufl. 1987. GA35 Philosophie und Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze 1904 - 1923. 2. Aufl. 1987. GA36 Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze aus der Wochenschrift „ Das Goetheanum “ 1921 - 1925 (1961), Auswahl unter dem Titel „ Vom Seelenleben “ im Tb. 641 (S. 165 - 184). 2. Aufl. 1991. GA38 Briefe Band I: 1881 - 1890. 3. Aufl. 1985. GA45 Anthroposophie. Ein Fragment aus dem Jahre 1910. 3. Aufl. 1980. GA51 Über Philosophie, Geschichte und Literatur Darstellungen an der Arbeiterbildungsschule und der Freien Hochschule in Berlin. 1. Aufl. 1983. GA52 Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung (18 Vorträge, Berlin 6. September 1903 bis 8. Dezember 1904). 2. Aufl. 1986. GA53 Ursprung und Ziel des Menschen Grundbegriffe der Geisteswissenschaft (23 Vorträge, Berlin 29. September 1904 bis 8. Juni 1905). 2. Aufl. 1981. GA54 Die Welträtsel und die Anthroposophie (22 Vorträge, Berlin 5. Oktober 1905 bis 3. Mai 1906). 2. Aufl. 1983. GA56 Die Erkenntnis der Seele und des Geistes (15. Vorträge, Berlin und München 10. Oktober 1907 bis 14. Mai 1908). 2. Aufl. 1985. Verzeichnis der Werke Rudolf Steiners 1483 GA57 Wo und wie findet man den Geist? (18 Vorträge, Berlin 15. Oktober 1908 bis 6. Mai 1909). 2. Aufl. 1984. GA59 Metamorphosen des Seelenlebens - Pfade der Seelenerlebnisse. Zweiter Teil (9 Vorträge, Berlin 20. Januar bis 12. Mai 1910). 1. Aufl. 1984. GA60 Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (15 Vorträge, Berlin 20. Oktober 1910 bis 16. März 1911). 2. Aufl. 1983. GA61 Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung (16 Vorträge, Berlin 19. Oktober 1911 bis 28. März 1912). 2. Aufl. 1983. GA63 Geisteswissenschaft als Lebensgut (12 Vorträge, Berlin 30. Oktober 1913 bis 23. April 1914). 2. Aulf. 1986. GA62 Ergebnisse der Geistesforschung (14 Vorträge, Berlin 31. Oktober 1912 bis 10. April 1913). 2. Aufl. 1988. GA65 Aus dem mitteleuropäischen Geistesleben (15 Vorträge, Berlin 2. Dezember 1915 bis 15. April 1916). 2. Aufl. 2000. GA66 Geist und Stoff, Leben und Tod (7 Vorträge, Berlin 15. Februar bis 31. März 1917). 2. Aufl. 1988. GA67 Das Ewige in der Menschenseele. Unsterblichkeit und Freiheit (10 Vorträge, Berlin 24. Januar bis 20. April 1918). 2. Aufl. 1992. GA69a Wahrheiten und Irrtümer der Geistesforschung. Geisteswissenschaft und Menschenzukunft (10 Vorträge in verschieden Städten 24. Februar 1911 bis 17. Mai 1913), 1. Aufl. 2007. GA69b Erkenntnis und Unsterblichkeit (10 Vorträge in verschiedenen Städten 19. Februar 190 bis 23. Februar 1911). 1. Auflage 2013. GA72 Freiheit - Unsterblichkeit - Soziales Leben. Vom Zusammenhang des Seelisch-Geistigen mit dem Leiblichen des Menschen (10 Vorträge, Basel und Bern 18. Oktober 1917 bis 11. Dezember 1918). 1. Aufl. 1990. GA73 Die Ergänzung der heutigen Wissenschaft durch Anthroposophie (8 Vorträge, Zürich 5. bis 14. November 1917 und 8. bis 17. Oktober 1918). 2. Aufl. 1987. GA73a Fachwissenschaften und Anthroposophie (8 Vorträge, Dornach und Stuttgart 24. März 1920 bis 2. September 1921). 1. Aufl. 2005. GA74 Die Philosophie des Thomas von Aquino (3 Vorträge, Dornach 22. - 24. Mai 1920), 4. Aufl. 1993. GA75 Das Verhältnis Anthroposophie zur Naturwissenschaft Grundlagen und Methoden (5 Vorträge in verschiedenen Städten, 17. Juni 1920 bis 11. Mai 1922). 1. Aufl. 2010. GA76 Die befruchtende Wirkung der Anthroposophie auf die Fachwissenschaften (5 Vorträge im zweiten anthroposophischen Hochschulkurs, Dornach 3. bis 10. April 1922). 2. Auflage 1977. GA77a Die Aufgabe der Anthroposophie gegenüber Wissenschaft und Leben. Darmstädter Hochschulkurs (Vorträge und Ansprachen, Darmstadt 27. bis 30. Juli 1921). 1. Aufl. 1997. GA78 Anthroposophie, ihre Erkenntniswurzeln und Lebensfrüchte (8 Vorträge, Stuttgart 29. August bis 6. September 1921). 3. Aufl. 1986. GA79 Die Wirklichkeit der höheren Welten. Einführung in die Anthroposophie (8 Vorträge, Kristiania [Oslo] 25. November bis 2. Dezember 1921). 2. Aufl. 1988. GA81 Erneuerungs-Impulse für Kultur und Wissenschaft. Berliner Hochschulkurs (7 Vorträge, Berlin 6. bis 11. März 1922). 1. Aufl. 1994. 1484 15 Literaturverzeichnis GA82 Damit der Mensch ganz Mensch werde. Die Bedeutung der Anthroposophie im Geistesleben der Gegenwart. Hager Hochschulkurs (6 Vorträge, Den Haag 7. bis 12. April 1922). 2. Aufl. 1994. GA83 Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit. Wege zu ihrer Verständigung durch Anthroposophie (10 Vorträge, Wien 1. bis 12. Juni 1922). 3. Aufl. 1981. GA84 Anthroposophie als Zeitforderung. Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie? (11 Vorträge in verschiedenen Städten 9. April bis 26. Mai 1924). 2. Aufl. 1986. GA89 Bewußtsen - Leben - Form. Grundprinzipien der geisteswissenschaftlichen Kosmologie (Niederschriften und Vorträge aus den Jahren 1903 - 1906). 1. Aufl. 2001. GA93 Die Tempellegende und die Goldene Legende as symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwicklungsgeheimnisse des Menschen (20 Vorträge, Berlin 23. Mai 1904 bis 2. Januar 1906). 3. Aufl. 1991. GA93a Grundelemente der Esoterik (Notizen aus 31 Vorträgen, Berlin 26. September bis 5. November 1905). 3. Aufl. 1987. GA94 Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (Notizen aus Vorträgen aus dem Jahre 1906). 2. Aufl. 2001. GA95 Vor dem Tore der Theosophie (14 Vorträge, Stuttgart 22. August bis 4. September 1906), 4. Aufl. 1990. GA97 Das christliche Mysterium (31 Vorträge in verschiedenen Städten 9. Februar 1906 bis 17. März 1907), 3. Aufl. 1998. GA99 Die Theosophie des Rosenkreuzers (14 Vorträge, München 22. Mai bis 6. Juni 1907). 7. Aufl. 1985. GA100 Menschheitsentwicklung und Christus-Erkenntnis (22 Vorträge, Kassel und Basel 16. Juni bis 25. November 1907). 2. Aufl. 1981. GA102 Das Hereinwirken geistiger Wesenheiten in den Menschen (13 Vorträge, Berlin 6. Januar bis 11. Juni 1908). 4. Aufl. 2001. GA103 Das Johannes Evangelium (12 Vorträge, Hamburg 18. bis 31. Mai 1908). 11. Aufl. 1995. GA104 Die Apokalypse des Johannes (13 Vorträge, Nürnberg 17. bis 30. Juni 1908), Tbausg.(Tb. 672), 2. Aufl. 1985. GA104a Aus der Bilderschrift der Apokalypse des Johannes (Teilnehmeraufzeichnungen von vier Vorträgen in München 22. April bis 15. Mai 1907, und zwölf Vorträgen in Kristiania (Oslo) 9. bis 21. Mai 1909). 1. Aufl. 1991. GA105 Welt, Erde und Mensch, deren Wesen und Entwicklung sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur (11 Vorträge, Stuttgart 4. bis 16. August 1908). 5. Aufl. 1983. GA106 Ägyptische Mythen und Mysterien im Verhältnis zu den wirkenden Geisteskräften der Gegenwart (12 Vorträge, Leipzig 2. bis 14. September 1908). 5. Aufl. 1992. GA107 Geisteswissenschaftliche Menschenkunde (19 Vorträge, Berlin 19. Oktober 1908 bis 17. Juni 1909). 5. Aufl. 1988. GA108 Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie (21 Vorträge in verschiedenen Städten 14. März 1908 bis 21. November 1909). 2. Aufl. 1986. Verzeichnis der Werke Rudolf Steiners 1485 GA109 Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen (23 Vorträge in verschiedenen Städten 21. Januar bis 15. Juni 1909). 3. Aufl. 2000. GA110 Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt (10 Vorträge, Düsseldorf 12. bis 22. 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GA153 Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt (6 Vorträge, Wien 9. bis 14. April 1914). 6. Aufl. 1997. GA156 Okkultes Lesen und okkultes Hören (11 Vorträge, Dornach und Basel 3. Oktober bis 27. Dezember 1914). 2. Aufl. 1987. GA157a Schicksalsbildung und Leben nach dem Tode (7 Vorträge, Berlin 16. November bis 21. Dezember 1915). 3. Aufl. 1981. GA158 Das Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt (7 Vorträge in verschiedenen Städten gehalten zwischen 1912 und 1914). 4. Aufl. 1993. GA159 Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (15 Vorträge in verschiedenen Städten 31. Januar bis 19. Juni 1915). 2. Aufl. 1980. GA161 Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung (13 Vorträge, Dornach 9. Januar bis 2. Mai 1915). 2. Aufl. 1980. GA162 Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (13 Vorträge, Dornach 23. Mai bis 8. August 1915). 2. Aufl. 2000. 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M. 264 Antonucci, R. 412 Apel, K.-O. 482 Appleyard, B. 2, 24 - 26, 439, 994 - 995 Apuleius, L. 1019, 1021 - 1022, 1024, 1076 Araujo, S. F. 989 Archera Huxley, L. 834 Archimedes 5, 753 Arendt, H. 774 Arie, S. 732 Aristarchos 5, 444 Aristoteles 2, 4, 7, 33, 82, 163, 208, 217, 542, 609, 669 - 670, 678, 685, 761, 798, 809, 933, 1036, 1094, 1101, 1131 Armstrong, D. M. 177 Arnold, M. 711 Arnstein, W. L. 1407 Arzy, S. 854 Ashman, K. M. 336 Aspect, A. 439 Aspell, J. E. 853 Assmann, J. 1017, 1023 - 1024, 1027, 1029, 1034, 1075 - 1076, 1079 - 1080 Attenborough, D. 419 Aurora, K. R. 423 Autenrieth, H. F. 799 Ayer, A. J. 64, 197, 199, 298, 302 - 303, 309 Azouz, R. 171 Baader, F. von 698, 764 Bacon, F. 2, 9, 12, 16, 33 - 35, 40, 61, 345, 613, 653, 656 - 657, 665, 678, 750, 997, 1013, 1148 - 1149, 1380 Bacon, R. 8 - 9, 11 Baer, K. E. von 800 Baertschi, B. 1229 Balfour, Lord 768, 781 Ballou, R. O. 774 Ball, P. 415 - 416, 576 Balter, M. 1363 Baringer, P. S. 336 Barnes, B. 323, 329, 397, 1111 Barrow, J. D. 473, 897 - 898, 904, 906 - 908, 992 Bartels, J. XI Barth, K. 774 Bartley, W. W. 256 Basson, S. 673 Battro, A. M. 508 Bauer. M. W. 502 Bayertz, K. 656, 706, 708, 710 Bealer, G. 1009 Beauregard, M. 520, 631, 954 - 958, 974, 987 - 988, 990, 992, 1425 Beaver, L. 731 Beccles, U. M. D. 1407 Bechtel, W. 465 Beckermann, A. 171 Becquerel, A. H. 30, 47, 1126 Begley, C. G. 493 Beisbart, C. 299 Bell, D. 1090, 1094 - 1095, 1132, 1141 Bellesi, M. 1460 Bell, S. D. 591 Beloussov, L. V. 552, 556 - 557, 562 Bennett, M. R. 531 Berelowitz, S. 731 Bergelson, E. 105 Bergson, H. 69, 90, 146, 148, 773 - 774, 782, 806 - 810, 818, 835, 925, 950, 956, 1228, 1354, 1425 Berkeley, G. 43, 73, 165, 317, 610, 664, 676 Berlin, I. 933 Bernard, C. 801 Bernstein, J. 862 Bernstein, L. 736 Bernstein, P. L. 675 Betzler, M. 344, 346 Bevan, J. 262 Bhaerman, S. 559 - 560 Bhattacharjee, Y. 409 - 410, 412 Bieri, P. 543 Biermann, B. XI Bingel, U. 423 Bird, C. D. 536 Bischofberger, N. 1342 Blair, T. 1008 Blanke, O. 853 - 854 Blasche, S. 478, 621 Blavatsky, H. 1176, 1322 Block, N. 1157 Bloor, D. 313, 321 - 323, 329, 339, 397, 1111 Blow. C. M. 732 Blumenbach, J. F. 799 Bochsler, K. 468 Boettger, C. XI Bohannon, J. 487 Böhme, G. 1127 - 1128 Bohr, N. 32, 430 - 433, 435 - 436, 439, 774, 804, 861, 938 Boltzmann, L. 44, 70 Bolyai, J. 48 Bommas, M. 1023 Bond, G. D. 1310 Boole, G. 48 Bordo, S. 13, 346 Borg. N. A. 587 - 588 Borjigin, J. 512, 514 Born, M. 101, 433, 435 - 436 Borowski, T. 745 Bosch, H. 865, 976 Botchan, M. 590 Boudry, M. 633, 635, 637, 642 Bournard, F. 412 Bowden, H. 1016, 1018 - 1019, 1021 - 1022 Boyle, R. 163, 656, 663, 674 - 676, 678, 680, 750, 997, 1013 Boynton, G. 521 Bradbury, J. 553 Brahms, J. 252, 262 Brandom, R. B. 1090 Brentano, F. 50 Bridgman, P. W. 303 Briggs, H. 729, 736 Broad, C. D. 835, 842 Broca, P. P. 505 Brooke, J. H. 661, 667, 675 - 676 Brooks, D. 542, 1358 Broughton, R. 794 Brown, R. 23 Brumfiel, G. 624 Brunner, H. 1041 Bruno, G. 661, 673, 1013, 1189, 1468 Buchanan, P. 330 Büchner, L. 45, 704 - 705, 708, 801, 1172 Budge, E. A. W. 1038, 1041 - 1042 Buffon, G. L. L. 798 Bunge, M. 626, 650, 681, 683 Bunnin, N. 681 - 683 Bunsen, R. W. 19 Burdach, K. F. 799 Burge, T. 478, 1139, 1151, 1154, 1157 Burke, D. J. 592 - 593 Burkert, W. 1018 - 1019, 1023 Burtt, E. A. 666 - 667, 679 Büscher. W. 733 Bush, G. 330 Butler, D. 485, 499 Buzsáki, G. 517 Callaway, E. 574 Camejo, S. A. 31, 432, 434 - 438 Canino, C. G. 1407 Canup, R. 412 Capellari, M. 412 Capra, F. 858 - 862 Cardano, G. 661 Carhart-Harris, R. L. 422, 1427 Carnap, R. 12 - 13, 50 - 51, 55, 61, 63, 65, 187 - 208, 210 - 230, 232 - 233, 235 - 251, 1544 16 Register 258 - 259, 262, 264 - 265, 273, 286, 289, 295, 298, 300 - 301, 303, 306, 309, 401, 454, 539, 654 Carroll, S. 631, 1327 Carsons, B. 512 Carter, B. 897 - 898 Carter, C. 431, 866, 987 - 988 Cartlidge, E. 410 Cartwright, N. 462, 464, 566 Casadevall, A. 490 Cashmore, A. R. 543 Cassirer, E. 46, 74 Cauwenberghs, G. 533 Cavagna, A. 421 Chakalova, L. 550 - 551, 590 Chalmers, D. J. 505, 721, 945 Chardin, P. T. 906 Chielens, K. 1148 Chopra, D. 729 - 730, 859, 973 - 974, 988, 990, 992 Christoffel, B. 48 Churchland, P. S. 640, 1193 Clarke, C. 990 Clauberg, J. 470 Clausius, R. 23 Cleeves, L. I. 417 Clery, D. 410, 417 Clinton, B. 330, 936, 1008, 1473 Cloninger, C. R. 988 - 989, 992 - 993 Code, L. 340, 344, 346, 355, 359, 361 - 362, 1129 Cohen, D. 498, 600 Cohen, H. 46 Cohen, J. 408 Collins, F. S. 495 - 496, 631, 750, 821, 936 - 942 Collins, H. 329, 397 Colwell, C. S. 650 Comte, A. 26 - 27, 43 Conant, J. F. 264 Coolican, H. 1111 Cooper, M. L. 486 Coughlan, S. 727 Couzin-Frankel, J. 414, 490 Couzin, J. 407, 485 Cover, J. A. 337, 445, 626, 1111 Cowley, W. H. 753 Crabtree, A. 946, 949 Craig, E. 343 Crary, A. M. 265 Creath, R. 187, 199 Crick, F. 545 - 546, 1007 Crocker, J. 486 Cromwell, O. 15 Crookes, W. 768, 781 Crouch, D. 1406 - 1407 Cuevas, B. J. 1310 Culotta, E. 408 Cupitt, D. 701 - 702, 712 Curd, M. 337, 445, 626, 1111 Curie, P. 30, 47 Cutting, W. C. 834 Cyranoski, D. 485, 487 Czolbe, H. 705 Dacke, M. 419 Dahm, J. D. 933 - 934, 936 Dalton, J. 19 Damasio, A. 1229 Dante Alighieri 1042 Darwin, C. 21 - 22, 47, 425, 466, 477, 571, 618 - 619, 631, 710 - 711, 713, 766, 769 - 770, 772, 804, 831, 840, 930, 1350, 1444, 1449 Daston, L. 1087, 1097, 1116, 1131 - 1132 Davenport, R. J. 407 Davidson, D. 540, 611, 1089, 1103 - 1104, 1142 Davies, P. 898, 903 - 904, 907 - 908 Davies, W. 733 Davy, H. 19, 966 Dawid, R. 441 - 444, 471 Dawkins, R. 640, 741, 745, 994, 997, 1000, 1002, 1147 - 1149, 1284 - 1285, 1400 De Morgan, A. 768 Delanoy, D. 793 Demokrit 7, 30, 163, 166, 655, 684 - 685 Dennett, D. C. 687, 1101 Descartes, R. 12, 34 - 36, 149, 208, 356, 471, 534, 609, 654, 656, 666 - 669, 673, 679 - 680, 684, 691 - 692, 870 - 871, 997, 1008, 1131, 1143, 1192, 1314, 1338, 1368 Devlin, A. M. 508, 517 Dewey, J. 310, 773 - 774, 818 Dexter, M. 501 Diderot, D. 694 Dietzl, G. 546 Dill, K. A. 575 - 576, 597 Personenregister 1545 Dilthey, W. 482, 659, 1177 Dionysius the Areopagite 1295 Dodson, E. J. 574 - 575 Dorosz, K. XI Dosa, D. M. 965 Dostojewski, F. 262 Doyle, A. 1451 Dragoi, G. 538 Driesch, H. 57, 774, 782, 797 - 799, 801 - 805, 893 Drieschner, M. 652, 1092 - 1093, 1129 Du Bois-Reymond, R. 46, 708 - 710, 714, 716 - 718, 720 - 721, 801 Duhem, P. M. M. 56, 161, 452 - 453, 614 DuQuesne, T. 1025 Duran, J. 313, 321, 323 Dürr, H.-P. 632, 933 - 934, 936, 1129 Easwaran, E. 1402 Eccles, J. C. 750, 774, 868, 870 - 873, 992, 1005 Echnaton 1360 Ecker, J. R. 553 - 554 Eddington, A. 431, 449, 774, 1129 Edmonds, D. 252, 254, 256, 295 Egan, T. 1476 Egevang, C. 420 Ehrenfest, P. 31 Ehrsson, H. H. 854 Eidinow, J. 252, 254, 257, 295 Einstein, A. 28, 32, 48, 57, 59, 101, 199, 251, 353, 413, 433 - 434, 438, 448 - 449, 490, 794 - 795, 873, 903, 916, 938, 1197 - 1198 Einthoven, W. 21 Eisch, A. J. 517 Elger, C. 528 Ellis, L. M. 493, 497 Elsasser, W. M. 804 Emerson, R. W. 765, 773 Emery, N. J. 536 Empedokles 7 Engler, F. O. 66, 68, 70 - 71, 154 Eratosthenes 5 - 6 Ercan, S. 553 Erhardt, F. 68 Erickson, M. H. 855, 858 Evans, G. 1101 Fales, E. 634 - 637, 641, 650 Falkenburg, B. 636, 725 Fang, F. 490 Faraday. M. 22, 750 Fara, P. 2 - 3, 8 - 11, 20, 27 - 28, 646, 655, 1014 Fausto-Sterling, A. 344 Fechner, G. T. 768 Fenwick, E. 922 - 923, 958, 1002, 1418 Fenwick, P. 922 - 923, 925, 958, 988, 990, 992, 1002, 1418 Feuillet, L. 508 Feyerabend, P. 287, 309, 316 - 318, 320, 397, 614, 817 - 818, 1015, 1084, 1125, 1165, 1167 Feynman, R. 431, 439 Fichte, J. G. 1015 Ficino, M. 661 Fine, A. 682 Finn, J. K. 536 Fischer, M. 1110 Fiser, J. 171, 530 - 531, 534 - 535 Fisher, H. L. 422 Fisher, L. 421 Fizeau, H. 23 Fleck, L. 200, 226, 307, 309, 314 - 316, 491, 1146 Fludd, R. 661 Fodor, J. A. 1158 Foerster, H. von 1149 Ford, K. W. 31, 108, 431 - 433, 439, 471 Forst, R. 746 Foster, E. A. 692 Foster, J. 308 Foucault, M. 23, 1145 Fraasen, B. C. van 682 Frankfurt, H. G. 1101 Frank, P. 49 - 50 Frazer, J. G. 774 Freeman, J. 512 Frege, G. 48, 153 - 154, 188, 191, 196, 203, 232, 242, 247, 249, 253, 277, 290, 292, 294, 298, 538 - 540 Fresnel, A.-J. 22, 28 Freud, S. 50, 448, 614, 773, 826, 921 Friedrich, M. J. 650, 694, 774 Fromm, E. 729 Frueh, D. P. 586 1546 16 Register Fukuyama, F. 1470 Fuller, S. 336 Gadamer, H.