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Vorderasiatische Altertumskunde

2009
978-3-8233-7476-3
Gunter Narr Verlag 
Marlies Heinz

Eine systematische Einführung in die Vorderasiatische Altertumskunde gab es bisher nicht, doch macht die Neugestaltung der Studiengänge im Zuge der Einführung des B.A. allen Studienanfängern Überblicke über die bisherigen Teilbereiche des Faches zur Pflicht. Die vorliegende Einführung aus der Reihe bachelor-wissen ist explizit für die neuen Studiengänge konzipiert. Das inhaltliche Konzept folgt der modernen, kulturgeschichtlich orientierten Lehrpraxis: das Material wird interpretierend verwendet mit dem Ziel, aus den archäologischen Ergebnissen historische Ereignisse zu rekonstruieren. Zahlreiche Tafeln, Folien und Abbildungen, die übersichtliche Gestaltung und die klare Sprache machen das Buch für die Studierenden zu einer so unterhaltsamen wie informativen semesterbegleitenden Lektüre, Lehrende erhalten durch die Gliederung in 14 Einheiten einen Vorschlag für die Gestaltung ihrer Semesterveranstaltung.

Marlies Heinz Vorderasiatische Altertumskunde b a c h e l o r w i s s e n © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. b a c h e l o r w i s s e n Vorderasiatische Altertumskunde © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. b a c h e l o r w i s s e n bachelor-wissen ist die Reihe für die modularisierten Studiengänge die Bände sind auf die Bedürfnisse der Studierenden abgestimmt der grundlegende Stoffwird allgemein verständlich präsentiert die Inhalte sind anschlussfähig für die Module in den Master-Studiengängen auf www.bachelor-wissen.de finden Sie begleitende und weiterführende Informationen zum Studium und zu diesem Band © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Marlies Heinz Vorderasiatische Altertumskunde Eine Einführung Mit Beiträgen von Michael Leicht und Wolfgang Vollmer b a c h e l o r w i s s e n Gunter Narr Verlag Tübingen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Prof. Dr. Marlies Heinz ist Inhaberin des Lehrstuhls für Vorderasiatische Altertumskunde an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Michael Leicht ist freier Autor im Bereich Kulturwissenschaft. Wolfgang Vollmer ist Student der Vorderasiatischen Altertumskunde an der Albert-Ludwigs- Universität Freiburg. Idee und Konzept der Reihe: Johannes Kabatek, Lehrstuhl für Romanische Sprachwissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Umschlagabbildungen: Bronze-Kopf einer männlichen Figur aus dem Ištar-Tempel in Ninive: http: / / www.historyforkids.org/ learn/ arts/ sargon.jpg Löwe auf dem Ištar-Tor von Babylon: http: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Babylon_relief.jpg Tonkegel des Urukagina aus Girsu: http: / / babylonianmusings.blogspot.com/ conejpg.JPG Mann im Netzrock auf einer urukzeitlichen Siegelabrollung: http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ File: UrukPlate3000BCE.jpg Fragment der Geierstele des Eannatum von Lagaš: http: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Stele_of_Vultures_detail_02.jpg Kudurru (Grenzstein) aus der Regierungszeit des kassitischen Königs Marduk-nadin-ah˘h˘e: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Kudurru Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2009 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.bachelor-wissen.de E-Mail: info@narr.de Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt Druck und Bindung: fgb freiburger graphische betriebe Printed in Germany ISSN 1864-4082 ISBN 978-3-8233-6476-4 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Inhalt V Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI 1 Einführung in die Vorderasiatische Altertumskunde . . . . . . . . . 1 1.1 Vorderasiatische Archäologie/ Vorderasiatische Altertumskunde - was ist das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Geographische Lokalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.3 Chronologischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.4 Vergangenheit ausgraben und Geschichte rekonstruieren - aber wie? Erste Reflexionen, mit denen das Studium beginnt . . . . 5 1.5 „Wissensproduktion Alter Orient“: Was erinnert wird und warum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.6 Vorderasiatische Archäologie - die Archäologie der Anfänge . . . . 11 1.7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.8 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2 Wie alles anfing: Neolithisierung - Urbanisierung - Schrifterfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1 Eine irreversible Entwicklung: Der Neolithisierungsprozess im Fruchtbaren Halbmond . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.1.1 Raum und Territorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.1.2 Identitätsbildung über Raumnutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.2 Sprache, Gesten, Mimik, Handeln - Bilder, Bauten, Artefakte: alles ist und alles dient der Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2.1 Kommunikation ist … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2.2 Medial vermittelte Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.2.3 Bilderbotschaft! Bilder heute - Bilder damals (von Michael Leicht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.2.4 Dauerhaftes Siedeln und dauerhafte Fixierung kommunizierter Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.2.5 Architektur und gebauter Raum - wirkungsmächtige Medien öffentlich präsentierter und dauerhaft installierter Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.3 Die Neolithische „Revolution“ - Rückblick und Ausblick . . . . . . . 34 2.4 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3 Megacities - das Stadtleben fing in Uruk an (Teil 1) . . . . . . . . . . 39 3.1 Megacities heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.2 Megacities vor 5.000 Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. VI I N H A LT 3.3 Uruk in der Urukzeit - Lebens- und Herrschaftsweisen im Wandel: ein Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.3.1 Raumplanung, Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3.3.2 Das Machtzentrum Eanna von Uruk - Der Befund . . . . . . 45 3.3.3 Uruk - Raumordnungskonzepte als Medien der materialisierten Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.3.4 Wirkungsmacht räumlicher Ordnung und ihre Instrumentalisierung durch die Mächtigen . . . . . . . . . . . . . 48 3.3.5 Uruk, die Entwicklung der Schicht IV . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3.4 Tradition, Raumgestaltung und die Symbolik einer neuen Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4 Megacities - das Stadtleben fing in Uruk an (Teil 2) . . . . . . . . . . 55 4.1 Machtwechsel im Kontext urbaner Entwicklung und die Auswirkungen auf die Gestaltung des Raumes . . . . . . . . . . . . . 56 4.2 Bild und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4.3 Konkurrierende Mächte zur Urukzeit? - Texte und ihre Hinweise auf die herrschende Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 4.4 Raumordnungen und konkurrierende Mächte: Texte - Bilder - Raumstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 4.5 Fazit: Architektur und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 4.6 Noch einmal zurück zum Thema Kommunikation . . . . . . . . . . . . . 65 4.7 Schreiben will gelernt sein - und Lesen auch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4.8 Bilder im urbanen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.9 Gebauter Raum - urbaner Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4.10 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 5 Die erste Globalisierung ging vom Nahen Osten aus: Das „Uruk World-System“ (4. Jt. v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 5.1 Globalisierung, was ist das eigentlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5.2 Uruk und das Uruk World-System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5.3 Globalisierung ist mehr als nur globaler Gütertransfer: Auswirkungen auf die Organisation des Politischen zur Urukzeit 79 5.4 Habuba Kabira - Architektur und Raumordnung einer Schaltstelle des globalen Wirtschaftens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 5.4.1 Raumordnungen und soziale Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . 82 5.4.2 Globalisierung und die Macht der Wirtschaft . . . . . . . . . . . 84 5.5 Fazit: Urbanisierung - Globalisierung … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 5.5.1 … und viele offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 5.5.2 „Immer größer - immer weiter - immer mehr“ - Urbanisierung, Globalisierung, Umweltzerstörung . . . . . . 89 5.6 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Inhalt VII 6 Eine neue Etappe der Kommunikationstechnik: die dauerhafte Aufzeichnung sprachlicher Äußerungen seit der Frühdynastischen Zeit (Mitte 3. Jt. v. Chr.). . . . . . . . . . . . . . . 91 6.1 Gesprochene Sprache - in Texten erfasst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 6.2 Aus Texten erstmals abzulesen: Sicherung des gemeinsamen (Über-)Lebens in einem fruchtbaren, aber potentiell störanfälligen Naturraum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 6.3 Erstmals schriftlich kundgetan: Wie Mann korrekt zur Herrschaft kam … und Frau zur Macht gelangte . . . . . . . . . . . . . . . 95 6.4 Wasserknappheit - ein hochaktuelles Krisenphänomen mit einer mehr als 4.000-jährigen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 6.5 Krieg in Mesopotamien - die Geierstele berichtet . . . . . . . . . . . . . . 97 6.6 Krieg und Gewalt sind keine neuzeitlichen Phänomene politischen Handels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 6.7 Funktionen der Religion im Alten Orient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 6.7.1 Religion und die Legitimation direkter Gewalt . . . . . . . . . . 100 6.7.2 Religion und der Umgang mit den Widersprüchlichkeiten des Alltags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 6.8 Fazit: Was die Texte deutlich machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 6.9 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 7 Die erste Rebellion der Weltgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 7.1 Urukagina von Lagaš, der erste Rebell der Weltgeschichte . . . . . . . 108 7.2 Lokal sozialisiert, aber nicht aus den Kreisen stammend, die traditionell die Thronanwärter stellten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 7.2.1 Die Rebellion - Warum? Wie? Und warum zum gegebenen Zeitpunkt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 7.2.2 Die neue Ordnung - das Gute Leben für alle (? ) oder gute Propaganda? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 7.3 Rebellion als Voraussetzung für Reformen zur Wiederherstellung der Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 7.4 Rebellion, Repräsentation und die Konstruktion von Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 7.4.1 Rebellen sind gute Demagogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 7.4.2 Repräsentation und Realität - ein Balanceakt für die Selbstdarstellung der Rebellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 7.5 Die Repräsentation des Urukagina und die Wirkungsmacht der Traditionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 7.6 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 8 Das erste Weltreich der Geschichte und sein Protagonist Sargon von Akkad (ca. 2340-2280 v. Chr.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 8.1 Sargon - ein „No-Name“, der sich ins Königsamt putschte . . . . . . 121 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. VIII I N H A LT 8.2 Die neue Ordnung sollte niemandem verborgen bleiben - weder in Kiš … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 8.3 … noch in den umliegenden Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 8.3.1 Kontrolle über das geistig-religiöse Zentrum - die Akkader erobern den Süden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 8.3.2 Der mesopotamische Norden - die Kontrolle der Kornkammer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 8.3.3 Kontrolle des Westens: Zugang zu den wirtschaftlichen Pfründen der Mittelmeeranrainer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 8.3.4 Struktur- und Ordnungswandel der „Welt“ . . . . . . . . . . . . . 127 8.4 Sargon, der Neuerer, ein kühnes Image - und zugleich politisch nachvollziehbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 8.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 8.6 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 9 Nicht Gottes Sohn - Stadtgott wollte Naramsin von Akkad sein (2270-2220 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 9.1 Ein Mensch wird zum Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 9.2 Die Beziehungen der südmesopotamischen Stadtkönige zu den Göttern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 9.3 Der „dritte Weg“: Naramsins Zugang in die Welt der Götter . . . . . 135 9.4 Das akkadische Herrschaftssystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 9.4.1 Das Fremde und die Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 9.4.2 Die Akkader - Fremde im „eigenen“ Land? . . . . . . . . . . . . . 138 9.5 Der Weg zur Vergöttlichung des Naramsin - noch einmal im Detail betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 9.5.1 Das entscheidende Konfliktszenarium: Der Angriff der „Mächtigen der vier Weltgegenden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 9.6 Gründe und Konsequenzen der Vergöttlichung. . . . . . . . . . . . . . . . 143 9.6.1 Innenpolitische Auswirkungen der Vergöttlichung. . . . . . . 144 9.6.2 Außenpolitische Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 9.7 Religion und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 9.8 Ausblick: die Vergöttlichung im Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 9.9 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 10 Alles was Recht ist … wird schriftlich festgehalten . . . . . . . . . . . 151 10.1 Was heißt „Recht“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 10.2 Krieg der Städte, Un-Recht und Un-Ordnung: Die Geierstele berichtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 10.3 Machtmissbrauch, Rechtsverstöße, Rebellion - die Reformtexte des Urukagina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 10.4 Keine Geschichten mehr: mit dem Kodex Urnammu (2100-2000 v. Chr.) liegt erstmals eine Gesetzessammlung vor. . . 161 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Inhalt IX 10.5 Der wohl bekannteste Kodex der altorientalischen Geschichte: Der Kodex Hammurabi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 10.6 Kein wirkliches Fazit, vielmehr eine Aufstellung offener Fragen! . 167 10.7 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 11 Migranten erobern das Königtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 11.1 Migration heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 11.2 Migrationsforschung: ein ideales Feld für interdisziplinäre Forschungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 11.2.1 Rekonstruktionsmöglichkeiten von Migration mit den Quellen der Vorderasiatischen Altertumskunde . . . . . . . . . 172 11.2.2 Erkenntnisse der rezenten Migrationsforschung . . . . . . . . . 174 11.3 Die Kassiten: Migranten avancieren zur Herrscherelite . . . . . . . . . 176 11.3.1 Erste Nachrichten über die Kassiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 11.3.2 Die Identität(en) der Migrantenkönige . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 11.4 Migration seit 4.000 Jahren - Sozialforschung und Vorderasiatische Altertumskunde im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 11.5 Fazit: Zwei Sichtweisen auf ein und denselben Sachverhalt . . . . . . 182 11.6 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 12 Europa lernt Schreiben und Lesen: Das Wissen bringen die Phöniker (von Wolfgang Vollmer und Marlies Heinz) . . . . . . . . . . . 185 12.1 Die Entwicklung einer Alternative zur Silbenschrift in Ugarit (Mitte 2. Jt. v. Chr. ). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 12.1.1 Ugarit: Hafenstadt, Umschlagplatz und Treffpunkt der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 12.1.2 Das erste Alphabet der Welt: in bewährter Form in Ton geschrieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 12.1.3 Warum entstand das Alphabet gerade in Ugarit? . . . . . . . . 188 12.2 Die Phöniker und ihr Anteil an der Alphabetisierung Europas . . . 189 12.2.1 Das phönikische Wirtschaftssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 12.2.2 Von der lokalen Handelsmacht zum „Global Player“: phönikische Expansion nach Westen und der Aufbau einer „weltumspannenden“ Infrastruktur . . . . . . . . . . . . . . . 191 12.2.3 Wissensexpansion - der friedliche Weg zum globalen Miteinander. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 12.3 Fazit: Der Nahe Osten und Europa - eine glückliche Begegnung mit unübersehbaren Folgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 12.4 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 13 „Hyperkulturalität“ - die neue Bilderwelt der Perser . . . . . . . . . 199 13.1 Das Weltreich der Perser: Kultur, Politik und Kulturpolitik . . . . . . 201 13.1.1 Das Modell der Hyperkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. X I N H A LT 13.1.2 Entwicklung von Hyperkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 13.1.3 Auswirkungen der Hyperkulturalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 13.2 Der Aufstieg der Achämeniden zur Weltmacht . . . . . . . . . . . . . . . . 203 13.2.1 Kyros II. und Darius I.: führende Köpfe des Persischen Weltreiches und Protagonisten der Hyperkultur . . . . . . . . . 204 13.2.2 Die visuelle Repräsentation der Weltenherrscher in Bild und Architektur: der erste Nachweis der Hyperkultur . . . . 206 13.2.3 Hyperkulturalität in der Vergangenheit - die persische Weltherrschaft und das Politische der Kultur. . . . . . . . . . . . 211 13.3 Das Politische der Hyperkultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 13.4 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 14 Fazit: Viele Anfänge, viel Neues - und was Sie nach dem Studium dieser Einführung noch nicht wissen . . . . . . . . . . . . . . . 213 14.1 Epochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 14.2 Methoden und Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 14.3 Theoretische Archäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 14.4 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Anhang Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Vorwort XI Vorwort Dass das vorliegende Buch in einer Atmosphäre kreativer Begeisterung geschrieben werden konnte, ist auf mehrere AkteurInnen zurückzuführen. Zunächst sind zu nennen die Studierenden der Vorderasiatischen Altertumskunde in Freiburg/ Deutschland, Beirut/ Libanon, Isfahan/ Iran und Amman/ Jordanien sowie die ForscherInnengruppe in Vientiane/ Laos, deren humorvolle, engagierte und höchst kritische Aufmerksamkeit diese kreative Atmosphäre geschaffen haben. Konstruktive Unterstützung, kritisches Nachfragen und engagiertes Lesen und Korrigieren boten kontinuierlich die nachfolgend genannten Personen, deren Anteil am Werden des Buches gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: Jürgen Freudl, Lektor im Narr Francke Attempto Verlag, dessen spontane und positive Reaktion auf meine Anfrage aus der Idee zum Buch das Buchprojekt hat werden lassen. Susanne Fischer, Lektorin im Narr Francke Attempto Verlag, die mit großem Scharfsinn den Text gelesen hat, die unermüdlich und mit ganz außerordentlichem Engagement beteiligt war am Werden dieses Buches und von der die Autorin viel gelernt hat. Michael Leicht mit seinem Beitrag zum Thema „Bild“ (Kap. 2.2.3, Bilderbotschaft) und seiner gleichermaßen unerschöpflichen wie unerbittlichen Diskussionsfreude. Wolfgang Vollmer mit seinen Ausführungen zu den Phönikern (Einheit 12, Europa lernt Schreiben und Lesen) , zugleich seit vielen Jahren konstruktiver Berater und ruhender Pol in stürmischen Zeiten im Universitätsbetrieb. Marion Benz mit kreativen Ideen zum Neolithikum, von denen ein kleiner Ausschnitt nachzulesen ist in der Darstellung ihres Forschungsprojektes in Einheit 12 (Migranten erobern das Königtum). Regine Pruzsinszky, unverzichtbare Beraterin in allen Belangen der Altorientalischen Philologie. Sabine Hoffmann-Fratzke, die für die graphische Gestaltung des Buches verantwortlich zeichnet und diese mit großer Sorgfalt ausgeführt hat . Ihnen allen danke ich herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit, für ihre Geduld bei vielen Nachfragen, für ihre Hilfe in der Umsetzung der Ideen . Und last but not least: Keine und keiner der Genannten verantwortet etwaige Fehler im nachfolgenden Text, diese Verantwortung trägt die Autorin. Freiburg, im Juli 2009 Marlies Heinz © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 1 Einheit 1 Inhalt 1.1 Vorderasiatische Archäologie/ Vorderasiatische Altertumskunde - was ist das? 2 1.2 Geographische Lokalisierung 2 1.3 Chronologischer Rahmen 3 1.4 Vergangenheit ausgraben und Geschichte rekonstruieren - aber wie? Erste Reflexionen, mit denen das Studium beginnt 5 1.5 „Wissensproduktion Alter Orient“: Was erinnert wird und warum 8 1.6 Vorderasiatische Archäologie - die Archäologie der Anfänge 11 1.7 Fazit 16 1.8 Weiterführende Literatur 17 Einführung in die Vorderasiatische Altertumskunde © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 2 E I N F ÜH R U N G I N D I E V O R D E R A SI AT I S C H E A LT E R T UM SK U N D E 1.1 1.2 Die Einführung in das, was Vorderasiatische Archäologie ausmacht, müsste im Grunde korrekter als Versuch einer Einführung bezeichnet werden. Die nachfolgenden Überlegungen zum Fach weisen daher zunächst auf Möglichkeiten der Charakterisierung der Vorderasiatischen Archäologie hin. Sie zeigen, dass es eine Definition nicht gibt. Dennoch lassen sich Wege beschreiten, die über zunächst formale Gegebenheiten zum Fach führen und als solche einen mehr oder weniger unumstrittenen Konsens in der Umschreibung des Faches darstellen. Wir fragen also zunächst, in welchem geographischen Raum Sie, die Lesenden und zukünftigen Studierenden sich bewegen werden und welchen Zeitraum Ihre Studien umfassen, sollten Sie sich für das Studium des Faches Vorderasiatische Archäologie entscheiden. Als Archäologin und Archäologe werden Sie sich mit Ihrer Forschung und Ihren Ausgrabungen der Rekonstruktion von Geschichte widmen. D. h., Sie werden in der Gegenwart eine (nicht die) Vergangenheit rekonstruieren und somit auch Zukunft gestalten, insofern das historische Wissen zum integralen Bestandteil Ihres Denkens und damit auch Ihres Handelns wird. Das ständige Reflektieren des eigenen Tuns und das Sich-Bewusstmachen des eigenen Standorts, von dem ausgehend die Konstruktion einer die Gegenwart und Zukunft beeinflussenden Vergangenheit erfolgt, stellen das Rüstzeug für die archäologisch-wissenschaftlich Arbeitenden dar. Vorderasiatische Archäologie/ Vorderasiatische Altertumskunde - was ist das? Antworten auf diese Frage sollen sich die Lesenden mit Hilfe des vorliegenden Buches selbst erarbeiten. Eine Antwort wurde oben schon gegeben: Die Vorderasiatische Archäologie (und Altertumskunde) gibt es nicht. Warum das so ist, wird sich Ihnen Schritt für Schritt beim Durcharbeiten der vorliegenden Einführung in die archäologische Erforschung der Gesellschaften und Kulturen des sog. Vorderen Orients erschließen. Geographische Lokalisierung Wie in der Wissenschaft zu erwarten, liegen auch zur Definition von Raum und Zeit des Forschungsfeldes divergierende Ansichten vor. Im weitesten Sinn umfasst der geographische Raum, dessen Geschichte und dessen kulturelle, gesellschaftliche, religiöse, politische und ökonomische Entwicklungen die Vorderasiatische Archäologie erforscht, folgende Regionen: Irak, Syrien, Libanon, Jordanien, die Anrainer des Persischen Golfs, d. h. Iran, Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain, Oman, die Arabischen Emirate und Katar, Jemen, Afghanistan, Pakistan, die Türkei und Zypern. Weder Ägypten noch das Territorium des heutigen Staates Israel gehören zum Kernforschungs- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 1 3 C H R O N O L O G I S C H E R R A HM E N gebiet der Vorderasiatischen Archäologie. Für beide Regionen haben sich eigene archäologische Disziplinen entwickelt - die Ägyptologie auf der einen Seite, die Archäologie Israels auf der anderen Seite, letztere hervorgegangen aus der sog. Biblischen Archäologie. Eine Zusammenarbeit der Vorderasiatischen Archäologie mit beiden Disziplinen ist für das Verstehen und Erklären einer Vielzahl von Entwicklungen in der Geschichte des Nahen Ostens aber unerlässlich. Chronologischer Rahmen Der relativ- und absolut-chronologische Zeitraum, auf den sich die Forschung der Vorderasiatischen Archäologie bezieht, setzt ein mit dem Neolithisierungsprozess im Vorderen Orient, dort im Gebiet des sog. Fruchtbaren Halbmonds. Neolithikum, von griech. néos / neu, jung und líthos / Stein = Jungsteinzeit; ca. 9.-5. Jt. v. Chr. In dieser Zeit wurden die ersten Menschen sesshaft und gingen von der aneignenden Wirtschaftsweise erstmals über zur produzierenden Wirtschaftsweise. In Einzelfällen befassen sich Forschende und Lehrende auch mit den älteren Entwicklungen des Paläolithikums. Paläolithikum, von griech. palaiós / alt und líthos / Stein = Altsteinzeit; Beginn vor ca. 2 Mill. Jahren, endete mit dem Beginn der neolithischen Entwicklungen. Die Menschen lebten als Jäger und Sammler, erste Werkzeuge aus Stein, Knochen und Holz wurden hergestellt. Als „Ende der Geschichte“, d. h. das Ende des Zeitraums, den die Vorderasiatische Archäologie erforscht, galt lange Zeit das Ende des Perserreiches. Perserreich oder Reich der Achämeniden: 550 v. Chr.-330 v. Chr.; Perser: ursprünglich eine Bevölkerungsgruppe aus dem Gebiet der Persis, der heutigen iranischen Provinz Fars; Achämeniden: der Begriff leitet sich ab vom Namen Achaimenes, dem Gründer der Achämenidendynastie. Abb. 1 . 1 Der Forschungsraum der Vorderasiatischen Altertumskunde 1.3 Abb. 1 . 2 Der Fruchtbare Halbmond © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 4 E I N F ÜH R U N G I N D I E V O R D E R A SI AT I S C H E A LT E R T UM SK U N D E Abb. 1 . 3 Das Weltreich der Perser. Die erste politisch-militärische Expansion des ‚Ostens‘ in den europäischen Westen Abb. 1 . 4 Reichsausdehnung zur Zeit Alexanders. Die von den Persern perfektionierte Infrastruktur diente der ersten Expansion des europäischen Westens in den Nahen Osten Abb. 1 . 5 Das Römische Reich. Der Expansion der Griechen von Europa in den Nahen Osten folgte die Expansion der Römer © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 1 5 V E R G A N G E N H E I T A US G R A B E N U N D G E S C H I C H T E R E KO NS T R U I E R E N - A B E R W I E ? Die heutige Vorderasiatische Archäologie hat den zeitlichen Rahmen ihrer Forschung inzwischen ausgeweitet auf die Epochen der hellenistischen (3. Jh.-1. Jh. v. Chr.) und der römischen Okkupation (50 v. Chr.-50 n. Chr. des Vorderen Orients. Es war und ist die Vorderasiatische Archäologie, die im Rahmen ihrer Ausgrabungen die Daten erfasst und der Forschung zur Verfügung stellt, für die sich einst die sog. Alte Geschichte, die Klassische Archäologie und bedingt die Provinzialrömische Archäologie zuständig sahen. Vergangenheit ausgraben und Geschichte rekonstruieren - aber wie? Erste Reflexionen, mit denen das Studium beginnt Raum und Zeit, mit denen sich die Forschung der Vorderasiatischen Archäologie beschäftigt, sind in ihren Dimensionen gewaltig. Die Frage, wie man sich der Komplexität historischen Geschehens widmet, das sich über zehntausende von Jahren in einem Raum abgespielt hat, der, in europäischen Dimension gerechnet, die Entwicklung aller Länder, Kulturen und Gesellschaften zwischen Skandinavien und Italien von ihren Anfängen bis heute umfassen würde, wartet auf konstruktiv-kreative Antworten! Vorab einige allgemeine Überlegungen zum Verfahren der Geschichtsrekonstruktion: jede Archäologin und jeder Archäologe sollte sich bei der Aufnahme des Studiums darüber klar werden, dass das „Ausgraben“ von „Geschichte“ und damit Geschichtsrekonstruktion potentiell zugleich immer bedeutet, „Herrschaft“ über die Sicht auf Vergangenheit zu gewinnen und die Kontrolle darüber auszuüben, was erinnert werden soll, darf und muss und was nicht (! ). Mit ihrer Arbeit erlangen Archäologinnen und Archäologen somit Verfügungsmacht über die Gestaltung von Geschichtsbildern, die Propagierung von Weltbildern und die Hoheit über die Geschichtsdeutung. Archäologische Arbeit in ihrer allgemeinsten Form definiert, bedeutet so gesehen: Produktion von Information. Genauer gesagt: ArchäologInnen produzieren spezielle Informationen, die von ihrer besonderen Art her als Grundlage zur Konstruktion von Geschichte und Gegenwart, von Weltbildern und Identitätskonzepten dienen. In der Regel werden diese Informationen den materiellen Hinterlassenschaften vergangener Gesellschaften entnommen. In der Vor- 1.4 wer wählt aus? Abb. 1 . 6 Archaische Schrifttafel aus Mesopotamien (ca. 3000 v. Chr.) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 6 E I N F ÜH R U N G I N D I E V O R D E R A SI AT I S C H E A LT E R T UM SK U N D E derasiatischen Altertumskunde kommen als Informationsträger die schriftlichen Aufzeichnungen hinzu, die über einen Zeitraum von nahezu 3.000 Jahren (vom 4.-1. Jt. v. Chr.) über die Ereignisse, über Handlungen und über die Geistes- und Sozialgeschichte aus der Sicht der Schreibkundigen informieren. Mit der sog. Keilschrift wurde im 4. Jt. v. Chr. im Süden des heutigen Irak das erste Schriftsystem der Welt entwickelt. Archäologinnen und Archäologen nehmen also schon mit der Wahl des Studienfaches an dem Teil, was wir Ideologiebildung nennen. Wir sind beteiligt an historisch ausgerichteter Wissensproduktion, deren Ergebnisse benutzt werden können - und dies zu den verschiedensten Zwecken und Zielen. Diese Wissensproduktion ist weder „neutral“ noch „objektiv“. Mit der Studienwahl „Vorderasiatische Archäologie“ wird implizit zugleich der besondere Wert von historischer Information und historischem Wissen für die Gesellschaft anerkannt, in der wir jeweils sozialisiert wurden, d. h. wir führen eine Bedeutungszuweisung fort, die diesem Wissen in unseren Gesellschaften zugebilligt wird. Kulturspezifisch ist zudem die Art und Weise der Herstellung unserer Informationen, also die Methode der von uns vorgenommenen Wissensproduktion, die wir als „wissenschaftlich“ bezeichnen. Der uns vertraute und in den sog. westlichen Gesellschaften eingeübte Modus ist argumentativ und diskursiv, unsere Erkenntnisse sind dadurch jederzeit (idealiter) von jeder Frau und jedem Mann revidierbar. Was auch heißt, dass das von der archäologischen Forschung produzierte Informationsmaterial interpretierbar ist und potentiell einer Pluralität von Meinungen eine Plattform bietet. Unsere Arbeit ist also prinzipiell davon geprägt, dass wir an der Erarbeitung von Weltsichten beteiligt sind, dass wir den besonderen Wert von Information und Wissen akzeptieren und dass wir die Begründbarkeit und die Pluralität von Interpretationen voraussetzen. Mit diesen Grundlagen unserer Arbeit tragen wir nicht nur bei zur Vermehrung oder Veränderung wissenschaftlicher Erkenntnis, wir stellen uneingeschränkt Argumentationen für kulturelle Identitätsangebote und für politische Legitimationsprozesse zur Verfügung. Eine Kontrolle darüber, wer die historischen Belege wie und zu welchen Zwecken nutzt, hat die Archäologie dann nach Freilegung der Befunde und deren Publikation kaum mehr. Dieser Kontrollverlust entspricht der eigenen Forderung nach freiem Zugang zum historischen Wissen - enthebt die Archäologinnen und Archäologen aber nicht der Verantwortung, auch diesen Prozess mit kritischer Aufmerksamkeit zu begleiten. Bei der Beschreibung dessen, was die Grundlagen unserer Betätigung ausmacht und mit der Erläuterung der Funktion, die sie im gesellschaftlichen Gefüge wahrnimmt, sind wir uns zugleich klar darüber, dass die Art unsewer produziert? Pluralität von (Sicht-)Möglichkeiten © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 1 7 V E R G A N G E N H E I T A US G R A B E N U N D G E S C H I C H T E R E KO NS T R U I E R E N - A B E R W I E ? rer Wissensproduktion nicht die einzige und einzig wahre ist, sondern dass es in anderen kulturellen Zusammenhängen eine Vielfalt anderer Zugänge zur Rekonstruktion und zur rekonstruierenden Gestaltung von Geschichte, Identität und Wissen gibt. Wir haben die Pluralität der Wissensproduktion als positives Moment postuliert. Als Archäologinnen und Archäologen der Vorderasiatischen Archäologie sind wir zugleich mit der Situation konfrontiert, dass wir mit Gesellschaften oder politischen Systemen in Kontakt kommen, in denen etwa die Geschichtskonstruktionen und Ideologiebildungen ggf. stärker über religiöse und tradierte kulturelle Erzählungen vermittelt werden und in denen zugleich stärker homogen strukturierte Weltbilder vorherrschen. Wer sich also für das Studium der Vorderasiatischen Archäologie entscheidet, d. h., wer sich mit Geschichts(re)konstruktion und -produktion befassen will, sollte sich mit der Wahl des zukünftigen Betätigungsfeldes stets einige grundlegende Überlegungen vor Augen führen: Wessen Geschichte (re)konstruiert Archäologie, insbesondere die Archäologie des sog. „Vorderen Orients“? Und warum studiert wer Vorderasiatische Archäologie? (Warum haben Sie, die das gerade lesen, sich für dieses Fach entschieden? ) Wie - und für wen rekonstruiert die Vorderasiatische Archäologie die Vergangenheit und die Geschichte der sog. altorientalischen Gesellschaften? Anders gefragt, welche und wessen Interessen werden mit der Forschung der Vorderasiatischen Archäologie bedient? Welchen Nutzen hat die jeweilige (Re)Konstruktion der Geschichte(n) der altorientalischen Gesellschaften in der Gegenwart und für wen? Die Vergangenheit gibt es ebenso wenig wie die historische Wahrheit. Die Frage danach, wie es „wirklich“ war, erübrigt sich, eine Antwort kann darauf nicht gefunden werden. Vielmehr gilt es, sich stetig zu vergegenwärtigen, dass der Standpunkt, von dem aus die historisch Forschenden sich ihrem Gegenstand nähern, die eigene Lebenswelt, das historische, kulturelle, politische und wirtschaftliche Umfeld, aus dem heraus die Forschenden agieren, maßgeblich Einfluss darauf nimmt, was wir sehen, erkennen, verstehen und erklären können - auch und gerade in der Erforschung der vergangenen Lebenswelten altorientalischer Gesellschaften. Geschichts(re)konstruktion ist immer das Produkt einer Gegenwart, das heißt auch: jede Generation schreibt mit ihrer eigenen Sicht auf das Vergangene die Geschichte neu! Damit sagen die (Re)Konstruktionen von Geschichtsbildern zugleich viel über das Selbstverständnis der geschichtsschreibenden Gesellschaften (und ArchäologInnen) aus. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 8 E I N F ÜH R U N G I N D I E V O R D E R A SI AT I S C H E A LT E R T UM SK U N D E 1.5 Geschichte, Ereignis, Zeit Geschichte und Raum Geschichte und die Folgen technischer Entwicklung „Wissensproduktion Alter Orient“: Was erinnert wird und warum Literaturangaben finden Sie im Anschluss an die jeweiligen Kapitel. Um es zu wiederholen: die Vorderasiatische Archäologie gibt es nicht. Es sind die jeweiligen Erkenntnisinteressen der Forschenden, die die Präsentation des Historischen und so auch der historischen Ereignisse im sog. Alten Orient prägen. Viele Sichtweisen, Blickwinkel, Schwerpunkte und Themen sind geeignet, die zehntausend Jahre umfassenden regionalen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der altorientalischen Gesellschaften zu einem verständlichen Ganzen zusammenzufügen, als historisches Ganzes darzulegen und in Lehre und Forschung zu vermitteln. „Traditionell“ ist die Betrachtung des historischen Geschehens in primär chronologischer Weise, zahlreiche gute Einführungen in die Geschichte der kulturellen Entwicklungen des Vorderen Orients liegen vor und werden von den Studierenden der Vorderasiatischen Altertumskunde studienbegleitend und im Selbststudium gelesen. Eine modifizierte traditionelle chronologische Betrachtung könnte etwa selbstreflektierend beobachten, welche Kriterien für die Gliederung der langen Reihen der historischen Geschehnisse herangezogen werden. Sind es Unterbrechungen, Zäsuren, Differenzen und Divergenzen (von einem vermeintlich „normalen“ Zustand), die unser Sehen auf das Vergangene strukturieren und dann zugleich rückwirkend von der Forschung zur Strukturierung eben dieses Ganzen gewählt werden? Oder wird das Geschehen stärker unter dem Aspekt der Kontinuitäten gesehen, also z. B. die Frage nach der Existenz sog. anthropologischer Konstanten stärker in den Vordergrund der Analyse gestellt? Denkbar sind zahlreiche weitere Ansätze und Schwerpunkte, denen eine Einführung in die Welt der altorientalischen Gesellschaften folgen kann. Denkbar ist die Betrachtung der Entwicklungen nach geographischen Gesichtspunkten, also die Betrachtung von erst rezent definierten Teilregionen des Nahen Ostens in ihrem historischen Werden. Implizit böte sich hier an, eine Analyse der jeweiligen zeitgenössischen Raumdiskurse zu verfolgen, um auch das Verständnis von Raum und Grenze in den Eigenbegrifflichkeiten der vergangenen Gesellschaften zu erfassen. Technikgeschichte, die Geschichte der Erfindungen in den altorientalischen Gesellschaften ergäbe einen aufschlussreichen Überblick zum einen über die Wissenswelten der Vergangenheit, zugleich auch einen Einblick in das, was heute unter Technikfolgengeschichte zusammengefasst wird. Einsichten in und Überblicke auf die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Wandlungen also, die „Fort“schritt schon vor 10.000 Jahren unweigerlich nach sich gezogen hatte, aber auch die Einblicke in die Lösungswege und Lösungen, die die Gesellschaften für die unter Umständen erforderlichen gesellschaftlichen Anpassungen an den Wandel der Gegebenheiten gefunden haben. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 1 9 „W I S S E N SP R O D U K T I O N A LT E R O R I E N T “: W A S E R I N N E R T W I R D U N D W A R UM Geschichte und Umwelt Geschichte der Ideen Geschichte der sozialen Ordnungen und Organisationsformen Geschichte der Wirtschaftsweisen Geschichte, Religion und Politik Geschichte der Frauen in altorientalischen Gesellschaften Mit der Technikgeschichte eng verbunden ließe sich eine Geschichte der Umweltnutzungen über 10.000 Jahre schreiben, eine Geschichte der wechselseitigen Einwirkungen naturräumlicher Potentiale auf die Kultur- und Gesellschaftsentwicklungen bzw. die Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft und die Gestaltung des Naturraumes im Rahmen dieser Entwicklungen. Entsprechende Betrachtungen erfolgen unter Themenfeldern wie Leben am Fluss, Leben in der Steppe, Leben und Wirtschaften in den Bergregionen des Vorderen Orients, um nur einige zu nennen. Entsprechende Analysen verhelfen dazu, die jeweils spezifischen Anpassungsleistungen der Gesellschaften an die naturräumlichen Vorgänge und an die Gunstpotentiale des Naturraums zu verstehen und sowohl die Gestaltungspotentiale des Sozio-Kulturellen als auch die Wechselwirkungen von Natur und Kultur zu erklären. Damit eng verbunden wäre eine Ideengeschichte, d. h. die Geschichte der geistigen und ideellen Paradigmen, bzw. der ideologischen Systeme der Gesellschaften auch und gerade vor dem Hintergrund des wachsenden und komplexer werdenden technischen Wissens, so wie etwa die Genforschung, die Hirnforschung und die Forschungen im Bereich der Nanotechnik heutige Gesellschaften in ihren Werten und Vorstellungen beeinflussen. Im Laufe der Entwicklungen in den altorientalischen Gesellschaften hat sich dort eine beachtliche Vielzahl von Organisationsformen des sozialen Miteinanders herausgebildet. Die Organisationsvielfalt wäre als Leitfaden durch die Betrachtung der Geschichte ebenso aufschlussreich wie die Analyse und Dokumentation des weiten Spektrums politischer Ordnungen und Herrschaftsformen, die sich im Vorderen Orient seit dem Neolithikum ausdifferenziert haben. Aktuell und vor dem Hintergrund der neoliberalen Globalisierungsentwicklung aufschlussreich ergäbe die Analyse der Wirtschaftsformen in den altorientalischen Kulturen und von deren Wandel bzw. Kontinuitäten im Verlauf politischer Entwicklungen eine spannende Vergleichsebene zur rezenten Geschichte. Die Rekonstruktion von Geschichte unter dem Aspekt der Wirkungsmacht des Religiösen im Politischen und im Hinblick auf die Entwicklung politischer Systeme, von Herrschaftsformen, Machtstrukturen und Wertesystemen, Selbstsichten der Mächtigen und der Gemeinschaften wäre insbesondere vor dem Hintergrund der seit Jahren an Heftigkeit zunehmenden Debatte um die „Gefahren“ des Islam lohnenswert - und müsste u. a. klären, ob die Religionen selbst, wie es der aktuelle Diskurs umschreibt, wirkungsmächtig sind oder ob es nicht vielmehr um den politischen Umgang mit den Religionen geht. Heute wie vor 5.000 Jahren kommt und Beraterinnen und Beratern der Mächtigen eine maßgebliche Rolle in der Prägung der politischen Agenda zu. In diesem Zusammenhang verspricht eine Betrachtung des politischen Geschehens unter dem Aspekt der Genderstudies überraschende Ergebnisse. Die Rolle der Frauen und ihre Funktionen als mächtige Gestalten im Hintergrund © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 10 E I N F ÜH R U N G I N D I E V O R D E R A SI AT I S C H E A LT E R T UM SK U N D E Weltbilder und Selbstsichten der Herrschenden Geschichte derer, die nicht zu den Herrschenden gehörten Geschichte der Stadt- und Großreichsentwicklungen der politischen Ereignisse dürfte, aufgezeigt am Beispiel der altorientalischen Gesellschaften, auch für die heutige Genderforschung aufschlussreiche Einblicke in Formen der Machtausübung und der indirekten Herrschaft bereithalten. Als „graue Eminenzen“ im Hintergrund war es den Frauen möglich, außerordentlich mächtig und nahezu unkontrollierbar politisch aktiv und gestaltend zu wirken. In dem Zusammenhang böte sich zugleich eine Geschichtsschreibung nach Genderkriterien an, welche die Geschichte der Frauen und ihrer gestaltenden Kraft im Verlauf von 10.000 Jahren Menschheitsgeschichte untersucht. Weltbilder und Selbstbilder der Herrschenden stellen eine weitere aufschlussreiche Thematik dar, unter der die Geschichte der altorientalischen Gesellschaften zu rekonstruieren wäre und die die Vielzahl der Einflussfaktoren wie Ideologie, Religion, Tradition oder Wirtschaftsentwicklung zusammenführen könnte. Die Frage, wie die Herrschenden von zukünftigen Generationen erinnert werden wollten, was an Geschichte sichtbar und was nicht erinnert werden sollte, dürfte hier einen Roten Faden durch die Betrachtungen bilden. Die Auseinandersetzung mit den Gründungsmythen des Miteinanders, der Entstehung der Welt und der jeweiligen Gesellschafts- und damit auch Herrschaftsformen, also die Analyse der legitimierenden Verankerungen des Daseins in den religiös-mythischen Überlieferungen, böte vielfache Einblicke in die geistigen Welten der Zeit und in die politischen Notwendigkeiten der Herrschaftssicherung. Weiter wäre eine „Geschichte von unten“ zu schreiben, d. h. nicht die Rekonstruktion der Geschichte aus der Sicht der Herrschenden, wie sie vor allem die schriftlichen Quellen nahelegen, sondern die Geschichte derer, die Herrschaft durch ihre Existenz, ihre ökonomischen und kulturellen Leistungen erst möglich gemacht haben: die Geschichte der Bevölkerungen. Der Vordere Orient, der heutige Nahe Osten, ist sowohl die Wiege der urbanen Entwicklung als auch die Region, in der sich die ersten politischen Großreiche entwickelt haben. Urbanisierung und Großreichsentwicklungen stellen weitere komplexe Themenfelder dar. Vor 5.000 Jahren setzte in Mesopotamien die Entwicklung ein, die heute unter dem Schlagwort megacities das soziale Miteinander in den Gesellschaften global prägt. Das Verhältnis von Landzu Stadtbevölkerung veränderte sich radikal, mit allen Chancen und Problemen, die rasanter Wandel hin zu komplexeren Formen des gesellschaftlichen Miteinanders bietet bzw. aufwirft (aktuell ist dieser Prozess im heutigen China zu verfolgen, dessen Bevölkerung de facto eine zweite urbane Revolution durchlebt). Alle angeführten Forschungs- und Betrachtungsansätze sind vielversprechend und müssen zum großen Teil erst noch erarbeitet werden, stehen also den zukünftigen Studierenden und damit auch den Leserinnen und Lesern dieses Buches als Forschungsfelder offen. Für die vorliegende Einführung wurde ein weiterer Schwerpunkt gewählt, um die Studierenden und am Fach Interessierten mit den Anliegen der Vor- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 1 11 V O R D E R A SI AT I S C H E A R C H ÄO L O G I E - D I E A R C H ÄO L O G I E D E R A N FÄ N G E 1.6 das Neue wird irreversibel derasiatischen Archäologie (und Altorientalischen Philologie) vertraut zu machen. Nicht die Präsentation gesicherten Wissens ist hier das primäre Ziel, sondern die Vernetzung des momentanen Wissensstandes im Fach mit aktuellen Forschungsfragen und Problemen, die es zu lösen gilt. Die nachfolgenden Ausführungen sollen daher grundlegende Aspekte des Faches aufgreifen, die sich mit dem Zusammenleben menschlicher Gemeinschaften allgemein befassen und deren Themen aus dem Zusammenleben unterschiedlicher menschlicher Gruppen resultieren. Zugleich wird aufgezeigt, wie problem- und fragenorientierte archäologische Wissenschaft arbeitet und welche Wege der Lösungsfindung der Vorderasiatischen Archäologie und der Altorientalischen Philologie zur Verfügung stehen. Kurzum, es geht darum, kritisches Denken zu fördern, die Reflexion einzufordern und aufzuzeigen, dass die eigenständige Auseinandersetzung mit dem Geschehen in den Gesellschaften des sog. Alten Orients die wirkliche „Sensation“ des wissenschaftlichen Arbeitens, d. h. des Studierens, darstellt. Der Rote Faden durch die nachfolgenden Betrachtungen ist die Beschäftigung mit dem Neuen . Vorderasiatische Archäologie - die Archäologie der Anfänge Die Vorderasiatische Archäologie befasst sich in vielen Bereichen ihres Wirkungsfeldes mit den „Anfängen“, d. h. mit den Anfängen der kulturellen, wirtschaftlichen, politischen, religiösen und technischen Entwicklungen der eingangs genannten Regionen Vorderasiens und den daraus resultierenden Auswirkungen auf weite Teile der sog. Alten Welt. Erkenntnisinteresse und Forschung im Fach setzen ein mit der Analyse der Prozesse, die unter dem Schlagwort der Neolithischen Revolution bekannt sind (Einheit 2: Wie alles anfing). Der Begriff „Neolithische Revolution“ wurde in den 1930er Jahren von dem australischen Archäologen G ORDON C HILDE geprägt, um die Entwicklung von der mobilen zur sesshaften Lebensweise und den Wandel von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaftsweise zu benennen. Dahinter steht der in der Menschheitsgeschichte nicht mehr revidierbare Wandel von der mobilen zur sesshaften Lebensweise und von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaftsweise. Dieser Wandel erst hat den Weg geöffnet zu weiterführenden Nachfolgeentwicklungen, die unter dem Begriff der Secondary Products Revolution in die Literatur eingegangen sind, ein Begriff, der den Aufbau der intensivierten wirtschaftlichen Nutzung von Tierprodukten wie Wolle, Milch, Horn, Knochen usw. umschreibt. Begonnen haben diese Pro- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 12 E I N F ÜH R U N G I N D I E V O R D E R A SI AT I S C H E A LT E R T UM SK U N D E zesse um 10000 v. Chr. im Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds (siehe Abb. 1.2), dem Gebiet also, in dem die notwendigen naturräumlichen Gunstfaktoren vorhanden waren und in dem die dort lebenden Gruppierungen das Potential dieser Gunstfaktoren für die Sicherung ihres (Über-)Lebens erkannt hatten. Wandel in den Formen des Zusammenlebens und in den Veränderungen der wirtschaftlichen Ordnung erforderten ebenso Wandel und Anpassungsleistungen der Menschen in der Organisation des Miteinanders. Das Neue und seine Erfordernisse schlugen sich u. a. in der Ausweitung und Weiterentwicklung von Kommunikationsmedien nieder, so z. B. in der Intensivierung von Bildlichkeit, wie sie etwa im frühneolithischen Göbekli Tepe (heutige Türkei) im Kontext der Errichtung von Gemeinschaftsbauten auftrat. Dort dokumentierte der Einsatz von gebauter und bebilderter Umwelt die Notwendigkeit, über Medien der nonverbalen Kommunikation, über Bilder und die unübersehbare bauliche Gestaltung des öffentlichen Raumes den neuen Formen des gesellschaftlichen Miteinanders Stabilität zu verleihen. Das Phänomen der Urbanisierung (Einheit 3: Megacities) lässt sich zum ersten Mal im Nahen Osten nachweisen. In Uruk im Südirak (d. h. im Süden Mesopotamiens), der weltweit ersten Großstadt mit bis zu 50.000 Einwohnern, etablierte sich im 4. Jt. v. Chr. eine städtische Großsiedlung, die alle bis dato bekannten Dimensionen des gesellschaftlichen Miteinanders sprengte und entsprechend komplexe Maßnahmen in allen Bereichen der Organisation des Sozialwesens und seiner Subsistenzsicherung nach sich zog - vom technisch-handwerklichen Bereich über die soziale Ordnung bis hin zum religiös-ideologischen Gebiet. Der Süden des benachbarten Iran, naturräumlich mit dem Südirak identisch, dürfte in diesem Prozess ebenfalls eine maßgebliche Rolle eingenommen haben. Nach langer, politisch bedingter „Abwesenheit“ des Iran aus dem globalen Forschungsdiskurs entwickelt sich die Archäologie des Iran zur Zeit (2008) zu einem neuen Forschungsschwerpunkt der Vorderasiatischen Archäologie, der u. a. neue Einblicke in den Prozess der Stadtentwicklung verspricht. Im urbanen Umfeld Uruks trat ebenso das erste Schriftsystem der Menschheit, die Keilschrift der Sumerer auf, sicher nicht zufällig in diesem Kontext (Einheit 4: Megacities, Teil 2). Vielmehr dürfte die Entwicklung der Keilschrift Bildmedien verändern die Kommunikation Abb. 1 . 7 Die Lage von Göbekli Tepe Etablierung der Stadt als Lebensform Abb. 1 . 8 Uruk in Südmesopotamien Lesen und Schreiben beherrschten nur wenige © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 1 13 V O R D E R A SI AT I S C H E A R C H ÄO L O G I E - D I E A R C H ÄO L O G I E D E R A N FÄ N G E eine der Antworten auf die enorme Komplexität der Organisation des täglichen Lebens in der urbanen Umwelt gewesen sein. Zusammen mit der Altorientalischen Philologie erforscht die Vorderasiatische Archäologie die weit reichenden Veränderungen, die sich im Kulturellen, Politischen und Sozialen vollzogen, nachdem die Tradierung des kulturellen Erbes nicht mehr allein mündlich, sondern Schritt für Schritt auch über schriftlich fixierte Versionen erfolgte. Globalisierung als ein Phänomen weitreichender Beeinflussung verschiedener Kulturen über große Entfernungen hinweg stellt eine weitere Begleiterscheinung der Urbanisierung dar, die sich somit ebenfalls erstmals im 4. Jt. v. Chr. im Vorderen Orient nachweisen lässt, in einer Zeit also, in der die Stadt Uruk ihren Rohstoffbedarf (ähnlich wie China heute) nur mehr über überregionale Wirtschaftsbeziehungen decken konnte (Einheit 5: Die erste Globalisierung). Das erste globale Handelsnetz erstreckte sich vom Süden Mesopotamiens und des Iran bis nach Nordiran und in den Nordirak, entlang des Euphrat bis nach Syrien und in die Türkei und nach Südwesten bis nach Ägypten (siehe Abb. 1.8). Die Schattenseiten von Urbanisierung und Globalisierung sind schon in diesen frühen historischen Kontexten zu erkennen. Erste gravierende Umweltschäden zeigten sich (Kap. 5.5.2: Eine letzte Anmerkung …). Im Süden Mesopotamiens versalzten die überbeanspruchten Felder in großem Ausmaß, die Subsistenzsicherung der urbanen wie der ländlichen Bevölkerung war gefährdet. Im frühen 3. Jt. v. Chr. wurde es erstmals in der Geschichte der Schriftentwicklung durch die Entwicklung grammatikalisch voll ausgebildeter Texte möglich, alle die Belange schriftlich zu erfassen und der Erinnerung zu überstellen, die von den Schriftkundigen für „aufzeichnungswürdig“ befunden wurden (Einheit 6: Eine neue Etappe in der Kommunikationstechnik). Erstmals ist den Texten zu entnehmen, wie die Gesellschaft auf die veränderten wirtschaftlichen Gegebenheiten im frühen 3. Jt. v. Chr. reagierte. Neue politische Organisationsformen entstanden. Erstmals bildeten sich politisch unabhängige Stadtstaaten aus und das erste erbliche Königtum, also die Entwicklung von Dynastien, wird als politischer Ordnungsfaktor im Umfeld der urbanen Revolution mesopotamischen Zuschnitts erkennbar. Parallel zu dieser im Weltlichen angesiedelten Entwicklung einer neuen politischen und sozialen Ordnung ist das Aufkommen der ersten Götterpanthea in den Stadtstaaten und die Benennung der Götter als Eigner der Welt einschließlich der Menschen zu verzeichnen. In der Folge wird dann erstmals die Globalisierung und Umweltverschmutzung Abb. 1 . 9 Tontafel aus Uruk erste (Re-)Konstruktion von Geschichte © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 14 E I N F ÜH R U N G I N D I E V O R D E R A SI AT I S C H E A LT E R T UM SK U N D E Allianz überdeutlich, die Politik und Religion eingingen, um das Geschehen in Friedenszeiten, aber auch und gerade in kriegerischen Zeiten zu regeln. Das Dynastiensystem konnte erwartungsgemäß nicht die Zustimmung aller jungen Männer im Lande erzielen. Es schloss ganze Gruppen von Anwärtern auf den Thron aus, die politisch fähig, machtpolitisch engagiert und interessiert, aber von ihrer Herkunft her nicht legitimiert waren, die Königswürde einzunehmen. Rebellion gegen diese System war eine Frage der Zeit. Mit Urukagina von Lagasch ist erstmals in der Weltgeschichte eine Rebellion gegen die herrschende Ordnung schriftlich erfasst und der Nachwelt zur Kenntnis übermittelt worden. (Einheit 7: Die erste Rebellion der Weltgeschichte). Konkurrenz der Regierenden und Expansionsgelüste führten im Laufe der zweiten Hälfte des 3. Jt. v. Chr. zur Entstehung des ersten zentral regierten und kontrollierten Großreichs der Geschichte - und dies erneut im Kerngebiet des Forschungsraumes der Vorderasiatischen Archäologie, in Mesopotamien (Einheit 8: Das erste Weltreich der Geschichte). Das politische Zentrum dieses Reiches, die Stadt Akkad, von deren Existenz wir aus Schriftquellen wissen, wurde bis heute nicht gefunden und lag wahrscheinlich im Stadtraum des heutigen Bagdad. Die Ausdehnung des „Großreichs der Akkader“ reichte vom „Oberen bis zum Unteren Meer“, gemeint sind das Mittelmeer und der Persische Golf. Gründer war Sargon von Akkad (ca. 2350-2300 v. Chr.), selbst zur Herrschaft gelangt durch eine Rebellion, mit der er das bis dato gültige politische System der Stadtstaaten zum Erliegen gebracht hatte. Die politische Ordnung wurde in großem Stil und mit weitreichenden Konsequenzen revolutionär geändert, nicht minder revolutionär war der Wandel im Bereich der politisch instrumentalisierten religiösen Welt. Naramsin, der Enkel des akkadischen Rebellen und Großreichsgründers Sargon beging den - auch für diese Zeit und ihre Normen und Werte ungehörigen - Schritt, sich als erster König der Weltgeschichte zu Lebzeiten zu vergöttlichen (Einheit 9: Nicht Gottes Sohn - Stadtgott wollte Naramsin von Akkad sein). Ob sich darin Stärke manifestierte oder eine „verzweifelte“ Maßnahme zur Rettung der eigenen Herrschaft, bleibt offen. Im Vorderen Orient ließen die Machthaber bereits im 3. Jt. v. Chr. die ersten großen Gesetzestexte schriftlich fixieren, d. h., erstmals in der Geschichte der Menschheit wurden in Mesopotamien, dem heutigen Irak, die Regeln des Zusammenlebens der Tradition und Rebellion Rebellion der Akkader Abb. 1 . 10 Das Akkadreich © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 1 15 V O R D E R A SI AT I S C H E A R C H ÄO L O G I E - D I E A R C H ÄO L O G I E D E R A N FÄ N G E menschlichen Gemeinschaft niedergeschrieben und damit dauerhaft der Erinnerung durch die Nachkommen zur Verfügung gestellt (Einheit 10: Alles was Recht ist …). Nicht die älteste, aber wohl die bekannteste dieser Gesetzessammlungen liegt mit dem Kodex Hammurabi vor, so genannt nach dem „Auftraggeber“ König Hammurabi von Babylon (ca. 1790-1750 v. Chr.). Das Vorkommen des uns heute allen bekannten Phänomens der Migration und der Entwicklung multikultureller Gesellschaften wies die Vorderasiatische Archäologie mit der gesellschaftlichen Entwicklung schon im Neolithikum erstmals im Vorderen Orient nach. Anhand keilschriftlich verfasster Texte konnte die Forschung die Auswirkungen und Formen entsprechender Entwicklungen erstmals für das 3. und 2. Jt. v. Chr. im Detail fassen und damit zugleich aufzeigen, dass Migration wohl zu den Konstanten menschlicher Geschichte zu zählen ist. Vielleicht am besten bekannt ist die Migration der Kassiten, die etwa in der Mitte des 2. Jt. v. Chr. aus dem Raum des heutigen Iran in das Gebiet des heutigen Irak einwanderten und binnen kürzester Zeit einen rasanten sozialen Aufstieg vollzogen - von Landarbeitern zur herrschenden Schicht (Einheit 11: Migranten erobern das Königtum). Im 1. Jt. v. Chr. etablierte sich mit den Phönikern eine Handelsmacht, die im Gebiet des heutigen Libanon ansässig war und als erste wirtschaftlich potente und kulturell prägende Kraft im Raum des Vorderen Orients maßgeblich in die Geschicke des westlichen Mittelmeerraumes eingriff (Einheit 12: Europa lernt Schreiben und Lesen). An den Küsten aller Mittelmeeranrainer waren die Phöniker mit ihren Waren, aber auch mit ihrem Wissen um Handel und Seefahrt präsent, gründeten Niederlassungen, prägten dort das wirtschaftliche Geschehen maßgeblich und brachten erstmals das kulturelle Erbe des Vorderen Orients in den Raum, den wir heute Europa nennen. Die Kontakte des Nahen Ostens mit Europa waren somit im 1. Jt. v. Chr. wirtschaftlich und kulturell etabliert. Die Perser oder Achämeniden nutzten das kulturelle, politische und wirtschaftliche Wissen der Zeit und schufen erstmals in der Geschichte ein Weltreich, das zur politischen Dominanz des (Nahen) Ostens über den (heute) europäischen Westen bis in den Raum Griechenlands geführt hat (Einheit 13: „Hyperkulturalität“ - die neue Bilderwelt der Perser; siehe Abb. 1.2). Anders als die Phöniker trachteten die Perser also nicht allein nach der Ausweitung ihrer wirtschaftlichen Einflusssphäre, sondern forderten zugleich auch die politische Kontrolle über den gesamten Raum. Was sie nicht forderten, war die kulturelle Dominanz und über diese die Prägung der Bilderwelten und der gebauten Ordnung in den von ihnen besetzten Gebieten. Im Gegenteil, die Zusammenführung der kulturellen Eleist Recht Gerechtigkeit? multikulturelles Miteinander Levante und Naher Osten Abb. 1 . 11 Die phönikische Expansion wie man die Kultur „der Anderen“ zur Repräsentation des „Eigenen“ benutzt © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 16 E I N F ÜH R U N G I N D I E V O R D E R A SI AT I S C H E A LT E R T UM SK U N D E mente der persisch „besetzten“ Welt in den Bildern und Gebäuden „zu Hause in Persepolis“ führt erstmals in der Geschichte der nahöstlichen Gesellschaften zum Phänomen der sog. Hyperkulturalität. Fazit Dass wir als Roten Faden durch unsere Einführung in die Vorderasiatische Altertumskunde die Betrachtung des und Auseinandersetzung mit dem Neuen gewählt haben, hat viele Gründe. Zunächst zeichnet sich der Forschungsraum der Vorderasiatischen Altertumskunde gerade dadurch aus (und setzt sie darin von allen anderen archäologischen Fächern ab), dass hier im welthistorischen Geschehen vielfach zum ersten Mal die Entwicklungen sichtbar werden, die das Zusammenleben der Menschheit in der Alten Welt maßgeblich und irreversibel geprägt haben und die u. a. Europa bis in die Gegenwart bereichern. Mit dem Verfolgen der Neuerungen nähern wir uns zugleich mehr oder weniger chronologisch dem Geschehen im Alten Orient. So stellen wir dem eher unkonventionellen Zugang zur Geschichte einen vertrauten Ansatz zur Seite und erleichtern den Studierenden und allen weiteren Interessierten die Auseinandersetzung mit dem Neuen! Die Betrachtung des Kulturellen, Politischen, Wirtschaftlichen, Religiösen und Gesellschaftlichen unter dem Aspekt der Neuerung sollte zugleich, so unsere Hoffnung, ein vielfältiges Spektrum von Fragen aufwerfen. Warum entsteht Neues und wie? Was ist das Neue, wie erkennt man es? Ist das Neue, wenn es im materialisierten Befund auftritt, nicht bereits das Ende - und nicht der Anfang eines Entwicklungsprozesses? Wer initiiert, fördert oder behindert die Entwicklung des Neuen - und mit welchen Mitteln jeweils? Welche Prozesse, Ereignisse, Handlungsabläufe, Intentionen, Kontingenzen wirken sich wie aus im gesellschaftlichen Miteinander? Wem dient das Neue, und wer wird in seiner Entfaltung durch das Neue eingeschränkt oder behindert? Wie wirkt sich das Neue für wen aus, wer profitiert und zu wessen Lasten geht die Entwicklung des Neuen? Unter den Fragen nach den Anfängen scheinen diese die spannenden und zukunftsweisenden zu sein. Zugleich wird deutlich: Die einzige Kontinuität in der Geschichte ist der Wandel! Mit dieser Thematik setzt sich die Vorderasiatische Altertumskunde kontinuierlich auseinander, über sie verknüpft sie die archäologische und philologische mit der anthropologischen Wissenschaft. Die Thematik verdeutlicht zugleich, dass archäologische und philologische Forschung und ihre Anliegen stets Teil des aktuellen gesellschaftlichen Geschehens sind, d. h., dass sich die archäologische und die philologische Forschung in Vorderasien mit Phänomenen befasst, die sich möglicherweise als „anthropologische Konstanten“ im menschlichen Miteinander erweisen und deren Klärung für die Analyse des gesellschaftlichen Miteinanders in der Vergangenheit wie in der Gegenwart gleichermaßen von Bedeutung sind. 1.7 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 1 17 W E I T E R F ÜH R E N D E L I T E R AT U R 1.8 Ein weiteres Ziel, das die Lehre der Vorderasiatischen Altertumskunde verfolgt, liegt darin, den Studierenden Wege zum kritisch reflektierenden Denken und Handeln aufzuzeigen und zu verdeutlichen, dass jede Generation die Betrachtung und (Re-)Konstruktion von Vergangenheit und Gegenwart sowie daraus resultierend die Planung von Zukunft immer wieder neu vornehmen wird. Und last but not least: es geht darum, erkennbar zu machen, wie - wer - warum Vergangenheit rekonstruiert und interpretiert - und welche Verantwortung darin liegt, auszuwählen, wer sich an was wie erinnern kann, soll und darf. Und ganz zum Schluss in aller Kürze wird Ihnen dann noch mitgeteilt - der grenzenlose Reichtum wissenswerter Sachverhalte, die hier bisher noch nicht zur Sprache kamen … (Einheit 14: Viele Anfänge - viel Neues … und was Sie nach dem Studium dieser Einführung alles noch nicht wissen …). Weiterführende Literatur Stets aktuell: Recherchieren Sie Internet-Seiten zum Thema Vorderasiatische Altertumskunde unter den Stichworten: Near Eastern Archaeology; Archäologie Naher Osten; Vorderasiatische Archäologie; Vorderasiatische Altertumskunde; Zum Einstieg ist zu empfehlen: www.archatlas.dept.shef.ac.uk Zur Geographie des Nahen Ostens Nützel, Werner. 2004. Einführung in die Geo-Archäologie des Vorderen Orients. Wiesbaden. Reichert Zur Chronologie (und vielem mehr) Sasson, Jack M. (Hg.). 1995. Civilizations of the ancient Near East. 4 Bände, New York, NY. Scribner Zur Ereignisgeschichte Kuhrt, Amélie. 2002. The Ancient Near East. 2 Bände, London. Routledge (reprint) Van De Mieroop, Marc. 2007. A history of the ancient Near East: ca. 3000-323 BC. Malden, Mass. Blackwell Bildbände/ Übersichten und kunsthistorische Reflexionen Cheng, Jack (Hg.). 2007. Ancient Near Eastern art in context: studies in honor of Irene J. Winter. Leiden. Brill. Reihe: Culture and history of the ancient Near East, Band 26 Feldman, Marian H. 2006. Diplomacy by design: luxury arts and an „international style“ in the ancient Near East, 1400-1200 BCE. Chicago. University of Chicago Press Hrouda, Barthel. 2005. Mesopotamien: die antiken Kulturen zwischen Euphrat und Tigris. 4. Aufl. München. Beck. Reihe: Beck’sche Reihe, Band 2030 Orthmann, Winfried (Hg.). 1975. Der Alte Orient. Berlin. Propyläen-Verlag. Reihe: Propyläen- Kunstgeschichte, Band 14 (immer noch Standard) Roaf, Michael. 2003. Cultural atlas of Mesopotamia and the ancient Near East. New York, NY. Facts On File (reprint) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 18 E I N F ÜH R U N G I N D I E V O R D E R A SI AT I S C H E A LT E R T UM SK U N D E Reflexionen über das Studienfach Baecker, Dirk et al. 2008. Über Kultur. Theorie und Praxis der Kulturreflexion. Transcript. Bielefeld Eriksen, Thomas Hylland. 2001. Small places, large issues: an introduction to social and cultural anthropology. Pluto. London Langewiesche, Dieter. 2008. Zeitwende. Geschichtsdenken heute. Vandenhoeck und Ruprecht. Göttingen McGuire, Randall. 2008. Archaeology as Political Action. University of California Press. Berkeley McGuire, Randall/ Navarrete, Rodrigo. 2005. Between Motorcycles and Rifles: Anglo-American and Latin American Radical Archaeologies; in: Global Archaeological Theory. Contextual Voices and Contemporary Thoughts. Hg. Pedro Paulo Funari et al. Kluwer Acad. New York, S. 309-336 Die Archäologie der Anfänge Angehrn, Emil. 2007. Die Frage nach dem Ursprung: Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik. München. Fink Angehrn, Emil (Hg.). 2007. Anfang und Ursprung: die Frage nach dem Ersten in Philosophie und Kulturwissenschaft. Berlin. de Gruyter. Reihe: Colloquium Rauricum, Band 10 Bohrer, Karl Heinz/ Scheel, Kurt (Hg.). 2008. Neugier. Sonderheft Merkur. Berlin Haarmann, Harald. 2007. Foundations of culture: knowledge-construction, belief systems and worldview in their dynamic interplay. Frankfurt a. M.; Berlin; Bern; Wien. Lang Mülder-Bach, Inka/ Schumacher, Eckhard (Hg.). 2008. Am Anfang war … Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne. Paderborn. Fink Raaflaub, Kurt A. (Hg.). 1993. Anfänge politischen Denkens in der Antike: die nahöstlichen Kulturen und die Griechen. München. Oldenbourg. Reihe: Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Band 24 Thomas, Julian. 2006. Archaeology and Modernity. London. Routledge (repr.) Trigger, Bruce G. 1995. A history of archaeological thought. Cambridge. Cambridge University Press © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 19 Wie alles anfing: Neolithisierung - Urbanisierung - Schrifterfindung Inhalt 2.1 Eine irreversible Entwicklung: Der Neolithisierungsprozess im Fruchtbaren Halbmond 20 2.1.1 Raum und Territorium 21 2.1.2 Identitätsbildung über Raumnutzung 22 2.2 Sprache, Gesten, Mimik, Handeln - Bilder, Bauten, Artefakte: alles ist und alles dient der Kommunikation 25 2.2.1 Kommunikation ist … 25 2.2.2 Medial vermittelte Kommunikation 26 2.2.3 Bilderbotschaft! Bilder heute - Bilder damals (von Michael Leicht) 27 2.2.4 Dauerhaftes Siedeln und dauerhafte Fixierung kommunizierter Themen 30 2.2.5 Architektur und gebauter Raum - wirkungsmächtige Medien öffentlich präsentierter und dauerhaft installierter Kommunikation 32 2.3 Die Neolithische „Revolution“ - Rückblick und Ausblick 34 2.4 Weiterführende Literatur 37 Einheit 2 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 20 W I E A L L E S A N F I N G : N E O L I T H ISI E R U N G - U R B A NI SI E R U N G - S C H R I F T E R F I N D U N G 2.1 Drei (von vielen) Entwicklungen, die im Nahen Osten ihren Ursprung hatten, dürften für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Alten Welt, wenn nicht für die globale Gesellschaftsentwicklung von maßgeblicher Bedeutung gewesen sein: Die grundsätzliche Änderung in der Subsistenzsicherung im Verlauf des sog. Neolithisierungsprozesses, als es erstmals in der Geschichte der Menschheit gelang, Nahrungsmittel nicht mehr nur zu sammeln (und zu jagen), sondern diese zu produzieren - eine revolutionäre Neuerung, ohne die die „moderne“ heutige Lebensweise der Weltgesellschaft nicht denkbar wäre. Der Übergang von der mobilen zur sesshaften und von der dörflichen zur urbanen Lebensweise. Stadt und urbanes Leben mit allen Facetten begann im Vorderen Orient - und eine Vielzahl von Parametern, die heute für urbanes Leben stehen, trat erstmals im Kontext der urbanen Entwicklung im Nahen Osten auf: Ausdifferenzierung von Funktionen und deren Institutionalisierung, institutionalisierte und auf Funktionen basierende Hierarchisierung im gesellschaftlichen Miteinander, zunehmende Komplexität der sozialen Verhältnisse und damit einhergehend die fortschreitende Anonymisierung im sozialen Miteinander, globaler Handel, initiiert durch politisch und wirtschaftlich starke Zentren, ausgerichtet auf den Ressourcenimport aus geeigneten und erreichbaren Peripherien. Die Organisation von Kommunikation und der Handel mit Kommunikationsmöglichkeiten ist heute das Milliardengeschäft schlechthin und wird auf unabsehbare Zeit der Markt der Zukunft bleiben. Mit dem Wandel von einer mobilen zur sesshaften Lebensweise lässt sich archäologisch die wachsende Bedeutung von nonverbaler Kommunikation aufzeigen. Die Welt der Dinge wird als „Welt der Kommunikationsmedien“ sichtbar, Bilder und die bauliche Gestaltung der Umwelt gewinnen zunehmend an Bedeutung. Von „revolutionärer“ Bedeutung ist aber besonders die Entwicklung, die im Umfeld der Urbanität erstmals zum Tragen kam und mit der gesprochene Sprache über graphische Zeichen sichtbar und über die Fixierung auf Tontafeln und Stein dauerhaft zugänglich wurde: es geht um die Entwicklung der Keilschrift im urukzeitlichen Südmesopotamien. Eine irreversible Entwicklung: Der Neolithisierungsprozess im Fruchtbaren Halbmond Der Wandel von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaftsweise und der Übergang von der mobilen zur sesshaften Lebensweise, der vor ca. 10.000 Jahren im Nahen Osten, konkreter im Gebiet des sog. Fruchtbaren Halbmonds einsetzte (siehe Abb. 1.2), war mit Sicherheit eine der folgenreichsten Veränderungen für die Gesellschaften der sog. Alten Welt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 2 21 E I N E I R R E V E R SI B L E E N T W I C K L U N G 2.1.1 Fruchtbarer Halbmond wird der geographische Raum genannt, in dem die Phänomene der neolithischen Entwicklung erstmals aufgetreten sind bzw. in dem aufgrund der naturräumlichen Gegebenheiten diese Entwicklung erstmals möglich geworden war (s. Abb. 1.2). Es gab keinen Lebensbereich, der in diesem Prozess der tiefgreifenden und weitreichenden Entwicklungen nicht von gravierenden Veränderungen betroffen gewesen wäre. Im Laufe des mehrere tausend Jahre umfassenden Prozesses traten das Jagen und Sammeln als Basis der Subsistenzsicherung in ihrer Bedeutung nach und nach in den Hintergrund. Mit der Kultivierung von Wildpflanzen und der Domestikation von Nutz- und Haustieren war der Weg eingeschlagen zur Produktion von Nahrungsmitteln. Ein bis dato unbekanntes Verfügungspotential über die Subsistenzsicherung entfaltete sich, darunter vor allem die Möglichkeit, sowohl das Spektrum der Konsummittel als auch die Menge der zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel in ganz neuer Weise beeinflussen zu können. Unbeantwortet ist bisher die Frage, warum der Wandel in den Lebens- und Wirtschaftsweisen überhaupt nötig wurde! An den materiellen Hinterlassenschaften der SiedlerInnen, aus Bodenproben, die Pflanzenreste enthalten, über deren Analyse das Nahrungsmittelspektrum und der jeweilige Stand der Kultivierung der Pflanzen eruierbar wird, aus Tierknochen, die das Spektrum der Nutztiere aufzeigen und deren Analyse die Entwicklung der Domestikation verfolgen lässt, aus Funden, an denen Handwerkswissen und Funktionen der Objekte abzulesen sind, aus der Architektur, die über die Raumgestaltung informiert und anhand von Rohstoffen, die, wenn lokal nicht belegt, Hinweise auf den Zugang zu Importen liefern, ist - archäologisch - die Komplexität der Entwicklungen abzulesen, die die sog. Neolithische Revolution charakterisieren. Die Veränderungen wurden angestoßen durch das Handeln der Menschen. Zugleich hatten diese auf die Vielfalt der selbst initiierten Veränderungen zu reagieren, d. h., in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens Anpassungsleistungen an die veränderten Lebensumstände zu erbringen. Raum und Territorium Der Wandel der Wirtschaftsweise und die damit verbundenen Veränderungen in der Lebensweise dürften die Bedeutung von dauerhaft und uneingeschränkt verfügbarem Raum und Territorium maßgeblich erhöht haben. Der zunehmende Stellenwert des Ackerbaus für die Subsistenzsicherung bedingte ein immer längeres Verbleiben von Gruppen an ein und demselben Siedlungsplatz. Damit wuchs die Bedeutung der Sicherung von Territorium und erstmals dürfte dem Landbesitz, d. h. nicht allein dem Landnutzungsrecht, ein existentiell bedeutsamer Stellenwert zugekommen sein. Territorium umfasst den Teil des Raumes und der Natur, für den von einer bestimmten Gesellschaft © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 22 W I E A L L E S A N F I N G : N E O L I T H ISI E R U N G - U R B A NI SI E R U N G - S C H R I F T E R F I N D U N G Landnutzung und Landbesitz - ein Unterschied? 2.1.2 dauerhafter Zugang, dauerhafte Kontrolle und Nutzungsrechte beansprucht werden. Territorium beanspruchen JägerInnen und SammlerInnen ebenso wie sesshafte Gesellschaften. Letztere werden aber in zunehmendem Maße abhängiger von dem Land, auf dem sie sich niedergelassen haben. Anders als bei den mobil lebenden Gesellschaften sind wirtschaftliche Misserfolge und Einbußen im Ertrag bei sesshaften Gesellschaften nicht mehr in jedem Fall durch Wechsel des Territoriums auszugleichen. Die kontrollierte und planende Nutzung eines Territoriums gewinnt bei dieser Lebensweise daher in zunehmendem Maße an Bedeutung, Bodenbesitz wird überlebenswichtig. Wo Bodenbesitz zur existenzsichernden Ressource wurde, ist davon auszugehen, dass die Ackerbauern, die das Land dauerhaft bewohnten und bearbeiteten, ihre jeweiligen Besitzansprüche deutlich machten. Eine starke Identifikation der SiedlungsbewohnerInnen mit dem jeweiligen Siedlungsraum erhielt eine existentielle Bedeutung und dies insbesondere dort, wo im Zuge der Sesshaftwerdung u. U. von mehreren Siedlungsgemeinschaften auf ein und dieselbe Ressource zugegriffen wurde. Bei zunehmender Verweildauer an einem Platz und bei zugleich größer werdender Siedlungszahl dürften also ortsgebundene Identitäten notwendiger geworden sein als je zuvor. Identitätsbildung über Raumnutzung Zum großen Teil hat sich das oben postulierte Wechselspiel von Aktion und Reaktion der frühen SiedlerInnen im konkreten materiellen Bestand der Fundplätze aufzeigen lassen. Architektur markiert (u. a.) Wohnraum, Gerätschaften und Inventare spiegeln Handlungen und Wissensbestände der Bevölkerungen wider, und es wird sichtbar, dass die Verstorbenen, im unmittelbaren Kontext der Siedlung beigesetzt, auch nach dem Tode noch zur Gemeinschaft der Lebenden gehörten. Nicht alle Handlungen und Aktionen der AkteurInnen schlagen sich jedoch unmittelbar im Materiellen nieder. Zu denken ist etwa an die Entwicklungen im symbolischen Handeln, an Vorgänge, Vorstellungen und Ausprägungen in den geistigen, religiösen und kulturellen Gebieten der Gemeinschaften, die anschlussfähig bleiben mussten an die veränderten realweltlichen Verhältnisse, damit die Gemeinschaften den tiefgreifenden Wandel ihrer Lebensbedingungen auf Dauer erfolgreich bewältigen konnten. Wirtschaftsweise, Gesellschaftsorganisation, die Welt des Denkens und der religiösen Vorstellungen korrespondieren in vielfältiger Weise miteinander. Das Bestattungswesen dürfte einer der Bereiche sein, in dem eine Verbindung zwischen materiellem Niederschlag im Handeln und möglichem Wandel in den geistigen und religiösen Vorstellungen der Menschen aufgezeigt werden kann. Aufgrund der zunehmenden Bedeutung des Wohnortes als Ort der Zugehörigkeit und Herkunft erhielt dieser als Ort des Lebens, so die These hier, auch im Tod eine neue Bedeutung. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 2 23 E I N E I R R E V E R SI B L E E N T W I C K L U N G Bestattungen wurden im Verlauf der Sesshaftwerdung erstmals nachweislich in unmittelbarem Zusammenhang mit den Wohnplätzen, hier den Siedlungen vorgenommen, angelegt sowohl unter Freiflächen, Höfen und Plätzen als auch unter den Hausfußböden. Die Wahl des Bestattungsplatzes innerhalb der Siedlung dürfte u. a. die Zugehörigkeit der Verstorbenen zum jeweiligen Haus bzw. Haushalt auch über den Tod hinaus angezeigt haben. Neben diesen Körperbestattungen im unmittelbaren Siedlungskontext trat eine weitere Neuerung auf - die Teilbestattung Verstorbener. Hier wurden die Schädel der Toten vom Rumpf getrennt, die Schädel dann mit einer gipsartigen Masse überzogen, z. T. bemalt, z. T. mit Muscheln, die die Augen markierten, verziert. Die Trennung des Schädels vom Körper der Verstorbenen erfolgte dabei offenbar stets erst, nachdem der Körper verwest war, wie am Erhaltungszustand der Skelette zu eruieren ist - die Abtrennung des Kopfes führte nicht zu Verletzungen am sonstigen Knochenbestand der so behandelten Toten. Die Fundorte, die in dieser Publikation genannt werden, sind u. a. auf den exzellenten Karten folgender Internet-Seite zu finden: www.archatlas.dept.shef.ac.uk/ SitesFrom Satellites/ sites.php? name=aswad (17.05.2009). Frauen-, Männer- und Kinderschädel wurden auf diese Weise bestattet, eine Begrenzung der Bestattungssitte nach Alter oder Geschlecht gab es nicht. Die Schädel wurden einzeln und in Gruppen, dekoriert und auch undekoriert beigesetzt. Das gemeinsame Vorkommen von Körperbestattungen und Schädelniederlegungen in den Siedlungen war nicht ungewöhnlich. Bestattungen - Materialisierung von Geschichte im Raum Abb. 2 . 1 Schädelfunde aus Tell Aswad im heutigen Syrien © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 24 W I E A L L E S A N F I N G : N E O L I T H ISI E R U N G - U R B A NI SI E R U N G - S C H R I F T E R F I N D U N G Ahnenverehrung Vor 10.000 Jahren reagierten die Menschen auf die Krisensituation Tod also mit einer Vielzahl von Fürsorgemaßnahmen, die sie den Verstorbenen zukommen ließen. Nicht alle Verstorbenen wurden gleich behandelt, die Differenzierung erfolgte über den Umgang mit den Körpern der Toten und war offenkundig Teil eines notwendigen Rituals, das die fragil gewordene Ordnung der Gemeinschaft konsolidieren sollte. Die Gemeinschaft der Lebenden und die Gemeinschaft der Verstorbenen gehörten räumlich zusammen. Was sie voneinander trennte, war die Differenz zwischen Leben und Tod, aber nicht der Raum. Wessen Schädel man gesondert bestattet hatte, welche Rollen und Funktionen diese Personen in der Gemeinschaft der Lebenden eingenommen hatten und ob die Schädelbestattung einen besonderen Status der so Bestatteten anzeigte, ist bislang noch nicht umfassend erforscht. Ethnologische Parallelen zur Sitte der Sekundärbestattung, und um eine solche handelt es sich bei den Schädelniederlegungen, erbringen Hinweise auf die möglichen Funktionen dieser Bestattungsweise in den altorientalischen Gemeinschaften. Sekundärbestattungen, Rituale, in deren Verlauf man die Toten nach einer Weile aus dem Grab zurückholt in die Gemeinschaft und neu bestattet, sind nahezu regelhaft mit dem Ahnenkult zu erklären. Familien, der Clan, die Dorfgemeinschaft ehren mit dieser Sekundärbestattung Individuen aus ihren Reihen als Ahnen und Vorfahren. Zum Ausdruck der ehrenden Erinnerung findet mit der Sekundärbestattung ein öffentliches Fest statt. Die Toten werden rituell wieder aufgenommen in die Gemeinschaft der Lebenden, man feiert und isst zusammen und überlässt die Verstorbenen dann erneut der Welt der Toten - und diesmal dauerhaft. Mit diesem Ritual erinnert und vergewissert sich die Festgemeinschaft ihrer Herkunft und der unauflösbaren Verbindung zwischen den Verstorben und den Lebenden. Das Gedenken an die Ahnen ist für ein gutes Leben in der Gegenwart und eine gesicherte Zukunft zwingend erforderlich. Die Sekundärbestattung festigt darüber hinaus das Geschichtsbewusstsein der Gemeinschaft und mit der Dokumentation der Geschichte der Gemeinschaft zugleich die Geschichte des Anspruchs auf den genutzten Raum und Standort. Die Ahnen sind die Vorgänger der Lebenden. Indem sich die Lebenden diese Verankerung von Vergangenheit und Gegenwart und die Unauflösbarkeit der Gemeinschaft als Gemeinschaft in der Zeit im Ritual sichtbar vor Augen führen, tradieren sie zugleich das Wissen der Gemeinschaft um die unauflösbare Zugehörigkeit zum Raum - und manifestieren so zugleich unübersehbar ihre Besitzansprüche an das seit jeher bewohnte Land. Das Ritual sichert somit die Gegenwart und die Zukunft der Lebenden. Mehr als anderen Rituale kommt der Sekundärbestattung die Wirkungsmacht des kollektiven Gedächtnisses zu. Das „Land der Ahnen“ - und damit kommen wir auf die neolithischen Befunde zurück - erhält existentielle Bedeutung dort, wo die Lebensumstände gekennzeichnet sind durch eine Vielzahl sesshafter (und mobil lebender) Gemeinschaften, die um die Nutzungs- und Besitzrechte an Land konkurrieren und deren Überleben von © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 2 25 S P R A C H E , G E S T E N , M IMI K , H A N D E L N - B I L D E R , B A U T E N , A R T E F A K T E 2.2 2.2.1 der Durchsetzung ihrer Ansprüche abhängig ist. Eine stabile Gemeinschaft dürfte die beste Rückversicherung für das Überleben gewesen sein. Rituale, die regelhaft an die Zusammengehörigkeit der Siedlungsgemeinschaft untereinander und ihre Zugehörigkeit zum bewohnten Land erinnerten, stellten wohl das wirkungsmächtigste Instrument für die Tradierung der Erinnerung dar und die Sekundärbestattung bildete das Medium, mit dem die Identität der Gemeinschaft bis auf deren Ursprünge zurückgeführt und die Zugehörigkeit zum Raum über die Geschichte legitimiert werden konnte. Sesshaftwerdung, Ackerbau, die zunehmende Abhängigkeit von Boden- und Landbesitz, die Investition an Arbeit in den Boden, die Errichtung von Wohnbauten auf eigenem Land und die legitimierende Verankerung eines gegenwärtigen Ist-Zustandes in der Vergangenheit wird hier modellhaft als Antwort der frühen SiedlerInnen auf die neuen Erfordernisse in der Organisation des sesshaften Miteinanders verstanden. Sprache, Gesten, Mimik, Handeln - Bilder, Bauten, Artefakte: alles ist und alles dient der Kommunikation Die Kommunikation der zur Gemeinschaft Gehörenden wurde im Ritual der Sekundärbestattungen auf klassische Weise gesichert. Sie war unauflösbar an die sog. Face-to-face-Situation gebunden, d. h. an die Präsenz nicht nur der lebenden Gemeinschaftsmitglieder, sondern auch und gerade der Verstorbenen. Die Kommunikationssicherung war zugleich einer der Bereiche, der im Prozess der Sesshaftwerdung gravierende Veränderungen erfuhr. Mit der Bearbeitung der Schädel, später mit der Anfertigung von Bildstelen und der Errichtung monumentaler Architektur entwickelten die frühen SiedlerInnen wirkungsmächtige Medien, mit deren Hilfe relevante Botschaften unübersehbar, dauerhaft und vor allem non-verbal und abgelöst von der Face-to-face- Situation übermittelt werden konnten. Kommunikation ist … Die Verständigung über einen Sachverhalt zwischen zwei oder mehr Personen, die entweder direkt miteinander kommunizieren, also eine Face-to-face- Situation schaffen, oder sich indirekt via Medien verständigen. Mündlichkeit (ohne weitere technische Hilfsmittel wie Telefon) unterscheidet sich als Kommunikationsweise grundsätzlich von der Kommunikation via Bilder, Bauten, Schrift und Text durch die klar definierte Kommunikationsbedingung: die Kommunizierenden müssen körperlich anwesend sein, um miteinander kommunizieren zu können. Die mögliche Anzahl der gleichzeitig mündlich miteinander Kommunizierenden ist dabei relativ unbegrenzt, jedoch stets der Situation von Verstehen und akustischer Erreichbarkeit anzupassen. Mündliche Kommunikation kann ausgeweitet werden auf die Übertragung von Bot- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 26 W I E A L L E S A N F I N G : N E O L I T H ISI E R U N G - U R B A NI SI E R U N G - S C H R I F T E R F I N D U N G Kommunikation muss verstanden werden 2.2.2 schaften zwischen Nicht-Anwesenden, wenn BotInnen eingeschaltet werden. In dem Fall ermöglicht mehrfach hintereinandergeschaltete mündliche Kommunikation eine Form der indirekten Kommunikation auch dort, wo Bilder, Bauten oder Schrift als Medium nicht zur Verfügung stehen. Das Verstehen einer mündlich übermittelten Botschaft hängt zunächst davon ab, dass eine Sprache zum Einsatz kommt, die von allen Beteiligten verstanden wird. Verstehen heißt zugleich nicht, dass die direkt gesprochene Botschaft der Mitteilung von den Hörenden so verstanden werden muss, wie von den Sprechenden intendiert. Vermutlich kennt jede/ r aus der eigenen Kindheit das Spiel „Stille Post“. Eine Person flüstert einer anderen Person ein Wort oder einen Satz ins Ohr, die/ der Angesprochene gibt das Gehörte an den/ die nächste/ n TeilnehmerIn weiter. Nachdem der so übermittelte Text mehrfach wiederholt und flüsternd weitergeben wurde, hat sich in der Regel eine Modifikation des ursprünglich Gesagten eingestellt, die bis zur völligen Veränderung und einer Sinnentstellung des Ursprungstextes führen kann. Selbst bei klarer Wiedergabe des Gesagten sind Wortwahl und Satzbildung der Sprechenden stets zu einem gewissen Grad mehrdeutig. Hinzu tritt, dass mündliche Kommunikation stets auch Elemente der nonverbalen Kommunikation enthält: Gesten, Mimik, Körperhaltung, Tonfall und Lautstärke des gesprochenen Wortes, die die Kommunikation begleiten und dem gesprochenen Wort zusätzliche Bedeutungen verleihen. In schriftlosen Gesellschaften wurden lebenswichtige Informationen primär mündlich weitergegeben, von Person zu Person und von Generation zu Generation. Von Modifikationen des Übermittelten ist auszugehen, und auch Modifikationen, die zu starken Veränderungen von ursprünglichen Inhalten führten, sind nicht ausgeschlossen. Anzunehmen ist aber zugleich, dass Modifikationen mündlich tradierte Texte mit lebenswichtigen Informationen - von Mythen und Traditionen religiösen Inhalts bis hin zur Vermittlung lebenspraktischer Wissensbestände geographischer, naturräumlicher, wirtschaftlicher, politischer und auch technisch-handwerklicher Natur - die Umsetzung des Tradierten in den jeweiligen Kommunikationskontexten weiterhin ermöglichten. Weniger die „starre“ Übermittlung des Wissens als vielmehr die kontinuierlich sich verändernde, also an die Umstände der Kommunikation angepasste Veränderung bzw. Versionen des Tradierten dürfte die mündliche Kommunikation der schriftlosen Gesellschaften gekennzeichnet haben. Medial vermittelte Kommunikation Die Wahrscheinlichkeit, dass auch in den ältesten menschlichen Gemeinschaften neben der mündlichen Kommunikation Verständigung mit Hilfe von Medien erfolgte, also nonverbal über Gegenstände und Artefakte (vom © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 2 27 S P R A C H E , G E S T E N , M IMI K , H A N D E L N - B I L D E R , B A U T E N , A R T E F A K T E 2.2.3 Menschen hergestellte Dinge), wurde oben bereits erwähnt. Nonverbale Kommunikation mit Hilfe von Artefakten (Bildern, aber auch Gebärden) unterscheidet sich von der Kommunikationsform Mündlichkeit prinzipiell dadurch, dass das Funktionieren dieser artefaktgestützten Kommunikation weder zwingend an die gleichzeitige Präsenz derer gebunden ist, die die Botschaft senden und diese empfangen - noch daran, dass die Sendenden und Empfangenden die gleiche Sprache sprechen. Verstehen müssen beide Seiten jedoch die Symbolik und das Aussagespektrum von Zeichen, d. h., eine Vertrautheit mit den kulturellen Rahmenbedingungen der über die mediale Kommunikation Verbundenen ist hier maßgebliche Voraussetzung für ein Verstehen. Nonverbale Kommunikation ermöglicht je nach Medium (und dies grundsätzlich anders, als es bei der mündlichen Kommunikation möglich ist) sowohl die dauerhafte Bewahrung der kommunizierten Botschaft als auch die dauerhaft identische Tradierung der ausgetauschten Mitteilungen. Bilder und Bauten der altorientalischen Gesellschaften liegen in der erstellten Form seit tausenden von Jahren unverändert vor, Texte tradierten die identische Kernaussage und Handlungsabfolge der geschilderten Ereignisse in einer Authentizität, die ein mündlich überlieferter Text im Vergleich kaum entsprechend stringent hätte bewahren können. Kommunikation über die Welt der Dinge ermöglicht jederzeit sowohl die Erstellung als auch die Abrufbarkeit von Mitteilungen. Verbale Face-to-face-Kommunikation wie nonverbale Kommunikation über Medien gehören seit der frühesten Entwicklung menschlicher Gemeinschaften zur „Grundausstattung“ der Verständigungsmöglichkeiten. Die Vorderasiatische Archäologie befasst sich mit der Welt der Dinge und fasst diese u. a. als Kommunikationsmedien auf. Bilder, Bauten und Texte stellen einige der Medien dar, auf die die Vorderasiatische Archäologie zugreift, um Kommunikation vergangener Gesellschaften „sichtbar“ zu machen. Bilderbotschaft! Bilder heute - Bilder damals Bilder bzw. bildliche Darstellungen dominieren in der Gegenwart das kulturelle Repertoire der Gesellschaft in einem nie zuvor gekannten Ausmaß. Der Begriff „Bilderflut“ umschreibt hier, kritisch gemeint, das Phänomen der Allgegenwärtigkeit und Unübersehbarkeit bildlicher Repräsentation im öffentlichen wie auch im privaten Raum. Die Flut - und damit die Unausweichlichkeit - bildlicher Kommunikation heute unterscheidet die Kommunikation via Medien von der medial vermittelten Kommunikation in den altorientalischen Gesellschaften der Vergangenheit. Vergangenheit und Gegenwart verbindet aber dort ein durchlaufender roter Faden, wo es um die Einsatzfelder der medial vermittelten Kommunikation geht - seit dem ersten Einsatz von Bildern als Kommunikationsmedium diente dies den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Interessen derer, die über die Kontrolle der © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 28 W I E A L L E S A N F I N G : N E O L I T H ISI E R U N G - U R B A NI SI E R U N G - S C H R I F T E R F I N D U N G Anfertigung von Bildern Bildanfertigung verfügten und über den Einsatz der Bilder zur Vermittlung von Botschaften entscheiden konnten. Kommunikationsformen sind gebunden an die jeweils kulturspezifisch verfügbaren Kommunikationsmedien, Kommunikationsinhalte an die mit der Kommunikation verfolgten Ziele. Kommunikationsformen und -inhalte sind immer auch abhängig von den gesellschaftlichen Kontexten, innerhalb derer die Kommunikation stattfindet. Die Kommunikation über Medien wird nachfolgend in drei sozio-ökonomisch unterschiedlichen Kontexten analysiert, in denen jeweils situationsspezifische Erfordernisse den Einsatz der medial vermittelten Kommunikation bestimmen. Exkurs: Mobil leben und nonverbal kommunizieren: die Bilderwelt des Jungpaläolithikums - ein geographischer „Seitensprung“ nach Europa Frühe bildliche Darstellungen in Form von Höhlenmalereien entstanden zwischen 18000 und 12000 v. Chr., sind aus Europa bekannt und werden in der Gesellschafts-, Menschheits- und Kulturgeschichte dem Homo sapiens zugeordnet bzw. zeitlich dem sog. Jungpaläolithikum korreliert. Die Höhlenmalereien von Lascaux, im französischen Department Dordogne gelegen, sind als kulturelle Äußerungen kleiner und mobil lebender Jäger- und Sammlergruppen entstanden. Die Deutungen und Interpretationsansätze der Wandmalereien sind vielfältig. In der Forschungsgeschichte verstand man die Malereien zunächst als Umsetzung „natürlicher“, musischer und künstlerischer Impulse. Spätere Analysen interpretierten die Darstellungen als Ausdruck von Jagd- oder Fruchtbarkeitszauber und unter dem Aspekt des Totemismus, d. h. als Identifikationsobjekt für die Zugehörigkeit zu einem sozialen Verband. Die Malereien wurden mit Initiationsriten und in diesem Zusammenhang mit einer sexuellen Symbolik in Verbindung gebracht, worauf vor allem Max Raphael (Philosoph und Kulturwissenschaftler), Annette Laming-Emperaire (Philosophin und Prähistorikerin) und André Leroi-Gourhan (Prähistoriker und Anthropologe) hinwiesen. Neuere Arbeiten deuten die Darstellungen als „sichtbare Sprache“ oder „Protoschrift“ (Lorblanchet 1997). Gegen all diese Konzepte sind begründete Einwände vorgebracht worden, von einer allgemein akzeptierten Erklärung der Bilder kann also nicht gesprochen werden. Auf zwei Aspekte allerdings weisen alle Ausführungen trotz prinzipiell unterschiedlicher Erklärungsansätze hin: die klar umrissene Motivwahl und die „realistische“ Darstellungsweise. Eine statistische Auswertung der Höhlenmalereien aus dieser Zeit im europäischen Bereich durch Leroi-Gourhan zeigt, dass unter den Motiven vor allem die Tierdarstellungen dominieren (62 %), gefolgt von Zeichen, die die heutige Forschung bisher nicht „lesen“ (im Sinn von Erklären) kann (34 %). Nur 4 % der Motive sind Menschendarstellungen. D. h. der Mensch und sein Verhältnis zur Umwelt stehen nicht explizit im Zentrum der Kommunikation. Die Darstellungen, so die These hier, sind © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 2 29 S P R A C H E , G E S T E N , M IMI K , H A N D E L N - B I L D E R , B A U T E N , A R T E F A K T E der Akt des Malens das Außerordentliche erfordert Aufmerksamkeit also nicht als Erzählungen oder Berichte von vormals stattgefundenen Jagdgeschehen zu verstehen. Gegen das Vorliegen einer Narration bedeutsamer Ereignisse im Sinne einer bewussten Tradierung kann zudem das Phänomen ins Feld geführt werden, dass die Darstellungen oftmals, und häufig mehrmals, übermalt wurden. Das kann bedeuten, dass nicht das fertige Bild als zu erhaltendes Dokument von Bedeutung und Inhalt der zu übermittelnden Botschaft war. Wenn wir aus dieser Erkenntnis heraus unser Augenmerk also nicht auf das fertige Produkt des gemalten Bildes richten, sondern die kulturelle und kommunikative Bedeutsamkeit in der Herstellung desselben, also im Akt des Malens oder Zeichnens, ansiedeln, so gelangen wir zu einer von den bisherigen Ansätzen abweichenden Perspektive auf die Artefakte und ihre kulturelle Einbindung. Betrachten wir bei den Höhlenmalereien den bildnerischen Vorgang selbst als das Bedeutende, so kann das Bemühen um eine genaue, naturalistische Erfassung als Vorgang der äußersten Bündelung und Konzentration aller Kräfte und Fertigkeiten auf das zu rekonstruierende Tier verstanden werden. Mit dem Akt des Zeichnens konzentrieren sich alle sinnlichen Energien unter Hinzuziehung der bereits angesammelten Erfahrung auf ein Objekt, dessen man sich im Zukünftigen zu bemächtigen sucht. Dies könnte zum einen eine visuelle Versicherung des zu jagenden Objekts dargestellt haben, wie auch andererseits der gesamte Vorgang gleichzeitig als motivierender, gemeinschaftlich erlebter Impuls das zukünftige gemeinsame Ereignis hätte einläuten können. Dass die am häufigsten gejagten Tiere gerade nicht zu den prozentual auch am häufigsten dargestellten zählen, unterstützt diese These. Die darstellende Vergewisserung und Motivation muss sich tendenziell eher dem Außergewöhnlichen, dem Gefährlichen zuwenden als dem Alltäglichen, da für letzteres genügend Routine, Wissen und Können vorliegen (Malinowski 1983, 18) und es also nicht regelhaft und auf Dauer bildlich fixiert erinnert und kommuniziert werden muss. Entsprechend können wir die Anfertigung der Höhlenmalereien eher als „Spuren“ eines bedeutenden Vorgangs sehen und nicht die Malereien als die bedeutenden Endprodukte. Die Naturnähe der Darstellung dokumentiert dabei eher einen Versuch der getreuen Rekonstruktion der optischen Erscheinung als eine Umformung in einen von der Erfahrungswelt abgetrennten Bereich einer Bildwirklichkeit mit symbolischer Konnotation. Es ist zu vermuten, dass die Konzentration aller sinnlichen Kräfte auf das zu konstruierende Tier nicht als individueller Impuls einzelner, sondern vielmehr als gemeinsame und auch gemeinschaftsstiftende Leistung erfolgte. Die gemeinschaftliche Aktion stellte den Akt der primären Kommunikation dar, über diese vergewisserte man sich des gemeinsamen Zieles des Jagdgeschehens, bündelte und aktualisierte Wissen, konzentrierte Kräfte und schwor die momentane Gruppierung auf Zukünftiges ein. Entsprechend erarbeiten die Darstellungen auch keine Strukturen und Regeln einer gemeinsamen Weltdeutung, sondern initiieren in der Kommunikation und im dar- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 30 W I E A L L E S A N F I N G : N E O L I T H ISI E R U N G - U R B A NI SI E R U N G - S C H R I F T E R F I N D U N G 2.2.4 stellenden Handeln Gemeinschaft als eher situationsbezogene Kooperation. Die Anfertigung des Bildes stellt den eigentlichen Akt des Kommunizierens dar, eine Face-to-face-Situation der direkten Kommunikation. Die dauerhafte Fixierung der Kommunikation transformierte diese Face-to-face-Situation und ermöglichte über das Medium Bild dann auch die indirekte Kommunikation. Dauerhaftes Siedeln und dauerhafte Fixierung kommunizierter Themen Mit dem beginnenden Neolithikum, also dem Übergang von mobilen Jäger- und Sammlergemeinschaften zur sesshaften Lebensweise der Ackerbauern entwickelten sich in Folge der immer stärker dauerhaften Präsenz größerer Verbände an einem Ort auch andere Organisationsformen und -anforderungen an das gemeinschaftliche Miteinander. Veränderungen in den Anforderungen an die Kommunikation der gemeinschaftlichen Erfordernisse waren davon erwartungsgemäß nicht ausgenommen. Das Prinzip der dörflichen Einheit mit seinen Verkehrsformen bedurfte intensiver als zuvor der permanenten und auf Dauer angelegten Versicherung von Zusammengehörigkeit und Loyalität, die kommuniziert werden musste. Die Mitglieder der Lebens- und Siedlungsgemeinschaften dokumentierten und festigten ihren Zusammenschluss über das Alltagsgeschehen hinaus durch gemeinsame rituelle Aktivitäten. Die soziale Identität manifestierte sich sowohl im konkreten Vollzug der Riten als einem Gemeinschaftserlebnis wie auch in der spezifischen Gestaltung materieller Gerätschaften und Besitztümer, d. h. auch in der Investition in Medien der nonverbalen Kommunikation. Kleidung, Körpermarkierungen, bildliche Darstellungen, Muster und Verzierungen auf Gebrauchsgegenständen, aber auch Haus- oder Siedlungsformen strukturierten die Ortschaft als Gebilde einheitlicher Prägung nicht nur im Inneren, sondern setzten ebenso Zeichen der Abgrenzung nach außen. Das neu und anders sich etablierende Regelwerk des sozialen Miteinanders bedurfte anderer Werte und Normen, die nun die Existenz eines größeren und komplexeren Verbandes ermöglichen und garantieren mussten. Vor dem Hintergrund des permanenten Zusammenlebens verschiedener sozialer Einheiten entwickelte sich die Notwendigkeit eines allgemein anerkannten übergreifenden Normensystems, das den Ausgleich der Interessen sicherte und die Gemeinsamkeit aller auch in einem kollektiven symbolischen System verankerte und manifestierte. All dies hatte Auswirkungen auf die Medien der Repräsentation, ging einher mit einer veränderten Funktion des Bildes als nonverbaler Kommunikationsform und ermöglichte und erforderte erstmals in größerem Umfang auch die wirkungsmächtige Instrumentalisierung von Architektur und Raumordnung als Medien der Kommunikation. In der Gegenüberstellung mit den paläolithischen Höhlenmalereien zeigt sich im Neolithikum, bei anderer gesellschaftlicher Organisation und anderen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 2 31 S P R A C H E , G E S T E N , M IMI K , H A N D E L N - B I L D E R , B A U T E N , A R T E F A K T E gesellschaftlichen Anforderungen an Bild und Kommunikation, ein anderes Repertoire sowie eine anders gelagerte Gewichtung der Bildmotive. Göbekli Tepe nahe Urfa in der Türkei (zur Lage s. Abb. 1.7) ist ein Beispiel, an dem Reflexionen zu Bild und Architektur als Medien der Kommunikation exemplarisch durchgeführt werden können. Betrachten wir die bildlichen Belege aus Göbekli Tepe, die in einem anderen gesellschaftlichen Zusammenhang entstanden sind als die paläolithischen Höhlenmalereien, so fällt zunächst auf, dass Stelen angefertigt wurden mit der primären Funktion, als Bildträger zu dienen - und damit primär Kommunikation dauerhaft zu sichern. Göbekli Tepe, um 9000 v. Chr., aktueller Bericht und sehr gute Abbildungen zum Bild- und Bauprogramm - siehe http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Göbekli_Tepe (18.05.2009). Siehe zum Thema auch www.dainst.org/ index.php? id=642&sessionlanguage=de. Abgebildet finden sich auf diesen Stelen vor allem Stier, Fuchs, Eber, Schlange, Reptil, Löwe, Kranich, Ente und Widder, auch Menschen treten auf. Im paläolithischen Motivspektrum ist unter den am häufigsten abgebildeten Spezies nur Großwild vertreten (Lorblanchet 1997, 59). Auf den Bildern von Göbekli Tepe stehen deutlich kleinere Tiere wie etwa Schlange, Reptil oder Vögel im Vordergrund. Das bildliche Geschehen zielt also tendenziell nicht im gleichen Maße wie in den Höhlenmalereien auf das für die Subsistenzsicherung einer Jägergemeinschaft zentrale Großwild. Eher ist davon auszugehen, dass auf den Bildern Protagonisten der Mythen und Erzählungen der Gemeinschaften visualisiert wurden, die eben für die in Göbekli Tepe zusammentreffenden Gemeinschaften identitätsstiftend waren. Neben der Motivwahl zeigt auch der Gestaltungsprozess der Bilder von Göbekli Tepe eine andere Tendenz. Die Darstellungen zielen nicht primär auf eine naturnahe Präsenz des Sujets, sondern präsentieren die Objekte in eher stilisierter Form. Mit der stärkeren Betonung von Linie und Fläche geht eine Reduzierung der „malerischen“ Qualität einher. Nicht die körperliche Präsenz als Ausdruck von Kraft, Gegenwärtigkeit und Lebendigkeit steht hier im Vordergrund, vielmehr gewinnen mit der Betonung der Umrisslinien, dem Abb. 2 . 2 Bildstele aus Göbekli Tepe Stil und Botschaft © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 32 W I E A L L E S A N F I N G : N E O L I T H ISI E R U N G - U R B A NI SI E R U N G - S C H R I F T E R F I N D U N G Bilder sichern Erinnerung und symbolisieren Ideenwelten 2.2.5 Fehlen einer Binnengliederung und einer Tendenz zur Schematisierung die Gestalten einen formelhaften, fast zeichenartigen Charakter. Diese Tendenz zur Schematisierung muss jedoch keinesfalls als Indiz bildnerischen Unvermögens verstanden werden. Die Zeichenhaftigkeit des Dargestellten dürfte den spezifischen Anforderungen an die bildliche Repräsentation in den sesshaften Gesellschaften entsprechen. Mit der Notwendigkeit der Vermittlung der Regelsysteme und der Etablierung einer übergreifenden symbolischen Ordnung, die die Strukturierung und Organisation des zusammengehörenden Verbandes von Göbekli Tepe garantieren sollte, gewann das Kommunikationsmedium Bild an Bedeutung. Nicht mehr die gemeinsame Vergewisserung und die genaue Rekonstruktion der visuellen Erscheinung im Zuge der situationsgebundenen Wissensanhäufung und -aktualisierung standen im Vordergrund, da sich mit der Konstellation des permanenten Zusammenlebens größerer Bevölkerungsgruppen das Wissensrepertoire in der konstanteren Gemeinschaft verstetigte, Erfahrung auf breiterer Basis gespeichert und abrufbar wurde. Die Tradierung von Wissen, Erfahrung und die Wiedergabe der sich entwickelnden Mythen und Erzählungen als Vergewisserung gemeinsamer Geschichte und Identität verlangte im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung von Göbekli Tepe eher die Erkennbarkeit bzw. Lesbarkeit der gemeinten Objekte und diese ist auch ohne „naturnahe“ Abbildung gewährleistet. Der gestalterische Impuls richtet sich nicht auf die genaue Rekonstruktion wichtiger Objekte sondern auf die Vermittlung und Tradierung von - und die Erinnerung an - Protagonisten eines allgemein bekannten und akzeptierten Mythenrepertoires, wofür auch die größere Anzahl anthropomorpher Gestalten und die Komplexität des Geschehens spricht. Die Wiedergabe konnte sich in ihrer tradierenden Funktion zudem immer stärker nach Konventionen ausrichten. Die Darstellungen funktionieren dabei in zwei Richtungen: sie repräsentieren das Dargestellte und sie tradieren die Überlieferung und somit auch die Konvention der formalen Gestaltung. Die Tendenz zum Konventionellen und Typischen, die die Bilder von Göbekli Tepe zeigen, entspricht dem Bedarf nach Symbolisierung einer relativ fixen, stabilen und konventionellen Ideenwelt als Garant für die Dauerhaftigkeit der stationären Lebenswelt. Die neue Lebensweise erforderte dauerhaft präsente Kommunikationsinhalte. Bildlich fixierte Botschaften auf dauerhaften Bildträgern bedienten diese Bedürfnisse der in Göbekli Tepe zusammentreffenden Gemeinschaften. Architektur und gebauter Raum - wirkungsmächtige Medien öffentlich präsentierter und dauerhaft installierter Kommunikation Im Prozess der Sesshaftwerdung entwickelten sich Architektur und die bauliche Gestaltung als weitere Kommunikationsmittel, die sich in der Folgezeit bis © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 2 33 S P R A C H E , G E S T E N , M IMI K , H A N D E L N - B I L D E R , B A U T E N , A R T E F A K T E heute als unübersehbare Medien der öffentlichen Kommunikation etabliert haben. Die Repräsentation und Kommunikation via Architektur als unübersehbares Zeichen der Präsenz der kommunizierenden Instanzen ist aus dem öffentlichen Raum global nicht mehr wegzudenken - und an prestigeträchtigen Bauprojekten wie Regierungsbauten, Flughäfen, Bankgebäuden und Museen zu betrachten. Die Wirkungsmacht von Architektur und gebautem Raum als Medien der Kommunikation kann ebenfalls an Göbekli Tepe aufgezeigt werden. Nach heutigem Wissen stellte Göbekli Tepe nicht primär eine Wohnsiedlung dar. Vielmehr vertritt die aktuelle Forschung die These, dass die massiven Steinbauten von Göbekli Tepe als Versammlungshäuser dienten, genutzt von Gemeinschaften, die an anderen (bislang noch nicht lokalisierten) Orten sesshaft und/ oder (noch) mobil lebten und Göbekli Tepe lediglich zu bestimmten Zeiten und - so wird vermutet - zu kultischen, rituell zelebrierten Anlässen aufsuchten. Die Bauten waren auf einer Anhöhe errichtet und als solche an ihrem Standort von weitem zu sehen, dienten also u. a. auch als Landmarke. Im Prozess der Sesshaftwerdung erhielten Raum und Territorium neue Bedeutung, über Architektur und Territorialgestaltung (darunter auch die oben erläuterte Tradition der Bestattung im Siedlungsraum) wurde Besitz von Raum und Territorium dauerhaft und sichtbar markiert und kommuniziert. Mit Göbekli Tepe baute man einen unübersehbaren Treffpunkt, unübersehbar für alle, die sich hier trafen und ebenso für diejenigen, die nicht zu deren Kreis gehörten. Architektur wurde somit sichtbarer Ausdruck für Gemeinschaft und gemeinschaftliches Handeln. Das Gebaute symbolisierte historisch das kulturelle Erbe und die Tradition der hier Lebenden und drückte politisch den gestalterischen Willen bestimmter sozialer Gruppen aus, ihre Präsenz dauerhaft zu markieren. Im Hinblick auf das soziale Miteinander ist Architektur Abb. 2 . 3 Die Pfeilerbauten von Göbekli Tepe © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 34 W I E A L L E S A N F I N G : N E O L I T H ISI E R U N G - U R B A NI SI E R U N G - S C H R I F T E R F I N D U N G 2.3 ein Forschungsfeld in seinen Anfängen Strategien der Überlebenssicherung gebauter Verhaltenskodex (in der Kirche verhält man sich anders als im Bahnhof oder im Kaufhaus). Sie ist Ausdruck der menschlichen Gemeinschaft, des Angewiesenseins auf diese; Architektur kommuniziert und realisiert vorgegebene Ideen und Harmonievorstellungen. Anthropologisch betrachtet ist Architektur die Selbstvergewisserung und Konkretisierung des Menschen im dreidimensionalen Raum. Architektur strukturiert den Raum, Architektur zeigt Ordnungsformen menschlichen Lebens, gebauter Raum bestimmt Nähe und Distanz. Architektur manifestiert und visualisiert Besitzansprüche an Raum und Territorium, Architektur schützt. Die Neolithische „Revolution“ - Rückblick und Ausblick Der Fruchtbare Halbmond, die „Bühne“, auf der sich maßgebliche Veränderungen im menschlichen Zusammenleben erstmals in der Menschheitsgeschichte fassen lassen, umfasst ein riesiges Gebiet mit den unterschiedlichsten naturräumlichen Gegebenheiten. Die gewaltigen Innovations- und Adaptionsleistungen der Menschen ermöglichten es, Siedlungen in den Ebenen und in den Bergregionen, auf offenem Land mit alluvialen Böden, in Gewässernähe und in den Grenzbereichen von Steppenland zur Wüstensteppe anzulegen. Der oben dargestellte Verlauf der Veränderungen von mobil zu sesshaft skizziert diese nur in groben Zügen. Die Details der Entwicklungen sind in jedem Kultur- und Naturraum spezifisch zu eruieren, einzelne Schritte, die Dauer von Veränderungsabläufen, die Ausprägungen und Entwicklungsformen des Wandels zunächst auf lokaler und regionaler Eben zu erforschen. Die Frage nach dem Wie des Wandels wurde erörtert, noch nicht gestellt wurde hier die Frage danach, warum dieser Prozess von mobiler zu sesshafter Lebensweise und von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaft überhaupt stattfand und flächendeckend in einen nicht mehr reversiblen Prozess und Zustand münden konnte. Es erübrigt sich fast, hier anzumerken, dass beides zu den dauerhaft aktuellen Forschungsfragen in der Vorderasiatischen Archäologie gehört und sich den zukünftigen Studierenden auf diesem Gebiet enorme Forschungsmöglichkeiten bieten. Der Frage nach dem WARUM soll mit stichwortartigen Hinweisen auf einige Kernargumente der vielfältigen Erklärungsansätze nachgegangen werden. In allen Erklärungsmodellen geht es im Wesentlichen darum, sich mit den Zusammenhängen zwischen naturräumlichen Potentialen eines von JägerInnen und SammlerInnen genutzten Territoriums und den Handlungsstrategien der AkteurInnen auseinanderzusetzen, die diese für ihr Überleben anwenden. Anhand der Analyse dieses Zusammenhangs ist zu klären, wie und warum der gewaltige Wandlungsprozess eingesetzt hat. Diskutiert werden Fragen der Ressourcenverfügbarkeit, die Frage von Gruppengrößen und Ernährungspotentialen, über die Balance zwischen Bevölkerungswachstum und Auslastungsgrenzen eines Territoriums. Gefragt wird nach den Aktionen und Reaktionen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 2 35 D I E N E O L I T HIS C H E „ R E V O L U T I O N “ - R ÜC K B L I C K U N D A USB L I C K Organisationsprinzipien von Wirtschaft und Gesellschaft der Menschen dort, wo Engpässe auftraten und nach den Maßnahmen, die zur Abwendung lebensbedrohlicher Situationen ergriffen werden konnten - Reduzierung der Gruppengröße dauerhaft zusammenlebender JägerInnen und SammlerInnen, Aufteilung auf verschiedene Jagd- und Sammelgebiete, Kindstötungen, Aussetzung Alter und Kranker, die Erweiterung der Subsistenzgrundlagen durch die Entwicklung neuer Techniken der Subsistenzsicherung, Diversifikation der Ressourcen, Vorratshaltung. Gefragt wird aber auch, ob gerade das Gegenteil, Vielfalt und Üppigkeit der subsistenzsichernden Ressourcen, zum Erkennen der Nutzungspotentiale der Natur geführt habe, ob das Neue den Gunstfaktoren der Natur und der Muße der Menschen, deren Subsistenz gesichert war, geschuldet sei. Und weitere Ansätze gehen der Frage nach, welche Rolle mögliche klimatische Veränderungen im Prozess des Wandels von mobil Lebenden zu Sesshaften und von Jagen und Sammeln zu Anbau und Tierhaltung und -zucht eingenommen haben können. Die Forschung geht also nicht von unilinearen Entwicklungsverläufen in den vielfältigen Naturräumen des Fruchtbaren Halbmonds aus, sondern versucht zu klären, wie die Balance zwischen Umweltgegebenheiten, Ressourcenverfügbarkeit und den Erfordernissen des Überlebens und Lebens in den verschiedenen Regionen des Fruchtbaren Halbmondes über den langen Zeitraum von mehren tausend Jahren gesichert worden ist. Der Erforschung von Umwelt und dem Wirtschaftshandeln der Menschen steht eine weitere Forschungsrichtung zur Seite, die sich vorrangig mit den Zusammenhängen zwischen Wirtschaft und gesellschaftlicher Entwicklung befasst. Ihre wesentlichen Erkenntnisinteressen konzentrieren sich auf die Ausprägungen der diversen Organisationsprinzipien von Wirtschaft und Gesellschaft, auf die Analyse von Verteilungssystemen als Bindeglied zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, auf Systeme und Strategien der Güterverteilung und auf die Entwicklung von Machtverhältnissen und Machtausübung. Es geht um das Nachdenken über Systeme, in denen die Güter nach Bedarf oder auf der Basis von Macht verteilt werden und um die Rolle, die die Verfügbarkeit von Subsistenzmitteln und die Überschussproduktion in der Entwicklung dieser unterschiedlichen Verteilungsstrategien einnehmen. Es geht um die Zusammenhänge von wirtschaftlicher und funktionaler Differenzierung und der Ausdifferenzierung von sozialer Ungleichheit, um Formen der sozialen Ordnungen, um die Repräsentation der Ordnungen über materielle Belege wie den Besitz an Gütern, um die Gestaltung des Raumes als Ausdruck von Macht, Besitz und Herrschaft und um den Wandel, den die materiellen Belege auch auf den Gebieten Wissen, religiöse Vorstellungswelten und Wertorientierungen erkennen lassen. Insbesondere mit den Artefaktkategorien, deren direkter funktionaler Einsatz und Nutzen dem Gegenstand selbst nicht unmittelbar zu entnehmen ist (zu denken ist an die vielfältigen figürlichen Darstellungen von Tieren und Menschen, die im Verlauf der neolithischen Entwicklung aufkommen), liegen Belege aus der gegenständlichen Welt vor, deren Sinngehalt © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 36 W I E A L L E S A N F I N G : N E O L I T H ISI E R U N G - U R B A NI SI E R U N G - S C H R I F T E R F I N D U N G nicht unmittelbar zugänglich ist. Dass diese Objekte aber Ausdruckformen von Sinngehalten darstellen, die eine soziale Funktion in den Gesellschaften wahrgenommen haben, davon ist auszugehen. Die kurze Einführung in die Prozesse, die den Verlauf der sog. Neolithischen Revolution ausmachen bzw. diese „Revolution“ erst konstituierten, mag zum einen den Eindruck einer relativ geradlinigen Entwicklung neuer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnungsformen und Organisationsstrukturen hinterlassen und zum anderen die Vorstellung geformt haben, die Vorderasiatische Archäologie verfüge hier bereits über einen umfassend gesicherten Wissensbestand. Dies ist aber nicht der Fall, und aus der Dekonstruktion dieser Vorstellungen werden die zukünftigen Forschungspotentiale noch einmal deutlich. Die Auseinandersetzung mit dem Übergang von der mobilen zur sesshaften Lebensweise und dem Wandel von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaft hat bisher erste, zum Teil durchaus weitreichende Einblicke in die Entwicklungsprozesse und Entwicklungsergebnisse ermöglicht und gezeigt, dass sich im Verlauf von mehreren tausend Jahren nach und nach Wirtschafts- und Lebensweisen veränderten, dass sich die erweiterte Kenntnis der Natur mit deren veränderter Nutzung verband und dass sich neue ökonomische und soziale Erfordernisse mit der Ausbildung dauerhaft zusammenlebender Gemeinschaften entwickelten. Die Erforschung der Neolithisierungsprozesse sucht u. a. nach den Faktoren, die für Kontinuität bzw. Wandel standen, rekonstruiert Lebens- und Wirtschaftsweisen und erforscht die Beziehungen zwischen den sich herausdifferenzierenden Teilbereichen. Sie fragt nach dem Wie der Entwicklungen ebenso wie nach dem Warum, also nach den Wegen und Formen der Entwicklungen ebenso wie nach den Gründen und Ursachen, die diese Entwicklungen auslösten. Für die laufende und die zukünftige Forschung dürften insbesondere die Zusammenhänge interessant werden, die en Detail die Wechselwirkungen von Naturraumnutzung, Stand des technischen Wissens und Könnens und der Entwicklung spezifischer Lebens- und Wirtschaftsweisen erhellen. Von Interesse sind die Zusammenhänge zwischen Größe und Komplexität von Siedlungsgemeinschaften, ihren sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Erfordernissen und die vor diesem Hintergrund sich entwickelnden Organisations- und Machtstrukturen. Wurden die Gesellschaften zunehmend komplexer und die Beziehungen zwischen den Siedlungen auch über größere Räume hinweg intensiver, dann entwickelten sich neue prägende Faktoren für Kontinuität oder Wandel der Verhältnisse. Kommunikation und Konflikt sind zwei Felder, die hinsichtlich des Zusammenlebens und der Organisation des Zusammenlebens menschlicher Gemeinschaften mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werden sollten. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 2 37 W E I T E R F ÜH R E N D E L I T E R AT U R 2.4 Weiterführende Literatur Benz, Marion. 2000. Die Neolithisierung im Vorderen Orient: Theorien, archäologische Daten und ein ethnologisches Modell. Berlin. Ex Oriente. Reihe: Studies in Early Near Eastern production, subsistence, and environment, Band 7 Delitz, Heike; Fischer, Joachim. 2009. Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie. Bielefeld. transcript Heinz, Marlies und Bonatz, Dominik (Hg.). 2002. Bild - Macht - Geschichte. Visuelle Kommunikation im Alten Orient. Berlin. Reimer Laming-Emperaire, Annette. 1962. La signification de l’art rupestre paléolithique. Paris. Picard Leroi-Gourhan, André. 1995. Hand und Wort. Frankfurt a. M. Suhrkamp, 2. Aufl. Lorblanchet, Michel; Boginski, Gerhard (Hg.). 1997. Höhlenmalerei: ein Handbuch. Sigmaringen. Thorbecke Verlag Malinowski, Bronislaw. 1983. Magie, Wissenschaft und Religion, und andere Schriften. Frankfurt a. M. Fischer Raphael, Max; Drewes, Werner (Hg.). 1993. Prähistorische Höhlenmalerei. Köln. Bruckner & Thünker Schäfers, Bernhard. 2003. Architektursoziologie: Grundlagen, Epochen, Themen. Opladen. Leske + Budrich Reihe: Soziologie der Architektur, der Stadt und des Wohnens; 1. Reihe: UTB 8254 Schmidt, Klaus. 2006. Sie bauten die ersten Tempel: das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger; die archäologische Entdeckung am Göbekli Tepe. München. Beck Scholz, Oliver, R. 2004. Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildlicher Darstellung. 2. Aufl. Frankfurt a. M. Klostermann Simmons, Alan H. 2007. The neolithic revolution in the Near East: transforming the human landscape. Tucson. University of Arizona Press © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 39 Megacities - das Stadtleben fing in Uruk an (Teil 1) Einheit 3 Inhalt 3.1 Megacities heute 40 3.2 Megacities vor 5.000 Jahren 42 3.3 Uruk in der Urukzeit - Lebens- und Herrschaftsweisen im Wandel: ein Modell 43 3.3.1 Raumplanung, Architektur 44 3.3.2 Das Machtzentrum Eanna von Uruk - Der Befund 45 3.3.3 Uruk - Raumordnungskonzepte als Medien der materialisierten Erinnerung 47 3.3.4 Wirkungsmacht räumlicher Ordnung und ihre Instrumentalisierung durch die Mächtigen 48 3.3.5 Uruk, die Entwicklung der Schicht IV 50 3.4 Tradition, Raumgestaltung und die Symbolik einer neuen Macht 52 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 40 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N 3.1 Welt der Dinge und soziale Gegebenheiten 4000-3000 v. Chr. Stadtentwicklung stellte nach dem langandauernden Wandlungsprozess von der mobilen zur sesshaften Lebensweise einen weiteren Wendepunkt im Miteinander der Siedlungsgemeinschaften (nicht nur) im Alten Orient dar. Vor allem die Größe der nun dauerhaft zusammenlebenden „communities“ bewirkte einen qualitativen Wandel, sowohl in der Struktur der urbanen Gemeinschaften als auch in den organisatorischen Anforderungen, der bis dato ohne Beispiel war. Megacities heute Mit dem Begriff der Stadt assoziiert man heute Größe, in Bezug auf die flächenmäßige Ausdehnung ebenso wie bezüglich der unübersehbaren Profilierung der Skyline durch monumentale - und das heißt vor allem in den Himmel ragende - Architektur, die in den USA ebenso wie in den sog. mega-cities im asiatischen Raum zu finden ist. Mit dem Begriff „Stadt“ wird assoziiert die Konglomeration von Menschen, das verdichtete Wohnen, die Vorstellung und realweltliche Existenz von Slums im Weichbild der Städte, Peripherien, die das genaue Gegenteil der glitzernden urbanen Zentren verkörpern, in denen Architektur aus Wellblechhütten und Papphäusern besteht, Stadtteile, die aus „Müll“-Behausungen erwachsen sind und von offenen Abwasserrinnen durchlaufen werden. Mit „urban“ verbindet man erhöhtes Verkehrsaufkommen, die Erschließung der Ballungszentren durch komplexe, den Erfordernissen durch systematische Planung angepasste Straßennetze und eine Vielfalt von Verkehrssystemen, Lärm, Schmutz, Kriminalität und Unterwelt, aber auch das „hippe“ Leben, Restaurants, Bars, Clubs, teure Geschäfte, quirliges Leben auf den Straßen bei Tag und bei Nacht, luxuriöse Wohngegenden, internationale Hotels und ein breites Spektrum an kulturellen Angeboten vom Kino über die Kunstgalerie bis zu Theater, Ballett und Opernhäusern. Stadt wird also zunächst - optisch unübersehbar - registriert über die materialisierten Ausdrucksformen menschlicher Planungen, Entscheidungen und menschlichen Handelns, über die Architektur und die Erschließungssysteme inklusive aller Mittel, die der Erschließung dienen. Stadt wird akustisch und olfaktorisch wahrgenommen, ist durch einen hohen technischen Entwicklungsstandard gekennzeichnet und - last but not least -charakterisiert über die Menge der Menschen, die in einem Ballungsraum konzentriert leben. Hinter den „Dingwelten“ stehen Bedürfnisse und Fähigkeiten, das Wissen und die Kenntnisse der Menschen. Über die Dingwelten werden funktionale Spezialisierungen sichtbar, die ihrerseits aus dem Wechselspiel von Wissen und Erfordernissen erwachsen sind und die Vielfalt der Dingwelt erst ermög- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 3 41 M E G A C I T I E S H E U T E komplexere Gesellschaft - komplexere Kommunikation Komplexität und funktionale Ausdifferenzierung prägen die soziale Ordnung lichen. Hinter der materiellen Welt existiert ein komplexes Spektrum an nichtmaterialisierten Angeboten zur Organisation des Zusammenlebens, stehen institutionalisierte Serviceleistungen, die für die Regelung des zunehmend anonymer werdenden Miteinanders einer vieltausendköpfigen Gemeinschaft unabdingbar sind, d. h., die das konzentrierte Miteinander einer entsprechend großen Anzahl von Menschen und der mit dieser Anzahl verbundenen hohen sozialen Komplexität erst ermöglichen. Aus den organisatorischen Erfordernissen des Zusammenlebens und den funktionalen Spezialisierungen erwachsen funktionale Differenzierungen, die zugleich das Potential zur Ausbildung von sozialer Differenzierung als auch zur Entwicklung sozialer Hierarchisierung enthalten. In einem zunehmend größer werdenden Gemeinwesen nimmt die Möglichkeit der Face-to-face-Kontakte und der gesicherten Kommunikation aller mit allen ab. Eine stetig wachsende und hierarchisierte Gemeinschaft sollte also den wachsenden und komplexer werdenden Anforderungen an die Organisation des gesellschaftlichen Miteinanders und speziell der Sicherung der Kommunikation große Aufmerksamkeit schenken. Neue Spezialisierungen entstehen gerade auf dem Kommunikationssektor, wie nicht zuletzt die jüngste, die „elektronische Revolution“ der computergesteuerten und über die mobilen Telefone gesicherten globalen Kommunikationssysteme und -netze gezeigt hat. Dass gerade die Kontrolle der Kommunikation mit enormer Macht verbunden war und ist, zeigt die altorientalische ebenso wie die rezente globale Entwicklung des Kommunikationssektors. Und dass es im Interesse der jeweils Regierenden liegen muss, über die gesicherte Kontrolle der Kommunikationsmedien zu verfügen, wussten schon die Könige des Alten Orients. In hierarchisierten und anonymisierten urbanen Gesellschaften differenzieren sich in den Bereichen Macht und Herrschaft Spitzenämter aus, in denen die Kontrolle und die Regelungsmacht des Gesamten zusammenlaufen. Das heißt auch, dass politisches Handeln, also die koordinierte Regelung des Alltags in allen Facetten - den spirituell-geistigen Bereichen, den Feldern des Wissens, der sozialen Fürsorge, des Produzierens, des Konsumierens und des Handels - zunehmend über Institutionen stattfand, also über institutionalisierte funktionale Spezialisierung und durch funktional differenzierte und hierarchisierte SpezialistInnen. Formen und Größe der urbanen Konglomerationen, das Ausmaß an Komplexität in der Ausdifferenzierung von Funktionen, das Spektrum der materialisierten Ausdrucksweisen des Miteinanders, die Formen der sozialen und politischen Ordnungssysteme, Normen und Werte und die Formen und Inhalte der spirituellen Welten sind zu allen Zeiten und in allen Regionen der Welt entsprechend den lokalen und regionalen Bedürfnissen und Möglichkeiten, Traditionen, Wünschen und Vorstellungen vom sog. Guten Leben entwickelt worden. Zugleich hat das globale Miteinander der Kulturen zu wechselseitigen Wissenserweiterungen, zur Beeinflussung des Blickwinkels, unter dem die Menschen die Welt wahrnehmen, und zur © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 42 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N 3.2 Urbanisierung und sozialer Wandel Urbanisierung und Machtentfaltung Prägung von Selbst- und Fremdsichten geführt, zu Fremdherrschaft, Unterdrückung und Gewalt ebenso wie zu vielfältigen neuen Entwicklungen und Lebensformen. Megacities vor 5.000 Jahren Im Jahr 2008 leben 50 % der Weltbevölkerung in urbanen Zentren. Vor ca. 5.000 Jahren war das Leben in der Stadt die Ausnahme. In dieser Zeit begann im Süden des heutigen Irak der Prozess, der aktuell in die genannte Bevölkerungskonzentration im urbanen Raum mündet. Uruk in Südmesopotamien (zur Lage s. Abb. 1.8) ist die Stadt, anhand derer pars pro toto zum einen die Vielzahl der komplexen Entwicklungen aufgezeigt bzw. modellhaft nachgezeichnet werden kann, die Urbanisierung im Übergang vom 4. zum 3. Jt. v. Chr. ausmachten und urbanes Leben bis heute prägen. Zum anderen sind es vor allem die umfassenden Ergebnisse der Ausgrabungen in Uruk, anhand derer die archäologische Forschung ihr Potential in der Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema „Urbanisierung“ aufzuzeigen vermag. Den aktuellen Stand der Aktivitäten des Uruk-Teams einschließlich der photographischen Dokumentation finden Sie auf der Internet-Seite: http: / / www.dainst.org/ index_2895_de.html (15.07. 2009). Anhand der materiellen Hinterlassenschaften aus Uruk wird versucht, nicht nur die Entwicklung der Ansiedlung Uruk zur Stadt nachzuvollziehen, sondern vor allem die Entwicklungen aufzuzeigen, die parallel zum Wandel in der Siedlungsweise in der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Organisation der jetzt urbanen Gesellschaft erfolgten. Mit Uruk erfasste die archäologische Forschung die erste urbane Ansiedlung weltweit, also das Neue schlechthin in der Siedlungsweise. Wie war dieses Neue ins Entstehen gekommen, wo lagen die Anfänge? Ein Forschungsthema, das bis heute nicht abschließend bearbeitet wurde und wohl nie abzuschließen sein wird. Wer an der Frage nach den Entwicklungsprozessen auf „dem Weg zur Stadt“ interessiert ist, befasst sich mit dem sog. Chalkolithikum, den Entwicklungen, die zwischen 6000 und 4000 v. Chr. im Gebiet des Nahen Ostens erfolgt sind. Hier interessiert insbesondere die Ausdifferenzierung von Macht im urbanen Uruk und die Möglichkeiten der archäologischen Wissenschaft, diesen Vorgang anhand der materiellen Belege nachzuvollziehen. Ferner wird es um die Frage gehen, warum der hier postulierte Prozess der Ausdifferenzierung verschiedener Machtinstanzen, die die Herrschaft anstrebten, erst im urbanen Umfeld der Urukzeit möglich und nötig geworden war und in welcher Weise © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 3 43 U R U K I N D E R U R U K Z E I T - L E B E NS - U N D H E R R S C H A F T S W E I S E N IM W A N D E L die nicht schriftlichen materiellen Belege auf der einen Seite und Texte auf der anderen diesen Prozess des sozialen und politischen Wandels erkennen lassen. Uruk in der Urukzeit - Lebens- und Herrschaftsweisen im Wandel: ein Modell Tiefgreifende Veränderungen in den Lebens- und Wirtschaftsweisen, ein Umbruch im politischen System und eine „Gesellschaft in Bewegung“ kennzeichnen die Situation der sog. urukzeitlichen Gesellschaft Südmesopotamiens im Übergang vom 4. zum 3. Jt. v. Chr. Mit Uruk, dem biblischen Erech (1. Mose 10,10), entstand die erste „Großstadt“ in Mesopotamien. Eine exzellente Internet-Seite mit einer komplexen Vielfalt an Informationen über Uruk finden Sie unter: http: / / ecai.org/ iraq/ sitename.asp? siteid=20 (11.06.2009). Stadtmauer Stadtmauer Akitu-Haus EANNA Mithraeum Anu-Ziqqurat KULLABA Weißer Tempel Sinkašid-Palast Bit-Reš Uruk-IV- Gebäude Karaindaš-Tempel Inanna-Ziqqurat Irigal Gareus-Tempel Für unsere Betrachtung sind zwei Stadtbezirke von Interesse: Der Kultbereich der Stadtgöttin Inanna, die im Zentrum Eanna verehrt wurde, und der südwestlich von diesem gelegene Kultbereich des Stadtgottes An. Die Stadt war auf flachem Gelände errichtet worden, von einer massiven Stadtmauer umgrenzt und umfasste in ihrer größten Ausdehnung zur Urukzeit 50 Hektar. Die topographischen Verhältnisse dürften die Ziqqurrat des An, den Stufenturm, als außerordentliches Bauwerk weithin sichtbar gemacht und diesem die Funktion einer „Landmarke“ zugeschrieben haben. 3.3 Abb. 3 . 1 Stadtplan von Uruk © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 44 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N Urbanisierung und funktionale Spezialisierung 3.3.1 Siedlungsgröße, Raumgestaltung und Monumentalarchitektur lassen unter allen Anwärtern für das Prädikat „erste Stadt“ Uruk als Protagonisten der urbanen Entwicklung hervortreten. Mit der urbanen Lebensweise etablierten sich sowohl ein neues politisches System als auch eine neue Organisationsweise der Gemeinschaft, die im urbanen Zusammenhang anderen Regeln folgte als im dörflichen Verbund. Neue Funktionen, d. h. funktionale Spezialisierungen, die erstmals im Umfeld einer Stadt notwendig und sinnvoll wurden, entstanden und wurden in institutionalisierter Form zu wirkungsmächtigen Instanzen im urbanen Miteinander. Um die Prozesse der Stadtentwicklung nachzuvollziehen und die sozialen Folgen und Auswirkungen zu erklären, die die Urbanisierung im Alten Orient nach sich zog, greift die Vorderasiatische Archäologie auf die Forschung der benachbarten Sozial- und Raumwissenschaften zurück. Der archäologischen Forschung kommt hier die Aufgabe zu, die in rezenten Kontexten gewonnenen Erkenntnisse auf ihre Übertragbarkeit in andere gesellschaftliche Zusammenhänge zu überprüfen und die Forschung der Stadtgeographie, der Stadtethnologie und der Stadtsoziologie für die Erläuterung urbaner Entwicklungen im Alten Orient fruchtbar zu machen. Über die vielfachen Neuerungen und die veränderten funktionalen und organisatorischen Ansprüche der Gemeinschaft entwickelten sich neue, machtvolle Gruppen, die sich nicht mehr primär aus den traditionellen Elitekreisen des Kultbereiches rekrutierten. Neue Ausdrucksformen und neue Symbole der Herrschaft und des sozialen Miteinanders kamen auf, die gleichermaßen Ausdruck der Welt- und Selbstsicht der Herrschenden wie auch „Identifikationsangebot“ an die soziale Gemeinschaft waren. Die Mächtigen präsentierten sich auf Siegelbildern, reliefierten Gefäßen und weiteren Bildträgern ebenso wie in der Gestaltung der baulichen Strukturen, die das Zentrum von Uruk prägten. Aus einem frühen numerischen Notierungssystem entwickelte sich die Keilschrift und damit erstmals ein Aufzeichnungsinstrument für Sprache. Mit den Bauten, Bildern und Texten wurden Medien der nonverbalen Kommunikation gezielt politisch eingesetzt, um das zunehmend anonyme Miteinander sinnvoll zu organisieren. Erstmals erfolgt eine systematische, auf Handel beruhende Expansion der urukzeitlichen Kultur bis in den Iran, nach Syrien und in die Türkei, zugleich hatten die Vorgänge in Wirtschaft und Verwaltung eine Komplexität erreicht, die allein über mnemotechnische Maßnahmen nicht mehr bewältigt werden konnte. Raumplanung, Architektur Wie oben schon erwähnt, charakterisieren zwei Kultbezirke, den Gottheiten An und Inanna geweiht, die Stadt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 3 45 U R U K I N D E R U R U K Z E I T - L E B E NS - U N D H E R R S C H A F T S W E I S E N IM W A N D E L Die männliche Gottheit An war die Stadtgottheit von Uruk, Inanna seine Tochter. Mit ihren monumentalen Tempel- und Verwaltungsbauten, in Größe, Bau- und Planungsaufwand einzigartig, stellte Uruk eine Stadt ohne Vorläufer und zugleich ohne zeitgenössisches Ebenbild dar. Die Stadtgeschichte und hier vor allem die Entwicklungsgeschichte des Kultzentrums Eanna, des Bezirkes in Uruk, der der Stadtgottheit Inanna geweiht war, spiegelt dramatisch das Ringen um Vormacht und Herrschaft zweier Mächte wider, illustriert Konkurrenz, Aufstieg und Niedergang zweier Machtgruppen, die um die Herrschaft konkurrierten und im Umgang mit der Tradition als maßgeblichem Parameter in der Demonstration der jeweiligen Stellung unübersehbar zu nutzen wussten. Baugeschichte als Spiegel der Geschichte von Macht und Herrschaft und als Ausweis des Ringens um die Dominanz im Gemeinwesen der ersten Stadt sind unübersehbar in Uruk abzulesen. Das Machtzentrum Eanna von Uruk - Der Befund Das Zentrum von Uruk, Eanna, erfuhr in den Schichten Uruk VI-IV (ca. 3500-3000 v. Chr.) mehrere große Umbauten, die in jeweils neuen Raumordnungen münden. Die Vorlage für Abb. 3.2, den schematischen Übersichtsplan über die Bauentwicklung finden Sie in Michael Roaf 1990, S. 63. Kalksteintempel Great Hall Mosaic Court 3.3.2 Abb. 3 . 