-G. 482 Galilei, G. 1, 53, 163, 685, 923, 1329, 1368, 1468 Galison, P. 1116, 1131 - 1132 Gallaher, J. 487, 1458 Galton, F. 768 Gardner, M. 907, 925 Gassendi, P. 431, 673, 675 Gasser, S. M. 552 Gauld, A. 780, 784, 953 Gauss, C. F. 48 Gebhardt, M. V, 1170, 1175 Gehring, U. W. 596 Genz, H. 475 Gerstein, M. B. 554 Gettier, E. 479 Gibran, K. 881 Giesenberg, F. X Gifford, A. 774 Gilbert, S. F. 552 Gilbert, W. 661 Giles, J. 532 Giovanni Pico della Mirandola 661 Giubilini, A. 741 Gladwell, M. 424 Glaserfeld, E. von 1149 Gloy, K. 19 Gödel, K. 197, 199 Godfrey-Smith, P. 445, 453 Goethe, J. W. von 262, 696, 699, 717, 721, 1173, 1201 Goette, A. 802 Goleman, D. 1229 Goodfield, J. 351 Goodman, N. 198 - 199, 243, 245, 278, 458, 1124 Goodwin, B. C. 550, 557, 859 Gordon, R. 556 - 557 Gore, A. 330 Gorham, G. 445, 448, 453 Gorman, J. 743 Gøtzsche, P. 502 Gould, A. 949 Gould, C. G. 420 Gould, J. L. 420 Goyon, G. 1047 - 1051 Grabovsky, V.I 552, 562 Gradwohl, N. 728 Graf, F. 1017 - 1019 Grant, E. 2, 6, 8 - 10, 22, 30, 665 - 666 Grattan-Guinness, I. 817 Greally, J. M. 552 Green, C. 850, 852 - 853 Green, D. 418 Green, M. 442 Greyson, E. B. 515, 866, 946, 949, 953, 986 Gribbin, J. 1, 19, 30 - 31 Grondin, J. 482 Grossman, N. 986 - 987 Grosso, M. 946, 949 Gross, P. R. 330 - 331, 338 - 339, 652 Guemas, V. 1451 Guerra, P. A. 419 Gulland, A. 735 Gunn, J. 336 Gurwitsch, A. 893 Gustafsson, B. 879 - 880, 883, 1378, 1421 Guth, A. 903 Habermas, J. 292, 482, 540, 1089, 1112 Hacker, P. M. S. 251 - 255, 257, 260 - 262, 265, 290, 293 - 294, 296, 531 Hacking, I. 306 - 307 Haeckel, E. 25 - 26, 46, 65, 189, 710, 712 - 724, 797, 804, 1172, 1350 - 1351 Haggard, P. 505, 543 Hahn, H. 49 - 51, 194 - 195 Hahn, O. 31 Haidbauer, J. 257, 295 Haines, J. L. 547 Halder, G. 547 Halle, J. von 1263 Haller, J. S. 752, 755 - 756, 763 - 764 Halliday, A. N. 412 Hameroff, S. F. 505, 990, 992 Hamilton, A. 465 Hamilton, W. 23 Hampe, M. 474 Hanfling, O. 64 - 65, 301 Hanna, R. 1104 Hänni, P. 1255 Hanson, N. R. 306, 611, 932, 1129 Hanstein, J. von 802 Haraldsson, E. 959, 990, 992 Haraway, D. J. 345 Personenregister 1547 Harding, S. 345, 347, 349 - 350, 355 Hardorp, B. XI, 1179 Hardy, A. 66, 782, 837 - 845, 873 - 875, 878, 915 Harold, F. M. 556 Harris, K. D. 527, 530 Harris, S. 1399 - 1400 Hart, D. B. 477 Hartmann, E. von 803, 1172 Harvey, W. 798 Haslanger, S. 344 Hauser, M. 486 Häusser, M. 527, 561 Häussler, T. 488 Hawken, P. 1437 Hawkesworth, M. E. 1087 Hay, D. 876 Haynes, J. 521 - 523 Heidegger, M. 482 Heinrich, A. XI Heisenberg, W. 432 - 433, 436, 774, 861, 934, 938 Helck, W. 1077 Helmholtz, H. von 23, 28, 46, 50, 57, 702, 709, 801, 1172 Hemleben, J. 1170 Hempel, C. G. 196, 198 - 199, 393, 447, 457 - 458, 651, 1123 Henry, J. 323, 631, 1111 Henzler-Wildman, K. 579, 1454 Heraklit 7 Herodot 1013, 1015 Herrnstein Smith, B. 1088 Herschel, J. 39 - 40 Hertz, H. 23, 50, 294 Heusser, P. VI, 1170 Hey, A. J. G. 439 Heylighen, F. 1148 Hilbert, D. 48, 77, 124, 126, 227 Hill, E. 784 Hillerdal, G. 879 - 880, 883, 1378, 1421 Hitler, A. 252, 745 - 746 Hobbes, T. 656, 675 Hochberg, L. R. 505, 524 Hodgson, R. 780 Hoerni, U. 823, 828 - 829 Hoffmann, J. 260 Holbach, P. H. 694 - 695 Holden, J. M. 866 Holderfer, R. N. 525 Holton, G. 332, 676 Holzinger, B. 1214 Homer 1366 Homouz, D. 582 Hook, W. F. 701 Hooykaas, R. 659, 662 - 665, 667 Horgan, J. 442 Horkheimer, M. 1129 Horn, F. 756 - 757 Hornung, E. 1023, 1038, 1041, 1079 Hubble, E. 468, 903 Huget, J. 729 Hume, D. 38, 85, 96, 121, 176, 180, 461, 475, 594, 610, 629 - 630, 632, 643, 677, 746, 869, 1442 Hund, G. R. 536 Husserl, E. 50, 69, 74, 90, 93, 146, 148, 150, 152, 539 - 540, 773, 1108, 1142, 1145, 1228, 1313 - 1316, 1320 Huxley, A. 831 - 837, 846, 855, 915, 925, 950, 956, 983, 1022, 1351, 1381, 1420, 1425 Huxley, T. H. 711, 713, 996 Huygens, C. 39, 431 Hvistendahl, M. 488 Hwang, W. S. 484 - 485 Ingalhalikar, M. 362 Ioannidis, J. P. A. 10, 311 Irigaray, L. 357 - 358 Issa, E. B. 520, 536 Jacobi, E. 1255 Jacobs, G. H. 547 James, D. 777, 866 James, S. 340, 777 James, W. 52, 768, 773 - 779, 815, 818, 843 - 844, 855, 857, 869, 925, 947 - 948, 951, 956, 991, 1254, 1275, 1425 Jasper, H. 505, 519 Jeffries, S. 258 Jenuwein, T. 553 Johnson, V. E. 496 - 497, 1111 Johnston, S. I. 1017 - 1019 Jones, J. E. 622 - 624, 631 Josephson, B. D. 862, 943 Jouvenal, J. 728 1548 16 Register Jung, C. G. 448, 782, 823 - 830, 842, 1012, 1167, 1313, 1317 - 1318, 1320 Jüngel, S. XI Kalbermatten, M. 728 Kallio-Tamminen, T. 432 Kamath, R. S. 548 Kambartel, F. 243, 478, 620, 653 Kam-Hansen, S. 423 Kamitami, Y. 521 Kandel, E. R. 532 Kanterian, E. 290 Kant, I. 18 - 20, 38, 41, 46, 48, 50, 63, 79, 94, 98, 151, 208, 294, 297, 433, 594, 609, 696, 708, 763 - 764, 786, 799, 1043, 1090, 1096, 1102, 1106, 1131, 1149 Kapur, S. 586 Karnath, H.-O. 505 Keller, E. F. 344, 346 - 347, 351 - 355, 546, 548 - 550, 556, 1098, 1128, 1138 Keller, P. J. 415, 559 - 561 Kelly, E. F. 24, 520, 784, 787, 846, 946 - 953, 987, 1166, 1300 Kelly, E. W. 24, 520, 784, 787, 846, 948 Kelly, J. W. 423, 575 Kelvin, Lord 7, 10, 23, 25, 750 Kenet, T. 530 Kenneally, C. 511 Kennedy, D. 407 - 408 Kepler, J. 10, 41, 661 - 662, 666 - 667, 750, 843, 997, 1329 Kern, D. 454, 579, 1362, 1454 Kerr, R. A. 407, 411 Keynes, J. M. 257, 259, 262 Khosla, C. 586 Kible, B. 1131 Kierkegaard, S. 262, 320 Kim, J. 636 Kingsley, C. 664 Kintisch, E. 1451 Kirchhoff, G. R. 19, 31 Kirschner, M. 558 Kitcher, P. 338, 393, 395 - 403, 652 Klagge, J. C. 254 - 256 Klein, C. 1398 Klimt, G. 252, 258 Klohr, O. 25, 713, 720, 723 Knorr-Cetina, K. 323, 327, 403 Kobusch, T. 1131 Koch, R. 21, 947 Koch, S. 947 Kokoschka, O. 254 Kolata, G. 487 - 488, 500 Koons, R. C. 1009 Kopernikus, N. 1, 16, 41, 444, 451, 506, 522, 610, 613, 1189 Kording, K. 468 Koslover, D. J. 586 Kosslyn, S. M. 1109 Kotarbinski, T. 196 Kremer, W. 735 Kübler-Ross, E. 909 - 915 Kuhn, T. S. 182, 306 - 309, 313 - 315, 349, 393, 405, 407, 452, 483, 611, 648, 652, 817 - 818, 894, 966, 1129, 1313 Kuipers, T. A. F. 445 Kulke, H. 1364 Kurzweil, R. 742 - 743 Kutschera, F. von 478, 746, 775, 1009, 1150, 1154 La Mettrie, J. O. 679, 691 - 695, 778 LaBerge, S. 1214 Ladyman, J. 177, 445, 448, 453, 460 Lakatos, I. 305, 317, 397, 400 - 401, 454, 615 - 618, 624, 652 Laland, K. 571 Lamarck, J.-B. 22 Lancaster, M. A. 1458 Lanctôt, C. 549, 551 Lander, A. D. 418 Langdon-Davies, J. E. 843 Lange, F. A. 46, 309, 678 - 679, 694, 708 Langs, R. J. 505 Lankester, R. 811 Laplace, P.-S. 20, 192, 432, 695, 708, 711, 996 Larsen, P. O. 10 Lartigue, C. 547 Laska, B. A. 693 Latour, B. 323, 325 - 329, 339, 397, 1006 Laudan, L. 397, 461 - 462, 617 - 619, 633, 647, 1093 Laufs, A. 704 Laughlin, R. B. 472 - 473 Lavoisier, A. 19 Le Fanu, J. 994 Leaf, W. 781 Personenregister 1549 Leary, D. E. 520, 947, 954 - 955, 974 Lehoux, D. 308 Leibniz, G. W. 18, 38, 95, 208, 609, 656, 680, 1131 Lenard, P. 29 Lenggenhager, B. 854 Lenin, W. I. 713 Lenk, E. 1071 - 1072 Leonardo da Vinci 661 Leopold, D. A. 536 Leukippos 7 Levi-Civita, T. 48 Levitt, N. 330 - 331, 338 - 339, 652 Lew, D. L. 592 - 593 Lewin, R. 511 Lewis, C. I. 302 Lewis, J. R. 1042 Libet, B. 505, 519, 543, 999 - 1000, 1110 Lichtenberg, G. C. 262, 1143, 1151 Liebig, J. von 800 Liebmann, O. 46, 708 Lieven, A. von 1024, 1026, 1028 - 1029, 1034 Lindberg, D. C. 600 Lindenberg, C. 1170, 1386 Linton, H. B. 505 Lipton, B. H. 520, 558 - 560, 926 - 931, 936, 1355 Lloyd, E. A. 344, 346 - 347, 1097 - 1098 Lobatschewski, N. 48 Locke, J. 38, 162 - 163, 208, 610, 634, 677, 685 - 691, 1128 Lodge, O. J. 768, 782, 810 - 816, 836, 1421 Lolordo, A. 661, 669, 673, 675 London, M. 527 Longino, H. 338, 344, 348 - 349 Lorenz, K. 1106 Loreto, V. 164 Losee, J. 33, 35 - 37, 39 - 43 Lotze, R. H. 95, 801 Love, D. 1214 Lovelock, J. 859, 905 - 906, 908 Lubkoll, C. 696 Lukrez 655, 669, 671 Luther, M. 1184 Lyell, C. 21, 713, 766 Lyotard, J.-F. 1043 MacCallum, J. L. 575 - 576, 597 Mach, E. 43, 45, 47, 50 - 52, 56 - 57, 62, 70, 82, 193, 204, 228, 682, 773 Maddox, J. 890 - 891, 896 - 897 Magee, B. 64 Maher, B. 581 - 582, 586, 1458 Mahler, G. 252 Mahner, M. V, 598, 603, 626 - 630, 632, 634, 642, 646, 650, 681, 683 Majorek, M. B. VI, 175, 340, 346, 361, 393, 649, 750, 871, 997, 1084, 1087, 1133, 1135, 1137 - 1138, 1140, 1142, 1147, 1159, 1162, 1177, 1180, 1186, 1189, 1254, 1269, 1272, 1297, 1425 Malakoff, D. 743, 1438 Malcolm, N. 256, 260 - 262, 264, 424 Malebranche, N. 664 Mandler, G. 871 Mannheim, K. 313 Manning, C. E. 416 Mann, T. 252, 834 Manoussakis, J. P. 1042 Mansfeld, J. 166, 684 Marcus, R. 733 Margolskee, R. F. 1112 Margueron, R. 553 Markram, H. 532 Marshall, A. 516 Martin, C. 353, 552 Martin, J. R. 351 - 352 Martinson, B. C. 489, 491 Marx, K. 448, 614, 700 - 701, 811, 1080 Maslow, A. H. 730, 858, 1087, 1098 - 1099, 1138 Massaro, D. W. 947 Massei, K. 1218, 1255, 1263 Matt, R. von 742 Maturana, H. R. 820, 859, 1149 Maudsley, H. 763 Maxwell, J. 23 - 24, 28, 750, 820 Maxwell, R. E. 518 Mayer, J. R. von 23, 702, 801 McAleer, P. 424 McCabe, J. 25, 713, 811 McClelland, S. 518 McConnell, N. J. 412 Mccoy, T. 639 McDougall, W. 794 1550 16 Register McDowell, J. H. 232, 478, 611 - 612, 1154 McGinn, C. 539, 1009, 1143, 1153, 1157 - 1158 McGrew, T. 445, 453 McGuinness, B. 254 McKay, R. 1408 McKenna, T. 660, 998 McNaughton, B. L. 537 McNulty, J. K. 424 McNutt, M. 495 - 496 Megill, A. 1087, 1097 - 1098 Meier-Seethaler, C. 344, 359 - 361, 1119 Meinel, C. 670 - 674 Mendelejew, D. 19 Mengele, J. 502 Mercer, C. H. 732 Mersenne, M. 675 Merton, R. K. 313 Mesmer, F. A. 20, 921 Metzinger, T. 540, 995, 1142 - 1144, 1193 Meyer-Abich, K. M. 361, 1129, 1147, 1153, 1397 Michelson, A. A. 24, 27, 29 Midgley, M. 994, 1006, 1009 Miegel, M. 1394 Mielnik, B. 434, 440 Miller, G. 407, 505, 692 Miller, L. E. 525 Mill, J. S. 39, 41 - 42, 77, 564 Minerva, F. 741 Misak, C. J. 243, 264, 298, 301 - 304 Mises, R. v. 49, 695 Mitani, J. C. 607 Mittelstraß, J. 11, 70, 609, 620 Mivart, G. 768 Mlodinov, L. 473, 908, 973 - 974 Mohn; E. 243 Moleschott, J. 704 - 705, 801 Möller-Levet, C. S. 1461 Monk, R. 252 - 257, 259, 261 Montefiore, H. 898, 902 - 903, 908 - 909 Montero, B. 636 Moody, R. A. 428, 512, 863 - 867, 877 - 878, 884, 888, 890, 915, 932, 1002, 1010, 1044 Moore, G. E. 254, 260, 294 Moore, P. 451 Morbidelli, A. 417 Moreira-Almeida, A. 988 - 992, 994, 1336 Morgan, K. O. 14 - 15 Moritz, C. T. 525 - 526 Morley, E. W. 29 Moser, E. I. 538 Moser, M.-B. 538 Moser, P. K. 401, 652 Moss, J. M. B. 246, 250 Mossner, E. C. 677 Moulines, C. U. 243 - 244, 246 Muckli, L. 509 - 510 Muir, E. 834 Müller, J. P. 46, 800 Müller, L. 734 Murphey, D. K. 519 Murphy, G. 774 Murphy, M. 946, 948, 953 Myers, F. W. H. 768, 775, 779 - 780, 783 - 794, 796 - 797, 811, 948, 950, 953, 1002, 1421 Nagel, T. 150, 152, 249, 309, 483, 1009, 1090, 1093, 1096, 1099 - 1101, 1119, 1121 - 1122, 1124, 1139, 1150, 1153, 1167, 1232, 1239, 1291 Nagl-Docekal, H. 344 - 347, 358, 362, 456 Nahm, M. 515 - 517 Nath, I. 492, 653 Needham, J. 3, 798 Nelböck, H. 70 Nelson, E. J. 302 Nelson, L. H. 344 Neubert, S. 1064, 1070 Neumann, J. von 199, 505, 533, 943 Neurath, O. 49, 51, 195 - 196, 198, 300, 309 Newton, I. 10, 18 - 19, 35 - 38, 41, 161, 184, 431, 448 - 449, 451, 462, 464, 474, 477, 616, 618, 636, 656, 658, 664, 671, 676, 680, 692, 695, 749 - 750, 799, 843, 997, 1013, 1197 Newton-Smith, W. H. 307, 1129 Nikolaus von Kues 297, 661 Noë, A. 687 - 688 Noll, L. 803 Nordmann, A. 254 Norman, C. 260, 407 - 408, 652 Normile, D. 485 Norwood, V. L. 306, 351 Novalis 696 Nufer, P. 402 Nunez, P. L. 520 Personenregister 1551 Nunn, C. 768, 795, 849 Nuspliger, N. 742 Obama, B. 737, 936, 940 Oberschelp, M. 317 Obokata, H. 486 Ockham, W. von 36, 438, 470, 474, 1463 Oeri, M. XI Oetinger, F. C. 764 Ohlheiser, A. 1411 Ohm, G. 23 Oken, L. 75 Okruhlik, K. 212, 455 - 456 Ørsted, H. C. 22 Osmond, H. 834 Ostwald, W. 189 Otazu, G. H. 536 Pace, A. 1063 - 1068, 1072, 1079 Papineau, D. 656, 680, 703, 725, 1129 Pascal, B. 13, 40, 750 Passmore, J. 64, 309 Pasteur, L. 21 Pauli, W. 199, 1158 Pavlides, C. 537 Paxino, I. XI Pearl, J. 563 Pearsall, P. 916 - 917, 919 - 920, 922, 1432 Pearson, H. 541, 548 - 549, 553 Peirce, C. S. 403, 773, 1094, 1293 Penfield, W. 505, 519 Pennisi, E. 407, 413, 552, 554 Penrose, R. 774, 924 - 925, 992, 1351, 1353 Pérez-Ramos, A. 678 Persinger, M. A. 505, 517, 854 Pesic, P. 345 Piaget, J. 1119 - 1120 Pickering, A. 1087 Pigliucci, M. 552, 633, 642 Pinch, T. 323 Pinet, P. 21 Pinker, S. 743, 946, 1377 Pinsent, D. 255 Piper, L. 773, 782 Planck, M. 31, 66, 409, 432 - 433, 441, 1126 Platon 193, 248, 609, 659, 662, 684 - 685, 792, 820, 865, 868, 933, 944, 1012 - 1013, 1020, 1082, 1101, 1277 - 1278, 1363 Podolsky, B. 438 Poincaré, H. 50, 56, 88, 161 Polhem, C. 753 Popper, K. R. 1, 39, 55, 154, 160 - 161, 197, 199, 211, 254, 263, 295, 305 - 307, 317 - 318, 397 - 398, 400 - 401, 448 - 450, 452 - 453, 477 - 478, 539, 614 - 616, 750, 868 - 873, 894, 992, 1005, 1092 Porter, T. M. 1087 - 1088 Portugal, S. J. 420 Possehl, G. L. 1364 Powell, D. 1126 Powell, K. 558 - 559, 927 Power, H. 424, 673, 916 Poynton, J. 793 Pratt, J. 825 Presti, D. 954 Price, H. H. 841 - 842, 850, 853, 1101 Priestley, J. 19 Proctor, R. N. 16 Prokofieff, S. O. 1263 Prokopiuk, J. XI Psillos, S. 177, 462 Ptolemäus 6, 444, 522 Puczynski, M. 1304 Purnell, B. E. 413 - 415, 557, 560 Putnam, H. 60, 278, 298, 306, 309, 321, 773, 1094, 1097 Pythagoras 154, 538, 609, 1023, 1197 Qian, B. 574 Quack, J. F. 1021, 1023 - 1024, 1026 - 1028, 1034, 1076 Quine, W. V. O. 160 - 161, 198 - 199, 243, 306, 401, 453 - 454, 611, 614 - 615, 1139, 1313 Ramsey, F. P. 257, 259, 291 Ransom, S. M. 412 Ravagli, L. VI, 1170 Ravindran, S. 692 Rawls, J. 1436 Raya-Rivera, A. M. 1458 Rayleigh, Lord 10, 768, 781 Read, R. 265 Reddy, L. 505 Reden, S. von 1020, 1061, 1064 - 1065, 1068, 1070 - 1074 Rees, G. 521 - 523 Rehmann-Sutter, C. 1137 - 1138 1552 16 Register Reichenbach, H. 39, 47, 52, 55, 86, 101, 190, 192, 194, 199, 211, 243 Reich, E. S. 486 Reich, W. 921 Ren, B. 557 Renfrew, C. 1056 Reppert, S. M. 419 Rescher, N. 27, 469 - 470, 642 - 647, 652, 1089 - 1090, 1095, 1097, 1121, 1127, 1129, 1140, 1164, 1478 Retzius, G. 755 Reynolds, P. 512 - 514, 1414 Riccit-Curbastro, G. 48 Richardson, A. 652 Ric œ ur, P. 774 Riemann, B. 48, 78 Riess, A. G. 1126 Rilke, R. M. 254 Ringger, P. 515 Ritchie, G. G. 867, 884 - 890, 915, 1045, 1343, 1416 Rivera, C. M. 557 Robert, F. 417, 674 Röntgen, W. C. 29, 47, 1124, 1126 Rorden, C. 505 Rorty, R. M. 91, 278, 292, 540, 773, 1088 - 1090, 1094, 1097, 1103 - 1104, 1143 Rosas-Ortiz, O. 434, 440 Rosenberg, A. 445, 451, 454, 460, 465 - 466, 475, 652, 1084 Rosen, N. 438 Ross, A. 330, 332 - 334, 336 - 337, 542, 912 Rothermund, D. 1364 Roth, G. 505, 521, 543, 1110, 1149, 1193, 1229 Rott, H. 1107 Roughgarden, J. 942 Rouskin, S. 1001 Roux, W. 802 Rüegg, W. 8 Runggaldier, E. 243 Rupnow, D. 599 Ruse, M. 626 Rushby, A. J. 1391 Russek, L. 919, 921 - 922 Russell, B. 48, 52 - 54, 59, 188, 191 - 192, 196 - 199, 224, 243 - 244, 247, 251, 253, 255 - 256, 259, 264, 289, 294, 298, 306, 309, 539, 724, 773, 817 - 818 Russell, G. W. 832 Russo, L. 2, 4 - 6 Rutherford, E. 30, 430 Ryle, G. 261, 304, 538 Ryle, J. 261 Sabom, M. 512, 514 Salart, D. 439 Salmon, W. C. 446 Sanders, P. A. 1255 Santos, F. S. 988 - 992, 994, 1336 Sarewitz, D. 985 Sasai, Y. 558, 650 Sauer, W. 243 Schaefer, H. F. 750 Schaffer, S. 397, 631, 655 Schantz, R. 612 Scheckman, R. 469 Schelling, F. W. J. 698 - 699, 764, 1015, 1376 Scheman, N. B. 344 Schieren, J. 1177 Schiller, H. XI, 262 Schleiden, M. J. 20, 703 - 706, 708 Schlick, M. 12, 47, 50 - 52, 66, 68 - 89, 91 - 92, 94 - 100, 102, 104, 106 - 107, 109 - 113, 115 - 130, 132 - 162, 166 - 186, 194 - 195, 207, 209, 219 - 221, 223, 225 - 228, 232, 251, 258 - 259, 264 - 265, 267, 269, 273, 277 - 278, 286, 289, 295, 297, 301 - 302, 304, 309, 360 - 361, 538, 614, 1228 Schmidt, D. 1255 - 1256, 1263 Schmidt, K. 1080 Schmitz, H. 1015, 1127 Schnabel, U. 746, 1408 Schöne, E. XI Schöne, R. XI Schön, J. H. 484 Schopenhauer, A. 708, 800, 1172 Schott, T. XI, 1036 Schreiber, P. 127, 440 Schröder, E. 48, 50 Schrödinger, E. 433 - 435, 440, 804 Schubert, G. H. von 515 Schumm, R. XI Schuster, S. 421 Schwann, T. 20 Schwartz, G. 919, 921 - 922 Schwarz, A. 741 Personenregister 1553 Schweitzer, A. 774 Scriba, C. J. 127 Scully, T. 415 Searleman, A. 424 Searl, J. 1096, 1139 Seife, C. 407 Seleukos 444 Selg, P. VI, 1170 Sellars, W. 306, 611 Sellgren, K. 728 Semik, T. 733 Semmelweis, I. 21 Sennert, D. 672 - 673 Seok, J. 499, 501 Service, R. F. 408, 575 Sezgin, H. 743, 1449 Shamdasani, S. 824 - 826, 828 - 829, 1317 Shapin, S. 2, 397, 655 - 656, 665 - 666, 1013 Shapiro, M. 423 Shapiro, T. R. 728 Sheldrake, R. 25, 406, 460, 653, 660, 703, 711, 749, 805, 859, 890 - 897, 936, 985, 994 - 1001, 1003 - 1007, 1010, 1339, 1418, 1457, 1463 Shepherd, A. P. 1269 Shermer, M. 766 - 769, 771 Shidara, M. 171, 530 Shoemaker, S. 1100 Shweder, R. A. 954 Sidgwick, H. 768, 781 Siggelkow, B. 733 Sinclair, U. 794 Singh, S. 1107, 1146 Sirotin, Y. B. 536 Skipper, M. 553 Sklodowska-Curie, M. 30 Skyrms, B. 562, 564 Slotkin, J. S. 834 Smith, D. V. 1112 Smith, H. 834 Smith, K. 521, 1310 Smolin, L. 442 Snell, B. 1015 Snelling, J. 624, 1402 Snyder, S. H. 505 Soddy, F. 30 Sokal, A. D. 334 - 337, 487 Solanki, L. 728 Solso, R. L. 947 Song, J. 1458 Soon, C. H. 543 Sosa, E. 519, 563, 594 Spade, P. V. 36 Spaemann, R. 539, 1009, 1138, 1142, 1144 - 1145, 1192 Spang, A. 469 Spencer, H. 561, 767, 772 Spergel, D. N. 413 Spinoza, B. 189, 208, 609, 717, 721 Sprat, T. 12, 16, 404, 942, 1477 Sprenger, J. 458 Stadler, F. 49 - 50, 70, 212, 264, 289, 293 - 294, 309 Stadler, M. A. 264 Stahl, G. E. 798 Stapel, D. 486 Stapp, H. P. 943, 952 Steffen, W. 1397 Steiner, R. V - VI, IX, XI, 65, 151, 153, 227, 292 - 293, 307, 358, 596, 600 - 601, 614, 649, 699, 969, 1101 - 1102, 1143, 1158 - 1159, 1169 - 1171, 1173 - 1182, 1184 - 1189, 1191 - 1196, 1198 - 1206, 1208, 1210 - 1212, 1214 - 1219, 1223 - 1235, 1238 - 1240, 1242, 1244, 1246 - 1247, 1249 - 1250, 1253 - 1257, 1259 - 1260, 1262, 1264, 1266 - 1267, 1269, 1271, 1273 - 1278, 1280, 1282, 1284, 1286, 1288, 1290, 1292, 1294 - 1296, 1298, 1300, 1302 - 1304, 1309, 1311 - 1318, 1320 - 1321, 1323 - 1324, 1328 - 1333, 1335, 1338, 1347, 1350 - 1351, 1356, 1361, 1370, 1374 - 1379, 1383, 1386, 1389, 1393, 1395 - 1397, 1403, 1418 - 1420, 1422 - 1423, 1426, 1430 - 1431, 1434 - 1437, 1439, 1441, 1443, 1446 - 1447, 1452 - 1453, 1455 - 1457, 1462, 1468, 1476 Stevens, J. 834 Stevenson, I. 782, 845 - 849, 915, 922, 953, 1421 - 1422 Stevenson, L. 652, 948 