2 Die Bauentwicklung des Eanna-Kultbezirkes in Uruk zur Urukzeit © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 46 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N Mit Schicht Uruk VI wird im Eanna, dem Kultbezirk der Stadtgöttin Inanna, eine übergeordnete Bauplanung sichtbar, die in der Errichtung und Gestaltung eines Zentrums von bis dahin unbekannter Monumentalität mündete. In den Schichten VI und V entstanden zunächst der sog. Steinstifttempel (VI) und der Kalksteintempel (V), für Form und Typ des letztgenannten sind Vorläufer aus der vorhergehenden Epoche, der Ubaidzeit, bekannt, der in Uruk errichtete Bau war aber ca. 7-mal so groß wie seine Vorgängerbauten etwa in Eridu und in Tepe Gawra in Nordmesopotamien. In Schicht IVc kamen die Tempel F, G, H hinzu, in IVb der Tempel A, alle in Typ und Bauprinzip dem Kalksteintempel entsprechend - langrechteckig, durchlässig, geprägt durch den Mittelsaal mit und ohne Kopftrakt und die links und rechts des Mittelsaals liegenden Raumreihen. Einige Hofkomplexe und Hallenbauten ergänzen das Bild. Als letzter Bau der Schicht IVb entstand das sog. square building mit 60 m Seitenlänge, das in seinem Grundriss von allen anderen Bauten abwich und als Bautyp singulär war und blieb. In Schicht IVb traten zudem erstmals die Siegel auf, die den sog. Mann im Netzrock als den für alle politischen Belange des Gemeinwesens Zuständigen in vielfältigen Handlungszusammenhängen abbilden. Nach einer gewissen Zeit, deren Dauer absolut bisher nicht bestimmt ist, wurden die geplant errichteten Bauten des Kultzentrums abgerissen, mit einer Ausnahme: dem square building. Eine Neuplanung des Eanna- Bezirkes begann und führte in Schicht IVa zu einer Gesamtanlage, deren Ausmaß in Monumentalität und Bauaufwand ohne Vorbilder war und auch später nicht mehr erreicht wurde. Nach und nach entstanden als die wesentlichen Bauten der Tempel C, in Bautyp traditionellen Vorbildern folgend, der Hof mit den Stiftmosaiken (s. Abb. 3.2, Mosaic Court) und die sog. Große Halle (s. Abb. 3.2, Great Hall). Das square building bildete zunächst einen integralen Bestandteil dieser neue Raumordnung. Im Verlauf der Schicht IVa musste der Bau dann aber zugunsten eines neuen Kultbaus, der nach traditionellem Zuschnitt errichtet war, weichen. Tempel D entstand. In seinen Maßen, 83 m × 55 m, und im Bauaufwand blieb Tempel D einzigartig und übertraf alle bis dahin bekannten Gebäude im Eanna. In Grundriss und Bautyp dagegen entsprach er ganz den traditionellen Kult- und Repräsentationsbauten. In Schicht IVa traten zudem die ersten Belege für das neue Schriftsystem auf, das mit Zahl- und Bildzeichen arbeitete und Tontafeln verwendete (siehe Abb. 1.6 und 1.9). Die Schicht IVa endet mit dem erneuten Abriss der gesamten Anlage. Es folgt eine weitere völlige Umgestaltung des Bezirkes in der nachfolgenden Periode (der Abb. 3 . 3 Der sog. Mann im Netzrock auf einer urukzeitlichen Siegelabrollung © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 3 47 U R U K I N D E R U R U K Z E I T - L E B E NS - U N D H E R R S C H A F T S W E I S E N IM W A N D E L 3.3.3 politische Dimension von Kontinuität und Veränderung sog. G ˇ amdat-Nasr-Zeit), die vor allem durch das Fehlen der monumentalen Tempelanlagen gekennzeichnet ist. Zur Stadt- und Architekturentwicklung siehe en Detail Heinz 2005 und Heinz 2006. Uruk - Raumordnungskonzepte als Medien der materialisierten Erinnerung Der Gestaltung des Zentrums von Uruk in den hier interessierenden Schichten VI-IV wurde große Aufmerksamkeit geschenkt. Raumordnung als Symbol der Macht - mit diesem Parameter gingen die Erbauer des Eanna in allen Planungsstadien offensiv um, erkennbar an den jeweils klaren Vorgaben der planenden Instanzen. Diese präsentierten sich zum einen über ein Bauprogramm, das auf traditionell bekannte Architekturformen zurückgriff, diese u. a. durch Größe und Bauaufwand modifizierte und über diese Modifikation eine eigene, die Herrschaft der Uruk-Regenten auszeichnende Architektursymbolik und -sprache prägte. Zum anderen stellten die Herrschenden den schon bekannten Bauformen vor allem mit dem square building eine neue Gebäudeform zur Seite und verwiesen damit explizit auf den Beginn einer neuen „Architekturtradition“. Dem Neuen war aber letztlich kein Bestand auf Dauer gewährt. In das kulturelle Gedächtnis ging statt dessen dauerhaft der Tempel D ein, wohl nicht zufällig ein Gebäude traditionellen Zuschnitts, das ungeachtet seiner traditionellen Bauweise in Größe und Bauaufwand alle bis dahin im Eanna errichteten Bauten bei weitem übertraf. Was also materialisiert erinnert wurde, unterstand der sorgfältigen Kontrolle der für die Raumplanung Zuständigen. Während Bauzustand IVb/ IVa zunächst durch das Nebeneinander von modifizierter Tradition und Neuem hervortrat, wurde im Verlauf der späteren Bauphase IVa das Neue ausgelöscht und die Repräsentation der Macht auf das Prinzip der Tradierung der Traditionen konzentriert. Von Planungszustand zu Planungszustand prägten Alternativen zur jeweils früheren herrschenden Ordnung den Raum - und wo Alternativen zur herrschenden Ordnung im Materiellen auftreten, kann man von alternativen Vorstellungen in den Köpfen derer ausgehen, die diese alternativen Ordnungen „gebaut“ haben. Die jeweils für die Bauplanung Zuständigen präsentierten ihre Sicht auf die Welt und die herrschende Ordnung also mit jeweils eigenen, voneinander abweichenden Bauprogrammen. Die Repräsentation der Macht erfolgte nicht ausschließlich über Kontinuität und Ähnlichkeit, sondern auch über die Distanzierung und Absetzung im Formalen. Zwei voneinander abweichende Prinzipien bildeten in Uruk die Grundlage der Repräsentation, die sich vor allem durch ihren Umgang mit den Traditionen unterschieden. In dem spezifischen Zugriff auf die Traditionen liegt u. a. unsere Annahme begründet, dass hinter dem formal Anderen das Wirken einer neuen Machtelite zu sehen ist und nicht die Innovationen einer traditionellen Elite, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 48 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N 3.3.4 politische Botschaft des gebauten Raumes die ihrerseits neuen Erfordernissen des urbanen Miteinanders Rechnung trug. Wirkungsmacht räumlicher Ordnung und ihre Instrumentalisierung durch die Mächtigen „We must be insistently aware of how space can be made to hide consequences from us, how relations of power and discipline are inscribed into the apparently innocent spatiality of social life, how human geographies become filled with politics and ideology.“ (Soja 1989: 6, zitiert nach Keith/ Pile 1993: 4). „Space“, so die Ausführungen von Keith und Pile weiter, ist „both the medium and the message of domination and subordination […]. It tells you where you are and it puts you there“ (Keith und Pile, 1993: 37). Architektur und Raumordnung, so kann hinzugefügt werden, wirken im gesellschaftlichen Zusammenhang dialektisch. Sie beeinflussen die Wahrnehmungsweisen, das Denken und Handeln der Menschen, und zugleich prägt der Mensch seinerseits die räumliche Ordnung mittels seiner Bauten und Eingriffe in die Umwelt. Über die Aktion im Raum trägt so der Mensch selber zur Reaktion des Menschen auf den Raum bei. In dieser Wirkungsmacht liegt der potentielle Nutzen von Architektur und Raumordnung für die Mächtigen, und in diesem Nutzen finden Architektur und Raumordnung in der Repräsentation der Mächtigen ihren Platz. Die Repräsentation der Regierenden und der Herrschenden soll die von den Eliten präferierten Sicht- und Wahrnehmungsweisen der Welt und des Miteinanders „gesellschaftsfähig“ machen, soll die BetrachterInnen über die Repräsentationen an sich binden, Identitäten prägen, Loyalitäten aufbauen und die Legitimation der herrschenden Verhältnisse sowie der Ordnungsvorstellungen der Herrschenden sichern. Ein wesentliches Element auf dem Weg zum politischen Erfolg dürfte dabei die materialisierte Erinnerung gewesen sein, die von der Gegenwart, und je nach Intentionen der Mächtigen durchaus über ihren Bezug zur Vergangenheit, auf die Zukunft hin dauerhaft zuverlässig und positiv konnotiert an die Erfolge der Auftraggeber, der Herrschenden und der Regierenden erinnert. Das Sichtbarmachen eines erfolgreichen politischen Handelns erfolgte über die Medien, über deren Einsatz sich die Herrscher vor allem nonverbal, gemeint ist „nicht direkt, nicht von Angesicht zu Angesicht“, sondern indirekt artikulieren konnten. Dafür standen den Herrschenden ab der Urukzeit, d. h. erstmals im Kontext der urbanen Entwicklung, Bauten, Bilder und Texte zur Verfügung. Wo es also in der Hand der Herrschenden lag, von ihrem Tun zu künden und ihr (vermeintlich) erfolgreiches Gemeinschaftshandeln dinglich zu manifestieren, gaben sie mit ihren Bauten, der Raumordnung, Bildern und Erzählungen - aus ihrem Blickwinkel - Geschehenes als konkretes Ereignis wieder, positiv konnotiert und in seinen positiven Auswirkungen auf und für © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 3 49 U R U K I N D E R U R U K Z E I T - L E B E NS - U N D H E R R S C H A F T S W E I S E N IM W A N D E L nonverbale Botschaften divergierende Raumordnung - Vielfalt sozialer und politischer Ordnungen die Gemeinschaft deutlich erkennbar. Ihren u. a. propagandistischen Zweck sollten diese Medien auch in den altorientalischen Gesellschaften nicht verfehlen und das, was an Aussagen jenseits des direkt Sicht- und Greifbaren dennoch Teil der Geschehens war, den Betrachtenden nahe bringen. Die BetrachterInnen mussten glauben können (und wollen), was sie sahen. Per Visualisierung und Textualisierung sollte sich eine soziale Gemeinschaft bilden, das Betrachten des Visualisierten und das Lesen und Hören des Textualisierten den Eindruck der rechten Herrschaft, die die Ordnung sichert und für das gute Leben sorgt, fest im Gedächtnis der Angesprochenen verankern. Das Anstreben dauerhafter Erinnerung und Sichtbarkeit lässt zugleich die Ambivalenz vor allem von Architektur und Raumordnung als Symbol der Macht aufscheinen: Gebaute Umwelt als Medium der Mächtigen manifestiert die „Macht der Herrschenden“ unübersehbar, ebenso unübersehbar aber, wie sie das Wanken und Scheitern der „herrschenden Ordnung“ dokumentiert. Die Schichten Uruk VI-IV, so die These hier, illustrieren dies - und dokumentieren über die Wirkungsmacht des sichtbar Erinnerten sowohl den Aufstieg als auch den Fall der Mächtigen. In der nachfolgenden Betrachtung des Geschehens gehen wir also davon aus, dass Raumordnungen Aspekte der jeweils herrschenden Ordnung widerspiegeln. Diese Annahme fußt auf den Erkenntnissen der Herrschafts- und Architekturforschung, die besagen, dass Macht, wo möglich, stets die bauliche Gestaltung des Raumes zur Repräsentation und darüber zur Festigung der Herrschaft nutzte. Wo die Raumordnung, wie hier postuliert, Aspekte der Selbst- und Weltsicht der Herrschenden reflektiert, darf, wie oben schon einmal angedeutet, zudem vermutet werden, dass die z. T. erheblich divergierenden Raumordnungen den Selbstdarstellungen entsprechend divergierender Interessensgruppen entsprochen haben. In der Gestaltung des Eanna nahm der Umgang mit den architektonischen Traditionen jeweils situationsspezifische und den Intentionen der Erbauer angepasste Formen an. Indem sich die Erbauer in die Tradition einer Gemeinschaft stellten bzw. sich von dieser ab- und dem Neuen zuwandten, trafen sie zugleich eine politische Aussage, die ihre Verbundenheit mit bzw. ihre Distanz zu bestimmten Überlieferungen vor Ort beleuchtete. Das Verhalten zu den Traditionen, so die These hier, informiert u. a. über das Umfeld, aus dem die Erbauer des Eanna stammten. Der historische Kontext der Planungen des Eanna, der Urbanisierungsprozess, bot spezifische Konditionen für den strukturellen Wandel der herrschenden Ordnung, der auch die Zugangsmöglichkeiten zu machtvollen Positionen in der Gemeinschaft veränderte. Neue Gruppierungen, die nicht zu den „traditionellen“ Eliten gehörten, erhielten die Chance, im Spektrum der Erfordernisse, die das urbane Leben an das Miteinander stellte, einflussreiche Positionen zu erlangen, die auch den Weg zur Herrschaft öffnen konnten. Die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 50 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N konkurrierende Mächte - konkurrierende Vorstellungen 3.3.5 Raumplanung im Eanna, so die dritte These, hat den Zugang neuer Gruppen zur Macht deutlich werden lassen. Divergierende Raumordnungen stehen - so der rote Faden hier - als Indikatoren für divergierende Vorstellungen auch von sozialer und machtpolitischer Ordnung. Bauformen und die Gestaltung des Raumes folgen nicht nur den primären Funktionen gebauter Ordnung. Materialisierte Ordnungsvorstellungen stehen vielmehr für verschiedene Interessensgruppen, so auch in Uruk, die aufgrund der spezifischen Umstände zur Urukzeit ihre divergierenden Raum- und Ordnungsvorstellungen jeweils zu verwirklichen und sich darüber als die „Macher“ an der Spitze der jeweils herrschenden Ordnung zu präsentieren vermochten. In Uruk hatte sich zur Urukzeit eine Konkurrenz zwischen kultischer und weltlicher Elite entwickelt. Die jeweils herrschende Ordnung fand materiell in der Raumgestaltung des Eanna ihren Niederschlag. Exemplarisch soll dies an der Umbruchsituation Uruk IVb aufgezeigt werden. Das square building entstand, das Gebäude, das in der Form mit den Traditionen in Uruk brach und mit dessen Errichtung das Neue in der politischen Ordnung der Stadt und die Neuen an der Spitze dieser Ordnung unübersehbar wurden. Mit der Gestaltung der Architektur und Raumordnung stellten die „Neuen“ ihre Symbole der Macht neben die der alten Ordnung und präsentierten sich so gleichermaßen als Wahrer der Tradition und der göttlichen Ordnung wie auch als Neuerer. Der Erinnerung an die „alte“ Ordnung und damit auch an die Existenz der machtvollen Konkurrenz wurde explizit und weithin für jedermann sichtbar Raum eingeräumt. Ungeachtet der Veränderungen, die die baulichen Zeugnisse des religiösen Lebens erfahren hatten, suggerierte die neue gebaute Umwelt, dass die „Welt der Götter“ und die von den Göttern bestimmten Ordnungen den Wandel, der im sozialen und politischen Feld der Stadt Uruk stattgefunden hatte - und den die neue Raumordnung reflektiert - „soweit sichtbar“ offenkundig unversehrt überstanden hatte. Mit dieser unübersehbaren Dokumentation der Wahrung religiöser Traditionen und der Integration der religiösen Symbolik der Vergangenheit in das politische Handeln der urukzeitlichen Gegenwart präsentierten sich die Herrschenden, die Erbauer des square building, über die Architektur zugleich als Neuerer und als Bewahrer der von den Göttern bestimmten, traditionellen Ordnung - und dies in einer historischen Konstellation, in der von weitreichenden Veränderungen der gesellschaftlichen und politischen Ordnung auszugehen ist. Uruk, die Entwicklung der Schicht IV Die Raumordnung im Eanna von Schicht VI-IVa (ca. 3300-3000 v. Chr.) prägte, wie oben aufgezeigt, das Nebeneinander von Alt und Neu, interpretiert als das Ergebnis des politischen Handelns einer neuen Macht, die ihre Sicht auf die Welt zumindest zeitweise in Bauten und Bildern hatte in den © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 3 51 U R U K I N D E R U R U K Z E I T - L E B E NS - U N D H E R R S C H A F T S W E I S E N IM W A N D E L Baugeschichte: Ausdruck symbolischer Repräsentation Vordergrund stellen können. Zur Zeit der Schicht IVa wurde das square building abgerissen, später dann in IVa der monumentale Tempel D, ein Gebäude mit traditionellem Grundriss, aber größer und monumentaler als alles zuvor Gebaute in Eanna, auf dem benachbarten Baugrund errichtet. Baulich wird mit dieser Aktion die Erinnerung an das „Neue“ in Uruk ausgelöscht, eine Gegenbewegung gleichsam zum vorausgegangenen Wandel in den Schichten VI-IVa, dem jetzt die vorrangige Betonung des Traditionellen folgt. Dass die ehemals „Neuen“ Altes neben Neuem akzeptiert hatten, wurde oben als geschickt kalkulierter Umgang mit den Traditionen interpretiert. Der Verzicht auf den Bruch mit dem Gewohnten kann nun unter Berücksichtigung der Baugeschichte der Schicht Uruk IVa aber auch anders interpretiert und als das Verdecken einer politischen Schwäche des Systems gesehen werden, das den Prozess des Wandels in einem der wichtigsten Gebiete der Identitätsstiftung und der Stabilisierung der herrschenden Ordnung nicht hatte durchführen können und deshalb die Tradierung der „alten“ Ordnung als Ergebnis des aktiven Handelns der Herrschenden dokumentieren musste (nach dem Motto: aus der Niederlage einen Sieg machen). Wenn wir der Baugeschichte des Eanna folgen und diese als symbolische Repräsentation der Entwicklung der herrschenden Ordnung akzeptieren, dann hatte sich die „neue“ Macht in Uruk nicht dauerhaft als die dominante Kraft etablieren können. Mit der Errichtung des monumentalen Tempels D im späteren Verlauf der Schicht Uruk IVa setzte sich vielmehr die Stärke der religiösen Tradition und der alten Elite durch, die die Tradierung der traditionellen symbolischen Formen auch über das Intermezzo des Wandels hinaus hatten sichern können. Eine sichtbare Anbindung an die Zeugnisse der jüngeren Geschichte war für die Repräsentation dieser Elite nicht von Nöten und die jüngere Bautradition offenkundig nicht in dem Maße positiv konnotiert, dass sie für die Stabilisierung der Verhältnisse gegen Ende der Phase Uruk IVa hilfreich gewesen wäre. Wo Wandel eintritt und sich die „neue“ alte Macht, wie in dieser späten Phase der Schicht Uruk IVa dokumentiert, nicht mehr über eine gemeinsame Vergangenheit und Tradition mit ihren Vorgängern legitimieren kann und/ oder will, konnte sich gerade die Erinnerung an das Vergangene zum gravierenden Nachteil bei der Etablierung einer neuen herrschenden Ordnung auswirken. Der Abriss des square building war vor diesem Hintergrund zwingend. Das Ausblenden der jüngeren Vergangenheit und die Monumentalität des neu gebauten Tempels erinnern an den Ausspruch Papst Nikolaus V. (15. Jh.) in Rom, dem Bauherrn und Neugestalter des Vatikans, der über den Sinn des Bauens dort verlautbaren ließ, er habe die monumentalen Bauten errichten lassen „gegen Feinde von außen und gefährliche Neuerer im Innern“ (zitiert nach Kündiger 2001: 25) - Bauen als Warnung und Erinnerung! Die Einbettung von Tradition in die Repräsentation der Macht war also ein ambivalentes Unterfangen. Die Herrschenden hatten (und haben) von Fall zu © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 52 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N 3.4 das „Andere“ und die Raumordnung Fall zu entscheiden, ob es der Umsetzung der politischen Intentionen und der Repräsentation dienlich war, Traditionen aufzunehmen und fortzuführen, zu modifizieren oder diese zu brechen und durch neue (oder neue alte …) Traditionen zu ersetzen. Der Umgang mit der Tradition war von jeher manipulativ, je nach Situation und Bedarf wurde die „Geschichte“ der eigenen Herkunft und der herrschenden Ordnung aufgezeigt, unterdrückt, konstruiert und/ oder erfunden. Tradition, Raumgestaltung und die Symbolik einer neuen Macht Tradition, d. h. die gemeinschaftliche Weitergabe gesellschaftsrelevanter Sachverhalte, konstituiert Gemeinschaft, schafft Identitäten und vermittelt Hoffnung auf bzw. erlaubt und ermöglicht Zugehörigkeit ebenso, wie sie diese potentiell auszuschließen vermag. Tradition suggeriert einer Gemeinschaft Kontinuität und Stabilität in ihrer Existenz. Sie verspricht Ordnung und leistet Orientierungshilfe im Umgang miteinander. Tradition verpflichtet und ist normativ. Die Normativität und „Geschichtlichkeit“ von Traditionen lässt Macht als „natürlich“ erscheinen. Breuer umschreibt in seiner Studie zur Herrschaftssoziologie Max Webers die Normativität von Tradition (1991: 74) als „Reflexionssperre, die die Ordnung im Ganzen als nicht disponibel erscheinen lässt“. Die Annahme, dass Gemeinschaftsmitglieder, die von einer Tradition profitieren, für den Erhalt dieser Tradition Sorge tragen werden, impliziert, dass es zugleich in allen Gesellschaften Individuen wie Gruppen gibt, für deren Leben die gemeinschaftskonstituierenden Traditionen nicht förderlich sind, die also in ihrer Existenz oder in der Umsetzung ihrer Interessen gerade deshalb nicht gesichert sind, weil die Traditionen Ordnungen zementieren, von denen sie nicht profitieren. Das „Andere“ in der Raumgestaltung steht für „die Anderen“ an der Spitze des Gemeinwesens, für die die Tradierung der Tradition allein kein förderliches Mittel auf dem Weg zur Macht oder zur dauerhaften Erinnerung an ihre Herrschaft war, die aber um die Traditionen vor Ort - und deren Wirkungsmacht - wussten, diese mit den positiv konnotierten Modifikationen geschickt in ihre Repräsentation integrierten und dennoch mit der Errichtung des square buildung das Neue, nämlich ihre Herrschaft, unübersehbar machten. Dem „richtigen“ Umgang mit den Traditionen kam also wesentliche Bedeutung auf dem Weg zum Erfolg zu - die Erbauer des Neuen, des square building, hatten diesen Zusammenhang offensichtlich erkannt, ebenso wie die später für dessen Abriss Verantwortlichen. Indem sie das Neue an die Seite des Bewährten stellten, verschafften sie dem Neuen Akzeptanz und nahmen ihm zugleich das potentiell Bedrohliche. Als neue Ordnungsmacht griffen sie auf Symbole einer vermeintlich gemeinsamen Vergangenheit zurück, verankerten so die Gegenwart und die neue herrschende Ordnung in der Vergangenheit und versprachen über die Wahrung der Tradition eine gesicherte Zukunft. Ob © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 3 53 T R A D I T I O N , R A U MG E S TA LT U N G U N D D I E S Y M B O L I K E I N E R N E U E N M A C H T die Anbindung der neuen Ordnung an die Vergangenheit und das Gewohnte dabei Konstruktion und geschickt dargestellte Fiktion oder Realität war, dürfte weniger bedeutsam gewesen sein. Im Vordergrund, so die These hier, stand das Anliegen der neuen Mächtigen, über die Manifestation des Neuen und die Modifikation des Traditionellen die neue herrschende Ordnung sichtbar werden zu lassen, in der die traditionell gegebene Macht der religiösen Eliten über die Kultbauten (scheinbar) nicht negiert, dieser aber mit der Errichtung des square building offensiv und unübersehbar das Symbol einer neuen Macht zur Seite gestellt wurde. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 55 Inhalt 4.1 Machtwechsel im Kontext urbaner Entwicklung und die Auswirkungen auf die Gestaltung des Raumes 56 4.2 Bild und Macht 57 4.3 Konkurrierende Mächte zur Urukzeit? - Texte und ihre Hinweise auf die herrschende Ordnung 62 4.4 Raumordnungen und konkurrierende Mächte: Texte - Bilder - Raumstruktur 63 4.5 Fazit: Architektur und Macht 64 4.6 Noch einmal zurück zum Thema Kommunikation 65 4.7 Schreiben will gelernt sein - und Lesen auch 65 4.8 Bilder im urbanen Raum 69 4.9 Gebauter Raum - urbaner Kontext 71 4.10 Weiterführende Literatur 72 Einheit 4 Megacities - das Stadtleben fing in Uruk an (Teil 2) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 56 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N 4.1 Ordnung des gebauten Raumes Machtwechsel im Kontext urbaner Entwicklung und die Auswirkungen auf die Gestaltung des Raumes Die Annahme, dass hinter der Abwendung von den Traditionen bzw. der Modifizierung des Traditionellen das Auftreten einer neuen Gruppierung im Kreis der Mächtigen von Uruk und der Siedlungen in der Peripherie zu vermuten ist (die mit Hilfe der Siegelbilder und der Textaussagen als „weltliche Macht“ zu apostrophieren ist), findet theoretisch Unterstützung in den Studien der Stadtsoziologie, die sich mit den Entwicklungspotentialen von Macht und Herrschaft in urbanen Kontexten befassen. Im Zusammenhang urbaner Entwicklung, so die Ergebnisse dieser Forschung, erhalten neue soziale Gruppen die Chance, aufgrund gefragter Fähigkeiten zu neuen Formen der Macht und darüber mitunter sogar der Herrschaft zu gelangen. Erst die Stadt als Schmelztiegel heterogener Bevölkerungen ermöglichte es, dass sich über die Vielfalt der funktionalen Differenzierungen und der religiösen und kulturellen Spezialisierungen Gruppen herauskristallisierten, die ihre Mitglieder zunehmend nach identischen Kriterien wählten wie etwa Religion, Beruf oder ethnische Zugehörigkeit. Das heißt zugleich, dass nicht mehr, wie im dörflichen Verbund, als primär maßgeblicher Parameter der Zugehörigkeit zu einer Gruppe die familiär-verwandtschaftlichen Beziehungen galten. Aus diesen funktional spezialisierten Gruppenverbänden konnte den Herrschenden, je nach den gegebenen Umständen, erhebliche Konkurrenz erwachsen, oder, wie von M. Smith formuliert „Such associations allow a restructuring or recreation of power relations within a city, whether created as a guild, cooperative, neighbourhood association, religious group, or other voluntary society. The opportunity for nonelites to participate in alternative sources of authority making-structures draws a large number of people into these groups, whether they seek to be selected for office, or merely seek „the authority that derives from the ability to define ’who their associates will be‘.“ Once formed, an association can wield more influence than individual members, allowing it to act on behalf of members who seek to maintain or expand their ability to appropriate ressources“ (Smith 2003: 17). Dass Uruk im Prozess der Stadtwerdung (und als Zentrum der Handelsexpansion) eine Vielzahl entsprechender Gelegenheiten zur funktionalen Spezialisierung und darüber zur Ausbildung funktional spezialisierter Gruppen bot, zeigen die materiellen Belege, das Aufkommen der Schrift und die mit ihrer Verwendung verbundene komplexe Wirtschaftsverwaltung ebenso wie die Nutzung geographischen Wissens für die Expansion und das exterritorial ausgelagerte Wirtschaftsgeschehen in den Peripherien und auch für die nur zu häufig mit den Expansionen verbundenen militärischen Aktivitäten. Bereiche also, die gesellschaftsrelevant und für das Prosperieren der Stadt Uruk von © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 4 57 B I L D U N D M A C H T 4.2 Belang waren und aus denen sich potentiell die VertreterInnen rekrutieren konnten, die über ihre Spezialisierung auf diesen Gebieten die Chance zur Macht und zur Herrschaft ergriffen und mit der Gestaltung des Eanna wie der peripheren Siedlungen sichtbar gemacht hatten. „Group investments in authority have an impact on the physical layout of the city as well as on members’ social identity and economic success“ (Smith 2003: 17). Die Umsetzung der sozialen und machtpolitischen Verhältnisse in der Raumordnung von Uruk und in den Siedlungsplänen der Enklaven dürfte dem entsprochen haben. Enklaven - mit diesem Terminus bezeichnet die Urukforschung die Handelsniederlassungen und Umschlagplätze, die im Rahmen der Urukexpansion vor allem entlang dem Euphrat gegründet worden waren. Das System der „Enklaven“-Verbreitung und die Ordnung und Systematik dieser Siedlungsgründungen, die fern von Uruk den Handel Uruks sicherten, wurde von G. Algaze 1993 in seiner Studie zum „Uruk-World-System“ erarbeitet. Dass der sichtbaren Repräsentation der (noch) Herrschenden potentiell die ebenfalls sichtbare Repräsentation der schon machtvoll werdenden Gruppierungen gegenüber - bzw. wie im Fall von Uruk zur Seite - treten konnte, scheint sowohl den Erbauern des square building als auch denen, die für seinen Abriss verantwortlich waren, bewusst gewesen zu sein. Bild und Macht Der rote Faden, dem die Interpretation der Raumordnung von Uruk und den Siedlungen in den Peripherien folgt, besagt, dass Raumordnung und herrschende Ordnung eng miteinander verbunden und Wandel in der Raumordnung auf einen Wandel in den dafür verantwortlichen Gruppierungen zurückzuführen war, die sich wiederum aus unterschiedlichen funktionalen Kontexten rekrutierten. Diese Annahme, dass es über die Ausbildung funktionaler Spezialisierung in Uruk bzw. in der Urukzeit zur Ausdifferenzierung verschiedener Machtsphären (weltlich versus kultisch-religiös) und letztlich zur Konkurrenz diverser Gruppen um die Herrschaft kam - neu, so das Postulat hier, die Gruppe derer, die sich vom traditionellen Bauen ab- und mit der Errichtung des square building einer neuen „Tradition“ zuwendet und sich mit dieser Maßnahme als machtvolle Instanz neben der traditionell machtvollen religiösen Elite positioniert - gewinnt an Überzeugungskraft, wenn wir zwei weitere Quellen aus Uruk bzw. dem Umland der Stadt zur Interpretation der Machtverhältnisse heranziehen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 58 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N politische Ikonographie die Wirkungsmacht der Herrschaftssymbolik In den altorientalischen Gesellschaften wurden Urkundentexte, Verträge, Briefe, aber auch Gegenstände, vor allem Behälter jeder Art und Türen, gesiegelt, bei letzteren heißt dies, sicher verschlossen. Die Siegel, zu dieser Zeit Rollsiegel (kleine Steinwalzen), trugen Bilder, später auch Schriftzeichen. Bilder und Schrift konnten den oder die AbsenderIn benennen, den Inhalt des versiegelten Behälters deklarieren oder eine Angabe zum Adressaten enthalten, der den versiegelten Behälter oder die gesiegelte Urkunde, den Vertrag oder Brief erhielt. Um welche Art von Information es sich im Einzelnen jeweils gehandelt hat, kann in der Regel nur dem Kontext entnommen werden. Zu allen Zeiten benutzten die Eliten Siegel, um sich u. a. in ihren Funktionen und Ämtern darzustellen und sich in den administrativen, kultischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen, in denen Siegel eingesetzt wurden, gleichsam unübersehbar zu machen. Die urukzeitlichen Siegelbilder dokumentieren ab Schicht IVb, der Schicht also, in der das square building entstand, das als einziges Gebäude den späteren systematischen Abriss aller anderen Bauten der Schicht IVb überlebte, den sog. Mann im Netzrock (siehe Abb. 3.3), einen „omnipräsenten“ Herrscher, der als Krieger, als Sieger über menschliche Feinde, als Kämpfer gegen die Bedrohungen aus der Natur, als Ökonom, der sich um die Pflanzen- und Tierwelt und damit symbolisch um die Grundbelange der Subsistenzsicherung kümmert und auch als Priester in kultischen Aktivitäten gezeigt wird. Eine Instanz also, in der sich weltlich-politische und kultische Kompetenz in einer Person oder besser in einem Amt vereinte. Eine empfehlenswerte Einführung in die Welt der Siegel - lesen Sie D. Collon, Near Eastern Seals, 1990. Vom Einfluss einer weiteren, primär religiösen Macht, die vorrangig als Mittler zwischen der Welt der Götter und der Menschen agiert hätte und deren Existenz die späteren Texte für die Urukzeit vermuten lassen, berichten die Bilder nicht! Dass der Mann im Netzrock selber nicht primär religiöse Instanz war, sondern weltlicher Herrscher, der auch Priesterfunktionen übernommen hatte, ist aus dem Spektrum seiner Zuständigkeiten abzuleiten. Während weltliche Herrscher zu allen Zeiten in den altorientalischen Gesellschaften auch kultische Funktionen übernahmen, waren die Priester nie als Krieger und Militärs tätig. Der Mann im Netzrock tritt erstmals mit der Urukzeit in Erscheinung, neu ist auch die Wiedergabe stets ein und desselben Protagonisten in einer Vielfalt von Handlungszusammenhängen. Die neuen Symbole der Herrschaft und die neuen Bilder der politischen Ordnung und des sozialen Miteinanders waren gleichermaßen Ausdruck der Ideologie der Herrschenden und „Identifikationsangebot“ an die soziale Gemeinschaft. Als Repräsentationsmittel der Mächtigen geben die Bilder eine interessengebundene Sicht der Welt und der eigenen Position in dieser © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 4 59 B I L D U N D M A C H T Welt wieder. Um die neue Ordnung in Uruk zu legitimieren und eine loyale Anhängerschaft aufzubauen, mussten die Bilder zugleich Identifikationsangebote an die BetrachterInnen liefern, die das Neue als Bereicherung und nicht als Bedrohung erscheinen ließen. In der Architektur wurde dies offenkundig zunächst erfolgreich dadurch gelöst, dass Altes neben Neuem bewahrt wurde und beides zusammen die Raumordnung ergab. Besonders wirksam wurde die Selbst- und Weltdarstellung der Eliten also dort, wo es ihnen gelang, eingeübte Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten anzusprechen, die die Betrachtenden als „schlüssig“ erkannten und die damit Einvernehmen über die legitime Sichtweise der sozialen Welt herstellten. Wenn es den Eliten gelang, diese „allen gemeinsame Einsicht“ in die Darstellungen zu erzielen, dann konnte es gelingen, ein allen gemeinsam gültiges Sinn„gebäude“ zu errichten, das die Geschichte der Gesellschaft und das Leben des Einzelnen in einem Sinnsystem zusammenführte. Verschiedene Wirklichkeiten wurden so begreiflicher, die Legitimation der herrschende Ordnung, und damit auch und vor allem die politische Ordnung selbstverständlich. Abb. 4 . 1 Stempelsiegel aus dem ubaidzeitlichen Tepe Gawra im Nordirak, nahe Ninive und der heutigen Stadt Mosul. Die älteren Stempelsiegel der Ubaidzeit zeigen Tiere und Menschen, auch Menschen in Handlungszusammenhängen wie etwa beim gemeinsamen Trinken aus einem Gefäß. Funktionale Differenzierungen und soziale Hierarchien entsprechend den urukzeitlichen Bildern sind diesen Abbildungen aber nicht zu entnehmen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 60 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N Auf den urukzeitlichen Siegeln (s. Abb. 4.2 und 4.3) gelang die Ansprache von eingeübten Wahrnehmungsgewohnheiten dort, wo die Themen der Darstellung Erinnertes und Erfahrenes mit dem Neuen verknüpften, also die Alltagserfahrungen der Gemeinschaft an eine Welt, die man kannte, Handlungen, die vertraut waren (Herdenfütterung, Kriegführung, kultisches Handeln) und somit eine Welt, mit der man sich identifizieren und deren gezeigte Ordnung man als schlüssig akzeptieren konnte (oder auch nicht) mit dem neuen Protagonisten der Macht, dem Mann im Netzrock. Anders ausgedrückt, „wo die Bilder den individuellen Erfahrungen eine öffentliche Existenz ermöglichen“ (Bourdieu 2001: 17), verband das Bild Erfahrenes und das Wissen der BetrachterInnen mit neuen Handlungszusammenhängen und Akteuren. Die Verbindung von Kult und Religion, Subsistenzsicherung und Schutz der Gemeinschaft mit dem erfolgreichen Mann im Netzrock dürfte die Akzeptanz des Neuen erleichtert haben. Auch die Bilder verweisen also auf eine neue Ordnung in Uruk - verkörpert durch den Mann im Netzrock als Protagonisten. Die Darstellungen kennen keine Vorläufer, die Protagonisten und ihr Handlungs- und Verantwortungsspektrum wurden erstmals in der hier gesehenen Weise abgebildet und der dauerhaften Erinnerung zur Verfügung gestellt. Mit der Konzentration der Kompetenzen auf diese Instanz, die, so unsere These, nicht primär als Vertreter der Kultelite anzusprechen ist, fand also auch in den Bildern die Abweichung vom Traditionellen und die Propagierung einer neuen, hier stärker weltlich agierenden Macht statt. Die Identifikation mit dem Neuen verlief hier jedoch, anders als bei der Architektur, nicht über die Anknüpfung an bestehende formale (Bild-) Traditionen oder über das Nebeneinander von „Neu“ und „Alt“. Vielmehr wurde die Anknüpfung an Bekanntes über die Situierung der Handlungen des Protagonisten in Alltagszusammenhängen erreicht, die die Betrachtenden aus ihren Erfahrungen kannten. Zeitlos gültige Handlungszusammenhänge prägen die Aussage. In einer heterogen zusammengesetzten Stadtgesellschaft konnte sich darin jede und jeder wiederfinden - unabhängig von der Herkunft. Was der Mann im Netzrock vollbrachte, verstand jede Betrachterin und jeder Betrachter, ob in Uruk, auf dem Lande, am mittleren Euphrat, im Gebiet der heutigen Türkei oder im Iran. Aus der Sicht der heutigen Betrachtung also eine mehr als geschickte Bildgestaltung, in der sich alle wiederfinden konnten - nicht über eine gemeinsame Geschichte gekonnter Bildeinsatz Abb. 4 . 2 Der Mann im Netzrock auf Bootsfahrt. Vermutlich werden Gaben für den Tempel gebracht Abb. 4 . 3 Der Mann im Netzrock bei der Fütterung der Herdentiere (Tempelbesitz? ) Bilder und Bauten als Medien des Politischen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 4 61 B I L D U N D M A C H T Siegelbotschaft - radikale Propagierung des Neuen und Tradition, über die sie vermutlich nicht verfügten, sondern über die allen gemeinsamen Alltagserfahrungen. Das Neue in der Entwicklung der urukzeitlichen herrschenden Ordnung wurde so anhand zweier Parameter aufgezeigt (und in Erinnerung bewahrt), der Architektur und den Siegelbildern, die hinsichtlich der herrschenden Ordnung neben den aufgezeigten Parallelen - eine neue Machtinstanz ist wirkungsmächtig geworden - durchaus differierende Botschaften übermittelten, welche sich wiederum möglicherweise durch die Ansprache unterschiedlicher AdressatInnenkreise erklären lassen. Die Siegelbilder blenden die Erinnerung an alte Ordnungen, an eine gemeinsame Vergangenheit bzw. an das Wirken einer anderen machtvollen Elite (nach unserer Beobachtung und Erkenntnismöglichkeit) gänzlich aus: Dem Bildprogramm zufolge hatte die neue herrschende Ordnung althergebrachte Traditionen auch in der Besetzung der Machtpositionen weitgehend hinter sich gelassen hatten. Das Neue und die Symbole der neuen herrschenden Ordnung dominierte in den Bildern. Die Botschaft der Siegel ist also radikaler als die der gebauten Ordnung, die Siegelbilder stellen die durchaus „revolutionäre“ Botschaft, das Neue, prononciert in den Vordergrund. Grund für den radikalen Schnitt in der Ausblendung von Tradition und Vergangenheit und die Betonung nur einer zuständigen Machtinstanz dürfte auch hier - ebenso wie bei der Repräsentation der Macht über die Architektur - die Adressatengruppe gewesen sein. Die Siegel gingen primär durch die Hände der Verwaltung und erreichten darüber einen zunächst begrenzten und damit kontrollierbaren Nutzer- und BetrachterInnenkreis. In ihrem Wirken waren die Herrschenden auf eine loyale und funktionierende Verwaltung angewiesen, eindeutige Bilder der Instanz, der die Verwaltung diente und die die Macht in Uruk ausübte, dürften überlebensnotwendig gewesen sein. Dies erklärt, warum auf Siegelbildern ein völlig anderer Umgang mit Tradition erfolgte. Die Ideologie der Macht, d. h. das Anliegen der herrschenden Elite, ihre Sicht der Welt und damit ihre kollektiven Interessen in einer Weise zu präsentieren, die Allgemeingültigkeit beanspruchen und zum „common sense“ avancieren konnten, wurde so in der Repräsentation über den geschickten Einsatz der verschiedenen Medien und orientiert an den potentiellen Rezipientinnen und Rezipienten zur Wirkung gebracht. Die Repräsentation funktionierte dabei als Mittel der Kommunikation und als „symbolisch vermittelte Interaktion“. Diese wiederum funktioniert nach Habermas, weil die Kommunizierenden davon ausgehen, „wahre Aussagen über die objektive Welt“ auszutauschen (Preglau 1997: 249). Dass die Regierenden heute wie die altorientalischen Eliten damals die Gültigkeit dieser Grundannahme auch für ihre (propagandistischen) Repräsentationsmaßnahmen voraussetzen, ist anzunehmen, dass Propaganda ihrem Wesen nach diese Grundannahme aber gerade konterkariert, ebenfalls! © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 62 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N 4.3 ein Militär wird König Konkurrierende Mächte zur Urukzeit? - Texte und ihre Hinweise auf die herrschende Ordnung Aus der Urukzeit selbst liegen bisher keine Texte vor, anhand derer wir die Welt- und Selbstsicht der Herrschenden im Vergleich mit den Aussagen, die wir aus den Bildern und Bauten ableiten, rekonstruieren könnten. Der amerikanische Philologe Wolfgang Heimpel hat versucht, anhand jüngerer Belege die Herrschaftsform der Urukzeit zu rekonstruieren - und liefert mit seinen Überlegungen Hinweise auf Organisationsformen von Macht und Herrschaft zur Urukzeit, die unsere Interpretation zur herrschenden Ordnung und zu den konkurrierenden Kräften in Uruk zu weiten Teilen stützen. In seiner Untersuchung zum „Herrentum und Königtum“ befasst sich Heimpel (1992) mit den Organisationsformen der politischen Herrschaft in Südmesopotamien im 3. Jt. v. Chr. Hinweise auf die Formen der politischen Machtausübung in Uruk entnimmt er den Texten der sog. Sumerischen Königsliste und Texten der frühdynastischen Zeit, hier Königsinschriften und Mythen, Hinweisen aus der Abstammungsgeschichte des Gilgameš und den Ereignissen des Lugalbanda-Epos (Heimpel 1992: 10). Die Sumerische Königsliste gibt die Namen der „Könige seit der Sintflut“ wieder. Es handelt sich um eine im 2. Jt. v. Chr. aufgezeichnete Zusammenstellung sowohl fiktiver als auch historisch nachweisbarer Herrscher Sumers. Nach der sumerischen Überlieferung war Gilgameš König von Uruk, ein Held, halb Mensch, halb Gott, d. h. ein mythischer Herrscher. Insbesondere in letzterem ist der Weg zur Herrschaft im urukzeitlichen Mesopotamien nachgezeichnet. Nachdem Enmerkar, der König von Uruk, vor Aratta (im Iran) versagt (er kann die Befestigungsmauern der Stadt nicht überwinden) und Lugalbanda die Rettung der Urukäer im Fremdland ermöglicht hat (zu den Details siehe Heimpel, op. cit. S. 10 ff.), wird der unfähige Machthaber abgesetzt und Lugalbanda durch die Göttin Inanna als sein Nachfolger und Herrscher von Uruk inthronisiert (op. cit. S. 11). Nicht das dynastische Prinzip, sondern der politische, wirtschaftliche und militärische Erfolg des Einzelnen, von Inanna - und das dürfte realiter gemeint haben, von der Inanna-Priesterschaft - wahrgenommen, bildeten den Weg zu Macht und Herrschaft. Erfolg und Versagen, nicht Herkunft, entschieden somit maßgeblich über das politische Geschick. Die Texte und die Siegel aus bzw. die Befunde in Uruk, deren Aussagen zu den machtpolitischen Gegebenheiten in Uruk uns hier beschäftigt haben, sind chronologisch nicht miteinander in Verbindung zu bringen. Das ist vorauszuschicken, bevor die aus den Texten gewonnenen Informationen als unterstützende Hinweise auf das oben interpretierte Bild der konkurrierenden © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 4 63 R A UM O R D N U N G E N U N D KO N K U R R I E R E N D E M Ä C H T E 4.4 religiöse Macht - Herrschaft des Militärs Königsmacher bleiben im Hintergrund Kräfte und ihrer Repräsentation im Raum und in den Bildern der Urukzeit herangezogen werden. Raumordnungen und konkurrierende Mächte: Texte - Bilder - Raumstruktur Den Texten zufolge (deren historischer Wahrheitsgehalt nicht überprüfbar ist) standen zur Urukzeit zwei machtvolle Instanzen an der Spitze der Gesellschaft - die „traditionelle“ Kultelite, die auch in präurbanen Kontexten zu den mächtigen Instanzen in den mesopotamischen Gesellschaften gehörte, und die „neue“ Macht, der von der Inanna-Priesterschaft zum „König“ ernannte Krieger und Soldat Lugalbanda - eine Machtinstanz, die erst durch die Benennung durch die „traditionelle Elite“, die Priesterschaft, zur Instanz „König“ wurde. Im urbanen Miteinander von Uruk, dessen Expansion offenkundig wesentlich für den Machterhalt und die Machterweiterung des Zentrums gewesen war bzw. für die Entwicklung zur Stadt eine maßgebliche Rolle gespielt haben dürfte, wurden neue Kompetenzen erforderlich. Das Militär, kampf- und landeskundig, war die Gruppierung, in deren Händen diese machtrelevanten Kenntnisse lagen. Diese neue weltliche Macht der Krieger und Eroberer wurde für ihre militärischen und territorialsichernden Erfolge durch die kultische Elite, die Priester der Inanna, belohnt. Die Macht der weltlichen Elite stieg, aber die eigentliche Macht im Lande waren zur Zeit der Ernennung des Lugalbanda zum König von Uruk die Priesterschaften als die im Hintergrund, aber an entscheidender Stelle agierenden „Königsmacher“. Das Szenario erinnert in seinen Grundzügen zum einen an die von der Stadtsoziologie erarbeiteten Erkenntnisse, wonach im urbanen Kontext die Chancen zur Machtergreifung durch neue gesellschaftliche Gruppen steigen und, wenn diese die Chancen wahrnehmen, sich das neue Machtgebilde zur Bedrohung der alten Ordnung entwickeln kann. Auf die urukzeitlichen Verhältnisse in Uruk übertragen, wäre Lugalbanda einer der Repräsentanten der neuen Macht gewesen, der entsprechend dem soziologischen Modell die Zeichen der Zeit erkannt und zur Umsetzung der eigenen politischen Ziele genutzt hatte. In der militärisch-weltlichen Macht war der traditionellen Kultelite zur Urukzeit eine Konkurrenz erwachsen, die die vormals herrschende Ordnung abgelöst und diesen Wandel mit der Gestaltung des Eanna und der Siegelbilder wirkungsmächtig zu dokumentieren verstanden hatte. Das Szenario zeigt ferner Anklänge an die oben ausgeführten Überlegungen zum Umgang der Mächtigen mit den Traditionen, wonach sich insbesondere die „neu in den Kreisen der Macht Etablierten“ mit neuen Symbolen der Herrschaft zu repräsentieren wussten. In der Aussage anders als die Botschaft der Architektur und doch für die Repräsentation der Macht sinnvoll war der Umgang mit den Bildern zur © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 64 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N 4.5 Urukzeit, die erstmals die omnipräsente Machtinstanz „Mann im Netzrock“ zeigen, und dabei die „Königsmacher“, den Texten zufolge die eigentliche politische Macht im Hintergrund, ausblenden. Ambivalente Botschaften, so die Annahme hier, waren in der Ansprache der Verwaltung, also im Kontext der Siegelpraxis anders als in der Architektur und Raumgestaltung der Festigung der neuen Macht nicht förderlich. Mit Schicht Uruk IVa5 und dem Abriss des square building setzte nach unserer Interpretation der späten Baugeschichte des Eanna der Niedergang der weltlichen Macht ein, damit verbunden sowohl eine kurze Renaissance der kultischen Traditionen als auch eine Wiedererstarkung der kultischen Eliten - wenn auch beides nur von kurzer Dauer. Die Hintergründe für den nachfolgenden großen Wandel in der herrschenden Ordnung, der mit dem Machtverlust der weltlichen Herrschaft sichtbar wird, liegen wohl in den wirtschaftlichen und politischen Veränderungen der späten Urukzeit. Das Ende der Schicht Uruk IV bedeutete wirtschaftlich das Ende der ehemals prosperierenden Stadt Uruk und den Zusammenbruch ihres weitverzweigten Netzwerkes von Enklaven und Umschlagplätzen. Die Entmachtung der weltlichen Herrscher in einem System, in dem diese ihre Machtpositionen (den Texten zufolge) dauerhaft nur über ihre sichtbaren Erfolge sichern konnten, scheint nach diesem Szenario durchaus logisch. Fazit: Architektur und Macht Die Repräsentationsbauten in Uruk waren direktes Resultat politischen Handelns, geformt und geprägt durch die Intentionen, Ziele und Visionen der jeweils zuständigen Eliten. In allen Phasen der Baugestaltung des Eanna folgte die Gestaltung der Raumordnung darüberhinaus den jeweils lokalen Erfordernissen - und diese variierten im Laufe der Zeit. In allen Raumordnungen war ungeachtet aller machtpolitischen Veränderungen die Manifestation der religiös-kultischen Bauten bedeutsam, aber mit unterschiedlichen Wertigkeiten. Im Eanna konkurrierten weltliche und kultische Macht um die Vorherrschaft. Die Differenz zwischen den Mächtigen dokumentierten diese über weithin sichtbare, differierende Formen und Größen der Monumentalbauten, d. h., anders ausgedrückt, die herrschende Macht manifestierte sich über Differenz. Im Zentrum (wie im übrigen auch in der Peripherie, siehe Heinz 2005) spiegeln die Raumordnungen damit sowohl die Erfordernisse der Religion, der Politik und der Wirtschaft wider, die jeweilige Macht und deren Herrschaftshandeln sinnfällig zu dokumentieren, als auch die Notwendigkeit, das gemeinschaftsstiftende Handeln unübersehbar zu machen. Dass Bauen und Raumgestaltung auf eine lange Tradition als gemeinschaftsstiftende Parameter zurückblicken können, soll der abschließende © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 4 65 S C H R E I B E N W I L L G E L E R N T S E I N - U N D L E S E N A U C H 4.6 sagen Texte mehr als Bilder und Bauten? 4.7 Blick auf die Bedeutung des Turmbaus zu Babel verdeutlichen - der Bau, der als Symbol für Gemeinschaft (und ebenso für die Hybris der Erbauer) in die Geschichte eingegangen ist: Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. (I. Mose 11; Neue Senfkornbibel, 1984) Noch einmal zurück zum Thema Kommunikation Die Ausführungen zu Uruk und zum Prozess der Urbanisierung haben grundlegende Aspekte im Entwicklungsprozess der ersten Stadt der Alten Welt thematisiert. Dass Kommunikation im urbanen Raum anderen Bedingungen unterliegt als im dörflichen, dürfte sich aus diesen Ausführungen erschlossen haben. Die Anonymität der Großstadt, die Ausübung politischer Ämter und Machtpositionen in einer Gemeinschaft, in der die Face-to-face-Kommunikation aller mit allen längst nicht mehr gewährleistet war, lässt die Notwendigkeit der indirekten und medial vermittelten Kommunikation unübersehbar werden. Die Komplexität der Lebens- und Wirtschaftsweise, die Notwendigkeit, die herrschende Ordnung und mit dieser die Amtsinhaber in den führenden Positionen sowie deren Legitimation durch die Götter unübersehbar zu machen, erforderte offenkundig die dauerhafte Kommunikation der Elite sowohl mit den Zirkeln der Eliteangehörigen als auch mit den Angehörigen der sog. allgemeinen Bevölkerung. Bilder und Bauten blieben, und bleiben bis heute, auch im urbanen Miteinander maßgebliche Medien, mit deren Hilfe dauerhaft gesicherte Kommunikation möglich war. Die Bilder gaben im Urbanisierungsprozess den veränderten Erfordernissen gemäß neue Themen wieder, Architektur und Raumgestaltung wurden jetzt explizit in den Dienst der inzwischen institutionalisierten Macht- und Herrschaftsbelange gestellt. Die stetig komplexer werdenden Kommunikationserfordernisse in der urbanen Gesellschaft führten aber zudem, wie eingangs bereits erwähnt, zur Ausprägung eines Schreibsystems, mit dessen Hilfe erstmals in der Menschheitsgeschichte das gesprochene Wort authentisch in Form sichtbarer und dauerhaft aufzubewahrender Zeichen erfasst werden konnte, der Keilschrift! Schreiben will gelernt sein - und Lesen auch Im Übergang vom 4. zum 3. Jt. v. Chr. kam in Südmesopotamien die Innovation zum Tragen, die für Kommunikation im urbanen Raum schlechthin steht, die das Miteinander der menschlichen Gemeinschaften maßgeblich veränderte und bis heute durch kein anderes Medium ersetzt werden konnte, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 66 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N wenn es darum geht, nonverbale Kommunikation so eindeutig wie möglich stattfinden zu lassen. Zu dieser Zeit wurde in Südmesopotamien, dem heutigen Südirak, das erste Mal in der Menschheitsgeschichte gesprochene Sprache visuell erfasst und über Zeichen, die Keilschrift, sichtbar gemacht (siehe Abb. 1.6). Es war also erneut der Nahe Osten, in dem dieser beispiellose Entwicklungsschritt stattfand. Der Einsatz schriftlicher Aufzeichnungen als Kommunikationsmedium ist ein relatives junges Phänomen in der Geschichte des gesellschaftlichen Miteinanders, wenn man bedenkt, dass menschliche Gesellschaft als Kommunikationsgemeinschaft sich seit dem Jungpaläolithikum (mind. ab 18000 v. Chr.) sowohl face-to-face und verbal als auch über die „Dingwelt“, die materiellen Zeugnisse, erfolgreich verständigte und mit der Sesshaftwerdung 8.000 Jahre später auch noch den gebauten Raum als Kommunikationsmittel in ihre Verständigung integrierte. Mündlichkeit, Bildlichkeit, Raumgestaltung und Schriftlichkeit prägen jeweils spezifische Formen der Kommunikation, öffnen je eigene Mitteilungsmöglichkeiten, unterscheiden sich deutlich im Grad der Präzision, d. h. in der Gestaltung von Ein- und Mehrdeutigkeiten der Aussage zwischen intendierter und rezipierter Botschaft. Einmal aufgeschrieben, wird das Kommunizierte in präziser Wortfolge tradierbar, und nicht, wie zuvor, primär dem Sinn nach überliefert. Schrift „vermehrt“ Wissen. Mit der Möglichkeit, Gesprochenes dauerhaft zu fixieren, stand nun ein Speichermedium zur Verfügung, das den Speichermöglichkeiten des menschlichen Gehirns weit überlegen war. Mit Hilfe der schriftlichen Aufzeichnungen wuchs überdies die Kontrollmöglichkeit von Kommunikation, und zugleich bedeutete Schrift- und Lesekundigkeit schon zur Zeit der Keilschrift immer auch: Macht! Exkurs: Ein kurzer Einblick in die Entwicklungsgeschichte der Schrift Die Entwicklungsgeschichte der Schrift liegt exzellent aufgearbeitet in einer Monographie von Denise Schmandt-Besserath vor. Um die Neugierde auf Details dieser Geschichte zu wecken, wird hier die Entwicklung vom Zählstein zur Tontafel kurz umrissen. Die Anfänge der Schriftentwicklung sind im Bereich der Wirtschaftsorganisation zu verorten. Um 8000 v. Chr. traten in Mesopotamien erstmals sog. tokens auf, Zählsteine, die verschiedene Arten von Gütern repräsentierten. Die jeweilige Form der tokens symbolisierte bestimmte Handelsgüter, die Anzahl der tokens stand für die jeweilige Anzahl der symbolisch repräsentierten Güter. In Uruk fanden sich dann erstmals hohle Tonkugeln, in deren Innerem tokens eingeschlossen waren (s. Abb. 4.4). Um zu eruieren, worum es bei dieser so aufgezeichneten Transaktion ging, mussten die am Austausch Beteiligten die Kugel zerbrechen. Diesen Schritt wurde unnötig, als man im Laufe der Zeit auf der Außenseite der Tonkugel die Art und Anzahl der © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 4 67 S C H R E I B E N W I L L G E L E R N T S E I N - U N D L E S E N A U C H tokens noch einmal eindrückte. Mit dieser Form der Registratur des Inhalts auf der Außenseite wurden die eigentlichen tokens im Innern der Kugel mit der Zeit überflüssig, man konnte bereits außen „ablesen“, welche Anzahl und Art von Gütern verhandelt wurde. Auf die Kugelform konnte fortan verzichtet werden, und man ging dazu über, die Abbildungen der zu verhandelnden Güter in Art und Anzahl auf Tontafeln einzudrücken und einzuritzen. Die dreidimensionale Erfassung des Wirtschaftstransfers wurde zugunsten der Tontafel aufgegeben, der erste Schritt zur Schrift war erfolgt. Mit den sog. Archaischen Texten aus Uruk, dort in Schicht IV (ca. 3000 v. Chr.) aufgefunden (siehe Abb. 1.6), liegen die ältesten Wirtschaftstexte - und die ersten Belege für die Verwendung von Schrift überhaupt - vor. Die Schrift auf diesen Tafeln bestand aus keilförmigen Zeichen, die mit dem Rohrgriffel in den feuchten Ton gedrückt wurden - diese Formgebung gab der Schrift ihren Namen Keilschrift. Die ältesten Keilschrifttexte sind als Bilderschrift zu bezeichnen und bestanden aus Piktogrammen - Bildern, die in sehr vereinfachter Form eine Information weitergeben - und Ideogrammen, d. h. Zeichen, die je ein Wort darstellten (siehe Abb. 1.6 und 1.9). Um gesprochene Sprache wiederzugeben, muss ein System aber in der Lage sein, Phonetisierung darzustellen. Im Laufe der Schriftentwicklung in Mesopotamien fand genau diese Entwicklung statt: Zeichen wurden nicht mehr nur für Einzeldinge eingesetzt (Wortzeichen/ Ideogramme), sondern im Laufe der Zeit auch für gleich lautende Silben benutzt. Wortlaut und grammatikalische Formen konnten nun eindeutig markiert und wiedergegeben werden. Ab etwa der Mitte des 3. Jt. v. Chr. verfügten die MesopotamierInnen über ein entsprechend komplexes Schriftsystem, mit dem alle Inhalte mündlicher Kommunikation korrekt und visuell sichtbar aufgezeichnet und wiedergegeben werden konnten. Schreiben und Lesen blieb eine „hohe Kunst“, die nur von wenigen beherrscht und ausgeübt wurde. Zu diskutieren ist der Gedanke von Dominique Charpin, dass ggf. auch Nicht-SchreiberInnen, also nicht speziell ausgebildete Frauen und Männer, über rudimentäre Schreib- und Lesekenntnisse verfügten haben könnten (Charpin 2008). In Schreiberschulen wurden die jungen Männer ausgebildet, die in Palast und Tempel für die Verschriftlichung der von den Mächtigen bestimmten Botschaften Sorge trugen. Der Nutzen schriftlicher Kommunikation war in den Gesellschaften des Alten Orients schnell erkannt. Trotz des aufwendigen Lernprozesses zur Beherrschung der Schrift hatte sich die Keilschrift binnen weniger hundert Jahre als Medium über den gesamten Nahen Osten verbreitet und diente der Aufzeichnung des gewaltigen Spektrums gesprochener Sprachen vom heutigen Iran bis zur Levanteküste. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 68 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N Abb. 4 . 4 Tonkugel aus Susa mit eingedrückten Markierungen und entsprechenden tokens im Inneren sowie unterschiedliche tokens aus Uruk. Zur Verwendung der tokens und der gesiegelten Tonkugeln siehe auch die Website der ‚Cuneiform Digital Library Initiative‘: http: / / cdli.ucla.edu/ wiki/ doku.php/ uruk_mod._warka (11. 06. 2009) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 4 69 B I L D E R IM U R B A N E N R A UM der Nahe Osten lehrt Europa schreiben und lesen 4.8 Urbanisierung und wachsender Repräsentationsbedarf Etwa 2.000 Jahre nach dieser sensationellen Entwicklung der Schrift prägte der Nahe Osten das Kommunikationswesen noch einmal maßgeblich - und wirkte diesmal ganz konkret bis weit in den heute europäischen Raum hinein kulturstiftend! Eine zweite „Revolution“ der Geistesgeschichte spielte sich zwischen dem 11. und dem 9. Jh. im Raum des heutigen Libanon ab, wo in den phönikischen Küstenstädten das heute in weiten Teilen der Welt gebräuchliche lineare Alphabet entstand, das von den Phönikern im Zuge der phönikischen Wirtschaftsexpansion nach Europa gebracht wurde (siehe Kapitel 12). Bilder im urbanen Raum Der urbane Kontext zeichnet sich, wie oben skizziert, durch eine Fülle von Innovationen und Veränderungen in fast allen Gebieten des sozialen Miteinanders aus: hohe Arbeitsteiligkeit, Hierarchisierung in allen Bereichen, Ausbau der Bürokratie und funktionale Ausdifferenzierung, Gestaltung von Bildern und Entwicklung monumentaler Architektur im Dienst der politischen Propaganda. Neu und ein Aufbruch zu neuen Geisteswelten, der bis dahin ohne Parallelen war und der das gesamte Miteinander der Menschen bis heute maßgeblich geprägt hat und immer noch prägt, war aber die Entwicklung der Schrift. Auch wenn alle oben genannten Phänomene einschließlich der Entstehung der Schriftkultur als Ergebnis eines lange zuvor einsetzenden Prozesses angesehen werden können, wir also nicht von einer sprunghaften Veränderung der gesamten gesellschaftlichen Bedingungen ausgehen, dokumentieren doch die Hinterlassenschaften der EinwohnerInnen der Großstadt Uruk eine nie zuvor gekannte Komplexität des gesellschaftlichen Miteinanders. Die Zentralisierung von Macht und die Herausbildung politischer Herrschaft führten zu einem starken Repräsentationsbedürfnis, welches Jan Assmann als Folge der „Unselbstverständlichkeit“ entsprechender Verhältnisse beschreibt. Nicht mehr primär die Gemeinsamkeit von Abstammung, tradierten Vorstellungen, Normen und Werten konstituiert hier Identität, sondern vorrangig Herrschaft: „Die sozialen Formationen der frühen Großreiche - China, Mesopotamien, Ägypten - sind über nichts anderes als Herrschaft integriert. So ist Repräsentation von Herrschaft gleichbedeutend mit Sichtbarmachung von Identität.“ Hinzu kommt, dass mit dem enormen demographischen Wachstum eine Auflösung der zuvor vorhandenen allgemeinen Vertrautheit mit allen oder zumindest den meisten Mitgliedern der ehemaligen Face-toface-Gesellschaft einherging. Die größere territoriale Ausdehnung sowie die zunehmende Komplexität der Stadt, die heterogene Zusammensetzung der Bevölkerung, die größere Vielfalt sozialer Interaktion wie auch die hierarchischen Strukturen erschwerten oder verhindern sogar die direkte Kommunikation aller mit allen. Davon war auch der vertikale Austausch betroffen, indem © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 70 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N es zu einer deutlichen Distanzierung zwischen der sich herausbildenden Elite bzw. zwischen statushohen Gruppen und der „allgemeinen“ Bevölkerung kam. Bildlicher Darstellung wie auch der Architektur fiel nun im Herrschaftsgefüge die Aufgabe zu, das neue Ordnungssystem und seine normativen Implikationen sowohl inhaltlich festzuschreiben wie auch durch die formale Gestaltung zu kommunizieren. Monumentale Bauten und Anlagen hierarchisierten den Raum und symbolisierten die zentralistischen Herrschaftsstrukturen, Bilder erarbeiten parallel dazu Kosmologien, in denen sich Herrschaft als religiös fundiert und „natürlich“ legitimiert erweist. Beispielhaft lässt sich dies auf den Darstellungen der sog. „Uruk-Vase“ erkennen. Die sich in den übereinander gelagerten Registern entfaltende Erzählung konstruiert eine hierarchische Gesellschaftsformation, die auf einer naturhaft vorgegebenen, schon im Bildaufbau zu lesenden Wertigkeit der einzelnen Bereiche gründet und die im vermeintlich harmonischen Austausch zwischen Pflanzen, Tieren und Gesellschafts- oder Statusgruppen die Existenz eines idealen Gemeinwesens suggeriert. An der Spitze, so suggeriert es der Bildaufbau und so zeigt es das obere Register, agieren die Göttin Inanna und der „Mann im Netzrock“, der König, begleitet von Dienerschaften. Es folgen im mittleren Register der Aufzug weiterer Bediensteter. Im nächst tieferen Register sind die für die Subsistenzsicherung relevanten Tiere, Schaf und Ziege, abgebildet. Alle Register fußen auf dem untersten Bildstreifen, der das Wasser der Flüsse und die Pflanzenwelt als Basis des Ökonomischen und der Subsistenzsicherung gleichermaßen wiedergibt. Abb. 4 . 5 Die Uruk-Vase aus Schicht III des Tempelbezirks der Inanna in Uruk; Höhe: ca. 105 cm © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 4 71 G E B A U T E R R A UM - U R B A N E R K O N T E X T Bild und Ideologie 4.9 Raumordnung und Identitätsbildung Nicht die Repräsentation der kollektiven Erzählung als einer allgemein anerkannten Sammlung von Mythen, Geschichten und deren Protagonisten ist hier intendiert (wie in Kapitel 2 für das Bildgeschehen im Neolithikum vorgeschlagen), sondern die Propagierung einer ideologischen Botschaft. Die Bilder stehen nunmehr und wohl immer stärker auch im Dienst partieller Interessen bestimmter machtvoller Eliten, die als Auftraggeber der Darstellungen auch deren Inhalte und Gestaltung dominierten und damit die Deutungshoheit besaßen. Entsprechend bestimmten die Weltbilder der Machthaber und deren ideologische Konzepte das Repertoire bildlicher Repräsentation. Diese entwickelt sich zu dem, was im rezenten Kontext eine wesentliche Funktion von Bildern ausmacht: Propaganda. Gebauter Raum - urbaner Kontext Dass mit der sesshaften Lebensweise dem gebauten Raum und der sichtbaren und dauerhaft sichtbar gemachten Inbesitznahme von Territorium ein neuer Stellenwert zugekommen war, haben die Überlegungen zur Gestaltung des Raumes im neolithischen Göbekli Tepe schon verdeutlicht. Dass im urbanen Raum konkret benennbare Einflussgruppen Architektur als Zeichen ihrer Macht und Herrschaft nutzten und Architektur somit gezielt und für alle unübersehbar als Kommunikationsmedium zum Einsatz kam, ließ sich am Beispiel Uruk aufzeigen. Im anonymisierten urbanen Raum kommunizierten die institutionalisierten Macht- und Herrschaftsgruppierungen ihre Positionen und ihren Status öffentlich über Architektur und Raumaneignung. Der eigenen Klientel stellten sie Identifizierungsangebote zur Verfügung. Architektur und Raumordnung avancierten zum Ausdruck für community, für die Zusammengehörigkeit von Gruppen über eine ihnen gemeinsame Tradition. Über Architektur wurde gemeinschaftliches Handeln sichtbar gemacht, das „Wir und die Anderen“ klar definiert. Als Medium der politischen Kommunikation dokumentierten unterschiedliche Machtgruppen - so gesehen in Uruk - über die Pflege unterschiedlicher Bautraditionen die jeweils herrschende Ordnung und nutzten die öffentlich sichtbare Gestaltung des Raumes, um sich von den jeweils „Anderen“ abzusetzen. Ebenso wenig zu übersehen ist das Bemühen, dort wo Traditionen zu konstruieren waren, weil historisch gesehen keine „eigene“ Tradition greifbar war, die Tradition der „Anderen“ mit gleicher Verve und ebenso unübersehbar zu tradieren und als die eigene auszulegen! Dass die Kommunikation über Architektur den Intentionen der Machthabenden aber auch konkret zuwiderlaufen konnte, wo mit dem Zerfall von Macht und Herrschaft auch der Zerfall von Architektur und gebautem Raum einherging, zeigt die Ambivalenz des Kommunikationsmittels Architektur! © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 72 M EG A CI T I E S - D A S S TA DT L E B E N F I N G I N U R U K A N 4.10 Weiterführende Literatur Urbanisierung Belina, Bernd, Michel Boris (Hg.). 2007. Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz. Münster. Westfälisches Dampfboot Heinz, Marlies. 1997. Der Stadtplan als Spiegel der Gesellschaft: Siedlungsstrukturen in Mesopotamien als Indikator für Formen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Organisation. Berlin. Reimer Keith, Michael und Pile, Steve (Hg.). 1993. Place and the politics of identity. London. Routledge Schmidt, Christian. 2005. Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes. Sozialgeographische Bibliothek, Band 1. München. Georg Steiner Verlag Smith, Monica (Hg.). 2003. The social construction of ancient cities. Washington, Smithsonian Books Ubaid-Zeit Henrickson, Elizabeth F. (Hg.). 1989. Upon this foundation: the ’Ubaid reconsidered; proceedings from the ’Ubaid Symposium, Elsinore, May 30 th - June 1 st 1988. Copenhagen. Museum Tusculanum Press Tobler, Arthur J. 1950. Excavations at Tepe Gawra, Band II. Philadelphia. University of Pennsylvania Press Uruk und die Urukzeit Algaze, Guillermo. 1993. The Uruk world system: the dynamics of expansion of early Mesopotamian civilization. Chicago. University of Chicago Press Boehmer, Rainer Michael. 1987. Ausgrabungen in Uruk-Warka. Deutsches Archäologisches Institut, Abt. Baghdad. Reihe, seit 1987 - Hg. von Rainer Michael Boehmer. Rahden, Westf. Leidorf und Deutsches Archäologisches Institut, Orient-Abteilung Heimpel, Wolfgang. 1992. Herrentum und Königtum im vor- und frühgeschichtlichen Altertum, in: Zeitschrift für Assyriologie und Vorderasiatische Archäologie, Band 82, S. 4 ff. Pollock, Susan. 1999. Ancient Mesopotamia: the eden that never was. Cambridge, Cambridge University Press Case studies in early societies; Band 1 Schriftentwicklung Charpin, Dominique. 2008. Lire et Ecrire à Babylone, Paris. Presses Univ. de France Gnanadesikan, Amalia E. 2009. The writing revolution: cuneiform to the internet. Malden, MA. Wiley-Blackwell Schmandt-Besserath, Denise. 1992. Before writing. Austin. University of Texas Press http: / / cdli.ucla.edu/ wiki/ doku.php/ uruk_mod._warka (11. 06. 2009) Repräsentation Assmann, Jan. 1991. Gebrauch und Gedächtnis, in: Assmann, Aleida; Harth, Dietrich (Hg.). Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt a. M. Fischer Taschenbuch-Verlag, S. 135-153 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 4 73 W E I T E R F ÜH R E N D E L I T E R AT U R Bahrani, Zainab. 2003. The graven image: representation in Babylonia and Assyria. Philadelphia, Pa. University of Pennsylvania Press (Archaeology, culture and society) Barlösius, Eva. 2005. Die Macht der Repräsentation: Common Sense über soziale Ungleichheiten. Wiesbaden. Verlag für Sozialwissenschaften Bourdieu, Pierre. 2001. Das politische Feld. Konstanz. UVK Heinz, Marlies. 2008. Die Repräsentation der Macht und die Macht der Repräsentation in Zeiten des politischen Umbruchs: Rebellion in Mesopotamien. München, Paderborn. Fink - 2006. Architektur und Raumordnung: Symbole der Macht, Zeichen der Mächtigen, in: Joseph Maran (Hg.). 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Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 5 75 Die erste Globalisierung ging vom Nahen Osten aus: Das „Uruk World-System“ (4. Jt. v. Chr.) Inhalt 5.1 Globalisierung, was ist das eigentlich? 76 5.2 Uruk und das Uruk World-System 76 5.3 Globalisierung ist mehr als nur globaler Gütertransfer: Auswirkungen auf die Organisation des Politischen zur Urukzeit 79 5.4 Habuba Kabira - Architektur und Raumordnung einer Schaltstelle des globalen Wirtschaftens 80 5.4.1 Raumordnungen und soziale Ordnungen 82 5.4.2 Globalisierung und die Macht der Wirtschaft 84 5.5 Fazit: Urbanisierung - Globalisierung … 87 5.5.1 … und viele offene Fragen 87 5.5.2 „Immer größer - immer weiter - immer mehr“ - Urbanisierung, Globalisierung, Umweltzerstörung 89 5.6 Weiterführende Literatur 90 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 76 D I E E R S T E G L O B A L I S I E R U N G G I N G V OM N A H E N O S T E N A US 5.1 Franchising - „MacDonaldisierung“ Wirtschaftsmacht beeinflusst politische Herrschaft 5.2 Rohstoffmangel und Expansion Globalisierung, was ist das eigentlich? Mit Sicherheit nicht, wie meist vermutet, ein rezentes Phänomen! Und mit Sicherheit kein Phänomen, das sich in einer - auch nur annähernd eindeutigen - Definition fassen ließe. Die Aussagen darüber, was Globalisierung ist und vor allem, wozu sie führt und bereits geführt hat, könnten nicht gegensätzlicher ausfallen (Rehbein 2009). Globalisierung, so die kritischen Stimmen zur globalen wirtschaftlichen Expansion, mündet in einer Beherrschung der Welt durch einige wenige Wirtschaftsmächte. Die materiellen Produkte dieser Wirtschaftsmächte, so die Kritiker, überschwemmen den Weltmarkt und zerstören die lokalen Wirtschaftskreise. Ganze Wirtschaftskonzepte werden exportiert, materiell einheitlich umgesetzt und über ihr einheitliches Äußeres unübersehbar als Symbol des globalen Wirtschaftens wahrgenommen. Aber nicht nur die materiell greif- und sichtbare Welt ändert sich im Zuge der Globalisierung. Wirtschaftseliten greifen tief in das politische Geschehen der Welt ein, ohne jemals als politische Repräsentanten berufen oder legitimiert worden zu sein. Über ihre Wirtschaftsmacht avancieren diese zu einer machtbeeinflussenden, ggf. zu einer machtbedrohlichen und stets zu einer ordnungsverändernden Kraft. Betroffen, darin sind sich BefürworterInnen wie GegnerInnen der Globalisierung einig, sind sowohl die Lebensweisen aller Menschen, die sich der Globalisierung nicht entziehen können als auch die Gestaltungsmöglichkeiten derer, die politisch für die Organisation des sozialen Miteinanders in den „globalisierten Gemeinwesen“ verantwortlich sind. Das weit reichende Einwirken globaler Wirtschaftsbeziehungen auf die Formen des wirtschaftlichen und politischen Miteinanders, die zunehmende Vernetzung von wirtschaftlicher und politischer Macht und das Übergreifen wirtschaftlicher Abhängigkeiten auf politische Entscheidungsfindungen sind nicht erst Erscheinungsformen der rezenten Globalisierung, sondern Begleiterscheinungen des globalen Miteinanders, die die Vorderasiatische Altertumskunde als Begleiterscheinung der Urbanisierung bereits erstmals für das 4. Jt. v. Chr. aufzeigen kann. Uruk und das Uruk World-System Der Urbanisierungsprozess und die mit der Urbanisierung eng verbundene Expansionspolitik Uruks spiegelt eine Gesellschaft wider, die aufgrund der „innenpolitischen“ Entwicklungen strukturell und in Folge der wirtschaftlichen Entwicklung „geographisch-räumlich“ in Bewegung geraten war. Der Rohstoffmangel in Südmesopotamien ließ den globalen Ausbau und zugleich die Kontrolle über den Handel zu den wichtigsten politischen Instrumenten der Zeit werden, ein Unterfangen mit ambivalenten Folgen für die Herrschenden. Das Zentrum (die Stadt Uruk) forcierte Handel und Austausch, griff mit © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 5 77 U R U K U N D D A S U R U K W O R L D -S Y S T E M erste Globalisierung seinem ökonomischen Bedarf in die Strukturen der ressourcenreichen Nachbarländer ein und sicherte sich damit die für den Machterhalt notwendigen Mittel. Die globale Reichweite der Machtsicherung war für den Erhalt von Macht und Herrschaft aber eine ambivalente Angelegenheit. Ressourcen, die nur über den globalen Handel zugänglich und also nur mit einem erheblichen Organisations- und Kostenaufwand zu sichern waren, brachten die politischen Eliten in zunehmende Abhängigkeit vom reibungslosen „Funktionieren“ der ressourcenreichen Peripherien und vom verlässlichen Handeln derer, die vor Ort in den Peripherien Uruks dieses Funktionieren zu sichern hatten. Importe avancierten zu unverzichtbaren und damit zunehmend machtrelevanten Elementen des politischen Handelns, mit deren Hilfe der Repräsentationsbedarf der urbanen Eliten gestillt und die Herrschaft der Herrschenden gesichert wurde. Die geographische Reichweite des „Uruk World-System“ und der mit der Expansion verbundene Organisationsgrad des politischen Agierens hatte mit dieser ersten „Globalisierung des Wirtschaftshandelns“ neue Dimensionen angenommen. Diese beschwor zugleich eine neue Komplexität der wirtschafts- und machtpolitischen Verflechtungen und Verpflichtungen. 1993 sorgte Guillermo Algaze mit einer Untersuchung zur Urukzeit für Aufsehen, in der erstmals ein Archäologe die wirtschaftliche Entwicklung des Alten Orients unter dem Aspekt der „Globalisierung“ betrachtete. Algaze stellte die These auf, mit dem von ihm sog. „Uruk World-System“ habe sich im 4. Jt. v. Chr. im Südirak das früheste, global vernetzte Handelssystem entwickelt - und dies auf „Initiative“ der rohstoffarmen süd-mesopotamischen Region Sumer. Algaze erstellte ein Modell dieses global ausgreifenden Systems und konnte den Umfang der wirtschaftlichen Vernetzungen nachweisen: Das Netzwerk umfasste den gesamten Irak bis hoch in den Norden, erstreckte sich über den Iran, von Südiran am Persischen Golf ausgehend bis in die Region Teheran, umfasste die Golfregion, integrierte die Anrainerregionen entlang des Euphrat bis nach Syrien und in die Türkei und reichte im Südwesten der Levante bis nach Ägypten. Archäologisch ließ sich dieses globale System zunächst anhand zweier Parameter nachweisen: über neugegründete Siedlungen in den genannten Regionen, deren Architektur klare Hinweise auf ihre Herkunft Südmesopotamien aufzeigte und über die Verbreitung weiterer materieller Belege, deren Ursprung Algaze aufgrund formaler Merkmale ebenfalls mit Sicherheit auf Südmesopotamien zurückführen konnte. Die Wirtschaftsexpansion des Südens bedurfte einer neu zu schaffenden Infrastruktur. In (fast) allen genannten Regionen (mit Ausnahme von Ägypten) waren Handelsstationen und Umschlagplätze an transport- und kommunikationsstrategisch günstig gelegenen Standorten errichtet worden. Der enorme Aufwand dokumentiert die Bedeutung des globalen Handels zu dieser Zeit. Für einen nur episodisch stattfindenden Austausch wäre ein solches Netz wohl kaum geknüpft worden. Vielmehr waren die Enklaven, zu denen neben © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 78 D I E E R S T E G L O B A L I S I E R U N G G I N G V OM N A H E N O S T E N A US Habuba Kabira u. a. Siedlungen in der heutigen Türkei wie Samsat und Hassek Höyük sowie im heutigen Südiran, Susa und Choga Mish, gehörten, gedacht als dauerhaft agierende Vermittler in der Sicherung der Güter für das Zentrum Uruk, in dessen Diensten sie standen und dessen Belange sie erfüllen sollten. Einer dieser Umschlagplätze, Habuba Kabira, am Mittleren Euphrat im heutigen Syrien gelegen, fällt unter diesen Neugründungen besonders ins Auge. Die materiellen Hinterlassenschaften, insbesondere Tontafeln mit numerischen Aufzeichnungen und Rollsiegel, also die klassischen Kommunikationsmedien der Wirtschaftsverwaltung, die hier ausgegraben worden sind, verweisen direkt und eindeutig auf eine Herkunft aus dem urukzeitlichen Südmesopotamien (s. Abb. 5.2). Abb. 5 . 1 Das Uruk World- System © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 5 79 G L O B A L I S I E R U N G I S T M E H R A L S N U R G L O B A L E R G Ü T E R T R A NS F E R Und auch die Architektur von Habuba Kabira lässt erkennen, dass die Siedler- Innen bei der Errichtung der Handelsstation auf die Traditionen Südmesopotamiens - konkret auf die in Uruk bekannten Bauformen zurückgegriffen hatten. Materiell waren die ErbauerInnen und BewohnerInnen der Enklaven in Südmesopotamien zu Hause, auch wenn sie in der Peripherie und fern der Heimat siedelten. Globalisierung ist mehr als nur globaler Gütertransfer: Auswirkungen auf die Organisation des Politischen zur Urukzeit Die Bedeutung des reibungslosen Funktionierens der globalen Wirtschaftsverbindungen für den Machterhalt der Herrschenden im Zentrum Uruk bot auch denen, die in den Handelsstationen und Umschlagsplätzen für den Han- Abb. 5 . 2 Keramikformen, Tontafeln, Siegel und Hausgrundrisse im Vergleich von Peripherie (Habuba/ Qannas/ Aruda) und Kernland (Uruk- Zentren im Süd-Irak und Südwest-Iran) in der Späturuk-Zeit 5.3 Zusammenwirken von Wirtschaft und Politik © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 80 D I E E R S T E G L O B A L I S I E R U N G G I N G V OM N A H E N O S T E N A US Wirtschaftskrisen = politische Krisen? 5.4 funktionaler Stadtplan del verantwortlich waren, die Möglichkeit, ihrerseits vorhandene Machtinteressen auszubauen. Der wirtschaftliche Erfolg derer, die die Enklaven entlang des Euphrats leiteten, sicherte idealiter die herrschende Ordnung in Uruk. Die Wirtschaftsmacht der lokalen „Manager“ hatte jedoch zugleich stets das Potential, die Macht des Zentrums Uruk und die Herrschaft der dortigen Könige zu gefährden. Blieben die in der Ferne Zuständigen loyal und sorgten für den reibungslosen Güteraustausch, stabilisierte dies die Herrschaft im Süden. Folgten sie dagegen Interessen, die von denen der Herrschenden im Süden abwichen, transferierten sie also ihre organisatorische und wirtschaftliche Macht in politische Macht (Bourdieu 1992) und sahen primär auf die eigenen Interessen vor Ort, konnte dies mittel- und langfristig die herrschende Ordnung auch in Uruk zu Fall bringen. In dieser Konkurrenz griff also die wirtschaftliche in die Belange der politischen Macht und damit in die Grundlagen der geltenden Ordnung ein. Im Miteinander von Habuba Kabira und Uruk scheint dieses Gefährdungspotential akut geworden zu sein. Das Instrumentarium, das die Macht in Uruk sichern sollte (die globale Handelskontrolle), stand davor, sich in ein Instrument der Machtbedrohung zu verwandeln. Habuba Kabira - Architektur und Raumordnung einer Schaltstelle des globalen Wirtschaftens Die Gründerinnen und Gründer der Siedlung Habuba Kabira hatten für deren Errichtung eine günstige Stelle am Euphratufer gewählt. Der Standort verfügte über einen natürlichen Hafen und ermöglichte zugleich den unkomplizierten Wechsel vom Flusszum Landweg (Algaze 2001, 1993; Heinz 1997; Rothman, 2001). Die Siedlung war zur Landseite hin massiv mit einer Stadtmauer befestigt, die unübersehbar auf das bauliche Vorbild der Stadtmauer von Uruk verwies. Wohn- und Wirtschaftsbauten erstreckten sich von Norden nach Süden über den größten Teil der Siedlungsfläche, die rasterartig mit einem Gitternetz-Wegesystem erschlossen war. Diese rasterartige Erschließung verband die Wohn- und Wirtschaftsbauten, die Stadttore und den Hafen optimal miteinander. Sie garantierte „kurze“ Wege, eine gute Übersichtlichkeit und einfache Kontrollmöglichkeiten aller Bewegungen innerhalb der Siedlung. In der Platzierung der Wohn- und Wirtschaftsbauten folgte der Siedlungsplan den vorrangigen funktionalen Erfordernissen eines Güterumschlagplatzes. Zur Siedlung gehörten darüberhinaus Kult- und Verwaltungsbauten, die außerhalb des Rasters topographisch erhöht im Süden der Siedlung lagen. Die räumliche Distanz der Kultbauten zur Wohn- und Wirtschaftssiedlung lässt auf eine weniger intensive funktionale Verbindung beider Bezirke schließen, als die der Wohn- und Wirtschaftsbauten. Die Errichtung des Kultbezirkes © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 5 81 H A B U B A K A B I R A - A R C H I T E K T U R U N D R A U M O R D N U N G folgte anderen Erfordernissen. Nicht die schnelle Erreichbarkeit und die enge Anbindung an die Wirtschaftsbauten standen im Vordergrund. Neben den Kult- und Verwaltungsaufgaben diente der Kultbezirk vor allem als Landmarke und als weithin sichtbare Repräsentation der im „Heimatland“ Südmesopotamien starken kultischen Macht im Lande. Abb. 5 . 3 Siedlungsplan von Habuba Kabira. Die räumliche Ordnung zeigt Hinweise auf eine geplante Errichtung des Ortes. Die Stadtmauer und ihre Verteidigungstürme wurden sicher ebenso nach einem geplanten Konzept angelegt wie die parallel zur Stadtmauer verlaufende Hauptverkehrsachse, die im rechten Winkel abzweigenden Straßen und die auf der topographisch höchsten Stelle platzierten Kultbauten. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 82 D I E E R S T E G L O B A L I S I E R U N G G I N G V OM N A H E N O S T E N A US Raumordnungen und soziale Ordnungen Im Prozess der globalen Wirtschaftsexpansion, so die eingangs erwähnte Kritik an den Auswirkungen der Globalisierung, greifen wirtschaftlich potente Kräfte in die politischen Kompetenzen und damit in die kulturellen Ordnungen der Regionen ein, die sie zur Sicherung der eigenen wirtschaftspolitischen Interessen benötigen. Welche Folgen die Urukexpansion für die lokal bereits ansässigen Bevölkerungen in der Peripherie hatte, ist noch nicht im Detail erforscht. Dass aber das Zentrum Uruk als Folge seiner Wirtschaftsexpansion mit einer Rückwirkung auf die eigene Machtordnung konfrontiert war, lässt sich modellhaft am Befund des Handelsumschlagplatzes Habuba Kabira aufzeigen. In der Handelsstation selbst dürfte sich die Wirtschaftsmacht der für den Handel Verantwortlichen sukzessive in politische Macht verwandelt haben. Die „WirtschaftsmanagerInnen“ in den Handelsstationen der Peripherien hatten ihre Schlüsselstellung in der Organisation des globalen Miteinanders möglicherweise erkannt, ihre wirtschaftliche Organisations- und Abb. 5 . 4 Siedlungsplan von Habuba Kabira, im NW die Wohn- und Wirtschaftsbauten, im Süden der Kultbezirk. Haustyp II diente sowohl als Wohn- und Wirtschaftsgebäude wie als Kultbau. 5.4.1 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 5 83 H A B U B A K A B I R A - A R C H I T E K T U R U N D R A U M O R D N U N G die Macht der Peripherien im Globalisierungsprozess bauliche Ordnung als Indikator für die herrschende Ordnung Kontrollmacht auf die Ausübung politischer Macht hin erweitert und so in die politische Ordnung derer eingegriffen, die die Globalisierung der Urukzeit initiiert hatten. Nicht nur die Peripherie musste also als Folge der Globalisierung mit dem Wandel der politischen Verhältnisse rechnen, sondern auch (und vor allem) das Zentrum des globalen Agierens, Uruk, dem mit dem Erstarken der Enklaven eine Konkurrenzmacht in den Peripherien erwuchs. Debatte eröffnet: Können wirtschaftliche und politische Entwicklungen, die in den Gesellschaften des 4.-3. Jt. v. Chr. in Mesopotamien stattgefunden haben, mit den Begriffen, Modellen und theoretischen Ansätzen der rezenten Sozialwissenschaften erklärt werden, die anhand heutiger Phänomen entwickelt wurden? Parameter, die auf eine solche Transformation von wirtschaftlicher in politische Macht verweisen könnten, liegen mit den Bauten und der räumlichen Ordnung der Handelsstation Habuba Kabira vor (siehe Abb. 5.4). Die Errichtung der Siedlung Habuba Kabira und die dortige Raumordnung folgte zum einen klaren funktionalen Vorgaben - ersichtlich aus der übergeordneten Gesamtplanung der Siedlung - zum anderen war auch die Raumordnung Ergebnis bewussten politischen Handelns und expliziter Ausdruck der Repräsentation der Mächtigen. Hier dominieren nicht, wie in Uruk, formal herausgehobene Bauten das Gesamtbild der Siedlung. Die formale und damit sichtbare Differenzierung zwischen den Bauten kultischer Funktion und den Wohn- und Wirtschaftsbauten ist vielmehr explizit nivelliert - obwohl die Kultbauten topographisch erhöht als Landmarke zu erkennen waren, unterschieden sie sich in Grundriss und Größe nicht von den Wohnbauten der Siedlung - eine Nivellierung von Differenz also, die in Uruk undenkbar gewesen wäre (siehe Abb. 3.1). Wenn man Monumentalität und Größenverhältnisse der Bauten (auch) als Parameter ihrer gesellschaftlich-politischen Bedeutung betrachtet, kommt diese fehlende Differenzierung einer Abwertung der Instanzen gleich, die über die Kult- und Verwaltungsbauten repräsentiert wurden, und einer Aufwertung der Macht derer, die für die Errichtung und Nutzung der Wohn- und Wirtschaftsbauten zuständig waren. Dabei folgte die bauliche Gestaltung des Zentrums der politischen Macht, Uruk, und des Handelsplatzes Habuba Kabira ungeachtet aller Unterschiede einem vergleichbaren Grundsatz: in beiden Orten erhielten die Bauten jeweils besondere Aufmerksamkeit, die für das erfolgreiche Agieren der in Uruk bzw. Habuba Kabira jeweils Verantwortlichen im Vordergrund standen. Und die Interessen der Mächtigen in Zentrum und Peripherie unterschieden sich. Wo in Uruk die bauliche Manifestation der Funktionen Kult und Verwaltung im Vordergrund gestanden hatte, berücksichtigte die Siedlungsgestaltung in Habuba Kabira vorrangig die Sicherstellung und Erfüllung der Funktion eines Handelsumschlagplatzes (für die detaillierte Analyse des Stadtbildes siehe Heinz 1997). Mit der baulichen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 84 D I E E R S T E G L O B A L I S I E R U N G G I N G V OM N A H E N O S T E N A US 5.4.2 Betonung der jeweils primär relevanten Funktionen lancierten die Zuständigen im Zentrum wie in der Peripherie auch Aussagen über die Bedeutung der FunktionsträgerInnen vor Ort. Gerade in den Siedlungen fernab des Zentrums konnte die bauliche Ordnung schnell zum Zeichen einer geltenden Ordnung werden, die die Ordnung der Mächtigen vor Ort, aber nicht mehr die Ordnung der politisch Herrschenden im Zentrum war. Nach dieser Sichtweise war mit alternativen räumlichen Ordnungen stets auch die Möglichkeit der alternativen sozialen und politischen Ordnung gegeben. Raumgestaltung erzwingt Sichtweisen von Umwelt und Raum, bestimmt in gewissem Umfang Handlungs- und Verhaltensweisen im Umfeld und im Umgang mit der (Repräsentations-)Architektur. Raumgestaltung symbolisiert und prägt Ordnungsvorstellungen bzw. setzt diese durch. Mit der baulichen Gestaltung der Umwelt wird es den jeweils Mächtigen möglich, symbolisch ihre Sicht auf die Welt und ihre Wertmaßstäbe öffentlich und breitenwirksam darzustellen. Debatte eröffnet: Ob und inwieweit sich Zusammenhänge zwischen dem Wandel des Politischen und den baulichen Veränderungen im Raum aufzeigen lassen, ist etwa an der neuzeitlichen Entwicklung der Stadt Berlin zu erörtern. Zu fragen ist ferner, wer die Entscheidungen für die bauliche Umgestaltung der Stadt getroffen hat: Die Bevölkerung? Die PolitikerInnen? Die Wirtschaftsmächtigen? In Berlin zeichnen Politik und Wirtschaft verantwortlich für die Stadtentwicklung, also eine relativ kleine Gruppe meist männlicher Bundesbürger, nicht aber primär die NutzerInnen und BewohnerInnen der Stadt. Im Raum des Uruk World-System änderten die für die Handelsstation Habuba Kabira Verantwortlichen die Größenverhältnisse von Wohn- und Kultbauten - ebenfalls eine vermutlich kleine Gruppe männlicher Personen, diesmal aus dem Umfeld der in Uruk Herrschenden. Globalisierung und die Macht der Wirtschaft Die Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Miteinanders in der Peripherie entsprachen in Habuba Kabira dem baulichen Bild und der räumlichen Ordnung nach zu urteilen nicht den Konventionen, die zur gleichen Zeit in Uruk galten. Obwohl die Tempel- und Verwaltungsbauten im Typ und Grundriss denen des Zentrums im Süden entsprachen und ihre ErbauerInnen damit Aspekte der traditionellen Ordnung auch fern der „Heimat“ bewahrt hatten, war die Nivellierung der sichtbaren Differenz zwischen den traditionellen Macht- und Herrschaftsbauten und den Wohn- und Wirtschaftsgebäuden in Habuba Kabira unübersehbar (siehe Abb. 5.2). Wenn Architektur und Raumordnung auch Hinweise auf die jeweils herrschende Ordnung enthalten, hieß dies: die traditionellen Machtinstanzen des Zentrums hatten in der Peripherie an Einfluss verloren und neue Kreise an Macht gewonnen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 5 85 H A B U B A K A B I R A - A R C H I T E K T U R U N D R A U M O R D N U N G 5.4.2.1 Globalisierung - welche Macht regiert im Land? 5.4.2.2 Globalisierung und die Macht des Wirtschaftsmanagements, in die herrschende politische Ordnung einzugreifen Auch in Habuba Kabira symbolisierte die räumliche Ordnung also das Potential einer neuen Macht (der Wirtschaftsmacht), die traditionellen Verhältnisse nachhaltig und sichtbar zu verändern. Die Architektur und Raumordnung enthielt zwei politische Botschaften: Zur Gründung der Siedlung war es mit hoher Wahrscheinlichkeit gekommen, weil die politische Elite in Uruk sie für wirtschaftliche Belange benötigt hatte. Nach außen präsentierte sich das politische Establishment von Uruk also als die Macht hinter der Errichtung dieser Siedlung. Somit wurde den lokal Ansässigen klar gemacht, dass nun neue, wirtschaftlich und politisch potente Kräfte die Ordnung bestimmten. Innerhalb der Siedlung jedoch prägten die Ordnungsvorstellungen des lokalen „Wirtschaftsmanagements“ das Bild, das die Macht in Habuba Kabira repräsentierte. Den BewohnerInnen intern, also den SiedlerInnen von Habuba Kabira, wurde also vermittelt, dass in der Fremde andere Regeln der Repräsentation von Macht vorherrschen als im Zentrum Uruk. Baulich manifestiert: Die Transformation von wirtschaftlicher in politische Macht In der Siedlung Habuba Kabira manifestierte sich eine Ordnung, für die die lokalen VerwalterInnen und OrganisatorInnen verantwortlich waren. Zwar hatten diese den BewohnerInnen der Siedlung mit den Kultbauten durchaus wirkungs-mächtige und vertraute Symbole der „heimischen Kultur“ zur Verfügung gestellt und damit Elemente der Tradition bewahrt, die für die Identifikation eines Wir unerlässlich waren. Die Rangordnung der vertrauten Symbole im Siedlungsbild - die Tempel jetzt nicht mehr größer als die Bauten der BewohnerInnen (siehe Abb. 5.4) - dürfte allerdings dazu geführt haben, dass die BewohnerInnen von Habuba Kabira die Welt „mit neuen Augen“ sahen. Die Symbole der zunächst wirtschaftlich, dann auch politisch Mächtigen vor Ort waren ebenbürtig neben die Symbole der politisch Herrschenden im Zentrum Uruk getreten. Diese Nivellierung der baulichen Differenzierungen stand symbolisch für die Nivellierung der Machthierarchien vor Ort und in Uruk. Eine Verschiebung der Kräfte hatte stattgefunden, nach der die herrschende Ordnung in Habuba Kabira nicht mehr derjenigen von Uruk entsprach. Die Chance, die im globalen Handel erworbene wirtschaftliche Macht im Uruk World-System in wirtschaftspolitische Macht zu transferieren, hatten die OrganisatorInnen von Habuba Kabira genutzt, um sich als „dritte Kraft im Lande“ (neben Königtum und Priesterschaft) zu etablieren. Begünstigt war das Separationsunterfangen der neuen Eliten durch die räumliche Entfernung © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 86 D I E E R S T E G L O B A L I S I E R U N G G I N G V OM N A H E N O S T E N A US 5.4.2.3 der Peripherie vom Zentrum, die offenkundig mit einem Kontrollverlust des Südens bei gleichzeitiger politisch-existentieller Abhängigkeit des Zentrums Uruk von den Handelsstationen, hier Habuba Kabira, einherging. Angemerkt: Wie schnell die wirtschaftliche Abhängigkeit eines politischen Zentrums von einer wirtschaftlich potenten Peripherie zu einer Umkehrung der Machtverhältnisse und zur Entmachtung der Herrschenden im Zentrum führen konnte, ist an zahlreichen Beispielen aus der mesopotamischen Geschichte zu dokumentieren, etwa an der Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem König Ibisin von Ur (2028-2004 v. Chr.) und König Išbierra von Isin (2017-1985 v. Chr.), der zunächst als Militär in den Diensten der Dynastie von Ur gestanden hatte. In Ur gingen in Folge der Bodenversalzung die Getreideerträge dramatisch zurück. Die Bevölkerung war von Hungersnot bedroht, die Preise für Getreide stiegen innerhalb der Regierungszeit des Išbierra um das 60-fache. Išbierra, im Norden von Ur in Isin angesiedelt und dort verantwortlich u. a. für die Sicherstellung der Getreidelieferungen an Ur, nutzte diese Situation aus, verweigerte die im Süden dringend benötigten Lieferungen, kündigte die Loyalität mit seinen Oberherren in Ur auf und ernannte sich selbst in Isin zum König bzw. ließ sich dort zum König ernennen (siehe u. a. Cassin u. a. 1965: 149 ff. und Nissen 1998: 68). Globalisierung und die „gebaute Botschaft“ an die Nachbarn des Umschlagplatzes Habuba Kabira Dass die Initiatoren des globalen Miteinanders nicht aus den eigenen Reihen kamen, wurde mit der Errichtung von Habuba Kabira den dort bereits ansässigen Bevölkerungen unzweifelhaft vor Augen geführt. Die gewaltige Stadtmauer um Habuba Kabira repräsentierte unübersehbar das und die Anderen: Uruk! Mit der Stadtmauer als Symbol der urbanen Kultur Mesopotamiens griffen die Erbauer von Habuba Kabira ungeachtet aller gesellschafts- und siedlungsinternen Änderungen gänzlich auf die Symbole der Macht des urbanen Zentrums im Süden Mesopotamiens zurück und stellten sich gegenüber „den Anderen“ gezielt mit den klassischen Symbolen der traditionellen Herrschaft des Südens dar. Ob sich die Verantwortlichen in Habuba Kabira gegenüber den lokalen Anrainern als Repräsentanten des Südens oder als Repräsentanten der neuen Ordnung verstanden, die mit der Innengestaltung Habuba Kabiras sichtbar geworden war, bleibt offen. Dass eine so gewaltige Stadtmauer immer auch den Schutz vor Angriffen sichern sollte, darf dabei nicht außer Acht gelassen werden. Tausend Jahre später, zur Zeit der III. Dynastie von Ur, wäre die Errichtung einer Stadtmauer eindeutiger zu interpretieren: zu der Zeit stand sie symbolisch für die politische Unabhängigkeit der Stadt vom politischen Zentrum in Ur (Smith 2003: 211). Was einmal mehr zeigt, wie der geschickte Einsatz von Traditionen selbst in scheinbar widersprüchlicher Verwendung die Ziele der Mächtigen bedient. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 5 87 F A Z I T : U R B A NI SI E R U N G - G L O B A L I S I E R U N G … 5.5 5.5.1 Fazit: Urbanisierung - Globalisierung … Die Repräsentationsbauten in Uruk und Habuba Kabira waren direktes Resultat politischen Handelns, geformt und geprägt durch die Intentionen, Ziele und Visionen der jeweils zuständigen Eliten, die in Habuba Kabira nicht der gleichen Gruppierung angehörten wie in Uruk. „Heimat und Exil“ wurden in der Peripherie zwar symbolisch über die Gestaltung der Stadtmauer wie auch der Kultbauten verbunden, und die Erinnerung an die südmesopotamische Tradition blieb auch für die in der Ferne Lebenden sichtbar. Die politische Ordnung in Habuba Kabira entsprach aber nicht mehr dieser Tradition. Über das globale Wirtschaften hatte sich in Habuba Kabira das sog. Wirtschaftsmanagement als dritte Kraft im Lande etabliert und optisch manifestiert. Den Herrschenden in Uruk war in der Peripherie eine Konkurrenz um Macht, vielleicht um Herrschaft erwachsen, die ihre Basis in der wirtschaftlichen Organisation und in der Kontrolle über die machtpolitisch wichtigsten Ressourcen. … und viele offene Fragen In der schon erwähnten Studie von G. Algaze wurde modellhaft die Entwicklung des globalen Miteinanders zur Urukzeit nachgezeichnet. Ausgezeichnete Forschung wirft aber in der Regel ebenso viele neue Fragen auf, wie sie zu beantworten suchte. Wenn wir mit Algaze davon ausgehen können, dass der Süden Mesopotamiens vom globalen Handel maßgeblich profitierte, ist gleichzeitig zu fragen, in welcher Form die Peripherien vom neuen System des globalen Wirtschaftens betroffen waren! Und hier sind nicht die neugegründeten Enklaven gemeint, sondern die in den Peripherien bereits existierenden Ansiedlungen und deren BewohnerInnen: also die Regionen und Ortschaften, die entweder selbst über die gesuchten Rohstoffe verfügten oder als Vermittlungsraum für die Distribution der Ressourcen genutzt worden waren. Globalisierungskritiker würden sagen, sie hätten ihre wirtschaftliche Basis und politische Ordnung verloren. Globalisierungsbefürworter würden auf die kulturstiftende Kraft der globalen Begegnung verweisen. Die archäologische Forschung sollte den Sachverhalt beider Aussagen weiterführend untersuchen und konkret fragen, in welcher Weise die BewohnerInnen der lokalen Siedlungen in den Peripherien in den überregionalen Güteraustausch involviert waren. Wer handelte mit wem? In wessen Händen lagen welche Befugnisse? Wer profitierte in welcher Form von der globalen Begegnung? Wo sind die Hinweise für den Anteil der Peripherie am Austausch? Wir finden Metallobjekte (Abb. 5.5) und wir sehen die Verwendung von Stein und Holz als Baumaterialien in den südmesopotamischen Städten - Rohstoffe, die im Süden knapp oder gar nicht vorhanden waren. Dagegen sind wir (nach heutigem Wissen) so gut wie nicht darüber unterrichtet, was die Peripherie für die Überlassung ihrer Rohstoffe von den südmesopotamischen Handelspartnern erhielt. Mit welchem Handelsverhalten ist zu rechnen - mit © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 88 D I E E R S T E G L O B A L I S I E R U N G G I N G V OM N A H E N O S T E N A US symmetrischem oder asymmetrischem Handel? Und mit welchen Formen des globalen Miteinanders? Fand der globale Handel auf gleicher Augenhöhe der Beteiligten statt, wurde er erzwungen, kooperierten die Eliten der Importeure und der Exporteure? Wie erreichten es die Exporteure, also die lokalen Organisatoren des Austauschs, dass die von den Importeuren erwünschten Güter und Rohstoffe zur gewünschten Zeit und in den gewünschten Mengen zur Verfügung standen? Und was bedeutete es für den Umgang miteinander und die gegenseitige Akzeptanz, wenn die Importeure ihre Siedlungsformen, Architekturstile und ihre traditionelle Art und Weise, sich von „den anderen“ abzusetzen, in die Region verpflanzten, in die sie zur Sicherung der eigenen, heimischen Wirtschaftsentwicklung vorgedrungen und sich raumgreifend unübersehbar gemacht hatten? Wie entwickelten sich die lokalen Siedlungen nach Ansiedlung der Importeure? Welche Auswirkungen auf das lokale Geschehen hatte es, wenn Handelsumschlagplätze, also neue Wirtschaftstandorte, im Kontext gewachsener Siedlungssysteme errichtet wurden? Wenn also die Begegnung a) b) c) Abb. 5 . 5 a-c Urukzeitliche Miniaturfigur eines liegenden Rindes, aus Stein mit Einlagen aus Lapislazuli; Höhe ca. 8 cm; Urukzeitliche Steinfigürchen, Höhe ca. 25 cm; Urukzeitliche Miniaturfigur eines stehenden Rindes aus Kalkstein, ursprünglich mit Einlagen aus anderem Material, Beine aus Silber, Höhe ca. 8 cm. Steinfiguren, z. T. mit Einlagen aus andersfarbigem Stein als der Tierkörper, und Tierfiguren, die aus Stein und Metall gefertigt sind, verweisen auf die Importe der entsprechenden Rohstoffe nach Südmesopotamien und Uruk bzw. auf die Importe der Figuren als solcher. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 5 89 F A Z I T : U R B A NI SI E R U N G - G L O B A L I S I E R U N G … 5.5.2 zwischen „Fremden“ dauerhaft wurde? Wie wirkte sich das Ungleichgewicht im Wissensstand der nun nachbarschaftlich Siedelnden auf das Miteinander aus - urbane Strukturen und die mit diesen verbundenen kulturellen und gesellschaftlichen Komplexitäten wie im urukzeitlichen Südmesopotamien kannten die Peripherien des globalen Handels zu dieser Zeit aus ihrer eigenen Entwicklung nicht. Und was blieb von den Kenntnissen der Südmesopotamier in der Peripherie, nachdem das globale System zusammengebrochen war? „Kulturkontakte“ verliefen im Alten Orient über tausende von Jahren vor dem Hintergrund verschiedenster kultureller Kontexte und im Rahmen unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnungen und politischer Systeme. Eine Vielzahl von Interaktionsformen - Krieg, Handel, Diplomatie, Kontakt durch Migration, Begegnung zwischen Gesellschaften mit sesshafter, mobiler und saisonal mobiler Lebensweise - wurde getragen von einem nicht minder vielfältigen Spektrum von Akteuren. Die auslösenden Faktoren für die Begegnungen und die Eigenarten der Akteure dürften einen nicht unwesentlichen Einfluss darauf gehabt haben, welche Bereiche des gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen Lebens welchem Einfluss des „Anderen“ ausgesetzt waren. Die in den kritischen Kommentaren zur Globalisierung aufgeworfenen Überlegungen, ob global ausgeweitete Kulturkontakte letztlich zur Homogenisierung und damit zur Nivellierung kultureller Vielfalt führen und geführt haben, oder, im Gegenteil, zur Vervielfältigung kultureller, politischer und ökonomischer Ausdrucksweisen und sozialer und politischer Organisationsformen, gehören auch in der Auseinandersetzung mit den Kulturkontakten in den altorientalischen Gesellschaften zu den Grundüberlegungen zukünftiger Untersuchung, die, so ist zu hoffen, die jetzt Studierenden der Vorderasiatischen Archäologie durchführen werden. „Immer größer - immer weiter - immer mehr“ - Urbanisierung, Globalisierung, Umweltzerstörung Nach ca. fünfhundertjähriger Dauer ging das „World-System“ zugrunde - woran, ist noch nicht eindeutig geklärt. Veränderungen im Wasserhaushalt des mesopotamischen Südens dürften aber u. a. dazu geführt haben, dass die Siedlungsweise des Südens - Konzentration großer Menschenmengen an einem zentralen Standort wie Uruk - nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Dass Urbanisierung und Globalisierung auch ihre Schattenseiten hatten, ließ sich schon im 4. Jt. v. Chr. nicht mehr verbergen. Neben allen konstruktiv-innovativen Entwicklungen, die im Nahen Osten ihren Ursprung hatten, dürfte im Süden Mesopotamiens auch erstmals ein Prozess sichtbar geworden sein, der bis heute zu den großen Problemen der Menschheit gehört: Es zeigten sich die ersten gravierenden Umweltschäden In großem Umfang versalzten die überbeanspruchten Felder und die Subsistenzsicherung der urbanen wie der ländlichen Bevölkerung war erstmals © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 90 D I E E R S T E G L O B A L I S I E R U N G G I N G V OM N A H E N O S T E N A US existentiell gefährdet. Flusswasser enthält gelöste Salze. Bewässert man Felder mit Flusswasser, nehmen die Pflanzen das Wasser auf, das Salz verbleibt im Boden. Wird es nicht entfernt (ausgespült), etwa, weil das Wissen darum fehlt, versalzen die Böden und werden unfruchtbar. Versalzung, Verkarstung, Wüstenbildung und Erosion waren die mittel- und langfristigen Folgen falscher Bewässerungswirtschaft, die als ungeplante Ergebnisse einer technologischen Entwicklung (der Landwirtschaft und der künstlichen Bewässerung) im Umfeld der urbanen Entwicklung des Südirak erstmals in der Menschheitsgeschichte als existenzbedrohende Umweltzerstörung auftraten. Weiterführende Literatur Algaze, Guillermo. 1993. The Uruk world system: the dynamics of expansion of early Mesopotamian civilization. Chicago. University of Chicago Press Boehmer, Rainer M. (Hg.). Seit 1978. Ausgrabungen in Uruk-Warka/ Dt. Archäolog. Inst., Abt. Baghdad. Rahden, Westfalen, Leidorf Bourdieu, Pierre. 1992. Die verborgenen Mechanismen der Macht. VSA-Verlag, Reihe: Schriften zu Politik & Kultur. Hg. von Margareta Steinrücke, 1 Cassin, Elena (Hg.). 1965. Die altorientalischen Reiche, Band: 1. Vom Paläolithikum bis zur Mitte des 2. Jahrtausends. Frankfurt a. M. S. Fischer Verlag. Reihe, Fischer-Weltgeschichte, 2 Heinz, Marlies. 1997. Der Stadtplan als Spiegel der Gesellschaft: Siedlungsstrukturen in Mesopotamien als Indikator für Formen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Organisation. Berlin. Reimer - 2005. Bauen, Planen, Raum gestalten: Repräsentation der Macht via Architektur, ein ambivalentes Unterfangen. In: Thomas Ganschow (Hg.). Otium: Festschrift für Michael Strocka. Remshalden. Greiner, 2005, S. 123-142 Nissen, Hans J. 1998. Geschichte Altvorderasiens. München. Oldenbourg. Reihe: Oldenbourg-Grundriß der Geschichte; 25 Rehbein, Boike (Hg.). 2008. Theorien der Globalisierung. Konstanz. UVK. Reihe: UTB 3052 Rothman, Mitchell S. und Algaze, Guillermo (Hg.). 2001. Uruk Mesopotamia & its neighbors: cross-cultural interactions in the era of state formation. Santa Fe/ New Mexico. School of American Research Press Smith, Adam T. 2003. The political landscape: constellations of authority in early complex polities. Berkeley/ California. University of California Press Strommenger, Eva. 1980. Habuba Kabira. Eine Stadt vor 5.000 Jahren. Ausgrabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft am Euphrat in Habuba Kabira. Mainz. Zabern Abb. 5 . 6 Rezent versalzene Böden 5.6 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 91 Eine neue Etappe der Kommunikationstechnik: die dauerhafte Aufzeichnung sprachlicher Äußerungen seit der Frühdynastischen Zeit (Mitte 3. Jt. v. Chr.) Einheit 6 Inhalt 6.1 Gesprochene Sprache - in Texten erfasst 92 6.2 Aus Texten erstmals abzulesen: Sicherung des gemeinsamen (Über-)Lebens in einem fruchtbaren, aber potentiell störanfälligen Naturraum 93 6.3 Erstmals schriftlich kundgetan: Wie Mann korrekt zur Herrschaft kam … und Frau zur Macht gelangte 95 6.4 Wasserknappheit - ein hochaktuelles Krisenphänomen mit einer mehr als 4.000-jährigen Geschichte 96 6.5 Krieg in Mesopotamien - die Geierstele berichtet 97 6.6 Krieg und Gewalt sind keine neuzeitlichen Phänomene politischen Handels 99 6.7 Funktionen der Religion im Alten Orient 100 6.7.1 Religion und die Legitimation direkter Gewalt 100 6.7.2 Religion und der Umgang mit den Widersprüchlichkeiten des Alltags 102 6.8 Fazit: Was die Texte deutlich machen 103 6.9 Weiterführende Literatur 104 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 92 E I N E N E U E E TA P P E D E R K OMMU N I K AT I O N S T E C H N I K 6.1 Denksysteme und Vorstellungswelten der Eliten neue Felder im kulturellen Gedächtnis Gesprochene Sprache - in Texten erfasst Im Kontext der Stadtentwicklung war schon im 4. Jt. v. Chr. - und damit erstmals in der Geschichte der menschlichen Gemeinschaften - in Mesopotamien ein schriftliches Aufzeichnungssystem entstanden, die Keilschrift (siehe Einheit 4). Sie diente zunächst der Registratur wirtschaftlicher Transaktionen, die aufgrund der zunehmenden Komplexität der Vorgänge allein über die Erinnerung der Beteiligten nicht mehr zu memorieren waren. Rund fünfhundert Jahre später ist mit dem Auftreten grammatikalisch voll ausgebildeter Texte eine weitere „Revolution“ zu verzeichnen - für die Kommunikation der Schriftkundigen damals ebenso wie für die Möglichkeit heute, auf neue Weise Denksysteme und Vorstellungswelten vergangener Gesellschaften zu erforschen. Erstmals informieren die Texte im Detail über nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Miteinanders: über die politischen Organisationsformen der Zeit, über die gesellschaftlichen Ordnungssysteme, über Religion und die Verknüpfung der religiösen und menschlichen „Welten“, über die Selbst- und Weltbilder derer, die ihre Ideologien verschriftlichen konnten, über die wirtschaftlichen Potentiale und Probleme der Städte, über Umweltprobleme, über Konflikte und Krieg ebenso wie über die vielfältigen Formen des Konfliktmanagements und der Friedensbeschlüsse, über die Macht der Traditionen und derer, die die Traditionen zu kontrollieren vermochten. Das neue Medium bot vor allem den Regierenden die Möglichkeit, sich und ihre Sicht auf die Welt in neuen Facetten dauerhaft zu präsentieren - und sie machten einen regen Gebrauch davon. Erstmals wurden die Taten und Errungenschaften der Herrschenden in Königsinschriften festgehalten und Gesetzestexte aufgezeichnet, die Regeln des Gemeinschaftslebens, wie sie die Herrschenden sahen, schriftlich festhielten. Es entstanden Textsammlungen mit Verlautbarungen, die der politischen Ideologie zufolge die Gemeinschaft stärkten und in der politischen Realität die Herrschaft der Herrschenden sicherten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Kulturen der Welt wurden die Taten und Zuständigkeiten der Gottheiten kanonisiert zusammengestellt und damit ebenfalls der Erinnerung dauerhaft und als Spiegel des menschlichen Zusammenlebens vor Augen geführt. Das Verhältnis der Menschen zu den Göttern wurde erläutert, und im 3. Jt. v. Chr. tauchte erstmals das Motiv des Gottessohnes auf, des Menschen also, der auf Erden als seinen Vater den Hauptgott des Gemeinwesens benennt. Mit Hilfe der Texte wird ersichtlich, dass man bereits im 3. Jt. v. Chr. die zerstörerische Gewalt kriegerischer Auseinandersetzungen auch als Gefahr für die eigene Gemeinschaft erkannt und zu minimieren versucht hatte. Nicht das Kriegführen um jeden Preis stellte die Devise der Zeit dar. Dem Konfliktmanagement kam ein hoher Stellenwert zu. Kriegsvermeidung statt Kriegführung bildete einen elementaren Teil der Politik, Mittler wurden zur Schlichtung herangezogen, Berater standen den Königen in der Amtsführung zur Seite. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 6 93 S I C H E R U N G D E S G E M E IN S A M E N Ü B E R L E B E NS 6.2 Und im 3. Jt. v. Chr. begegnet uns erstmals das Phänomen der Rebellion, des gewaltsamen Zugriffs auf den königlichen Thron durch einen Repräsentanten der Elite, der mangels königlichen Vaters die Herrschaft über den regelgerechten Zugang nie hätte erlangen können. Mit der Möglichkeit, über grammatikalisch vollständige Formen und Sätze komplexe Botschaften verständlich mitzuteilen, gewannen die Gesellschaften des Alten Orients nicht nur für die eigenen Belange eine sensationelle Bereicherung des Kommunikationswesens. Die Schriftentwicklung, die in Mesopotamien vor 5.000 Jahren ihren Anfang nahm, hat zugleich der gesamten Alten Welt, also dem heutigen Europa, die Kenntnis der schriftlichen Aufzeichnung vermittelt und die Schriftnutzung möglich gemacht. Die Forschung in der Vorderasiatischen Altertumskunde wurde durch die Schriftentwicklung spezifisch geprägt. Archäologie und Philologie bilden eine unauflösbare Einheit. Gemeinsam erforschen ArchäologInnen und PhilologInnen 3.000 Jahre Geschichte der altorientalischen Gesellschaft - auf der Grundlage der nichtschriftlichen materiellen Hinterlassenschaften und der Textzeugnisse, die als numerische Aufzeichnungen in der Urukzeit aufkamen und als grammatikalisch ausgereifte, komplexe Texte in der sog. Frühdynastischen Zeit (2700-2350 v. Chr.) erstmals weitreichende Einblicke auch in die Geisteswelt der Zeit ermöglichen. Aus Texten erstmals abzulesen: Sicherung des gemeinsamen (Über-)Lebens in einem fruchtbaren, aber potentiell störanfälligen Naturraum Die politische Organisation Südmesopotamiens zur sog. „frühdynastischen Zeit“ war durch das Miteinander politisch unabhängiger Stadtstaaten gekennzeichnet. Mit dem Begriff „Frühdynastische Zeit“ bezieht sich die Forschung auf eine weitere maßgebliche Neuerung der Zeit: mit Hilfe der schriftlichen Aufzeichnungen kann erklärt werden, wer im 3. Jt. v. Chr. in Südmesopotamien Herrschaft ausüben durfte und wie der regelgerechte Zugang zur Herrschaft aussah. Zu der Zeit wurde das Königtum vom Vater auf den Sohn vererbt, d. h., erstmals ist die Existenz eines Dynastiensystems erkennbar. Politisch unabhängig meint, dass zu der Zeit keine politisch übergeordnete Instanz existierte, die die Kontrolle über mehrere Städte des Südens ausgeübt hätte. Die politischen Organisationsformen und -strukturen der einzelnen Stadtstaaten waren identisch, und auch in der wirtschaftlichen und militärischen Stärke entsprachen die Stadtstaaten einander. Jeder Stadtstaat verfügte über ein dörfliches Umland als Hoheitsgebiet. Ackerbau und Viehzucht stellten die Wirtschaftsgrundlage aller Ansiedlungen dar, Fischerei und Jagd ergänzten die Subsistenzsicherung, und Handel und Austausch untereinander © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 94 E I N E N E U E E TA P P E D E R K OMMU N I K AT I O N S T E C H N I K erweiterten das wirtschaftliche Agieren. Engpässe in der Subsistenzsicherung überbrückten die Stadtstaaten durch eine Form des Städtebundes, in dem man sich (im Idealfall) wechselseitig mit Arbeitskräften und Subsistenzgütern aushalf. Im Wirtschaftsverbund galt zudem ein von allen akzeptiertes und normiertes Gewichts- und Maßsystem. Jenseits der relativen politischen Autonomie bildeten die Stadtstaaten eine kulturelle Einheit. Man sprach eine gemeinsame Sprache, nutzte ein einheitliches Schriftsystem und bediente sich einer vergleichbaren Bildsprache. Entsprechend der lokalen politischen Ordnung verfügte jeder Stadtstaat über ein Pantheon, dessen Gottheiten für die lokalen Belange zuständig waren. Hinter den formal-organisatorischen Parallelen standen vergleichbare Wertvorstellungen, Symbolsysteme und religiöse Strukturen. Ungeachtet aller Parallelen in den kulturellen Ausdrucksformen zeigte das religiöse Ordnungssystem eine maßgebliche Abweichung vom System der politischen Autonomie. Den lokalen Stadtpanthea vorangestellt bzw. übergeordnet war das zentral organisierte und überregional zuständige sumerische Pantheon, „lokalisiert“ in der Stadt Nippur. Das sumerische Pantheon Die Gruppe der hochrangigsten Götter im Sumerischen Pantheon bestand aus den folgenden sechs Gottheiten: An: Oberhaupt des sumerischen Pantheons und Ahnherr aller Götter mit Kultsitz in Uruk. Enlil: der Stadtgott von Nippur war als Ans Sohn der Oberherr aller Götter; sein Name bedeutet wörtlich „Herr Wind“. An seiner Seite stand als seine Gemahlin die Muttergottheit Ninlil. Abb. 6. 1 Verteilung der frühdynastischen Städte im Südirak Ordnungssystem der Stadtstaaten © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 6 95 W I E M A N N KO R R E K T Z U R H E R R S C H A F T K A M 6.3 machtrelevante Funktionen der Frauen Inanna: die Stadtgöttin von Uruk, zugleich bekannt als die Göttin der Liebe wie des Krieges, war Enlils Tochter. Enki: der Herr der Stadt Eridu und Herr über das Süßwasser hatte den Menschen die Weisheit und das Wissen übermittelt - auch er war ein Sohn des An. Nanna: der Mondgott, Sohn des Enlil und verheiratet mit der Göttin Ningal, residierte in Ur. Utu: Sohn des Nanna, Sonnengott und zuständig für die Gerechtigkeit, residierte in Larsa. Die religiöse Ordnung und die überregionale Wirkungsmacht der Gottheiten entsprach somit nicht der weltlichen Ordnung. Das überrascht zunächst, und es ist zu überlegen, ob die zentrale Organisation der Götterwelt ein Relikt und Spiegel der Verhältnisse zur Urukzeit war, für die eine zentrale Organisation des Politischen, lokalisiert in Uruk, nicht auszuschließen ist. Dass aber auch gerade dort, wo autonome Stadtstaaten nebeneinander existierten, eine Instanz mit Kompetenzen, die über die Partikularinteressen einer Stadtgemeinschaft weit hinausgingen, überlebenswichtig für alle Siedlungsgemeinschaften werden konnte, zeigt insbesondere das Ritual der Friedensfindung, das das Ende des Krieges zwischen den Nachbarstädten Umma und Lagaš besiegelte (s. u.). Erstmals schriftlich kundgetan: Wie Mann korrekt zur Herrschaft kam … und Frau zur Macht gelangte Den Regeln gemäß gelangte derjenige zur Herrschaft, der von Gott ernannt oder von seinem königlichen Vater mit dem Herrscheramt betraut worden war. Die Tradition der (weltlichen wie göttlichen)Väter stellte einen maßgeblichen Parameter für die Legitimation der Herrschaft dar. Töchter königlicher Väter und Frauen generell konnten das Amt des Königs nicht erlangen. Dass Frauen ungeachtet dessen machtvolle und herrschaftsrelevante Positionen in den Stadtstaaten einnahmen, steht den schriftlichen Überlieferungen zufolge außer Zweifel. Ihre Zuständigkeits- und Kompetenzbereiche umfassten die Wirtschaftsverwaltung der großen Tempeldomänen, darunter die Kontrolle der subsistenzsichernden Bewässerungsarbeiten. In Lagaš überwachten und bestimmten sie die Zuweisung der Lebensmittelrationen an die bis zu 1.500 Tempelbediensteten. Ihnen unterstand die Textilproduktion und die Wollverarbeitung, beides maßgebliche Wirtschaftszweige für den Außenhandel u. a. mit den Regionen am Persischen Golf (Abb. 6.1). Die Frauen waren im Sklavenhandel aktiv, und als politisch und wirtschaftlich agierende Kräfte pflegten sie einen regen diplomatischen Austausch zwischen den Städten des mesopotamischen Südens. Über maßgebliche Wirtschaftsressourcen des Stadtstaates verfügten somit die Frauen der Könige, nicht die Könige selbst © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 96 E I N E N E U E E TA P P E D E R K OMMU N I K AT I O N S T E C H N I K Rechtsprechung im Konsens 6.4 Kriegsauslöser Wasserknappheit und auch nicht die Priesterschaften der entsprechenden Tempel. Zusammen nahmen der König und die Frau an seiner Seite die höchsten Positionen in der hierarchisch aufgebauten Klientelstruktur und Beamtenschaft ein. An der Seite des Königs standen ebenfalls die sog. Berater, der Ältestenrat, der maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungen des Königs ausübte. Vor allem im Konfliktmanagement war die Stimme des Ältestenrats von hoher Bedeutung. Gemeinsam mit dem König entschied dieser über Krieg und Frieden. Nur die weltliche Macht, repräsentiert durch den König, verfügte über das Heer und war verantwortlich für die Durchführung kriegerischer Aktivitäten, den Priesterschaften kam hier keine Verfügungsmacht zu. Überdies war es der König, der sich als irdischer Repräsentant der Götter sah, und nicht, wie vielleicht zu erwarten, die Priesterschaften. Dass diese dennoch keine marginale Rolle in den Stadtstaaten spielten, kann als sicher gelten. Ohne die Zustimmung der Götter konnte kein König regieren. Mit der täglichen Ausübung des Kultes und der Rituale stellten die Priesterschaften sicher, dass die von den Göttern gesetzten Ordnungen gesehen und die göttlichen Wünsche gehört wurden. Entsprechend der hierarchisch strukturierten weltlichen Ordnung bildete auch in der Götterwelt jeweils ein göttliches Paar die Spitze des Pantheons, in Lagaš etwa Ningirsu und seine Frau Baba. Die Welt und die Menschen waren Eigentum der Götter. Deren Wohlwollen entschied über die Geschicke der Menschheit, jedes politische Handeln des Herrschers war immer auch religiös motiviert und bedurfte der religiösen Legitimation. Aus der frühdynastischen Zeit ist auch erstmals die Idee der Gotteskindschaft bekannt: ein regierender KöniglegitimierteseineHerrschaftmitderBehauptung,Gottes Sohnzusein,eine Legitimation und zugleich eine Verwandtschaftsbeziehung, die mehr als zweitausend Jahre später im Kontext des Christentums erneut virulent werden sollte. Wasserknappheit - ein hochaktuelles Krisenphänomen mit einer mehr als 4.000-jährigen Geschichte Im Verlauf der frühdynastischen Zeit entwickelte sich in Südmesopotamien ein Konflikt zwischen den einander benachbarten Stadtstaaten Umma und Lagaš. Anlass des Konfliktes, so der König von Lagaš in seinen Verlautbarungen, war der wiederholte rechtswidrige Zugriff der Stadt Umma auf das Wasser und auf die Felder der Stadt Lagaš. Ökonomisch betrachtet ging es in diesem Konflikt um die Ressourcensicherung beider Städte. Kulturell und politisch gesehen geriet aber zugleich die damals geltende Machtordnung ins Wanken. Umweltschäden, verursacht durch den unsachgemäßen Umgang mit Wasser, hatten schon zur Urukzeit die Subsistenzsicherung der Städte im Süden des heutigen Irak bedroht. Etwa in der Mitte des 3. Jt. v. Chr. verschärften klima- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 6 97 K R I E G I N M E S O P OTA MI E N - D I E G E I E R S T E L E B E R I C H T E T tische Veränderungen im Vorderen Orient die wirtschaftlichen Probleme im südlichen Mesopotamien. Jetzt bedrohten der Wasserrückgang und die damit einhergehende Verknappung fruchtbaren Ackerlands die Subsistenzsicherung und damit die Existenzgrundlage der ansässigen Bevölkerungen. Die ökonomischen Probleme führten zur politischen Krise, Krisenbewältigung und erfolgreiches Konfliktmanagement wurden überlebenswichtig nicht nur für die direkt involvierten Städte, sondern für den gesamten Städteverbund der Region. Die Abhängigkeit aller südmesopotamischen Städte von einem zusammenhängenden und zugleich weitverzweigten Kanalsystem, also von einer gemeinsam genutzten hochkomplexen Bewässerungsanlage, war existentiell, der ungehinderte und gesicherte Zugang zu den bewässerten Feldern überlebenswichtig. Krieg in Mesopotamien - die Geierstele berichtet Das von dem König der Stadt Lagaš postulierte Vergehen des Nachbarn Umma, die permanente rechtswidrige Nutzung des Wassers, der Kanäle, und der Felder des Stadtstaates Lagaš, stellte mehr als nur einen Übergriff auf die ökonomischen Ressourcen von Lagaš dar. Wasser, Felder und Kanäle waren Besitz des Stadtgottes Ningirsu, und der König von Lagaš als dessen Repräsentant hatte umgehend für das Ende dieses Missbrauchs zu sorgen. In Text und Bild hat Eannatum, der damalige König von Lagaš, sein erfolgreiches Agieren für die Nachwelt festgehalten. Debatte eröffnet: Wie liest und wie dekodiert man eine Königsinschrift? Wie beantworten die Vorderasiatische Archäologie und die Altorientalische Philologie die Frage nach der Historizität eines altorientalischen Keilschrifttextes? Hat der Krieg zwischen Umma und Lagaš „wirklich“ stattgefunden? Was sind Fakten, was stellt Propaganda dar? Der uns überlieferte Text ist aus der Sicht des Königs von Lagaš geschrieben - wie hätte die Darstellung eines solchen Ereignisses aus der Sicht der Stadt Umma ausgesehen, die im Konflikt zuerst Täter, dann Opfer war? Ungeachtet der Bedrohlichkeit des Problems - oder gerade deshalb? - versuchten die Könige der unmittelbar vom Konflikt betroffenen Städte zunächst, den Konflikt friedlich beizulegen. Als Mittler wurde der König von Kiš eingeschaltet, um eine Lösung für die gerechte Wasser- und Feldernutzung im Grenzgebiet zwischen beiden Städten herbeizuführen. Warum die Elite von Kiš für diese verantwortungsvolle Aufgabe ausgesucht wurde, ist bislang noch ungeklärt. Die Vermittlung scheiterte, der Konflikt eskalierte und der Krieg brach aus … und hier empfiehlt sich das Weiterlesen des Textes in der Übersetzung von H. Steible, 1982, das Studium der historischen Darstellung des Geschehens durch J. Cooper, 1983 und der Betrachtungen zum Thema von I. Winter, 1985 und J. Kirchhofer, 2002. 6.5 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 98 E I N E N E U E E TA P P E D E R K OMMU N I K AT I O N S T E C H N I K Den besagten Missbrauch beantwortete Lagaš mit direkter, militärischer Gewalt. Sturmfluten, so Eannatum, habe er über die Stadt hereinbrechen lassen und damit Umma vernichtet. é-an-na-túm-me umma ki -a IM-h ∞ ul-im-ma-gim a-MAR mu-ni-tag 4 Eannatum hat in Umma wie einen bösen Regensturm dort eine Sturmflut losgelassen Es wurde also genau die Ressource zur Vernichtung des Gegners eingesetzt, deren Missbrauch den Konflikt nach Aussagen des Königs Eannatum herbeigeführt hatte. Wie von einer Königsinschrift zu erwarten, endete der Krieg dem Text zufolge siegreich für Lagaš. Abb. 6. 2 Die Geierstele: Während Eannatum von Lagaš namentlich als Sieger im Krieg zwischen Umma und Lagaš genannt wird, wird der Name des unterlegenen Königs von Umma nicht aufgeführt Abb. 6. 3 Ein mit Keilschrift beschriebenes Fragment der Geierstele © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 6 99 K R I E G U N D G E W A LT SI N D K E I N E N E U Z E I T L I C H E N P H Ä N OM E N E P O L I T I S C H E N H A N D E L S wie man Krieg beendet 6.6 Das Kriegsende hieß aber nicht, dass der Konflikt beigelegt war. Der Niederlegung der Waffen folgte ein komplexes Ritual, in dem der Sieg von Lagaš durch Umma öffentlich bestätigt werden musste. Stelen wurden sichtbar aufgestellt und markierten die festgelegten Grenzen zwischen Lagaš und den Nachbarn. Eine Beilegung des Konfliktes konnte erwartungsgemäß nicht ohne das Zutun der Götter erfolgen, und es waren nicht allein die Stadtgötter von Lagaš und Umma, die nun eingriffen. Der Friedensbeschluss konnte erst wirksam werden, nachdem die Repräsentanten der Verliererpartei Umma einen Eid auf die Anerkennung und die Zusicherung der Unversehrtheit der neuen Raumordnung geleistet hatten - und zwar vor den ranghöchsten und mächtigsten Gottheiten des übergeordneten sumerischen Pantheons: Enlil (für die Herrschenden eine der wichtigsten Gottheiten, dem Eannatum hat er „den Namen und das Königtum verliehen“), Enki (in doppelter Weise wichtig für die Menschen und im Konflikt Umma-Lagaš: er sorgte für die Subsistenzsicherung, indem er die Wasserversorgung sicherte, und vergab die Weisheit, die für die Regierenden zur Sicherung des Guten Lebens unerlässlich war), Nanna (sicherte das Mondlicht und gehörte in dieser Funktion zu den grundlegend wichtigen Gottheiten) und Utu (als Gott der Gerechtigkeit für die Friedenssicherung zwischen den Städten unverzichtbar). Der Städtekrieg zwischen Umma und Lagaš hatte eine Bedrohung für alle Städte des Südens dargestellt. Der Frieden musste daher von und vor den Göttern beschlossen werden, die über die lokalen Belange einer Stadt hinaus „unparteiisch“ zu urteilen wussten und für den gesamten mesopotamischen Süden zuständig waren. Ein den lokalen Gottheiten und ihren Interessen übergeordnetes Pantheon erwies sich somit gerade als überlebenswichtig für den Erhalt des partikularistisch organisierten Systems. Dem so beschlossenen und von Umma zugesicherten Frieden traute man aber offenkundig nicht wirklich - in unmissverständlichen Worten wurde den Besiegten zugleich die Strafe für einen eventuellen Vertragsbruch vor Augen geführt - er hätte die vollständige und unwiderrufliche Vernichtung des Gemeinwesens Umma durch die Götter bedeutet. Krieg und Gewalt sind keine neuzeitlichen Phänomene politischen Handels Im System der südmesopotamischen Stadtstaaten galt Gewalt als legitimiertes und somit für die Gesellschaft der frühdynastischen Zeit legitimes Mittel politischen Handelns und politischer Strategie (Heinz 1998: 30) sowohl auf lokaler Ebene, also innerhalb der Stadtstaaten, als auch in der Konfliktaustragung und -lösung zwischen den Stadtstaaten. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 100 E I N E N E U E E TA P P E D E R K OMMU N I K AT I O N S T E C H N I K 6.7 Gewalt und Religion 6.7.1 Angriff auf weltliche und religiöse Ordnung Diskussion eröffnet: Gibt es eine kulturübergreifend gültige, inhaltlich einheitliche und eindeutige Definition dessen, was man unter Gewalt versteht? Gewaltandrohung und auch der konkrete Einsatz von Gewalt dienten der Sicherung der politischen Macht, dem Gewinn und der Sicherung von Einflusssphären, der Kontrolle und Sicherung überlebenswichtiger Ressourcen, dem Schutz der eigenen Gemeinschaft gegen Bedrohungen von außen und, last but not least, der Sicherung der Herrschaft gegen Übergriffe aus den eigenen Reihen. Als wesentlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung diente die Religion als Legitimationsinstanz mit den Zielsetzungen des Schutzes der Gemeinschaft, der Sicherung der Macht der Herrschenden und der legitimierten Ressourcenkontrolle durch die Regierenden. In den kulturellen Konstellationen der altorientalischen Gesellschaften fungierte die Religion sowohl als Steuerungselement im Krisenmanagement als auch als Mittel der Integration und der Identitätsstiftung (Malinowski und Parsons nach Neu 1982: 128). Funktionen der Religion im Alten Orient Das Zusammenwirken von Religion und Gewalt als Mittel des Konfliktmanagements lässt sich erstmals im Konflikt zwischen Umma und Lagaš konkret verfolgen. Die religiöse Legitimation von Gewalt als adäquatem Mittel der Konfliktlösung zeigt sich vor allem in zwei Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Agierens. Zum einen im politischen Handeln der Eliten dort, wo diese Angriffe auf die bestehenden Ordnungen abzuwehren hatten. Zum anderen wurde Religion dort breitenwirksam, wo die Menschen Widersprüchlichkeiten in den eigenen Lebenswelten entdeckten und es ihnen gelingen musste, Bewältigungsstrategien für den Umgang mit diesen Widersprüchlichkeiten zu entwickeln (Neu 1982: 128). Religion und die Legitimation direkter Gewalt Umma, so die Überlieferung aus der Sicht von Lagaš, hatte auf mehreren Ebenen in die geltenden Ordnungen der südmesopotamischen Gesellschaften eingegriffen. Der rechtswidrige Übergriff Ummas auf die Kanäle und Felder des Nachbarn bedrohte die Subsistenzsicherung von Lagaš, brach in die bestehenden Rechtsverhältnisse ein und bedrohte zudem die kulturelle Ordnung der südmesopotamischen Stadtstaatenorganisation. Die von Umma ausgelöste ökonomische und rechtliche Krisensituation war unmittelbar verknüpft mit der Bedrohung der grundlegenden sinnstiftenden Instanzen der Städtegemeinschaft. Der Angriff auf die Eigentumsrechte von Lagaš entsprach einem Angriff auf die religiösen Werte und Normen. Zur Erinnerung: die Ländereien stellten das Eigentum der Gottheiten dar, ein Übergriff war also weit mehr als „nur“ © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 6 101 F U N K T I O N E N D E R R E L I G I O N IM A LT E N O R I E N T Rituale sichern realweltliche und geistige Ordnung ein wirtschaftliches und politisches Vergehen - Umma hatte den Angriff auf die von den Göttern etablierte Ordnung gewagt! Der folgende Krieg wird als Antwort auf diese Unrechtshandlung dargestellt und die militärische Gewalt als politisch und religiös legitimierte Handlungsweise, die zur Beseitigung des Unrechts führt und die „gerechte Ordnung“ wiederherstellt. Eannatum hatte, so der Text, für Ningirsu, den Stadtgott von Lagaš, die Fremdländer vernichtet und ihm damit seine geliebten Felder zurückgegeben. Mit Gewalt hatte er das in der Vergangenheit geschehene Unrecht beendet und den Frieden und das gute Leben der Gemeinschaft auch für die Zukunft gesichert. Sowohl die Elite als auch die Bevölkerung von Umma hatten sich der militärischen und politischen Unterwerfung zu beugen und die nachfolgende „mentale Unterwerfung“ durch den Sieger zu ertragen, die mit einem aufwendigen Ritual besiegelt wurde. Das Ritual der Unterwerfung Das vom Sieger beanspruchte Land wurde abgemessen, Stelen wurden dort errichtet und auf diesen verzeichnet, welche Felder in Zukunft nur mehr von der Siegerseite bestellt werden durften. Danach überreichte der siegreiche König dem König bzw. dem Repräsentanten der Verliererseite das sog. Große Fangnetz (wie es auch auf der Geierstele abgebildet ist) und ließ ihn vor jedem einzelnen der großen Götter des sumerischen Pantheons und den machtvollsten Stadtgöttern schwören: Nie mehr wird der Verlierer auf die markierten Felder zugreifen, die gesetzte Grenze wird er von nun an für immer achten, er wird sie niemals verändern und die Stelen, die den Vorgang schriftlich festhalten, niemals ausreißen. Sollte der Verlierer gegen diesen Schwur verstoßen, sollen die Götter das große Fangnetz (das er beim Schwur für alle sichtbar in der Hand halten muss) auf ihn und seine Stadt niederwerfen. Was dann passieren würde, zeigt die Geierstele - das Fangnetz symbolisiert den Tod der Gemeinschaft. Nachdem der Schwur erfolgt war, wurden Tauben, deren Augen geschminkt und deren Köpfe mit Zedernzweigen geschmückt worden waren, zu den Göttern entsandt, denen sie den Inhalt des Schwurs übermitteln sollten. Fazit des Rituals: Jedweder Bruch des Abkommens wird, von den höchsten Göttern des Landes angeordnet, den Tod des Königs und aller BewohnerInnen seiner Stadt zur Folge haben. Vordergründig zielte das Ritual darauf ab, die neu gesetzte Raumordnung dauerhaft zu bestätigen. Implizit ging es um die Festigung der ideologischen Konzepte der Eliten und um die Sicherung der sozialen, politischen und kulturellen Ordnung, die erst unter Berufung auf die Götter dauerhaft und zugleich unhinterfragbar legitimiert werden konnte. Dieser Akt symbolischen Handelns, der rituelle Abschluss des Krieges, hatte eine entscheidende Wirkungsmacht in der Konfliktregelung - nach außen wie nach innen. Erst mit Durchführung des Rituals, in dem der siegreiche Herrscher den Besiegten dazu verpflichtete, den Göttern - allen voran dem obersten Gott des übergeordneten sumerischen Pantheons, Enlil - die Einhaltung der „Vertragsbedingungen“ © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 102 E I N E N E U E E TA P P E D E R K OMMU N I K AT I O N S T E C H N I K 6.7.2 Religion und Bewältigung des Alltags auch für die Zukunft zuzusagen, war ein ausgewogenes Kräfteverhältnis im Stadtstaatensystem für die Zukunft zu sichern. Erst der rituelle Abschluss des Krieges stabilisierte die Basis der politischen Macht, stärkte die Solidarität der Bevölkerung mit ihrem König und sicherte das assoziative Handeln und Denken und darüber den gemeinschaftlichen Zusammenhalt der BewohnerInnen von Lagaš. Der Angriff auf die Stadt Lagaš hatte eine gravierende Bedrohung des Gemeinwesens wie auch der Städteordnung Südmesopotamiens insgesamt dargestellt. Die Bedrohung von außen dürfte zugleich einer außerordentlichen Bedrohung der inneren Ordnung von Lagaš entsprochen haben, die der herrschende König, Eannatum, mit einer ungewöhnlichen Legitimationsmaßnahme beantwortete. Als erster Herrscher in der Geschichte bezeichnete er sich als der leibliche Sohn Gottes, in seinem Fall des Stadtgottes von Lagaš, Ningirsu. Ningirsu, so der König in seiner Selbstdarstellung, hat den Eannatum gezeugt und ihm später als sein Vater das Königtum von Lagaš übergeben. In Krisenzeiten wurde also erstmals das Postulat der Gotteskindschaft als Legitimation der Macht und Herrschaft nötig. Je schwieriger die Zeiten und je unpopulärer die politischen Handlungen, desto höher angesetzt wurde die Legitimation der Herrschaft. Für den Normerhalt und den Abbau der Spannungen zwischen innen- und außenpolitischer Bedrohung spielte die Religion im Konfliktmanagement jetzt eine maßgebliche Rolle. Mit dieser Vernetzung von politischer Herrschaft und religiöser Macht erhob Eannatum die kulturelle Ordnung zu religiöser Bedeutung. Und dass die Gottheiten ihrerseits mit massiver direkter Gewalt drohten, sollte der Besiegte vertragsbrüchig werden, unterstrich einmal mehr die Rechtmäßigkeit und den normativen Charakter der gewaltsamen Konfliktlösung in einer kulturellen Ordnung, in der dem Handeln der Götter Vorbildcharakter zukam. Religion und der Umgang mit den Widersprüchlichkeiten des Alltags Gewalttätigen Übergriffen von außen auf das Ordnungs- und Machtgefüge einer Gemeinschaft wohnen ambivalente Wirkungskräfte inne. Gewalt kann assoziative Prozesse auslösen und das Gemeinschaftsgefühl verstärken, sie vermag aber gleichermaßen dissoziativ zu wirken und die soziale Einheit zu gefährden. Im Umma-Lagaš-Konflikt dürfte allen Beteiligten deutlich vor Augen gestanden haben, wie dicht Ressourcenverteilungskonflikte und Rangordnungs- und Herrschaftskonflikte miteinander verwoben waren. Eannatum selbst benennt diese Gefahr, wenn er berichtet, dass Umma als Ergebnis des Krieges Tausende von Toten zu beklagen hatte - und die Bevölkerung von Umma daraufhin die Hand gegen den Herrscher von Umma erhob und diesen tötete. Auch die Ambivalenz des Krieges war allen bekannt, sie ging weit über den Gegensatz von Sieg und Niederlage hinaus. Krieg führt bei allen Beteiligten © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 6 103 F A Z I T : W A S D I E T E X T E D E U T L I C H M A C H E N Erfahrungen der Bevölkerung werden ausgeblendet 6.8 zu hohen Belastungen. Jenseits der militärischen Gewalt und ihrer direkten Folgen stellten die sozialen und ökonomischen Auswirkungen eine schwere Hypothek für die Gesellschaft dar. Krieg setzt die Todesbereitschaft sowohl der jungen als auch der schon älteren erfahrenen Männer voraus - der Mitglieder, auf die die Gesellschaft in hohem Maße auch zur Sicherung der Subsistenz angewiesen war. Neben dem persönlichen Leid, das Verletzung und Tod eines Familienmitglieds verursachten, drohten den Familien und darüber hinaus der gesamten Gemeinschaft mit jedem Krieg also existentielle Probleme. Bild und Text der Geierstele, im Auftrag der Herrschenden von Lagaš entstanden, blenden diese Erfahrungswirklichkeit der Bevölkerung weitgehend aus und stellen den Krieg und seine Folgen in einem anderem Licht dar. Belastungen erwuchsen der gelenkten Überlieferung zufolge nur der gegnerischen Seite. Tausende von Toten aus Umma werden zu Leichenhügeln aufgeworfen, so berichtet es der Text und so zeigt es das Bild. Das Heer von Lagaš steht geschlossen hinter Eannatum und schreitet in dieser Einheit zum Sieg. Dass die militärische Gewalt zugleich im Einklang mit den von den Göttern gesetzten Normen steht (Widerstand gegen Lagaš dulden die Götter nicht, über den Feind werfen sie das Fangnetz und vernichten ihn), dokumentieren Text und Bild ebenfalls. Die von der Gewalt betroffenen Bevölkerungsgruppen erlebten diese Diskrepanz zwischen der von den Eliten vertretenen Sicht auf das reale Geschehen und den Belastungen ihres eigenen Erlebens. Um die Spaltung der Gemeinschaft in diesem Spannungsfeld zwischen äußerer und innerer Bedrohung zu verhindern, musste diese Erfahrungsdifferenz überbrückt werden. Mit dem Einsatz der Bilder, der Texte und des Rituals setzten die Machthabenden der Spaltungsgefahr wirkungsmächtige kulturelle Maßnahmen entgegen. Über Bild und Text konstruierten sie gemeinschaftsstärkende Identitäten und die Vision ungeteilter Interessensharmonie zwischen Elite und Volk. Im Ritual, das Herrschaft und Volk gemeinsam begingen, verfestigte sich in den Vorstellungen der Bevölkerung diese Sicht auf die Gemeinschaft als der von den Göttern legitimierten, also gerechten und vor allem natürlichen Grundordnung der Gesellschaft. Solidarisches Verhalten wurde gleichsam eingeübt, das Bewusstsein diszipliniert (Meyer 1988: 140-141). So kollektivierten die Riten das Handeln der Menschen effektiver, als dies physische Gewalt erreichen konnte (Meyer 1988: 143). Die Ideologie der Macht setzte sich erfolgreich durch und ermöglichte es der Bevölkerung, die von ihr erfahrenen Lasten der direkten kriegerischen Gewalt und der implizit in den Lebensregeln enthaltenen strukturellen Gewalt als Teil der „natürlichen“ Lebensordnung zu akzeptieren. Fazit: Was die Texte deutlich machen Krieg im Alten Orient manifestierte sich zur Zeit der frühdynastischen Stadtstaaten als „Gottesdienst“, geführt zur Erfüllung göttlicher Verpflichtungen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 104 E I N E N E U E E TA P P E D E R K OMMU N I K AT I O N S T E C H N I K 6.9 Religion erweist sich in der engen Verbindung von politischem und religiösem Denken als Legitimationsinstrument. Im politisch begründeten Zugriff auf die Religion wurde diese zur Rechtfertigung von Gewalt in der Konfliktlösung nach außen herangezogen und zugleich dort genutzt, wo es darum ging, den internen Ordnungsrahmen und die hierarchischen Verhältnisse als sinnvoll und natürlich erscheinen zu lassen. Gewalt und Religion wurden konkret durch die Person des politischen Herrschers (nie durch die Priesterschaften, deren Aufgaben gänzlich in der Durchführung der kultisch-religiösen Aufgaben gelegen hatte) vermittelt - über seine Funktionen als Kriegsherr und zugleich Sohn und irdischer Repräsentant des Stadtgottes. Die „Bestandsgarantie“ der politischen Macht in den frühdynastischen Stadtstaaten fußte auf gesicherten ökonomischen Verhältnissen, auf Erfolg im Krieg, auf dem Wohlwollen der Götter, auf der Berücksichtigung der kulturellen Werte im Miteinander und der erfolgreichen Verankerung der Ideologie der Mächtigen im Denken der Bevölkerung. Nach Bild und Text der Stele des Eannatum schien der Zusammenhang von Gewalt und Religion „natürlich“ und war doch Ergebnis kultureller Konstruktion, in der der Religion über die strukturelle Verquickung mit der Politik eine wirkungsmächtige soziokulturelle und politische Prägekraft für die Ordnungsvorstellungen der Bevölkerung zukam. Weiterführende Literatur Barnavi, Élie; Roth, Olaf (Übers.). 2008. Mörderische Religion: eine Streitschrift. Aus dem Franz. übers. von Olaf Matthias Roth. Berlin. Ullstein Bauer, Josef; Englund, Robert K.; Krebernik, Manfred. 1998. Mesopotamien - Späturuk-Zeit und frühdynastische Zeit. Freiburg, Schweiz. Universitäts-Verlag; Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht; Reihe: Orbis biblicus et orientalis 160, 1 Cooper, Jerrold S. 1983. Reconstructing history from ancient inscriptions: the Lagasch-Umma border conflict. Malibu. Undena Publications Groneberg, Brigitte. 2004. Die Götter des Zweistromlandes: Kulte, Mythen, Epen. Düsseldorf/ Zürich. Artemis & Winkler Heinz, Marlies; Bonatz, Dominik (Hg.). 2008. Die Repräsentation der Macht und die Macht der Repräsentation in Zeiten des politischen Umbruchs. Rebellion in Mesopotamien. München; Paderborn. Fink - 2002. Der „Garten Eden“ im dritten Jahrtausend: Einblicke in das Leben städtischer Gesellschaften in Südmesopotamien zur frühdynastischen Zeit (ca. 2850-2350 v. Chr.) Freiburg. Rombach. Reihe: Freiburger Universitätsblätter/ Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; 156 Kirchhofer, Judith. 2002. Der Umma-Lagash-Konflikt, in: Heinz, Marlies; Bonatz, Dominik (Hg.), Der „Garten Eden“ im dritten Jahrtausend; S. 25-132 Lincoln, Bruce. 2007. Religion, Empire, Torture. Chicago. The University of Chicago Press Neu, Rainer. 1982. Religionssoziologie als kritische Theorie: die marxistische Religionskritik und ihre Bedeutung für die Religionssoziologie. Frankfurt a. M. Lang © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 6 105 W E I T E R F ÜH R E N D E L I T E R AT U R Steible, Horst (Hg.). 1982. Die altsumerischen Bau- und Weihinschriften. Bearb. von Horst Steible. Unter Mitarb. von Hermann Behrens. Wiesbaden. Steiner. Reihe: Freiburger altorientalische Studien; 5 Winter, Irene. 1985. After the Battle is Over: The Stele of Vultures and the Beginning of the Historical Narrative in the Art of the Ancient Near East, in: Kessler, Herbert L. (Hg.). Pictorial narrative in antiquity and the Middle Ages. Washington. Nat. Gallery of Art, S. 11-32 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 107 Einheit 7 Die erste Rebellion der Weltgeschichte Inhalt 7.1 Urukagina von Lagaš, der erste Rebell der Weltgeschichte 108 7.2 Lokal sozialisiert, aber nicht aus den Kreisen stammend, die traditionell die Thronanwärter stellten 108 7.2.1 Die Rebellion - Warum? Wie? Und warum zum gegebenen Zeitpunkt? 109 7.2.2 Die neue Ordnung - das Gute Leben für alle (? ) oder gute Propaganda? 110 7.3 Rebellion als Voraussetzung für Reformen zur Wiederherstellung der Tradition 110 7.4 Rebellion, Repräsentation und die Konstruktion von Wirklichkeit 111 7.4.1 Rebellen sind gute Demagogen 112 7.4.2 Repräsentation und Realität - ein Balanceakt für die Selbstdarstellung der Rebellen 113 7.5 Die Repräsentation des Urukagina und die Wirkungsmacht der Traditionen 114 7.6 Weiterführende Literatur 116 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 108 D I E E R S T E R E B E L L I O N D E R W E LT G E S C H I C H T E 7.1 Grundmuster der Rebellion im Alten Orient 7.2 ein Niemand wird König Der erste Rebell der Weltgeschichte putschte sich in Lagaš an die Macht. Seine Legitimation: erst der Traditionsbruch habe die Weitergabe der „wahren Tradition der Väter“ sicherstellen können! Urukagina von Lagaš, der erste Rebell der Weltgeschichte 1 Urukagina von Lagaš (ca. 2360 v. Chr.) war der erste Rebell der Weltgeschichte. Er war der erste mesopotamische Herrscher, der nach den geltenden Regeln nicht hätte König werden können. Er war der erste Usurpator, der seine Rebellion schriftlich festhielt und somit seine Tat dem kulturellen Gedächtnis der betroffenen Gemeinschaft sowie der Erinnerung der Nachwelt zur Verfügung stellte. Die Rebellion des Urukagina prägte das Grundmuster der Legitimation rebellischen Tuns als regelgerechtem politischen Handeln für die nachfolgenden 2.000 Jahre in Mesopotamien. Als erster in der Geschichte des Stadtstaates von Lagaš sprengte Urukagina die lokalen Normen und Regeln im Zugang zum Königsamt, führte aber über den Personenwechsel im Königsamt hinaus keinen Wechsel des politischen Systems als solchem herbei. Über welche Wege kommt die Altorientalische Philologie zur „richtigen“ Lesung der Personen- und Königsnamen? Warum hieß Urukagina in der Forschung bis in die 1980er Jahre „Urukagina“ und warum nennt ihn die aktuelle philologische Forschung „Uru’inimgina“? - Josef Bauer (1998: 475) kann zu dieser Frage Aufschluss geben: diese Lesevariationen sind mit dem System der Silbenschrift zu begründen, in dem man das Zeichen KA auch als INIM lesen kann. Lokal sozialisiert, aber nicht aus den Kreisen stammend, die traditionell die Thronanwärter stellten Die Familie des Urukagina kennt man nicht. Zur Herrschaft gelangte Urukagina nach eigenem Bekunden, weil ihn Ningirsu, der Stadtgott von Lagaš, aus der Mitte von 36.000 Menschen erwählt hatte (Selz 2005: 60). Seine Herrschaft war somit nach eigenen Angaben göttlich legitimiert. Der traditionelle Weg - die Übergabe des Königtums vom Vater an den Sohn - hatte Urukagina als Befehlshaber in der Verwaltung aber nicht offen gestanden. Er nannte sich „König von Girsu und König von Lagaš“, fügte aber, anders als seine Vorgänger, keinen 1 Der nachfolgende Text gibt, zu Teilen modifiziert, die Überlegungen der Autorin zu Urukagina von Lagaš wieder, die in ihrer Studie zum Thema: „Die Repräsentation der Macht und die Macht der Repräsentation in Zeiten politischen Umbruchs“ 2008 im Fink-Verlag erschienen sind. Die Autorin dankt dem Fink-Verlag für die Erlaubnis, den Text hier in Auszügen abdrucken zu dürfen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 7 109 L O K A L S OZ I A L I SI E R T , A B E R K E I N L E G I T IM E R T H R O N A N W Ä R T E R Hinweis auf einen königlichen Vater hinzu. Und obwohl ihm der Stadtgott von Lagaš das Königtum übertragen hatte, konnte er die Gotteskindschaft als Legitimation seiner Herrschaft und als Hervorhebung seiner Herkunft nicht für sich reklamieren. Als [der Stadtgott von Lagaš] Ningirsu, der Held des [obersten Gottes von Sumer] Enlil, dem Urukagina das Königtum über Lagaš verliehen und aus der Menge von 36.000 Menschen seine Hand erfasst hatte, hat er das entschiedene [= das schlechte] Schicksal [der Gemeinschaft von Lagaš] von früher ersetzt. Die Worte, die sein Herr Ningirsu zu ihm sprach, hat er [Urukagina] begriffen. (Übersetzung nach H. Steible, Die Altsumerischen Bau- und Weihinschriften, 1982: 299) Die Rebellion - Warum? Wie? Und warum zum gegebenen Zeitpunkt? Zum Zeitpunkt seiner Machtübernahme, so die Verlautbarungen des Urukagina, hatte das politische Missmanagement des - nicht namentlich genannten - Vorgängers untragbare Zustände in Lagaš geschaffen. Die Bevölkerung litt unter den Übergriffen und der Willkür der Verwaltungsbeamten, und auch die Welt der Götter war betroffen. Explizit bezichtigte Urukagina den Palast, also die weltliche Macht des Vorgängers, durch Übergriffe auf die Ressourcen der Tempel in das Eigentum und in die Rechte der Götter eingegriffen zu haben. Mit dieser Anklage als Legitimation der Rebellion begann Urukagina seine Regentschaft. Zum Zeitpunkt der Usurpation, so die Propaganda des Rebellen und Usurpators, befand sich Lagaš in einer tiefen Krise. Der Stadtstaat war innenpolitisch geschwächt durch die vom Vorgänger herbeigeführte Anomie und außenpolitisch permanent bedroht durch die Übergriffe der Nachbarn auf die existenzsichernden Ressourcen. Anomie: eine exzellente Powerpoint-Präsentation zur Erklärung der Anomietheorie findet sich unter folgendem Eintrag (17.02.2009): www.uni-frankfurt.de/ fb/ fb04/ personen/ ellingerweb/ 06_SoSe/ Gewalt/ Anomietheorie.ppt. Abb. 7 . 1 Der Tonkegel des Urukagina aus Girsu, Irak. Im sog. Reformtext des Urukagina berichtet dieser über die gesetzesbrechende Herrschaft seines Vorgängers und darüber, wie er vom Stadtgott Ningirsu zum neuen König ernannt wurde. 7.2.1 Beseitigung der Missstände der Vorgängerregierung © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 110 D I E E R S T E R E B E L L I O N D E R W E LT G E S C H I C H T E 7.2.2 das Gute Leben der Gemeinschaft 7.3 der Rebell als Retter Den Erkenntnissen der heutigen Rebellionsforschung zufolge hätte die Rebellion des Urukagina somit zu einem klassischen Zeitpunkt stattgefunden - dem der maximalen Systemschwächung! Dass die Rebellion und der mit dieser einhergehende Traditionsbruch potentiell geeignet waren, die Krise noch zu verschlimmern, dürfte auch Urukagina gewusst haben. Nach der erfolgreichen Rebellion galt es somit, die maßgeblichen Schwachstellen auf dem Weg zu einer erfolgreichen Herrschaft in unübersehbare Stärken umzuwandeln. Es galt, die dem Vorgänger zugeschriebene wirtschaftliche und gesellschaftliche Misere zu beheben und Urukagina der Bevölkerung wie den Eliten als Retter der Stadt Lagaš und Garant einer gesicherten Zukunft vor Augen zu stellen. Zugleich musste die Rebellion vom Ruch des traditionsbrechenden Handelns befreit werden, der Traditionsbruch legitimiert, wenn nötig, kaschiert - und die neue Ordnung als traditionelle und somit „natürliche“ Ordnung der Gemeinschaft von Lagaš aufgebaut werden. Die neue Ordnung - das Gute Leben für alle (? ) oder gute Propaganda? Strategisch klug verband Urukagina sein politisches Wollen mit den traditionellen Erwartungen einer Gemeinschaft an das politische Agieren ihres Königs. Die Wende zum Besseren, mit der Rebellen ihre Rebellionen in der Regel rechtfertigten, illustrierte auch Urukagina mit konkreten und vor allem unübersehbaren Maßnahmen. Zunächst dokumentierte er anhand eines umfassenden Bauprogramms, dass er die subsistenz- und existenzsichernden Ressourcen unter seine Kontrolle zu stellen gewusst hatte. Das gesamte Bewässerungssystem, Grundlage der Wirtschaft, wurde überholt, so die Propaganda, ältere Kanäle renoviert, neue Kanäle angelegt und vom Vorgänger vernachlässigte Felder gepflegt. Tempelanlagen wurden ausgebessert, neue Kultbauten errichtet und die Tempel zahlreicher Gottheiten mit importierten, d. h. statushohen Gütern aus Edelmetall und Lapislazuli ausgestattet sowie mit Statuen bestückt. So erwies Urukagina den Göttern und den Priesterschaften unübersehbar seine Gunst und schuf sich zugleich eine loyale Klientel in den machtrelevanten Kreisen, wo diese von der neuen Ordnung profitierten (Steible 1982: 334 ff.) Die Stadt Lagaš erhielt eine Stadtmauer und den Feind, der Lagaš von außen bedrohte, vernichtete Urukagina auf dem offenen Feld. Die Bedrohungen des Guten Lebens der Gemeinschaft habe Urukagina dank der Rebellion und mit seiner Herrschaft auf allen Ebenen abzuwenden gewusst. Rebellion als Voraussetzung für Reformen zur Wiederherstellung der Tradition Erste Anzeichen dafür, dass der Rebell und neue Herrscher Urukagina das „Gute Leben“ in die Gegenwart der Gemeinschaft von Lagaš zurückgebracht © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 7 111 R E B E L L I O N , R E P R Ä SE N TAT I O N U N D D I E K O NS T R U K T I O N V O N W I R K L I C H K E I T „soziales Handeln“ als Grundaufgabe guter Politik 7.4 hatte, waren also nicht mehr zu übersehen. Noch aber belasteten die Übergriffe des Vorgängers auf Recht und Ordnung weite Bereiche des täglichen Lebens. Die Folgen des Machtmissbrauchs mussten behoben werden, um über die Sicherung der Gegenwart hinaus die Option auf eine gesicherte Zukunft der Gemeinschaft von Lagaš zu erwirken. Um das Missmanagement seines Vorgängers aufzuzeigen, bezichtigte Urukagina diesen nicht nur eines konkreten Vergehens, wie es die Rebellen später zu tun pflegten. Vielmehr führte er en Detail die zahlreichen Übergriffe an, derer sich die Palastverwaltung zur Regierungszeit des Vorgängers sowohl gegenüber dem Tempel als auch gegenüber den Belangen der Bevölkerung schuldig gemacht hatte (Steible 1982: 278 ff.). Die Liste der Übergriffe war lang und zählte die Missstände in der Schifffahrt, bei der Herdenhaltung, der Fischerei und der Garten- und Getreideverwaltung auf. Der Anklage gegen die korrupte Verwaltung in Lagaš folgt die Ankündigung der Reformen und Maßnahmen, die Abhilfe schaffen sollten. Herdenverwalter, Aufseher, Feldvermesser, Kultsänger und Kommissare, die ihre Befugnisse missbraucht hatten, wurden aus ihren Ämtern entfernt. Die Subsistenzsicherung und die Rechtsprechung, so die Versprechungen des Rebellen und Königs an die Bevölkerung, sollte unter seiner Herrschaft wieder den traditionellen Regeln gemäß organisiert werden. Den Priesterschaften sollten die ihnen vom Vorgänger genommenen Rechte zurückerstattet und die Pfründe der Tempel erneut der Kontrolle der Priesterschaften überstellt werden. Den Versprechungen an die mächtige und daher machtrelevante Priesterschaft folgten konkrete Maßnahmen, darunter vor allem die Rückerstattung der unrechtmäßig vom Palast okkupierten Ländereien und Immobilien an die Tempel und die Re-Etablierung ihrer Wirtschaftskraft. Dauerhaft wurden die Besitztümer der Götter als deren Besitz kenntlich gemacht und diesen wieder übereignet, indem Urukagina den Bauwerken und Einrichtungen ihre ursprünglichen Namen zurückgab - die Verwaltung des Vorgängers hatte diese offenkundig zur Kaschierung des rechtwidrigen Eigennutzes geändert. Überdies sollten insbesondere die Mitglieder der Gemeinschaft von Lagaš, die, weil ohne Familie, der Misswirtschaft und der Korruption besonders ausgesetzt waren, auf den Schutz des Urukagina rechnen können. Der Rebell von Lagaš, so dessen schriftlich übermittelte Selbstdarstellung, avancierte zum verlässlichen Reformer, zum Tradierer der Traditionen, zum Bewahrer der von den Göttern gesetzten Ordnung und so zum Synonym und Garanten für das Gute Leben der Gemeinschaft von Lagaš in Gegenwart und Zukunft. Rebellion, Repräsentation und die Konstruktion von Wirklichkeit Bei kritischem Hinsehen lassen die zur Regierungszeit des Urukagina verfassten Wirtschaftstexte von Lagaš erkennen, dass hier eine andere Ordnung und © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 112 D I E E R S T E R E B E L L I O N D E R W E LT G E S C H I C H T E 7.4.1 Frauen als Wirtschaftsmanagerinnen zwischen den Zeilen lesen Tradition und damit auch Lebenswelt entstanden war als die, für deren Errichtung laut der Propaganda des Urukagina die Rebellion überhaupt erfolgt war. Rebellen sind gute Demagogen Die Repräsentation des Rebellen als Traditionalist und Reformer entpuppte sich als Ideologie. Sie setzte auf die Legitimation der Rebellion durch die Verankerung im Religiösen und Traditionellen, der Rebell machte sich realiter aber gerade der Übergriffe schuldig, die dem Vorgänger zum Verhängnis geworden waren. Entgegen den in der Propaganda angekündigten Reformmaßnahmen scheint die autonome Tempelverwaltung und damit die Kontrolle der Tempelressourcen durch die Priesterschaften nach der Rebellion des Urukagina gerade nicht wiederhergestellt worden zu sein - ob sie überhaupt jemals existierte? Realiter waren die Tempelhaushalte unter königlicher Aufsicht verblieben - und zwar dort, wo Frau und Kinder des Herrschers deren Verwaltung und Nutznießung übernommen hatten. Den Wirtschaftstexten zufolge (Hruška 1974: 158) nutzte Urukaginas Frau Ša-Ša nachweislich die Wirtschaftsdomäne der Tempel zugunsten des Palastes, machte sich also exakt des Missbrauchs schuldig, dessen Urukagina seinen Vorgänger im Amt massiv angeklagt hatte. Dass Urukagina also gerade nicht die von den Göttern gesetzte Ordnung, sondern den Ordnungsbruch des diskreditierten Vorgängers tradierte, für dessen Aufhebung die Rebellion angeblich überhaupt erfolgt war, wurde in der Darstellung des Urukagina meisterhaft kaschiert. Das Bild des weltlichen Herrschers als Partner der Priesterschaften und die Repräsentation des Palastes als Partner des Tempels entsprachen gerade nicht der postrevolutionären Realität. Der Rebell war nicht ganz so „wertkonservativ“ geworden, wie er es mit seiner Begründung der Rebellion hatte glauben machen wollen. Die Charakterisierung der Rebellion als Sicherung und Fortsetzung der Kommunikation und des Dialoges zwischen Tempel und Palast, normenreguliert und an den traditionellen Werten ausgerichtet, prägte die Ideologie der Selbstdarstellung. Die Repräsentation der Rebellion stellt diese als Ergebnis von Intention und Strategie dar und prägt so ein Bild, das, zwischen den Zeilen gelesen, den politischen Akteur Urukagina in gänzlich anderer Konnotation klar umschreibt. Die Ambivalenz des königlichen Handelns zeigte sich u. a. darin, dass die Tempelpfründe weiterhin durch den Palast genutzt wurden, wogegen die Rebellion nach der Propaganda und Repräsentation des Urukagina zu klaren, eindeutigen und normenkonformen Verhältnissen geführt hatte (vor allem sollen die Felder des Tempels und des Palastes unter Urukagina wieder klar gegeneinander abgesetzt und damit die wirtschaftlichen Pfründe der Institutionen für diese jeweils exklusiv gesichert worden sein). Die vermeintlich schnelle Rückkehr zu den Verhältnissen in einer als vorbildlich betrachteten Vergangenheit, wie sie die Repräsentation des Urukagina als © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 7 113 R E B E L L I O N , R E P R Ä SE N TAT I O N U N D D I E K O NS T R U K T I O N V O N W I R K L I C H K E I T 7.4.2 Propagierung des Gewollten und Realität des Gemachten Gefahren des Wandels politisches Programm dargestellt hatte, scheint als Strategie der Risikominimierung und der Konsensgenerierung in der Etablierung der neuen Ordnung unerlässlich, ihre Umsetzung in das Alltagsgeschehen aber ganz und gar nicht intendiert gewesen zu sein. Repräsentation und Realität - ein Balanceakt für die Selbstdarstellung der Rebellen Sobald Rebellen an der Macht sind, so Brinton in seiner Analyse rezenter Rebellionen (Brinton 1959: 227 ff.), kümmern sich diese nicht mehr um die Formen der Legalität und werden konservativ. Konservativ im Sinn der Rückwendung zu den Vorgängern war auch Urukagina von Lagaš geworden, allerdings nicht im traditionell verstandenen Sinn. Dieser suggeriert, dass ein Herrscher die Traditionen zu wahren wusste. Im Fall des Urukagina bedeutete konservativ, dass er die Politik fortsetzte, deretwegen er den Vorgänger des Machtmissbrauchs angeklagt hatte. Die ideologische Repräsentation Urukaginas, die Konstruktion seines Images als Wahrer und Tradierer des göttlichen Willens und die reale Politik des Urukagina schlugen unterschiedliche Richtungen ein. Ein „klerusfreundliches“ Religionsprogramm (Hruška 1973: 132) sollte die Priesterschaften für die Politik des Neuen einnehmen, dafür stand „unüberlesbar“ die Rückführung des Tempelbesitzes in die Hand des Gottes Ningirsu und das unübersehbare Errichten und Renovieren aller kultisch genutzten und den Göttern geweihten Bauten. Die propagierte neue Ordnung blieb aber offenkundig Propaganda (Hruška 1974: 132 ff.). Der Deklaration folgten keine Taten, der Missbrauch der Tempelpfründe durch den Palast blieb virulent und die Kontrolle des Tempels hatte der Palast nie aus der Hand gegeben. Gerade der Widerspruch zwischen Repräsentation und Realität des politischen Handelns dürfte hier einmal mehr verdeutlichen, inwieweit mit der Religion als einer Form der Ideologie die Machtverhältnisse in der betroffenen Gesellschaft legitimiert und das Weltbild der Herrschenden zur Allgemeingültigkeit transformiert werden sollten. Über die Präsentation der religiösen Ordnung als der gottgewollten wurde die Ideologie der Herrschaft wirksam, die eine Balance der Interessen vorgab und zugleich primär an der Stabilisierung der Macht interessiert gewesen sein dürfte. Mitten im Prozess eines gravierenden Wandels, der in der Mitte des 3. Jt. v. Chr. schon vor der Übernahme der Herrschaft durch Urukagina begonnen hatte und der die Machtverschiebung zugunsten des Palastes und einen Machtverlust für die Tempel, also für die Götter, zementierte, wagte es Urukagina nicht, dies offen zuzugeben. Was nicht sein durfte, konnte nicht sein. Einer Tradition, die möglicherweise schon Vergangenheit war, wurde mit den angekündigten „Reformen“ gehuldigt, während die politische Realität bereits begonnen hatte, diese hinter sich zu lassen. Das traditionelle Image © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 114 D I E E R S T E R E B E L L I O N D E R W E LT G E S C H I C H T E 7.5 Tradition und Wandel dessen, der die oberste Hoheit der Götter wahrte, konnte offenbar nicht gebrochen werden, ohne dass es für die Verantwortlichen gravierende Folgen gehabt hätte - die negative Konnotation der Vorgängerregierung des Urukagina und die Rebellion gegen den, der die Traditionen verlassen hatte, waren beredtes Zeugnis dafür. Die Repräsentation des Urukagina und die Wirkungsmacht der Traditionen Die Kultur der südmesopotamischen Stadtstaaten verkörperte eine Welt, die dem religiösen Selbstverständnis und der Tradition gemäß Eigentum der Götter war. Der geographische Raum der Stadtstaaten und die gemeinsame Geschichte der Stadtstaatengemeinschaft bildeten wesentliche Parameter der Identität als community. Raum, Religion und Tradition begründeten maßgeblich das „Wir“ gegenüber den Gemeinschaften der umliegenden Nachbarstadtstaaten. Das Image des Urukagina als desjenigen, der den räumlichen und historischen Rahmen der Gemeinschaft von Lagaš gesichert hatte, stellte folgerichtig den wirkungsmächtigen Parameter dar, um dem Weltbild der Herrschenden Allgemeingültigkeit zu verschaffen und den von der Rebellion Betroffenen eine Identifizierungsmöglichkeit mit der durch die Rebellion vor Ort neu geschaffenen Herrschaftsordnung in Lagaš zu bieten. Die Repräsentation des Urukagina von Lagaš zielte auf das Bild des Traditionswahrers und Schutzherrn ab. Sie sollte dem kollektiven Gedächtnis der Gemeinschaft von Lagaš ein Selbstbild des Königs zur Verfügung stellen, wonach sich das Handeln und die politischen Ziele des Rebellen und neuen Herrschers gänzlich der Wahrung der Traditionen verschrieben hatten - ungeachtet dessen, dass gerade diese mit der Rebellion in Lagaš de facto und maßgeblich gebrochen worden waren. Der Schwerpunkt der Repräsentation des Urukagina fokussierte auf eine Selbstsicht als Repräsentant der rechten Ordnung, die vom Vorgänger und den Übergriffen seiner Verwaltung gegen das geltende Recht in allen Belangen des Alltags, aber nicht durch die Rebellion des Urukagina unterminiert worden war. Wie alle Rebellen stellte Urukagina mit seiner Repräsentation das Paradoxe dar: In seinem konkreten Handeln, bezogen auf seinen Zugang zur Herrschaft, war er Traditionsbrecher. Die Ideologie seiner Repräsentation baute ihn als den Traditionskonformen und Traditionsbewahrer auf. Dies erreichte die Repräsentation des Urukagina maßgeblich dadurch, dass sie die Rebellion als Erfüllung des göttlichen Auftrags darstellte. Diese Strategie stellte in den folgenden tausenden Jahren die maßgebliche Vorgehensweise bei der Legitimation rebellischer Aktionen dar. Die Garanten der „wahren“ Ordnung waren die Götter, Repräsentant der wahren Ordnung und damit legitimiert, diese zu präsentieren, war Uruka- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 7 115 D I E R E P R Ä SE N TAT I O N D E S U R U K A G I N A U N D D I E W I R K U N G SM A C H T D E R T R A D I T I O N E N Tradition und die Herkunft der Herrschenden gina, auserwählt durch den für die Ordnung in Lagaš zuständigen Stadtgott Ningirsu. Zwar nannte sich Urukagina nicht explizit „der Gute Hirte von Lagaš“, in seiner Propaganda stellte er sich jedoch ganz in diesem Image dar. Das wiederum entsprach dem traditionellen Selbstbild der zeitgenössischen Herrscher - eine Stilisierung seines Königtums, die die Identifikation der von der Rebellion Betroffenen mit dem Neuen erleichtern und das Neue kulturell anschlussfähig an das traditionell Gewohnte gestalten sollte. Das Insistieren auf dem Image des Traditionswahrers, der Wandel nicht zuließ, dürfte aufgrund der spezifischen kulturell-politischen Situation der Stadtstaaten Südmesopotamiens die erfolgversprechende Strategie des Rebellen gewesen sein. Urukagina, der mit seiner Rebellion permanente und dauerhafte Veränderungen, d. h. das Zurück zur Guten Alten Zeit, propagierte, blendete die „Kontinuität des Wandels“, die realiter unter seiner Herrschaft erfolgte, soweit wie möglich aus. Das Propagieren von Konformität mit der Guten Alten Zeit war für das Erreichen der politischen Ziele sinnvoller als die Präsentation der offenen Rebellion gegen das Überlieferte, d. h. die offene Weiterführung der für den Palast ja günstigen Übergriffe des Vorgängers. Die Repräsentationsstrategie des Urukagina propagierte den Dialog zwischen Palast und Tempel und kombinierte Reaktion und strategisches Handeln dort, wo das eigene Wollen, nämlich die Umsetzung des Wandels, durch das vermeintlich normenkonforme Handeln kaschiert und das „Sollen“, d. h. die Erfüllung der Erwartungen an das politische Handeln des Herrschers, scheinbar umgesetzt wurden. Urukagina hatte mit den Traditionen brechen müssen, um seine Ziele zu erreichen. Er musste zugleich den Bruch kaschieren, um das politisch Erreichte zu halten. Er nutzte also in seiner Repräsentation die Wirkungsmacht des Normativen, das der Tradition eignete, obwohl es diese Normativität der Tradition gewesen war, die ihm das Erlangen der Herrschaft auf regelgerechtem Weg gerade nicht ermöglicht hatte. Tradierung der Traditionen war die Botschaft der Repräsentation des Urukagina, die Tradierung des Traditionsbruches seines Vorgängers die Realpolitik. Real war überdies das nicht unerhebliche Manko in der Biographie des Urukagina, das ihm de facto keinen anderen Weg zur Herrschaft als die Rebellion ermöglicht haben dürfte. Urukagina war nicht Mitglied des „inner circle“ von Lagaš gewesen, also kein Angehöriger der Dynastie, aus der sich traditionell die Thronfolger rekrutierten. Diese Zugehörigkeit hatte sich offenkundig auch nicht konstruieren lassen. Der Bruch mit dieser Tradition war unerlässlich, wenn Urukagina als „Außenseiter“ dennoch das Königsamt erlangen wollte. Ein Bruch, der sehr gut begründet werden musste. Er griff die Machtelite und ihre Lebensbedingungen bzw. die Grundlagen ihrer Legitimation als Machtelite direkt und unmittelbar an und drohte, einem traditionell nur sehr begrenzten Kreis von Begünstigten die Pfründe zu nehmen. Die Wirkungsmacht einer solchen Tradition konnte nur dadurch gebrochen werden, dass man den Wert der Tradition als solcher öffentlichkeitswirksam ad absurdum zu führen ver- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 116 D I E E R S T E R E B E L L I O N D E R W E LT G E S C H I C H T E 7.6 mochte. Urukagina hatte diesen Schritt gewählt. Mit seinen „Reformtexten“ diskreditierte er öffentlich und offensiv die Herrschaft des Vorgängers. Mit der Lancierung seiner eigenen Wahl durch den Stadtgott Ningirsu propagierte die Ideologie der Macht darüber hinaus, dass der Stadtgott Ningirsu diese Beurteilung des ursprünglich von ihm selber eingesetzten Königs teilte. Gott und Rebell agierten gemeinsam, schmähten die Herrschaft des Vorgängers und legitimierten über diesen Vorgang den Machtzugang des „Neuen“, dem nichts so wichtig war wie eben nicht als der „Neue“, d. h. als der „Traditionslose“, über das kollektive Gedächtnis der Gemeinschaft erinnert zu werden. Damit „das Neue“ seine negative Konnotation und damit seine Bedrohung für das Image des Rebellen verlor, musste dem Traditionellen, hier der Familiengeschichte der Herrscher von Lagaš, die Legitimationsmacht für die Gegenwart gänzlich abgesprochen und der Familienzugehörigkeit als Zugangsberechtigung zur Herrschaft der legitimierende Wert entzogen werden. Genau das war geschehen. Die Propaganda des Urukagina hatte den Vorgänger im Amt als der Herrschaft nicht würdig angeklagt und ihn zusammen mit dem Stadtgott von Lagaš seines Status ebenso wie seiner Legitimation als Herrscher von Lagaš beraubt. Die Zugehörigkeit zu einer Herrscherfamilie, die vom Stadtgott aus ihren Rechten entlassen worden war, bot nun gerade keinen Vorteil mehr. Im Gegenteil- die Tradition der Amtsübergabe vom Vater auf den Sohn hatte der Propaganda zufolge ihre normative Kraft verloren. Der Weg war frei für alternative Legitimationsmöglichkeiten der Herrschaft, darunter die göttlich legitimierte Rebellion als eine, die erstmals in der Geschichte des Königtums von Mesopotamien mit Urukagina zum Tragen gekommen war. Und vielleicht lag gerade in diesem Bruch mit der traditionellen sozialen Ordnung, in der bis dato Herkunft und Abstammung als „natürliche“ Legitimation zur Herrschaft gegolten hatte, das wirklich Revolutionäre der ersten Rebellion in Mesopotamien. Weiterführende Literatur Bauer, Josef; Englund, Robert K.; Krebernik, Manfred. 1998. Mesopotamien - Späturuk-Zeit und frühdynastische Zeit. Freiburg, Schweiz. Universitäts-Verlag; Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht; Reihe: Orbis biblicus et orientalis 160, 1 Brinton, Crane. 1959. Die Revolution und ihre Gesetze. Frankfurt a. M. Nest Castañeda, Jorge G. 1997. Che Guevara: Biographie. Frankfurt a. M. Insel-Verlag Hall, Stuart; Koivisto, Juha (Hg.). 2008. Ideologie, Identität, Repräsentation. Hamburg. Argument-Verlag Hruška, Blahoslav. 1974. Die Reformtexte Urukaginas. Der verspätete Versuch einer Konsolidierung des Stadtstaates von Lagash, in: Paul Garelli (Hg.), Le Palais et la royauté; XIX e Rencontre Assyriologique Internationale. Paris. P. Geuthner, S. 151-161 Huberman, Leo; Sweezy, Paul Marlor; Preissler, Herbert (Übers.). 1968. Kuba, Anatomie einer Revolution. Frankfurt a. M. Europäische Verlags-Anstalt © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 7 117 W E I T E R F ÜH R E N D E L I T E R AT U R Juergensmeyer, Mark. 2008. Global rebellion: religious challenges to the secular state from Christian militias to Al Qaeda. Berkeley, California. University of California Press. Reihe: Comparative studies in religion and society; 16 Krause, Ralf (Hg.). 2008. Macht: Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart. Bielefeld. Transcript Selz, Gebhard. 2005. Sumerer und Akkader: Geschichte, Gesellschaft, Kultur. München. Beck Steible, Horst (Hg.). 1982. Die altsumerischen Bau- und Weihinschriften. Bearb. von Horst Steible. Unter Mitarb. von Hermann Behrens. Wiesbaden. Steiner. Reihe: Freiburger altorientalische Studien; 5 Weinstein, Jeremy M. 2007. Inside rebellion: the politics of insurgent violence. Cambridge. Cambridge University Press (Cambridge studies in comparative politics) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 119 Einheit 8 Das erste Weltreich der Geschichte und sein Protagonist Sargon von Akkad (ca. 2340-2280 v. Chr.) Inhalt 8.1 Sargon - ein „No-Name“, der sich ins Königsamt putschte 121 8.2 Die neue Ordnung sollte niemandem verborgen bleiben - weder in Kiš … 122 8.3 … noch in den umliegenden Regionen 124 8.3.1 Kontrolle über das geistig-religiöse Zentrum - die Akkader erobern den Süden 124 8.3.2 Der mesopotamische Norden - die Kontrolle der Kornkammer 126 8.3.3 Kontrolle des Westens: Zugang zu den wirtschaftlichen Pfründen der Mittelmeeranrainer 126 8.3.4 Struktur- und Ordnungswandel der „Welt“ 127 8.4 Sargon, der Neuerer, ein kühnes Image - und zugleich politisch nachvollziehbar 128 8.5 Fazit 129 8.6 Weiterführende Literatur 130 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 120 D A S E R S T E W E LT R E I C H D E R G E S C H I C H T E U N D S E I N P R OTA G O N I S T S A R G O N V O N A K K A D Die Kriege der Stadtstaaten und die Rebellion des Urukagina haben deutlich werden lassen, dass sowohl die äußere Ordnung des Stadtstaatenverbundes als auch die innere Ordnung der urbanen Gemeinschaften Südmesopotamiens ins Wanken geraten waren. Maßgebliche Faktoren für diese Erschütterungen dürften Veränderungen im Naturraum und die mit diesen verbundenen ökonomischen Probleme gewesen sein: Flusslaufveränderungen und der Rückgang des Wassers im Süden Mesopotamiens zur Mitte des 3. Jt. v. Chr. hatten naturwissenschaftlichen Studien zufolge tiefgreifende Veränderungen in der Wasserversorgung der Bevölkerung nach sich gezogen. Eine gravierende innenpolitische „Un- und Umordnung“ erfuhr in dieser Zeit auch die Stadt Kiš, einstmals die Stadt, auf deren Hilfe als politischer Mittler in existentiell bedrohlichen Situationen die Herrschenden im Süden gesetzt hatten. In Kiš fanden um 2340 v. Chr. zwei Entwicklungen statt, die die „Weltordnung“ der altorientalischen Gesellschaften zwischen Mittelmeer und Persischem Golf auf den Kopf stellten. Sargon von Akkad avancierte nach erfolgreicher Rebellion zum Gründer des ersten Weltreichs der Geschichte und somit zum ersten textlich benannten und namentlich bekannten „Weltreichsherrscher“. In der Mitte des dritten Jahrtausends hatte sich Kiš bereits als eine der einflussreichen Städte Mesopotamiens etabliert, deren Macht nicht zuletzt auf ihrer handelsstrategisch günstigen Lage und der Kontrolle des Euphrats fußte. Von hier ausgehend baute Sargon die erste dauerhafte Herrschaft über den gesamten geographischen Raum zwischen dem Mittelmeer und dem Persischen Golf und zwischen dem Nordirak und den Golfanrainern im Süden auf (s. Abb. 8.1). Er war der erste Herrscher, der diesen Raum politisch kontrollierte, ökonomisch zum primären Nutzen des Zentrums Akkad ausbeutete und kulturell die Normen- und Wertesysteme der betroffenen Gemeinschaften wie auch die Ordnung der Götterwelten auf eine grundlegend neue Basis stellte. Zu umfassenden Darstellungen aller Neuerungen, die mit diesem Herrscher in den Gesellschaften des Alten Orients ihren Anfang genommen hatten, siehe Heinz 2008. 1 1 1 Dem Fink-Verlag danke ich für die Erlaubnis, eine modifizierte Fassung dieser Ausführungen zur Akkadzeit (siehe Heinz 2008) abdrucken zu dürfen. Ende der traditionellen Ordnung von Sumer und Akkad Abb. 8. 1 Das Akkadreich © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 8 121 S A R G O N - E I N „N O -N A M E “, D E R SI C H IN S K ÖN I G S A MT P U T S C H T E Sargon - ein „No-Name“, der sich ins Königsamt putschte Die Familie des Sargon kennt man nicht. Die Überlieferung der sumerischen Königsliste nennt als seinen Vater einen Wasserschöpfer und Gärtner, seine Mutter soll eine ranghohe Priesterin gewesen sein, die ihn gleich nach der Geburt in einen Korb gelegt und im Euphrat ausgesetzt hatte. Den Korb mit dem Säugling entdeckte besagter Wasserschöpfer und Gärtner Aqqi, der ihn aus dem Fluss zog und das Kind adoptierte. Wie Sargon von dort an den Hof in Kiš gelangte, ist im Detail ungeklärt. Eine weitere Überlieferung, die sumerische Sargonlegende, berichtet, dass die Göttin Inanna beschlossen hatte, Sargon zum König zu machen (zu den Einzelheiten der Legende siehe Lewis 1980 und Westenholz 1997). Zur traditionellen Elite von Kiš hatte Sargon nicht gehört. Am Hof von Kiš avancierte er dank der Protektion der Göttin Ištar (d. h. also der zuständigen Priesterschaft) zunächst zum Mundschenk des Königs Urzababa. Von dieser Position aus rebellierte er gegen den König. Die politischen Umstände für die Rebellion waren günstig: Kiš und der mesopotamische Süden standen im Konflikt miteinander, die Herrschaft des Urzababa war instabil geworden. Sargon nutzte diese Lage, entmachtete den rechtmäßigen König von Kiš und lancierte in seinen Königsinschriften die Propaganda, sowohl Ištar, die Stadtgöttin von Kiš, habe diesem politischen Akt zugestimmt als auch die Götter An und Enlil - die höchsten Götter des sumerischen Pantheons und zugleich die Gottheiten mit überregional wirkungsmächtigen Machtkompetenzen. Seinen Machtzuwachs krönte der Rebell mit der aussagekräftigen Titulatur: Šarrukin (= Sargon): der legitime König. Alternativ kann der Name auch übersetzt werden als: der, der Ordnung schafft. Zu diskutieren ist, warum ein Herrscher, der offenkundig gerade nicht legitim zur Herrschaft gelangt war, sich diesen Titel gab. Haartracht und Bandschmuck am Kopf entsprechen der Darstellung des Königs Sargon von Akkad auf der sog. Sargon-Stele (siehe Orthmann 1975: Abb. 99a). Aufgrund dieser formalen Ähnlichkeit wird der Bronzekopf Sargon von Akkad (oder einem Nachfolger) zugeschrieben. Wie und warum der Kopf in den Tempel des 1. Jt. v. Chr. in Ninive gelangte, ist unbekannt. Dass Statuen und Stelen im Alten Orient über tausende von Jahren aufbewahrt wurden, ist dagegen gut bekannt. 8.1 wer „keine Geschichte“ hat, erschafft sich eine Abb. 8 . 2 Kopf einer männlichen Figur; Material: Bronze, Höhe: ca. 36 cm, Fundort: Ninive, Ištar-Tempel des 1. Jt. v. Chr., Aufbewahrungsort: Bagdad, Irak Museum © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 122 D A S E R S T E W E LT R E I C H D E R G E S C H I C H T E U N D S E I N P R OTA G O N I S T S A R G O N V O N A K K A D 8.2 das Neue unübersehbar machen Umsiedlung als Form des Klientelaufbaus Die neue Ordnung sollte niemandem verborgen bleiben - weder in Kiš … Um die Rebellion in eine stabile Herrschaft zu überführen, setzte Sargon zu Beginn seiner Herrschaft zunächst die in Kiš geltende religiöse und politische Ordnung weitestgehend außer Kraft. Wie Sargons Königsinschriften zu entnehmen ist (eine gute Übersetzung finden Sie in I. Gelb/ B. Kienast, 1990), wurden zunächst die „Alten“, vermutlich die Berater des abgesetzten Königs, aus dem Umkreis der neuen Herrschaft entfernt und damit entmachtet. Tempelland wurde an den Palast veräußert und die Verfügungsgewalt über die Wirtschaftsdomänen der Tempel dem Palast unterstellt. So wurde die Priesterschaft einer ihrer wichtigsten ökonomischen Pfründe beraubt und ebenfalls massiv entmachtet. Privatpersonen erhielten nun das Recht, u. a. Tempelland zu erwerben. Damit konzentrierte sich die Macht zunehmend in den Reihen der Großfamilien, die dem neuen Herrscher gegenüber loyal waren. Sargons besondere Aufmerksamkeit galt dem Militär und dem Aufbau eines Truppenkontingents, das ihm als oberstem Befehlshaber direkt unterstand und loyal diente. Das Militär war, wie die Königsinschriften der Zeit zeigen, ein unerlässlicher und zugleich maßgeblicher Faktor für die Festigung der Herrschaft und dürfte im Inneren als Schutz gewirkt und in der Außenpolitik die Expansion ermöglicht haben. Nach den Eingriffen in die Personalstruktur der Verwaltung und dem gezielten Aufbau loyaler Truppen folgten Eingriffe in die Bauordnung der Stadt ebenso wie in die Zusammensetzung der Bevölkerung von Kiš. Die Stadt, so die Inschriften des Sargon, wurde umgestaltet, d. h. die Raumordnung verändert. Leider haben die frühen Ausgrabungen in Kiš solchen Aspekten der Veränderung von Raumordnung und politischer Konzeption der Raumgestaltung keine Aufmerksamkeit geschenkt. Unser Wissen darüber fußt somit gänzlich auf den Textaussagen. Damit veränderte sich sukzessive die Erinnerung an das traditionelle Stadtbild, an das „Alte“. Zugleich wurde die neue herrschende Ordnung unübersehbar. Das Neue also prägte sich dauerhaft im kulturellen Gedächtnis der Bewohner von Kiš und der angrenzenden Regionen ein. So neu strukturiert hätte Kiš, der Ort der traditionellen Ordnung und der „Traditionsort der Macht“, zum Sitz und Zentrum der neuen Macht und der neuen herrschenden Ordnung werden können. Die eingeleiteten Maßnahmen reichten aber offenkundig nicht aus, um die neue Ordnung in Kiš zu etablieren und zu festigen. Weitere Schritte wurden nötig, und so erfolgte erstmals die Umsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen und deren Ansiedlung in Kiš - eine bis dato unbekannte Strategie zur Herstellung von Ordnung. Wenn auch die Gründe für die Neuansiedlung in Kiš in der Überlieferung nicht explizit genannt werden, so ist in der gegebenen politischen Situation des Umbruchs davon auszugehen, dass die Umgesiedelten (und daher Schutzbedürftigen) als Sargons neue loyale Klientel aufgebaut werden sollten. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 8 123 D I E N E U E O R D N U N G S O L LT E N I E M A N D E M V E R B O R G E N B L E I B E N … erste geplante Neugründung eines Herrschaftssitzes Umsiedlung als Machtmittel Die Umsiedlung von Menschen und ihre erzwungene Integration in fremde soziale Zusammenhänge stellt für alle Betroffenen einen gravierenden Eingriff in ihr gemeinschaftliches Miteinander dar: für die alteingesessene Bevölkerung, die mit den Neuankömmlingen konfrontiert wird und natürlich für die Umgesiedelten selber. Umsiedlung heißt zunächst, gewachsene soziale Bindungen zu zerstören, zum einen dort, wo die Menschen aus ihrer gewohnten Umgebung entfernt werden, zum anderen aber auch dort, wo ihre Neuansiedlung erfolgt. In der Fremde sind die Neuen zunächst isoliert und verfügen noch nicht über Strukturen, um ihr Miteinander zu gestalten. Die „Neuen“ sind in ihrer Orientierung auf die „Schutzmacht“ angewiesen, die ihnen die Umsiedlung zugemutet hat. Diese zielt mit der Umsiedlung und der Begünstigung der Umgesiedelten in deren neuer Heimat darauf ab, sich mittel- und langfristig eine stabile und vor allem irreversible Basis für ihre Macht in der Fremde bzw. in den umstrukturierten neuen Herrschaftsräumen aufzubauen. Dass entsprechende Eingriffe in die bestehende soziale Ordnung zugleich auch für die „Schutzmacht“ nicht ohne Risiko sind, ist offensichtlich. So besteht die Möglichkeit, dass sich die Neuen mit den Alteingesessenen verbünden und zur Bedrohung der geplanten neuen Ordnung werden. Dass Umsiedlung seit nahezu 5.000 Jahren ein virulenter Bestandteil repressiver Politik ist, zeigt z. B. die Politik Chinas sowie Israels, die beide in großem Stil Landesteile besiedeln und die dort seit Generationen lebenden Bevölkerungen massiv be- und verdrängen. Es bleibt offen, ob die Umsiedlung zu den erwünschten Ergebnissen führte. Die Neuerungen des Rebellen gingen offenbar noch weiter. Erstmals in der Geschichte der altorientalischen Gesellschaften wagte es mit Sargon ein regierender König, eine neue Stadt zu gründen! Wieder griff er gravierend in die politischen, religiösen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten von Kiš ein, indem er sich entschloss, dem ehemals traditionellen Herrschaftszentrum Kiš eine neue politische Residenz zur Seite zu stellen und die Stadt Akkad (bis heute nicht gefunden! ) zu gründen. Die Stadt avancierte zur neuen Hauptstadt. Ihre politische Bedeutung für die neue Weltordnung hatte Sargon durch seine Titulatur „Sargon, König von Akkad“ unübersehbar und unmissverständlich deutlich gemacht. Nicht mit Kiš identifizierte er sich vorrangig, sondern mit Akkad. Als König von Akkad wollte er gesehen und erinnert werden. Die Gründung einer alternativen Hauptstadt stellte einen gewaltigen und vor allem unübersehbaren Eingriff in die Traditionen dar, ein Schritt, der wohl nicht ohne reifliche Überlegung (und nicht ohne Not? ) erfolgt war. Debatte eröffnet: Hauptstadtverlagerungen, die Umbenennung von Städten und Neugründungen von Hauptstädten sind weder historisch einmalige Ereignisse, noch sind sie auf eine bestimmte Gesellschaft oder Kultur begrenzt. Sie gehören vielmehr offenkundig zu den maßgeblichen Akten symbolischer Politik. Zu fragen ist, warum diese symbolischen Handlungen im Politischen jeweils so wichtig sind, dass für deren Umsetzung © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 124 D A S E R S T E W E LT R E I C H D E R G E S C H I C H T E U N D S E I N P R OTA G O N I S T S A R G O N V O N A K K A D keine Kosten gescheut und z. T. tiefgreifende Konflikte mit den Gegnern entsprechender Planungen in Kauf genommen werden. Ein jüngstes Beispiel für die Verlagerung einer Hauptstadt liegt mit dem Umzug der Militärdiktatur in Burma vor. Im November 2005 verließ die Militärregierung die traditionelle Hauptstadt Rangun und zog mit der gesamten Verwaltung nach Norden in die neue Hauptstadt Pyinmana, die im März 2006 umbenannt wurde und seitdem bezeichnenderweise Naypyidaw heißt, übersetzt: Heimat/ Heimstatt der Könige. Zu erinnern ist zudem an den Umzug der bundesrepublikanischen Regierung von Bonn nach Berlin, der alten neuen Hauptstadt im September 1999. In Kiš lagen die traditionellen gemeinschaftsrelevanten Kultbauten und Ritualplätze, vielleicht die Friedhöfe der Ahnen, die gemäß den herrschenden Jenseitsvorstellungen der Zeit nicht ohne weiteres verlassen werden konnten. Für Sargon bildeten diese Traditionen offenkundig kein Hemmnis, Kiš zu verlassen und die neue Stadt zu bauen. Bei seiner Biographie und der Einstellung der traditionellen Eliten zu seiner Herrschaft war dies aber im Grunde auch nicht wirklich überraschend. … noch in den umliegenden Regionen Anders als bei der Rebellion des Urukagina von Lagaš blieben die Auswirkungen der Rebellion des Sargon nicht lokal begrenzt. Nicht nur Kiš, auch die benachbarten Städte und Länder waren weitreichend betroffen. Kontrolle über das geistig-religiöse Zentrum - die Akkader erobern den Süden Die ersten Feldzüge des Sargon gingen in den mesopotamischen Süden, den er kontrollieren musste, wenn sein Konzept der Herrschaftsexpansion in die „vier Weltgegenden“ aufgehen und Bestand haben sollte. Sie führten zur 8.3 8.3.1 Abb. 8. 3 Das Reich der Akkader und die von der akkadischen Expansion betroffenen Städte Südmesopotamiens © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 8 125 D I E N E U E O R D N U N G S O L LT E N I E M A N D E M V E R B O R G E N B L E I B E N … aus den Opfern Täter machen unübersehbaren Verwüstung der betroffenen Städte und Gemeinschaften und zum Chaos der ehemals geltenden Ordnung. Die großen Städte des sumerischen Städtebundes wurden erobert, ihre (Stadt-)Mauern geschleift und die Eliten entmachtet. Auf die räumliche Verwüstung und die politische Entmachtung folgte die politische Besetzung und die ökonomische Ausbeutung der wichtigsten Städte in den nun besetzten Gebieten. Die Kontrolle über die Geschehnisse vor Ort, so die Kriegspropaganda der Königsinschriften des Sargon, wurde umgehend auf seine Vertrauensleute übertragen - ein weiterer gravierender Eingriff in die politische Tradition des Südens, in der die Herrscherfolge traditionell dynastisch geregelt war. Zustimmung zur Politik der verbrannten Erde habe der oberste zuständige Gott, Enlil, gegeben, indem er die lokalen Könige nicht in ihren Ämtern bestätigte - und also Sargons Kriege verhinderte. Sargon, der König von Akkad, der „Anwalt“ der Ištar, der König des Alls, der „Gesalbte“ des An, der König des Landes, der Statthalter des Enlil, hat die Stadt Uruk erobert und ihre Mauern geschleift. Im Kampf hat er Uruk besiegt, die Stadt erobert. Lugalzaggesi, den König von Uruk, hat er im Kampf gefangengenommen, ihn in einen Holzblock zum Tore des Enlil(-Tempels) geführt. Sargon, der König von Akkad, hat im Kampf Ur besiegt; die Stadt hat er erobert und ihre Mauern geschleift … Das Obere Meer [das Mittelmeer, Anm. der Verf.] und das Untere Meer [der Persische Golf, Anm. der Verf.] hat Enlil ihm gegeben: Vom Unteren Meer an haben Bürger von Akkad die Stadthalterschaften inne, selbst Mari und Elam stehen in Diensten des Sargon, des Königs des Landes. Sargon, der König des Landes, hat Kiš umgestaltet und sie [die neuen BewohnerInnen, Anm. der Verf.] die Stadt besiedeln lassen. (Übersetzung nach Gelb/ Kienast 1990, Inschrift des Sargon, Nr. C1, S. 160-161) Implizit hieß dies für die betroffenen Städte und deren Bevölkerungen, dass sie ihre Ordnungen und auch ihre Könige zu Recht verloren - und Sargon die Herrschaft zu Recht ergriffen hatte. Nur Gemeinschaften und Könige, die den Willen der Götter nicht beachtet hatten, wurden von ihren Göttern verlassen. Wo also Enlil den lokalen Herrschenden nicht zur Hilfe geeilt war, musste dies nach der religiösen Logik der Zeit wegen des falschen Handelns der lokalen Könige geschehen sein. So wurden die Opfer zu Tätern gemacht, eine Herrschaftsideologie, die auf einer perfiden Legitimationspraxis des Handelns fußte. Sargon machte auch vor der Einnahme der Stadt Ur, einer der wichtigsten Kultstädte des Südens, nicht Halt. Gewaltsam nahm er die Stadt ein und gewaltsam verfuhr er mit ihren religiösen Traditionen, indem er seine Tochter Enheduanna als oberste Priesterin des Mondgottes Nanna/ Sin einsetzte. Mit diesem Akt hatte die Fremdmacht die Kontrolle über die alles bestimmende © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 126 D A S E R S T E W E LT R E I C H D E R G E S C H I C H T E U N D S E I N P R OTA G O N I S T S A R G O N V O N A K K A D 8.3.2 alle Ressourcen werden Sargons Kontrolle unterstellt 8.3.3 Machtpolitik ist Religionspolitik und entscheidende geistig-religiöse Instanz von Ur übernommen. Das heißt auch, mit der Etablierung akkadischer Vertrauter in den unterworfenen Städten und der Etablierung seiner Tochter in Ur war es Sargon gelungen, neben der wirtschaftlichen und politischen Vorherrschaft auch die Kontrolle über die geistigen und religiösen Ressourcen des unterworfenen Südens dauerhaft zu etablieren. Der mesopotamische Norden - die Kontrolle der Kornkammer Der Rebellion des Sargon „zu Hause“ in Kiš und der Etablierung der Fremdherrschaft über den mesopotamischen Süden folgte der Ausbau der Kontrolle und Vorherrschaft über den mesopotamischen Norden und den im heutigen Syrien gelegenen Westen. Das Prinzip des Strukturwandels, das Sargon in Kiš ebenso wie im mesopotamischen Süden zur Anwendung gebracht hatte, wurde auch in den entfernter liegenden Nachbarregionen umgesetzt. Im Norden übernahmen die Akkader die Kontrolle über die fruchtbaren Regionen Assyriens, um auch dort sowohl die Agrarressourcen als auch die gut ausgebaute Infrastruktur, Wege- und Kommunikationsnetze zugunsten Akkads zu nutzen. Kontrolle des Westens: Zugang zu den wirtschaftlichen Pfründen der Mittelmeeranrainer Im Westen diente vor allem die Hafen- und Handelsstadt Mari, im heutigen Syrien am Euphrat gelegen, der Sicherung der akkadischen Kontrolle über das wirtschaftliche Geschehen. Von dort setzten die Akkader ihre Machtausweitung bis in die Levante und nach Anatolien zur Sicherung ihres Holz- und Metallbedarfs fort. Dass auch hier die Expansion der akkadischen Macht nur mit der expliziten Billigung der zuständigen Gottheiten erfolgen konnte, war den Akkadern offenkundig bewusst. Den für die Levante zuständigen Gott Dagan priesen sie in seiner Heimat (dem Raum des heutigen Syrien) als Schutzherrn der akkadischen Politik und stellten sich und ihr Handeln in seinen Dienst. Öffentlich huldigten sie dem Gott und bekundeten zugleich, dass es Dagan gewesen sei, der den Akkadern die Zedernwälder und Silberberge ausdrücklich zur Nutzung überstellt habe. Sargon, der König, hat in Tuttul [Tell Bi’a nahe Raqqa in Syrien, Anm. der Verf.] dem Dagan im Gebet gehuldigt, der aber hat das Obere Meer [das Mittelmeer, Anm. der Verf.] ihm, dem Sargon, gegeben, d. h. Mari, Jarmuti und Ebla bis zum Zedernwald und den Silberbergen. (Übersetzung nach Gelb/ Kienast 1990, Inschrift des Sargon, Nr. C2, S. 166-167) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 8 127 D I E N E U E O R D N U N G S O L LT E N I E M A N D E M V E R B O R G E N B L E I B E N … 8.3.4 Ausrichtung der Ordnung auf die Bedürfnisbefriedigung der Akkader Struktur- und Ordnungswandel der „Welt“ Die Rebellion des Sargon veränderte zunächst die innenpolitische Organisation in Mesopotamien. Dem folgte eine neue Ausrichtung der außenpolitischen Beziehungen Mesopotamiens unter akkadischer Regierung, die in einen grundlegenden Strukturwandel in den Beziehungen zu den ehemals unabhängigen Städten der Levante mündete. Den Handel ersetzte nun ein Güteraustausch zwischen Zentrum und Peripherie, zentral gelenkt durch die Akkader und mit nur einem Abnehmer, den Akkadern selbst. Der zentralen politischen Kontrolle, so ist es den Königsinschriften zu entnehmen, folgte die zentrale ökonomische Kontrolle aller im Akkadreich verfügbaren Ressourcen. Wo die gut ausgebauten Verkehrs- und Kommunikationsnetze den Fremdherrschern nützten, wurden sie gepflegt, wo sie nicht kontrollierbar schienen, sukzessive zerstört. Mari am Euphrat und Tell Brak im Norden des heutigen Syrien gehörten etwa zu den Städten, auf deren Nutzung die Akkader nicht verzichten konnten, während die Wirtschaft der blühenden Handels- und Handwerksstadt Ebla (Tell Mardikh in Nordsyrien) zur Zeit der Akkader offenkundig zusammengebrochen war. Der Handelsnutzen konzentrierte sich also nur mehr auf die Belange der politischen Zentrale Akkad, und in diesem Zusammenhang diente Tell Brak als Zentrum in der Kornkammer des mesopotamischen Nordens und Mari als maßgeblicher Umschlagplatz am Mittleren Euphrat. Die Rebellion des Sargon führte zu einem in vielerlei Hinsicht radikalen Bruch mit den sozialen, politischen, kulturellen und religiösen Traditionen der betroffenen Gesellschaften. Mit dem Wandel vom Stadtstaatensystem zur zentralisierten Herrschaft erfuhren die religiösen und kulturellen Werte ebenso wie die Grundlagen des sozialen Miteinanders der verschiedenen Traditionen im Großreich Akkad eine grundlegend neue Definition. Die gewachsenen Strukturen und Symbole der kollektiven Identität der Besiegten wurden zerstört. Das Zentrum Akkad stilisierte sich - und avancierte realiter - zum Hüter der zentralen Ordnung, symbolisierte die herrschende Ordnung, monopolisierte die Symbolisierung des Verhältnisses zwischen kosmischer und sozialer Ordnung und verknüpfte diese Symbole mit der von Sargon definierten neuen politischen Ordnung. Die Gunst aller Götter, die Ressourcen aller Länder und die Mächtigen aller Regionen standen jetzt nur mehr dem akkadischen Wohl zur Verfügung, so die Botschaft, die die Texte, die Raumordnung und unter der Regentschaft von Sargons Enkel Naramsin unübersehbar auch die bildlichen Darstellungen übermittelten. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 128 D A S E R S T E W E LT R E I C H D E R G E S C H I C H T E U N D S E I N P R OTA G O N I S T S A R G O N V O N A K K A D 8.4 ein „Weltpantheon“ zur Legitimation des Weltreichs Sargon, der Neuerer, ein kühnes Image - und zugleich politisch nachvollziehbar Mit Sargon von Akkad wurde erstmals das Selbstbild eines Herrschers lanciert, der sich von den Traditionen in Kiš entfernt und eigene Traditionen geschaffen, Normen und Werte der geltenden Ordnung modifiziert oder gänzlich negiert und das Neue stärker als je zuvor als Ergebnis des eigenen Tuns und weniger des göttlichen Auftrags stilisiert hatte. Die Herrschertitulatur, die Raumordnung in Kiš, die politische Ordnung und die Zentralisierung der Macht, die Besetzung der obersten Priesterposition im Kultzentrum Ur mit der eigenen Tochter, die Entmachtung der Priesterschaften im ganzen Land, die Schaffung einer neuen Gruppe von Landbesitzern und die offene Aufwertung des Heeres sind nur einige der Beispiele für den weitreichenden und wirkungsmächtigen Wandel der Traditionen, den Sargon gewagt hatte. Der durch die Politik des Sargon verursachte Wandel wurde nicht versteckt, sondern über offensiv gezeigte Brüche in die Repräsentation des Königs integriert. Der König Sargon nannte sich nicht mehr, der Tradition entsprechend, König von Kiš. Er schuf eine eigene Tradition für sein Haus, indem er Akkad zum Zentrum seiner Welt und zum Kernbegriff seiner Titulatur machte. Die Götter standen ihm zur Seite, aktiv war er, Sargon, der König. Der für Sargon von Akkad überlieferten Repräsentationsbotschaft zufolge stand das Neue für das Versprechen auf ein gutes Leben. Erstmals war Gemeinschaft jetzt „Weltgemeinschaft“, mit entsprechenden Konsequenzen auch im Umgang mit den Göttern. Erstmals gab es ein territorial übergreifendes Reich, regiert vom Zentrum Akkad aus, das sich vom Persischen Golf bis zum Mittelmeer erstreckte. Die begrenzte Reichweite der Stadtstaatenpolitik hatte Sargon weit hinter sich gelassen. In einem global ausgerichteten Machtsystem musste erstmals auch die Götterwelt bzw. die Zuständigkeiten der Götter global gestaltet werden. Die Macht des einzelnen Stadtgottes vermochte es jetzt nicht mehr, über die Geschicke des Ganzen zu entscheiden, da das Ganze jetzt nicht mehr der Stadtstaat war, sondern ein „Weltreich“. Die Repräsentation des Sargon von Akkad als „Partner“ der globalen Götterwelt - von Enlil in Nippur bis Dagan in Syrien standen die hochrangigsten Götter an seiner Seite - stellte also auch die bis dato geltenden religiösen Traditionen und Wertigkeiten zur Disposition. Ein gewaltiges Unterfangen! Es führte zur Entstehung neuer Panthea, schuf neue Verbindungen zwischen zuvor in der Weise nicht vernetzten Götterwelten und bürdete auch den jeweiligen Priesterschaften gewaltige Neuerungen auf. Das Zentrum der Macht hofierte nun nicht mehr allein und primär die Priesterschaften der eigenen Stadt. Andere Priesterschaften wurden wichtiger, darunter vor allem die, die den überregional machtvollen Göttern zu Diensten © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 8 129 F A Z I T Ideologie der Macht - Konstruktion der sozialen Ordnung 8.5 waren. Dazu gehörten vor allem die Tempelverwaltungen von Nippur und Ur, den beiden großen „sumerischen“ Kultzentren, die jetzt unter der Kontrolle der Akkader standen. Indem Sargon neue Verantwortungsbereiche der Götter schuf, die erst durch das Zusammenwirken der Gottheiten im Weltreich wirkungsmächtig und zugleich erstmals explizit mit seiner Repräsentation sichtbar wurden, präsentierte er sich überdies als denjenigen, der allein über die Macht verfügte, mit den traditionellen Götterordnungen zu brechen und, dem Bedarf der neuen politischen Weltordnung entsprechend, eine neue Götterwelt zu schaffen. Außer ihm war es bisher niemandem gelungen, die Götter vom Süden Mesopotamiens bis zur Levante im Westen in einen gemeinsamen Aktions- und Zuständigkeitsbereich zu integrieren. Gemeinsam, so die Propaganda des Rebellen, akzeptierten die Götter erstmals „weltweit“ Sargon als den, der alleine die richtige und damit legitime Ordnung für alle Gemeinschaften vom „Oberen bis zum Unteren Meer“, vom Mittelmeer bis zum Persischen Golf, zu schaffen gewusst hatte. Die Neuerungen verantworteten nicht die jeweils traditionell vor Ort agierenden Priesterschaften, sondern Sargon, der „Fremde“ und Repräsentant der weltlichen Macht. Er hatte also offenkundig nicht nur diesen Schritt des Systembruchs gewagt, sondern überdies die Machtverhältnisse von Tempel und Palast in der gegebenen drastischen Deutlichkeit öffentlich und unübersehbar gemacht. Der König und Weltenherrscher Sargon war es, dessen Politik erstmals Beziehungen zwischen überregional zuständigen Gottheiten von Süd- und Nordmesopotamien bis in die Levante erforderlich gemacht hatte. Die Konstruktion der „religiösen Welt“ gemäß den politischen Erfordernissen wurde hier so deutlich wie nie zuvor - und doch als Ergebnis dargestellt, das im Einklang mit dem göttlichen Willen erzielt worden war. So sollte es der Repräsentation des Sargon und damit der Ideologie der politischen Macht als Repräsentant des göttlichen Willens gelingen, die gewaltigen Veränderungen in den Traditionen als natürlich, weil gottgewollt darzustellen. Als natürlich und von den Göttern geschaffen kam der neuen Ordnung normative Kraft zu, so dass sie als legitim anerkannt werden und den betroffenen Bevölkerungen Identifikationsmöglichkeiten bieten konnte. Wo die eigenen Götter die Weltherrschaft des Sargon akzeptierten, war die Identifikation mit der neuen Ordnung möglich. Die Repräsentation des Sargon von Akkad wies diesen als Kenner der Kulturen und der religiösen Welten weit über Akkad hinaus aus und präsentierte ihn als den ersten von allen relevanten Göttern anerkannten „Weltenbürger“ der Geschichte. Fazit Die Regentschaft der Akkader hatte den Gesellschaften des Nahen Ostens gewaltige Neuerungen aufgebürdet. Erstmals war ein „Weltreich“ entstanden, in dem die lokal und regional gewachsenen Traditionen, Sitten und Gebräuche, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 130 D A S E R S T E W E LT R E I C H D E R G E S C H I C H T E U N D S E I N P R OTA G O N I S T S A R G O N V O N A K K A D 8.6 die sozialen und politischen Ordnungen und die Organisation der Wirtschaft einem „kulturfremden“ Zentrum unterstellt wurden. Zuständigkeiten von Göttern und Priesterschaften, Fragen des Landbesitzes, Vorstellungen von „Wir“ und „die Anderen“, Selbstbilder der Eliten und der Aufbau der politischen Ordnung hatten mit der Herrschaft des Sargon radikale Veränderungen erfahren. Erstmals wurden Menschen umgesiedelt, damit das Zentrum seine eigenen politischen Interessen optimal umsetzen konnte. Erstmals ersetzte eine neugegründete Stadt, mit der sich vor allem die Klientel der neuen Herrschenden identifizieren konnte, eine traditionsreiche „Hauptstadt“. In den eroberten Städten wurden weltliche Verwalter eingesetzt, die nicht zur lokalen und traditionellen Herrscherelite gehört hatten. Erstmals geriet ein religiöses Zentrum - Ur - und damit ein Zentrum der Geisteswelt unter die Kontrolle einer Fremdmacht, deren Repräsentantinnen und Repräsentanten in einer anderen kulturellen Tradition (Sprache, Götterwelten, Identität) sozialisiert worden waren als die, über die sie nun Kontrolle ausübten. Und erstmals wird mit der Regierung des Sargon ein Pantheon sichtbar, das global agierte und damit eine bis dato nicht bekannte Reichweite erreicht hatte. Die Neuerungen des Sargon hatten keinen Lebensbereich der betroffenen Gesellschaften unberührt gelassen. Aus den überlieferten Texten, die den Akkadern zugeschrieben werden, sind die Folgen der Rebellion abzulesen. Ungeklärt ist dagegen bislang, wie der Rebell Sargon diese gewaltigen Veränderungen überhaupt hatte einleiten können. Wer hatte ihm zur Seite gestanden, nachdem er als Rebell die Macht übernommen hatte? Auf welche Klientel hatte er sich stützen können, nachdem er radikal mit der herrschenden Ordnung gebrochen und die traditionellen Regeln des Umgangs miteinander außer Kraft gesetzt hatte? Wer hatte ihm, der nicht zum traditionellen Kreis der Herrschaftsanwärter gehörte, zur Herrschaft verholfen? Und wie verlaufen solche Prozesse, in denen eine nicht zur Herrschaft legitimierte Clique die Herrschaft in einem Gemeinwesen gewaltsam übernimmt und dann verkündet, mit diesem Schritt das geordnete Miteinander der betroffenen Gemeinschaften in der Gegenwart und für die Zukunft erst gesichert zu haben? Weiterführende Literatur Crawford, Harriet E. W. 2007. Regime change in the ancient Near East and Egypt: from Sargon of Agade to Saddam Hussein. Oxford. Oxford University Press. Proceedings of the British Academy 136 Franke, Sabina. 