Stewart, K. 856 - 857 Stokstad, E. 402, 408 Stöltzner, M. 51, 299 Stoya 733 Strassmann, F. 31 Straumann, F. 499 Strawson, G. 721, 945, 1356, 1432 Strutt, J. 781 1554 16 Register Sturma, D. 746, 1138 Styger, A. 1255 Suberbielle, E. 1461 Suppe, F. 45, 60 - 62, 66, 308 Svrluga, S. 728 Swassjan, K. 1170 Swearer, D. K. 1310 Swedenborg, E. 751 - 765, 830, 865, 890, 1421 Swinburne, R. 1100, 1153, 1155, 1158 Tabak, L. A. 495 - 496 Tarnas, R. 676 Tarski, A. 196, 198 - 199 Tart, C. T. 793, 826, 854 - 855, 858, 862, 865, 878, 967 - 972, 987, 1002 Taylor, A. H. 536 Taylor, C. 1009, 1138 - 1139, 1150 Teichmann, F. 1015 - 1016, 1023, 1030 - 1037, 1075, 1077 - 1081 Tetens, H. 264, 281, 285, 297 Thales 7, 1198 Thiel, C. 1088 Thomas von Aquin 182, 610, 833, 1042 - 1043, 1369 - 1370 Thomson, J.J 430, 750 Thomson, W. 7, 23, 25 Thurman, R. A. F. 1204 Tickell, C. 994, 1005 - 1006 Tillich, P. 774 Tipler, F. J. 473, 897, 904, 906 - 908 Tolstoi, L. 262 Tonegawa, S. 538 Tong, F. 521 Tooley, M. 519, 563, 594 Topazio, V. W. 694 Torres-Rossell, J. 591 Toulmin, S. 306, 1129 Trakl, G. 254 Travis, J. 413 Tsikolia, N. 562 Tsodyks 530, 535 Tudge, C. 894, 994, 1006 Turner, F. M. 703 Twenhöfel, R. 313 Uebel, T. 51, 299 Ulli, C. 735 Ullrich, H. V, 598, 600 - 604, 1170, 1175 Underwood, E. 413 Urban, P. 1398 Uygun, B. E. 1458 Van Lommel, P. 943, 945 Van Noorden, R. 489, 492 Van Praagh, J. 1255, 1257 Varela, F. J. 820, 1149 Vassányi, M. 661, 663 - 664, 698 Veiga, M. da 1180 Velliste, M. 524 Venema, V. 538 Vesalius, A. 1 Vimal, R. 504 Virchow, R. L.K 21, 705 Vocadlo, D. J. 585 Vogel, G. 407, 413 - 414, 486 Vogels, R. 171, 530 Vogt, C. 703 - 704, 706, 767, 801 Volta, A. 22 Vuillemin, J. 243 Vuletic, V. 439 Wadman, M. 489 Wagner, R. 706 - 708 Waismann, F. 195, 295, 301 - 302 Waldrop, M.M 631 Wallace, A. R. 22, 766 - 773, 840 Wallas, G. 277, 1157 Wall, P. 511 Walter, A. X Walter, R. XI, 1304, 1312, 1329 - 1330, 1452 Wang, X. 520, 536 Waugh, A. 255, 257 Weber, M. 313, 1129 Webster, G. 550 Wegener, A. 459 Weinberg, S. 724, 1009, 1092 Weinert, T. 591 Weinkauf, W. 1103 Weins, C. 596 Weinzirl, J. VI, 1170 Weir, A. 344, 536 Weismann, A. 258, 772, 1002 Weizsäcker, C. F. von 774 Wells, H. G. 744 Wendel, H. J. 66, 68, 70 - 71, 154 Werkmeister, W. H. 303 - 304 Wernicke, C. 505 Personenregister 1555 Wessbecher, H. 1255 West, J. A. 615, 1050, 1052 Wheeler, J. A. 438, 897, 907, 943 Whewell, W. 10, 39 - 40 Whitehead, A. N. 48, 52, 224, 244, 247, 294, 724, 774, 817 - 822, 829, 845, 893, 952 Whitehouse. H. 1408 Whorf, B. 1129 Wieczorek, M. A. 412 Wilhelm, B. G. 469 Wilkes, K. V. 1015 Willet, Mrs. 795, 1254 Williams, M. 29, 298, 317 Wilson, M. A. 537 Wimmer, R. 42 Winnacker, E.-L. 492, 653 Winson, J. 537 Wise, J. 735 Wittgenstein, K. 252 Wittgenstein, L. 49 - 50, 52, 54, 59, 62, 66, 70, 103, 187, 195 - 196, 199, 242, 250 - 282, 284 - 285, 287 - 296, 298, 300 - 302, 483, 539, 669, 773, 818, 1087 Wolff, C. F. 798 Wolff, G. 802 Woodgett, J. 490 Wordsworth, W. 698, 1346 Wright, C. 292 - 293, 483, 1151, 1153, 1156, 1201 Wright, G. H. von 264 Wunn, I. 1398 Wyler, G. 433 Xie, L. 1460 Yang, W. 488 Yates, F. A. 1013 Young, T. 22, 28, 46, 431 Yourgrau, P. 44 Zaehner, R. C. 834 Zander, H. V - VI, 598 - 601, 604, 1170, 1175 - 1176, 1254, 1312, 1322, 1386 Zangwill, O. L. 871 Zerin, E. 872 Zhang, L. 576 Zimmer, C. 408, 490 Zullo, L. 536 Zurek, W. H. 438 Zweig, S. 1170, 1172 Sachwortregister Abgrenzungskriterium VII, 1, 305, 453, 619, 627 Abstraktion 65, 76, 120, 157, 179, 248, 715 ADHS 423, 736 Adipositas 729 after-birth abortion 741 Aggregatzustand 1217 Aggressivität 345 Ahriman 1181, 1361, 1371, 1373, 1380, 1392, 1394, 1423, 1436, 1466 ahrimanisch 1361 - 1362, 1365, 1370 - 1373, 1380 - 1382, 1394, 1401, 1423, 1437, 1464 - 1468, 1477 AIDS 311, 633, 1472 - 1473 AKE 796, 850 - 854, 889, 953, 969, 988, 1413 Allah 1410 al-Shabaab 1409 Altered States of Consciousness 826, 854, 858, 1002 Amduat 1025 Anarchische Erkenntnistheorie 316 Aneurysma 512 Angst 183, 294, 490, 824, 826, 851, 865, 882, 897, 916, 926, 1093, 1223, 1275, 1323, 1362, 1380, 1398, 1438, 1464 - 1465 Anschauungsfähigkeit 1264, 1302 Anstrengung 113, 740, 808, 963, 979, 1146, 1150, 1237, 1249, 1401 - 1402, 1428 - seelische 1222 anthropisches Prinzip 897 Anthroposoph 1170, 1181, 1231, 1256 - 1257, 1304, 1312, 1324 Anthroposophie V - VI, X - XI, 1, 598 - 599, 603, 632, 649, 1150, 1170, 1174 - 1175, 1177 - 1181, 1183, 1186 - 1187, 1189, 1231, 1556 16 Register 1234, 1254, 1259, 1266 - 1267, 1278, 1290, 1316, 1323, 1376, 1382, 1384, 1479 anthroposophisch V - VI, 598 - 599, 1177, 1179 - 1180, 1187, 1199, 1203, 1231, 1263, 1267, 1277, 1330, 1441 Antigen 587 - 589, 638 Antigravitation 903, 1453 Antigravitationskraft 903 Apokalypse 764, 1378, 1389, 1392 - 1393 Aporie 1133 - 1135, 1137 - 1138, 1140, 1142, 1147, 1149 - 1150, 1158 - 1160, 1166, 1269 - 1270, 1276 - 1277, 1280, 1282 - 1284, 1286, 1289, 1298 Arabische Frühling 1471 Arbeitslosenrate 1471 Archai 1336, 1398, 1456, 1465 Archetyp 823 - 824, 1317 - 1318, 1338 Archetypenlehre 824 Arhat 1310 Arhatschaft 1310 ASC 854, 858 Astralleib 1193 - 1196, 1203, 1208 - 1209, 1213, 1221, 1225, 1244, 1302, 1333, 1339, 1341, 1343 - 1344, 1349 - 1350, 1355, 1357, 1360, 1362, 1367, 1373 - 1374, 1384, 1402 - 1403, 1413 - 1414, 1416, 1427 - 1428, 1433, 1441, 1461 Astrologie 7, 332 Astronomie 3, 7, 10, 18, 20, 87, 412, 617, 651, 708, 753, 766, 1444 - 1447, 1453 Atheismus 674, 680, 696, 726, 773, 939, 997 - methodischer 708 Athena 1021 Äther 28, 58, 462, 714, 790, 810, 1193, 1209, 1215 - 1216, 1339, 1342, 1344, 1352, 1367, 1413, 1427, 1446 Ätherleib 1193 - 1195, 1200, 1202, 1209, 1216, 1218, 1221, 1225, 1243, 1270, 1273 - 1274, 1280, 1333, 1349 - 1350, 1352, 1354, 1357, 1367, 1384 - 1385, 1391 - 1392, 1407, 1413 - 1418, 1424, 1427 - 1428, 1433, 1441, 1454, 1462 Atlantis 2, 34, 1363, 1369, 1389, 1450 ATLAS 1325 Atmosphären 1127 - 1128 Atom 7, 19, 23, 29 - 30, 44, 47, 58, 81, 108, 117, 166, 176, 180, 272, 410, 429 - 431, 433, 467, 502, 540, 575, 577 - 578, 584 - 585, 588, 669 - 671, 673 - 677, 679 - 681, 684, 695, 705, 710, 726, 778, 819, 893, 899, 902, 929, 1126, 1326, 1379, 1454, 1464 Atombegriff 680 Atomismus 667 - 671, 674, 676 - 679, 684, 695 Attribut 82, 176, 843, 1040 Aufbau 12, 56, 59, 61, 63, 66, 71, 79, 87, 107, 128, 165, 187, 193 - 194, 200, 206 - 207, 210, 215 - 216, 240 - 243, 246 - 247, 249 - 250, 298, 454, 572, 579, 592, 802, 1063, 1207, 1463 Auferstehung 777, 792 - 793, 1211, 1378 Aufklärungsmensch 1397 Außerkörperliche Erfahrungen 850 Auslaufmodell 1399 Avebury 1056 Axiom 37, 48, 56, 62, 77, 79 - 80, 86, 88, 101, 116, 123 - 127, 129, 158, 188, 191 - 192, 207, 215, 226, 246, 480, 671 Axiomatisierung 48, 61, 215, 246 Baryon 409, 441 Bedeutung VI, 4, 8 - 9, 32 - 33, 35, 40, 47, 56 - 57, 62, 72, 74 - 77, 79, 83, 88, 90, 92, 94, 101 - 102, 105, 114, 116 - 119, 123, 129, 142, 148, 150, 156, 162, 169 - 170, 187 - 188, 190 - 191, 196, 200, 203, 205, 221, 224 - 225, 227, 230, 241, 250, 262, 266, 277, 279, 289, 298, 300 - 305, 315, 326, 437, 453, 466, 480 - 483, 497, 540, 544, 552, 558, 566, 578 - 579, 596, 599, 601, 609, 617, 620, 638 - 639, 645 - 646, 651, 681, 699, 703, 708, 723, 738, 799, 803, 811 - 812, 817, 821, 827, 831, 835, 853, 874, 878, 899, 904, 908, 910, 932, 945, 947, 949, 978, 983 - 984, 995, 1001, 1015 - 1016, 1029, 1035, 1038, 1045, 1060, 1073, 1076, 1078, 1080, 1082, 1095 - 1097, 1102, 1104, 1106, 1114, 1128 - 1129, 1131 - 1134, 1138 - 1139, 1148, 1152 - 1153, 1157, 1160, 1162, 1165, 1181, 1184 - 1185, 1187 - 1188, 1196, 1212, 1215, 1217, 1223, 1226, 1233 - 1234, 1245 - 1246, 1248, 1250 - 1251, 1279, 1288 - 1289, 1308 - 1309, 1366, 1373, 1382, 1384, 1393 - 1394, 1400, 1403, 1411, 1424, 1457 - Konstanz 540 - 541 Sachwortregister 1557 Bedingung, notwendig und hinreichend 121, 204, 236 - 238, 249, 523, 553, 561 - 562, 566 - 567, 595 Begierde 762, 886 - 888, 1193, 1206, 1218, 1220, 1236, 1310, 1341, 1343, 1451 - 1452, 1466 Begriff VI - VII, XI, 5, 7, 10, 13, 16, 19, 26 - 27, 30 - 31, 38, 41, 53 - 58, 60 - 62, 69, 72 - 77, 79 - 88, 90, 93 - 94, 96 - 97, 101 - 137, 139, 144, 147 - 148, 150 - 153, 155 - 159, 162, 168, 171 - 176, 178 - 179, 181 - 182, 184, 186, 191, 193 - 194, 196, 200 - 207, 209 - 210, 213 - 216, 218 - 223, 225 - 226, 228, 230, 232 - 238, 241 - 242, 247 - 248, 268 - 270, 272 - 274, 278 - 279, 291 - 292, 300, 303 - 304, 314, 327, 330, 334, 345 - 348, 354 - 355, 358, 360, 395 - 396, 398, 403, 429, 434, 437, 442, 459 - 460, 474, 478, 480 - 483, 504, 524, 528, 538, 540 - 541, 553, 556, 558, 565, 585, 594, 596, 598 - 602, 604, 611, 614, 624, 627 - 628, 631 - 632, 634, 641, 651 - 653, 662, 673, 676, 678 - 683, 691 - 692, 698 - 699, 711, 715, 718 - 719, 721, 726, 751, 756, 762, 766, 778, 783, 785 - 787, 789, 799, 803 - 804, 807, 812, 817, 820, 834, 858 - 860, 863, 897, 916, 929, 932, 948, 950, 975, 979, 1015 - 1016, 1018, 1023, 1025, 1043, 1049, 1087, 1089 - 1090, 1094 - 1095, 1097 - 1098, 1102 - 1104, 1106 - 1108, 1112, 1114, 1117 - 1118, 1127, 1129 - 1132, 1134 - 1135, 1140 - 1144, 1147, 1151, 1159 - 1160, 1163, 1165 - 1166, 1181, 1184, 1186, 1200 - 1203, 1224, 1228, 1231 - 1232, 1267 - 1270, 1275 - 1277, 1282, 1287, 1297 - 1298, 1300 - 1301, 1310, 1337 - 1338, 1347, 1351, 1353, 1413, 1425, 1442 Begriffsbildung 97, 105, 107, 119, 121, 123, 157, 172, 174 - 175, 179, 192, 226, 715 Bekehrung 774, 932 Belüftungsschacht 1051 - 1052, 1054 Beobachtung des Denkens 1200, 1202, 1270, 1281 Bereitschaftspotential 543 - 544, 1000, 1430 Bescheidenheit 195, 294, 503, 648, 716, 947, 991, 1305 - intellektuelle 989, 1008, 1397 Betrug 337, 405, 484 - 485, 493, 502, 841, 847, 998, 1003, 1165, 1254, 1312, 1327 Beweis 12, 20 - 21, 29, 33, 100 - 101, 146, 161, 188, 306, 328, 347, 449, 460 - 461, 505, 522, 546 - 547, 561, 567, 614, 655, 674 - 675, 783, 792, 803, 805, 848, 911, 940, 966, 970, 981, 1086, 1106 - 1108, 1116, 1200, 1235, 1287, 1322, 1399 beweisen 28, 197, 272, 314, 401, 447, 506, 520, 541, 545, 561, 566, 595, 614, 654, 672, 707, 780, 783, 802, 874, 952, 971, 1235, 1252 - 1253, 1293 beweisender 1235, 1253 Bewusstsein XI, 74, 97, 99, 111, 113, 120, 134, 151, 153, 162, 165, 172 - 174, 181 - 182, 184, 206, 262, 269, 292 - 293, 420, 428, 504, 506, 508, 514, 519, 521, 524, 535, 538 - 539, 541 - 542, 580, 596, 669, 709 - 710, 715, 719, 769, 775, 808 - 809, 835, 844, 867, 885, 888 - 889, 909, 912 - 913, 924 - 925, 927, 930, 935, 943 - 945, 950, 952, 956, 958, 970, 975 - 976, 980 - 982, 985, 991 - 993, 999, 1008, 1010, 1033, 1035, 1044, 1077, 1102, 1119, 1135, 1138, 1142 - 1143, 1147, 1150, 1152, 1154 - 1158, 1171, 1193, 1195 - 1196, 1199 - 1200, 1209, 1216 - 1219, 1221 - 1223, 1227 - 1228, 1233, 1237 - 1238, 1244, 1249, 1259, 1264, 1269 - 1270, 1272, 1274, 1277, 1283 - 1285, 1290, 1295, 1305, 1317, 1337, 1341, 1349 - 1350, 1353, 1355, 1357, 1360 - 1361, 1364, 1368 - 1371, 1380, 1401, 1414, 1416, 1420, 1424 - 1425, 1427 - 1428, 1430, 1442, 1455, 1457, 1461, 1464, 1470, 1472 Bewusstseinsleere 826, 1317 Bewusstseinszeitalter 1370 Bewusstseinszustand 505, 521, 697, 832, 860, 1227, 1283 Bezeichnung 10, 34, 53, 56, 59, 76, 88 - 89, 94, 97 - 98, 121, 129, 137, 139, 145, 159 - 160, 162, 172 - 175, 219, 299, 437, 604 - 605, 620, 681, 801, 816, 948, 1017, 1055, 1080, 1108, 1131, 1140, 1177, 1180, 1182, 1220, 1368, 1427 - eindeutige 84, 87 - 88, 119, 127, 141 - 142, 158 Bibel 171, 641, 662, 707, 749, 752, 758, 865, 942, 1016, 1360, 1365, 1374, 1402 1558 16 Register BICEP2 1326 - 1327 Big Bang 718, 1325 Bildekräfteleib 1193 Biodiversität 425 Blick von nirgendwo 1096, 1100, 1121 Blut 358, 512, 514, 755, 814, 824, 887, 942, 977, 1206, 1390, 1402, 1404 - 1407, 1462, 1465 Blutsbande 1405 Blutsbanden 1403, 1408 Boko Haram 1409, 1471 Brahma 1295 Brahman 1402 Brutapparat 1458 Brutkasten 567, 569 Buddha 1206, 1312, 1321 Buddhismus 777, 944, 1022, 1190, 1256, 1310, 1321, 1402, 1409 Buddhisten 1408, 1476 Burj Khalifa 1389, 1475 CERN 441, 450, 467, 651, 1325 Charlie Hebdo 1400, 1411 Cheops 1046 - 1049, 1055, 1078, 1080 Cheops-Pyramide 1045 - 1046, 1055, 1063, 1067, 1072, 1074 - 1075, 1078, 1081 - 1082, 1365, 1384, 1388 Cherubim 1295 Choreographie 550, 552 Christ 675 - 676, 680, 749, 757, 813, 815, 895, 941, 1411 Christentum 14, 676, 678, 723, 764, 780, 792, 939, 944, 1176, 1178, 1190, 1319, 1342, 1401, 1404, 1408 - 1409, 1411 - 1412, 1469 christlich 13, 15, 190, 297, 624, 663, 675, 684, 695, 722 - 723, 750, 776 - 777, 792, 813, 815, 821 - 822, 833 - 834, 914, 935, 939, 942, 987, 1022, 1033, 1042, 1334, 1337, 1345, 1352, 1373, 1377, 1382 - 1383, 1393, 1404, 1409 - 1411, 1465, 1467, 1469 Christus 2, 189, 663, 665, 722 - 723, 757, 777, 792 - 793, 813, 815, 821 - 822, 867, 879, 881 - 882, 884, 887 - 890, 913, 967, 1033, 1175 - 1176, 1181, 1250, 1293, 1311, 1313, 1348, 1372 - 1379, 1382 - 1387, 1390 - 1392, 1400, 1403 - 1406, 1408 - 1409, 1411, 1421, 1464, 1466 Christus-Impuls 1377 - 1378, 1383 - 1385, 1387, 1403, 1405, 1407 - 1408 Chromosom 352, 356, 547, 549 - 550, 552 - 553, 591, 593, 854 Chronologie 542 - 543 Cochrane Collaboration 498 Computer 35, 113, 119, 145, 181, 220, 248, 281, 429, 467 - 468, 480, 484, 496, 505, 522, 526, 528 - 529, 531 - 534, 567, 578, 596, 639 - 641, 692, 739, 742, 924, 1109, 1119, 1133, 1162, 1168, 1197, 1328, 1424 Computersimulation 468, 532 Concorde 1388 contradictio in adiectio 90, 147 Core 977, 1231, 1420 CPU 528 - 529, 928, 1424 Curiosity 310 Dachschachtel 1058 - 1060 Dankbarkeit 167, 833, 1350, 1397, 1444, 1456 Daten VII, IX, 6, 31, 33, 47, 61, 91, 95, 229 - 230, 247 - 248, 337, 401, 442 - 443, 460 - 461, 466 - 467, 469, 485 - 486, 489 - 490, 496 - 499, 501 - 502, 511, 521, 524, 528, 578, 584, 606, 608 - 609, 626, 787, 989 - 991, 1085, 1109, 1111, 1326 - unterdrückte 484, 1003 DDT 402, 404, 503, 1007 Deduktion 37, 42, 93, 215, 574, 715 deduktiv 35, 81, 89, 99, 128 Deep Reflexion 855 Definieren 76, 78, 105, 117, 175 Definition 33, 37, 56 - 57, 74, 76, 78 - 81, 86 - 89, 101 - 103, 111, 114, 116 - 118, 121, 123 - 128, 131 - 133, 140, 143, 151, 157 - 161, 176, 178 - 179, 184, 188, 193 - 194, 203, 214, 226 - 227, 235 - 237, 268 - 269, 304, 349, 355, 357, 399, 453, 478, 553, 601, 617, 620 - 621, 625 - 626, 653, 680, 683, 999, 1085, 1088, 1102, 1178 - implizite 77 - 80, 87, 124 - 125, 127, 158, 186, 227 - konstitutionale 203, 205, 215, 235 - 236 Dekalog 744 Demarcation Problem 619, 633 - 634 Demenz 514, 735, 742, 764 Demeter 1018, 1020 - 1021, 1023 Denkanstrengung 1146 Sachwortregister 1559 Denken V, 7, 17, 33, 35, 43, 49, 52, 54 - 55, 71, 74, 77, 79, 81, 83, 86, 90 - 92, 99, 103, 120, 126, 129, 134, 136 - 137, 147, 151, 189 - 191, 196 - 199, 207 - 208, 212, 247 - 250, 259 - 260, 263, 266, 272, 288, 290 - 293, 317, 319, 332, 335, 344, 347, 362, 451, 476, 483, 505, 523, 539, 556, 594, 598, 600, 602, 606, 609 - 611, 613 - 614, 626, 637, 649, 669, 693, 695, 703 - 704, 709, 715, 717, 722, 758, 760, 771, 817 - 818, 823, 826, 837, 921, 923, 934, 950, 980, 1015, 1092, 1141, 1145 - 1146, 1150, 1152, 1154 - 1156, 1175, 1183 - 1184, 1193, 1196 - 1203, 1215 - 1217, 1223 - 1224, 1229, 1235, 1238, 1244, 1246 - 1249, 1252, 1256 - 1257, 1260 - 1262, 1270 - 1275, 1277, 1280, 1283, 1285, 1296, 1300 - 1301, 1307 - 1308, 1321, 1337 - 1340, 1363, 1369, 1442, 1447 - 1448 - mythisches V Denkerfahrung 1142, 1145, 1152, 1154 Denkgewohnheiten 60, 314 - 315 Denkkollektiv 60, 200, 309, 314 - 315, 326, 1146 Denkstil 208, 309, 314 - 315, 1146 Detektor 410, 434, 586, 690, 1302 Detektorrolle 586 Determinismus 189, 192, 248, 477 - 478, 542, 711, 725, 807, 996 - 997, 1154, 1429 Diagnose, pränatale 1396 Disziplinierung 1185, 1190 - seelische 1185 DNA 408, 416, 418, 545, 548, 554, 559, 581, 843 DNS 185, 416, 423, 541, 545, 548 - 551, 553 - 554, 569 - 570, 572, 576, 590, 595, 597, 805, 840, 892, 938, 995, 1008, 1457 Dogma 30, 65 - 66, 189, 238, 306, 453, 545, 550, 559, 572, 579, 604, 611, 698, 714, 720, 722, 783, 873 - 874, 922, 930, 947, 995 - 997, 1000, 1003, 1009, 1012, 1014, 1103, 1176, 1293, 1386, 1431 Doppelhelix 416, 576 dreieinhalb Tage 1384 - 1385 Drogen 218, 728, 731, 734, 831 - 833, 835 - 836, 915, 1426 - 1427, 1437, 1441, 1472, 1474 Drogenerfahrungen 1426 - 1427 Drogenhandel 1472 Drogenkonsum 519, 728, 858, 983, 1394, 1428 Drogensucht 1467 Drosophila melanogaster 546, 549 Dualismus 174, 205, 679, 707, 721, 752, 935, 951, 1103 Duhem-Quine-These 450, 454 DVD 567 - 569 DVD-Spieler 567 Dynamis 1334, 1336, 1355, 1398 Earthworm 976, 979, 987, 1420 Edinburgh-Schule 313, 323 Eingeweihte 284, 444, 1016, 1022, 1033 - 1034, 1037, 1073, 1078, 1080, 1197, 1218, 1254, 1259, 1263, 1267 - 1269, 1286, 1296, 1304, 1309, 1312, 1323, 1365, 1383, 1386, 1393, 1403, 1423 Einheitswissenschaft 53, 55 - 56, 60, 195, 233, 601 einweihen 1037 Einweihung 1016, 1023, 1029, 1034, 1036 - 1038, 1045, 1075 - 1076, 1078, 1080 - 1082, 1308 - 1310, 1312, 1322 - 1323, 1382, 1384 - 1386 Ekstase 785, 911, 1022, 1073, 1183, 1187 - 1188, 1426 élan vital 804, 807, 895 ELE 958 - 960, 988 Elektron 23, 29, 32, 108, 110, 125, 176, 180, 272, 409 - 410, 430 - 431, 433 - 436, 440, 461, 469, 471, 690, 897 - 898, 901 - 902 Elementargeister 1218, 1263 Elementarsatz 267, 280 - 282, 284 - 286 Elementarteilchen 24, 142, 166, 169, 245, 434 - 435, 441, 471, 690, 718, 721, 819, 893, 902, 943, 997, 1338 Elemente VIII, 7, 19, 30, 43, 50, 62, 65, 82, 86, 95, 106, 109, 144, 163, 181, 191, 193, 244 - 245, 273 - 275, 281 - 282, 321, 397, 401 - 403, 426, 432, 457, 471, 523, 529, 547, 553, 565, 567, 595 - 596, 627, 648 - 649, 690, 695, 751, 772, 775, 804, 854, 864 - 865, 875, 878, 889, 898, 900 - 901, 908, 981 - 982, 1019, 1024, 1028, 1034, 1064, 1067, 1109, 1116, 1130, 1145, 1153, 1157, 1174, 1191, 1214, 1217, 1237, 1250, 1284 - 1285, 1340, 1352, 1359, 1365, 1383, 1404, 1415 - 1416, 1444 1560 16 Register - chemische 19, 466, 898, 900 Elementengeister 1218, 1263 Eleusis 1014, 1021, 1045 Empfindungsleib 1340 Empfindungsseele 798, 1340, 1367, 1414 - 1415 Empirie 446, 609, 669, 715, 878, 1166, 1300 - 1301, 1303 empirisch VIII - IX, 6, 31, 33, 35, 37, 53, 55 - 58, 61 - 63, 72, 87, 93, 97, 99, 127 - 128, 150, 162 - 163, 171 - 174, 180, 184, 186, 194, 206 - 207, 211, 228, 237, 270, 298, 300, 304 - 306, 310 - 311, 333, 348, 398, 401, 405 - 406, 415, 423, 441 - 447, 453 - 457, 460 - 461, 464 - 466, 480, 503 - 505, 514, 517 - 518, 521, 525, 527, 534 - 535, 546, 548, 561 - 562, 564, 577, 581, 605, 609, 611, 613 - 614, 616 - 618, 623, 627, 640, 647 - 649, 670, 674, 709, 719 - 720, 725 - 726, 758, 780, 816, 826, 860, 921, 932, 946 - 948, 950, 953, 968 - 969, 971, 985, 988 - 991, 993, 998 - 999, 1002, 1010, 1097, 1160, 1162, 1165 - 1166, 1190, 1235, 1270, 1299 - 1300, 1302, 1322, 1380, 1429, 1444 Empirismus 38, 49, 53, 59 - 60, 64, 100, 128, 137, 243, 246, 299, 307 - 309, 348, 394, 481, 609, 611 - 613, 947, 1103 - logischer 1, 5, 12, 17, 37, 39, 45, 60, 62 - 64, 66, 187, 197, 201, 251, 299, 306 - 309, 313, 316, 325, 334, 339, 360, 393, 400 - 401, 405, 445, 453, 480 - 481, 611, 615, 1160, 1166, 1463 ENCODE 553 Ende-des-Lebens-Erfahrungen 958 - 959, 967, 990, 993 Energie 23, 30 - 32, 38, 206 - 207, 215, 333, 409 - 410, 412 - 413, 416, 433, 474, 575, 595, 611, 635, 660, 702 - 703, 714, 717 - 718, 721, 749, 754, 783, 790, 801, 804, 896, 898, 901, 903, 919 - 920, 934, 951, 995, 998, 1001, 1010, 1110, 1126, 1163, 1208, 1211, 1395, 1445 - 1447 - dunkle 408 - 409, 413, 461, 903, 1446, 1453 Engel 473, 657, 666, 681 - 682, 744, 747, 752, 756 - 762, 815, 887, 977, 1257, 1336, 1380, 1398, 1416, 1424, 1431, 1456 engineering approach 531 Entelechie 53, 150, 792, 798, 804, 820, 1431 Entlastungskammern 1051 Entmaterialisierung 202, 223 - 224, 246 Entthronung 1396 - 1397 Entwicklungsphase 1362 - hyperboräische 1362, 1390 - polarische 1362, 1390 Entzauberung 663 environment 414, 416, 478, 492, 559, 645, 787, 789, 791, 819, 835, 857, 861, 863, 905, 928, 1012 Enzym 551, 580, 583 - 584, 586 Epigenetik 553, 926 - 927 epigenetisch 569, 1001 Epoche 5, 667, 696, 724, 751 - 752, 914, 1003, 1103, 1293, 1314 - 1316, 1334, 1365 - 1367, 1370, 1387, 1389 - 1390 - ägyptisch-babylonische 1365 - altindische 1363, 1367 - altpersische 1364, 1367 - griechisch-lateinische 1366 - nachatlantische 1293, 1364 - 1367, 1387, 1464 - transzendentale 1314 - 1316 EPR-Paradox 438 - 439 Erdbeben 145, 503 - 504, 606, 760, 1073, 1093, 1449 - 1451, 1474 Erfahrung 8 - 9, 16, 18 - 19, 40, 43, 46, 54, 58, 60, 87 - 88, 93, 99 - 100, 106, 108 - 109, 111, 122, 127, 135, 144, 160, 171 - 173, 182, 194, 199, 206, 216 - 219, 223, 225 - 226, 228, 230, 232, 239, 243 - 244, 289, 305 - 306, 341, 352, 354 - 356, 398, 401 - 402, 422, 451, 453, 475, 503 - 506, 508, 512, 514, 519 - 520, 533, 535, 538 - 539, 541, 564, 577, 609 - 612, 614, 643, 648 - 649, 667 - 671, 676 - 677, 687, 692, 698, 715, 719, 721, 729 - 730, 733 - 734, 749, 756, 760, 768, 773 - 774, 783, 796 - 797, 809 - 810, 812, 815 - 816, 818, 823 - 824, 826, 828 - 829, 831, 833 - 834, 836 - 837, 842, 844 - 845, 847, 850, 852 - 854, 857, 859, 861 - 863, 866, 873 - 875, 877 - 880, 882 - 884, 888 - 890, 909 - 911, 914 - 915, 920, 924, 929, 931 - 932, 939, 944 - 945, 949 - 950, 953 - 955, 957 - 959, 962 - 965, 967, 971 - 972, 975 - 977, 979 - 985, 987, Sachwortregister 1561 989 - 991, 993, 1000, 1005, 1019 - 1020, 1028 - 1029, 1033 - 1035, 1042, 1044 - 1045, 1075 - 1076, 1078, 1082, 1089, 1107, 1123 - 1127, 1129 - 1130, 1134, 1140, 1143 - 1146, 1150 - 1152, 1164, 1173, 1191, 1199, 1210 - 1213, 1215, 1217 - 1220, 1227, 1234 - 1235, 1241 - 1242, 1244 - 1245, 1247, 1250, 1257, 1260, 1271, 1273 - 1275, 1278, 1283, 1285, 1295 - 1296, 1300 - 1303, 1316 - 1318, 1320, 1331, 1338, 1343, 1346, 1355, 1378, 1399 - 1400, 1413, 1416 - 1421, 1423, 1425 - 1428, 1432, 1435, 1440 Erfahrungsgrundlage 1121, 1160 Erfahrungsurteil 86 - 87, 100, 143 Erkennen 69 - 71, 73, 77, 81, 85, 89, 95, 99, 102, 105 - 107, 109 - 111, 114, 126, 129, 132 - 133, 143, 145 - 149, 152, 156 - 159, 168, 175, 186, 219, 226, 314 - 315, 360, 478, 482, 1119, 1144, 1154, 1180, 1185, 1199, 1203, 1214, 1219, 1280, 1288 - 1289, 1319, 1333, 1443, 1477 Erkenntnis 5, 11 - 13, 16, 21, 35, 38, 43, 47, 54 - 56, 58, 62 - 63, 68 - 72, 77, 79, 81, 83, 85 - 86, 88 - 99, 101 - 103, 108, 111, 114, 123, 126 - 127, 131 - 132, 134 - 135, 140, 142 - 143, 145 - 152, 155 - 156, 158 - 160, 162, 166 - 170, 172, 174 - 176, 180, 184, 186, 191 - 192, 201, 206 - 207, 210, 215 - 218, 220, 223 - 224, 228, 230, 232, 234, 238, 240 - 243, 245, 249, 270, 278, 293, 301, 315, 320 - 321, 331, 336, 338, 344 - 345, 350 - 351, 353, 355, 357 - 361, 394, 398, 401 - 404, 483, 491, 504, 506, 602, 609, 612 - 614, 632, 649 - 650, 653 - 654, 656, 667 - 668, 671, 679, 686, 691, 714, 866, 933 - 934, 945, 1008 - 1010, 1013, 1041, 1043, 1084, 1094, 1097 - 1099, 1104, 1119 - 1120, 1122, 1124 - 1126, 1131, 1133, 1135 - 1140, 1147 - 1150, 1158 - 1160, 1162, 1164 - 1165, 1176, 1180, 1183, 1186, 1194, 1196, 1198 - 1199, 1216, 1219 - 1220, 1222, 1225 - 1226, 1228 - 1230, 1235, 1241, 1245, 1247 - 1248, 1250 - 1254, 1258, 1260, 1262 - 1263, 1265 - 1266, 1269 - 1270, 1272, 1275, 1277 - 1291, 1294, 1298 - 1300, 1303, 1309 - 1311, 1313, 1315, 1319 - 1321, 1330, 1335, 1340, 1342, 1357, 1360 - 1361, 1376, 1379, 1383, 1386, 1401, 1430, 1443, 1470, 1479 - induktive 63, 99, 160, 182, 654 - sichere 64, 76, 123, 184, 210, 217 Erkenntnisfähigkeiten 311, 1013, 1163, 1167, 1179, 1196, 1233, 1256 - 1257, 1260, 1286, 1294, 1321 - 1322, 1331, 1383 - übersinnliche 1186 - 1187, 1191, 1196, 1199, 1203, 1210, 1212, 1214, 1222, 1234, 1237, 1239, 1241 - 1242, 1253, 1255, 1257 - 1258, 1276, 1280 - 1281, 1301 - 1303, 1330, 1339, 1342, 1352, 1382 - 1383, 1386, 1423 Erkenntnisinteresse 708, 1137, 1160, 1269, 1280 Erkenntnismethoden 293, 352, 356, 633, 971, 988, 1011, 1101, 1134, 1150, 1158, 1162, 1187, 1189, 1191 - 1192, 1196 - 1197, 1203, 1233 - 1234, 1236 - 1237, 1254, 1260, 1269 - 1271, 1282, 1286 - 1287, 1300, 1303, 1313, 1317, 1321, 1324, 1379, 1383 - 1384, 1413, 1421, 1424, 1429, 1453, 1462, 1470 Erkenntnistheorie 47, 51, 67 - 69, 71, 76 - 77, 83, 86, 93, 98, 100 - 101, 136, 177, 189, 197, 206, 243, 305, 315, 345, 361, 456, 621, 699, 1149, 1172, 1187 - feministisch VII, 344 - 345, 359, 361, 393, 503 Erkenntnisurteil 38, 81, 85 - 86, 88 - 89, 127 - 128, 143 - 144, 159, 1158, 1292 Erkennungsprozess 110, 587 Erkraftung des Denkens 1202, 1205, 1223, 1256 Erlöser 822 Erweckung 1212, 1279, 1385 Erzengel 1336, 1398, 1416, 1424, 1456 Esoterik V, 598, 628, 637, 881, 925, 1383 esoterisch 1023, 1267 ESP 948 Ethik 7, 67, 265, 287, 296, 745 - 746, 933, 1036, 1101, 1138, 1140, 1283, 1449 Eurobarometer 502 Evangelium 255, 263, 813, 881, 1033, 1341, 1372, 1377, 1405 Evidenz 163, 398, 615, 840, 896, 923 Evidenzgefühl 94 Evolution 91, 165, 414, 419 - 420, 426, 477, 559, 571, 597, 619, 629, 639, 711, 717, 726, 739, 742, 744 - 745, 766, 769, 792 - 793, 809, 837, 839, 844 - 845, 872, 893, 898, 930 - 931, 937 - 938, 942, 950, 1562 16 Register 952, 995, 1012, 1043, 1163, 1243, 1350, 1352, 1354 - 1355, 1358, 1360, 1362, 1367, 1372, 1375 - 1376, 1380, 1387, 1391 - 1392, 1397, 1399 - 1401, 1403, 1405, 1408 - 1409, 1444 - 1445, 1449, 1457, 1462, 1464, 1467 - 1468 Exoplaneten 1436 Experiment 3, 6, 9, 18, 28, 35, 37, 40, 260, 336, 398, 401 - 402, 446, 452, 466, 468, 497, 499, 543 - 544, 564, 599 - 600, 603 - 605, 608 - 609, 613, 620, 623, 651, 654, 670 - 671, 715, 782, 785 - 786, 794 - 795, 802 - 803, 823, 826, 832, 834, 841 - 842, 855, 860, 892, 894, 900, 969, 971, 1059, 1119, 1134, 1174, 1236, 1284, 1300, 1368, 1409 experimentell 37, 439, 448, 541, 614, 765, 782 Experimentum Crucis 452 Exusiai 1335 - 1336, 1355, 1358, 1398, 1401, 1456, 1465 Falsifikation 305, 453 Falsifikationismus 305, 448, 452 - 455, 614 - 615 Familienbanden 1405 Fantasie 219, 359, 422, 444, 519, 715, 717, 739, 765, 826, 890, 918, 996, 1014, 1042, 1045, 1205, 1317 - 1318, 1385, 1399 Feind 791, 1405, 1410 Feindesliebe 1410 Feuerhaken 295 Filtertheorie 950 folding mechanism 576, 597 Formalisierung 202, 223 - 224, 246 Forscher 4, 6, 22, 30, 41, 208 - 209, 217, 306, 329, 344 - 345, 348, 354, 358, 396, 402, 411, 422 - 424, 450, 456, 469, 485 - 486, 488, 493, 497, 499 - 500, 530, 543, 553, 571, 574, 591, 596, 607 - 608, 635, 650 - 651, 668, 711, 713, 751, 763, 767, 772, 774, 803, 805, 841, 859, 892, 947, 988 - 989, 1034, 1061, 1084 - 1085, 1103, 1115, 1124 - 1126, 1129 - 1130, 1134, 1137 - 1139, 1149, 1160, 1165, 1167, 1172, 1186 - 1187, 1190, 1209, 1211, 1214, 1229, 1233, 1236, 1241 - 1242, 1245 - 1246, 1248 - 1249, 1254, 1269, 1298, 1301, 1304, 1308, 1323, 1325 - 1326, 1329, 1454, 1461 Forschergemeinschaft 626 - 627, 1097 Forschung VII - X, XII, 3 - 4, 8, 11, 17, 24, 30, 32, 35, 37, 40, 42, 45, 58, 60, 71, 81, 84, 91, 117, 128, 141, 156, 166, 180, 197, 199, 211, 223, 227, 237, 271, 298 - 299, 305, 313, 328, 332 - 334, 338, 340, 344, 346, 348, 359, 393, 403, 405 - 407, 444 - 445, 450, 452, 456, 469, 488 - 489, 492 - 494, 496 - 497, 500 - 501, 503, 528, 545, 579, 586, 601 - 603, 605, 609, 617, 624 - 625, 628, 636, 646, 651, 653, 655, 658, 665, 667, 687, 691 - 692, 696, 707, 714, 717, 726, 744, 785, 794, 802, 831, 838, 841 - 842, 844, 849 - 850, 853, 866, 868, 891, 923, 926, 931, 948, 967, 969, 989, 1004 - 1005, 1007, 1009, 1085 - 1086, 1097, 1130, 1137, 1139, 1142, 1162, 1164 - 1165, 1175, 1178 - 1179, 1181 - 1183, 1185, 1191 - 1192, 1195, 1205, 1212, 1234 - 1236, 1241 - 1242, 1245, 1248, 1250, 1254, 1260, 1263 - 1266, 1284, 1289, 1291, 1293, 1295, 1297 - 1300, 1304 - 1305, 1310, 1313, 1322 - 1324, 1327 - 1329, 1331, 1335, 1337, 1339, 1350 - 1351, 1362, 1364, 1369, 1384, 1395, 1398, 1419 - 1420, 1425 - 1426, 1445, 1447, 1450, 1458, 1461 - geisteswissenschaftliche 1329, 1359, 1361, 1364 - 1365, 1384, 1414, 1416, 1422 - hellseherische 1209 - qualitative VII, 393, 503, 624, 1084 - 1085, 1159, 1165, 1167, 1321 Forschungsergebnisse IX - X, 185, 362, 407, 484 - 485, 487, 493 - 494, 496 - 497, 525, 531, 550, 586, 605 - 608, 649 - 650, 681, 725, 968, 975, 1002, 1084, 1117, 1120, 1138, 1159, 1161, 1165, 1192, 1234 - 1235, 1243, 1245 - 1246, 1253, 1257, 1263, 1270, 1272, 1292, 1296 - 1300, 1322 - 1324, 1327 - 1332, 1393, 1395 - 1396, 1400, 1409, 1416 - 1417, 1420, 1424, 1427, 1432, 1441, 1452, 1460, 1476 Forschungsgemeinschaft 400, 532, 604, 626, 628, 630, 1097, 1395 Forschungsinstrumente 27, 35, 406, 503, 605, 860, 1132, 1236 Forschungsmethoden 33, 445, 461, 485, 503, 521, 597, 603, 971, 1160, 1162, 1166 - 1167, 1187 - 1188, 1190, 1228, 1235, Sachwortregister 1563 1259, 1262, 1268, 1297, 1299 - 1300, 1302, 1322, 1325, 1328, 1393 - übersinnliche IX, 1186, 1270, 1296, 1317, 1322 Forschungsprogramm 311, 400 - 401, 454, 615 - 618, 624 Fortschritt 17, 19, 25, 27, 40, 53, 61, 63, 190, 195, 305, 307, 309, 311, 398 - 400, 402 - 403, 455, 466, 469, 601, 643, 716, 723, 742, 765, 792, 872, 947, 978, 1082, 1089, 1237, 1293, 1347, 1355, 1374, 1381, 1388 - 1389, 1400, 1464 - 1465, 1468, 1474, 1477 Fortsetzerin 1178 - 1179, 1182, 1322 Freie Hochschule für Geisteswissenschaft 1182 Freiheit 153, 276, 424, 478, 716, 722, 744, 762, 765, 851, 853, 1015, 1099, 1101, 1145, 1152, 1154, 1156, 1172, 1181, 1184, 1196, 1199 - 1200, 1202 - 1203, 1216, 1222, 1246 - 1248, 1271, 1273, 1282, 1307, 1347, 1360 - 1361, 1363, 1370, 1372, 1374, 1379, 1381, 1387, 1397, 1402, 1421, 1425, 1432, 1449, 1465, 1470, 1479 Friede 881, 964, 1341 Furcht 684, 763, 970, 1133, 1223, 1242, 1307, 1317, 1362, 1404, 1464 - 1465, 1467 Gateway 977, 979, 1226, 1231, 1420 Gattung 33, 41, 73, 91, 106 - 107, 342, 420, 425, 427, 545, 744, 835, 840, 915, 952, 1025, 1148, 1168 - 1169, 1447 - 1448 GAU 1007 Gebot 722, 739, 743 - 746, 1375, 1401, 1404, 1410 Geburt V, 2, 6, 11, 145, 209, 346, 426 - 427, 430, 510, 640, 741, 849, 894, 943, 963, 1020, 1027, 1031, 1039, 1131, 1194, 1214, 1218, 1225, 1232, 1246, 1253, 1279, 1303, 1342, 1344, 1346, 1348, 1350, 1369, 1376, 1402, 1417, 1422, 1430 - 1431, 1433, 1460, 1470 - jungfräuliche 1405 Gedanke 56, 71, 78, 85, 105, 114, 118, 126, 143, 151, 153 - 155, 161 - 162, 208, 211, 213, 217, 220, 229, 231, 249, 254, 266 - 267, 272, 274 - 280, 284, 288, 292 - 293, 305, 362, 417, 422, 434, 473, 476 - 478, 483, 489, 505, 521, 524, 526 - 527, 538 - 540, 558, 569, 614, 667, 679, 688, 698 - 699, 703 - 704, 706, 709, 727, 740 - 741, 759, 777, 800, 828, 843, 881, 886 - 887, 906, 928 - 929, 950, 957, 978, 994, 999 - 1000, 1013, 1015, 1018, 1076, 1099, 1101, 1131, 1140 - 1144, 1147, 1150 - 1158, 1162 - 1163, 1166, 1171, 1182, 1185, 1193, 1196 - 1197, 1199 - 1202, 1205 - 1206, 1215 - 1216, 1235, 1238 - 1239, 1248, 1261, 1264, 1270 - 1277, 1292, 1301, 1303, 1306 - 1307, 1314, 1318, 1337 - 1341, 1368 - 1370, 1379, 1412, 1416, 1424 - 1425, 1428 - 1429, 1442, 1464, 1477 Gedankendeterminismus 1154 Gedankending 76, 121 Gedankenverbindungen 1152, 1154 - 1155, 1158, 1275 Gefühl 17, 79, 134, 146, 152, 156, 167, 180, 211, 218, 231, 247, 253, 344, 351 - 352, 354, 359, 361, 422, 521, 523, 527, 539, 665, 688, 696, 727 - 728, 731, 754, 763, 775, 814, 824, 826, 830, 844, 850 - 852, 864, 875, 877 - 878, 882, 916, 930, 932, 936, 961, 964 - 965, 967, 969, 972, 979, 983, 989, 1015, 1032, 1038, 1058, 1075 - 1076, 1084, 1095, 1107, 1109, 1123, 1128, 1143, 1167, 1174 - 1175, 1184, 1197, 1207, 1212, 1220, 1223 - 1224, 1229, 1236, 1271, 1283, 1285, 1287, 1294, 1307 - 1308, 1334, 1336, 1340, 1344, 1362, 1368, 1402, 1419, 1422, 1425 - 1426, 1444, 1453, 1464 - 1465, 1469 Gegebene 38, 43, 55, 57, 76, 123, 304, 315 Gegenpapst 723 Geheimwissenschaft 1179, 1223, 1235, 1240, 1275, 1292, 1303, 1332, 1351, 1356, 1469 Gehirn 46, 101, 134, 163, 165, 170 - 174, 189, 206, 238 - 239, 247, 292, 356, 362, 414, 420, 424, 427 - 428, 468, 478, 504, 506 - 508, 510 - 512, 514, 516 - 529, 531 - 536, 538, 540 - 544, 555, 570, 613, 639 - 640, 669, 687 - 689, 692, 703, 706, 710, 715, 718, 725, 733, 740, 742, 744 - 745, 749, 755, 800, 803, 808 - 809, 812, 835 - 837, 840, 843, 867 - 871, 892, 916 - 917, 923 - 925, 927, 949 - 951, 956 - 957, 959, 966, 969, 973, 980 - 982, 984, 989, 991, 993, 995 - 996, 1002, 1564 16 Register 1043 - 1044, 1101, 1110, 1124, 1142, 1144, 1149, 1162, 1168, 1191, 1212, 1242, 1271 - 1272, 1274 - 1275, 1277, 1332, 1338 - 1339, 1348, 1398, 1400, 1414, 1418, 1423 - 1425, 1427 - 1431, 1433, 1448, 1458, 1460 - 1461 Gehirnstimulation 519 Geist 27, 44, 52, 59, 65, 90, 97, 146, 150, 154, 166, 172 - 173, 175, 194, 200, 212, 292, 354, 361, 478, 504, 508, 512, 515, 526 - 527, 534, 538, 602, 613, 630 - 631, 634, 639, 660, 662, 669, 683, 691 - 692, 698 - 700, 703, 706, 715, 717, 721, 725, 740, 751, 754, 757, 761, 791, 812, 814, 824 - 825, 827, 829, 833, 843, 856 - 857, 869, 874, 886, 907 - 908, 914, 923, 931, 933, 935, 950, 956, 973, 984, 989, 995, 1002, 1016, 1033, 1035 - 1036, 1044, 1059, 1098, 1158, 1162, 1178, 1180, 1186, 1191 - 1192, 1218, 1227, 1244, 1253, 1275, 1279, 1315, 1338 - 1340, 1343 - 1344, 1347, 1352, 1372, 1377, 1399 - 1400, 1422 - 1424, 1427, 1436, 1462, 1474 Geist der Tiefe 825, 827, 829 Geister der Bewegung bzw. Dynamis 1334, 1336, 1355, 1398 Geister der Form bzw. Exusiai 1335 - 1336, 1355, 1358, 1398, 1401, 1456 Geister der Persönlichkeit bzw. Archai 1398 Geister der Weisheit bzw. Kyriotetes 1334, 1336, 1352, 1398 Geister des Willens bzw. Throne 1334, 1336 Geisterland 1276, 1337, 1345 - 1346 Geistesforscher IX, 1185, 1187, 1190, 1196 - 1197, 1203, 1209 - 1210, 1217 - 1220, 1223, 1230, 1234, 1236, 1239, 1241 - 1242, 1245, 1248 - 1254, 1258 - 1259, 1263 - 1265, 1267, 1269, 1282, 1284, 1286, 1293, 1302, 1304 - 1305, 1309 - 1310, 1312, 1320, 1323, 1328, 1386, 1395, 1416, 1422, 1425, 1427 - 1428 Geistesforschung 1185, 1264 - 1266, 1275, 1277, 1297, 1329, 1333, 1350, 1479 Geistesklarheit, terminale 514 Geistesmensch 1294, 1333, 1342 Geisteswissenschaft V - VI, IX - XI, 1, 186, 473, 545, 598 - 604, 649, 711, 849, 908, 1000, 1075, 1150, 1167, 1169, 1174 - 1175, 1177 - 1183, 1185 - 1186, 1188 - 1189, 1191 - 1194, 1196, 1206, 1215, 1243, 1253 - 1254, 1257, 1260, 1263 - 1264, 1272, 1278, 1290, 1292, 1294, 1296, 1298 - 1300, 1303, 1310, 1312, 1317, 1319, 1321 - 1322, 1324, 1328 - 1332, 1334 - 1335, 1338, 1364, 1366, 1369 - 1370, 1373, 1376, 1378, 1380, 1382, 1384 - 1385, 1393, 1395 - 1396, 1399 - 1400, 1407 - 1409, 1413, 1416 - 1417, 1419 - 1424, 1428, 1431 - 1432, 1434 - 1437, 1439 - 1441, 1443, 1445, 1447, 1449, 1451, 1453, 1457, 1461, 1463, 1467 - 1470, 1475 - 1479 Geisteswissenschaften 195, 202, 280, 332, 482, 602, 623, 649, 651, 658 - 659, 1085, 1177 geisteswissenschaftlich 1187, 1214, 1242, 1296, 1324, 1329, 1347, 1359, 1361, 1364 - 1365, 1384, 1395, 1414, 1416 - 1417, 1421 - 1422, 1426, 1428, 1461 Geistseele 1462 Geistselbst 1333, 1342, 1344, 1387 Gemütsseele 1340 Genie 253, 262, 274, 289, 293 - 294, 560, 692, 788 - 789, 791, 1174, 1197, 1345, 1435 Genom 311, 356, 466, 500, 545 - 548, 550 - 555, 561, 566 - 567, 569, 590, 841, 892, 1008, 1127, 1461 Genotyp 546, 892 Gentechnik 545 - 546, 548, 561, 566 - 568, 595, 926 Geometrie 35, 47, 57, 77, 79, 86, 98, 123 - 124, 126 - 128, 145, 158, 184, 207, 214, 221, 226 - 227, 231, 244 - 245, 252, 265, 276, 298, 475, 480, 609, 662, 671, 1174, 1188, 1198 geometrisierend 126 - 127, 207 Gerechtigkeit 114, 122, 150, 153, 180, 268, 762, 1020, 1041, 1088, 1344, 1347, 1408, 1412, 1431, 1436 Gerechtigkeitsempfinden 746, 1401 Geschlechtsblindheit 344 Gesellschaft 12, 46, 51, 156, 189, 196, 331, 334, 338, 341 - 342, 416, 504, 543, 626, 632 - 633, 702, 706, 709, 722, 731, 736, 741, 744, 747, 753 - 754, 758 - 760, 762, 768, 781, 783, 793, 796, 807, 819, 874 - 875, 1008, 1016, 1037, 1071, 1082, Sachwortregister 1565 1175 - 1176, 1178, 1181, 1231, 1345 - 1346, 1363, 1386, 1394, 1406, 1434 - 1436, 1439, 1467 - 1468 - Anthroposophische XI, 1175, 1178, 1181 - 1182, 1231, 1386, 1434 Gesetzmäßigkeit 41 - 42, 57, 82, 144, 158, 170, 185, 211, 285 - 286, 298, 322, 357, 362, 446, 448, 455, 459, 533, 638 - 639, 1008, 1093, 1108, 1110, 1113, 1192, 1194, 1209, 1213, 1227, 1246, 1251, 1253, 1264, 1283, 1317, 1336, 1340, 1365, 1419, 1430, 1433, 1463 Gestaltpsychologie 181 - 182, 193, 273, 932 Geste, methodologische 1188 Gewalt 341, 679, 731, 734, 931, 933, 1007, 1377, 1381, 1410, 1412, 1425, 1467 Gewalttaten 731 Gewissheit 77, 93, 100, 183, 506, 710, 717, 883, 1045 Ggantija-Tempel 1060 Gifford-Vorlesungen 774 Glaube 14 - 15, 38, 48, 79, 99 - 100, 183 - 184, 186 - 187, 189, 206, 208, 212 - 213, 248, 253, 263, 297, 306, 308 - 311, 315, 343, 394, 403, 478, 542, 603, 631 - 632, 641, 655, 675 - 676, 680 - 681, 695 - 696, 707, 716, 720 - 721, 723 - 724, 726, 738 - 740, 750, 752, 756, 776 - 777, 786, 807, 810, 813, 815, 827, 829 - 830, 832, 844, 867, 872, 874, 880, 910, 914, 925, 937 - 940, 968, 973, 985, 989, 997, 1011, 1014, 1020, 1022, 1031, 1039, 1042 - 1043, 1058, 1145, 1164, 1188, 1197, 1218, 1239, 1296, 1305, 1324 - 1325, 1327, 1342, 1386, 1388, 1406 - 1407 Gleichheit 83, 115, 136, 341, 349, 693, 1176, 1406, 1408 Göbekli-Tepe-Komplex 1014 God 8, 14, 254, 259, 261, 330, 516, 636 - 637, 644, 655, 657, 659, 663 - 664, 666, 676, 680, 695, 697, 712, 724, 745, 750, 756, 777, 793, 813, 815 - 816, 821 - 822, 830, 843 - 845, 872 - 873, 877, 886, 889 - 890, 898, 908 - 909, 936, 938 - 941, 956, 964, 968, 972, 986, 995, 1016, 1021 - 1022, 1043, 1054, 1310, 1332, 1346, 1400, 1411 Goetheanum XI, 1181 - 1182, 1203, 1312, 1330, 1374 Goldblättchen 1017 - 1018, 1043, 1163 Gott 8 - 9, 15, 20, 26, 34, 53, 149, 165, 188 - 189, 253, 262, 272, 286 - 287, 293, 296, 311, 343, 433, 473, 504, 625, 631, 635 - 636, 641, 655 - 660, 662 - 666, 675 - 676, 678 - 681, 683, 691 - 693, 698, 702, 704, 706, 708, 711, 714, 716, 721 - 722, 729, 740, 744, 749, 752, 754, 756, 758, 760, 766, 775 - 777, 813, 815, 820 - 822, 828, 830, 872, 880, 882 - 883, 909, 913 - 914, 930, 936 - 940, 955, 957, 963, 973, 978 - 979, 981, 983, 1007 - 1008, 1013, 1015 - 1017, 1019, 1027 - 1030, 1032 - 1034, 1036 - 1037, 1039, 1060, 1076 - 1077, 1080, 1082, 1090, 1096, 1098, 1185, 1244, 1268, 1280, 1311, 1341, 1350, 1354, 1361, 1369, 1374, 1377, 1380, 1382, 1396 - 1397, 1400, 1406, 1410, 1412, 1436, 1468, 1478 - 1479 Götter IX, 45, 64, 461, 641, 655, 662, 664 - 665, 682, 704, 722, 739, 775, 830, 936, 1013 - 1024, 1026 - 1027, 1029 - 1033, 1035 - 1037, 1040, 1054, 1060, 1074 - 1075, 1078, 1080 - 1082, 1164, 1244, 1268, 1276, 1355, 1364, 1369, 1382, 1393, 1396 - 1397, 1399, 1401, 1435, 1439, 1443, 1456, 1459, 1463, 1466 Götterschau 1026 - 1027, 1075 Gotteskindschaft 1031 Gottesteilchen 1325 Gottheit 342, 662, 754, 813 - 814, 914, 1015 - 1018, 1020 - 1022, 1024 - 1025, 1028, 1034, 1036 - 1037, 1039, 1045, 1071, 1073, 1075 - 1076, 1078, 1082 Grab 1017, 1024 - 1025, 1038, 1046, 1048, 1059 - 1060, 1067 - 1068, 1070, 1074 - 1075, 1082, 1384 - 1385 Grabgang 1057 - 1059 Gravitation 18, 37, 440 - 441, 753, 903, 1110, 1446, 1453 Gravitationskraft 276, 440 - 441, 451, 463 - 464, 565, 897, 902 - 903, 920, 1126, 1172 Gruppenseele 1365, 1447 - 1449 Gruppenverhalten 420, 1447 Guru 1267, 1312 GWA 547 1566 16 Register Halluzination 422, 763, 826 - 827, 883, 889, 910, 959 - 960, 965, 981, 984, 1216, 1234, 1418, 1426 - 1427 Handlung 139 - 140, 197, 321, 524, 543 - 544, 642, 660, 664, 740, 747, 760, 852, 982, 1000, 1015, 1019, 1021, 1029, 1037, 1071, 1110, 1135, 1139 - 1141, 1160, 1229, 1238 - 1239, 1248, 1252, 1268, 1270, 1283 - 1284, 1306, 1344, 1346, 1363, 1398, 1420, 1432 - 1433, 1442, 1470 Harren der Schöpfung 1280, 1354, 1479 HBP 532 Heiliger Geist 1295 Hellsehen 875, 877, 948, 1218, 1254 - 1255, 1257, 1259 - 1260, 1262, 1329, 1364, 1383, 1388, 1399, 1423 - traumhaftes 1364, 1399 Hellseher 1197, 1218, 1236, 1254, 1258 - 1259, 1263 - 1264, 1267, 1390, 1423 Hellsichtigkeit 756, 789, 791, 969, 994, 1199, 1329, 1399 - 1400 Hemisphäre 507, 510, 517 - 518 Hemisphärektomie 507 - 508, 511, 517, 1044 Hermaphrodit 1360 Hermeneutik 482 Herrlichkeit 240, 655, 663, 698, 978, 982, 1021, 1045, 1231, 1251, 1280, 1341, 1345 - 1346, 1366, 1374, 1382, 1404, 1436, 1479 Herz 513, 528, 750, 885 - 887, 892, 916, 918 - 919, 929, 1027, 1040 - 1041, 1046, 1144, 1204, 1210, 1221, 1239, 1253, 1348, 1381, 1432 - 1433, 1437, 1458 Herztransplantatempfänger 1475 Herztransplantation 916, 922, 967, 1432, 1434, 1437 Hierarchie 40, 134, 201, 491, 730, 858, 895, 952, 979, 1295, 1336, 1353, 1355, 1358, 1371, 1398, 1401, 1409, 1465 - 1466 - geistige 1352, 1357 Higgs-Boson 471, 608, 1325, 1327 - 1328 Himmel 3, 134, 230, 233, 343, 462, 544, 659 - 660, 662 - 663, 700, 708, 756 - 763, 815, 822, 865, 888 - 889, 913, 915, 942, 977, 979, 987, 1018 - 1019, 1026 - 1029, 1031, 1033, 1053 - 1054, 1075, 1081, 1127, 1255, 1311, 1313, 1336, 1341, 1345, 1377 - 1378, 1382, 1426, 1429 - 1430, 1435 Himmelsschau 1026 Hinduismus 944, 973, 1190, 1256, 1310, 1409 Hintergrundstrahlung 409, 842, 903, 1325 - 1326 - kosmische 1326 Hirnschädigungen 506, 518 Höhlengleichnis 933, 1209 Holismus 455 holistisch 820 Hölle 756 - 758, 760 - 761, 815, 828, 887, 1041, 1337, 1343 Holton, G. 332 Homöopathie 1441 homöopathisch 1441 HSAM 423, 856, 1419 Human Brain Project 532 Human Genome Project 333, 749, 936, 938, 1002, 1008 Hunger 504, 729 - 730, 826, 1018, 1265, 1472 - 1473, 1477 Hüter 1213, 1241 - 1242, 1245 - 1250, 1285 - 1286, 1306 - 1309, 1311 - große 1249 - 1250, 1259, 1291, 1309 - 1312, 1320, 1383, 1386 - kleiner 1242, 1245 - 1249, 1259, 1285, 1305 - 1308 Hydrocephalie 511, 1044 Hypnose 855, 857, 957 Hypogäum 1045, 1060, 1062 - 1063, 1067 - 1068, 1070 - 1073, 1075, 1082, 1163, 1365, 1384 Hypostasierung 54, 75 Hypothese 23, 36 - 37, 39, 42 - 43, 56, 88, 97, 100, 160 - 161, 172 - 175, 183, 211, 318, 348 - 349, 401, 446 - 447, 452, 454, 460, 514, 554, 592, 599, 605, 613, 615 - 616, 618, 620, 626, 632, 671, 674, 695, 847, 849, 874, 891 - 894, 897, 931, 981, 984, 993, 1054, 1073 - 1075, 1111 - 1112, 1359, 1445, 1476 IANDS 866 Ich 29, 43, 49, 63, 152, 161, 173, 178, 205, 264, 280, 283, 317, 352, 354, 405, 465, 497, 520 - 521, 579, 598, 615, 631, 637, 661, 664, 672, 682, 691, 732, 735, 739 - 740, 751, 758, 768, 805, 830, 868 - 870, 876, 889, 898, 912, 914, 943, Sachwortregister 1567 967, 969, 974, 990, 995, 1001, 1015, 1032 - 1033, 1046, 1055, 1068, 1072, 1074, 1077, 1118 - 1120, 1138, 1157, 1163, 1185, 1193 - 1195, 1201, 1208, 1212, 1225, 1230 - 1232, 1238 - 1239, 1243, 1253, 1279, 1287, 1293, 1300 - 1301, 1313, 1328, 1333, 1340 - 1341, 1344, 1358, 1360, 1363, 1367 - 1368, 1372, 1375, 1379, 1385, 1397, 1399, 1402 - 1403, 1405, 1407, 1411 - 1414, 1428 - 1431, 1441, 1446 - 1447, 1453 - 1456, 1461 - 1462, 1476 Idealismus 50, 193, 206, 248, 491, 612, 696, 700, 708, 820, 1015 Ignoramus et ignorabimus Vortrag 709 Ilias 781, 1015 Imagination IX, 293, 633, 826, 829, 1011, 1101, 1134, 1159, 1162, 1187, 1194, 1196, 1199, 1203, 1205, 1214 - 1218, 1221 - 1223, 1225 - 1226, 1228, 1230, 1236 - 1237, 1240, 1253, 1257 - 1258, 1277, 1280, 1284 - 1285, 1301, 1317, 1320 - 1322, 1324, 1350, 1386, 1423, 1453 Imaginationswelt 1218 - 1220 immortality 768 Implikation 161, 235, 285, 303, 446, 457, 562, 676 - materielle 446, 448, 562, 654 Initiation 1017, 1019, 1024, 1034 - 1035, 1037, 1045, 1268, 1311, 1322 Initiierter 1019, 1021, 1034, 1045, 1267, 1310, 1363, 1424 Inkarnation 534, 792, 813, 847 - 849, 886, 949, 1176, 1195, 1233, 1242, 1246, 1306 - 1307, 1310, 1328, 1330, 1332, 1336, 1344 - 1346, 1348 - 1352, 1356, 1361, 1372 - 1373, 1376, 1383, 1386, 1393, 1403, 1406, 1412, 1422, 1430 - 1431, 1433, 1435 - 1439, 1449, 1459, 1462 Inspiration IX, 293, 633, 844, 876, 1011, 1098, 1101, 1134, 1159, 1162, 1187, 1194, 1196, 1203, 1217, 1220, 1222 - 1230, 1236 - 1240, 1246, 1253, 1257 - 1258, 1277, 1281 - 1285, 1317, 1320 - 1322, 1324, 1344, 1386, 1423 Intelligent Design 473, 621 - 622, 624 - 625, 632, 726, 749, 751, 771, 845, 936, 938 Intention 69, 71, 104, 128, 223, 264, 271 - 272, 274, 276, 288, 304, 338, 543 - 544, 789, 792, 859, 990, 1155 - 1157, 1174, 1193, 1202, 1247, 1283, 1289, 1396, 1429, 1443, 1466 Intuition IX, 54, 69 - 70, 90, 101, 146 - 148, 151 - 152, 159, 167, 186, 206, 211, 293, 353, 470, 609, 633, 668, 823, 867, 1011, 1101, 1134, 1159, 1162, 1187, 1194, 1196, 1217, 1222, 1228 - 1233, 1236, 1240, 1246, 1253, 1256 - 1258, 1277, 1284, 1320 - 1322, 1324, 1386, 1418, 1423 iPhone 504, 1167 - 1168, 1379 - 1381, 1464 Islam 14, 944, 1190, 1377, 1409 - 1412 Islamgelehrten 1412 islamisch 4, 1033, 1393, 1409 - 1411, 1465, 1477 Islamischer Staat 1409, 1465 IS-Miliz 1409 Jahwe 938, 1021 Jayawerdene, S. A. 600 Jesus 757, 813, 867, 879 - 882, 888 - 889, 941 - 942, 1013, 1018, 1033, 1253, 1293, 1372 - 1374, 1378, 1382 - 1383, 1400, 1409, 1436 Judaismus 1190, 1409, 1411 Jugendarbeitslosigkeit 1471 Jugendschwangerschaften 732, 1467 Karma 777, 1040, 1243, 1306, 1417, 1431 karmisch 1285, 1387 Katakomben 1070, 1469 Katalysator 579 Kategorienfehler 304, 538 - 539, 1143 Kathodenstrahlen 29, 32, 84, 108, 141, 781 Kennzeichnung 94 - 95, 202, 224 - 228, 231, 233, 239 Kern 38, 48, 52, 60, 91, 96, 168 - 169, 176, 178, 186, 201 - 202, 205, 216, 254, 351, 430, 432, 454, 541, 579, 616, 722, 822, 872, 898 - 900, 943, 969, 971, 977, 979, 983 - 984, 987, 1042, 1098, 1100, 1107, 1119, 1138, 1223, 1231, 1267, 1269, 1294, 1339, 1344 - 1345, 1347, 1349, 1359, 1362, 1386, 1454 Kettendefinitionen 205 Kinder Gottes 1375, 1479 Klavier 10, 173, 518, 522, 563, 567, 800 Klavierbauer 522 1568 16 Register Klimaerwärmung 218, 504, 728, 744, 1007, 1324, 1372, 1451 - 1452 Knoten 81, 132, 227 Kode des Herzens 920 Koma 512 - 514, 967, 975 - 976, 979, 983 - 984, 1421 Kommunismus 294, 491, 1470 - 1471, 1477 Konformation 572, 574 - 576, 578 - 580, 583 - 584, 587, 1001, 1454 König 694, 729, 764, 810, 1013, 1018, 1021, 1024 - 1026, 1028 - 1032, 1034 - 1038, 1046, 1048, 1053 - 1054, 1076 - 1078, 1080, 1082, 1365, 1373, 1382, 1403 Königin 753, 757, 868, 1029, 1031 - 1032, 1034, 1077 Königskammer 1046, 1048 - 1054, 1072, 1074 Konsensuspraxis 395 - 396, 399, 401 - 402 Konstitution 43, 193, 201, 203, 215 - 216, 219, 230, 234 - 238, 241, 247, 1139 - 1140, 1192, 1229, 1286, 1354, 1373 Konstitutionssystem 55 - 56, 201 - 206, 214 - 215, 218, 220, 222, 235, 240 - 241, 249 Konstitutionstheorie 55, 201 - 202, 205 - 206, 214, 220, 236, 240 Konstruktivismus 612, 1147, 1149 - 1150, 1270, 1278, 1280, 1286, 1289 Kontinentalverschiebung 459, 1363 Kontrollmechanism 590 Konvention 85 - 86, 88, 99, 143, 324, 462, 631, 1104, 1277 Kooperation 194, 360, 425, 723, 910, 931, 968 Koran 1016, 1410 - 1411 Korpuskel 141, 673 - 674, 676, 754 Korrespondenzregel 5, 61 - 62, 400 Kortex 511, 519, 526, 529 - 530, 532, 535, 543, 755, 982, 1414 - motorischer 525 - 526, 536 Kosmologie 26, 317, 716, 819 - 820, 897, 1283 Kraft, schwache 899 - 901 Kräfte, ätherischen 1446 - 1447, 1454 Kraggewölbe 1058, 1065 - 1066 Krähen 420, 536, 958, 1448 Kraken 536 - 537 Kreationismus 1, 332, 618, 632, 749, 938 Kreationismus-Prozess 617 Kreationisten 1444 Krebs 418, 493, 735, 743, 916, 1123 Krebserkrankungen 735 Krieg aller gegen alle 1389 - 1390, 1402 Krieg gegen Drogen 1472 Kryptomnesie 847 Kultur IX, 4, 123, 157, 163, 189, 252, 309, 314, 320, 322, 331 - 332, 340, 347, 353, 475, 534, 541, 564, 602, 651, 698, 726, 731 - 733, 743, 760, 821, 824 - 825, 842, 849, 854, 857, 919, 921, 923, 939, 944, 958, 966 - 967, 970, 980, 989, 993, 1003 - 1005, 1014 - 1016, 1023, 1035 - 1036, 1044 - 1045, 1060, 1071, 1076 - 1082, 1089 - 1090, 1137, 1139, 1147, 1163, 1172, 1189, 1267, 1269, 1286, 1345, 1363 - 1364, 1366, 1381, 1388, 1394, 1423, 1456, 1463 - 1464 Kulturepoche vgl. Epoche 1300, 1381, 1387, 1389 Kyriotetes 1334, 1336, 1352, 1398 Lachgas 857 Large Hadron Collider 605, 1164, 1325 Laser 1198 Laserlicht 1198 Läuterung 1343 - 1344, 1413, 1420 Läuterungszeit 1414 Lebensbilanzsuizid 742 Lebensgeist 1294, 1333, 1342 Lebensleib 1193, 1195 - 1196, 1209, 1211, 1213, 1215, 1218, 1221, 1228, 1246, 1281, 1285, 1308, 1317, 1334, 1339, 1342, 1352, 1367, 1433 Lebenspanorama 976, 982 - 983, 1214 - 1215, 1225, 1418 Lebensstil 59 - 60, 317, 729, 733, 859, 1381, 1442, 1471 Leib 134, 239, 342, 361, 431, 513, 662, 678, 703, 743, 755 - 756, 759, 763, 787, 789, 796, 832, 843, 848, 850 - 853, 864, 869 - 870, 879, 882, 885 - 886, 895, 910, 912 - 914, 922, 929, 951, 969, 971, 983, 1015, 1031, 1033, 1035, 1044, 1101, 1153, 1192, 1194 - 1196, 1203, 1209, 1212 - 1213, 1217, 1222, 1228, 1242 - 1244, 1246, 1249, 1258, 1261, 1265, 1273 - 1274, 1281, 1291, 1333, 1339, 1342, 1348 - 1349, 1352, 1355, 1358 - 1359, 1362, 1370 - 1373, 1378, Sachwortregister 1569 1383 - 1385, 1390 - 1392, 1402, 1409, 1413 - 1418, 1424, 1426 - 1428, 1430 - 1431, 1438 - 1439, 1443, 1447, 1449, 1455, 1460 - 1463 - ätherischer 1274, 1378 - physischer 1192, 1227, 1243, 1265, 1274, 1309, 1333, 1342, 1348, 1352, 1354, 1357, 1373, 1378, 1389, 1391, 1397, 1438, 1462 Leidenschaft 476, 491, 696, 798, 1206, 1220, 1236, 1244, 1310, 1336, 1340 - 1341, 1407, 1451 - 1452 Lemurien 1362 Lepton 409, 440, 471 Libelle 419 Licht 9, 22, 24, 28 - 30, 32, 36, 66, 72, 82 - 83, 101 - 102, 110, 133 - 135, 141, 158, 174, 177, 179, 185, 200, 208, 249, 270 - 271, 291, 296, 421, 428, 431, 449, 498, 516, 579, 592, 672, 687, 689, 721, 744, 818, 865, 875, 881, 885, 890 - 891, 913, 960, 963, 969, 977 - 978, 990, 1019, 1048, 1077, 1080, 1105, 1125, 1146, 1148, 1153, 1161, 1169 - 1170, 1198, 1203, 1217, 1234, 1262, 1266, 1272, 1275, 1278 - 1279, 1290, 1302, 1304, 1309, 1311, 1329, 1351, 1361, 1384, 1390, 1396 - 1397, 1399 - 1400, 1406 - 1409, 1413 - 1414, 1418 - 1419, 1421, 1424, 1426, 1432, 1438, 1441 - 1442, 1445, 1447, 1463, 1466, 1475 Lichtaura 886 - 887 Lichtstadt 864, 888 Lichtvisionen 962, 967 Lichtwesen 816, 884, 886 - 888, 890, 958, 983, 993, 1044, 1378, 1415 Liebe 12, 114, 122, 180, 268, 275, 294, 320 - 321, 352 - 354, 359, 684, 733 - 734, 745 - 746, 757 - 758, 761, 763, 767, 791 - 793, 813, 815, 822 - 823, 844, 864, 866, 876, 880, 882 - 884, 886, 889, 911 - 914, 918 - 919, 924, 932, 936, 940, 945, 962, 964 - 965, 967, 977 - 979, 984, 1098, 1137, 1146, 1165, 1167, 1184, 1224, 1233, 1271, 1311, 1336, 1341, 1374 - 1375, 1377, 1387, 1392, 1397, 1403 - 1404, 1410 - 1412, 1420 Liebesfähigkeit 865, 1233 Literatur, dystopische 728 Logik 5, 33, 46 - 47, 55, 61, 67 - 69, 77, 93, 109, 117, 128, 160, 188, 191 - 192, 194, 197 - 198, 200 - 201, 204, 214, 224, 243 - 244, 247, 249, 251, 253 - 254, 262 - 263, 265, 270 - 271, 276 - 277, 281 - 287, 289, 291 - 292, 295, 298, 305, 309, 357, 432, 446 - 447, 450, 452, 455, 457 - 458, 460, 475, 528, 562, 564, 670, 715, 817, 841, 856, 868, 932, 939, 1059, 1106 - 1108, 1301, 1356, 1457 - symbolische 50, 55, 188, 192 - 194 logisch VII, 48 - 49, 53 - 58, 61 - 62, 66, 125, 139, 144, 154 - 155, 161, 171, 185, 200, 207, 209, 213, 216, 244, 267, 270, 274, 280, 285 - 286, 290, 294, 300, 305, 308 - 309, 311, 346, 446 - 448, 453 - 454, 457, 460 - 461, 464, 562, 594, 597, 614 - 615, 629, 650, 679, 691, 743, 747, 932, 996, 1044, 1106, 1116 - 1120, 1140, 1154, 1196, 1224, 1296, 1335, 1409, 1449 Logistik 55, 201, 204 Lotusblume 1204 - 1206, 1209, 1213, 1221, 1287, 1321 Lust 56, 76, 91 - 92, 105, 123, 155 - 156, 159, 178, 180, 354, 420, 497, 710, 738, 761, 1211, 1248, 1281, 1306 Luzifer 1305, 1361, 1373, 1379 - 1380, 1403 luziferisch 1361 - 1362, 1365, 1373 - 1374, 1380, 1382, 1401 - 1402, 1404, 1465 - 1466, 1477 Lysozym 580 - 585 Manifest 51 - 53, 56 - 61, 187, 250 - 251, 300, 431, 527, 682, 804, 933 - 934, 936 Märchen 65, 208, 697, 848, 1014, 1290, 1322 - 1323, 1331, 1360, 1380, 1385 Materialisation 327 Materialismus VIII, 26, 38, 45 - 46, 50, 59 - 60, 65, 101, 163, 171 - 172, 193, 211, 248, 406, 428, 431 - 432, 460, 473, 477, 512, 625, 631 - 632, 635, 639, 655 - 659, 674, 676, 680 - 683, 691, 695 - 696, 700 - 708, 710, 721, 723 - 724, 726, 736 - 737, 739 - 740, 745, 749 - 751, 764, 773, 778 - 779, 800, 804, 810, 812, 829, 845, 853, 872, 874, 894, 914, 923, 950, 953, 955, 957, 967, 969, 985, 989, 992, 997, 1008 - 1010, 1045, 1120, 1142, 1160, 1162 - 1164, 1166, 1182, 1184, 1190, 1214, 1570 16 Register 1226, 1235, 1298 - 1300, 1317, 1337 - 1339, 1343, 1354 - 1355, 1374, 1376, 1378, 1395, 1408, 1421, 1450 Materialismuskriterium 631 Materialismusstreit 656, 702, 706, 710 materialistisch VIII, 46 - 47, 150, 171, 174 - 175, 193, 211, 248, 309, 336, 431, 456, 465, 514, 540, 565, 569, 597, 626, 630 - 632, 640, 650, 655, 658, 669, 679, 684, 691 - 692, 694 - 695, 698 - 700, 703 - 706, 710 - 711, 719 - 721, 725 - 727, 731, 735 - 736, 738 - 741, 744, 746, 749, 768, 779, 786, 801 - 802, 825, 831, 853, 858, 866, 872 - 874, 881, 908, 914, 916, 922, 927, 932, 944, 946, 952 - 953, 955, 957 - 958, 968, 972, 974, 984 - 985, 989 - 990, 1001, 1008 - 1009, 1012, 1014, 1028 - 1029, 1042, 1044, 1082, 1128, 1144, 1163, 1165, 1167, 1184, 1191, 1202, 1235, 1243, 1289, 1298 - 1299, 1351, 1356 - 1357, 1366, 1376, 1378 - 1379, 1381 - 1382, 1392, 1394, 1398, 1400, 1408, 1420, 1430, 1432, 1434 - 1435, 1450 - 1451, 1456 - 1458, 1464, 1467 - 1468, 1476 Materie 2, 21, 28, 30, 47, 159, 177, 206 - 207, 248, 409 - 410, 412 - 413, 417, 429, 431 - 432, 436, 441, 471, 481, 540 - 541, 611, 632, 634, 660, 662 - 664, 675 - 676, 678 - 682, 684, 690 - 692, 698 - 699, 708 - 709, 714, 717 - 718, 721, 726, 772, 783, 790, 799, 804, 806 - 810, 812, 867, 871, 893, 896, 900, 902 - 903, 929, 935 - 936, 943, 952, 981, 985, 995, 998 - 999, 1002, 1010, 1091, 1103, 1126, 1163, 1191, 1272, 1289, 1319, 1338, 1357, 1379, 1392, 1434, 1446 - dunkle 409, 413, 461 Materiebegriff 677, 679 - 680, 682 Mathematik 6 - 8, 11, 38, 46 - 47, 50, 66, 75, 77, 79, 124, 127 - 128, 145, 188, 191, 194, 196 - 197, 200, 208, 211, 214 - 216, 224, 226, 243 - 245, 247, 249, 252 - 253, 256, 262 - 263, 290, 298, 309, 330 - 331, 442, 444, 470 - 471, 475, 609 - 611, 617, 645, 662, 666, 671, 675, 752 - 754, 782, 806, 810, 850, 897, 925, 938, 985, 990, 1086, 1092, 1106, 1108, 1130 - 1131, 1133, 1174, 1180, 1188, 1273 Meditation 679, 855, 857 - 858, 860, 877, 923, 953, 974, 989, 1183, 1196, 1202, 1208, 1222, 1225, 1228, 1257, 1315 - 1316, 1330 - Rosenkreuz 1206 Meditationsübungen 854, 1202, 1208, 1216, 1228, 1257, 1316 Medium 28, 39, 577, 579, 767, 773, 782, 811, 993, 1236, 1267, 1270, 1422, 1441, 1454 Mediumismus 724, 849, 951, 990, 994, 1183, 1254, 1260, 1262 mediumistisch 847, 970, 1262, 1267 Megalithkultur 1060, 1074, 1079, 1363 Meme 1147 - 1148, 1150, 1284 - 1285 Menschenvorfahr 1355 Mephisto 896 - 897 Messgerät 165, 402, 451, 463 - 464, 468 Messinstrument 5, 1119 Messung VII, IX, 5, 41, 410, 438, 463, 592 - 593, 635, 924, 999, 1085 - 1086, 1111, 1130 - 1131, 1133, 1159 Metamorphose 428, 629, 699, 770 - 771, 1199, 1203, 1224 metaphysich 263, 298, 304, 310, 337, 664, 674, 778, 895, 1087 Metaphysik VIII, 3, 7, 50, 54, 58 - 59, 62 - 63, 67, 70, 75, 190, 194, 196, 202, 206, 210, 242, 259, 268, 288, 298, 300, 304, 632, 702, 726, 735, 740, 801, 818, 968 - 969, 989, 1153, 1191, 1476 Methode - experimentelle 5, 948, 1160 - wissenschaftliche 195, 334, 786, 860, 947, 1093, 1115, 1118, 1120 Mikroskop 570, 610, 672 - 673, 1302 Modell 40, 61, 233, 274 - 275, 355 - 356, 396 - 398, 400 - 402, 406, 430, 441, 455, 591, 730, 904, 950, 1288, 1348, 1391, 1433 Mohammed 884, 1409, 1411 Moksha 1310 Molekül 23, 44, 101, 142, 169, 416, 484, 528, 572, 575 - 576, 581 - 589, 597, 893, 1001, 1043, 1455, 1457 Mond 1, 203, 302, 310, 356, 412, 417, 419, 451, 458, 477, 504, 1077, 1162, 1198, 1313, 1351, 1354 - 1357, 1359 - 1360, 1362, 1388, 1390, 1392, 1437, 1443, 1445, 1455 - alter 1355 - 1356, 1367 Sachwortregister 1571 Monismus 174 - 175, 716, 721, 723, 778, 834 Monistenbund 723 - 724 monistisch 25, 712, 718 - 719, 721 - 723, 812 morphische Resonanz 893 Morphoästhesie 803 Morphogenese 185, 356, 414, 428, 523, 541, 545, 548, 552, 554 - 558, 560 - 561, 566, 569 - 572, 597, 669, 772, 805, 893, 897, 938, 1001, 1008, 1162, 1407, 1452 - 1453, 1457, 1459 morphogenetische Felder 892 Moses 15, 475, 660, 662 - 663, 678, 722, 757, 884, 942, 1013, 1021, 1029, 1185, 1361, 1365, 1369, 1372, 1374, 1401 - 1404, 1407, 1410 - 1411 Multiversen 473, 475 Mumie 1035, 1046 - 1050, 1054 Muslime 1408, 1410, 1476 Mysterien IX, 1012, 1014 - 1021, 1023 - 1024, 1028, 1034, 1043, 1045, 1075 - 1076, 1082, 1163, 1366, 1385, 1478 - 1479 Mysteriengottheiten 1014 Mysterienkräfte 1478 Mysterienkulte 1017, 1020, 1022 - 1023 Mysterienreligion 1024 - 1027 Mysterienstätte IX, 1015, 1081, 1366, 1385, 1478 Mythen 65, 319, 342, 719, 958, 1014, 1072, 1322, 1385 Mythos 54, 125, 150, 306, 319, 333 - 334, 359, 400, 598, 600, 611, 1021, 1023, 1031, 1153 Nachprüfbarkeit 605 - 606, 649 - 650, 1092 - 1093, 1117, 1300, 1323 Nächstenliebe 722, 765, 1404 Nagel, T. 323 Nahtoderfahrung 163, 238, 512 - 514, 520, 796, 816, 853, 863, 865 - 867, 878, 884 - 885, 888 - 890, 909 - 911, 913, 915, 923, 925, 932, 943 - 945, 949, 951, 955 - 956, 958, 960, 962, 965, 967, 969, 971, 975 - 976, 978, 980 - 981, 983 - 984, 990, 993, 1010, 1044 - 1045, 1164, 1190 - 1191, 1214, 1243, 1246, 1345, 1378, 1412 - 1413, 1416 - 1417, 1419, 1421, 1426, 1434, 1438, 1475 Nationalsozialismus 260, 294, 1477 Naturalismus VIII, 477, 623 - 625, 630 - 632, 634 - 635, 680 - 683, 949 Naturgesetz 18 - 19, 34, 39, 87, 98, 158, 173 - 174, 286 - 287, 296, 302, 316, 459, 473 - 476, 483, 617 - 618, 642, 664, 694, 704, 716, 995, 998, 1001, 1162, 1176, 1227, 1288 - 1289, 1344, 1442 - 1444 Naturgesetzmäßigkeit 286, 1288, 1442 - 1443 Naturphilosophie 6, 9 - 10, 18, 49 - 50, 75, 197, 256, 361, 698, 797, 817 Naturwissenschaft VIII - IX, 7, 9 - 10, 12, 25, 35, 50, 57, 66, 68, 70, 75, 97, 101, 166, 169 - 171, 174 - 175, 194 - 195, 280, 287 - 288, 291, 296, 332, 355 - 356, 405, 436, 462, 482, 484, 493, 603, 609, 620, 627 - 628, 630 - 631, 648 - 651, 656 - 658, 705, 707 - 709, 714, 716 - 717, 720, 723, 739, 749, 751, 801, 809, 818, 856, 878, 922, 1003, 1128, 1165, 1172, 1174 - 1175, 1177 - 1186, 1188 - 1189, 1196 - 1197, 1215, 1243, 1253, 1263 - 1264, 1273, 1278, 1291, 1297 - 1300, 1302 - 1303, 1321 - 1322, 1324 - 1325, 1327 - 1329, 1332, 1336, 1359, 1367, 1370, 1393, 1395, 1419, 1444, 1447, 1457, 1460, 1463 - 1464, 1470, 1479 Naturwissenschaftler 328 - 329, 332, 657, 693, 695, 720, 751, 1264, 1286 naturwissenschaftlich VIII, 8, 75, 97, 160, 170 - 172, 174 - 175, 209, 360, 405 - 406, 487, 602, 650, 681, 692, 699 - 700, 708 - 709, 721, 764, 818, 868, 981, 995, 1093, 1173 - 1175, 1178 - 1179, 1181, 1183, 1185 - 1186, 1228, 1235, 1264, 1266, 1290, 1293, 1298, 1303, 1329, 1350, 1442, 1449, 1455, 1460 Naturzerstörung 728 NDE 865, 967, 986 Nenner 218, 331, 628, 649 - gemeinsamer VII - IX, 140, 217, 278, 320, 345, 648, 654, 878, 1084, 1164, 1190, 1235, 1323 Neonatologie 1396, 1439 Nervenzelle 171, 239, 469, 527 - 529, 531, 542, 561, 620, 744, 985, 1110, 1142, 1154, 1414, 1424, 1427, 1433 Netzwerk 101, 184, 227, 326, 492, 574, 1221 1572 16 Register Neukantianismus 99, 708 Neupositivismus 45, 47, 49 Neuron 505, 517, 525 - 527, 530 - 537, 541, 555, 570, 715, 840, 870, 992 Neuroplastizität 957 Neutrino 450, 900 - 902 Neuvitalismus 797 New Age V, 598, 629, 1190, 1377 Newgrange 1045 - 1046, 1055, 1059 - 1060, 1062 - 1063, 1067, 1075, 1079, 1081 - 1082, 1163, 1365, 1384 Nichträumlichkeit 1143 - 1144 Nichtwissenschaft 598, 626 - 627, 629, 649 Nirwana 1265, 1310, 1402, 1425 Nobelpreis 29, 352 - 353, 430, 432 - 433, 435, 469, 546, 781, 806, 831, 868, 1008, 1325 NTE 796, 890, 944 - 945, 953, 965, 975, 983, 988, 1044, 1417 - 1420, 1423, 1431 objektiv 46, 70, 94 - 96, 137, 152, 155, 164 - 166, 169 - 170, 182, 184 - 186, 195, 206 - 207, 215 - 218, 228 - 230, 232, 234, 245, 318, 320, 323, 331 - 332, 335 - 336, 346 - 347, 355 - 356, 359, 361 - 362, 394, 401 - 403, 423, 436 - 437, 611 - 612, 650 - 654, 686, 693, 744, 775, 779, 786, 826, 868, 874, 882, 889, 915, 924, 959, 984, 987, 1003 - 1004, 1084 - 1086, 1088, 1090 - 1096, 1098 - 1101, 1103 - 1110, 1112 - 1125, 1128 - 1129, 1131 - 1133, 1135 - 1137, 1139 - 1141, 1147 - 1150, 1158 - 1160, 1165, 1167, 1179, 1181, 1187, 1190, 1224, 1235 - 1236, 1239, 1248, 1251, 1253, 1257 - 1259, 1261, 1269 - 1270, 1277, 1280, 1283 - 1286, 1289 - 1291, 1297, 1299, 1302, 1304 - 1305, 1309, 1314, 1320, 1325, 1332, 1343 - 1344, 1369, 1416, 1470 Objektivierung 344, 1092 Objektivität VI, IX, 69, 140, 165, 217 - 218, 233, 240, 278, 293, 316, 320, 333, 335, 337, 339 - 340, 344 - 350, 354 - 355, 359, 394, 400 - 401, 403, 578, 612, 626, 633, 651 - 654, 817, 849, 974, 1003, 1011, 1084 - 1095, 1097 - 1099, 1102 - 1105, 1112, 1114, 1116 - 1123, 1125 - 1126, 1129 - 1138, 1140 - 1142, 1147 - 1151, 1153, 1158 - 1160, 1162 - 1163, 1165, 1185, 1191, 1200 - 1201, 1232 - 1235, 1237, 1241, 1245 - 1248, 1250, 1253, 1264, 1269 - 1270, 1276 - 1277, 1280, 1282 - 1284, 1286 - 1287, 1289 - 1290, 1292, 1297, 1299, 1311, 1322 - absolute 1097 - 1098, 1160, 1297, 1299 - dynamische 353 - 355, 1098 - epistemologische 1097 - ontologische 1094 - 1095, 1097 - 1098, 1132, 1141, 1159, 1248 - strenge 349 - 350, 1290, 1297 Objektivitätsbegriff 1084, 1086 - 1087, 1094, 1098, 1101 - 1102, 1104, 1116 - 1118, 1130, 1132, 1134 - 1137, 1140, 1152, 1159 - 1161, 1165, 1269, 1277, 1287 Objektivitätsideal 140, 217, 278, 320, 345, 654, 1084, 1092, 1130 - 1132, 1140, 1165, 1235, 1290 Objektivitätskriterien 1096 Objektivitätsprinzip 1184 Ockhams Rasiermesser 36, 470, 473, 1463 Okkultismus V, 598, 629, 1300 Okruhlik-Problem 444, 455 Ontologie 177 - 178, 180, 182, 248, 271, 626, 650, 655, 658, 674, 691, 736, 739, 749, 858, 868, 969, 1128, 1289 Opfer 261, 341, 731, 903, 928, 1017 - 1018, 1154, 1354 - 1355, 1376, 1390, 1422, 1469 Orakel 1017, 1071 Pantheismus 189, 721 Papi 564, 570 Paradies 662, 987, 1291, 1311, 1361, 1369, 1374, 1401, 1410, 1412, 1466 Paradigma VII, 68, 89, 187, 208, 239, 307, 355, 393, 399, 405 - 407, 429, 445, 460, 465, 476, 483, 504, 514, 516, 523, 543, 548, 552, 556, 561, 566, 568, 577, 597, 640, 717, 734, 743, 750, 786, 831, 837, 871, 906, 908, 944, 946, 955, 957, 966, 974, 990, 1084, 1160, 1162, 1165, 1167, 1321, 1338, 1429, 1442, 1457 Paradigmenwechsel 667, 726, 894, 936, 966, 992 Parawissenschaft V, 598, 626, 628 - 630, 646 Pechblende 30, 1395 Persönlichkeitsveränderungen 918, 922, 1432, 1475 Pessimistische Metainduktion 461 Petrischale 567, 569, 1168 Sachwortregister 1573 Petschaft 1213, 1288 Pew Forum 625, 631, 683, 1042 Pfad 529, 638, 837, 1205, 1250, 1311, 1321 - schwarzer 1311 - weißer 1311 Phaidros 1020 Phänomenologie 1103, 1105, 1314, 1316 - begriffliche 1101, 1103 - 1104 Phänotyp 545, 566 Pharao 1028, 1031 - 1032, 1036 - 1037, 1039, 1047, 1049, 1054, 1076 - 1079, 1360, 1365, 1393 Photon 432, 439 Physik 6 - 7, 10, 18, 22, 24, 27 - 29, 31 - 32, 38, 47, 53, 56 - 58, 61, 63, 66, 68, 72, 78 - 79, 97, 101, 108, 142, 159, 162, 170 - 172, 174 - 175, 188 - 190, 192, 199, 202, 208 - 209, 211, 217, 248, 250, 252, 286, 430, 432 - 435, 439, 441 - 442, 448, 450, 452, 462, 471, 475, 496, 602, 609, 617, 632, 669, 680, 682, 690 - 691, 753 - 754, 781, 790, 807, 809 - 810, 844, 850, 859 - 860, 862, 874, 894, 897, 907, 934 - 935, 952, 997, 1004, 1108, 1193, 1322, 1325, 1379, 1396 Physikalismus VIII, 300, 681 - 683, 950 Physiognomie 1335, 1390 Placebo-Effekt 423, 957 Planet 18, 20, 41, 87, 145, 356, 409, 411 - 412, 416, 459, 522, 558, 611, 616, 662, 903, 930, 1043, 1290, 1323, 1351, 1353 - 1354, 1356, 1359, 1367, 1381, 1393, 1401, 1436, 1443 - 1445, 1456, 1473 Positivismus VII, 43, 47, 53, 63, 200, 213, 251, 298 - 299, 309, 311 - logischer VI - VII, 17, 45, 48 - 49, 53, 60, 64 - 66, 70 - 71, 89, 128, 138, 161, 186, 192, 199, 201 - 202, 205, 209, 213, 215, 243, 246 - 247, 250 - 251, 286, 292, 296 - 297, 299, 301 - 302, 305, 309 - 311, 453, 457, 503, 599, 1463 - 1464 Postulat 16, 62, 78 - 79, 124, 185, 344, 356, 398, 600, 668, 676, 924, 1126, 1315 Potenz 31, 475, 904, 1441 Präimplantation-Diagnostik 942 Pralaya 1352, 1354, 1356, 1392 Praxis V, 9, 36, 66, 76, 84, 91, 136, 160 - 161, 307, 316, 324, 333, 338, 349, 361, 395 - 403, 456, 463, 478, 488 - 489, 499, 502 - 503, 599, 613, 700, 742, 744, 975, 980, 1097, 1117, 1234, 1302, 1407 - 1408 - individuelle 395, 401 Priester 3, 444, 664, 701, 752, 811, 856, 1026 - 1027, 1034 - 1035, 1037, 1039, 1071, 1076, 1080, 1267, 1327, 1365, 1369, 1385 - 1386, 1399, 1468 Proben 331, 607, 815, 838, 999, 1251 - 1253, 1257, 1259 - 1260 proposition 191, 263, 301 - 302, 622 - 623, 625, 711 Prostitution 733 - 734 Protein 169, 469, 545, 548 - 550, 553, 555, 561, 566, 569, 571 - 579, 582, 586, 588 - 591, 593 - 597, 638, 669, 928, 997, 1001 - 1002, 1162, 1452 - 1454, 1456 - 1457, 1459 Protokollsätze 300 Proton 108, 125, 409 - 411, 440, 471, 584 - 585, 892, 897 - 902 Protowissenschaft 628 Prozessphilosophie 817, 822 Pseudowissenschaft V - VII, 17, 339, 449, 598 - 599, 604, 614 - 615, 617 - 618, 621 - 622, 626 - 629, 633 - 635, 642, 646, 648, 683, 749, 1263, 1382 pseudowissenschaftlich 614 Psi-Erscheinungen 957 Psychisches 97, 101, 160, 170 - 172, 175, 205 psychophysisches Problem 98, 206 Psychoplasma 719 Pumpe 918, 1432 Pyramide 1014, 1045 - 1050, 1053 - 1054, 1056, 1061, 1074, 1078 - 1081, 1163, 1198, 1366 Pyramidenspruch 1030, 1035 Pyramidentexte 1030 Qualitäten 37, 55 - 56, 95 - 98, 101, 162 - 166, 168 - 172, 176, 180, 186, 209 - 210, 217, 253, 273, 359, 672, 684 - 686, 688 - 691, 756, 908, 923, 1128, 1170, 1216, 1248, 1251, 1273 - primäre 164, 660, 685, 690 - 691 - sekundäre 162, 684 Quant 433 Quantenmechanik 23, 32, 142, 184, 246, 250, 286, 405, 429, 431 - 433, 435 - 440, 1574 16 Register 444, 447, 503, 616, 682, 814, 860, 924, 938, 943, 945, 950, 952, 973, 990, 997, 1126, 1162 Quantenphysik 31, 432, 632, 637, 682, 754, 783, 861, 926, 929, 935, 945, 1338 Quark 272, 440, 461, 471, 690 Quasigegenstand 203, 205 Raben 457 - 458, 536, 958 Raben-Paradox 457 Radioaktivität 30, 611, 947, 1474 Radiogerät 564, 570 Rasse 334, 741, 745, 1247, 1285, 1358, 1386 Rätsel 18, 93, 721, 786, 1100, 1277, 1416 - empirische 406 Raumfahrt 503, 1389, 1396 - 1397, 1436 Realwissenschaft 81, 89, 127 - 128, 159, 214, 224 - 226, 605 Received View 60 - 63, 308 reducing valve 835, 837, 925, 950, 1275, 1423, 1425 Reduktion 63, 72, 96, 110, 133 - 134, 168, 171, 184, 202, 215, 219, 246, 272, 281, 306, 523, 534, 595, 982, 1128, 1474 - theoretisch 63 - transzendentale 1315 Reduktionismus 101, 359, 522, 542, 561, 577, 639 - 640, 710, 807, 846, 981, 1002 - neuronaler 506, 516, 520 - 522, 524, 526, 534 - 536, 538, 540, 542, 544 Regress 279, 480, 1120 - unendlicher 76, 102, 178, 181, 480, 907, 1162 Reich, drittes 154, 1356 Reich der Mütter 1315 Reifikation 327 Reinheit 394, 652, 1027, 1076, 1078, 1207, 1403, 1407 Reinkarnation 788, 792, 846 - 849, 922 - 925, 929, 969, 971, 1175 - 1176, 1232, 1342, 1347, 1351, 1382, 1391, 1412, 1422, 1434 - 1435, 1438 - 1439 Reinkarnationsgedanken 1436 Reinkarnationsperspektive 1439 - 1440 Religion 187, 189, 252, 259, 617 - 618, 621 - 622, 655 - 656, 677, 693 - 696, 700 - 701, 708, 721 - 724, 739, 750, 774 - 775, 777, 783, 792 - 793, 811, 825, 834, 844, 865, 874, 878, 908, 938 - 942, 944, 955, 957, 969, 973, 988, 993, 996, 1003, 1005, 1016, 1023, 1034, 1076, 1176, 1182, 1267, 1290, 1325, 1368 - 1369, 1386, 1393, 1398 - 1400, 1408 - 1409, 1411 - 1412, 1440, 1463, 1476 - 1477 religiös VIII, 13 - 15, 39, 187, 189 - 190, 206, 259, 262, 297, 311, 343, 617, 631 - 632, 650, 656 - 657, 664 - 665, 677, 681, 695, 700 - 702, 705, 707, 723, 727, 739, 746 - 747, 752, 776, 780, 786, 792, 818, 822, 829, 832, 834, 839, 844, 857, 874, 878 - 879, 881, 883 - 884, 908, 912, 932, 938, 955, 967, 1034, 1042, 1044, 1079, 1147, 1182, 1190, 1231, 1310, 1327, 1336, 1340, 1345, 1350, 1365, 1373, 1386, 1393, 1395 - 1396, 1400, 1405, 1408, 1412, 1426, 1428, 1439, 1467, 1477 Replikation 550 - 551, 590 - 591, 1304 Replikationsfabrik 551, 590 Replizierbarkeit 493, 497, 623, 1304 Reproduzierbarkeit 484, 493 - 496, 1003, 1085, 1117 Revolution X, 2, 9, 17, 32, 190, 239, 307, 405, 449, 600, 602, 610, 616, 625, 628, 645, 666, 685, 695, 753, 896, 921, 992, 1131, 1293, 1368, 1396, 1434 - scientific 2, 622, 645, 991, 1164 Richtkräfte 1478 Ritual 744, 1014, 1016, 1021, 1036 - 1037, 1045, 1074 - 1075, 1078, 1147, 1399, 1428 RNS-Interferenz-Methode 546, 561 Roche 498 - 499 Romantik 696, 698, 700 Röntgenstrukturanalyse 574, 577 - 579, 584, 1453 Royal Society of London 3, 12, 16, 22, 217, 404, 673, 781, 810 - 811, 817, 831, 838, 891, 896, 966, 1006 Ruhe 7, 34, 112, 255, 280, 474, 589, 761, 962 - 963, 1049, 1060, 1070, 1075, 1099, 1212, 1406 - innere 1210, 1237 Russell-Einstein-Manifest 933, 1007 Sachverhalt 41, 54, 130, 204, 237, 249, 267 - 269, 271, 275 - 276, 279, 286, 316, 447, 452, 471, 668, 1106, 1112, 1120, 1151, 1261, 1268 sacred 652, 930, 937, 963, 1017 Sachwortregister 1575 Samsara 1309 - 1310 SAP 898 Saturn 417, 451, 756, 1332 - 1333, 1351 - 1352, 1355 - 1356, 1358, 1375, 1392, 1455, 1462 - alter 1352, 1355 - 1356, 1358, 1367, 1392, 1446, 1456, 1462, 1466 Saturnentwicklung 1334, 1352 Saturnzustand 1333 Schattenbild 1196, 1275 - 1276, 1337 Scheide 1191, 1212, 1243 Schicksal 182, 197, 286, 298, 307, 342, 664, 701, 751, 778, 808, 829, 901, 909 - 910, 913, 922, 1018, 1021, 1041, 1043, 1082, 1137, 1162, 1166, 1246, 1248, 1306 - 1307, 1342, 1347, 1366, 1391 - 1392, 1431, 1435, 1440 Schlaf 415, 422, 514, 535 - 536, 538, 763, 789, 1071, 1193, 1204, 1213, 1218, 1316, 1352, 1356, 1413 - 1414, 1444, 1460 - 1461, 1475 Schlafleben 1213 Schließen 54, 78, 91, 93, 124, 130, 135, 151, 163, 229, 244, 281, 286, 296, 448, 483, 521, 543, 545, 593, 629, 633, 635, 669, 720, 725, 743, 761, 787, 797, 801, 804, 878, 906, 926, 984, 1018, 1050, 1090, 1102, 1107 - 1110, 1142, 1197, 1298, 1313, 1407 Schluss 3, 9, 11, 25, 37, 41 - 42, 57, 69, 72, 76, 78, 80, 84, 92, 99, 102, 108, 124, 129 - 130, 132, 136 - 139, 145 - 146, 153, 160, 162, 165, 167 - 169, 174, 182, 184, 202, 204, 208, 217, 222, 229, 242, 245, 274, 289, 301, 305, 320, 324 - 325, 328, 339, 347, 359, 424, 446, 448, 455 - 456, 462, 466, 477, 479, 482, 497 - 498, 511, 544 - 545, 548, 556, 564 - 565, 578, 594 - 595, 607, 611, 621, 643, 645 - 646, 648 - 649, 660, 674, 677, 692, 716, 721 - 722, 725, 787, 789, 791, 797, 799, 816, 822, 833, 867, 870, 902, 907 - 908, 928, 932, 945, 968 - 969, 982, 985, 991, 1012, 1037, 1078 - 1079, 1081, 1086, 1102, 1104, 1107 - 1108, 1110, 1112, 1115 - 1116, 1134, 1136, 1140, 1150, 1160, 1163, 1248, 1287, 1299, 1377, 1423, 1453 - 1454, 1468 Schöpfung 8 - 9, 293, 662, 665, 678, 711, 754 - 756, 821 - 822, 868, 1231, 1396, 1449, 1479 Schutzmaßnahmen 1372, 1404 Schwangerschaft 359, 923, 1399, 1433, 1440 Schwangerschaftsabbruch 942, 1396 Schwerkraft 237, 410, 463, 798, 900, 902 Schwert 404, 1191, 1212, 1242, 1405 science 2, 10, 24, 41, 50, 296, 298, 300 - 301, 307 - 308, 310, 320, 328 - 329, 332 - 338, 348, 350 - 351, 394, 396, 399 - 400, 404, 442, 454, 456, 465, 469, 472, 486, 488 - 490, 492, 495, 501, 521, 527, 532, 542, 559, 575, 600, 615, 618 - 619, 622 - 627, 631, 633 - 635, 642 - 648, 652 - 653, 655 - 656, 660, 682 - 683, 688, 724, 766 - 768, 771, 781, 793, 820, 838, 843, 845, 854, 861 - 862, 867, 890, 894, 904, 920, 922, 924, 931, 940 - 941, 949, 954, 957, 969 - 971, 973, 985, 988, 991, 994 - 998, 1000, 1003 - 1006, 1043, 1084 - 1085, 1087, 1127, 1150, 1164, 1267, 1478 Science Wars 332 - 334, 336 - 337 scientific community 313, 330, 335, 402, 495, 600, 604, 619, 622, 624 Scientific Revolutions 138, 182, 211, 306, 313, 316, 932, 966 Seele 57, 150, 189, 255, 258, 283, 317, 321, 516, 625, 656 - 657, 659 - 660, 664, 668, 673, 675, 681, 699, 703 - 704, 707 - 708, 716 - 717, 719, 734, 755, 761, 764, 775, 780, 785, 788 - 789, 792, 798, 800, 809, 813, 816, 825, 828, 844, 853, 863, 865, 872 - 873, 881, 887 - 888, 910, 912, 914 - 915, 922 - 925, 944, 950, 969, 988, 1002, 1012, 1015 - 1016, 1018, 1020, 1035, 1038 - 1039, 1041, 1043 - 1044, 1053 - 1054, 1059, 1127, 1131, 1143, 1170, 1175, 1178, 1180, 1183 - 1187, 1189, 1192, 1195, 1202, 1204, 1206, 1208, 1210 - 1211, 1218, 1220, 1222 - 1224, 1226 - 1227, 1229, 1232 - 1233, 1235, 1237 - 1238, 1240, 1244, 1249, 1257 - 1258, 1261, 1265, 1271 - 1272, 1274 - 1277, 1282 - 1286, 1290, 1296, 1303, 1316, 1318, 1320, 1330 - 1331, 1337 - 1345, 1350, 1352, 1359, 1363, 1366, 1368, 1370, 1383, 1390, 1402, 1404, 1406, 1414 - 1415, 1576 16 Register 1417, 1419, 1422, 1429 - 1431, 1435, 1448, 1451, 1462, 1465, 1469 Seelenleib 1340 Seelenwelt 1133, 1194, 1204, 1225, 1285, 1294, 1336, 1338, 1413 Selbst 16, 38, 207, 251, 277, 333, 354, 444, 447, 471, 475 - 476, 514, 518, 542, 544, 555, 674, 691, 730, 756, 776 - 777, 787 - 789, 828, 852, 869 - 871, 873, 878, 895, 929, 931, 950, 972, 979, 1000, 1022, 1027, 1048, 1099 - 1101, 1201, 1224, 1226, 1232 - 1233, 1236 - 1237, 1239, 1241, 1244 - 1245, 1273, 1279, 1285, 1290, 1312, 1318, 1328, 1346, 1348, 1355, 1358, 1368, 1370, 1421, 1427, 1430 - höheres 1101, 1231 - 1232, 1248, 1252 - subliminales 787 - 789, 950 - wahres 979, 1100 - 1101, 1120, 1231 - 1232, 1247, 1346, 1439 Selbsterkenntnis 1118 - 1120, 1160, 1184, 1245, 1249, 1286 Selbstlosigkeit 1224 - 1225, 1237 - 1239, 1309 Selbstmedikation 421 Selbstverwirklichung 730, 858 Selbstwiderspruch 241, 304, 338, 1085, 1104, 1136, 1154 Senoi 855 - 857 Seraphim 1295 Sexualpartner 732 Shiva 859, 861, 1295 Sicherheit 9, 12 - 13, 21, 49, 57, 61, 63, 73 - 74, 77, 79, 87, 94, 99, 102, 111 - 112, 173, 237, 272, 300, 305, 328, 333, 344, 401, 447, 520, 565, 589, 653, 734, 791, 875, 886 - 887, 970, 1106, 1109, 1111, 1115, 1128, 1234, 1368, 1398, 1453, 1469 Siegelwachs 1288 Sinnesorgan 165, 428, 597, 715, 719, 786, 842, 1012, 1225, 1234, 1286, 1302, 1343, 1414 - 1415, 1459 Sinnesqualitäten 95, 106, 109, 162, 204 Society for Psychical Research 768, 773, 781, 784 - 786, 793, 795, 797, 807, 809 - 810, 845, 849 Sokal-Affäre 334, 336 - 337, 487 Sonne 2, 20, 79, 125, 134, 286, 411 - 412, 417, 419, 428, 430, 449, 451, 461, 506, 607 - 608, 610, 616, 666, 722, 747, 813, 902, 906, 933, 944, 1019, 1021, 1027, 1029, 1058, 1072, 1074, 1077, 1090, 1111, 1215, 1277, 1293, 1350, 1353 - 1357, 1359, 1362, 1372 - 1373, 1375, 1390, 1392, 1397, 1430, 1436, 1442 - 1443, 1445, 1447, 1455, 1462, 1466, 1476 - alte 1352, 1354 - 1356, 1367 Sonnenkorona 411, 461, 1445, 1476 Sonnenlitanei 1024, 1028 Spaltung der Persönlichkeit 1229, 1246, 1248 Spiegel 151, 271, 278, 342, 444, 613, 1094, 1167, 1193 - 1194, 1209, 1272, 1334, 1360, 1379 - 1381, 1401, 1424 - 1425, 1429 - 1430 Spiegelfunktion 1195 Spinne 240, 1093, 1442 Spiritualism 767 - 769 Sprache 16, 49 - 50, 54, 56, 61 - 62, 85, 89, 109, 115, 117, 119, 123, 132, 141, 153, 193 - 194, 196 - 197, 201, 203 - 204, 218, 236, 247, 249 - 250, 263, 265 - 266, 273 - 278, 281, 283, 288, 290 - 292, 300, 331, 341, 356, 359, 427, 453, 482, 507, 517, 567, 593, 611, 639, 644, 717, 752, 757, 760, 796, 818, 827, 842, 863, 869, 966, 977, 991, 1046, 1079, 1103, 1119, 1124, 1127, 1129, 1148, 1157, 1181, 1205, 1221, 1225, 1227, 1249, 1273, 1277, 1291, 1311, 1315, 1318, 1371, 1375, 1383, 1388, 1416, 1420, 1425 - physikalische 204, 300 Sprachspiel 290 Steinersche Revolution 631, 1396 - 1397 Sterbehilfe 1396, 1438 Sterbenden 959 - 960, 962 - 965, 1412, 1418, 1421 Sternen-Organisation 1215 Steuerungsmechanism 356, 472, 550, 552 - 554, 569 - 570, 805, 927 Stil, anderer 351 - 352, 358 Stonehenge 2, 11, 1014, 1056 Strahlen 28, 37, 108, 136, 187, 1121 - kosmische 408 Stringtheorie 440 - 442, 444, 503, 609 strong programme 321, 338 Strukturbeschreibung 202, 222 - 226, 229, 232, 239, 246 Struktureigenschaft 220, 224 - 225 Strukturwissenschaft 202 Sachwortregister 1577 Subjekt 80, 82 - 83, 95, 163, 194, 216 - 218, 228 - 229, 231, 316, 321, 350, 352, 359 - 360, 394, 400, 690, 1097 - 1098, 1131, 1137, 1154 - 1155, 1167, 1218, 1282, 1289, 1421 subjektiv 56, 91, 94, 152, 165 - 166, 170, 217, 228 - 231, 234, 318, 320, 323, 349, 361, 402, 422, 686, 820, 923, 956, 968, 984, 1044, 1086, 1091, 1095, 1105 - 1106, 1108 - 1110, 1112 - 1113, 1115 - 1117, 1119, 1132 - 1133, 1135 - 1137, 1140 - 1142, 1150, 1159 - 1160, 1269 Subliminal Consciousness 776 Substanz 26, 28 - 29, 57, 82, 107, 109, 160, 171, 175 - 178, 185, 206, 246, 272, 274, 326, 422, 447, 485, 567, 578, 596, 670 - 671, 673, 675 - 676, 678 - 679, 698, 706, 714, 716 - 721, 755, 832, 905, 984, 1035 - 1036, 1124, 1131, 1143, 1337 - 1338, 1351 - 1352, 1355, 1358, 1378 - 1379, 1391, 1416, 1418, 1427, 1433, 1441, 1446, 1458 - 1460 Substanzdualismus 520, 870, 1338 Substanztertialismus 870 Suizid 1371, 1438 Supernaturalismus 195, 635 - 636 Supernova 410, 606, 900, 904 Superstition 329 - 330, 332, 338 Swedenborgianismus 764 - 765 Syllogismus 92, 160, 229, 1109 Synapse 469, 527, 530, 640, 868 Tamiflu 498 - 499 Tao 859, 861 - 863, 1341 Tatsache 15, 41 - 42, 60, 64, 80, 84 - 89, 99, 108 - 109, 112, 118, 127 - 132, 135 - 137, 140 - 144, 148, 158, 160, 162, 164 - 165, 167, 169, 175, 177 - 181, 184, 186, 189 - 190, 196, 200, 208, 210, 218 - 219, 221, 226, 232 - 233, 241, 244, 247, 251, 262, 267 - 269, 271, 274 - 276, 279 - 281, 284, 286, 293, 298, 306, 314 - 315, 317 - 318, 324 - 325, 339, 341 - 342, 348, 352, 355, 358, 362, 395, 411, 423, 434, 446 - 447, 452, 455, 494, 500, 506, 512, 514, 517, 521, 524 - 525, 527, 539, 541 - 542, 550, 552, 555, 562, 568 - 569, 577, 579, 582, 586, 594, 605, 616, 620, 625, 629 - 630, 632, 639, 671, 681, 688, 703, 710, 716, 720, 728 - 729, 732, 742, 759, 768, 779, 789, 792, 794 - 795, 809, 812, 831, 848 - 849, 854, 856, 883, 895 - 896, 898, 904, 908, 912, 924, 932, 947, 953, 955, 967, 969, 982, 984, 993, 1000 - 1001, 1028, 1031, 1035, 1038, 1043, 1049, 1059, 1075, 1080, 1087, 1100 - 1101, 1108, 1110 - 1116, 1120, 1123, 1133, 1135, 1137, 1141, 1143 - 1145, 1147, 1152 - 1153, 1158, 1160, 1162, 1167 - 1168, 1170, 1176, 1178 - 1179, 1187, 1193, 1197, 1203, 1206, 1231 - 1232, 1235, 1241, 1253, 1261, 1264, 1280, 1293, 1297, 1299, 1301, 1303 - 1304, 1309, 1314 - 1315, 1318 - 1319, 1329, 1331, 1335 - 1336, 1342, 1351, 1353, 1355 - 1356, 1360, 1363, 1368, 1378, 1385, 1389, 1405, 1407 - 1408, 1425, 1429 - 1430, 1440, 1447, 1449, 1452 - 1453, 1459, 1476 Täuschung 64, 166, 286, 296, 338, 610, 688, 714, 794, 858, 1110 - 1111, 1115 - 1116, 1119, 1240, 1245, 1249 - 1250, 1259 - 1260, 1311, 1413 Tautologie 81, 132, 504 Teilchen 19, 29, 108, 142, 147, 159, 409 - 410, 431, 434 - 436, 438 - 441, 467, 672, 679, 711, 901 - 903, 929, 1325 Teilchen-Welle-Dualität 431 - 432, 434 Teleologie 799 teleologisch 711, 820 Telepathie 633, 786 - 787, 791, 794, 816, 841 - 843, 852, 875, 877, 893, 948, 955, 969, 988, 996 telepathisch 794 - 795, 841 - 842, 845, 896 Tempel 445, 722, 1014, 1031 - 1032, 1036, 1045, 1060, 1062, 1068, 1071 - 1072, 1074 - 1075, 1080 - 1082, 1119, 1182, 1198, 1204, 1243, 1348, 1388 Tempelanlage 1045, 1060 - 1063, 1065 Termini 61, 306 - beobachtbare 61 - mathematische 61 - theoretische 61 Tertiärstruktur 574, 597 Theismus 721, 726, 895, 940 Theologie 7, 59, 189, 602, 620, 701, 708, 723, 752, 758, 774, 797, 817, 821, 845, 1280, 1409 Theoriereduktion 63, 202 1578 16 Register Theosophie 764, 846, 1171, 1174, 1176, 1178, 1183, 1267, 1292, 1294, 1301, 1315, 1469 Throne 1039, 1295, 1334, 1336, 1351, 1398 Tiefe des Blicks 1126, 1129 Timaios 659, 1012 - 1013, 1020, 1023, 1363 Tod X, 15 - 16, 20, 103, 190, 199, 251 - 252, 410, 466, 514, 516, 562, 704, 757, 761, 765, 777, 779 - 780, 784 - 785, 787, 791 - 792, 795, 801, 810, 812, 817, 824, 828, 835, 839, 846, 848, 863, 865, 885, 887, 900, 910 - 913, 915, 925, 932, 942, 944, 949, 958, 960, 962, 964 - 966, 969 - 971, 977, 993, 996, 1017 - 1019, 1038, 1043 - 1045, 1054, 1075 - 1076, 1145, 1181, 1183, 1185, 1192, 1194, 1209, 1211, 1225, 1232, 1243, 1246, 1254, 1258, 1308, 1336 - 1337, 1342 - 1345, 1348, 1350, 1352, 1354, 1357, 1359, 1362, 1366, 1370, 1373, 1380, 1398, 1401, 1403 - 1404, 1412 - 1414, 1416 - 1419, 1422, 1427 - 1428, 1431, 1434, 1437 - 1439, 1462 Totenbuch 1018 - 1019, 1025, 1037 - 1039, 1041, 1043, 1045, 1163, 1366 Totenpässe 1017 Tractatus 49, 52, 59, 66, 195, 242, 251, 254 - 259, 263 - 265, 267, 269 - 270, 272, 276, 281, 284, 286, 288 - 291, 293 - 297, 300 - 302, 483, 669, 818, 1370 Trancezustand 855 Transkription 324, 548, 550 - 551 Transzendenz 730, 746 - 747 Traum 361, 423, 468, 471, 504 - 505, 515, 519, 538, 729, 763 - 764, 795, 827, 852, 855 - 857, 882, 889, 915, 961, 977, 984, 1015, 1029, 1071 - 1073, 1167, 1195, 1213 - 1214, 1321, 1355, 1396, 1413, 1437 - luzider 826, 949, 1214 Trinität 718, 1295 Tscheljabinsk-Meteorit 607 - 608 Tunnel 865 Tunnelbau 1186, 1299 Tunnelvision 976 Übereinstimmung 40, 42, 51, 82 - 84, 89, 135 - 136, 144, 164, 228, 230 - 231, 267, 277 - 278, 337, 477 - 478, 586, 612, 618, 741, 1088 - 1089, 1091, 1094 - 1095, 1132, 1136, 1149, 1151, 1278, 1296 - intersubjektive 1088 Übermensch 809 übersinnlich IX - X, 683, 707, 724, 739, 747, 749, 764, 773, 776, 783, 789, 816, 867, 875, 878, 889 - 890, 982, 1010, 1044 - 1045, 1081 - 1082, 1158 - 1159, 1163 - 1165, 1170, 1175, 1178, 1180 - 1181, 1183, 1186 - 1187, 1190 - 1192, 1194 - 1196, 1199, 1202 - 1203, 1205, 1208 - 1210, 1212 - 1214, 1216 - 1217, 1219 - 1220, 1222, 1225 - 1227, 1229 - 1237, 1239 - 1242, 1245 - 1246, 1249 - 1255, 1257 - 1260, 1262 - 1266, 1269 - 1271, 1275 - 1277, 1280 - 1284, 1286, 1288 - 1301, 1303 - 1305, 1309, 1311 - 1313, 1316 - 1324, 1328 - 1331, 1333, 1335 - 1337, 1339, 1342, 1346 - 1347, 1350 - 1351, 1369, 1371, 1379, 1382 - 1386, 1399 - 1401, 1413, 1415, 1417, 1420 - 1421, 1423, 1426 - 1427, 1430, 1453, 1462, 1479 Übung 228, 583, 826, 861, 972, 1183, 1187, 1191, 1198, 1202, 1205 - 1206, 1208, 1210, 1213, 1220, 1222 - 1223, 1228 - 1229, 1233 - 1234, 1237, 1239 - 1240, 1243, 1256 - 1258, 1260, 1270, 1273, 1276, 1295, 1304, 1316 - 1317, 1320 - 1321, 1383, 1386, 1413, 1428 Uhr 147, 149, 529, 594, 665, 668, 677, 684, 882, 962, 1442 - mechanische 147, 665 Ultraviolett-Katastrophe 31 umformen 201, 214 - 215, 230, 235 Umformung 54, 202, 228, 1211 Umkehrung des Willens 1238, 1281 Umschreibung 204, 270 - eindeutige 202, 225 Umwelt 44, 334, 341, 400, 402 - 403, 422, 425, 717, 739, 744, 843, 875, 904, 908, 926, 928, 930 - 931, 934, 1184, 1186, 1188, 1194, 1211, 1215, 1241, 1249, 1381, 1396 Unabhängigkeitserklärung 1407 Unbewusste 53, 448, 823 - 824, 826 - 827, 829 - 830, 842, 893, 1157 - 1158, 1166, 1317 - 1318 Underworld 976, 1017, 1190, 1226, 1420 Unified Science 212, 307, 310 unio mystica 1028, 1076 Universalsprache 204 Universum 18, 23, 26, 34, 97, 135, 155 - 156, 166, 172, 192, 239, 272, 274, Sachwortregister 1579 306, 342, 356, 409 - 410, 415, 429, 431 - 433, 438, 459, 461, 471, 473, 475, 575, 595, 631, 634, 636, 646, 659 - 660, 662, 666, 675, 679, 682, 695, 698, 703, 715 - 716, 721, 724 - 726, 754, 756, 770 - 771, 776 - 778, 808, 812, 814, 821, 835, 841, 859, 862, 871, 895 - 898, 900 - 903, 906 - 908, 914, 937 - 938, 943, 945, 950, 973, 978, 981, 985, 993, 995, 997 - 999, 1001, 1009 - 1010, 1110, 1126, 1148, 1163, 1189, 1256, 1298, 1325 - 1326, 1348, 1350 - 1352, 1356, 1396, 1420, 1442, 1444, 1446, 1453, 1463, 1475 Unschärferelation 432 - 433 Unsinn 92, 149, 155, 250, 266, 274, 281, 287 - 288, 298, 306, 331, 703, 891, 920, 1192, 1312, 1458, 1468 unsterblich 785, 913, 929 - 931, 1081, 1189, 1232 Unsterblichkeit 189, 656 - 657, 716, 720, 722, 813, 1076, 1184 Unterdeterminiertheit 460 - 461, 1129 Unterhaltungsindustrie 1466 unwissenschaftlich 602 - 603, 614, 618, 624, 640, 772, 811, 894, 1085, 1313 Urknall 409 - 410, 461, 475, 566, 660, 703, 718, 754, 898, 901, 903, 932, 978, 995, 1001, 1091, 1326 - 1327, 1351, 1444 Ursache 9, 27, 34, 42, 83, 173, 205, 207, 218, 237, 327, 418, 478, 506, 518, 520, 522 - 523, 542, 544 - 545, 561 - 565, 567 - 569, 594 - 595, 608, 625, 636, 638, 641, 663 - 664, 677 - 678, 692, 725, 749, 754 - 756, 772, 786, 799 - 800, 836, 853, 984, 1000, 1123, 1154, 1183, 1258, 1335, 1363, 1429 - 1430, 1443, 1449, 1452, 1473 Urteil V, 12, 38, 53, 56 - 57, 71, 78 - 81, 83 - 89, 92, 94, 98 - 99, 121, 124, 127 - 132, 135 - 145, 149, 158 - 160, 186, 210, 220, 263, 361, 444, 478, 499, 531, 564, 594, 599, 617, 622 - 625, 631, 667, 814, 821, 825, 871, 958, 999, 1005, 1039, 1041, 1085, 1088, 1091, 1094, 1096, 1099, 1105 - 1110, 1112 - 1118, 1120, 1122, 1124 - 1125, 1130, 1133 - 1134, 1136, 1141, 1152, 1154, 1160, 1166, 1235, 1241, 1245, 1271, 1292, 1297, 1325, 1392, 1419, 1435, 1468 Urteilsgrundlage IX, 932, 1122, 1165, 1236, 1253, 1291 - 1292, 1298, 1324 Verantwortung 194, 543, 714, 1139, 1151, 1307, 1363, 1372, 1404 - moralische 543 Verein Ernst Mach 51 - 52, 70 Vererbung 711, 804, 893, 995, 1001, 1040, 1147, 1359, 1407, 1459 Vergöttlichung 1081, 1310, 1393 Verifikation 42, 67, 93, 160 - 161, 250, 301 - 305, 453, 481, 614 Verifikationsprinzip 301 - 304 Verifikationstheorie 62, 205, 250, 279, 300 - 301 Verifizierbarkeit 305, 453, 618, 623 verifizieren 62, 250, 302 - 304, 618, 847, 1093 Versöhnung 750, 964 Verstand 8, 18, 38, 92, 155, 361, 759, 827, 881, 970, 1008, 1041, 1281, 1368, 1387 - männlicher 1165 Verstandesseele 1340, 1367 Verstehen 47, 171, 206, 288, 354, 482 - 483, 669, 687, 1162, 1264, 1330, 1453 Verstorbene 757, 762, 784, 791 - 795, 812, 815 - 816, 864 - 865, 875, 885 - 886, 912, 949, 959, 961 - 962, 965, 969, 971, 990, 993, 1038 - 1040, 1070, 1073, 1254, 1342, 1398, 1418 - 1419, 1421, 1426 Versucher 1374 Versuchung 325, 693, 796, 836, 1029, 1360, 1373 - 1374 Vertrauensverlust 503 Verwandlungsfähigkeit 1224, 1239 Verwandte 513 - 514, 723, 757, 959, 961 - 963, 967, 970, 1345, 1385, 1406, 1418, 1421 - verstorbene 513 - 514, 796, 890, 910, 912, 914, 958, 960 - 961, 965, 967, 983, 987, 993, 1044, 1171, 1190, 1343, 1345, 1415, 1417 - 1419 Vishnu 1295 Vision des Lichtes 513 Visionen 2, 400, 513 - 514, 666, 698, 756 - 757, 760, 763 - 765, 780, 785, 793, 824, 826 - 827, 832, 834 - 835, 864, 875, 879, 881 - 883, 888, 914 - 915, 944, 949, 958, 960, 962, 964, 981, 983, 1010, 1028, 1580 16 Register 1073, 1175, 1183, 1187 - 1188, 1190, 1216, 1257, 1267, 1382, 1388, 1400, 1408, 1412, 1418, 1426, 1475 Vitalismus 19, 57, 650, 797 - 801, 803 - 805, 920, 997, 1001 Volksgeist 58 Vorblick 1350 Voreingenommenheit 212, 890, 1129 Vorstellung VII, 3, 5, 17, 28, 38, 44, 47, 57, 59, 65, 72 - 74, 76, 79, 82, 97, 99 - 100, 103, 105, 107 - 108, 110, 112, 116, 120 - 122, 125 - 126, 128, 139, 144, 147, 149 - 154, 157 - 159, 169, 172, 175, 207, 209, 216, 223, 233 - 234, 245, 247, 271, 274 - 276, 278 - 279, 292, 308, 318, 331, 347, 360, 410, 415, 427, 429, 431, 433, 436, 444, 451, 454, 461, 475, 483, 503, 521, 527, 531, 538, 548, 562, 565, 582, 586, 593 - 594, 596, 599, 602 - 603, 608, 611 - 612, 635, 641, 658, 660 - 663, 665, 667, 670 - 671, 673, 677 - 679, 684 - 685, 688, 691, 693, 698, 701, 714 - 715, 739, 746 - 747, 760 - 761, 764, 777 - 778, 792, 804, 807 - 808, 811, 814 - 815, 822, 865, 874, 892, 896, 915, 923, 927, 930, 934, 942 - 945, 950, 966, 996, 1000 - 1001, 1014, 1018, 1021, 1025, 1028, 1036 - 1038, 1041 - 1042, 1045, 1054, 1060, 1073, 1075, 1090, 1101 - 1103, 1106, 1126, 1131, 1140, 1144, 1147, 1156, 1159 - 1160, 1171, 1185 - 1186, 1192, 1206, 1208, 1213, 1216 - 1217, 1220, 1223, 1229, 1231, 1235 - 1236, 1240, 1242, 1264, 1267, 1269, 1276, 1301, 1310, 1332, 1343, 1345, 1347, 1350 - 1351, 1356, 1371, 1382, 1398, 1400, 1405 - 1408, 1411, 1419, 1430, 1434, 1443, 1449, 1456, 1462, 1467, 1476 Vorstellungskomplex 1206 - 1207 Voyager 606, 1475 Vulkanausbruch 606, 1093 Vulkanausbrüche 1449 - 1451 Wahrheit 12, 15, 25, 27, 34, 38, 47 - 48, 60, 65, 67 - 68, 75, 79, 83 - 85, 88, 91, 94 - 95, 99 - 100, 124 - 125, 131, 136 - 144, 158, 160 - 161, 183, 186, 188, 196, 198, 205, 211, 214, 217, 240, 266, 274, 277 - 279, 284, 300, 309, 316 - 317, 323, 337, 345, 350, 359, 362, 401, 403, 423, 450, 452 - 453, 455, 457 - 458, 460, 475, 481, 534, 542, 601, 603, 621, 625, 643, 660, 666, 668, 673, 688, 700, 703 - 705, 716, 721 - 722, 724, 797, 805, 813 - 814, 835, 879, 888 - 889, 912, 922, 938, 978, 983 - 984, 1003, 1032, 1040, 1043, 1089 - 1090, 1104 - 1105, 1109, 1111 - 1112, 1114, 1117 - 1118, 1134, 1137, 1151, 1173, 1176, 1180, 1224, 1236, 1247, 1249, 1271, 1278, 1281, 1294 - 1295, 1324, 1332, 1368, 1400, 1409, 1439, 1456, 1468, 1477, 1479 Wahrheitsfunktion 267, 280 - 282, 284 Wahrheitsoperation 282 Wahrheitstafeln 280 Wahrnehmung VII - VIII, 38, 41, 44, 46, 58, 73, 76, 105, 107, 111 - 112, 153, 163 - 164, 181 - 182, 193, 204, 212, 225 - 226, 243, 248, 270, 306, 314, 422, 451, 501 - 502, 504, 506, 514, 519, 521, 524, 527, 609, 611 - 613, 685 - 687, 689 - 690, 696, 698, 709, 773, 788, 795, 831 - 833, 847, 850, 868, 875, 882, 888, 893, 943, 948, 976, 1044, 1098, 1106, 1109, 1127, 1129, 1148 - 1149, 1151, 1183, 1193, 1203, 1205, 1209, 1213 - 1216, 1219 - 1221, 1225 - 1226, 1230, 1236, 1240 - 1242, 1245, 1249, 1251 - 1252, 1255 - 1256, 1258 - 1259, 1261, 1264, 1272, 1277 - 1279, 1282, 1286 - 1287, 1300 - 1301, 1303, 1309, 1313, 1315 - 1316, 1333, 1349, 1384, 1413 - 1417, 1426, 1429, 1464 Wahrnehmungsbrei 123 Wahrnehmungskraft 1199 Wahrnehmungsorgane 664, 1149, 1203, 1205, 1208 - 1209, 1213, 1219, 1239, 1258, 1281, 1286, 1301, 1317, 1322, 1413 - 1414, 1416, 1424, 1427 - seelische 1203 - 1204, 1213, 1301 WAP 898 Wasser 5 - 7, 23, 30 - 31, 43, 134, 139, 164, 240, 248, 302, 311, 415 - 417, 421, 446, 464, 473, 560 - 561, 576 - 578, 610, 662, 670 - 671, 676, 684, 705, 795, 832, 839, 902, 904 - 905, 1018, 1021, 1032, 1056, 1059, 1111, 1140, 1195, 1217, 1244, 1251 - 1253, 1323, 1338, 1391, 1415, 1441, 1453, 1475, 1477 Wechselwirkung 173, 314, 360, 440, 579, 799, 899 - 901, 1333, 1454 Sachwortregister 1581 - schwache 440, 900 - 901 Weisheit 320 - 321, 325, 497, 754, 763, 792, 845, 852, 856, 862, 985, 1017, 1023, 1176, 1230, 1243, 1294, 1296, 1306 - 1308, 1334, 1346, 1353, 1373, 1375, 1377, 1382, 1389, 1423, 1456 - 1457 Weite des Blicks 1121, 1124 Welle 28 - 29, 83, 96, 101, 110, 134 - 135, 142, 159, 208, 213, 302, 336, 340 - 341, 343, 431 - 432, 434 - 436, 530, 535, 690, 712, 810, 936, 953, 978, 1325 - 1326 Wellenfunktion 433 - 436, 924, 943 Welt - ätherische 1194, 1221, 1378, 1415 - elementarische 1225 - 1226, 1274 - geistige VIII - IX, XI, 296, 625, 632, 655, 658, 682, 691, 697, 719, 726, 754, 756, 758, 760, 763 - 765, 773, 775, 783, 786, 815 - 816, 827 - 828, 830, 836, 881, 915, 975, 979, 981 - 983, 986 - 987, 1008, 1010, 1012, 1014, 1016, 1029, 1042, 1044 - 1045, 1075, 1078, 1080 - 1081, 1083, 1162 - 1163, 1165, 1167, 1171, 1176, 1178, 1180 - 1181, 1183 - 1186, 1188, 1190, 1193 - 1195, 1209, 1211, 1213, 1221 - 1222, 1224 - 1227, 1229, 1231 - 1233, 1237, 1239, 1241, 1243 - 1246, 1248 - 1250, 1253 - 1254, 1257 - 1260, 1264 - 1266, 1268, 1276 - 1277, 1279, 1282, 1284 - 1286, 1290, 1294 - 1295, 1297, 1299, 1301 - 1305, 1309, 1311 - 1319, 1322 - 1324, 1330 - 1331, 1335 - 1338, 1341, 1343 - 1346, 1349, 1352, 1358, 1360 - 1362, 1365 - 1366, 1369 - 1370, 1373 - 1374, 1382 - 1388, 1394 - 1395, 1399 - 1400, 1403, 1412, 1415 - 1417, 1420, 1422 - 1423, 1425 - 1426, 1428, 1431, 1433, 1438, 1447 - 1449, 1466 - göttlich-geistige 1230, 1267, 1321 - übersinnliche X, 764, 783, 867, 1010, 1044, 1082, 1163 - 1164, 1178, 1180, 1183, 1186, 1203, 1209, 1213, 1217, 1219 - 1220, 1225 - 1227, 1230, 1232, 1234, 1236, 1240, 1245, 1249, 1251 - 1252, 1254, 1258 - 1260, 1262, 1275, 1292, 1294, 1301, 1303 - 1304, 1309, 1311 - 1312, 1336, 1342, 1350 - 1351, 1400, 1420, 1430, 1479 Weltauffassung, wissenschaftliche 51 - 53, 57, 59 - 60 Weltenwort 1224, 1227 Weltkrieg 188, 212, 239, 268, 294 - 295, 314, 340 - 341, 501 - 502, 504, 728, 810, 821, 830, 1007, 1376, 1465, 1477 Welträtsel 25 - 26, 503, 709 - 710, 712, 714, 716, 723 Weltseele 659, 661 - 662, 665, 667 - 668, 696, 698 - 699, 932, 1101 Werte 15, 40, 62, 75, 91 - 92, 121, 137, 155 - 156, 159, 161, 178 - 179, 193, 245, 255, 263, 281, 287, 295 - 297, 321, 331, 338, 345, 349 - 350, 352, 361, 435, 439, 449, 462, 498, 501, 562, 564, 652, 681, 685, 690, 702, 713, 733, 739, 754, 774, 827, 896, 947, 983 - 984, 999, 1075, 1094, 1099, 1111, 1119, 1138 - 1139, 1160, 1162, 1167, 1172, 1201, 1280, 1282, 1286, 1396, 1406, 1409, 1452, 1476 - ethische 1138 - 1140, 1160, 1269, 1282 - 1283 - kognitive IX, 337, 349 Wesenheit 569, 681 - 683, 810, 812 - 813, 881, 912, 1008, 1014, 1036, 1171, 1183, 1185, 1193 - 1194, 1202, 1212, 1214, 1216 - 1220, 1224, 1226, 1229 - 1233, 1236, 1238, 1242 - 1243, 1258 - 1259, 1264, 1268, 1274, 1276 - 1277, 1284, 1288 - 1289, 1293 - 1295, 1305 - 1307, 1333, 1337, 1339, 1342, 1345 - 1346, 1348 - 1349, 1351 - 1354, 1356, 1359 - 1361, 1368 - 1371, 1374, 1376, 1379 - 1382, 1385, 1387, 1392, 1399, 1401 - 1402, 1404, 1415 - 1416, 1422 - 1423, 1426 - 1427, 1438, 1442 - 1445, 1448, 1459, 1462 - 1468, 1477 - geistige 473, 662, 726, 739, 1014, 1194 - 1195, 1217, 1220, 1226, 1236, 1243, 1263, 1276, 1282, 1285, 1288, 1293 - 1294, 1317, 1335 - 1337, 1343, 1345 - 1349, 1351 - 1355, 1357, 1359 - 1360, 1364 - 1365, 1371, 1374, 1380, 1396, 1399, 1402, 1404, 1406, 1416, 1422 - 1423, 1433, 1435, 1437, 1443, 1445, 1456 - 1459, 1462, 1464, 1468, 1474, 1476, 1478 Wesensschau 93, 148, 150, 152, 156 Widerspruch 2, 48, 80, 128, 163, 207, 246, 300, 315, 347, 405, 449, 514, 707, 720, 751, 778, 836, 926, 1102, 1142, 1147, 1176, 1203, 1225, 1292, 1368, 1439, 1447 Widerspruchslosigkeit 80 1582 16 Register Wiedererkennen 73, 76, 101 - 102, 105 - 107, 114, 143, 145, 148, 156, 186, 226 Wiederfinden 72, 86, 95, 102, 111, 143, 149, 156, 167 Wiederholbarkeit 605 - 606 Wiederverkörperung 1342, 1345 Wiener Kreis 47, 49 - 51, 56, 59, 62, 66, 70 - 71, 194 - 199, 211, 251, 258 - 259, 264, 266, 268, 279, 286, 289, 292 - 293, 296, 299, 301, 305, 309, 448, 818 Wille 82, 342, 701, 704, 759, 800, 1143, 1238, 1285, 1308, 1334, 1350, 1387, 1397, 1450 - 1451 - freier 526, 543 - 544, 641, 704, 706, 725, 739 - 740, 749, 813 - 814, 895, 978, 996, 999, 1341, 1371, 1374, 1387, 1394, 1428, 1432, 1442, 1466, 1479 Wirklichkeit VII - IX, 9, 39, 47, 56, 63, 71, 73, 75, 79, 87 - 89, 93 - 99, 101, 111, 117, 119, 125 - 126, 128, 131, 136, 143 - 144, 148 - 149, 155, 157 - 159, 163, 171 - 174, 177, 184 - 185, 206 - 207, 228, 232, 248 - 249, 274 - 279, 287, 296, 313, 316, 327 - 328, 331 - 332, 346, 352, 357 - 358, 360 - 361, 394, 415, 430 - 432, 435, 439, 443, 449, 455, 462, 470, 473, 476 - 478, 493, 524, 527, 575, 578 - 579, 595 - 597, 602, 610, 612 - 613, 631 - 632, 636, 642, 644, 649, 651, 665, 667, 669 - 671, 678, 687, 691, 698, 701, 708, 714, 733, 747, 764 - 765, 768, 774 - 775, 777, 795, 798, 808, 812 - 813, 816 - 817, 822, 824, 826, 833, 835, 848, 851, 855, 857, 860, 867, 874, 878, 881, 886, 889 - 890, 892, 897, 915, 925, 932, 935, 943, 945, 955, 965, 975, 978, 981 - 982, 984 - 985, 987, 999, 1001, 1004, 1010, 1027, 1029, 1086, 1092, 1094, 1096, 1114, 1117, 1126, 1128 - 1129, 1135 - 1136, 1145, 1149, 1160, 1162 - 1166, 1171, 1180, 1185 - 1186, 1196, 1212, 1215 - 1216, 1218, 1227, 1236, 1240 - 1241, 1247 - 1248, 1253 - 1254, 1259, 1269 - 1272, 1275 - 1280, 1283, 1287, 1291, 1293, 1298 - 1305, 1310, 1317, 1319, 1322, 1335 - 1339, 1343, 1347, 1351, 1355, 1360 - 1361, 1368, 1380, 1386, 1391, 1399 - 1400, 1408, 1412, 1415 - 1417, 1421, 1423, 1425 - 1426, 1435, 1438, 1457, 1464, 1470, 1477 - 1478 - übersinnliche XI, 816, 890, 1010, 1045, 1164, 1234, 1260, 1275 - 1276, 1292, 1301, 1337, 1416, 1421, 1423 Wissen 3, 7, 9, 11, 16, 33, 38, 43, 45 - 46, 77, 133, 145, 189, 191, 199, 297, 305, 315, 333, 339, 344, 346 - 347, 352, 354, 356, 404, 410, 478 - 483, 512, 527, 564, 595, 598 - 600, 607, 609, 611, 620 - 621, 627 - 629, 650 - 653, 655, 670, 696, 707, 734, 755, 759, 786, 824 - 825, 860, 864, 868, 913, 935, 937, 945, 1004, 1012 - 1013, 1015, 1020, 1023, 1026, 1032, 1034, 1042, 1060, 1081, 1094, 1097 - 1098, 1104, 1107, 1110, 1117 - 1120, 1123, 1136, 1162 - 1163, 1167, 1170, 1182 - 1183, 1235, 1270, 1279, 1300, 1327, 1362, 1470, 1474, 1476 - 1478 Wissenschaftler VIII, 3 - 4, 6, 8, 10, 12, 25 - 27, 32, 35, 38 - 40, 46, 64 - 66, 163, 199, 209 - 212, 224, 259, 314 - 316, 320, 324 - 325, 327 - 329, 331, 333, 340, 345, 353, 361, 394 - 397, 400, 405 - 406, 409 - 410, 415, 417, 420, 428, 431, 450, 456, 459 - 460, 466, 470 - 471, 473, 489 - 493, 500, 503 - 504, 523, 532, 541, 550, 559, 565, 577 - 578, 596, 606 - 608, 615 - 617, 621 - 622, 631 - 632, 635, 645, 652, 654, 657 - 658, 664, 682 - 683, 695, 703 - 704, 716, 723, 743, 749 - 751, 765, 767, 773, 778 - 779, 795, 810, 821, 828 - 829, 834, 841, 843, 860, 862, 868, 873, 884, 891, 894, 897, 907 - 908, 926, 930, 937 - 938, 940, 954, 958, 966, 972, 974, 981, 985 - 986, 990, 996 - 998, 1003 - 1004, 1007, 1045, 1098, 1112, 1130, 1137, 1142, 1148, 1160, 1162, 1164, 1166, 1190, 1192, 1197, 1199, 1202, 1214, 1226, 1235, 1248, 1269, 1299 - 1300, 1304, 1312, 1322 - 1323, 1327, 1329, 1332, 1337 - 1340, 1343, 1353 - 1355, 1374, 1377 - 1378, 1416, 1421, 1451, 1454, 1468, 1473 wissenschaftlich XI, 2, 5, 7, 16, 19, 36 - 37, 39, 43, 46 - 47, 50 - 54, 56 - 57, 59 - 63, 72 - 73, 78, 83, 91, 100 - 102, 114, 117, 124, 137, 146, 155, 166, 175, 183, 186, 189, 194 - 195, 204, 208, 210 - 211, 213, 219, 224 - 225, 227 - 228, 231, 233, 238, 246, 248 - 249, 295, 300, 306, 310, 313 - 314, 317, 320, 322, 325, 328 - 329, 331, 333, 336, 338 - 340, 344, 348, 352, 356, 361, Sachwortregister 1583 395, 397 - 398, 401 - 403, 405, 407 - 408, 424, 447, 449, 453 - 455, 459, 470, 476, 486 - 489, 491 - 494, 500, 503, 577, 600, 602 - 603, 605 - 609, 614, 616 - 624, 628 - 632, 634 - 635, 644 - 645, 649 - 650, 653 - 657, 665, 670, 681, 688, 692, 699, 716, 719, 721, 726, 749, 751, 753, 773, 775, 778, 783 - 785, 801, 805, 816, 823, 829 - 830, 838, 845 - 846, 853, 866, 868, 874, 888 - 892, 894, 896, 912, 914, 923, 926 - 927, 936, 938, 944, 948, 954, 975, 978, 981, 985, 989, 997, 1007, 1043 - 1044, 1085 - 1086, 1088, 1091 - 1093, 1095, 1097, 1112 - 1113, 1119, 1130, 1132, 1135, 1139, 1141, 1147, 1164, 1166, 1172, 1178, 1185, 1188, 1190, 1251, 1254, 1263, 1268, 1273, 1288, 1290, 1293, 1297, 1299, 1301 - 1302, 1304 - 1305, 1313, 1317 - 1318, 1321 - 1324, 1350, 1387, 1393, 1416, 1421, 1423, 1429, 1442 Wissenschaftlichkeit V - VII, XII, 1, 11, 61, 223, 306, 358, 401, 493, 598 - 600, 602 - 604, 606, 614 - 619, 621, 623 - 625, 628 - 630, 632, 640, 649, 651, 654, 656, 749, 773, 989, 1085, 1092, 1117, 1162, 1177, 1179 - 1181, 1188 - 1189, 1234 - 1235, 1264, 1269, 1278, 1293, 1297, 1304, 1313, 1322 - 1323, 1393 Wissenschaftsbegriff VI Wissenschaftsrat V, 598 - 599 Wissenschaftstheorie VI, 32, 39 - 41, 43, 45 - 47, 64, 143, 160 - 161, 317, 340, 400, 403, 405, 441, 446, 448, 460, 478, 503, 548, 562 - 563, 619 - 621, 642, 648, 652 - 653, 817, 1084, 1088, 1165 - 1166, 1253 - feministische 1148 Wissensgewinnungsprozess 339, 350, 612 Wohlstand 934 Wohlstandsgesellschaft 728 Zeichen 75, 78, 80, 84 - 86, 90, 97, 101, 110, 118 - 119, 124 - 125, 129 - 132, 136 - 139, 141 - 142, 151 - 153, 156, 158 - 159, 170 - 171, 178, 182, 184, 186, 197, 203, 205, 210, 220, 222, 235, 241, 290, 330, 336 - 337, 353, 482, 630, 672, 771, 829, 940, 973, 1074, 1123, 1207, 1251, 1378, 1452, 1470 Zeitlosigkeit 82, 876, 1144 Zellbewegungen 559 - 560 Zelle 168, 352, 414 - 415, 418, 428, 469, 472, 485 - 486, 518, 526, 528, 545 - 546, 549, 552, 554 - 555, 558 - 560, 567 - 573, 579, 582, 587, 589 - 594, 597, 638, 719, 803, 805, 839, 843, 873, 891 - 892, 922, 926 - 929, 931, 992, 1000, 1043, 1168, 1371, 1375, 1454 - 1456, 1458 Zellform 559 Zellkern 545, 550 - 551, 553, 568 - 569, 719, 928 Zellumgebung 558 Zellverhalten 560 Zell-Zell-Interaktionen 559 - 560 Zeus 1019, 1021, 1103 Ziegel 555 Ziegel-Haus-Problem 555 Zivilisation VI, 65, 260, 342, 645, 792, 874, 984, 1014, 1181, 1324, 1340, 1364 - 1365, 1389, 1394, 1467, 1475, 1479 Zuordnung 57, 84 - 86, 88 - 89, 91, 94, 96, 112, 136 - 142, 152, 159, 186, 231, 1103 - eindeutige 84 - 85, 89, 120, 136, 138 - 143, 158, 171 zurückführbar 96, 186, 203 - 204, 207, 214, 236 - 237, 244, 249, 819 Zurückführbarkeit 209, 214 - 215, 234 - 237, 249 Zuverlässigkeit IX, 101, 338, 348, 402, 530, 611 - 613, 642, 691, 794, 816, 1109, 1116, 1178 - 1179, 1220, 1234, 1236, 1239, 1249, 1251, 1253, 1259, 1296 Zwillinge 414, 545, 1100, 1348, 1459 - 1460 Zwillingspaar 1460 1584 16 Register Bildnachweis Abb. 1: Borgstein und Grootendorst 2002, S. 473. (Abgedruckt mit Genehmigung von Elsevier) Abb. 2: Feuillet et al. 2007, S. 262. (Abgedruckt mit Genehmigung von Elsevier) Abb. 3: Muckli et al. 2009, S. 13 035. (Abgedruckt mit Genehmigung von The Proceedings of the National Academy of Sciences) Abb. 4: Chemische Struktur des Alanins. (Quelle: Wikipedia) Abb. 5: Tertiärstruktur des α -Hämolysin. (Quelle: Protein Data Bank (RCSB PDB)) Abb. 6: Lysozym katalysiert Zucker, in: Alberts et al. 2005, S. 157. (© Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Abgedruckt mit Genehmigung) Abb. 7: Lysozym. (Quelle: Protein Data Bank (RCSB PDB)) Abb. 8: Lysozym/ Zucker-Atome, in: Alberts et al. 2005, S. 158. (© Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Abgedruckt mit Genehmigung) Abb. 9: CDR. (Quelle: Wikipedia) Abb. 10: NKT-Zelle und Lipid, in: Borg et al. 2007, S. 45. (Abgedruckt mit Genehmigung von Macmillan Publishers Ltd: Nature) Abb. 11: Das Wiegen des Herzens, in: Budge 1986, S. 23. (Abgedruckt mit Genehmigung von Taylor & Francis Group) Abb. 12: Das Wiegen des Herzens (Detail), in: Budge 1986, S. 23. (Abgedruckt mit Genehmigung von Taylor & Francis Group) Abb. 13: Die Cheops Pyramide, in: Goyon 1990, S. 174. Abb. 14: Eingang zu der Königskammer, in: Goyon 1990, S. 176. Abb. 15: Entlastungskammern, in: Goyon 1990, S. 165. Abb. 16: Der Verlauf der Belüftungsschächte bei der Königskammer, in: West 1987, S. 116. Abb. 17: Das Newgrange-Monument heute. (Wikipedia, CC by 2.5 PL) Abb. 18: Verzierter Stein, in: O ’ Kelly 1998, S. 19. (Abgedruckt mit Genehmigung von Eve O ’ Kelly) Abb. 19: Sicht des Newgrange-Monuments von oben, in: O ’ Kelly 1998, S. 15. (Abgedruckt mit Genehmigung von Eve O ’ Kelly) Abb. 20: Sicht des „ Grabgangs “ von der Seite und von oben, in: O ’ Kelly 1998, S. 22. (Abgedruckt mit Genehmigung von Eve O ’ Kelly) Abb. 21: Plan der Tarxien Tempelanlage. (Abgedruckt mit Genehmigung von Malta Heritage) Abb. 22: „ Schlafende Frau “ , Postkarte. (Abgedruckt mit Genehmigung von Malta Heritage) Abb. 23: Zentrale Kammer, Postkarte. (Abgedruckt mit Genehmigung von Malta Heritage) Abb. 24: „ Das Allerheiligste “ , Postkarte. (Abgedruckt mit Genehmigung von Malta Heritage) Abb. 25: Plan der Anlage, in: Pace 2004, S. 49 - 50. Abb. 26: Das Kraggewölbe, in: Pace 2004, S. 35. (Abgedruckt mit Genehmigung von Malta Heritage) Abb. 27: St.-Pauls-Katakomben in Rabat: ein Gang. (http: / / www.tripadvisor.com/ Attraction_Review-g190 326-d2 624 344-Reviews-St_Paul_s_Catacombs-Rab at_Island_of_Malta.html#photos (heruntergeladen am 15. 12. 2013), Autor: Mboesch) Abb. 28: St.-Pauls-Katakomben in Rabat: Detail. (https: / / www.google.ch/ search? q=St.-Pauls-Katakomben+in+Rabat&biw=1343&bih=885&tbm=isch&tbo= u&source=univ&sa=X&ei=txcVVbCeOM34atC2gYgH&ved=0CEYQsAQ) Abb. 29: St.-Pauls-Katakomben in Rabat: Versammlungsort. (s. Abb. 28) Abb. 30: GA194, S. 14. (Abgedruckt mit Genehmigung des Rudolf Steiner Verlages) Trotz intensiver Bemühungen war es leider nicht möglich, die Rechteinhaber aller Fotos ausfindig zu machen und zu kontaktieren. Diejenigen, deren Rechte ggf. berührt sind, werden gebeten, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen. 1586 Bildnachweis Marek B. Majorek Objektivität: ein Erkenntnisideal auf dem Prüfstand Rudolf Steiners Geisteswissenschaft als ein Ausweg aus der Sackgasse Basler Studien zur Philosophie 13 2002, 517 Seiten, € 69,00 ISBN 978-3-7720-2082-7 Das Buch ist der systematischen Untersuchung des Objektivitätsbegriffs gewidmet, eines der Leitbegriffe der neueren Erkenntnistheorie, der einerseits kontrovers, andererseits für unser theoretisches wie auch praktisches Weltverständnis unverzichtbar scheint. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet ein Überblick über die oft verworrenen Gebrauchsweisen des Begriffs. Kern des Buches ist eine neuartige Analyse des Objektivitätsbegriffes, welche ermöglicht, diesen von der Intersubjektivität, Wahrheit und Rationalität klar abzugrenzen, sowie die Kriterien der Objektivität unabhängig von der wissenschaftlichen Methode festzulegen, was sowohl die Rede von der Objektivität der alltäglichen Urteile wie auch des Expertenwissens verständlich macht. Die das Buch abschließende Schilderung von Rudolf Steiners Erkenntnismethoden ergibt, dass diese nicht nur den Anforderungen der objektiven Erkenntnis genügen, sondern dass es erst aufgrund des Steinerschen Weltbilds möglich wird, die Aporien der Objektivität aufzulösen. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: August 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! Rudolf Steiners Geisteswissenschaft wird oft als unwissenschaftlich und nebulös, als esoterischer Humbug abqualifiziert. Marek B. Majorek zeigt, dass dieser Beurteilung einerseits ein enges und eingeschränktes Bild des Wissenschaftlichen, andererseits ein mangelhaftes Verständnis der Kerneigenschaften von Steiners Geisteswissenschaft, insbesondere ihrer Forschungsmethoden zugrunde liegt. Darüber hinaus macht diese Studie deutlich, welche Bedeutung die geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Rudolf Steiners mit Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart haben. 00002