1995. Königsinschriften und Königsideologie: die Könige von Akkade zwischen Tradition und Neuerung. Münster. LIT. Altorientalistik 1 Gelb, Ignace J.; Kienast, Burkhardt. 1990. Die altakkadischen Königsinschriften des dritten Jahrtausends v. Chr. Stuttgart. Steiner. Freiburger altorientalische Studien, Bd. 7 Groneberg, Brigitte. 2004. Die Götter des Zweistromlandes. Düsseldorf; Zürich. Patmos/ Artemis und Winkler © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 8 131 W E I T E R F ÜH R E N D E L I T E R AT U R Heinz, Marlies. 2008. Die Repräsentation der Macht und die Macht der Repräsentation in Zeiten des politischen Umbruchs: Rebellion in Mesopotamien. München; Paderborn. Fink Heinz, Marlies; Feldman, Marian H. (Hg.). 2007. Representations of political power: case histories from times of change and dissolving order in the ancient Near East. Winona Lake, Indiana. Eisenbrauns Juergensmeyer, Mark. 2008. Global rebellion: religious challenges to the secular state from Christian militias to Al Qaeda. Berkeley. University of California Press. Comparative studies in religion and society 16 Krause, Ralf; Rölli, Marc (Hg.). 2008. Macht: Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart. Bielefeld. transcript. Edition Moderne Postmoderne Lewis, Brian. 1980. The Sargon Legend. A Study of the Akkadian text and the tale of the hero who was exposed at birth. Cambridge, MA. American Schools of Oriental Research. Dissertation Series 4 Liverani, Mario (Hg.). 1993. Akkad: the first world empire: structure, ideology, traditions: Padova. History of the ancient Near East: Studies 5 McGuire, Randall H. 2008. Archaeology as Political Action. Berkeley. University of California Press Orthmann, Winfried. 1975. Der Alte Orient. Berlin. Propyläen-Verlag. Propyläen-Kunstgeschichte, Bd. 14 Selz, Gebhard J. 2005. Sumerer und Akkader. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. München. Beck, Beck’sche Reihe 2374 Westenholz, Joan Goodnick. 1997. Legends of the kings of Akkad. Winona Lake, Indiana. Eisenbrauns © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 133 Nicht Gottes Sohn - Stadtgott wollte Naramsin von Akkad sein (2270-2220 v. Chr.) Inhalt 9.1 Ein Mensch wird zum Gott 134 9.2 Die Beziehungen der südmesopotamischen Stadtkönige zu den Göttern 134 9.3 Der „dritte Weg“: Naramsins Zugang in die Welt der Götter 135 9.4 Das akkadische Herrschaftssystem 137 9.4.1 Das Fremde und die Fremden 137 9.4.2 Die Akkader - Fremde im „eigenen“ Land? 138 9.5 Der Weg zur Vergöttlichung des Naramsin - noch einmal im Detail betrachtet 140 9.5.1 Das entscheidende Konfliktszenarium: Der Angriff der „Mächtigen der vier Weltgegenden“ 140 9.6 Gründe und Konsequenzen der Vergöttlichung 143 9.6.1 Innenpolitische Auswirkungen der Vergöttlichung 144 9.6.2 Außenpolitische Auswirkungen 144 9.7 Religion und Politik 146 9.8 Ausblick: die Vergöttlichung im Bild 148 9.9 Weiterführende Literatur 150 Einheit 9 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 134 N I C H T G OT T E S S O H N - S TA DT G OT T W O L LT E N A R A M SI N V O N A K K A D S E I N 9.1 Naramsin - zu Lebzeiten vergöttlichter König 9.2 Ein Mensch wird zum Gott Ein Mensch wird zum Gott. Er beansprucht für sich, in zwei Welten gleichzeitig zu leben und, mit Entscheidungsmacht versehen, dort aktiv zu sein: in der irdisch-menschlichen Welt als König und in der Sphäre der Götterwelt als Stadtgott von Akkad. Es war Naramsin, Enkel des Sargon von Akkad, des Gründers der Dynastie und Begründers des ersten Weltreichs, der als erster Akteur in der Weltgeschichte als lebender Mensch in der Welt der Götter agieren wollte. Was war geschehen? Wie und warum hatte Naramsin von Akkad diese Forderung nicht nur aufgestellt, sondern dem eigenen Bekunden nach mit der Unterstützung der Akkader und aller relevanten Gottheiten auch umgesetzt? Die Beziehungen der südmesopotamischen Stadtkönige zu den Göttern In der frühdynastischen Zeit haben wir bisher zwei Formen der Zusammengehörigkeit von Göttern und menschlichen, männlichen Königen kennengelernt. Eannatum von Lagaš war der erste König, der sich als der Sohn des Stadtgottes verstand. Erstmals in der Geschichte werden wir mit dem Phänomen der Gotteskindschaft konfrontiert, die 2.500 Jahre später für den christlichen Glauben so große Bedeutung haben sollte. Ningirsu [der Stadtgott von Lagaš, Anm. der Verf.] hat den Eannatum gezeugt …, Inanna hat ihn auf den Arm genommen … und … seinen Namen genannt. Sie hat ihn der (Muttergöttin) Ninh ∞ ursag auf den rechten Schoß gelegt und Ninh ∞ ursag hat ihn an ihre rechte Brust gelegt. Über Eannatum, gezeugt von [dem Stadtgott von Lagaš] Ningirsu, hat sich Ningirsu gefreut. (Übersetzung nach H. Steible, 1982, Ean. 1, S. 122-123) Eannatum war Mitglied der göttlichen Familie von Lagaš und genoss im Laufe seines Lebens vielfältige Fürsorge, auch von den weiblichen Gottheiten. Aufgewachsen im Kreis der Götter und als Sohn des Stadtgottes hatte er von diesem, seinem Vater, die Königswürde erhalten. Seine Abstammung war die Legitimation seiner Funktion, seines Status, seiner Stellung in der Gesellschaft, aller seiner Handlungen, seines kriegerischen Tuns und seiner Siege über den Feind. Bei Urukagina von Lagaš sah das anders aus. Er war der Auserwählte des Stadtgottes Ningirsu. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 9 135 D E R „ D R I T T E W E G “: N A R A M SI NS Z U G A N G I N D I E W E LT D E R G ÖT T E R „Königswege“ zur Herrschaft 9.3 neue Beziehung zwischen Mensch und Götterwelt Als Ningirsu, der Held des Enlil, dem Urukagina das Königtum über Lagaš verliehen hatte und aus der Mitte von 36.000 Menschen seine Hand gefasst hatte, hat er das Schicksal von früher ersetzt. Die Worte, die sein Herr Ningirsu zu ihm sprach, hat er begriffen [d. h. den Auftrag auszuführen, die Ordnung im Land wiederherzustellen, Anm. der Verf.] (Übersetzung nach H. Steible, 1982, Ukg. 4-5, S. 298-299) Er wurde anhand der eigenen Königsinschriften erinnert als Mensch ohne Familie und daher als Mensch ohne Geschichte. Seine Position als König erhielt er nicht aufgrund der Herkunft, sondern aufgrund von Fähigkeiten, die der Stadtgott von Lagaš offenkundig in ihm erkannt hatte. Weil er als fähig erachtet wurde, die in Auflösung befindliche Ordnung in Lagaš wieder auf ihre traditionellen Rahmenbedingungen zurückzuführen und so die von den Göttern gesetzte Ordnung wieder herzustellen, hatte ihn der Stadtgott zum König von Lagaš berufen. Urukagina musste sich dann durch seine Taten der Ehre erst als würdig erweisen und aufzeigen, dass das in ihn gesetzte Vertrauen der Götter berechtigt war. Eannatum begann seine Karriere göttlich legitimiert und ohne Vorleistung, die einzige Legitimation für sein Wirken als Herrscher lag in seiner Herkunft. Urukagina hingegen wurde als No-Name zum König ernannt und musste die Ernennung durch politischen Erfolg legitimieren, er musste Leistung erbringen, um sich der Vorleistung des Stadtgottes als würdig und berechtigt zu zeigen. Der „dritte Weg“: Naramsins Zugang in die Welt der Götter Mit der (Selbst-)Ernennung zum Gott, die Naramsin von Akkad vorgenommen hatte, wird eine dritte Variante der Beziehung von Menschen und Göttern fassbar. Naramsin war König qua Herkunft, stammte aus der Familie der Könige von Akkad, war somit realweltlich legitimiert als Nachkomme des Sargon und übte das Amt des Königs den Traditionen der Dynastie von Akkad gemäß aus. Er war regelgerecht zur Herrschaft gelangt und hatte darüber hinaus keine Vorleistungen erbringen müssen. Nach eigenem Bekunden leistete er dennoch viel und die Zeiten waren schwierig. Akkad, so die Naramsin zugeschriebenen Texte (Gelb/ Kienast 1990), war stetig bedroht durch die Angriffe derer, die die akkadische Oberherrschaft nicht länger hinnehmen wollten. Naramsin, der Mächtige, der König von Akkade, hat, als die vier Weltgegenden insgesamt gegen ihn rebellierten, durch die Liebe, die Ištar ihm erwiesen hat, neun Schlachten in einem einzigen Jahr siegreich bestanden. (Übersetzung nach I. Gelb/ B. Kienast 1990, Naramsin 1, S. 81) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 136 N I C H T G OT T E S S O H N - S TA DT G OT T W O L LT E N A R A M SI N V O N A K K A D S E I N Kriegserfolg - der Weg zu Ruhm und Ehre? wer profitiert von Naramsins Ruhm? Von König Naramsin wurde stets das Maximale verlangt, als König, Politiker und Militär. Seine politisch-militärischen Erfolge verdankte Naramsin zum einen seinen eigenen herausragenden Fähigkeiten und Leistungen als Beschützer der Akkader. Seine Erfolge wurden aber zum anderen erst ermöglicht und gesichert durch die wohlwollende Begleitung und Unterstützung der kriegerischen Göttin Ištar, die zugleich die Stadtgöttin von Kiš war und die schon seinem Großvater Sargon in den entscheidenden Momenten seiner Karriere Tür und Tor geöffnet hatte (ob die Textaussagen auf historisch „wahren Begebenheiten“ beruhten, ist für unsere Belange irrelevant. Wichtig ist dagegen, dass zur Zeit der Erstellung der Texte diese Images Sargon und Naramsin als die guten, legitimierten und erfolgreichen Herrscher aufbauten und erinnerten). Weil Naramsin sich in außerordentlicher Weise um die Belange Akkads verdient gemacht hatte, so der Text, der über die Vergöttlichung berichtet, hatten seine Zeitgenossen, die Bewohner von Akkad, den Göttern vorgeschlagen, aus dem König von Akkad den Gott von Akkad werden zu lassen - Naramsin beanspruchte also nicht selbst göttliche Herkunft und Familienbande, und es war auch nicht der Vorschlag der Götter, Naramsin in ihre Reihen aufzunehmen. Naramsin, der Mächtige, der König von Akkade, hat, als die vier Weltgegenden insgesamt gegen ihn rebellierten, durch die Liebe, die Ištar ihm erwiesen hat, neun Schlachten in einem einzigen Jahr siegreich bestanden und die Könige, die sich gegen ihn erhoben hatten, gefangen genommen. Weil er in dieser Notlage die Machtbasis seiner Stadt gefestigt hat, haben die Bürger seiner Stadt bei Ištar in Eanna, bei Enlil in Nippur, bei Dagan in Tuttul, bei Ninh ∞ ursag in Kiš, bei Enki in Eridu, bei Sin in Ur, bei Šamaš in Sippar, bei Nergal in Kutha zum Gott ihrer Stadt Akkade ihn (Naramsin) sich erbeten und inmitten von Akkade seinen Tempel errichtet. Wer diese Inschrift beseitigt, dem mögen Šamaš und Ištar und Nergal, der Anwalt des Königs, und die Gesamtheit der genannten Götter seine Wurzeln herausreißen und seinen Samen aufpicken. (Übersetzung nach I. Gelb/ B. Kienast 1990, Naramsin 1, S. 81) Zum König legitimiert war Naramsin bereits, die Vergöttlichung hatte er sich verdient, so der Text. Sie war die ihm zustehenden Belohnung für die außerordentlichen Erfolge, die er als König bei der Bewahrung des Guten Lebens für Akkad vorzuweisen hatte. Nicht die Götter hatten ihn eingeladen, in ihren Kreis zu treten, und nicht die Götter hatten als erste „erkannt“, wie außerordentlich er sein Amt geführt hatte. Der Anstoß, König Naramsin zu belohnen und den Menschen Naramsin zum Gott zu machen, kam (de facto wohl von Naramsin selber, dem Text zufolge aber …) aus den Reihen der Bevölkerung - auch dies ein Vorgang, der historisch noch keine Vorläufer kennt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 9 137 D A S A K K A D I S C H E H E R R S C H A F T S S Y S T E M 9.4 „Clash of Civilizations“ im akkadischen Großreich 9.4.1 wer und was ist ‚fremd‘? Das akkadische Herrschaftssystem Naramsin hatte das Großreich Sargons zu einem der einflussreichsten politischen Gebilde im Vorderen Orient ausgebaut. Vom Zentrum Akkad aus regierten die Akkader ein kulturell äußerst heterogenes Reich, in dem, anders als in den Stadtstaaten und auch anders als im Territorialreich von Kiš, die verschiedensten Traditionen, Religionen, Sprachen und Wertgefüge aufeinander trafen. Die akkadische Politik setzte in der Organisation des akkadischen Weltreichs nicht auf Integration, sondern auf die strikte Unterordnung der besiegten Gebiete unter das Zentrum. Auf die gewaltsame Machtübernahme des Sargon in Kiš folgten die ersten Feldzüge gegen die „sumerischen“ Städte des Südens und deren Unterwerfung, begleitet vom territorialen Ausbau des Reiches nach Südosten, in die Region Elam, nach Norden und Nordwesten bis nach Syrien und der Gründung der neuen Hauptstadt und Herrschaftsresidenz Akkad (s. Abb. 8.1 und 8.2). Der Machtzugang der Akkader war also bereits konfliktgeladen. Sie usurpierten die Macht, setzten die kulturellen und politischen Ordnungen in den von ihnen unterworfenen und politisch dominierten Gebieten weitgehend außer Kraft und traten mit einer Herrschaftskonzeption an, die auch zukünftig den kulturellen und politischen Ordnungen der Nachbarn entgegenstand und diese letztlich zerstörte. Mit ihrer imperialen Politik waren die Akkader in vielfältiger Weise selbst die Verursacher von Krisen und Konflikten. Mit ihrer gewaltsamen Expansion über Babylonien hinaus etablierten sie gezielt das akkadische, zentralistisch organisierte Herrschaftssystem in den politisch und kulturell anders strukturierten Gebieten. Nicht der Erhalt des polyzentrischen Nebeneinanders autonomer Einheiten, sondern die Unterordnung der überfallenen Gebiete unter die Dominanz der Akkader bestimmte die politischen Handlungen der Akkader. Der Widerstand der Betroffenen gegen den Bruch ihrer Traditionen, gegen den damit verbundenen massiven Prestige- und Machtverlust der Eliten und nicht zuletzt auch gegen die gravierenden ökonomischen Belastungen der Fremdherrschaft begleitete die gesamte Herrschaft aller akkadischen Machthaber. Mit den so unterworfenen Regionen verband die Akkader kaum kulturelle Gemeinsamkeit. Zu den traditionell etablierten Eliten von Kiš, der Stadt ihrer ersten gewaltsamen Machtübernahme, hatte ja schon Sargon offenkundig nicht gehört. Wo die Akkader die Herrschaft übernahmen, waren sie die Fremden oder zumindest die, die nicht dazugehörten. Das Fremde und die Fremden Fremd ist für Individuen wie für Gruppen gleichermaßen zunächst das, was abweicht von der eigenen Kultur: von der sozialen und politischen Ordnung, den eigenen Traditionen, Sitten und Gebräuchen, der Religion und Sprache, dem eigenen Selbstverständnis und der eigenen Identität. „Fremdheit“ geht einher mit Absonderung und Ausschluss (Waldenfels 1997: 41) und mani- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 138 N I C H T G OT T E S S O H N - S TA DT G OT T W O L LT E N A R A M SI N V O N A K K A D S E I N 9.4.2 das Eigene und das Fremde festiert sich insbesondere in den Bereichen Religion und Kunst. Trotzdem ist Fremdsein nicht primär „eine Eigenschaft von Dingen und Personen“, sondern vielmehr ein Beziehungsverhältnis (Schäffter 1991: 12). Selbst mehrere Generationen nach der Ansiedlung können eingewanderte Gruppierungen innerhalb der Bevölkerung noch als Fremde im politischen, aber auch im kulturellen Sinn gelten. Dies ist vor allem der Fall, wenn die kulturellen Regeln eine Integration der „Fremden“ nicht oder nur bis zu einem gewissen Grad erlauben bzw. wenn „die Fremden“ diese Integration nur bis zu einem gewissen Umfang selbst anstreben. So umspannt die Bestimmung des „Fremden“ den Bogen vom „inneren Fremden“, der im weitesten Sinn aus der gleichen kulturellen und politischen Gemeinschaft wie die „Einheimischen“ kommt, bis zum „äußeren Fremden“, dem „wirklich Fremdartigen“, der sich nie wird assimilieren können (Fortes 1992: 63-64). Und selbst der „akkulturierte“ Fremde, der um die Regeln der Kultur und die korrekten Verhaltensweisen weiß, gilt der eigenen Ordnung als Gefahr dort, wo er dem eigenen Herkunftsland die Treue hält und damit in der Fremde die eigenen kulturellen Traditionen und religiösen Werte zu bewahren sucht (Kristeva 1990: 110). Die Akkader - Fremde im „eigenen“ Land? Die Einordnung der Akkader oder präziser der Dynastie des Sargon und seiner Nachfolger, als die „Fremden“ setzt die Klärung ihrer geographischen und sozialen Herkunft voraus, ihrer Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zur Regierungs-Elite in Kiš, und sucht nach ihrer kulturellen Zugehörigkeit. Zur alteingesessenen Regierungselite hatte Sargon (und seine Nachfolger) nicht gehört, als regulärer Thronfolger des Urzaba in Kiš war der Rebell und Dynastiegründer nicht vorgesehen. Den Zugang zur politischen Macht hatte er nur über den Putsch erlangen können. Die Frage nach der kulturellen Zugehörigkeit der Akkader ist weiter aufzufächern in die Frage nach der Zuordnung der Akkader bzw. der Dynastie des Sargon zur Kultur der Gesellschaften in Kiš, der Zuordnung der Akkader zur sumerischen Kultur des Südens und ihr Verhältnis zu den Kulturen der eroberten Peripherie. Hinweise auf spezifische kulturelle Merkmale der Gesellschaften in den genannten Regionen lassen sich über die materiellen Hinterlassenschaften u. a. anhand der Bildwerke und der darin transportierten Wahrnehmungen der Lebenswelten und Lebensvorstellungen sowie über stilistische Merkmale der Bilder entnehmen. Die schriftlichen Zeugnisse enthalten Hinweise auf die Religion, auf Normen und Werte und auf das Selbstverständnis der Eliten. Inwieweit die Akkader kulturell zu den in Kiš und Umgebung lebenden Gesellschaften gehörten, ist mangels detaillierter Belege kaum zu beantworten. Zu den Gesellschaften der eroberten Peripherien und des sumerischen Südens gehörten die Akkader jedenfalls kulturell nicht, und das akkadische Wirken, hier die Expansion in diese Regionen und die Übernahme der politi- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 9 139 D A S A K K A D I S C H E H E R R S C H A F T S S Y S T E M schen Macht, wurden dort als das Agieren von Fremden im Sinn der „Nicht- Einheimischen“ betrachtet. Von der Kultur des sumerischen Südens setzen sich die Akkader vor allem durch drei Phänomene ab: die Sprache, die Religion und die ihnen eigene Bildsprache, die mit der des Südens insbesondere zur Zeit des Naramsin keine Gemeinsamkeiten im Stil und nur wenige Parallelen in den Sichtweisen der Lebenswelten aufwiesen. Das Sumerische ist eine Sprache, die bisher keiner bekannten Sprachfamilie zuzuordnen ist. Sie ist über Schriftzeugnisse aus dem Südirak seit dem 4. Jt. v. Chr. belegt. Das Akkadische dagegen, seit der Mitte des 3. Jt. v. Chr. nachgewiesen, gehört zur Familie der semitischen Sprachen. Die Zuständigkeitsbereiche der Gottheiten erfuhren mit dem politischen Wandel zur Akkadzeit einen gravierenden Funktionswandel. Während der Gott Dagan aus Tuttul im heutigen Syrien für die Könige der frühdynastischen Zeit Südmesopotamiens keine Bedeutung besaß, da diese Region nicht zum politischen Interessengebiet der Herrschenden gehörte, war er für die Akkader, die das erste Weltreich schufen, von maßgeblicher Bedeutung. Die enge Verknüpfung von Politik und Religion wird gerade durch den politischen Wandel vom Stadtstaatensystem zum Weltreich deutlich. Die Bilderwelt des südmesopotamischen Raumes und die Bilderwelt der Akkader unterscheiden sich ebenfalls - und dies vor allem in Stil, Bildgliederung und Struktur, in der Selbstdarstellung der Könige und in ihrem so lancierten Selbstbild, wie die Gegenüberstellung eines Ausschnittes aus der Geierstele und der Naramsin-Stele zeigen (siehe dazu Kap. 9.8). In den Peripherien vom Mittelmeer bis zum Persischen Golf hatten die lokalen und regionalen Entwicklungen zu kulturellen Traditionen geführt, denen die Akkader schon aufgrund der unterschiedlichen historischen Entwicklung und der geographischen Distanz nicht zugehörten. So können also die Akkader in zweierlei Hinsicht unter dem Aspekt der „Fremden“ betrachtet werden: zum einen aufgrund der Nichtzugehörigkeit der neuen akkadischen Herrscher zu den traditionellen Eliten, was sie zu einer Art von „inneren Fremden“ stempelt; zum anderen erscheinen sie in Folge ihrer expansiven Territorialpolitik in den eroberten Gebieten als Fremdherrscher. Dass in beiden Verhältnissen die Akkader nicht als Teil einer gewachsenen autochthonen Tradition verankert waren, prädestinierte sie für einen relativ ungebundenen freien Umgang mit den symbolischen Ordnungen und religiösen Systemen. Kultur und Politik © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 140 N I C H T G OT T E S S O H N - S TA DT G OT T W O L LT E N A R A M SI N V O N A K K A D S E I N 9.5 Raumordnung als Symbol politischen Handelns 9.5.1 Raumordnung und Konflikt Der Weg zur Vergöttlichung des Naramsin - noch einmal im Detail betrachtet 1 Als Ausdruck seiner Macht setzte bereits Sargon von Akkad zu Beginn seiner Herrschaft dauerhaft sichtbare Zeichen, die bis in die Regierungszeiten der nachfolgenden Könige die markanten Symbole der akkadischen Vorherrschaft bildeten. Maßgeblich unter den symbolischen Handlungen war das Verlassen der Stadt Kiš, des traditionellen Regierungssitzes der Region, und die Gründung der neuen Hauptstadt Akkad, Symbol für eine neue Raumstruktur wie für die neue politische Ordnung (Kogge 2002: 190). Als Fremde und Fremdherrscher gehörten die Akkader potentiell nicht in den Raum, in dem sie sich aufhielten (s. a. Simmel 1992: 9-11). Im physischen wie im übertragenen Sinn waren sie dort auch nicht „Bodenbesitzer“, sondern forderten das Territorium mit ihrer usurpatorischen und expansiven Politik gewaltsam. Mit nicht minder gewaltsamen Angriffen auf diese Stadt Akkad als dem Symbol der Macht und als Sitz der Herrschaft hatten die Fremden zu rechnen. Dass der Besitz nur gegen den erbitterten Widerstand der besetzten Gebiete zu halten war, zeigen die Inschriften der Akkader (s. o. die Inschrift des Naramsin). Der Umstand, dass der Bodenbesitz in der Fremde nur gewaltsam zu halten war, dokumentiert, dass die Enteigneten die Rechtmäßigkeit des akkadischen „Bodenbesitzes“ in den besiegten Territorien zu keiner Zeit als legitim anerkannten. Das entscheidende Konfliktszenarium: Der Angriff der „Mächtigen der vier Weltgegenden“ Über einen Angriff der Mächtigen der „vier Weltgegenden“ auf (die Stadt) Akkad informiert die oben schon ausführlich zitierte Inschrift des Naramsin auf der sog. Bassetki-Statue (Abb. 9.1). Diesem Text zufolge (s. o.) rebellierten die vier Weltgegenden (also die Könige aller besetzten Gebiete) gegen Naramsin, d. h., das Reich Akkad war von einer Koalition der mächtigsten Städte im Akkadreich angegriffen worden. Neun Kriege gegen Akkad fanden in einem einzigen Jahr statt, Akkad und seiner Bevölkerung drohten Untergang und Tod. Naramsin sah diese Bedrohung und musste, auf sich gestellt und ohne Koalitionspartner, den Herrschern aus den „vier Weltgegenden“ alleine gegenübertreten. Alle neun Schlachten bestand er siegreich, maßgeblich unterstützt von der kriegerischen Göttin Ištar. Alle rebellierenden Könige wurden gefangen genommen. Naramsin, so der Text, war also der Retter in der Not und der Bewahrer der Gemeinschaft der Stadt Akkad vor Niedergang und Tod. Und weil er in dieser einzigartigen Bedrohungssituation Akkad vor dem Verderben gerettet hatte, erbaten die BewohnerInnen der Stadt Akkad von allen großen Göttern der bekannten Welt die Ernennung ihres Königs 1 Dem Fink-Verlag danke ich für die Erlaubnis, Text aus Heinz 2008 hier in modifizierter Form abdrucken zu dürfen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 9 141 D E R W E G Z U R V E R GÖT T L I C H U N G D E S N A R A M SI N zum Gott ihrer Stadt (I. Gelb/ B. Kienast 1990: 81-83). Bei diesen großen Göttern, die für die Vergöttlichung maßgeblich wurden, handelte es sich dem Text zufolge um: Ištar von Uruk Enlil von Nippur, oberster Gott des sumerischen Pantheons und jener Gott, der das Königtum verlieh Dagan von Tuttul (in Syrien), dem Enlil in Macht und Bedeutung gleichgestellt im Raum Syrien Ninh ∞ ursag von Kiš, Gemahlin des Enlil und mit diesem zu den mächtigsten Gottheiten des sumerischen Pantheons gehörend (Selz 1995: 294) Enki von Eridu, neben Uruk und Nippur eines der drei großen sumerischen Kultzentren (Selz 1995: 294), zudem Gott des Süßwassers und derjenige, der die Weisheit vergab Sin, Mondgott und Gott des Nachtlichtes aus Ur Šamaš, Gott der Gerechtigkeit und des Tageslichtes aus Sippar Nergal aus Kutha, von Naramsin „Anwalt (auch „Wächter“) des Königs“ genannt. Ansichtssache 1: Worüber der Text berichtet und welche Konnotationen er erzielen soll Dem Text zufolge führten die Akkader Krieg nur als Reaktion auf die Regelverstöße der „Anderen“. Die Könige der vier Weltgegenden hatten gegen die Akkader rebelliert, Koalitionen gegen Naramsin gebildet und gegen ihn mobilgemacht. Die Lage war extrem bedrohlich (ob Propaganda oder „historisch“ wahr, entzieht sich unserer Kenntnis): es ging um nicht weniger als um die drohende Auslöschung des politischen Gebildes Akkad. Die erfolgreiche Vernichtung der Stadt und des Machtzentrums Akkad durch die feindliche Koalition wäre der symbolischen wie faktischen Zerstörung der Macht und Herrschaft der Akkader gleichgekommen. Über politisch wirksame - realweltliche - Koalitionspartner verfügten die Akkader als „Fremde in der Heimat“ und vor dem Hintergrund ihrer aggressiv-expansionistischen Politik offenkundig nicht, das heißt, Hilfe von Nachbarn war nicht zu erwarten. Dass sie dennoch siegten, verdanken die Akkader dem akkadischen Heer, das den „Anderen“ erfolgreich entgegen getreten war, ihrem König Naramsin, der das Heer angeführt hatte, und last but not least der Hilfe der kriegerischen Göttin Ištar. Abb. 9 . 1 Die sog. Bassetki- Statue, so benannt nach dem Fundort Bassetki im Nordirak, wo sie bei Straßenbauarbeiten gefunden wurde 9.5.1.1 Angriff auf die Raumordnung als symbolisches politisches Handeln © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 142 N I C H T G OT T E S S O H N - S TA DT G OT T W O L LT E N A R A M SI N V O N A K K A D S E I N 9.5.1.2 aus der Niederlage eine Sieg machen? Wo weibliche Gottheiten maßgeblich und aktiv in kriegerisches Handeln involviert waren, ist auch die gesellschaftliche Auswirkung dieses Vorbildes zu bedenken. Eine Identifikation und eventuell eine aktive Beteiligung der Frauen im Krieg hätte für die akkadische Herrschaft eine nicht unwesentliche Stärkung der loyalen Kreise in der Bevölkerung bedeutet, gerade dort, wo die Akkader als die Fremden in der Fremde mit keiner weiteren weltlichen Unterstützung rechnen konnten. Die Selbstdarstellung der Elite und die Charakterisierung der männlichen wie der weiblichen Gottheiten als KriegerInnen lieferte der gesamten akkadischen Bevölkerung ein breites Identifikationsangebot. Krieg wurde zu einer gleichsam „natürlichen“ Angelegenheit, an der alle teilnahmen, die Gottheiten, die Eliten, die männliche und auch die weibliche Bevölkerung. Eine Untersuchung zu entsprechenden möglichen Zusammenhängen steht zur Zeit noch aus und wäre lohnenswert. Eine einzigartige Bedrohung bedurfte eines einzigartigen Königs. Je größer die Gefahr, in der der König sich bewährte, umso größer war sein Ansehen. Und mehr noch: wie geschildert, bildeten in Akkad der König und das Heer gerade in Zeiten größter Gefahr eine unauflösbare Solidargemeinschaft und auf die akkadischen Gottheiten, in vorliegendem Fall auf Ištar, war gerade in der größten Not Verlass. Ansichtssache 2: Welche Konnotation zudem möglich waren und was der Text verschweigt Dass sich Naramsin als Re-Agierender, als Bedrohter und Angegriffener darstellen ließ, der sich und die akkadische Bevölkerung gegen die feindlichen Handlungen der „Anderen“ verteidigen musste, kann, anders als im Text, auch als Zeichen der Schwäche gelesen werden: nämlich wenn die Frage gestellt wird, wie es bei einem Weltenherrscher wie Naramsin überhaupt so weit hatte kommen können, dass sich die Unterworfenen in „allen vier Weltgegenden“ zu einer solch machtvollen und bedrohlichen Koalition zusammengeschlossen hatten. Wo war die politische Kontrolle der Akkader, wussten sie noch, was im Reich vor sich ging? Glitt Naramsin die Macht aus den Händen? Der Aspekt der Schwäche wurde selbstverständlich in der Siegesinschrift des regierenden Königs nicht thematisiert. Für den Versuch, die Gründe für die Vergöttlichung zu verstehen, sollte dieser Aspekt dennoch im Gedächtnis behalten werden. Nicht genannt werden die wahrscheinlichen Ursachen für die Angriffe der „Anderen“ auf Akkad: die territoriale Aggression der Akkader, die Unterwerfung der Länder vom Oberen bis zum Unteren Meer unter die akkadische Vorherrschaft, die ökonomische Ausnutzung der unterworfenen Länder und die Missachtung der dort geltenden Traditionen und Werte durch die Akkader. Der Text stellt die außenpolitische Lage Akkads als Kern der Bedrohung dar. Er blendet zugleich eine weitere, potentiell brisante Begleiterscheinung außenpolitischer Krisen gänzlich aus. Wie sich im Umma-Lagaš-Konflikt © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 9 143 G RÜN D E U N D K O NSE Q U E N Z E N D E R V E R GÖT T L I C H U N G 9.6 Macht der Religion auf politischem Feld gezeigt hatte, vermochten außenpolitische Bedrohungen den Zusammenhalt von Gemeinschaften zu sprengen, die dem Druck nicht mehr gewachsen waren: Die Bewohnerinnen und Bewohner von Umma, so die Propaganda von Lagaš, hätten aufgrund der Bedrohung, die die schlechte Regentschaft des Königs von Umma für die Stadtgemeinschaft darstellte, diesen mitten in Umma erschlagen. Krieg und Gewalt führten auch in der akkadischen Bevölkerung zu hohen Belastungen, die Gefahr einer entsprechenden Rebellion aus den eigenen Reihen war den akkadischen Herrschern gut bekannt. Die Möglichkeit einer innenpolitischen Destabilisierung konnte Naramsin in seinem Siegestext kaum artikulieren und auch die Notwendigkeit, sich gegenüber der eigenen Klientel in eine unangreifbare Machtposition zu bringen, konnte keine explizite Erwähnung finden. Gründe und Konsequenzen der Vergöttlichung Vor dem Hintergrund einer latenten innenpolitischen Bedrohung der Machtposition des Naramsin und der virulenten außenpolitischen Bedrohung des Reiches von Akkad, in einer historischen Situation, in der keine politischen Koalitionspartner für die Akkader zur Verfügung standen, und in einem kulturellen Kontext, in dem die Akkader mit jeder weiteren Expansion und mit wachsender Macht zunehmend zu Fremden in der Fremde wurden, nutzte Naramsin mit einem ebenso gewagten wie meisterhaften Schachzug die suggestive Kraft der Verknüpfung von Religion und politischer Propaganda: er proklamierte seine Vergöttlichung. Erstmals in der Geschichte der altorientalischen Herrscher erwirkte damit ein noch lebender Herrscher seine Vergöttlichung. Und erstmals in der Akkadzeit stellte die Vergöttlichung die ultima ratio des politischen Handelns dar. Der Text berichtet lapidar: Weil Naramsin in dieser Notlage die Machtbasis seiner Stadt Akkad gefestigt hatte, hätten die Bürger seiner Stadt bei den genannten Göttern um dessen Vergöttlichung gebeten. Das der Vorderasiatischen Altertumskunde zur Verfügung stehende historische Wissen über die Politik der Könige im Alten Orient und die Machtbefugnisse der Herrschenden macht es jedoch mehr als wahrscheinlich, dass Naramsin und seine Berater selbst die Drahtzieher hinter dieser Beförderung waren. Debatte eröffnet: Interessant bleibt natürlich die Frage, warum diese Konstruktion nötig oder wünschenswert war, warum - erstmals in der Geschichte - der König seine Belange und Wünsche nicht selbst deklarierte, sondern sie der „Bevölkerung/ den Bürgern“ zuschrieb. Wichtig auch die Frage, ob die Philologie statt der Übersetzung der Passage mit „Bevölkerung“ eine andere Übersetzung für diesen politisch-ideologisch wichtigen Sachverhalt hätte wählen können bzw. wie das Spektrum der Konnotationen des gewählten Begriffes aussieht? © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 144 N I C H T G OT T E S S O H N - S TA DT G OT T W O L LT E N A R A M SI N V O N A K K A D S E I N 9.6.1 9.6.2 Naramsin auf Augenhöhe aller großen Gottheiten Die Formulierung dieses für Naramsin und die Akkader nicht ganz unwichtigen Ereignisses erfolgt im Text (s. o.) eher beiläufig. Ob es zu einer öffentlichen Verlautbarung dieses Sachverhaltes gekommen war und wie der Rahmen einer solchen Proklamation ausgesehen haben könnte, wird nicht thematisiert und entzieht sich somit gänzlich unserer Kenntnis. Innenpolitische Auswirkungen der Vergöttlichung Im Angesicht der realen Bedrohung von außen und der in Krisenzeiten stets virulenten Bedrohung von innen musste es Naramsin gelingen, seine Machtposition auch nach innen so unangreifbar wie möglich zu machen. Die Vergöttlichung stellte das ideale Mittel der politischen Macht dar, die eigene Stellung nicht nur im Einvernehmen, sondern auf ausdrücklichen Wunsch der Bevölkerung unangreifbar zu machen. Als Konsequenz der Vergöttlichung war das politische Agieren des Herrschers nicht mehr hinterfragbar. Der König, der jetzt Gott war, war unangreifbar wie die anderen Gottheiten, so dass die Gefahr der Rebellion aus den eigenen Reihen, wenn nicht völlig gebannt, so doch mehr als unwahrscheinlich gemacht wurde. Die BewohnerInnen von Akkad, so die ideologische Konnotation der Botschaft, demonstrierten mit ihrer Bitte um Vergöttlichung des Naramsin ihre tiefe Dankbarkeit und weitreichende Loyalität. Man könnte aus dem Text aber auch folgendem Schluss ziehen: Mit der Vergöttlichung des Naramsin war eine Loslösung der akkadischen Stadtbevölkerung von ihrem König - und jetzt Stadtgott - nicht mehr möglich. Die Ideologie der Macht war zur strukturellen und kulturellen Gewalt geworden, die sich in der sozialen und politischen Kontrolle der eigenen Klientel manifestierte. Gegen den eigenen König war eine Rebellion machbar, gegen den eigenen Gott nicht einmal denkbar. Außenpolitische Auswirkungen Die Vergöttlichung stellte ferner die Antwort des Königs auf die außenpolitische Bedrohung dar und war die wirkungsmächtigste Maßnahme zur Vermeidung einer Wiederholung dieser kritischen Lage. Vergöttlichung impliziert göttliche Verfügungsgewalt. Der Akt der Vergöttlichung, propagiert als Zeichen der Stärke, ist aber ebenso lesbar als Zeichen der Schwäche. Vor dem Hintergrund der historischen Situation und der politischen Konstellation, wie sie die Akkader selbst schilderten, stellte sich die akkadische Herrschaft und Gesellschaft als in ihrem Bestand und Überleben gefährdet dar. Dem weltlichen König standen keine realweltlichen Koalitionspartner zur Seite. Zur Sicherung der Zukunft Akkads mussten andere Sicherungsmaßnahmen als die der weltlichen Koalitionsbildung entwickelt werden. Die Vergöttlichung war eine solche Maßnahme. Der Gott Naramsin würde in Zukunft einer weltlichen Koalition von Mitstreitern nicht mehr bedürfen. Über die Geschicke © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 9 145 G RÜN D E U N D K O NSE Q U E N Z E N D E R V E R GÖT T L I C H U N G Vergöttlichung und Etablierung der ‚Weltherrschaft‘ der Welt und die Zukunft Akkads entschied ab dem Zeitpunkt der Vergöttlichung nicht mehr der König, sondern eben der Gott Naramsin gemeinsam mit den für die Welt zuständigen Gottheiten, d. h. im Verbund mit den Göttern, die der Vergöttlichung zugestimmt hatten. Vergöttlichung bedeutete für Naramsin, in den von ihm eroberten Gebieten als Partner und auf Augenhöhe mit den dort zuständigen Gottheiten zu kommunizieren. In dem Maße also, in dem die Vergöttlichung Naramsin außenpolitisch und als Weltenherrscher im Weltreich Akkad unangreifbar machte, entmachtete sie zugleich die Könige und Mächtigen in den besetzten Gebieten,. Schon die Auswahl der Gottheiten, die man um Zustimmung zur Vergöttlichung gebeten hatte, stellte einen massiven Angriff auf die Macht der gegnerischen Herrscher und auf die Integrität der schon militärisch besiegten Gemeinwesen dar. Der Vergöttlichung Naramsins hatten vor allem die Gottheiten zugestimmt, in deren Zuständigkeitsbereichen Naramsin zuvor die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ordnungen durch sein territoriales Ausgreifen massiv angegriffen, gestört und in einigen Regionen sogar zerstört hatte. Mit der Einfügung in die Reihe dieser Götter zwang Naramsin die „Anderen“ moralisch-ideologisch in die Defensive. Die Tatsache, dass die Gottheiten dem Wunsch der Akkader entsprochen und Naramsin vergöttlicht hatten, kam einer doppelten Niederlage der besiegten Eliten gleich. Die Elite war nicht nur militärisch geschlagen, sondern auch von den eigenen Gottheiten verraten, die den Sieg der (kulturfremden) Akkader und die neue politische und religiöse Ordnung mit der Vergöttlichung des Naramsin legitimiert hatten. Die höchsten Gottheiten des sumerischen Pantheons und damit zugleich die Gottheiten, die den wichtigsten altsumerischen Kultzentren Uruk, Nippur und Eridu vorstanden, hatten der Aufnahme des Naramsin als Gott in ihre Kreise zugestimmt. Wo sich die Akkader auf die Legitimation ihres Handelns durch den Gott Enlil berufen konnten, neben dem Gott An die maßgebliche Gottheit für die Bestimmung des Geschickes der Menschen und für das Gelingen jedweder Herrschaft (Roberts 1972: 148), war auch die Hegemonie der Akkader über Sumer unwiderruflich legitimiert. Mit der Zustimmung der Göttin Ninkhursag, die als Gemahlin des Enlil von Nippur zum einen zu den höchsten Gottheiten des übergeordneten Pantheons der sumerischen Stadtstaaten gehörte, zum anderen aber in Kiš beheimatet war (der Stadt, in der Naramsins Großvater Sargon seine Macht erstmals in Herrschaft transformiert und mit dem Aufbau des akkadischen Großreiches begonnen hatte), war nun auch die Herrschaftsübernahme der Akkader von höchster Instanz in Kiš akzeptiert worden. Mit dem Einverständnis des Gottes Dagan hatte Naramsin die Zustimmung der höchsten Gottheit der syrischen Götterwelt erhalten. Dagan war zugleich der einzige Gott, der Naramsin das legale Recht der Herrschaft über das „Obere Land“ - in Analogie zum „Oberen Meer“ die Levante, die Anrainerregion östlich des Mittelmeers - hatte einräumen können. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 146 N I C H T G OT T E S S O H N - S TA DT G OT T W O L LT E N A R A M SI N V O N A K K A D S E I N 9.7 religiöse Legitimierung der menschengemachten Gesellschaftsordnung Religion und Politik Wo sich die Akkader gewaltsam des Fremdlandes bemächtigt hatten, mussten sie zur dauerhaften Festigung ihrer Macht das gewaltsam Erreichte bei den Betroffenen als rechtmäßig und mit der kulturellen Ordnung in Einklang stehend verankern und die ausgeübte Gewalt so als legitimen Teil politischer Handlung darstellen. Die Legitimation der akkadischen Macht und Herrschaft in der Fremde erforderte von den Akkadern also dort spezifische Maßnahmen, wo es um „Sinngebung“ und um die Harmonisierung der Ziele akkadischer Politik mit den Anliegen der betroffenen Bevölkerungen ging. Mit den synkretistischen Maßnahmen und der Erhebung des Fremdherrschers und Königs Naramsin in die Reihen der zuständigen Gottheiten hatten die Akkader ein wirkungsmächtiges Mittel gewählt. Synkretismus - die Verknüpfung diverser existierender religiöser Ideen und Vorstellungen zu einem neuen System. Sie griffen die religiösen und politischen Grundwerte und darüber die Basis des sozialen Zusammenhalts aller betroffenen Gemeinschaften an. Zugleich trafen sie die unterworfenen Eliten auf einem ihrer machtpolitisch wichtigsten Felder: der Religion, die ihre Macht (auch) vor dem eigenen Volk legitimierte. Sie beraubten die besiegten Eliten und Bevölkerungen zusätzlich zur militärischen Niederlage ihres göttlichen Schutzes und des Zuspruches ihrer eigenen Gottheiten und verwandelten Opfer zu Tätern - eine Umkehr der Tatsachen, die Naramsin überzeugend gelang, indem er die Handlungen der besiegten Eliten unausgesprochen als gegen die jeweils eigenen Götter und also gegen die eigene Kultur und Gesellschaft gerichtet deklarierte (s. o.): warum sonst hätten die Gottheiten nicht nur den Sieg der Akkader gegen die übermächtige Koalition zugelassen, sondern darüber hinaus der Vergöttlichung des Naramsin zugestimmt und damit ihre Schutzbefohlenen dem Feind überlassen? Mit diesem ideologischen Kunstgriff avancierten Krieg und Gewalt zu notwendigen Maßnahmen zur Re-Etablierung der Ordnung in den unterlegenen Gebieten. Die Legitimität ihres politischen Handelns stand für die Akkader außer Frage, denn durch die aktive Unterstützung der Gottheiten der unterlegenen Gesellschaften konnten die Handlungen der Sieger und die neue Ordnung in den Gesellschaften der Besiegten als im Einklang mit dem Willen der Götter stehend verstanden werden. Dem akkadischen Anspruch, Wahrer der traditionellen Ordnung zu sein, wohnte zugleich ein enormes Potential zur Spaltung der betroffenen Gesellschaft inne. Die akkadische Propaganda und die synkretistische Strategie transferierte den Konflikt zwischen Akkadern und Besiegten in einen gesellschaftsinternen Konflikt innerhalb der Gemeinschaften und brach die Loyalitäten der Bevölkerung zu ihren Eliten auf. Die Ideologie der Akkader ging aber über das Säen von Zweifel hinaus. Indem sie © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 9 147 R E L I G I O N U N D P O L I T I K Naramsin - ein geschickter Ideologe sich den unterdrückten Bevölkerungen über die Harmonie mit den Göttern als die Bewahrer ihrer Traditionen und Werte vorführten, signalisierten sie zugleich, sich auf religiösem Gebiet in die lokalen Normen und Vorstellungswelten integriert zu haben. Mit seiner Vergöttlichung hatte Naramsin Platz genommen im Kreis der Götter, die für die Geschicke der Welt zwischen Mittelmeer und Persischem Golf zuständig waren. So wurde das Fremdsein der Akkader kaschiert und ihre politische Herrschaft im kulturellen System der unterworfenen Gesellschaften verankert - zugleich eine meisterhafte Anwendung der perfiden Regel, nach der durch Umkehr der Schuldverhältnisse die Opfer zu Verursachern des Leids und die Unterdrücker zu Rettern werden. Indem die „Fremden“ die Götter der Besiegten auf die Siegerseite zogen und den Fremdherrscher von den Göttern als einen der ihren anerkennen ließen, waren die Verlierer „von allen guten Göttern verlassen“. Der synkretistische Kunstgriff des Naramsin greift zugleich ideologisch der Politik vor, die in späteren Jahrhunderten zur Schwächung oder Vernichtung der unterlegenen Gegner in anderer Form betrieben wurde: dem Raub von Götterstatuen, der ebenfalls den Raub des göttlichen Schutzes und das Preisgeben der besiegten Gemeinschaft, ihre Unterwerfung unter den Willen der Sieger symbolisierte - ein Übergriff auf die fundamentalen Stützen des kulturellideologischen Ordnungsgefüges. Die „synkretistische Strategie“ des Naramsin kann gleichsam als Leitfaden der ideologischen Unterwanderung der Besiegten gesehen werden, die der kriegerischen Gewalt der Akkader folgt bzw. diese begleitet, als Form der strukturellen und kulturellen Gewalt, der Oktroyierung von Lebensregeln, die sich gegen die Besiegten wenden, diesen aber als gottgewollt und daher „legitim“ aufgezwungen werden. Mit dem Durchbrechen der Ordnungssysteme der Besiegten hatte Naramsin eine scharfe ideologische Waffe gewählt. Der gezielte Zugriff des Naramsin auf grundlegende, identitätsstiftende kulturell-religiöse Parameter der „Anderen“ bei gleichzeitigem Einsetzen der eigenen kulturell-religiösen Werte wurde so zu einem wichtigen Instrument der ideologischen Beeinflussung der „anderen“ Bevölkerungen, mit dem die Akkader Konflikte regeln und zugleich ihre Macht festigen und legitimieren wollten. Das vorrangigste Ziel der akkadischen Politik war ein Systemwandel, denn auf der Auflösung der alten Strukturen fußte ihre neue Ordnung: Zentralisierung der Herrschaft und Konzentration der Macht in den akkadischen Reihen; politische Dominanz über die unterworfenen Regionen und ökonomische Nutzung der besetzten Gebiete. Das Aufeinandertreffen verschieden strukturierter Herrschaftssysteme, die militärisch in einem asymmetrischen Kräfteverhältnis zueinander standen und kulturell wie religiös verschiedenen Traditionen folgten, bot hinreichend Konfliktstoff. Die Akkader als die „Nicht-Bodenbesitzer“ griffen schon mit ihrer ersten politischen Aktion, der gewaltsamen Machtergreifung in Kiš, in die traditionelle Ordnung ein. Es folgte der nächste Übergriff mit der Gründung der Stadt Akkad auf okkupiertem Boden. Im Aufeinandertreffen der © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 148 N I C H T G OT T E S S O H N - S TA DT G OT T W O L LT E N A R A M SI N V O N A K K A D S E I N 9.8 kulturell unterschiedlichen Gesellschaften griffen die Akkader zur optimalen Umsetzung ihrer Eroberungspolitik auf die Religion der „Anderen“ zurück. Um das Neue funktionsfähig zu gestalten, galt es, den Bruch mit dem Alten und die Etablierung der neuen Verhältnisse auch und vor allem in den Reihen der Betroffenen als eine auch von den Göttern akzeptierte Zukunft zu verankern. Im Rückgriff auf die Religion als Legitimationsinstanz des Handelns wie des Strukturwandels standen den Akkadern als den „Fremden“ andere Optionen offen als den Sumerern. Ihre relative Ungebundenheit als „Fremde“ bezüglich fester religiöser Wertordnungen in den besetzten Gebieten nutzten die Akkader strategisch vorteilhaft dort, wo sie über synkretistische Maßnahmen die Götter der Besiegten für die Umsetzung ihrer politischen Ziele in Anspruch nahmen. So erwuchs die kulturelle Differenz zwischen Siegern und Besiegten den Akkadern zum strategischen Vorteil. Der Bruch der Traditionen und die synkretistischen Maßnahmen stellten (paradoxerweise) die geeigneten Mittel dar, um die symbolische Ordnung der Betroffenen wiederherzustellen. Man entkoppelte das Drama des Verlusts der weltlichen Ordnung von der Bedrohung eines unausweichlichen Verlusts auch des geistig-religiösen Überbaus und stilisierte die Traditionsbrecher zu den eigentlichen Wahrern der religiösen und gesellschaftlichen Interessen der Besiegten. Warum sonst hätten sich die Götter auf die Seite der Sieger gestellt? Und warum sonst hätten diese der Vergöttlichung des Naramsin zustimmen sollen? So versuchten die Akkader, die neue Ordnung in eine legitime Ordnung zu überführen und die Herrschaftsbeziehungen zwischen Naramsin und den Besiegten auf der Basis inhaltlicher Akzeptanz dauerhaft zu stabilisieren. Kulturelle Differenz prägte die Beziehungen der Akkader zu ihrem Umland. Diesen potentiellen Schwachpunkt verwandelte Naramsin durch seine strategisch klugen Schachzüge ideologisch in eine Stärke, die seine Herrschaft nach außen wie innen unangreifbar machen sollte. Die Instrumentalisierung der Religion als einer der stärksten identitätsstiftenden Wirkungsmächte erwies sich in der geschilderten „Bedrohungssituation“ als das probate Mittel, mit dem Naramsin die innenwie außenpolitischen Ziele ideologisch geschickt in den jeweiligen religiös-kulturellen Rahmenbedingungen der eigenen wie der besiegten Gesellschaften zu verankern und zugleich die eigene wie die besiegte Bevölkerung von der Unumstößlichkeit der neuen Ordnung zu überzeugen suchte. Ausblick: die Vergöttlichung im Bild Das Selbstbild des Naramsin als Gott unter Göttern und als großer und siegreicher Feldherr unter den Königen war nicht nur schriftlich formuliert, sondern auch bildlich festgehalten worden. Zum Abschluss der Betrachtung also noch ein Ausblick auf die Bilderwelt des Naramsin, die ebenfalls den Funktions- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 9 149 A USB L I C K : D I E V E R GÖT T L I C H U N G IM B I L D wandel vom König zum Gott verkündete und zusammen mit den Texten die Erhöhung eines Königs zum Gott auf Dauer im kollektiven Gedächtnis verankert hat. Die sog. Naramsin-Stele (Abb. 9.2) hatte Naramsin wohl zu Lebzeiten anfertigen lassen. Optisch und inhaltlich hob ihn die formale Gestaltung des Bildes aus allen bis dato bekannten Herrscherdarstellungen heraus. Geschickt war die Wiedergabe des Naturraums, die Darstellung des hoch aufragenden Gebirges genutzt worden, um Naramsin exponiert auf der Bildfläche zu positionieren. Form und Stil übermitteln die Bildbotschaft ohne Worte und geben zugleich die Leserichtung vor. Die Stele ist in ihrer stilistischen Ausführung singulär. Horizontal angeordnete Standlinien, typisch für die Bilder der vorangehenden frühdynastischen Zeit, finden sich hier nicht. Vielmehr wird die Dynamik des kriegerischen Geschehens nicht nur inhaltlich durch die Darstellung selbst, sondern auch stilistisch durch den „dynamischen“ Bildaufbau wiedergegeben. Die Naramsin- Stele bricht mit der Bildtradition der Vorgängerzeit und setzt thematisch und stilistisch einen ganz eigenen Akzent. Dies zeigt sich insbesondere im Vergleich mit der Geierstele des Eannatum (s. Abb. 6.2), deren Fragmente erkennen lassen, dass das Gesamtbild in Register aufgeteilt war. Registergliederung und Strukturierung der Bilder durch horizontal verlaufende Standlinien, auf der die Handelnden „stehen“, sind die typischen Merkmale der Bildgliederung zu dieser Zeit in Südmesopotamien und zugleich deren charakteristisches Ordnungsschema. Die auf der Naramsin-Stele schräg nach oben verlaufende Standlinie lässt den Blick fast automatisch auf den oberen Abschluss des Bildes gleiten. Hier findet sich die Darstellung des Naramsin, der schon aufgrund dieser Platzierung und seiner Größe als Hauptfigur des Geschehens erkennbar ist. Über ihm finden sich die Symbole dreier (unbenannter) Gottheiten angeordnet, die Götter und Naramsin sind einander nah! Im wahrsten Sinn des Wortes steht hier Naramsin auf dem Gipfel seiner Macht, hinter ihm zu sehen seine unbesiegte Armee, unter ihm die geschlagene gegnerische Armee der Lullubäer mit ihren toten, verletzten und um Gnade flehenden Soldaten. Die Platzierung und der Größenmaßstab, in dem der König abgebildet wurde, dokumentieren zusammen mit der bildlichen Erzählung, in die er integriert ist, die Macht des Abb. 9 . 2 Stele des Naramsin mit der Darstellung seines Sieges über das Bergvolk der Lullubäer © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 150 N I C H T G OT T E S S O H N - S TA DT G OT T W O L LT E N A R A M SI N V O N A K K A D S E I N 9.9 akkadischen Herrschers ebenso wie die Größe des Erfolges, die Naramsin im Fremdland, als solches durch die Bergwelt angezeigt, errungen hat. Die stilistische, formale und inhaltliche Hervorhebung des Königs Naramsin dürfte für jede Betrachterin und für jeden Betrachter der Stele unübersehbar gewesen sein. Große Herrscher und siegreiche Feldherren hatte es aber immer gegeben. Die Einzigartigkeit des Königs Naramsin wurde durch ein andere Symbolik unübersehbar gemacht. Als erster lebender Herrscher wird er auf dieser Stele mit einer Hörnerkrone abgebildet, der Kopfbedeckung, die nur die Götter trugen. Unübersehbar war nun auch visuell belegt, wovon die Texte berichtet hatten: Als erster Mensch und König der Geschichte hatte Naramsin es nicht nur gewagt, sich zum Stadtgott von Akkad berufen zu lassen, sondern hatte sich auch visuell und auf Dauer unübersehbar im kollektiven Gedächtnis der Kulturen als Gott verewigt. Der Text, der sich auf der Stele rechts oben befindet, wurde ca. 1.000 Jahre nach dem Ereignis eingetragen - im Selbststudium können Neugierige herausfinden, was hier passiert war und wie ein Artefakt über tausend Jahre lang erhalten wird, tausend Jahre, in denen die Ereignisse der Akkadzeit offenkundig in der Erinnerung der Gesellschaften und Kulturen des Alten Orients nicht verloren gegangen waren! Die Geschichte der Naramsin-Stele und ihrer Funktionen im Laufe der Zeit bietet eine gute Gelegenheit, sich Gedanken über die Wege und Möglichkeiten der Tradierung von Wissen in vergangenen Gesellschaften zu machen. Weiterführende Literatur Bänder, Dana. 1993. Die Siegesstele des Naramsîn und ihre Stellung in Kunst- und Kulturgeschichte. Idstein. Schulz-Kirchner. Wissenschaftliche Schriften: Reihe 12, Beiträge zur Kunstgeschichte; Bd. 103 Brisch, Nicole (Hg.). 2008. Religion and power: divine kingship in the ancient world and beyond. Chicago. The Oriental Institute of the University of Chicago. Oriental Institute seminars No. 4 Franke, Sabina. 1995. Königsinschriften und Königsideologie: die Könige von Akkade zwischen Tradition und Neuerung. Münster. LIT. Altorientalistik 1 Gelb, Ignace J.; Kienast, Burkhardt. 1990. Die altakkadischen Königsinschriften des dritten Jahrtausends v. Chr. Stuttgart. Steiner. Freiburger altorientalische Studien 7 Heinz, Marlies. 2008. Die Repräsentation der Macht und die Macht der Repräsentation in Zeiten des politischen Umbruchs: Rebellion in Mesopotamien. München; Paderborn. Fink Heinz, Marlies; Feldman, Marian H. (Hg.). 2007. Representations of political power: case histories from times of change and dissolving order in the ancient Near East. Winona Lake, Indiana. Eisenbrauns © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 151 Alles was Recht ist … wird schriftlich festgehalten Inhalt 10.1 Was heißt „Recht“? 152 10.2 Krieg der Städte, Un-Recht und Un-Ordnung: Die Geierstele berichtet 154 10.3 Machtmissbrauch, Rechtsverstöße, Rebellion - die Reformtexte des Urukagina 157 10.4 Keine Geschichten mehr: mit dem Kodex Urnammu (2100-2000 v. Chr.) liegt erstmals eine Gesetzessammlung vor 161 10.5 Der wohl bekannteste Kodex der altorientalischen Geschichte: Der Kodex Hammurabi 165 10.6 Kein wirkliches Fazit, vielmehr eine Aufstellung offener Fragen! 167 10.7 Weiterführende Literatur 168 Einheit 10 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 152 A L L E S W A S R E C H T I S T … W I R D S C H R I F T L I C H F E S T G E H A LT E N 10.1 Verschriftlichung des Rechts - warum? zur Begriffsklärung Was heißt „Recht“? Ist „Recht“, so fragt der Rechtshistoriker Uwe Wesel (1985: 11), eine „zeitlose Konstante menschlichen Lebens“? Und bedeutet die Existenz des aufgeschriebenen „Rechts“, dass sich die Gesellschaften, in denen es schriftlich fixiert und damit zugleich kodifiziert wurde und wird, zunehmend auf dem Weg von „status to contract“ bewegen, wie es der britische Anthropologe, Jurist und Rechtshistoriker Henry Maine sah (zitiert nach Wesel 1985: 12)? Erfolgte also die Verständigung über „Recht und Ordnung“ nicht mehr primär über ungeschriebene Gesetze und traditionelles Einvernehmen über die Richtlinien des gesellschaftlichen Miteinanders, sondern zunehmend über vertragliche Regelungen? Wurde also „Recht“ verschriftlicht und kodifiziert, weil sich die Gesellschaften der Regeln ihres Miteinanders nicht mehr sicher waren und sie in „eindeutiger“ Weise erfasst sehen wollten und mussten? Dann ist zugleich zu fragen, wer die Initiatoren dieser Fixierung waren, d. h., für wen und aufgrund welcher Bedürfnisse die Regeln eindeutig dargelegt werden sollten. Heißt die Verschriftlichung von Recht Auflösung gewohnter Sicherheiten und Wandel sozialer Beziehungen, die sich auch auf die Eindeutigkeit des Status der Gesellschaftsmitglieder im Verbund bezogen? Heißt dies, dass Traditionen und „Selbstverständlichkeiten“ einem solchen Wandel unterlagen, der diese eben nicht mehr selbstverständlich erscheinen ließ, so dass zur Selbstvergewisserung der Betroffenen (wer diese waren, ist für jeden Einzelfall zu überdenken) die schriftliche Fixierung der geltenden (oder von Interessengruppen gewünschten) Regeln und „Rechts“-Vorschriften notwendig wurde? Nach Wesel haben sich kulturwissenschaftliche und juristische Forschung bis heute auf keine einheitliche Definition des Begriffs „Recht“ einigen können. Ein gangbarer Weg, den Inhalt des Begriffs zu klären, scheint zunächst, sich darüber zu verständigen, wie Gesellschaften ihr geregeltes Zusammenleben sichern und was diese Regelungen im Miteinander generell bewirken sollen. Die in der gesellschaftlichen Praxis befolgten Regeln des Miteinanders dienen primär dem Bestandserhalt einer Gemeinschaft. Was „Recht“ ist, lässt sich also genauer definieren, wenn man sich zunächst über einige grundlegende Faktoren Klarheit verschafft, die im gesellschaftlichen Miteinander der Regelung bedürfen. Gesellschaft braucht Ordnung und jeder Ordnung bzw. allen Bestrebungen, diese einzuhalten, ist das Potential des Konflikts inhärent. Eine positive Einstellung zum Wert, zur Notwendigkeit und zur Einhaltung der Ordnung, so die historische Rechtsforschung, müsse als allgemeine Überzeugung vorhanden sein, um von einem existierenden „Recht“ in einer Gesellschaft ausgehen zu können. Diese Ansicht würde ein weiteres Problem lösen, die Frage danach, wie Recht entsteht - aus der Gesellschaft heraus, also gleichsam von innen, oder durch staatliche Anweisungen, also von „oben“? „Recht“, so die These hier, entsteht aus dem (oder repräsentiert das) Regelwerk © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 10 153 W A S H E I S S T „ R E C H T “ ? warum Menschen Regeln befolgen „Sitte und Moral“ vs. „Recht und Ordnung“ des geordneten Miteinanders und sollte mit den Gewohnheiten einer Gesellschaft in Einklang gebracht werden, damit es als erfolgreiches und akzeptiertes Recht gelebt werden kann. Nach der evolutionären Rechtstheorie stellen die Akzeptanz der Regeln des Miteinanders und die auf konsensuelle Lösungen bedachten Konfliktregelungen die wesentlichen Grundlagen von Recht dar. Entwickeln sich in einer Gemeinschaft zunehmend hierarchisch geordnete Strukturen mit einer entscheidungsbefugten Autorität an der Spitze, sei zu beobachten, dass primär konsensuelle Lösungsfindungen für Fragen der Regelung des gesellschaftlichen Miteinanders an Bedeutung verlieren und Entscheidungen der Autoritäten an Einfluss gewinnen (s. dazu auch Wesel 1985: 67). „Recht“ besteht nach dieser Betrachtung somit aus Regeln, die von einer Gemeinschaft im Großen und Ganzen akzeptiert und als verbindlich betrachtet werden - „Sei es mit oder ohne Einfluß von Autoritäten“! (Wesel 1985: 334) Die Gründe, warum Menschen Regeln befolgen und Ordnungen als verbindlich erachten, sind vielfältig. Neben Klatsch und Tratsch, Beschämung, Tabus, Rache, Ausschluss aus der Gemeinschaft, also realweltlich verankerten Sanktionen und solchen, die die Menschen von den Göttern zu befürchten haben, stehen Sanktionen, die per „Rechtsprechung“ erfolgen, also Faktoren oder „Selbstregelungsmechanismen“, die zur Einhaltung von Regeln führen. Das heißt, dass Angst vor den Konsequenzen des Regelbruchs - und somit nicht allein oder primär die Einsicht in die positive Wertigkeit eines Regelwerks für das Zusammenleben aller Gesellschaftsmitglieder - einen nicht zu unterschätzenden Faktor für die Befolgung von Regeln und die Einhaltung der Ordnungen darstellt! Die historische Rechtsforschung führt an dieser Stelle eine maßgebliche Differenzierung bei der Betrachtung von Regeln und Ordnung sowie von „Recht“ ein - die Aspekte von Sitte und Moral. Moral, so Wesel, ist die Gesamtheit aller Überzeugungen, die Gut und Böse voneinander trennen und die jedes einzelne Mitglied einer Gemeinschaft unterschiedlich bewertet, wahrnimmt und umsetzt. Es handelt sich um eine „innere Einstellung“ (Wesel 1985: 335). „Recht“ dagegen regele das „äußere Verhalten eines Menschen“ (op. cit., S. 335) und sei damit dem Aspekt der „Sitte“ näher. Die „Sitten und Gebräuche“ regeln u. a. Grußformeln, Umgangsformen, Tischsitten, also ebenfalls sichtbare Verhaltensweisen. Verstöße gegen die Sitten und Gebräuche können „lediglich“ die Werte und Traditionen einzelner Personen verletzen, verstoßen allenfalls gegen die Interessen Einzelner. Wird eine Sitte normativ in dem Sinn, dass das Wohl und Wehe einer Gemeinschaft von deren Einhaltung abhängt, dann ist nach rechtshistorischer Forschung der Übergang zum „Recht“ zu beobachten. „Recht“ beträfe damit die Sicherung des Miteinanders der gesamten Gemeinschaft. Verstöße mit gesamtgesellschaftlich gravierenden Folgen werden unterschieden von Ordnungswidrigkeiten und Verstößen gegen die Ordnung, die primär den oder die Einzelne betreffen (öffentlicher © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 154 A L L E S W A S R E C H T I S T … W I R D S C H R I F T L I C H F E S T G E H A LT E N 10.2 Störung der Ordnung beendet durch göttlich legitimierten Krieg und privater Charakter von „Recht“). Konflikte zwischen Einzelpersonen werden demnach erst dann „rechtlich relevant“, wenn sie die Gesamtordnung bedrohen (Nicht-Grüßen oder rüpelhaftes Benehmen bei Tisch ärgert die Einzelnen, rüpelhaftes Verhalten im Straßenverkehr kann die Gesamtordnung sehr schnell bedrohen und erhält damit einen anderen Wirkungs- und Bedrohungsgrad: „Recht“ greift ein). „Recht“ regelt also das gesamtgesellschaftliche Miteinander. Wer „Recht“ setzt und wie sich „Recht“ entwickelt, wurde oben bereits kurz genannt, wie „Recht“ umgesetzt und die Einhaltung von „Recht“ erwirkt wird, ebenfalls. Für die Setzung und Einhaltung von „Recht“ sind funktional spezialisierte Einrichtungen demnach nicht prinzipiell erforderlich. Mit zunehmender Komplexität von Gemeinschaften scheinen sich jedoch entsprechende Institutionen herauszubilden, und mit dem Aufkommen der Schrift scheint es dann auch wünschenswert, wenn nicht notwendig, die geltenden Vorstellungen von „Recht“ zu verschriftlichen und damit unübersehbar und dauerhaft zu fixieren und zu kanonisieren! Krieg der Städte, Un-Recht und Un-Ordnung: Die Geierstele berichtet Die historisch erstmalige Verschriftlichung dessen, was „Recht“ war, fand im Forschungsraum der Vorderasiatischen Altertumskunde statt. Im Kontext der Urbanisierung wurde in Südmesopotamien erstmals schriftlich festgehalten, was die Herrschenden damals unter der geltenden Ordnung verstanden, wie sie diese legitimierten, wie sie ihre Einhaltung zu sichern versuchten, welche Maßnahmen gegen die vorkommenden Ordnungsverstöße ergriffen wurden - und von wem, und wie das, was als geltende Ordnung propagiert wurde, entstanden war. Die historisch ältesten Texte, die Einblicke in die geltenden Rechtsvorschriften bieten, stammen aus Lagaš in Südmesopotamien und finden sich dort zum einen auf der sog. Geierstele (s. Abb. 6.2 und 6.3), verfasst im Namen und Auftrag des Königs Eannatum (regierte im Zeitraum zwischen 2600 und 2500 v. Chr.), zum anderen in den in mehreren Fassungen und Fragmenten überlieferten sog. Reformtexten des Rebellen und Königs Urukagina (regierte zwischen 2400 und 2300 v. Chr.; s. dazu Einheit 7 mit Abb. 7.1 ). Der Text der sog. Geierstele, unübersehbar und dauerhaft auf der reich bebilderten Stele aus Diorit geschrieben, schildert einen Konflikt zwischen den einander benachbarten Städten Lagaš und Umma, in dem es um die unrechtmäßige Nutzung der Felder und Wasserläufe von Lagaš geht. Der König von Lagaš beschuldigt den König von Umma, diesen Missbrauch initiiert und verschuldet zu haben. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 10 155 K R I E G D E R S TÄ DT E , U N - R E C H T U N D U N - O R D N U N G : D I E G E I E R S T E L E B E R I C H T E T Versuche zur Wiederherstellung der Ordnung Strafen für die Bedrohung der Ordnung Die Stadt Lagaš hat den Krieg gegen die Stadt Umma siegreich beendet. Nun hat der Herrscher von Umma seine rechtswidrigen Übergriffe einzugestehen und zu schwören, sich in Zukunft an die Rechtsregelungen zu halten: Der Mann von Umma leistete nun dem Eannatum folgenden Eid: Beim Leben des Enlil, des Herrn von Himmel und Erde! Das Feld des Ningirsu werde ich [nie mehr, Ergänzung der Hrsg.] nutznießen … Für immer und überall werde ich die Grenze des Ningirsu nie mehr überschreiten. An den dortigen Gräben und Bewässerungsrinnen werde ich nie mehr eine Veränderung vornehmen. Die dort aufgestellten Stelen werde ich nie mehr ausreißen. Wenn ich dennoch die Grenze überschreite, möge das große Fangnetz des Enlil, des Herrn von Himmel und Erde, auf das ich diesen Eid leiste, auf Umma von oben her herabfallen [d. h., die Stadt und ihre EinwohnerInnen werden vernichtet werden]. (Übersetzung nach H. Steible, 1982: 129 f., Eannatum 1, Kolumne 16, Zeile 18 ff.) Der Text informiert also über lokale, vor allem aber über regional wirkungsmächtige Ordnungen und damit über die Regeln, die dem lokalen und regionalen Miteinander der Gesellschaften zugrunde liegen. Besitzrechte der Städte an Grund und Boden und der Umgang der Herrschenden mit den überlebenswichtigen Ressourcen stehen im Vordergrund. Die lange Geschichte des lokal und regional geltenden Regelwerks wird thematisiert. Seit Generationen, so die Inschrift, lebe man in Lagaš gemäß der Ordnung, gegen die die Stadt Umma immer wieder verstoßen habe. Die Einhaltung dieser Ordnung und die Akzeptanz der Rechte der Stadt Lagaš durch die Stadt Umma war also offenkundig nicht gesichert. Zwei Instanzen werden bemüht, um das friedliche Miteinander zwischen den Konfliktparteien wiederherzustellen und dem Recht Geltung zu verschaffen. Zunächst wird der König von Kiš als Mittler in Anspruch genommen. Diesem gelingt es nicht, den Konflikt aus der Welt zu schaffen und die Ordnung wiederherzustellen. Dann greift man auf Ratschlag der Götter zur Gewalt. Krieg als Sanktion gegen den Rechtsverstoß ist eine religiös legitimierte Maßnahme zur Bestandssicherung der eigenen Gemeinschaft, die enge Verknüpfung von Religion und Recht bzw. Ordnung ist unübersehbar. Die Formen des Kriegsbeginns waren ebenso klar geregelt wie die des Friedensbeschlusses. Die Zusicherung, zukünftig die Rechte der Stadt Lagaš zu achten, musste der Kriegsverlierer Umma vor den Göttern und öffentlich proklamieren. Bei Verstoß würden die Sanktionen gegen Umma nicht mehr von der weltlichen Instanz „Königtum“ ausgeübt. Im Fall der Zuwiderhandlung gegen den beschlossenen Frieden, so die Ankündigung, würde nicht nur der König von Umma getötet. Vielmehr drohten die Götter für diesen Fall an, die gesamte Stadtgemeinschaft zu vernichten. Wo die überregionale Ordnung bedroht und das „geltende Recht“ von den weltlichen Instanzen nicht zu sichern war, griffen offenkundig die Götter ein. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 156 A L L E S W A S R E C H T I S T … W I R D S C H R I F T L I C H F E S T G E H A LT E N Kontext der Verschriftlichung von Recht Die Vorstellungen von Recht und Ordnung wurden also zu dieser Zeit nicht in einer eigens dafür geschaffenen Textgattung übermittelt. Nicht eine Sammlung von Gesetzen informierte über die herrschenden Werte, Normen, Ordnungsvorstellungen und über das geltende Recht, sondern eine Erzählung historischen Inhalts enthielt auch Informationen darüber, was die Herrschenden als Recht und Ordnung zu deklarieren wünschten. Primär war die Königsinschrift als Gattung dazu angelegt, das erfolgreiche Wirken des Herrschenden dauerhaft in der Erinnerung der Gemeinschaften festzuhalten. Der Text ist also (auch) als Propagandaschrift konzipiert und zu verstehen. Er sollte die Ideologie der Macht und deren Sicht auf die Welt und die herrschende Ordnung als „natürliche“ und von den Göttern nicht nur legitimierte, sondern gesetzte Ordnung der Welt darstellen. Für die Umsetzung von „Recht“ in die gelebte Ordnung stellte die Königsinschrift somit eine ideale Textgattung dar, welche die Bevölkerung (bzw. diejenigen, denen der Inhalt des Textes zugänglich war) auf eine gemeinsame Tradition und auf ein in diesen Traditionen fußendes Ordnungsverständnis einschwören sollte. Um sich mit den Details dieses folgenreichen Konfliktes vertraut zu machen, ist die in Einheit 7 zum Thema Umma-Lagaš-Konflikt angeführte Literatur zu empfehlen. Der Versuch des Königs von Lagaš, seine Aktivitäten, die der Sicherung von Recht und Ordnung galten, als maßgeblichen und positiv konnotierten Aspekt seiner guten Herrschaft darzustellen, wirft viele Fragen auf: In welchen soziopolitischen Zusammenhängen wurde die schriftliche Niederlegung dessen, was die politisch Mächtigen und Herrschenden als herrschende Ordnung und geltendes Recht verstanden, als notwendig erachtet? Welche Instanzen hatten das „Recht“ verfasst und welche Instanzen setzten die Sicherstellung der Ordnung um? Wer waren die „Richter“ und wer das „Gericht“, die über die Strafe gegen die Regelverstöße entschieden? Wo war der Ort der Rechtsprechung, wer nahm teil, wer hörte den Rechtsspruch und wo wurde die Stele als maßgebliches Zeugnis der Ereignisse auf-bewahrt? Was regelt der Rechtsspruch konkret und wer war konkret betroffen? Verschriftlicht wurde die geltende Ordnung offenkundig erstmals in einer Zeit, in der das Miteinander und das Überleben einzelner Gemeinschaften existentiell bedroht war. Sind es also die Krisenzeiten, in denen „selbstverständliche“ Ordnungen ihre Selbstverständlichkeit zu verlieren drohen und deshalb der dauerhaften Vergewisserung, d. h. der schriftlichen Festlegung bedürfen? Und waren es vor allem die Herrschenden, die sich ihrer Positionen im Gefüge der Gemeinschaften nicht mehr sicher waren und die deshalb auf die Fixierung und die göttliche Legitimierung der herrschenden Ordnung - und der Position und Funktion des Königs - drängten? Im Fall von Umma war von dem Ordnungsverstoß der Herrschenden offenkundig die gesamte Gemeinschaft betroffen, der Auslöschung drohte, wenn sich die Elite nicht an © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 10 157 D I E R E F O R MT E X T E D E S U R U K A G I N A der König und die Ordnung 10.3 die geltenden Regeln, das „Recht“, hielt! Im Text der Geierstele geht es nicht um den Verstoß gegen „Sitten und Gebräuche“, die das Wohlergehen Einzelner beeinträchtigen würden. Hier geht es um das Recht der Gesamtgesellschaft und die Bedrohung der gesamtgesellschaftlichen Ordnung. Die Regeln wurden von den Göttern gesetzt, und, so die Propaganda, seit alters her von der Gemeinschaft von Lagaš gelebt und akzeptiert. Die herrschende Ordnung und das geltende Recht entsprachen nach der Geierstele also der gelebten Tradition. Dieses tradierte Recht versuchte man zunächst, über die konsensuelle Lösungsfindung zu erhalten, der Vermittler aus Kiš, einer Umma und Lagaš nördlich benachbarten Stadt, wurde zu Rat und zur Hilfe herangezogen. Das geltende Recht war allerdings auf diesem Wege offenkundig nicht umzusetzen. Also musste die Lösung durch die oberste Autorität herbeigeführt werden, die der realweltlichen Gesellschaft übergeordnet und in ihrer Wirkungsmacht und Durchsetzungsfähigkeit nicht hinterfragbar war. Dass eine so hohe Instanz eingreifen musste, weist darauf hin, dass die Krise so gravierend war, dass sie die Gemeinschaft zu vernichten drohte. Konsensuelle Lösungen wurden von den Menschen angestrebt, „Recht“ sprachen in vorliegendem Fall die Götter. Warum Umma auf die Zukunft gesehen die Rechtsprechung hätte beachten sollen, lag auf der Hand - es drohte die Vernichtung der Stadt und aller EinwohnerInnen, der gesamten Gemeinschaft und nicht „nur“ der Amtsverlust des regierenden Königs. An dieser Stelle sei auf eine Textpassage hingewiesen, die betont, dass die Dramatik der Situation der betroffenen Bevölkerung bekannt gewesen sei: die Einwohner von Umma hätten aufgrund der schlechten Amtsführung des eigenen Königs, die das Gute Leben der Bevölkerung von Umma nicht sicherte, sondern bedrohte, diesen mitten in der Stadt erschlagen! Damit wird suggeriert, die geltende Ordnung sei von der Gemeinschaft akzeptiert. Ob es sich bei der geschilderten Tat um einen historischen wahren Akt gehandelt hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Für die Reflektionen über die Wirkungsmacht von Ordnung und Sanktion ist die Historizität des Geschehens jedoch irrelevant. Machtmissbrauch, Rechtsverstöße, Rebellion - die Reformtexte des Urukagina Der älteste Text, dem wir Einblicke in das geltende „Recht“ entnehmen konnten, der Text der Geierstele, thematisiert einen Städtekonflikt und betrifft primär die rechtlichen Belange der Städte als Gemeinwesen und der Eliten als den Herrschenden. Auch der zweite Text aus Lagaš, der uns Einblick in das Recht und die Ordnung der Zeit vermittelt, wurde offenkundig vor dem Hintergrund einer existentiellen Krise verfasst. Auch hier ging es darum, dass das Fehlverhalten der Elite zur Bedrohung des sog. Guten Lebens und der tra- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 158 A L L E S W A S R E C H T I S T … W I R D S C H R I F T L I C H F E S T G E H A LT E N gesellschaftsinterne Probleme mit der herrschenden Ordnung ditionell gelebten und - so die königliche Propaganda von der Bevölkerung akzeptierten - Ordnung der Gemeinschaft von Lagaš geworden war. Anders als in der Geierstele geht es bei den sog. Reformtexten des Urukagina primär um innerstädtische und innergesellschaftliche Probleme in Lagaš selbst. Urukagina berichtet, dass sein Vorgänger im Amt massiv gegen geltendes Recht in der eigenen Stadt Lagaš verstoßen habe. Diese Rechtsverstöße hätten das Gute Leben aller Mitglieder der Gemeinschaft bedroht. Um weiteres Unheil von der Stadt und ihrer Bevölkerung abzuwenden, so die Reformtexte, die als Königsinschriften verfasst worden waren, griff der Stadtgott von Lagaš, Ningirsu, in das Geschehen ein, setzte den regierenden König ab und Urukagina als neuen König ein. Als Ningirsu, der Held des Enlil, dem Urukagina das Königtum über Lagaš verliehen hatte und aus der Mitte von 36.000 Menschen seine Hand gefasst hatte, hat er das Schicksal von früher ersetzt. Die Worte, die sein Herr Ningirsu zu ihm sprach, hat er begriffen: Von den Schiffen wird der Mann der Schifffahrt entfernt; Von den Eseln, von den Schafen werden die entsprechenden Herdenverwalter entfernt …, von der Gersteabgabe der Gudu-Priester wird der Vorsteher des Getreidemagazins entfernt; … dass die Tempelverwalter die Íl-Abgabe an den Palast ablieferten, der dafür verantwortliche Kommissar wird entfernt …; dass man die Waise und die Witwe dem Mächtigen nicht ausliefert, hat mit Ningirsu Urukagina vertraglich vereinbart. … [Missstände, verursacht durch die Vorgängerregierung, korrigiert, so Urukagina, seine Regierung. Der Palast vergreift sich nicht weiter an Tempeleigentum, die Schwachen im Land unterstehen dem göttlichen und königlichen Schutz, Recht und Ordnung wird wiederhergestellt, Anm. der Hrsg.] (Übersetzung nach H. Steible, 1982: 299 f., Urukagina 4-5, Kolumne 7, Zeile 9 ff. Erneut ist zu erkennen: je größer die Krise und je weitreichender der Angriff auf die bestehende Ordnung und das geltende Recht waren, desto höher war die Instanz, die einschritt und die „rechte Ordnung“ wiederherzustellen wusste. Urukagina war regelwidrig an die Spitzenposition gelangt, also im Widerspruch zum geltenden Recht und zur geltenden Tradition, die die Übergabe des Königsamtes vom Vater auf den Sohn vorsah. Der so „Geförderte“ sah es, wie dann alle nachfolgenden Rebellen, als notwendig an, diese Machtübernahme zu erklären: der Missbrauch der Traditionen und des geltenden Rechts durch den Vorgänger im Amt habe Urukaginas Regel- oder Rechtsbruch erst notwendig gemacht - und damit zugleich auch legitimiert. Bei der regelwidrigen Machtübernahme durch Urukagina habe es sich also nicht um ein Vergehen, nicht um einen Rechtsbruch, sondern um eine Auszeichnung gehandelt. Der Stadtgott von Lagaš, Ningirsu, habe Urukagina aus einer Menge von mehr als 30.000 Menschen als den erkannt und erwählt, der allein das geltende Recht in Lagaš wiederherzustellen vermochte! Auf diese Weise und deshalb wurde Urukagina König. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 10 159 D I E R E F O R MT E X T E D E S U R U K A G I N A wen betrafen die Ordnungsbrüche der Elite? In einer langen Liste führt Urukagina all die Verfehlungen auf, derer sein Vorgänger und seine Entourage sich schuldig gemacht hatten. Anders als im Städtekonflikt kommen nun zahlreiche rechtliche Aspekte zur Sprache, die das Miteinander in der Stadt betrafen. So werden maßgebliche Elemente des Regelwerks sichtbar, die dem alltäglichen Leben in Lagaš zugrunde lagen. Der abgesetzte Herrscher und seine Verwaltung, so die Propaganda des Rebellen Urukagina, hatten wiederholt gegen die von den Gottheiten gesetzten Rechte verstoßen. Zur Frage, warum Urukagina als Rebell bezeichnet wird, und zu Rebellen und Rebellion im Alten Orient allgemein siehe Einheit 7 und Heinz 2008. Bei den Regelverstößen ging es konkret um den Missbrauch der wirtschaftlichen Pfründe der Tempel durch die politische Macht, um die Beschneidung der Rechte der Priesterschaften und um gravierende Verstöße gegen die Rechte der Bevölkerung, gegen das Gewohnheitsrecht im alltäglichen Miteinander. Maßgeblich wird in diesen Texten des Urukagina das Wohl und Wehe der Gesamtgemeinschaft thematisiert, die durch das widerrechtliche Handeln Einzelner in ihrer Ordnung bedroht war. Nur durch das Eingreifen des Urukagina (möglich geworden durch die nicht dem geltenden Recht entsprechende Übernahme der Herrschaft) wurde dem traditionellen Recht wieder zur Geltung verholfen. Recht wird gebrochen, um Unrecht zu beseitigen und traditionell gelebtes Recht zu sichern - so die Propaganda der Zeit! Die Traditionsbrüche des Vorgängers wurden als Rechtsbruch und damit als Gefahr für die Gemeinschaft deklariert, der Traditions- und Rechtsbruch des Urukagina hingegen zur rechtlich korrekten, notwendigen und einzig möglichen Rettungsmaßnahme zur Wahrung des gelebten und tradierten Rechts und somit für das Überleben eben dieser Gemeinschaft erklärt. Debatte eröffnet: Stets taucht im Zusammenhang mit Reflektionen zum Thema Recht die Frage auf, was denn Gerechtigkeit sei? Was war Gerechtigkeit im oben geschilderten Zusammenhang, in dem jemand, der regelgerecht nicht zur Herrschaft gelangen konnte, das Recht bricht, das gebrochene Recht als Unrecht deklariert und den eigenen Rechtsbruch als einzig mögliche Maßnahme zur Rettung des „wahren, traditionell gelebten Rechts“ von Lagaš deklariert? Kann man Recht brechen, um die Rechtslage zu sichern? Kann Handeln nach den geltenden Regeln rechtens sein, also dem Recht entsprechen und trotzdem als ungerecht wahrgenommen werden? Was ist gerecht und was ist ungerecht und in welchem Verhältnis zueinander stehen Gerechtigkeit und geschriebene Rechtsordnung? Die neue politische Ordnung mit Urukagina an der Spitze, deklariert als Wiederherstellung der traditionell gelebten Ordnung, benötigte die Legitimation und Akzeptanz der Bevölkerung. Explizit erwähnt Urukagina, dass er jeglichen Missbrauch der Rechte eben dieser Bevölkerung gesehen und umgehend © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 160 A L L E S W A S R E C H T I S T … W I R D S C H R I F T L I C H F E S T G E H A LT E N Rechtsbruch - historisch wahr oder Propaganda? beendet habe. Er sei es gewesen, der den Menschen von Lagaš die Wahrung ihrer gewohnten Rechte gesichert und die unrechtmäßigen wirtschaftlichen Belastungen, denen sie ausgesetzt waren, umgehend beseitigt habe. Explizit rühmte sich Urukagina, seine Fürsorge habe auch und vor allem denjenigen gegolten, die der Willkür des staatlichen Apparates ganz besonders ausgesetzt und gleichsam rechtlos geworden waren; hier nennt er die „Witwen und Waisen“, also die Mitglieder der Gesellschaft, die infolge des Verlustes ihrer Familie (ihres traditionellen Schutzrahmens) seiner Hilfe besonders bedurft hatten. Über die (angeblich) durchgeführten, aber wie aus weiteren Texten ersichtlich, nicht in allen Fällen umgesetzten, Korrekturmaßnahmen werden weitere Details des rechtlichen Regelwerks sichtbar. Den Bewohnerinnen und Bewohnern von Lagaš stand offenbar Gartenland zur Subsistenzsicherung zu - auf diese Rechte hatte das Personal der abgesetzten Administration widerrechtlich zugegriffen. Für die Beisetzung verstorbener Familienmitglieder wurden nach geltendem Recht Gebühren erhoben. Die abgesetzte Verwaltung hatte diese Gebühren unmäßig erhöht und sich daran bereichert. Eine für die Genderforschung aufschlussreiche Regelung sei erwähnt: bevor Urukagina die Herrschaft an sich genommen hatte, konnten Frauen mit zwei Männern zusammenleben, diese Regelung „wird fallengelassen“ (Steible 1982: 319). Den „Reformtexten“ zufolge hatten also Ningirsu, der Stadtgott von Lagaš, und Urukagina das in der Vergangenheit geschehene und bis in die Textgegenwart andauernde Unrecht auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Miteinanders gesehen und umgehend korrigiert. Der Stadtgott befand über die Rahmenbedingungen des Guten Lebens in Lagaš, entfernte den korrupten Herrscher und setzte den neuen König ein. Auf der Ebene des realen Alltagslebens griff dann der neue König in die Rechtsangelegenheiten der Stadt ein, korrigierte Unrecht, benannte die Strafen für begangenes Unrecht und will diese auch umgesetzt haben. Im konkreten Fall entließ er die gesamte Verwaltung des Vorgängers und korrigierte widerrechtlich erlassene Verwaltungsvorschriften. Anders als im Konflikt zwischen den Städten, in dem die Götter im Rahmen der Beilegung des Konfliktes eine auf die Zukunft zielende Warnung an den Rechtsbrecher Umma richteten, warnen die Reformtexte des Urukagina nicht explizit davor, Unrecht zu tun. Sie betonen vielmehr die konkrete Umsetzung der Strafen in der Textgegenwart und das schnelle Wiederherstellen des „Guten Lebens“ - verständlich, denn es war die gegenwärtige Herrschaft des Rebellen, die der konkreten Stabilisierung und Legitimation zu seinen Lebzeiten bedurfte. Die Bedrohung des Rechts und die Notwendigkeit, eindeutig zu fixieren, was in den Augen des Urukagina und seiner Entourage Recht und Unrecht gewesen war und sein sollte, sind die Rahmenbedingungen, unter denen die sog. Reformtexte niedergeschrieben wurden. Rechtsbruch zur Sicherung der Rechtswahrung, das war die Argumentation für das politische Handeln des © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 10 161 D E R K O D E X U R N A MMU 10.4 neue politische Organisationsform und neue Form der Rechtsfixierung Urukagina, Umbruch und Wandel der Kontext seiner Argumentation. Wer aber Umbruch und Wandel „wirklich“ herbeigeführt, wer das Recht im Sinn des „historisch Wahren“ „wirklich“ gebrochen hatte und wie „Recht und Ordnung“ den Traditionen gemäß ausgesehen hatten, entzieht sich unserer Kenntnis. Für die vorliegende Reflektion zum Thema „Recht“ ist der Umstand, dass die Forschung das „historisch Wahre“ nicht zu eruieren vermag, unbedeutend. Bedeutsam ist, dass es in Lagaš als notwendig erachtet wurde, diese Version der Geschichte niederzuschreiben. Aufschlussreich für die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von „Recht“ für das politische Handeln ist somit das Bestreben der Textverantwortlichen, den „Rechtsbrecher“ Urukagina als den „Mann des Rechts“ im kulturellen Gedächtnis der Zeit zu verankern und dieses Image auf die Zukunft hin zu sichern. Keine Geschichten mehr: mit dem Kodex Urnammu (2100-2000 v. Chr.) liegt erstmals eine Gesetzessammlung vor Ca. 400 Jahre nach den geschilderten Ereignissen in Lagaš bediente man sich in der südmesopotamischen Stadt Ur einer neuen Textgattung und einer neuen Form der Kommunikation zur Verankerung des Wissens über „Recht und Ordnung“ im kulturellen Gedächtnis. Zusätzlich zu den Verweisen auf das geltende Recht und die herrschende Ordnung, die in allen Königsinschriften mehr oder weniger implizit bzw. in den Königsinschriften der Regenten von Ur auch explizit zu finden waren, wurde im Namen und Auftrag des Königs Urnammu von Ur erstmals das Wissen über die geltenden Rechte und die herrschende Ordnung der Zeit in einer großangelegten Sammlung, dem „Kodex Urnammu“, zusammengeführt. Debatte eröffnet: Liegt rechtsphilosophisch und rechtssoziologisch betrachtet ein Unterschied vor, wenn über Recht und Ordnung nicht wie in den Königsinschriften anhand der Taten des Königs berichtet wird, sondern die Rechtsvorstellungen und Normen einer Gemeinschaft explizit formuliert und in einem als Kodex promulgierten Text zusammengestellt werden? Worin läge der Unterschied? Auf welchem Feld des gemeinschaftlichen Miteinanders wäre er anzusiedeln? Erneut deutet sich ein Zusammenhang an zwischen einer politisch krisenhaften Situation und der Auseinandersetzung der Regierenden mit dem, was unter Recht und Ordnung zu verstehen war. Gegen Ende des 3. Jt. v. Chr. brach das Weltreich der Akkader auseinander. Neue politische Organisationsformen bildeten sich aus, der Süden Mesopotamiens avancierte erneut zum politischen Zentrum. Urnammu, der Begründer der 3. Dynastie von Ur, kontrollierte von Ur aus weite Regionen des Landes Mesopotamien (s. Abb. 10.1). Diese Zeit wird als „Neusumerische © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 162 A L L E S W A S R E C H T I S T … W I R D S C H R I F T L I C H F E S T G E H A LT E N Renaissance“ bezeichnet, in der sich die Herrschenden von Ur unübersehbar von der unmittelbaren Vergangenheit distanzierten und eine bis in die Zeit der mythischen Könige von Uruk zurückreichende Vergangenheit als Wurzel der eigenen Gegenwart konstruierten. In dieser Zeit des Umbruchs und der Orientierung an einer „Vor-Vergangenheit“ wurde es offenkundig zum ersten Mal in der Geschichte möglich und/ oder nötig, die Regeln des Miteinanders explizit schriftlich zu fixieren und auch die Strafen dauerhaft sichtbar und erinnerbar zu machen, die bei einem Regelverstoß drohten. Geregelt wurden alle Belange des täglichen Lebens der Bewohnerinnen und Bewohner von Ur und den zum Herrschaftsgebiet des Urnammu gehörenden Landesteilen, die der Sicherung des sog. Guten Lebens, des Gemeinwohls, dienen sollten. Zuständiger Gesetzgeber in Ur war Urnammu selbst. Im Prolog zur Gesetzessammlung teilt er mit, die zuständigen Gottheiten, in Ur der Mondgott Nanna und der Sonnengott Utu, hätten ihn persönlich aufgefordert, die Missstände im Lande zu beseitigen und dafür zu sorgen, dass Recht und Ordnung gewahrt blieb - eine Legitimation für das politische Handeln, die zu der Zeit bereits „Geschichte“ war! Ein Epilog zum Kodex Urnammu ist nicht überliefert. Es folgt die Niederschrift der Paragraphen, die rechtliche Regelungen für die folgenden Gebiete umfassen: Ehe- und Familienbelange, Körperverletzung und Mord, üble Nachrede, Falschaussagen, Eidesverweigerung, Verletzung des Eigentums, Vertragsbruch, Flucht von Sklaven. Abb. 10 . 1 Der politische Wirkungsraum der 3. Dynastie von Ur der König als Gesetzgeber im Auftrag der Götter © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 10 163 D E R K O D E X U R N A MMU gleiches Recht für alle in Mesopotamien? § 1 Wenn jemand mordet, wird dieser Mensch getötet werden. § 2 Wenn jemand raubt, wird er, der Geschädigte, ihn töten. § 13 Wenn sich jemand von seiner Ehefrau scheidet, wird er ein Pfund Silber abwiegen. § 17 Wenn … (ein/ e) entflohene/ r Sklavin oder Sklave die Grenze ihrer/ seiner Stadt überschritten hat und jemand sie/ ihn zurückbringt, wird der Eigentümer des Sklaven demjenigen, der ihn zurückgebracht hat, 2 Schekel Silber abwiegen. § a4 (30) Wenn jemand das Feld eines anderen gewaltsam bestellt, dieser prozessiert, er ihn zur Untätigkeit zwang, wir dieser Mensch seinen Arbeitsaufwand verlieren. (Aus dem Kodex Urnammu, Übersetzung nach C. Wilcke 2002: 34-35) Die Gesetze, die im Kodex Urnammu erfasst wurden, sind kasuistisch, als jeweiliger Einzelfall, aufgeführt. Die Rechtsprechung geht also von „Fällen“ aus und zieht diese bei ähnlichen Vergehen dann als Beispiele, die beim Richterspruch berücksichtigt wurden, wieder heran. Der Regelungsbedarf konzentrierte sich auf innergesellschaftliche Angelegenheiten, Krieg und Konflikt mit benachbarten Gemeinweisen wurden nicht thematisiert. Die Strafen, die auf Rechtsbruch standen, waren gravierend, in der Regel aber mit Geld zu begleichen. Aber auch die Todesstrafe war bekannt und wurde vollzogen. Vor dem Recht waren die Menschen nicht gleich, Sklaven und Unfreie hatten andere Rechte als Freie, Männer andere als Frauen; so musste, wo etwa Ehebruch zur Verhandlung kam, die Frau mit der Todesstrafe rechnen, der Mann aber wurde in der Regel freigelassen (§ 4). Eher die Ausnahme war die Anwendung des sog. Talionsrechts (einer Person das antun, was diese an einem verübt hat; im jüngeren Kodex Hammurabi (s. u.) begegnet das Talionsrecht häufiger, z. B. heißt es: für den Fall, dass ein Mann dem Sohn eines anderen Mannes das Auge ausschlägt, ist dem Schlagenden selber auch das Auge auszuschlagen). Warum kam es nun gerade in der Zeit der 3. Dynastie von Ur zur Kodifizierung des Rechts? Die Identität der Elite von Ur basierte offenkundig weder auf einer Identifizierung mit den Akkadern noch mit den Königen und der Kultur der frühdynastischen Zeit. Die Erinnerung an und die Identifikation mit der Vor-Vergangenheit, die bis zur Urukzeit und zu den mythischen Königen von Uruk wie Gilgameš zurückreichte, prägten das Selbstbild der Regenten von Ur am Ende des 3. Jt. v. Chr. Dass die Schaffung eines Selbst- und Weltbildes auf der Basis der Werte und Vorstellungen, die viele hundert Jahre zuvor entwickelt worden waren, nur mit Hilfe der Konstruktion von Vergangenheit möglich war, versteht sich von selbst. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 164 A L L E S W A S R E C H T I S T … W I R D S C H R I F T L I C H F E S T G E H A LT E N Vergangenheit und Recht und Ordnung Wie war die Erinnerung an die Vor-Vergangenheit möglich? Wie hatte sich ein Wissen um die von der Forschung sog. Urukzeit (4. Jt. v. Chr.) bis in die Zeit der 3. Dynastie von Ur (ca. 2100-2000 v. Chr.), also über einen Zeitraum von ca. 1.000 Jahren, erhalten? Welche Medien standen den Regenten von Ur zur Verfügung, um diese Vor-Vergangenheit nicht nur zu erinnern, sondern zugleich Werte, Vorstellungswelten und Charakteristika dieser Zeit zu rekonstruieren und zur eigenen Identitätsstiftung zu nutzen? Wer konnte sich - wie - an was erinnern? Über welche „langen Reihen“ des Erinnerns konnte sich das Wissen der Zeit über 1.000 Jahre erstrecken? Wie man sein Selbstbild schuf und nach welchen Vorlagen die Identifikation konstruiert wurde, machen die wenigen Zeilen des Prologs erkennbar, in denen Urnammu davon berichtet, dass vor Antritt seiner Regierung die Ordnung im Lande außer Kraft gesetzt war. Erst nachdem die höchsten Götter An und Enlil sowie der Stadtgott von Ur, Nanna, ihn als König benannt hatten (ein Weg zur Macht, den so schon der Rebell Urukagina beschritten hatte), war die gerechte und von den Göttern benannte Ordnung wieder hergestellt worden. Weder nennt Urnammu einen königlichen Vater, noch führt er eine königliche Familie zur Legitimation seiner Herrschaft an. Eine Familientradition, die ihn zur Herrschaft berechtigt hätte, scheint es nicht gegeben zu haben, eine Übergabe des Königsthrones vom Vater auf den Sohn erfolgte nicht. Als Gott An und Gott Enlil dem Gott Nanna das Königtum von Ur gegeben hatten, da hat er [Nanna, der Stadtgott von Ur; Anm. der Hrsg.] nach Urnammu … verlangt und [ihm; Anm. der Hrsg.] das Königtum von Ur gegeben. … Damals habe ich, Urnammu, der starke Mann, der König von Ur, der König von Sumer und Akkad, mit der Kraft des Gottes Nanna, meines Herrn, mit der Gerechtigkeit des Gottes Utu das Recht im Lande wirklich gesetzt. [Es folgen die Korrekturen, die Urnammu durchführt, um das Unrecht von früher abzuschaffen und die von den Göttern bestimmte Ordnung wieder einzusetzen.] (Prolog des Kodex Urnammu, Übersetzung nach C. Wilcke 2002: 34-35) Es bleibt die Frage, warum eine derartige Konstruktion der eigenen Legitimation nötig geworden war und warum es im Kontext dieser Konstruktion erstmals dazu kam, die geltende Ordnung und die Regeln des sozialen Miteinanders in einem extra dafür geschaffenen Gesetzeswerk, der Sammlung oder dem Kodex Urnammu zusammenzustellen! Die Konstruktion einer negativ konnotierten Vergangenheit, wie sie die Könige der 3. Dynastie von Ur offenkundig zur Legitimation der eigenen Herrschaft benötigten, und die schriftliche Fixierung der geltenden Ordnung zur Verstärkung ihrer Normativität dürfte mit der Neugründung des „Reiches von Ur“ zusammenhängen. Dabei handelte es sich um ein politisches Kons- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 10 165 D E R K O D E X H A MMU R A B I Wirkungsmacht der Schriftlichkeit 10.5 trukt, in dem man sich nicht auf gemeinsame Traditionen des Miteinanders stützen konnte bzw. sich der Regeln des gemeinsamen Miteinanders nicht sicher war. Ordnung, Werte und Recht fußten idealiter auf einer gemeinsamen Vergangenheit, hatten in der Gegenwart bereits eine Geschichte und Tradition und waren nur durch gelebte Gegenwart auf die Zukunft hin zu sichern. Die Konstruktion der Regenten von Ur fußte aber weder auf gelebter Geschichte noch auf einer gemeinsamen Tradition der Gesellschaften, die unter die politische Herrschaft von Ur geraten waren. Die Verortung gemeinsamer Wurzeln eines heterogenen Gemeinwesens wie des Großreiches von Ur in einer weit zurückliegenden, „mythischen“ Vergangenheit mit heldenhaften Herrschern stellte also eine kluge Strategie dar: Mit einer glorifizierten mythischen Vergangenheit, die Helden wie Gilgameš hervorgebracht hatte, konnten sich in einem Großreich, in dem Menschen unterschiedlichster Herkunft und mit unterschiedlichster Geschichte vereint waren, alle identifizieren. Für die „gelebte“ Umsetzung der Rechts- und Ordnungsvorstellungen der Herrschenden dürfte diese Maßnahme zudem die erfolgversprechendste Strategie dargestellt haben. Herrschaftswissen, dergestalt als „Wahrheit“ deklariert, war die Ideologie der Macht zur Zeit des Großreichs von Ur. Explizit wurde diese im Kodex Urnammu schriftlich und damit auf Dauer angelegt zusammengeführt. Die Erzählung als Medium der Kommunikation über Recht und Ordnung reichte in diesem Kontext allein nicht aus, um Recht und Ordnung in den Köpfen der Betroffenen zu verankern. Normativ wirkungsmächtigere Maßnahmen waren nötig, um die mit der Ideologie der Herrschenden definierte Ordnung in die gelebte (und akzeptierte) Ordnung der Zeit zu überführen. Die explizite Formulierung dessen, was als Recht und Ordnung zu verstehen war, kann, so die These hier, als wirkungsmächtige Antwort auf die bestehende Unsicherheit verstanden werden. Wenn der schriftlichen Fixierung von Regeln und Normen normative Kraft und eine größere Wirkungsmacht als „Mündlichkeit“ zugeschrieben wird, wenn Schriftlichkeit u. a. dadurch wirkt, dass Gesagtes dauerhaft im konkreten Wortlaut erhalten und unvergessen bleibt, wenn also die Verschriftlichung von Wissensbeständen, von Intentionen, Zielen und Ideologien der Herrschenden dazu dient, dem Geschriebenen normative Macht zu verleihen und die Textverantwortlichen zugleich unvergessen zu machen, dann hatten die Könige von Ur in ihrer spezifischen Herrschaftssituation mit dem Verfassen des „Kodex“ das richtige Mittel gewählt. Der wohl bekannteste Kodex der altorientalischen Geschichte: Der Kodex Hammurabi Die Betrachtungen zum Thema Recht und Ordnung sollen nicht beendet werden, ohne den bekanntesten Gesetzestext der altorientalischen Geschichte © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 166 A L L E S W A S R E C H T I S T … W I R D S C H R I F T L I C H F E S T G E H A LT E N nicht wenigstens erwähnt und abgebildet zu haben: Die Rede ist vom sog. Kodex Hammurabi, verfasst auf Veranlassung des Königs Hammurabi von Babylon während seiner Regierungszeit zwischen 1790 und 1750 v. Chr. Der Bekanntheitsgrad des Kodex Hammurabi dürfte u. a. auf den guten Erhaltungszustand des Textträgers zurückzuführen zu sein. Im Bildfeld ist König Hammurabi zu sehen, wie er vor die thronende Gottheit Šamaš tritt, den Sonnengott, der zugleich als Richter über die Erde und die Unterwelt fungierte. Auch der Kodex Hammurabi bestand aus Prolog, Gesetzen und Epilog. Im Prolog stellt sich der König in seinen Leistungen und Wohltaten dar, die er als Herrscher für das Gemeinwesen erbracht hat. Im Epilog wird vor allem die Gerechtigkeit des Hammurabi gelobt. Er empfiehlt seinen potentiellen Nachfolgern, sich strikt an die Regeln zu halten, die er, Hammurabi, für die Gemeinschaft formuliert habe. Bei Befolgung seiner Vorgaben werde die Regentschaft eine gute. Sollte es allerdings ein Nachfolger wagen, andere Regeln aufzustellen, dann werde dieser Herrscher und die Gemeinschaft von allen Gottheiten vollkommen vernichtet. Der Epilog ist in der Dramatik der Schilderung kaum zu überbieten. 281 Paragraphen beginnen wie der Kodex Urnammu mit: „Wenn … dann“ und behandeln „Fälle“ von Familienrecht, Mord, Diebstahl, den Umgang mit Sklavinnen und Sklaven, Aspekte des Heeres und wirtschaftliche Belange der Gemeinschaft. Um sich mit den Details der gesetzlichen Regelungen vertraut zu machen, sei die Lektüre des Kodex Hammurabi empfohlen. Ein erster Blick auf den Kodex lohnt sich über das Internet (http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Codex_ Hammurapi (20. 06. 2009)). Wer weiterlesen möchte, greift zu Rykle Borger, Der Codex Hammurapi, 1982. Diese Leseempfehlung ist zugleich verbunden mit einer Warnung vor den drastischen Schilderungen der Strafen, die Rechtsbrechern zu Zeiten Hammurabis drohten. Recht und Ordnung in Bild und Text Abb. 10 . 2 Der Kodex Hammurabi; Höhe: 2,25 m, Material: Basalt, Fundort: Susa/ Iran, Aufbewahrung heute: Paris, Louvre © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 10 167 K E I N W I R K L I C H E S F A Z I T 10.6 schriftlich fixiertes Recht - wirkungsmächtiger als mündlich tradierte Formen? Kein wirkliches Fazit, vielmehr eine Aufstellung offener Fragen! Alles was Recht ist …, wurde ab dem 3. Jt. v. Chr. aufgeschrieben. Die Verschriftlichung der Lebensregeln erfolgte erstmals im urbanen Kontext und scheint vor allem in Krisenzeiten notwendig geworden zu sein. Anonymität sowie das Zusammenleben heterogener Gruppierungen aus verschiedenen Landesteilen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und Traditionen dürften zu den Gründen dafür gehören, dass die Regeln des Miteinanders aus der Sicht der politischen Elite schriftlich fixiert wurden. Wenn aber Urbanität und Heterogenität der Bevölkerungen und damit die Wirkungsmacht verschiedener Traditionsstränge das Zusammenleben zunehmend prägten, wird der Vergleich der schriftlich festgehaltenen Rechtsnormen, der Gesetze interessant. Wie bilden sich Rechtsnormen und wer formt diese zu verschriftlichten Gesetzestexten? Wie sahen die rechtlichen Vorschriften in den Mesopotamien benachbarten Regionen aus, wer sprach Recht, wie bekam man sein Recht? Wie wurde das Wissen um Recht, Ordnung und Gesetz denjenigen vermittelt, die nicht schreib- und lesekundig waren, also der großen Mehrheit der Bevölkerungen, die zwischen dem Mittelmeer und dem Persischen Golf lebten? Welche Rolle spielte die Religion in der Rechtsprechung? Wie waren Religion, Priesterschaften, weltliche Herrschaft, die Gesetzgebung und die Rechtsprechung miteinander verquickt? Warum wurden Rechtsvorstellungen überhaupt verschriftlicht, wenn, wie die Rechtsethnologie aufzeigen kann, Recht nachweislich auch über Generationen und Jahrhunderte mündlich tradiert, beachtet, gelebt und berücksichtigt wurde? Schriftlich fixiertes Recht dürfte in zunehmend stärkerem Maße Wirkungsmacht erlangt und normativer gewirkt haben als die mündlich tradierten Rechtsvorschriften - und zwar unabhängig davon, in welchem Maße sich vor allem die politische Elite an die zusammengestellten Rechtsvorschriften gehalten hatte. Der Text lag vor und der Text fixierte Wortlaut und Sinn der Gesetze stärker, als dies in der mündlichen Tradierung von Recht und Ordnung der Fall war. Die schriftliche Niederlegung der Vorstellungen von Recht und Ordnung und deren Kodifizierung und Kanonisierung entpersonalisierte das Recht und dürfte insbesondere in Großreichen mit heterogenen Bevölkerungen und divergierenden Traditionen die ideale Maßnahme dargestellt haben, um eine einheitliche Vorstellung von Recht und Ordnung „global“ kommunizieren zu können. Recht nahm damals wie heute die Funktion sozialer Steuerung und politischer Kontrolle ein, diente dem Konfliktmanagement und legitimierte die jeweils herrschenden Verhältnisse. Die Auseinandersetzung mit Fragen des Rechts, mit der Rechtsgeschichte, der Rechtsphilosophie, der Rechtsanthropologie und -soziologie bietet ein ideales Feld, um die Forschung der Vorderasiatischen Altertumskunde mit Fragen an die eigene Gegenwart zu verbinden und Fragen und Ergebnisse dieser Forschung in die aktuellen Diskurse der Sozial- und Kulturwissenschaften zu integrieren. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 168 A L L E S W A S R E C H T I S T … W I R D S C H R I F T L I C H F E S T G E H A LT E N 10.7 Weiterführende Literatur Borger, Rykle. 1982. Rechts- und Wirtschaftsurkunden: historisch-chronologische Texte, Rechtsbücher. Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band: Bd. 1, Lfg. 1, Gütersloh. Gütersloher Verlagshaus Mohn (dort der gesamte Text des Kodex Hammurabi) Finet, André. 2002. Le code de Hammurabi. Paris. Éditions du Cerf Foucault, Michel. 1978. Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin. Merve Luhmann, Niklas. 2002. Das Recht der Gesellschaft. Darmstadt. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Neumann, Hans. 2003. Recht im Antiken Mesopotamien, in: Manthe, Ulrich (Hg.), Die Rechtskulturen der Antike: vom Alten Orient bis zum Römischen Reich. München. Beck 2003, S. 55-122 Wesel, Uwe. 1985. Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften: Umrisse einer Frühgeschichte des Rechts bei Sammlern und Jägern und akephalen Ackerbauern und Hirten. Frankfurt a. M. Suhrkamp Wilcke, Claus. 2003. Early ancient Near Eastern law: a history of its beginnings, the early dynastic and Sargonic period. München. Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften - 2002. Der Kodex Urnamma (CU): Versuch einer Rekonstruktion, in: Abusch, Tzvi (Hg.), Riches hidden in secret places: ancient Near Eastern studies in memory of Thorkild Jacobsen. Winona Lake, Indiana. Eisenbrauns, S. 291-333 - 1988. Die Sumerische Königsliste und erzählte Vergangenheit, in: von Ungern-Sternberg, Jürgen; Reinau, Hansjörg (Hg.), Oral history. Stuttgart. Teubner, S. 113-139 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 169 Migranten erobern das Königtum Inhalt 11.1 Migration heute 171 11.2 Migrationsforschung: ein ideales Feld für interdisziplinäre Forschungen 172 11.2.1 Rekonstruktionsmöglichkeiten von Migration mit den Quellen der Vorderasiatischen Altertumskunde 172 11.2.2 Erkenntnisse der rezenten Migrationsforschung 174 11.3 Die Kassiten: Migranten avancieren zur Herrscherelite 176 11.3.1 Erste Nachrichten über die Kassiten 178 11.3.2 Die Identität(en) der Migrantenkönige 180 11.4 Migration seit 4.000 Jahren - Sozialforschung und Vorderasiatische Altertumskunde im Vergleich 181 11.5 Fazit: Zwei Sichtweisen auf ein und denselben Sachverhalt 182 11.6 Weiterführende Literatur 183 Einheit 11 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 170 M I G R A N T E N E R O B E R N D A S K ÖN I G T UM Ist die Arbeitsmigration ein Phänomen unserer Zeit? Die Forschungsergebnisse der Vorderasiatischen Altertumskunde beantworten diese Frage mit einem klaren Nein. Wann Menschen erstmals ein Territorium verlassen mussten, weil ihre Subsistenzsicherung nicht mehr gewährleistet war, entzieht sich zwar (noch) der Kenntnis archäologischer, philologischer und historischer Forschung. Die Quellen aber, anhand derer sich beim momentanen Forschungsstand ein Migrationsprozess erstmals nachweisen lässt, stammen dagegen erneut aus dem Forschungsraum der Vorderasiatischen Altertumskunde. Mit Hilfe von Texten (und möglicherweise auch nicht beschrifteten Artefakten) lässt sich aufzeigen, dass im Verlauf des 2. Jt. v. Chr. eine Gruppierung aus dem Raum Iran, genauer aus dem Zagrosgebirge, nach Mittelmesopotamien gelangte (s. Abb. 11.1). Den mesopotamischen Verwaltungsurkunden zufolge waren die dort Eingewanderten zunächst offenkundig als Landarbeiterinnen und Landarbeiter tätig und lebten in dieser Phase als „Fremde“ in den Siedlungen getrennt von der einheimischen Bevölkerung. Innerhalb von etwa 100 Jahren hatten Ihnen ihre offenkundig hervorragenden Kenntnisse in der Pferdezucht und im Wagenbau den Aufstieg in führende militärische Positionen ermöglicht. Dies dürfte das Sprungbrett für ihren Zugang zur brain drain - Spezialisten emigrieren und machen Karriere Abb. 11 . 1 Kassitische Migration aus dem Zagros im heutigen Iran nach Mesopotamien © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 11 171 M I G R AT I O N H E U T E 11.1 Migration - Ökonomie - Tradition was bietet die Aufnahmegesellschaft den Neuankommenden? höchsten Machtebene gewesen sein. Etwa 150 Jahre nach der ersten überlieferten Erwähnung der ImmigrantInnen aus Iran übernahm einer von ihnen um 1600 v. Chr. das Königsamt in Babylon. Die Rede ist von den Kassiten, einer MigrantInnengruppe, deren politische Vormachtstellung in Babylonien bis zum 12. Jh. v. Chr. andauern sollte. Migration heute Migration ist eines der global wirkungsmächtigsten Massenphänomene unserer Zeit. Die weltweite Wanderbewegung von Millionen von Menschen beeinflusst die globale Wirtschaft, aber auch die Entwicklung des lokalen, regionalen und globalen gesellschaftlichen Miteinanders in kaum vorhersehbarem Maße. Sowohl die sog. Binnenmigration, repräsentiert durch die WanderarbeiterInnen in China, als auch etwa die sog. „Haushaltshilfenmigration“ vorwiegend weiblicher Migrantinnen aus Asien und Afrika bringt und zwingt Millionen von Menschen täglich dazu, ihr Zuhause zu verlassen und fernab der Heimat ihren Lebensunterhalt - und oftmals die Existenz einer ganzen Großfamilie - zu sichern. Der Prozess des ökonomischen Wandels von der Aneignung zur Produktion im Neolithikum und die damit einhergehende Sesshaftwerdung dürfte die erste große Revolution im menschlichen Miteinander gewesen sein. Die globale Wanderbewegung der Gegenwart enthält als rezentes Massenphänomen Momente eines „Zurücks zum mobilen Leben“ und stellt so eine zweite Revolution mit gravierenden Folgen für die Menschheit weltweit dar. Drei Prozent der Weltbevölkerung, 200 Millionen Menschen, sind heute als MigrantInnen unterwegs (Le Monde - Sonderheft 2008, 1), sogenannte ArbeitsnomadInnen, die ins Ausland gehen, um ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien zu sichern. Ein- und Auswanderung prägen das globale Miteinander. Damit verbunden sind weitreichende Veränderungen der Regelwerke des sozialen Miteinanders. Ethische, moralische und religiöse Wertesysteme und Vorstellungen erhalten neue Prägungen. Traditionen werden im veränderten Umfeld modifiziert oder neu geschaffen. Die Geldströme, die von den MigrantInnen in ihre Heimatländer überwiesen werden, stellen inzwischen eine maßgebliche Stütze der Volkswirtschaften in nicht wenigen Ländern der Welt dar, z. B. im Libanon. Welchem Raum, welchem gesellschaftlichen System fühlen sich die MigrantInnen verbunden, welcher Kultur und Tradition zugehörig? Welche Möglichkeiten bieten die Aufnahmeländer den MigrantInnen, die diese in den jeweiligen Heimatländern nicht vorfinden? Wie, wo und warum (wenn überhaupt! ) ist es den MigrantInnen möglich, das eigene Leben entsprechend den eigenen Vorstellungen zu leben, individuell wichtige Traditionen der © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 172 M I G R A N T E N E R O B E R N D A S K ÖN I G T UM 11.2 11.2.1 Heimat zu tradieren und das Neue des Aufnahmelandes erfolgreich in die eigenen Wertewelten und Vorstellungen vom Guten Leben zu integrieren? Dies sind nur einige Fragen, die in der Auseinandersetzung mit Migration in den Gesellschaften des Alten Orients nicht weniger virulent sind als in der Analyse der heutigen Migrationszusammenhänge. Migration im 2. Jt. v. Chr. und Migration als globale Wanderbewegung des 21. Jahrhunderts veränderte und verändert damals wie heute die Gesellschaften der Herkunftsländer der MigrantInnen ebenso, wie sie das gesellschaftliche Miteinander in den Aufnahmeländern änderte und täglich verändert. Migrationsforschung: ein ideales Feld für interdisziplinäre Forschungen Die sozialwissenschaftliche Migrationsforschung hat ihre empirisch gewonnenen Daten zu komplexen Modellen und weitreichenden theoretischen Ansätzen ausgearbeitet. Die Vorderasiatische Altertumskunde greift diese Modelle, die das „Wie“ der Zusammenhänge zwischen Migration, Wirtschaftsentwicklung, Sozialisation und Akkulturationsprozessen beschreiben, und die Theorien, die Erklärungsversuche (Antworten auf das „Warum“) für Migration und die Abläufe von Sozialisation und Akkulturation bieten, auf und versucht, die Erkenntnisse der rezenten Migrationsforschung auf die Analyse der Migrations-, Sozialisations- und Akkulturationsprozesse anzuwenden, die vor 3500 Jahren im Raum des Nahen Ostens stattgefunden haben. Damit übernimmt die Vorderasiatische Altertumskunde die wissenschaftliche Aufgabe, Reichweite und Gültigkeit der Modelle und Erklärungsansätze der rezenten Migrationsforschung auch in anderen Kontexten zu überprüfen, als denen, in denen sie entwickelt worden sind. Zugleich nimmt sie die Möglichkeit wahr, modell- und theorie-anwendend, -prüfend und -bildend zu wirken. Darin zeigt sich einmal mehr die Relevanz der Vorderasiatischen Altertumskunde für die gesamte sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung. Rekonstruktionsmöglichkeiten von Migration mit den Quellen der Vorderasiatischen Altertumskunde Ein spannendes und vielversprechendes Forschungsprojekt, das zum Thema Migration neue Erkenntnisse erwarten lässt, wird zur Zeit (2009) unter Leitung von Dr. Marion Benz (Freiburger Vorderasiatische Altertumskunde) durchgeführt. Die Analyse der chemischen Zusammensetzung stabiler Isotope in den Zähnen von Menschen kann wichtige Hinweise auf deren Migrations- und Mobilitätsverhalten erbringen. Das Verhältnis von schweren und leichten Blei-, Strontium- und Sauerstoffisotopen hängt von der geologischen Zusammensetzung einer Region ab und gibt deshalb Auskunft darüber, ob eine Person an dem Ort aufgewachsen ist, an dem sie bestattet © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 11 173 M I G R AT I O NS F O R S C H U N G : E I N I D E A L E S F E L D F ÜR I N T E R D I S Z I P L I N Ä R E F O R S C H U N G E N wurde, oder ob sie aus einer anderen Region kam. Da diese stabilen Isotope durch die Ernährung in den Zähnen angelagert werden, sind sie ein Archiv des lokalen „Isotopensignals“. Weist ein Individuum ein fremdes Signal auf, stammte es sicher aus einer anderen Region. Sind die geologischen Verhältnisse dann noch gut bekannt und differenziert, ist es sogar manchmal möglich, die Herkunftsregion einzugrenzen. So könnten nicht nur Migration oder Deportationen im großen Stil - deren sich mancher Herrscher brüstet - überprüft werden. Viel bedeutender für die Rekonstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse sind „Wanderungen“ im kleineren Maßstab. Im Zusammenhang mit anderen anthropologischen Verfahren lässt sich mit der Analyse stabiler Isotope z. B. feststellen, ob soziale Gemeinschaften eher matri- oder patrilokal organisiert waren. Verprobt man zudem Zähne, die während unterschiedlicher Lebensalter eines Menschen gebildet werden, lässt sich mit Glück sogar der Zeitraum feststellen, an dem eine Person ihren Lebensort änderte. Erste Analysen dieser Art werden derzeit für das frühe Neolithikum in einem Kooperationsprojekt der Universitäten Mainz, Amman und Freiburg durchgeführt, um herauszufinden, ob sich das Mobilitätsverhalten der Menschen am Übergang vom Jäger- und Sammlerzum Ackerbauerdasein änderte. Diese Analysen werden in dem von der Landesstiftung Baden-Württemberg geförderten Projekt „Segregation und Konstruktion sozialer Identitäten am Übergang von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaftsweise“ durchgeführt (SIGN - Social Identities of early neolithic Groups in the Near East. http: / / www.vorderasien.uni-freiburg.de/ proj_assist.html (24. 06. 2009). Die Kassiten als MigrantInnen kann die Vorderasiatische Altertumskunde erstmals dort fassen, wo die Aufnahmegesellschaft, die Babylonier zur Zeit der von Hammurabi (ca. 1790-1750 v. Chr.) gegründeten 1. Dynastie von Babylon, sie als „Fremde“ in ihren Texten benennt. Die Akkulturation und Sozialisation der Kassiten in Babylonien wird dann Schritt für Schritt rekonstruierbar mit Hilfe sowohl dieser Texte als auch anhand von Texten, die von den Kassiten selber verfasst wurden (zu den Texten siehe Brinkman 1976). Hinzu treten zudem nicht beschriftete materielle Hinterlassenschaften, die von den bekannten Kulturzeugnissen der Babylonier in vielfacher Hinsicht abweichen. Zu nennen sind etwa die sog. Kudurrus, Grenzsteine mit einem für die babylonische Kultur gänzlich ungewöhnlichen und neuen Bildprogramm, Quellen zur Migration im Alten Orient Abb. 11 . 2 Kudurru (Grenzstein) aus der Regierungszeit des kassitischen Königs Marduk-nadin-ah ∞ h ∞ e (1099-1082 v. Chr.). Material: Schwarzer Serpentin, Höhe: 45 cm, Fundort: in der Nähe von Bagdad, heutiger Aufbewahrungsort: Paris, Nationalbibliothek © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 174 M I G R A N T E N E R O B E R N D A S K ÖN I G T UM in dem statt anthropomorpher Götterdarstellungen Symbole die Bildsprache beherrschen. Derartige Göttersymbole bilden z. B. den oberen Abschluss des Textes, einer Eigentumsurkunde, auf dem Kudurru des Marduk-nadin-ah ∞ h ∞ e (Abb. 11.2). Marduk etwa wurde durch einen Schlangendrachen symbolisiert, der einen Sockel mit einem Spaten trug. Nabû, der Gott der Schreibkunst und der Weisheit, wurde durch das gleiche Fabelwesen, einen Sockel mit einem liegenden Griffel tragend, repräsentiert, und als Symbol für die Gottheiten An und Enlil hatte man einen Sockel mit einer Hörnerkrone gewählt. Mit guten Argumenten hat die Forschung als ProduzentInnen dieser als „neu“ erkannten Artefakte die Kassiten benannt. Die Hintergründe, die zur Migration der Kassiten aus dem heute iranischen Zagrosgebirge in den heutigen Irak geführt haben, liegen dagegen gänzlich im Dunkeln. Die Analyse der ältesten nachweisbaren Migration muss daher auf die Auseinandersetzung mit diesem Aspekt verzichten. Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich aufgrund der Quellenlage auf den zweiten Abschnitt der Migration, auf den Moment also, in dem die MigrantInnen in ihrem neuen Aufenthaltsgebiet ankommen, auf die Schritte, die sie unternehmen, um sich in die neuen kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse einzufügen und auf die Angebote der Aufnahmegesellschaft, der Babylonier, die Akkulturation, Sozialisation und Integration überhaupt erst möglich machten. Erkenntnisse der rezenten Migrationsforschung Die Formen dieser Akkulturations- und Sozialisationsprozesse hat die soziologische Migrationsforschung (u. a. Treibel 2003) an rezenten Migrationsabläufen untersucht, anhand komplexer Modelle vorgestellt und in umfassenden theoretischen Ansätzen erklärt. Die Forschung beleuchtet zum einen die aktiven Bemühungen der MigrantInnen, in den Aufnahmeländern Fuß zu fassen. Zum anderen hat sie sich mit den Optionen zur Akkulturation und Sozialisation in das neue gesellschaftliche und kulturelle Umfeld auseinandergesetzt, die die Aufnahmegesellschaften den MigrantInnen bieten. Die Integration der „Neuen“ ist also zum einen maßgeblich von der Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft abhängig, den MigrantInnen Angebote für die Integration zu bieten, und zum anderen von der Bereitschaft der MigrantInnen, sich in die neuen Verhältnisse einzufügen. Wie also erfolgen Akkulturation und Sozialisation - und warum so, wie beobachtet? Wie und auf welchen Gebieten passen sich MigrantInnen an die Verhältnisse ihrer neuen Lebenswelten vor allem an? Wo und warum werden Vertrautes und die eigenen Traditionen tradiert, modifiziert oder auch abgelegt? Und auf welchen Feldern boten die Aufnahmegesellschaften welche Möglichkeiten der Zugehörigkeit? 11.2.2 Einstiegsbedingungen und Aufstiegsmöglichkeiten für MigrantInnen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 11 175 M I G R AT I O NS F O R S C H U N G : E I N I D E A L E S F E L D F ÜR I N T E R D I S Z I P L I N Ä R E F O R S C H U N G E N 11.2.2.1 11.2.2.2 Akkulturation: die Integration einer Person in ihre kulturelle Umwelt; Traditionen und ungeschriebene Gesetze sind dem Menschen bekannt und sie/ er kann das eigene Verhalten entsprechend ausrichten. Sozialisation: die Integration in die Wertewelt einer Gemeinschaft; Normen und Werte der Gesellschaft, in der ein Mensch lebt, werden verinnerlicht. Akkulturation und Sozialisation nach den Erkenntnissen der empirischen Sozialforschung Migration, so die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften, führt zunächst häufig zur Entwicklung gesonderter Wohngebiete in den Aufnahmegesellschaften (Wohnsegregation). Die MigrantInnen lassen sich dort nieder, wo es ihnen die Aufnahmegesellschaft ermöglicht bzw. die eigenen finanziellen Ressourcen erlauben. Folgen den ersten ZuwanderInnen weitere MigrantInnen aus der Heimat, profitieren diese vom Wissen der ersten Generation und lassen sich in der Regel in deren Nachbarschaft nieder. Über die segregierten Wohngebiete entsteht in der Fremde Vertrautheit und die Illusion von „Heimat“. In dieser ersten Phase der Migration weist eine Aufnahmegesellschaft den Immigrierten in der Regel Beschäftigungen mit niedrigem sozialem Status zu. Mit der Arbeitsaufnahme erhalten die MigrantInnen weitere Einblicke in die Lebensverhältnisse der neuen Heimat und stehen zugleich vor neuen Anforderungen. Die Zugewanderten beginnen, sich die Sprache ihres neuen Lebensumfeldes anzueignen und diese zumindest außerhalb des privaten Wohn- und Lebensbereiches auch anzuwenden. Die MigrantInnen bleiben - was bleibt von ihrem Status als die „Anderen“? Bleiben die MigrantInnen im neuen Aufenthaltsland und gründen Familien bzw. holen ihre Familien nach, werden nach der ersten kulturellen Anpassung des Spracherwerbs die ursprünglich „eigene“ Kultur und Traditionen weiter modifiziert. Spätestens wenn die Kinder der MigrantInnen außerhalb des familiären Umfeldes regelmäßig mit VertreterInnen der Aufnahmegesellschaft zusammentreffen, in Kindergärten, Schulen und Ausbildungsstätten, setzen Modifikationen des traditionellen Werte- und Normensystems der MigrantInnen ein. Weitere Schritte der Akkulturation und der Sozialisation, d.h. der sozialen Integration der „Neuen“ oder „Anderen“, erfolgen dann, wenn segregierte Wohngebiete aufgegeben werden und wenn die MigrantInnen Zugang zu den Institutionen der Aufnahmegesellschaft erhalten und dort u. a. auch prestigeträchtige berufliche Positionen erlangen können. Ungeachtet aller Integrationsmöglichkeiten und -bemühungen von beiden Seiten ist jedoch nicht zu übersehen, dass sich in der Regel ein weniger intensives Miteinander zwischen „Alteingesessenen“ und MigrantInnen entwickelt, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 176 M I G R A N T E N E R O B E R N D A S K ÖN I G T UM Identitätsbildung im Migrationsprozess 11.3 politischer Kontext der Kassitenmigration als dies jeweils innerhalb der beiden Gruppen der Fall ist. Eher kommt es zu einem Nebeneinander mit der Anpassung auf bestimmten Feldern. Die Aufnahmegesellschaft und die MigrantInnen nehmen einander häufig auch nach langer Zeit des Zusammenlebens noch als „anders“ wahr. In der Regel ist also die Akkulturation in verschiedenen Bereichen des Miteinanders unterschiedlich stark. Die Beibehaltung eigener kultureller Werte, Normen und Traditionen über mehrere Generationen ist bei allen MigrantInnen zu beobachten und vergleichbar. In der Regel wird die eigene Sprache im familiären Umfeld weiter gesprochen. Familienstrukturen werden beibehalten, die Religionszugehörigkeit tradiert und in der Namensgebung die Traditionen der ehemaligen Heimat, ihrer Kultur und Religion sichtbar gemacht. Migration führt auf sozialem und kulturellem Gebiet aber zu weit mehr als lediglich dem „Anpassen“ oder „Bewahren“. Die Schaffung neuer kultureller Ausdrucksformen, die aus der bewussten und nicht zu übersehenden Zusammenführung des „Eigenen“ mit dem „Anderen“ entstehen, wurde von der rezenten Migrations- und Kulturforschung mit zunehmendem Interesse verzeichnet. Das Wissen der Vorderasiatischen Altertumskunde erlaubt es, diesen Aspekt der Migration als Konstante in der Kulturentwicklung zu bezeichnen, die inzwischen über eine fast viertausendjährige Geschichte verfügt. Die Kassiten: Migranten avancieren zur Herrscherelite Im 18. Jh. v. Chr. (der sog. altbabylonischen Zeit) regierte die von Hammurabi gegründete erste Dynastie von Babylon über Mittel- und Südbabylonien, im Norden lenkten zu der Zeit die Assyrer die politischen Geschicke der Region. Zur Mitte des 2. Jt. v. Chr. änderten sich die politischen Verhältnisse in Mesopotamien grundlegend und nachhaltig. Die 1. Dynastie von Babylon verlor nach einem Feldzug der Hethiter um 1600 v. Chr., der diese kurzfristig bis nach Babylon brachte, ihren Einfluss in Mittelbabylonien. Das babylonische Reich zerfiel. Wenn nach diesem politischen Niedergang der Großmacht Babylon die Königsinschriften der Kassiten als die ersten schriftliche Zeugnisse der neuen Zeit die Konsolidierung der Verhältnisse anzeigen, wird ersichtlich, dass der König von Babylon jetzt aus der Gruppe dieser „Neuen“ stammte, die 150 Jahre zuvor als Migranten nach Babylonien eingewandert waren. Um 1600 v. Chr. gründete der Kassite Agum (II.), der erste kassitische König von Babylon, die zweite Dynastie von Babylon. Erstmals in der Geschichte lässt sich hier nachweisen, dass ein Migrant das höchste politische Amt im Aufnahmeland seiner Vorfahren übernommen hatte. Und erstmals in der Geschichte Babylons, einer der machtvollsten und schillerndsten Metropolen der Welt, wurde diese Stadt von einem Mann regiert, dessen Vorfahren aus dem Zagrosgebirge eingewanderte Landarbeiter waren. (Dass ein „Außenseiter“, der von seiner © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 11 177 D I E K A S SI T E N : M I G R A N T E N AVA N C I E R E N Z U R H E R R S C H E R E L I T E Etappen der kassitischen Erfolgsgeschichte die Herrschaft der Migranten - eine Zeit des Friedens Herkunft her nicht zum klassischen Establishment der Gesellschaft gehört, das höchste Amt im Land erwirbt, scheint sich in der Geschichte von Zeit zu Zeit zu wiederholen - siehe das Ergebnis der letzten US-amerikanischen Präsidentenwahl.) Die Geschichte der Kassiten in Babylonien lässt sich in mehrere Phasen unterteilen. Die Zeit der Immigration, in der die ersten Nachrichten über die Kassiten in babylonischen Texten auftreten, beginnt ca. 1750 v. Chr. In der Folge etablierten sich die ehemaligen Migranten in der babylonischen Gesellschaft und deren Werte- und Prestigesystem. Über die Migration der Kassiten und ihren Aufstieg zur Elite informieren die Texte der babylonischen Regenten (zur laufenden Forschung an diesen Texten und ihren Aussagen hinsichtlich der Geschichte der kassitischen Migration siehe den grundlegenden Artikel von Walter Sommerfeld in Sasson 1995: 917 ff.). Sie geben Auskunft über die Kassiten als in den Raum Babylonien eingewanderten Fremden, die dort als LandarbeiterInnen tätig waren, und dokumentieren den Aufstieg der Migranten in prestigereichere Positionen. In der dritten Phase (ab ca. 1600 v. Chr. - ca. 1150 v. Chr.) avancierten die ehemaligen Migranten zur herrschenden Elite des Landes. Mit ihrem Aufstieg zur Macht wechselte auch die Sicht, aus der über die „Migranten“ berichtet wurde. Nachdem die Kassiten selbst die Herrschaft übernommen hatten, beleuchten ihre Texte das Leben der Kassiten in Babylonien aus der eigenen Sicht. Um 1150 v. Chr. endete die Vorherrschaft der Kassiten in Babylonien. Mit den ebenfalls aus dem Raum des heutigen Iran stammenden Elamern übernahm eine neue politische Gruppierung für kurze Zeit die Regentschaft. 400 Jahre lang regierten die „Migranten“ Babylonien. Und anders als während der ersten Dynastie war diese Zeit geprägt durch Frieden und Wohlstand. Die Texte, die Einblicke in die Herrschaftszeit der Kassiten in Babylonien erlauben, dokumentieren das Bestreben der neuen Machthaber nach umfassender Integration in die babylonische Gesellschaft und Kultur. In allen öffentlichen Belangen präsentierten sich die Kassiten als Repräsentanten der babylonischen Tradition, so etwa mit einer Weihinschrift des Königs Kurigalzu (um 1345-1324 v. Chr.), König in Babylon, die in Aufbau und Inhalt von einer babylonischen Weihinschrift nicht zu unterscheiden ist und davon berichtet, dass Kurigalzu dem Gott Enlil einen Gegenstand weiht. Enlil, dem Herrn der Länder, seinem Herrn, hat Kurigalzu, der rechte Hirte, der ihn fürchtet, diesen Gegenstand geweiht. (Übersetzung nach Stein, 2000: 133) In der privaten Sphäre blieben die Kassiten dagegen offenkundig den Traditionen der Heimat treu, wo diese maßgeblich zur Identitätswahrung beitrugen - vor allem durch Nennung der traditionellen kassitischen Gottheiten, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 178 M I G R A N T E N E R O B E R N D A S K ÖN I G T UM 11.3.1 was war „anders“ bei den MigrantInnen? auf die sie sich berufen und auf die sie ihre Herkunft zurückführen, wie eine Inschrift des Agum Kakrime, des zweiten kassitischen Königs in Babylon, zeigt, der zwischen 1530 und 1450 v. Chr. regierte. Agum Kakrimen, der Sohn des Uršigurumaš, reiner Same des Šuqamuna, ernannt von Anu und Enlil, Ea und Marduk, Sin und Šamaš, der starke Mann der Ištar, der Kriegerin, bin ich. (Übersetzung nach Stein 2000: 151) Unter den genannten Göttern ist als Stammvater der Dynastie der kassitische (Kriegs-)Gott Šuqamuna genannt. Die politischen Ämter werden dagegen von den traditionellen Gottheiten Babyloniens übergeben! Erste Nachrichten über die Kassiten Aus der Regierungszeit des Samsu-Iluna (1749-1712 v. Chr., Sohn des Dynastiegründers Hammurabi) liegen erste schriftliche Informationen über die Kassiten vor. Die Wirtschaftstexte der Verwaltung von Babylon erwähnen kassitische Landarbeiter, die aufgrund ihrer Personennamen auffallen, also andere Namen als die babylonische Bevölkerung tragen. Frauen und Männer waren in der Landwirtschaft tätig, lebten in segregierten Wohngebieten am Rand der Stadt Sippar und scheinen zu diesem Zeitpunkt nicht in die babylonische Gesellschaft integriert gewesen zu sein. Nicht nur die Namen der Kassiten waren „anders“. Auch die soziale Organisation unterschied sich von derjenigen der Babylonier. Die Kassiten waren in einer patrilinearen Stammesund/ oder Clanstruktur organisiert, lebten also in Großfamilien oder größeren Verwandtschaftsverbänden zusammen. Ihre Zugehörigkeit zu einer entsprechenden gemeinschaftlichen Einheit drückte sich durch die Bezeichnung „Angehörige/ r des Hauses des Herrn X“ aus. Stamm: eine Gruppe von Menschen, die miteinander verwandt sind und sich als Nachkommen eines gemeinsamen Ahnen verstehen. Clan: eine Gruppe von Menschen, die miteinander verwandt sind. Zur weiteren Diskussion der Begriffe siehe Haller 2005: 197 und 219. Etwa 100 Jahre nach ihrer ersten Erwähnung als Landarbeiterinnen und Landarbeiter werden Kassiten erstmals als höhere Beamte in Verwaltungstexten genannt. Diese prestigereichen Positionen nahmen vor allem Personen ein, die sich durch Spezialkenntnisse in der Pferdezucht und im Wagenbau hervorgetan hatten. Erstmals zu dieser Zeit wird überdies berichtet, das Kassiten in Babylonien das Recht zukam, Land zu erwerben. In einem wirtschaftlich © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 11 179 D I E K A S SI T E N : M I G R A N T E N AVA N C I E R E N Z U R H E R R S C H E R E L I T E prosperierenden Babylonien hatten die Migrantinnen und Migranten also offenkundig nicht nur Fuß gefasst. Einigen männlichen Migranten war es zudem gelungen, durch ihr Wissen und ihre spezifischen Fähigkeiten zu prestigereiche Positionen aufzusteigen. Um das Jahr 1600 v. Chr. änderte sich die wirtschaftliche und politische Lage des Aufnahmelandes dramatisch. Wie oben erwähnt, zerfiel das Babylonische Reich, die Herrschaft der ersten Dynastie von Babylon zerbrach, und die etablierte babylonische Elite verlor ihre Macht. Eine schwierige Zeit für alle Bewohnerinnen und Bewohner, aus der die ehemaligen Migrantinnen und Migranten als Gewinner hervorgingen. Nicht der Verlust des Erreichten, sondern die Krönung der Akkulturation und Sozialisation der Kassiten sollte das Ergebnis dieses Zusammenbruchs der „alten Ordnung“ in Babylonien für die ehemaligen Landarbeiter werden. Als es nach einer Zeit machtpolitischer Turbulenzen zu einer Konsolidierung der Verhältnisse in Babylonien gekommen war, übernahm erstmals in der Geschichte ein Einwanderer das Amt des Königs. Der Akkulturationsprozess der Kassiten Zu Beginn ihres Aufenthaltes in Babylonien arbeiteten die Kassiten in Tätigkeitsfeldern, die eine nur geringe Qualifikation erforderten und mit entsprechend geringem sozialem Status verbunden waren. Immigriert und als Landarbeiterinnen und Landarbeiter registriert waren Frauen und Männer. Die ersten Migrantinnen und Migranten lebten segregiert, in Lagern oder Wohngebieten, blieben also zunächst unter sich. Es ist nicht zu klären, ob diese Segregation von den Babyloniern erzwungen oder von den Kassiten erwünscht war bzw. sich „ergeben“ hatte. Die Kassiten behielten ihre traditionellen Namen bei. Zur Zeit der Migration waren die Kassiten offenbar in Clan- oder Stammesstrukturen organisiert. Diese Form des sozialen Miteinanders gaben sie auch in der Fremde nicht auf. Vermutlich aufgrund ihres Spezialwissens in der Pferdezucht und im Wagenbau erhielten sie Zugang zu hohen Beamtenposten in der Militärverwaltung. Sie nahmen prestigereiche Machtpositionen ein. Damit war ein erster Schritt auf dem Weg in die sog. „strukturelle Assimilation“ erfolgt: sie erhielten die Möglichkeit (und nahmen diese auch wahr), sich in das Statussystem der Aufnahmegesellschaft zu integrieren, hier über die Ausübung prestigereicher Funktionen. Die Migranten waren imstande, komplexe Aufgaben zu übernehmen, und die Aufnahmegesellschaft war bereit, die Migranten in ihr Statussystem aufzunehmen. Bei der strukturellen Assimilation handelt es sich um eine intensivierte Form der sozialen Assimilation, die den Kassiten gelungen war und die sich auch darin ausdrückt, dass diese nun auch das Recht auf Landbesitz erhalten hatten. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 180 M I G R A N T E N E R O B E R N D A S K ÖN I G T UM 11.3.2 in welchen Bereichen behalten MigrantInnen ihre Traditionen bei? Repräsentation der Migranten im öffentlichen Raum Akkulturation und Sozialisation gipfelten dann in der Ausübung des politisch machtvollsten Amtes in Babylon, dem Königtum, mit dem die „Migranten“ die Kontrolle des gesamten politischen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Geschehens übernahmen. Mit diesem Schritt ist die Etappe abgeschlossen, die die Migrationsforschung mit dem Begriff der strukturellen „Assimilation“ umschreibt. Die Identität(en) der Migrantenkönige Nach ihrer Herrschaftsübernahme in Babylonien mussten sich die Kassiten in einer Form präsentieren und repräsentieren, die das Neue als das Gute darstellte, und sich so die Loyalität der machtrelevanten Kreise sichern. Die Texte der Kassiten belegen, dass diese sich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens im Einklang mit den Traditionen der babylonischen Kultur zeigten und den Status des „Fremden“ abzulegen vermochten. Sie respektierten die babylonische Religion und bedienten sich im öffentlichen Agieren der babylonischen Sprache. Mit umfangreichen Bau- und Restaurierungsprogrammen an den Tempeln Babyloniens bezeugten sie unübersehbar ihr Bemühen um die Pflege der lokalen Traditionen. Daneben stand die behutsame Modifikation des Gewohnten: Umbauten und Neubauten inmitten der tradierten Stadtbilder prägten die Bauaktivitäten der Kassiten im Kultzentrum Südmesopotamiens, in der Stadt Ur. Erwähnenswert ist besonders die Restaurierung des É-dublalmah ∞ („Haus mit der erhöhten Türschwelle“) durch den kassitischen König Kurigalzu (1345-1324 v. Chr.), eines Torbaus, an dem der König Recht sprach. Zumindest im Bereich des öffentlich-gesellschaftlichen Lebens ist eine umfassende strukturelle und soziale Assimilation der Kassiten zu erkennen: die identikative Assimilation, die zur intensivierten Angleichung der Migrantinnen und Migranten an die soziale Ordnung und die Wertewelt der Aufnahmegesellschaft führt, setzte ein. Die Texte aus der Zeit der kassitischen Vorherrschaft dokumentieren aber nicht nur das öffentliche Agieren der Kassiten, sondern auch ihren Umgang mit den eigenen Traditionen im familiär-privaten Kontext. Dort hatte die Assimilation in deutlich geringerem Umfang stattgefunden. Die familiären Ordnungsformen wurden gemäß der eigenen Tradition weitergeführt, die Clanbzw. Stammesstrukturen auch hunderte von Jahren nach dem Beginn der Migration nicht aufgegeben. Beibehalten wurden auch die kassitischen Personennamen - und dies nicht nur im privaten Bereich: auch die Könige trugen kassitische Namen. Bei allen öffentlichen und politischen Handlungen beriefen sich die kassitischen Machthaber auf die babylonischen Gottheiten, respektierten diese als für die Belange der gesamten Gemeinschaft zuständig und wahrten so die Traditionen der babylonischen Religion. Im Privaten allerdings huldigten © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 11 181 M I G R AT I O N S E I T 4.000 J A H R E N 11.4 Kontinuität und Wandel nach der Machtübernahme der MigrantInnen auch die kassitischen Herrscher den kassitischen Göttern, die den Schutz des Königs garantierten und so Eingang in den öffentlich-politischen Bereich in Babylonien fanden. Ein Neben- und Miteinander der Religionen war somit zur Zeit der kassitischen Herrschaft in Babylonien offenkundig möglich. Während in offiziellen politischen Belangen die babylonischen Gottheiten angerufen wurden, sorgten für den persönlichen Schutz der Könige die kassitischen Götter, unter diesen am wichtigsten Šuqamuna und Šumaliya (siehe auch hier zu weiteren Details Walter Sommerfelds Studie zu den Kassiten, 1995: 928). Migration seit 4.000 Jahren - Sozialforschung und Vorderasiatische Altertumskunde im Vergleich Die Akkulturation und Assimilation der Kassiten spiegelt klassisch die Etappen wider, die die soziologische Forschung für die rezenten Migrationsprozesse ermittelt hat. Im Privat-Familiären erwiesen und erweisen sich die kulturellen und sozialen Felder als „konservativ“, die für die Identitätsstiftung und -wahrung von Bedeutung sind. Auch die Kassiten bewahrten die Familienstrukturen, die Personennamen und die Religion gemäß den Traditionen, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht hatten. Der Grund liegt auf der Hand: das „Selbstverständliche“, das den Zusammenhalt in der Fremde stärkte, wurde von denen, die ihre Heimat verlassen und sich in eine zunächst „fremde“ Welt begeben hatten, bewahrt. Zugleich ergriffen die Kassiten ihre Chance auf kulturelle und soziale Assimilation dort, wo ihnen die Aufnahmegesellschaft diese zubilligte. Offenkundig verfügten die Kassiten über ein ausgeprägtes Wissen in der Pferdezucht und im Wagenbau. Beide Bereiche waren kriegsrelevant; wer über gute Pferde und wendige Kriegswagen verfügte, hatte maßgebliche Vorteile im Kriegsgeschehen. Das dürften auch die babylonischen Könige erkannt haben, die sich mit der Aufnahme der Kassiten in hohe Beamtenstellen diese Kenntnisse gesichert hatten. Die Herrschaftsübernahme durch die Kassiten hätte in der babylonischen Gesellschaft einen tiefgreifenden Wandel der Traditionen, Sitten und Gebräuche und der Normen und Werte nach sich ziehen können. Das war aber offensichtlich nicht der Fall. Im öffentlichen Handeln und in der politischen Repräsentation der Gemeinschaft hatten sich die Kassiten für einen anderen Weg entschieden, die weitreichende Übernahme der vorgefundenen babylonischen Gegebenheiten, verbunden mit wenigen Modifikationen. Diese behutsame Abwandlung vorgefundener Traditionen im öffentlichen und zugleich die Bewahrung des „Eigenen, Kassitischen“ im privaten Bereich bestätigen die Thesen der Akkulturationsforschung, wonach Migration stets sowohl Angleichung und Modifikation ermöglicht wie auch zur Entstehung neuer kultureller und sozialer Ausdrucksweisen führt und führte. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 182 M I G R A N T E N E R O B E R N D A S K ÖN I G T UM 11.5 die Migration der Kassiten - ein Erfolg für alle Beteiligten? Welchen Wandel die Migration in der Heimat der Kassiten nach sich gezogen hatte, entzieht sich unserer Kenntnis. Fazit: Zwei Sichtweisen auf ein und denselben Sachverhalt War die erste historisch nachweisbare Migration der Geschichte gleichermaßen eine Erfolgsstory für die Migrantinnen und Migranten wie für die Aufnahmegesellschaft? Man kann die Texte entsprechend lesen. Obwohl Hintergrund und Auslöser der kassitischen Migration nicht bekannt sind, darf vorausgesetzt werden, dass sie durch eine für die Migrantinnen und Migranten problematische Lage ausgelöst wurde. In der Regel liegen der Migration wirtschaftliche Probleme zugrunde, häufig spielen auch religiöse Motive eine Rolle. Im Ergebnis, so eine positive Sicht auf die Ereignisse, dürften sowohl die Eingewanderten als auch die Aufnahmegesellschaft von der Migration profitiert haben. Die babylonische Gesellschaft hatte es den Kassiten ermöglicht, sich über ihr Spezialwissen in das gesellschaftliche System zu integrieren, ohne dabei maßgebliche Facetten der eigenen Kultur aufgeben zu müssen. Die Babylonier gewannen mit der Migration zunächst die offenkundig benötigten Landarbeiter und profitierten dann im Verlauf der Zeit vom kriegsrelevanten Wissen der Migrantinnen und Migranten. Deren Können und Wissen scheint dem Bedarf der babylonischen Wirtschaft und Politik entgegen gekommen zu sein, und die Integration der Migrantinnen und Migranten wurde wohl nicht als Bedrohung für die gesellschaftliche und machtpolitische Entwicklung empfunden. In der Bewältigung der schweren politischen Krise, in die Babylonien um 1600 v. Chr. geraten war, scheinen die ehemaligen Migrantinnen und Migranten Maßgebliches zur Wiederherstellung der Ordnung im Land geleistet zu haben. Sie übernahmen die politischen Geschäfte, drückten der babylonischen Gesellschaft und Kultur dabei aber nicht den „kassitischen Stempel“ auf, sondern modifizierten und tradierten das Vorgefundene in umsichtiger Weise. Dass dies zur Sicherung des Guten Lebens der Gemeinschaft geführt hatte, drückte sich u. a. in dem langandauernden Frieden aus, der zum Kennzeichen der 400-jährigen Herrschaft der ehemaligen Migrantinnen und Migranten in Babylonien wurde. Aber die Ereignisse lassen sich auch anders interpretieren: Die Kassiten sahen in Babylonien Optionen zur Verbesserung der eigenen wirtschaftlichen Lage. Sie emigrierten, passten sich zunächst an die lokalen Gegebenheiten in Babylonien an und erkannten ihre Chance, durch kriegs- und herrschaftsrelevantes Wissen den Aufstieg in machtvolle Positionen zu erringen. Sie ergriffen diese Chance, übernahmen einflussreiche Positionen, bauten ihre neue gesellschaftliche Stellung aus und nutzten sie in der Zeit der größten politischen Krise des Aufnahmelandes dazu, sich der Herrschaft zu bemächtigen und das © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 11 183 W E I T E R F ÜH R E N D E L I T E R AT U R 11.6 Königsamt an sich zu reißen. Noch ist gänzlich ungeklärt, welche Rolle die Migranten bei der Schwächung der babylonischen Elite und der Zerstörung der traditionellen Ordnung von Babylon einnahmen. Sichtbar ist ihr sozialer und machtpolitischer Aufstieg und unübersehbar war sein Ergebnis: die Übernahme des Königtums von Babylon. Dass sie nach der Übernahme der Herrschaft demonstrativ die babylonischen religiösen Traditionen weiterführten, zeigt ihr politisch stringentes Kalkül und ihre kluge machtpolitische Strategie, sich und die neue Ordnung im Land mit den rechten Mitteln als die rechtmäßige zu erklären! Dass die Kassiten als neue Machthaber in Babylon nicht uneingeschränkt akzeptiert waren und dass die traditionellen Eliten, die an Macht und Einfluss verloren hatten, die alte Ordnung wiederherzustellen suchten, ist nicht auszuschließen. Zu erklären bleibt, warum die Kassiten im Laufe der Herrschaft des Kurigalzu I. (um 1400 v. Chr.) Babylon, das traditionelle Kult- und Machtzentrum Babyloniens, verließen und ca. 50 km nördlich von Babylon die neue Residenz Dur-Kurigalzu gründeten (nachzulesen im Detail bei Kuhrt, 1995). Das Verlassen eines Kult- und damit Machtzentrums kann als Zeichen der Schwäche wie der Stärke gelesen und die Neugründung einer Hauptstadt als Flucht der neuen Macht vor der Macht der alten Eliten oder als Zeichen der Emanzipation interpretiert werden. Schon die Gründung der Stadt Akkad durch den Rebellen Sargon hatte dieselbe Frage aufgeworfen. Zur Beantwortung der Frage, inwieweit die Erinnerung an die kassitische Herrschaft als einer langen Friedensperiode der historischen Realität entsprach, sei auf die Notwendigkeit und Wirkungsmacht einer positiv konnotierten politischen Propaganda gerade vor dem Hintergrund der politischen Krisensituation, in der die Kassiten das Königsamt übernommen hatten, verwiesen. Zwei Sichten einer Geschichte - welche „stimmt“? Für die Ausführungen zur Migration der Kassiten sind hier nur die textlichen Belege ausgewertet worden, die über die Ankunft und die Integration der Kassiten in die Welt der Babylonier informieren. Die ausführliche Auswertung der materiellen Hinterlassenschaften der Kassiten, die u. a. von der Frage ausgeht, inwieweit die kassitische Kultur als Ergebnis des Migrationsprozesse zu sehen ist, steht noch aus. Weiterführende Literatur Brettell. Caroline, B. (Hg.). 2000. Migration theory: talking across disciplines. New York. Routledge Brinkman, John A. 1976. Materials and Studies for Kassite History, Band 1; Chicago. Oriental Institute Edition Le Monde diplomatique. 2008. Immer der Arbeit nach. Migration im Zeitalter der Globalisierung. No. 4/ Berlin © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 184 M I G R A N T E N E R O B E R N D A S K ÖN I G T UM Haller, Dieter. 2005. Dtv-Atlas Ethnologie. München. Deutscher Taschenbuchverlag Heinz, Marlies. 1995. Migration und Assimilation im 2. Jt. v. Chr.: Die Kassiten, in: Bartl, Karin; Bernbeck, Reinhard; Heinz, Marlies, Zwischen Euphrat und Indus. Aktuelle Forschungsprobleme in der Vorderasiatischen Archäologie. Hildesheim. Olms, S. 165-175 Kuhrt, Amelie. 2002. The ancient Near East: c. 3000-330 BC. London. Routledge (repr.) Liebig, Sabine (Hg.); Treibel, Annette (Mitarb.). 2007. Migration und Weltgeschichte. Schwalbach/ Ts. Wochenschau-Verlag Sommerfeld, Wolfgang. 1995. The Kassites of ancient Mesopotamia: origins, politics, and culture. in: Jack M. Sasson (Hg.). Civilizations of the ancient Near East, Bd. 2; New York. Scribner, S. 917-930 Stein, Peter. 2000. Die mittel- und neubabylonischen Königsinschriften bis zum Ende der Assyrerherrschaft. Wiesbaden. Harrasowitz Treibel, Annette. 2003. Migration in modernen Gesellschaften: soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht. 3. Aufl. Weinheim; München. Juventa-Verlag © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 185 Europa lernt Schreiben und Lesen: Das Wissen bringen die Phöniker (von Wolfgang Vollmer und Marlies Heinz) Inhalt 12.1 Die Entwicklung einer Alternative zur Silbenschrift in Ugarit (Mitte 2. Jt. v. Chr. ) 186 12.1.1 Ugarit: Hafenstadt, Umschlagplatz und Treffpunkt der Kulturen 187 12.1.2 Das erste Alphabet der Welt: in bewährter Form in Ton geschrieben 187 12.1.3 Warum entstand das Alphabet gerade in Ugarit? 188 12.2 Die Phöniker und ihr Anteil an der Alphabetisierung Europas 189 12.2.1 Das phönikische Wirtschaftssystem 190 12.2.2 Von der lokalen Handelsmacht zum „Global Player“: phönikische Expansion nach Westen und der Aufbau einer „weltumspannenden“ Infrastruktur 191 12.2.3 Wissensexpansion - der friedliche Weg zum globalen Miteinander 193 12.3 Fazit: Der Nahe Osten und Europa - eine glückliche Begegnung mit unübersehbaren Folgen 195 12.4 Weiterführende Literatur 196 Einheit 12 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 186 E U R O PA L E R N T S C H R E I B E N U N D L E S E N : D A S W IS S E N B R I N G E N D I E P HÖN I K E R Die Entwicklung einer Alternative zur Silbenschrift in Ugarit (Mitte 2. Jt. v. Chr. ) Schreiben (Gedanken und Ideen sichtbar aufzeichnen) und lesen (die geschriebenen Zeichen im Zusammenhang erfassen und ihren Sinn entschlüsseln) konnte man im Nahen Osten schon vor 5.000 Jahren. Zur Erinnerung: Im Kontext der Entwicklung der Stadt Uruk zur ersten Großstadt der Geschichte mit geschätzten 50.000 Einwohnerinnen und Einwohnern und der gleichzeitig einsetzenden ersten Globalisierung hatte sich in Südmesopotamien im 4. Jt. v. Chr. mit der Keilschrift das erste Schriftsystem der Geschichte herausgebildet (s. Kap. 4.7). Mit der Entstehung von Schriftlichkeit entstanden neue Speichermöglichkeiten für Wissen - und damit änderte sich zugleich die Art und Menge des Wissens, das nun schriftlich fixiert als Teil des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft tradiert und erinnert werden konnte. Neue Formen der Wissensaneignung und der Zugänglichkeit von Wissen entwickelten sich, und erstmals war die Präsenz der Kommunizierenden, des Senders wie des Empfängers einer Botschaft, nicht mehr unabdingbare Voraussetzung der Kommunikation. 1.500 Jahre lang dominierte im Nahen Osten zwischen Mittelmeer und Persischem Golf die Verwendung der Keilschrift. Und trotz der Komplexität des Systems - Hunderte von Zeichen waren zu erlernen, bevor man diese sinnvoll zum Schreiben nutzen und das Geschriebene lesen konnte - scheint das System Keilschrift für keine der gesprochenen Sprachen in diesem Gebiet ein Hindernis auf dem Weg zur schriftlichen Aufzeichnung gebildet zu haben. In der Mitte des 2. Jt. v. Chr. endete die Dominanz der Silbenschrift als maßgebliches System aller textlichen Aufzeichnungen, und mit der Alphabetschrift von Ugarit wurde ein neues und, wie sich zeigen sollte, ausbaufähiges und äußerst flexibles System zur Erfassung des gesprochenen Wortes eingeführt. Das Zentrum dieser neuen Entwicklung lag diesmal nicht in Mesopotamien, sondern in der Levante. Konkret richtet sich unsere Aufmerksamkeit zunächst auf die an der heutigen syrischen Mittelmeerküste gelegene Hafenstadt Ugarit (s. Abb. 12.1). 12.1 Schriftentwicklung - Stadtentwicklung statt Silben jetzt das Alphabet Abb. 12 . 1 Die Lage von Ugarit © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 12 187 D I E E N T W I C K L U N G E I N E R A LT E R N AT I V E Z U R S I L B E N S C H R I F T I N U G A R I T 12.1.1 12.1.2 Zeichensysteme und Bedeutungsträger Ugarit: Hafenstadt, Umschlagplatz und Treffpunkt der Kulturen Im 2. Jt. v. Chr. war Ugarit eine florierende Handelsstadt, eingebunden in globale Wirtschaftskontakte, die sich von Anatolien bis nach Mesopotamien und entlang der Mittelmeerküste bis nach Ägypten erstreckten. In Ugarit traf sich das weite Spektrum der Kulturen des Vorderen Orients. Man war vertraut mit den Sprachen „der Welt“ und den unterschiedlichen Schriftsystemen, die neben der Keilschrift zur Aufzeichnung von wirtschaftlichen Transaktionen, Verwaltungsakten und Ereignissen des religiösen und politischen Lebens zum Einsatz kamen, darunter die ägyptische ebenso wie die luwische Hieroglyphenschrift. In diesem Schmelztiegel der Kulturen, zugleich ein Zentrum des globalen Wissens, entwickelte sich um 1500 v. Chr. das erste Alphabet der Welt. Debatte eröffnet: Auch die früheste Form der Keilschrift tritt erstmals im Kontext wirtschaftlichen Prosperierens und globaler wirtschaftlicher Aktionen auf - waren die Wirtschaft und ihre komplexen Erfordernisse an Kommunikation und Erinnerung ein Motor der „intellektuellen“ Entwicklung? - Siehe dazu u. a. Niels Weidtmanns Ausführungen zur Schriftlosigkeit im Internet. Das erste Alphabet der Welt: in bewährter Form in Ton geschrieben Das Keilschriftsystem, mit dem u. a. die sumerische und die akkadische Sprache geschrieben worden waren, nutzte sowohl Logogramme/ Wortzeichen (d. h. ein Zeichen steht für ein ganzes Wort) als auch Syllabogramme/ Silbenzeichen (ein Zeichen steht für eine Silbe). Zudem gab es Determinative, d. h. Wortzeichen mit semantischem Wert, die einem Wort vorangestellt, aber nicht gesprochen werden und z. B. die Kategorie anzeigen, zu der das nachfolgende Wort gehört. Worte, Silben und Determinative sind mit Bedeutung versehen, entsprechende Zeichen also „semantisch“ bestimmt. Unterschiedliche Möglichkeiten der Lesung von Keilschriftzeichen im Akkadischen am Beispiel des Zeichens AN Als Logogramm: AN = Anu (Himmelsgott) AN = šamû (Himmel) DINGIR = ilu (Gott) Als Syllabogramm (phonetisch): an-nu-um = annûm (dieser) Als Determinativ (zur Bezeichnung von Gottesnamen): d UTU = Šamaš (Sonnengott) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 188 E U R O PA L E R N T S C H R E I B E N U N D L E S E N : D A S W IS S E N B R I N G E N D I E P HÖN I K E R Im Gegensatz dazu sind Alphabetsysteme „offen“, d. h., die Buchstaben des Alphabets geben einzelne Laute wieder, die aber alleine noch keine semantische Bedeutung haben. Die Buchstaben sind also einzeln nicht bedeutungsbesetzt. Alphabetsysteme folgen somit einer gänzlich anderen Logik als das System der Logogramme, Silbenzeichen und Determinative. Jede mündliche Äußerung ist im Alphabetsystem „semantisch frei“ aufzuzeichnen. Das ugaritische Alphabet (s. Abb. 12.2) bestand aus 22 bzw. 30 Buchstaben (kurzes/ langes Alphabet). Mit dem Aufkommen dieses Alphabets im 14. Jh. v. Chr. konnten Begriffe mit Hilfe einzelner Buchstaben wiedergegeben werden. Jedes Wort wurde nun über seine einzelnen Lautwerte erfasst und „lautgerecht“ aufgeschrieben. Warum entstand das Alphabet gerade in Ugarit? Handelsplätze sind Treffpunkte der Kulturen, an denen Händler aus verschiedenen Gesellschaften zusammenkommen. Primärer Anlass der Begegnungen sind Handel und wirtschaftliche Transaktionen. Die Verwaltung, konkreter, die Schreiber, denen die Verwaltung der wirtschaftlichen Aktivitäten in Ugarit oblag, mussten eine Vielzahl von Sprachen aufzeichnen, darunter u. a. Ugaritisch, Hurritisch, Akkadisch, und mehrere Schriftsysteme bewältigen, so die Keilschrift und das ugaritische Alphabet. Die kulturelle Vielfalt zeigte sich hier vermutlich bald auch in einer Vielfalt an Verwaltungsproblemen. Die Schreiberzunft von Ugarit musste Enormes leisten, um alle wirtschaftlichen Vorgänge korrekt zu dokumentieren. Funktionsweise des Alphabets Abb. 12 . 2 Alphabettäfelchen aus Ugarit. Das ugaritische Alphabet wurde in Keilschrift geschrieben. In ihrer Struktur entspricht die ugaritische Schrift einer Konsonantenschrift 12.1.3 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 12 189 D I E P HÖN I K E R U N D I H R A N T E I L A N D E R A L P H A B E T I SI E R U N G E U R O PA S Komplexität erfordert Vereinfachung veränderte Politik, Tradierung von kulturellem Wissen 12.2 Vor diesem Hintergrund der kulturellen Komplexität scheint sich ein Bedarf nach „Vereinfachung“ gebildet zu haben, nach einem Verfahren, das die vielfältigen Systeme kompatibel machte. Die sog. „Vereinfachung“ des Systems war, so die These hier, de facto das Ergebnis eines enorm komplexen, konstruktiven und innovativen Wandels oder sogar Bruchs im Denken der Zeit, der durch die Komplexität des Bekannten nötig geworden war. Eine intellektuelle Revolution hatte sich ereignet und eine neue Form der Logik entwickelt, die in einem neuen Schreibsystem sichtbar geworden war. War dieser Wandel von semantisch besetzten Worten, Silben und Determinativen hin zum Ausdruck in „semantisch freien“ Buchstaben zugleich ein erster Schritt in Richtung hin zum abstrakten Denken? Warum es zum Wandel oder Bruch gekommen sein könnte, wurde versucht zu erklären. Wie sich der Wandel konkret vollzog, ist möglicherweise mit Ansätzen der Handlungstheorie, der Agency-Theorie und den Überlegungen der kognitiven Archäologie zu beantworten - ein offenes Forschungsfeld der Zukunft! Handlungstheorie versucht, das Handeln der Menschen und die handlungsauslösenden Parameter in ihren kausalen Zusammenhängen zu erklären. Die Agency-Theorie setzt sich insbesondere mit der Frage auseinander, wie, in welchem Umfang, Rahmen und Ausmaß das Handeln Einzelner die Ordnungen der Gesellschaften (und zugleich die Geschehnisse in Gesellschaften) beeinflusst und welchen Anteil u. a. Einzelne an gesellschaftlichen Wandlungsprozessen haben können. Kognitive Archäologie befasst sich mit dem Denken der Menschen und speziell mit der Frage danach, wie Denkprozesse und vor allem Resultate des menschlichen Denkens aus den materiellen Hinterlassenschaften zu eruieren sind. Im 12. Jh. v. Chr. wurde Ugarit gewaltsam zerstört. Das Wissen um das Alphabet ging aber nicht verloren. Im Gegenteil, die Phöniker übernahmen die bahnbrechende Erfindung der Schreiber von Ugarit, transformierten sie in ein neues Schriftsystem und verhalfen ihr in Form der phönikischen Alphabetschrift und im Rahmen der phönikischen Wirtschaftsexpansion nach Europa zu einer beispiellosen Erfolgsgeschichte. Die Phöniker und ihr Anteil an der Alphabetisierung Europas Als Phöniker bezeichneten die Griechen die Bewohnerinnen und Bewohner der Küsten- und Hafenstädte Byblos, Beirut, Sidon und Tyros (s. Abb. 12.3). Der Terminus bezieht sich auf eine ihrer wichtigsten wirtschaftlichen Aktivitäten: die Herstellung des Purpurfarbstoffes (griechisch phoinix , purpurrot). Ihren Zeitgenossen waren die Phöniker vor allem als erfolgreiche Händler und kundige Seefahrer bekannt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 190 E U R O PA L E R N T S C H R E I B E N U N D L E S E N : D A S W IS S E N B R I N G E N D I E P HÖN I K E R Das phönikische Wirtschaftssystem Erstmals in der Geschichte der Wirtschaftssysteme entwickelte mit den Phönikern eine Gruppe von Händlern und Seefahrern das „Geschäftsmodell des Unternehmers“, in dem der Kaufmann selbst unternehmerische Verantwortung trug, und nicht, wie sonst im Raum zwischen Mesopotamien und Ägypten, der Palast oder Tempel bzw. König und Priesterschaften als deren Repräsentanten. Der phönikische Kaufmann suchte sich eigenverantwortlich Lieferanten und Kunden, infolgedessen lagen Risiko und Gewinn des Unter- Abb. 12 . 3 Die Levanteküste mit den phönikischen Stadtstaaten 12.2.1 die ersten Unternehmer der Weltgeschichte © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 12 191 D I E P HÖN I K E R U N D I H R A N T E I L A N D E R A L P H A B E T I SI E R U N G E U R O PA S nehmens ebenfalls bei ihm. Voraussetzung für diese Form des wirtschaftlichen Agierens war die gesicherte Bezahlung der Ware zu standardisierten Tauschbedingungen („Preisen“). Bezahlt wurde anfangs mit anderer Handelsware oder aber mit Edelmetallen und später (wie in der Stadt Sidon zur Perserzeit) auch mit Münzen. Damit ergaben sich neue Entwicklungsmöglichkeiten für fast alle Waren- und Dienstleistungsangebote, Nutznießer der wirtschaftlichen Anstrengungen waren aber jetzt die Unternehmer selber, die Gewinne machten und damit auch Kapital zur Finanzierung weiterer Unternehmungen (Schiffbau, Lagerhäuser, Bergwerke, Ausstattung von Beschaffungsexpeditionen etc.) anhäufen und wieder einsetzen konnten. Von der lokalen Handelsmacht zum „Global Player“: phönikische Expansion nach Westen und der Aufbau einer „weltumspannenden“ Infrastruktur Ursprünglich hatten die Phöniker allein von der relativ eingeschränkten Palette ihrer natürlichen Ressourcen profitiert und diese verhandelt: Im Angebot gab es hauptsächlich Zedernholz und seine Derivate, farbiges und transparentes Glas aus dem reichlich vorhandenen Sand und Purpurerzeugnisse aus Meeresschnecken (Murex); dazu kamen wohl schon früh landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Öl, Wein und Getreide. Die Abnehmer ihrer Waren fanden sich im Osten bis nach Assyrien, aber auch zunehmend im Westen, d. h. in den europäischen Anrainerregionen des Mittelmeerraumes. Mit dem Auf- und Ausbau des mediterranen Marktes stieg die Nachfrage nach phönikischen Waren so stark an, dass die landeseigenen Ressourcen nicht mehr ausreichten, das Gewünschte zu liefern oder zu produzieren. Dies betraf zuerst vor allem Erze und Metalle wie Kupfer, Silber und Zinn, die zunächst im nahen Zypern, dann aber vor allem im fernen Spanien beschafft werden mussten. Angesichts der enormen Entfernungen gab es somit eine deutliche Tendenz zum Handel mit hochwertigen Waren wie Schmuck, Textilien (besonders in Verbindung mit dem kaum bezahlbaren Monopolgut Purpur), Glas, Ölen, Salben und ähnlichem, bei denen der Transportkostenanteil nicht so sehr zu Buche schlug. Zusätzlich zu ihrem Renommee als Händler und Kaufleute erwarben sich die Phöniker einen vorzüglichen Ruf als Nautiker, Baumeister, Ingenieure und Künstler. Der warenbegleitende Export von Know-how und Dienstleistungen spielte zeitweise eine große Rolle, z. B. im Schiffbau. 12.2.2 Handelsgüter der Phöniker Abb. 12 . 4 Murex-Schnecke © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 192 E U R O PA L E R N T S C H R E I B E N U N D L E S E N : D A S W IS S E N B R I N G E N D I E P HÖN I K E R Die Phöniker waren hier jahrhundertelang die erste Adresse. Im Laufe der Zeit lieferten sie mit einer gewissen Selbstverständlichkeit alles, was „die Welt“ nicht hatte; was noch nicht verfügbar war, wurde beschafft. Konsequent entwickelten sie sich zu einer verlässlichen, politische Grenzen fast beliebig überschreitenden Handelsmacht und damit zu einem der bedeutendsten „Global Player“ der Alten Welt. Für das nunmehr fast unbegrenzte Warenangebot wurden weitere Produktionsstätten im Mutterland, in steigendem Maße aber auch in Übersee gebraucht und geschaffen - mit bedeutenden Folgen. Mit der phönikischen Wirtschaftsexpansion war also erneut eine Wirtschaftsmacht mit einer Vielzahl von Wissensbeständen in einer Vielzahl von Gesellschaften konfrontiert, traf mit einer Vielzahl von Kulturen und Traditionen zusammen und musste in dieser Vielfalt die Kommunikation auch über die Face-to-face-Situation hinaus sichern. Mit dem Aufbau ihrer gewaltigen Handelsflotte und der Entwicklung von fast konkurrenzlosen nautischen Fähigkeiten ging die Schaffung der zugehörigen „weltumspannenden“ Infrastruktur einher: Es kam zur Gründung zahlreicher Niederlassungen, vornehmlich im Süden und Westen des Mittelmeers, die aber, mit Ausnahme von Karthago, nur Handelsstützpunkte waren (keine Dauer-/ Großsiedlungen oder Kolonien im Sinn der politischen Fremdbeherrschung). Die Gründung von Niederlassungen erfolgte unter Vermeidung von Konflikten nach eher pragmatischen Vorgaben. In Zypern oder Südspanien wurden z. B. sichere Häfen an wenig begehrten Orten gegründet oder man beteiligte sich an bereits vorhandenen Häfen mit rohstoffreichem Hinterland (siehe dazu im Detail die komplexen Karten in Markoe 2000). An internationalen Handelsplätzen wie in Ägypten und in Griechenland ließ man sich die Niederlassung offiziell genehmigen, d. h. Gewalt war nicht im Spiel. Der Wirtschaftsraum der Phöniker dehnte sich so über fast den ganzen Mittelmeerraum aus, und exzellente Schiffsbauer Wirtschaftsentwicklung und Wissenstransfer Abb. 12 . 5 Phönikische Städte der Levante und die Handelsrouten der Phöniker © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 12 193 D I E P HÖN I K E R U N D I H R A N T E I L A N D E R A L P H A B E T I SI E R U N G E U R O PA S etwas überspitzt lässt sich sagen, die Südhälfte des Mittelmeers sei zu einer Art phönikischem Binnenmeer geworden. Wissensexpansion - der friedliche Weg zum globalen Miteinander Wissensexpansion fand im Zuge der phönikischen Wirtschaftsentwicklung zunächst entlang der Levante statt. Die Phöniker übernahmen von Ugarit das Alphabet, entwickelten jedoch eine neue, 22 Buchstaben umfassende Schriftform, das phönikische Alphabet, das u. a. mit der Sarkophaginschrift des Königs Ahiram von Byblos aus dem 11. Jh. v. Chr. überliefert ist. Von den umfangreichen literarischen Werken, Königsinschriften und Wirtschaftsaufzeichnungen der Phöniker, über die die antiken Autoren, u. a. Homer und Herodot, berichten (im Detail sehr lesenswert: Markoe 2003: 109-115), hat sich so gut wie kein Dokument erhalten. Dies hängt vermutlich mit den 12.2.3 die Phöniker übernehmen ugaritisches Wissen Abb. 12 . 6 Das phönikische Alphabet (von rechts nach links zu lesen) Abb. 12 . 7 Der Sarkophag des Ahiram © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 194 E U R O PA L E R N T S C H R E I B E N U N D L E S E N : D A S W IS S E N B R I N G E N D I E P HÖN I K E R damals gebräuchlichen Schriftträgern zusammen: die Tontafel war offenkundig durch vergänglichere Materialien wie Holz und Papyrus abgelöst worden, die im Küstenklima der Levante nicht überdauerten. Zur Zeit der Entwicklung des phönikischen Alphabets verfügten die Phöniker, wie schon die Händler von Ugarit, über ein weites kulturelles Wissen und vor allem über die Kenntnis verschiedener Schriftsysteme. Für die Bedürfnisse der Phöniker hatte sich das Alphabet gegenüber dem System der Silbenschrift als nützlicher erwiesen. Mit der Modifizierung der Schrift und dem Wechsel der Schriftträgermaterialien, kam das Alphabet den Bedürfnissen der „globalen“ Kommunikation und Kommunikationsspeicherung offenkundig stärker entgegen, als dies dem Keilschriftsystem möglich gewesen wäre. Der Handel der Phöniker erstreckte sich nach Norden und Osten bis Anatolien und Mesopotamien, im Süden bis nach Ägypten und im Westen auf die europäischen Mittelmeer-Anrainergebiete. Handel und interkulturelle Begegnungen der Phöniker fanden also mit schriftführenden und schriftlosen Gesellschaften statt. Zu den letzteren gehörten die europäischen Anrainer des Mittelmeeres, die bis zur phönikischen Expansion im 1. Jt. v. Chr. keine Schrift nutzten. Sprache und Schrift der Phöniker wurden vor allem in den Gesellschaften, die bisher noch keine Schrift zur Aufzeichnung der Kommunikation verwendet hatten, zur wirkungsmächtigen Sensation. „Sensationell“ ist aus heutiger Sicht, dass sich aus dem phönikischen Alphabet alle heute gebräuchlichen Alphabete entwickelt haben: Das phönizische Alphabet diente dem aramäischen als Grundlage; auf dem aramäischen Alphabet fußen das hebräische, das arabische und das griechische und auf dem griechischen Alphabet wiederum das lateinische und das kyrillische Alphabet. Nach Markoe (2003: 114) kam es bereits im 9. Jh. v. Chr. zu schriftlichen Aufzeichnungen des Aramäischen, Hebräischen, Ammonitischen, Moabitischen und Edomitischen (die den semitischen/ nordwestsemitischen Sprachen zuzurechnen und, mit Ausnahme des Hebräischen, seit dem 1. Jt. v. Chr. ausgestorben sind - alle genannten Sprachen wurden in der Levante gesprochen). Die zur Aufzeichnung dieser Sprachen notwendigen Modifikationen des phönikischen Alphabets waren aufgrund der Flexibilität des neuen Systems offenbar problemlos möglich. Im 9. Jahrhundert erfolgte dann über den Handel der „Export“ des Alphabets nach Zypern und weiter in die Ägäis. Im Verlauf des 8. Jh. erhielt man in Sardinien und Westspanien Kenntnis von der Errungenschaft. Die Griechen übernahmen spätestens im 6. Jh. v. Chr. die phönikische Schrift. Auch sie passten das System den Erfordernissen der eigenen Sprache an, indem sie die notwendigen Vokalzeichen hinzufügten. Griechische Siedler vermittelten die Kenntnis des Alphabets weiter nach Italien, wo es die Etrusker im 4. Jh. übernahmen. Im 3. Jh. v. Chr. gelangte das Wissen um die griechischetruskische Variante der Schrift nach Rom und über Rom im Verlauf des 1. Jh. v. Chr. nach Mitteleuropa. Alphabetisierung Europas © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 12 195 D E R N A H E O S T E N U N D E U R O PA - E I N E G L ÜC K L I C H E B E G E G N U N G 12.3 Fazit: Der Nahe Osten und Europa - eine glückliche Begegnung mit unübersehbaren Folgen Eine revolutionäre Entwicklung, die um 3000 v. Chr. mit der „Erfindung“ der Keilschrift im Südirak begonnen hatte und über mehrere tausend Jahre erfolgreich an unterschiedliche Bedürfnisse angepasst worden war, erfuhr im 15. Jh. v. Chr. mit der „Erfindung“ des ugaritischen Alphabets eine kongeniale Alternative. Einige hundert Jahre später kam es mit dem 22 Zeichen umfassenden phönikischen Alphabet zu einer bedarfsorientierten Modifikation des Schriftwesens. Und nach diesem Entwurf erfolgte in den darauffolgenden 1.000 Jahren die Alphabetisierung Europas. Zwei Schrifttraditionen hatten sich somit im Forschungsraum der Vorderasiatischen Altertumskunde mit großer Breitenwirkung durchsetzen können: Von Mesopotamien bis nach Syrien reichte der vorrangige Einfluss des Keilschriftsystems, das Alphabetsystem prägte die Levante und diese davon ausgehend Europa. Obwohl das nur wenige Zeichen umfassende Alphabetsystem, „anwendungsorientiert gesehen“, dem Keilschriftsystem mit seinen vielen hundert Zeichen überlegen war, wurde das Keilschriftsystem in den folgenden Jahrhunderten nicht aufgegeben. Die hochkomplexe Verwaltung sowohl des assyrischen als auch des neubabylonischen Großreichs (das sog. neuassyrische Großreich datiert in den Zeitraum vom 10.-7. Jh. v. Chr., gefolgt vom neubabylonischen Reich, das vom 7.-6. Jh. v. Chr. bestand) bediente sich weiterhin dieses seit Jahrtausenden tradierten Systems. Bei der Entscheidung für ein Schriftsystem wog die Beibehaltung der kulturellen Tradition offensichtlich schwerer als dessen technische Handhabbarkeit. Zudem erfüllte die komplexere Systematik der Keilschrift besser die Bedürfnisse der Assyrer und Babylonier bei der Verschriftlichung ihres Wissens. Die identitätsstiftende Wirkung eines Schriftsystems zeigt sich bis in die heutige Zeit an der Bewahrung und Nutzung der diversen Schriftsysteme, an der die Globalisierung der Welt offenkundig nichts zu ändern vermag. China und Japan tradieren ihre hochkomplexen Schriftsysteme seit Jahrhunderten. Die Aufgabe der arabischen Schrift zugunsten des lateinischen Alphabets in der Türkei im Jahre 1928 war Ergebnis einer von Mustafa Kemal Atatürk angeordneten Reform, die sich nur gegen schärfste Proteste umsetzen ließ. Das Argument der leichteren Erlernbarkeit des lateinischen Alphabets konnte an den Protesten gegen den staatlich verordneten Traditionsbruch nichts ändern. Der Erfolg des Alphabets in der Levante und in Europa dürfte außer auf die „leichte“ und flexible Nutzbarkeit wohl zum einen darauf zurückzuführen sein, dass sich hier bis zu diesem Zeitpunkt keine jeweils „eigenen“, lokalen Schriftsysteme entwickelt hatten, das Neue also nicht mit bestehenden Traditionen konkurrieren musste. Zum anderen traf die Alphabetschrift wohl auf einen Bedarf, den sie in idealer Weise zu beantworten wusste. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 196 E U R O PA L E R N T S C H R E I B E N U N D L E S E N : D A S W IS S E N B R I N G E N D I E P HÖN I K E R 12.4 Was zu erforschen bleibt: die Details der Ursprünge, Gründe und Hintergründe und der Verlauf der komplexen Vorgänge der Schriftentwicklung die Modifikation von Aufzeichnungssystemen und Schriftformen die Brüche in der Verwendung von Schriftformen und Sprachaufzeichnungen, die gleichzeitige Nutzung unterschiedlich komplexer Systeme und das Wissen um die Existenz der verschiedenen Systeme, mit deren Hilfe man gesprochene Sprache in Schrift umzusetzen vermag die mögliche Rolle, die der Wirtschaft für die Entwicklung von Schrift und darüber hinaus für die kulturelle Entwicklung generell zukam und zukommt die Erfordernisse der Wirtschaft als möglicher Anlass dafür, komplexe auf einfachere Systeme zurückzuführen, wo das Nebeneinander mehrerer komplexer Systeme die Kompatibilität der Informationen verhindert die Rolle der politischen Macht in der Beibehaltung komplexer Systeme, wo das Wissen um Alternativen das traditionell genutzte komplexere System bedrohte; die Rolle der Tradition in der Bewahrung komplexer Schriftsysteme die Frage nach dem Beginn des abstrakten Denkens In der Auseinandersetzung mit den angeführten Aspekten dürfte vor allem der kognitiven Archäologie, die sich explizit mit der Frage nach den Denkweisen und den Möglichkeiten, Denken aus den materiellen Hinterlassenschaften zu eruieren, befasst, eine maßgebliche Rolle zukommen. Zudem zeigt sich einmal mehr das große Potential der Vorderasiatischen Altertumskunde als historisch-anthropologischer Wissenschaft. Die Erforschung der Schriftentwicklung und der Aufzeichnungssysteme für die gesprochene Sprache ist nur vordergründig ein rein historisches Thema. Bei kritischem Hinsehen zeigt sich, dass die Fragen der Forschung an die Entwicklungsprozesse, die vor 5.000 Jahren erstmals zu grundlegenden Umbrüchen im gesellschaftlichen Miteinander geführt haben, an Aktualität nichts verloren haben. Globalisierung, wachsende wirtschaftliche Komplexität, das Aufeinandertreffen einer Vielzahl von Gesellschaften, Kulturen und Traditionen mit einer Vielzahl von Sprach- und Schriftsystemen, dazu die rasante technische Entwicklung der Aufzeichnungsmedien lässt die Aktualität der Fragen, die der Analyse der altorientalischen Prozesse dienen, für die Analyse der rezenten Sprach-, Schrift- und Gesellschaftsentwicklungen unübersehbar werden. Weiterführende Literatur Markoe, Glenn. 2003. Die Phönizier. Darmstadt. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Robinson, Andrew. 2004. Die Geschichte der Schrift. Albatros. Düsseldorf Sader, Helen. 2004. Panorama du monde funéraire dans l’Orient phénicien. In: González Prats, A. (Hg.), El Mundo Funerario. Actas del III Seminario Internacional sobre Temas Fenicios. Guardamar del Segura, 3-5 de mayo de 2002. Homenaje al Prof. D. Manuel Pellicer Catalán. Alicante. Instituto Alicantino de Cultura „Juan Gil-Albert“, Oficina di Ciencia y Tecnología, Universidad de Alicante, S. 77-98 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 12 197 W E I T E R F ÜH R E N D E L I T E R AT U R - 2001. Lebanon’s Heritage. Will the Past be Part of the Future? , in: Neuwirth, A.; Pflitsch, A. (Hg.), Crisis and Memory in Islamic Societies. Beiruter Texte und Studien 77. Würzburg. Ergon Verlag, S. 217-231 - 2000. Les villes phéniciennes et leur territoire: reliefs accidentés, modèles unifiés. In: Gonzalez-Prats, A. (Hg.). Fenicios y Territorio. Actas del II Seminario Internacional sobre Temas Fenicios. Alicante. Instituto Alicantino de Cultura Juan Gil-Albert, S. 227-263 - 1998. Phoenician Inscriptions from Beirut, in: Leskoe, L. H. (Hg.). Ancient Egyptian and Mediterranean Studies in Memory of William A. Ward. Providence. Department of Egyptology, Brown University Publications, S. 203-213 Sommer, Michael. 2008. Die Phönizier. Geschichte und Kultur. München. Beck - 2005. Die Phönizier. Handelsherren zwischen Orient und Okzident. Kröner. Stuttgart - 2000. Europas Ahnen. Ursprünge des Politischen bei den Phönikern. Darmstadt. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Vollmer, Wolfgang. in Vorb. Die Phöniker, in: M. Heinz; W. Vollmer. Die Archäologie im Libanon Weidtmann, Niels. 2001. Kann Schriftlichkeit fehlen? Afrikanische Weisheitslehren im interkulturellen Dialog polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 3 (2001) http: / / them. polylog.org/ 3/ awn-de.htm (20. 03. 2009) Yon, Marguerite. 1998. La cité d’Ougarit: sur le tell de Ras Shamra. Paris. Editions Recherche sur les Civilisations Younger, K. Lawson. 2007. Ugarit at Seventy-Five: proceedings of the Symposium „Ugarit at Seventy-Five“ held at Trinity International University, Deerfield, Illinois, February 18-20, 2005 under the auspices of the Middle Western Branch of the American Oriental Society and the Mid-West Region of the Society of the Biblical Literature. Winona Lake, Indiana. Eisenbrauns © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 199 Inhalt 13.1 Das Weltreich der Perser: Kultur, Politik und Kulturpolitik 201 13.1.1 Das Modell der Hyperkulturalität 201 13.1.2 Entwicklung von Hyperkulturalität 202 13.1.3 Auswirkungen der Hyperkulturalität 203 13.2 Der Aufstieg der Achämeniden zur Weltmacht 203 13.2.1 Kyros II. und Darius I.: führende Köpfe des Persischen Weltreiches und Protagonisten der Hyperkultur 204 13.2.2 Die visuelle Repräsentation der Weltenherrscher in Bild und Architektur: der erste Nachweis der Hyperkultur 206 13.2.3 Hyperkulturalität in der Vergangenheit - die persische Weltherrschaft und das Politische der Kultur 211 13.3 Das Politische der Hyperkultur 212 13.4 Weiterführende Literatur 212 „Hyperkulturalität“ - die neue Bilderwelt der Perser Einheit 13 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 200 „H Y P E R K U LT U R A L I TÄT “ - D I E N E U E B I L D E R W E LT D E R P E R SE R Die Perser/ Achämeniden schufen das größte Weltreich der altorientalischen Geschichte. Dabei konnten sie von Assyrien bis zur Levante von einer für die Umsetzung wirtschaftlicher und politischer Interessen hervorragend geeigneten Infrastruktur profitieren, die auf die politische Gewaltherrschaft des Assyrischen (ca. 900-600 v. Chr.) bzw. Babylonischen Großreichs (ca. 600- 540 v. Chr.) zurückging (s. Abb. 13.1). Die Ausdehnung des Achämenidenreiches (ca. 550-330 v. Chr.) ging weit über das bisher Dagewesene hinaus: es erstreckte sich über ein Gebiet von Indien im Osten bis Griechenland im Westen (s. Abb. 1.3 und 13.2). Als „Achämeniden“ werden die Vertreter einer iranischen Dynastie bezeichnet, die im 1. Jt. v. Chr. zunächst im Iran regierte. Die Bezeichnung leitet sich ab von Achaimenes , dem vermeintlichen Stammvater der Dynastie. Achaimenes und die Achämeniden sollen im 8. Jh. v. Chr. von ihrem Stammgebiet südlich des Urmia-Sees in das Land Pa ¯ rsa (griechisch Persis, heute Fa ¯ rs im Südwest-Iran) migriert sein. Die Bewohner der Persis wurden später als Perser bezeichnet. Während die historische Forschung die Entwicklung der Assyrer und Babylonier zur Weltmacht relativ gut rekonstruieren kann, lässt die (Text-)Quellenlage die Perser gleichsam „aus dem Stand“ als Regenten der Welt erscheinen. Weltmacht Persien Abb. 13 . 1 Das Territorium des Neuassyrischen und Neubabylonischen Reiches © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 13 201 D A S W E LT R E I C H D E R P E R SE R : K U LT U R , P O L I T I K U N D K U LT U R P O L I T I K Persepolis - Zentrum der Welt 13.1 Kulturpolitik 13.1.1 Hyperkulturalität Exzellent geschrieben und unbedingt lesenswert, um die Geschichte der Assyrer, der Babylonier und der Perser sowie die komplizierte Quellenlage zur Geschichte der Perser zu verstehen: Kuhrt 2002, 2007 und, für die Analyse der Geschichte der Perser, Briant 2002. Auch in ihren materiellen Zeugnissen treten die Perser quasi ohne Hinweise auf eine Entwicklung unmittelbar als urbane Hochkultur auf. Ihre Hauptstadt Persepolis erscheint als Zentrum der Welt, und als solches war sie von den Erbauern auch gedacht und sollte von den Zeitgenossen weltweit und von den Nachkommen so erinnert werden. Die Perser als die neuen Weltenherrscher schufen mit ihrer Bild- und Bautenwelt eine Kultur, die in dieser Form bis dato keine „Wurzeln“ hatte und hier als erster Nachweis einer Hyper Culture aufgefasst wird. Das Weltreich der Perser: Kultur, Politik und Kulturpolitik Der Begriff Globalisierung (s. dazu auch Kap. 5) weckt in der Regel zunächst Assoziationen mit wirtschaftlichen Entwicklungen und der Wirtschaftsordnung der heutigen Welt. Jenseits des Gedankens an wirtschaftliche Beziehungen umschreibt der Begriff aber auch das globale politische Miteinander sowie die Wirkungsweisen der globalen Netzwerke, die sich in der Kulturszene gebildet haben. Die Betrachtung der Politik der Perser wird zeigen, wie und warum gerade ihre global ausgerichtete Weltherrschaft der Kultur eine maßgebliche Rolle im Politischen und in der Sicherung und Stabilisierung des globalen Miteinanders zugedacht hatte. Kultur und Politik, so die These hier, wurden von den Persern auf eine ganz spezifische Weise miteinander verbunden. Das Ergebnis dieser persischen „Kulturpolitik“ lässt sich am besten mit dem von Byung-Chul Han (2005) geprägten Begriff und Phänomen der Hyperkulturalität bzw. Hyper Culture fassen. Das Modell der Hyperkulturalität Der in Korea geborene Philosoph Byung-Chul Han studierte in Deutschland und ist zurzeit Professor der Philosophie in der Schweiz. In seinem Modell, mit dem er die Beziehungen zwischen Globalisierung und Kulturentwicklung aufzeigt, führt er für das Ergebnis dieser Begegnung den Begriff der Hyperkulturalität ein. Dieses Modell bildet die Grundlage für die nachfolgende Auseinandersetzung mit der Bilderwelt der Perser als dem ersten historischen Nachweis für das Phänomen der Hyperkulturalität. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 202 „H Y P E R K U LT U R A L I TÄT “ - D I E N E U E B I L D E R W E LT D E R P E R SE R 13.1.2 Hyperkulturalität ist nach dem Modell von Han das Ergebnis globaler Kontakte, eine durch das globale Miteinander entstandene Mischung aus allem und jedem. Hyperkulturalität ist charakterisiert durch die Ent-Grenzung, nicht die Ein- oder Be-Grenzung. Sie entsteht durch das globale Vernetzen von Elementen des jeweils kulturell Vorgefundenen und die Transformation des Vernetzten zu neuen kulturellen Ausdrucksformen: der Hyperkultur. Weder Tradition und Geschichte noch Herkunft sind die Grundlagen, von denen ausgehend sich Hyperkultur entwickelt, sondern gerade die Vermischung von Elementen, die keine historischen Gemeinsamkeiten haben, nicht über gemeinsame Ursprünge verfügen und keiner gemeinsamen Tradition entstammen. Vermischt und vereint werden kulturelle Phänomene, Elemente und Ausdrucksformen sowie symbolisch manifestierte Weltsichten und Überzeugungen, die nicht aus einer gemeinsamen Geschichte resultieren, keine gemeinsame Entwicklungsgeschichte aufweisen, nicht aus einer gemeinsamen Erfahrungswelt stammen und keinen allgemeingültigen Erfahrungshorizont repräsentieren. Hyperkulturalität ist also explizit dadurch gekennzeichnet, dass sie keinen konkreten Ursprungsort hat, sondern aus vielen Ursprüngen gespeist wird, keine Entwicklungsgeschichte erkennen lässt, sondern „ad hoc“ aus der Zusammenführung von bereits Entwickeltem entsteht. Mit der Zusammenführung der global vorgefundenen Kulturelemente werden deren historische Wurzeln, ihre Verortung in Raum und Zeit und die Traditionen, in denen sie ihren Ursprung haben, radikal gekappt und die Einzelphänomene zu einem (zu diesem Zeitpunkt dann noch) traditions- und geschichtslosen Neuen geformt. Das Wesentliche der Hyperkultur liegt in der Verknüpfung des historisch-traditionell nicht Zusammengehörenden. Hyperkultur ist nicht ein „entweder … oder“, sondern die Berücksichtigung des Gesamten und die Integration von „allem und jedem“. Hyperkultur stellt somit den Zusammenhalt des Zusammenhanglosen, die Koexistenz des Disparaten und die Verbundenheit des voneinander weit Entfernten dar. Entwicklung von Hyperkulturalität Han (2005: 10) bezieht sich auf Hegel, wenn er sagt, dass Kultur stets (auch) aus dem Kontakt mit dem „Anderen“ entsteht. Diesen Gedanken der Kultur- „Bildung“ aus dem Kontakt mit dem und den „Anderen“ legt Han seinem Modell zugrunde, reflektiert ihn ausführlich und erweitert ihn. Nach Han kann Hyperkultur nie individuelle kulturelle Authentizität aufweisen, da sie stets erst aus der Integration einer größtmöglichen Vielfalt von Ursprüngen und Herleitungen entsteht. Hyperkulturalität erwächst also im und durch den Prozess der Desintegration und der Extraktion kultureller Ausdrucksformen und Elemente aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang und ihrer Re-Integration in neue hyperkulturelle Zusammenhänge und Formen. Hyperkulturalität ist die Schaffung eines kulturellen Musters, einer kulturellen Form, die sich in ihrer Gesamtheit nicht auf einen historisch gewachsenen Ursprung zurückführen lässt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 13 203 D E R A U F S T I E G D E R A C H Ä M E NI D E N Z U R W E LT M A C H T 13.1.3 Hyperkulturalität und Identität 13.2 Auswirkungen der Hyperkulturalität Mit der Vermischung von Traditionen und Ursprüngen schafft die Hyperkultur eine neue Basis der Identitätsbildung und damit zugleich die Grundlage für neue Formen der Gemeinschaftsbildung. Identität und Gemeinschaft entstehen nun dadurch, dass die kulturellen Elemente der „Anderen“ und die Ausdrucksformen des „Anderen“ zur Konstruktion des „Eigenen“ herangezogen und zu diesem werden (Han 2005: 29 u. a.). Hyperkultur kann jederzeit und an jedem Ort bewusst geschaffen werden - und so dem Politischen als wirkungsmächtiges Instrument dienen. Ohne Anbindung an lokale Traditionen und eine jeweils spezifische kulturelle Bedeutung ermöglicht sie dem Betrachter und der Betrachterin, sich überall auf der Welt „zu Hause“ zu fühlen. Das völlig Andere gibt es nicht mehr, und es kann als solches auch keine Bedrohung mehr darstellen. Die neue Identität, die sich aus der Hyperkultur entwickelt, erlaubt ein Verständnis eines „Wir“, das keinerlei regionale, kulturelle oder chronologische Be- oder Ausgrenzungen mehr kennt und eine Realität ohne Geschichte bietet. Herkunft als maßgeblicher Ausweis von Zugehörigkeit verliert an Wirkungsmacht. Hyperkultur verändert das Selbstverständnis: das/ die/ der „Andere“ ist nicht mehr das/ die/ der Exotische, sondern Teil, Element und Mitglied des „Eigenen“. Das „Eigene“ wird generiert durch die Aneignung des „Anderen“. Hyperkultur produziert eine intensive Vielfalt von Lebensformen, Lebensstilen und Wahrnehmungsformen der Welt (s. a. Han 2005: 68), die zugleich explizit nicht auf einem gemeinsamen Erfahrungshorizont beruhen. Hyperkulturalität schafft eine heterogene „Collagen“-Gesellschaft und repräsentiert damit zugleich nicht (mehr) die Tradition einer historisch gewachsenen Schicksalsgemeinschaft, deren maßgebliches Band die gemeinsam erlebte und tradierte Geschichte und Erfahrungen bilden. Mit der Schaffung von „Collage-Gemeinschaften“ verfügt Hyperkulturalität über das Potential, das reibungslose Miteinander von Zentrum und Peripherie zu gestalten (Han 2005: 33 ff.). Das Entstehen von Hyperkulturalität und die scheinbar gleichwertige Entsprechung aller kulturellen Elemente heißt jedoch nicht, dass mit der Entwicklung der Hyperkultur die Entwicklung dominanter kultureller Formationen ausgeschlossen wäre. Der Aufstieg der Achämeniden zur Weltmacht Als erste Herrscher mit der Entwicklung des persischen Weltreichs in Verbindung zu bringen sind Kyros II. (559-529 v. Chr.) und Kambyses II. (529-522 v. Chr.). Mit Kyros II. begann die globale Expansion der Perser, sein Sohn Kambyses II. setzte die Politik seines Vaters fort. Ihm wird vor allem die Eroberung Ägyptens zugeschrieben. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 204 „H Y P E R K U LT U R A L I TÄT “ - D I E N E U E B I L D E R W E LT D E R P E R SE R der Nahe Osten und Europa 13.2.1 Darius I. (522-486 v. Chr.), ein Rebell und Usurpator, und sein Sohn Xerxes (486-465 v. Chr.) werden vor allem als die Könige erinnert, die mit militärischer Gewalt die Integration Griechenlands in das Perserreich erzwingen wollten. Nicht zuletzt der griechische Dichter Aischylos hat mit seiner Schrift „Die Perser“ zur dauerhaften Erinnerung an diese Zeit beigetragen (siehe Grünbein 2001). Die erfolgreiche Umsetzung der politischen Ziele der Perser ist legendär. Es gelang ihnen, nach und nach den gesamten Raum zwischen Indus im Osten, Schwarzem Meer im Norden, Griechenland im Westen und Ägypten im Südwesten unter ihre Vorherrschaft zu stellen. Zur Zeit der weitesten Machtausdehnung der Perser hatten sie keinen ebenbürtigen politischen Gegner mehr, und dieser Zustand sollte bis zum Niedergang der persischen Vormacht um 330 v. Chr. über 200 Jahre lang andauern. Kyros II. und Darius I.: führende Köpfe des Persischen Weltreiches und Protagonisten der Hyperkultur Für die hier vorrangig interessierende Frage, wie die Entwicklung des Persischen Weltreichs mit der Entwicklung der Hyperkultur in Verbindung zu bringen ist, sind vor allem zwei Könige und ihre „Kulturpolitik“ relevant: Kyros II., der die Residenzstadt Pasargadae hatte erbauen lassen, und Darius I., dem die Gründung von Persepolis zugeschrieben wird. In den ersten 10 Jahren seiner Regentschaft soll Kyros II. Susa und Elam unterworfen, die medische Hegemonie in der Region gebrochen und die medische Hauptstadt Ekbatana, im heutigen Hamadan gelegen, eingenommen haben (Kuhrt 2002; Briant 2002). Darauf folgte die Unterwerfung Assyriens im Gebiet des heutigen Nordirak, die Übernahme der politischen Macht in den Regionen um den Urmia-See, in Kurdistan und in Teilen Armeniens. Erfolgreiche Feldzüge des Kyros II. nach Kleinasien führten bis Lydien, wo er den berühmt-berüchtigten König Krösus entmachtete, dessen Machtzentrum Sardis zerstörte und die griechischen Küstenstädte unter persische Vorherrschaft stellte (Abb. 13.2). Nach der Festigung der Herrschaft im Westen wandte sich Kyros II. Babylonien zu, eroberte Babylon und übernahm die Herrschaft über die Territorien im Westen bis zur Mittelmeerküste, die zuvor unter babylonischer Vorherrschaft gestanden hatten. Nachdem der Westen weiträumig unter Kontrolle gebracht worden war, setzte die Expansion in die Indusregion ein (um 540 v. Chr.), und auf einem der Feldzüge in den fernen Osten verstarb Kyros II. Er wurde zurück in seine Heimat gebracht und soll in Pasargadae bestattet sein (Abb. 13.3). Darius I. festigte die Errungenschaften des Kyros im Osten und führte seinerseits Feldzüge im Raum des Kaspischen Meeres, war aber auch im Westen, in Ägypten, mit der Konsolidierung der persischen Macht befasst und zwischen 500 und 480 v. Chr. mit wechselndem Erfolg in die Kriege gegen die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 13 205 D E R A U F S T I E G D E R A C H Ä M E NI D E N Z U R W E LT M A C H T Griechen involviert. Zu Lebzeiten Darius’ I. mussten sich sowohl die Ägypter als auch die Griechen der persischen Vorherrschaft beugen, und als Ausdruck seiner Macht und Herrschaft führte Darius I. den Titel „König der Könige, König aller Länder“. Kyros II. und Darius I. waren die maßgeblichen „Köpfe“ beim Aufbau des persischen Weltreiches. Der Expansion der Perser lagen Machtgier und ökonomische Erfordernisse gleichermaßen zugrunde. Der Auf- und Ausbau des Weltreichs erfolgte mit militärischer Gewalt und führte zu Kriegen im gesamten Raum zwischen Indus und Mittelmeer, zu Gewalt und Repression, zu Unterdrückung, Mord und Zerstörung. Alle Ressourcen wurden von den Persern genutzt. Die Globalisierung der persischen Interessen und die Expansion des Persischen Reiches führten zu sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Desintegration in den betroffenen Regionen und in den Bevölkerungen, die sich der Dominanz der Perser nicht entziehen konnten. Abb. 13 . 2 Das Perserreich zur Zeit Kyros’ II. Abb. 13 . 3 Das Grab des Kyros in Pasargadae auf einem gestuften Sockel; Höhe ca. 10 m „Mord und Totschlag“ - ein Weltreich entsteht © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 206 „H Y P E R K U LT U R A L I TÄT “ - D I E N E U E B I L D E R W E LT D E R P E R SE R Die visuelle Repräsentation der Weltenherrscher in Bild und Architektur: der erste Nachweis der Hyperkultur Die Selbst- und Weltsicht der Perser, die sich in den Bild- und Bauwerken der beiden genannten Herrscher in Pasargadae und Persepolis niederschlug, stand im diametralen Gegensatz zu den Folgen und Spuren, die die militärisch geführte globale Expansion bei den Betroffenen hinterlassen hatte. Kyros II. gründete Pasargadae, eine Residenz, deren Ausgestaltung der Repräsentation seiner politischen Macht zu Lebzeiten ebenso wie der dauerhaften Sicherstellung der Erinnerung an ihn als dem Beherrscher der Welt diente. Tor R Palast S Pavillon B Palast P Gärten und Kanäle Pavillon A Zahlreiche Merkmale von Architektur und Bildschmuck in Pasargadae verweisen auf die globalen Aktivitäten der Perser. Über den mächtigen Torbau (R weil der Bau mit Reliefs verziert war), betrat man die parkartig angelegte Residenz. Acht Säulen und vier Tore sind für das Eingangstor zu rekonstruieren. Die Tordurchgänge waren an ihren Schmalseiten von Türwächterfiguren flankiert. Von dem ursprünglichen Bauschmuck sind noch geflügelte Stiere und geflügelte Stiermenschen erhalten; sie verweisen auf Einflüsse der klassischen assyrischen Baukunst (siehe Koch 2002). Erhalten ist weiterhin ein Relieffragment von 2,90 m Höhe, das überlebensgroß eine menschliche Figur darstellt (Abb. 13.5). Der bärtige „Mensch“ hat vier Flügel - erneut diente die assyrische Bildkunst als Vorbild, wo die geflügelten Wesen Schutzgenien darstellen. Haartracht und Kleidung der Figur stammen dagegen aus der Tradition der Elamer. 13.2.2 Selbst- und Weltsicht der Weltherrscher Abb. 13 . 4 Rekonstruktion der Anlage von Pasargadae Hyperkulturalität am Beispiel Pasargadae © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 13 207 D E R A U F S T I E G D E R A C H Ä M E NI D E N Z U R W E LT M A C H T Insbesondere für die Kleidung findet sich auf assyrischen Reliefs ein Vorbild in der Tracht des elamischen Königs Te-umman (7. Jh. v. Chr.). Der monumentale Kopfputz der Figur verweist auf eine weitere kulturelle Tradition: es handelt sich dabei um eine ägyptische Krone. Diese könnte Kyros II. bei seinen kriegerischen Aktivitäten in der Levante auf dortigen Bildwerken kennengelernt haben. Ägypten selbst wurde erst von Kyros’ Sohn in das persische Weltreich integriert. Die Gesamtanlage der Neugründung Pasargadae, bei deren Planung nicht auf eine lokale Vorläuferanlage zurückgegriffen werden konnte, lässt sich mit ihrer Transparenz und der Ordnung der Säulen- und Pfeilerarrangements in den Bauten auf ionisch-griechisch-lydischen Einfluss zurückführen. Obwohl die Anlage weder so komplex wie Persepolis noch in großem Umfang erhalten ist, erlaubt sie es, die Bild- und Bauwerke der Perser mit dem Modell der Hyperkultur in Verbindung zu bringen: Das Bild- und Bauwirken Kyros’ II. ist geprägt durch Hybridität, das „Eigene“ der Anlage von Pasargadae speist sich aus verschiedenen Traditionen der „Anderen“. Dabei handelt es sich um die Gesellschaften der Länder, die Kyros II. mit Krieg überzogen hatte (mit Ausnahme von Ägypten, das erst sein Sohn eroberte) und die in der neuen politischen Ordnung die persische Dominanz akzeptieren mussten. Der militärischen Gewalt, die diese „Anderen“ durch die Perser erfahren hatten, stand der Umgang mit ihren kulturellen Traditionen gegenüber, die der Weltenherrscher Kyros II. in Pasargadae demonstrierte. Die Kulturen der „Anderen“, ihre Traditionen und ihre Geschichte wurden positiv konnotiert in der Gestaltung der Residenz aufgenommen. Die Hierarchie der neuen politischen Weltordnung wurde in der Anlage von Pasargadae nicht ausgedrückt, die Kriege als Basis der Begegnung der Kulturen nicht thematisiert. Speziell die geflügelte männliche Figur spiegelt einen freien Umgang mit den Elementen der Kulturen der Welt wider, der zutreffend mit dem Begriff der „Mélange“ umschrieben werden kann. Ihre Komposition spiegelt nicht eine einzige Erfahrungswelt wider, hat nicht einen konkreten Ursprungsort, sondern ist als Ausdrucksform der persischen Baukunst dadurch entstanden, dass Abb. 13 . 5 Geflügelte Figur mit ägyptischer Krone Abb. 13 . 6 Zum Vergleich: sitzender Gott Harpokrates; Material: Bronze; Ägypten, Spätzeit (um 600 v. Chr.) Kultur und Ideologie © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 208 „H Y P E R K U LT U R A L I TÄT “ - D I E N E U E B I L D E R W E LT D E R P E R SE R die einzelnen Elemente aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen herausgelöst und in neuer Form wieder zusammengesetzt wurden. Das traditionell nicht Zusammengehörende wurde zu einer neuen Einheit verschmolzen und eine Koexistenz des Disparaten geschaffen. Als Darius um 515 v. Chr. mit dem Bau von Persepolis begann, ließ er wie Kyros II. Anleihen aus den Bild- und Bauwerken der „Kulturen aller Länder“ in die Gestaltung der königlichen Bauten einfließen. Er begann seine Bauaktivitäten mit der Errichtung einer 15 m hohen Terrasse, die als Plattform für zunächst drei weitere Monumentalbauten diente: das Apadana (die Audienzhalle), den Palast des Darius I. und das sog. Schatzhaus (s. Abb. 13.7 und 13.8). Die Audienzhalle (Abb. 13.9) war das für die öffentliche politische Repräsentation wichtigste Gebäude. Sie umfasste eine Grundfläche von 3.600 m 2 , auf der 36 Säulen von je 20 m Höhe die Dachkonstruktion trugen (eine sehenswerte virtuelle 3D-Rekonstruktion findet sich unter http: / / www. persepolis3d.com/ control_structures/ apadana.htm). Der Baustil dieses monumentalen Säulenbaus war in der 3.000-jährigen Baugeschichte des Vorderen Orients ohne Vorbilder - in Griechenland dagegen in der Tempelarchitektur gut bekannt. An der Frontseite des Apadana (altpersisch „Palast“) entlang der Aufgänge waren Reliefs der sog. Würdenträger angebracht. Dabei handelt es sich um Repräsentanten der von den Persern unterworfenen Länder, Diplomaten aus Audienzhalle Persepolis, das Zentrum der Welt, entsteht Abb. 13 . 7 Blick auf Persepolis Abb. 13 . 8 Modell der Anlage von Persepolis © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 13 209 D E R A U F S T I E G D E R A C H Ä M E NI D E N Z U R W E LT M A C H T aller Welt, sorgfältig und detailreich in Stein gemeißelt, die Gaben an den Hof des persischen Königs überbrachten. 23 verschiedene Trachten der hochrangigen Repräsentanten verschiedener Länder lassen sich unterscheiden (vgl. Abb. 13.10; zur detaillierten Beschreibung der Gesandten und dem Versuch, diese ihren jeweiligen Ländern zuzuordnen siehe Koch 2002). Die bildliche Dokumentation dieser Ehrenbezeugung und die Verkleidung von Baufassaden mit komplexen Bildprogrammen dürften den Persern ebenfalls aus der neuassyrischen Kultur bekannt gewesen sein. Die assyrische Bilderwelt, die offenkundig für die Repräsentation der persischen Weltenherrscher als geeignet empfunden wurde, findet sich auch in dem Palastgebäude Darius’ I. wieder. In dieser Residenz des Darius und seiner Entourage setzte sich die Ausleihe der Kulturelemente der „Anderen“ zur Gestaltung des „Eigenen“ fort. Erwähnt sei hier nur die Gestaltung der Türdurchgänge mit Reliefs, die den König als Helden im Kampf mit dem Löwen wiedergeben. Motiv und Thema sind aus den assyrischen Palästen gut bekannt und fanden auch dort als Bildelemente der politischen „Kunst“ ihre Verwendung (s. Abb. 13.11 und 13.12). Die Bilderwelten und die Baustile der „Anderen“ eigneten sich in Persepolis offenkundig sowohl zur öffentlichen Repräsentation der Politik und des Weltbildes der persischen Könige als auch zur Bestätigung des Selbstbildes dort, wo sie nur einem eingeschränkten Kreis von Betrachterinnen und Abb. 13 . 9 Aufgang zur Audienzhalle (Apadana) von Persepolis Abb. 13 . 10 syrische und skythische Gabenbringer auf dem Apadana- Relief assyrische Bildsprache und persische Repräsentation der Macht © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 210 „H Y P E R K U LT U R A L I TÄT “ - D I E N E U E B I L D E R W E LT D E R P E R SE R Betrachtern zugänglich waren, vorrangig zunächst wohl den Angehörigen des Königshofes. Die Assyrer blieben auch die maßgeblichen „Bildgeber“, als unter den späteren Herrschern die Terrasse weiter ausgestaltet wurde: das im 5. Jh. v. Chr. von Xerxes I. erbaute „Tor aller Länder“ mit seinen monumentalen, typisch assyrischen Torwächter-/ Torlaibungsfiguren ist ein beredtes Beispiel dafür (s. Abb. 13.13 und 13.14). Auch Persepolis zeigt also die Vermischung der „Kulturen“: kulturelle Elemente der Länder, die die Perser auf ihren Feldzügen kennengelernt und unterworfen hatten, wurden aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen herausgerissen und in Persepolis dem Bedarf der politischen Repräsentation entsprechend wieder zusammengefügt. Auch in Persepolis entstand das Neue durch das Zusammenfügen von Elementen, die nicht einen Ursprung hatten, deren Wirkungsmacht nicht daher rührte, dass sie eine Authentizität im Sinn einer identitätsstiftenden Tradition und einer historischen Überlieferung präsentierten. Und auch Persepolis negierte in seinem Bildprogramm Konflikt, Gewalt und Krieg als herrschaftsrelevante Themen. Abb. 13 . 11 König Darius I. im Kampf mit den Löwen Abb. 13 . 12 Der assyrische König Assurbanipal (668-627 v. Chr.) tötet einen Löwen (Relief aus dem Nordwestpalast von Ninive) Abb. 13 . 13 Torlaibungsfiguren am „Tor aller Länder“ in Persepolis (Zeit Xerxes’ I., 486-465 v. Chr.) Abb. 13 . 14 assyrische Torwächterfigur aus Nimrud, Nordirak (9. Jh. v. Chr.) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 13 211 D E R A U F S T I E G D E R A C H Ä M E NI D E N Z U R W E LT M A C H T 13.2.3 Bild- und Bauprogramme und ihre möglichen Botschaften Hyperkulturalität in der Vergangenheit - die persische Weltherrschaft und das Politische der Kultur Entweder verfügten die Perser nicht über eine eigene Bild- und Bautradition oder sie setzten diese nicht ein, um die Machtzentren zu gestalten. Nicht die Präsentation lokaler und historisch gewachsener Traditionen stand im Mittelpunkt ihres bildnerischen und baulichen Wirkens, sondern die globalen Vernetzungen. Nicht die Erinnerung an die eigene Herkunft war offenbar wichtig, sondern die Präsentation der eigenen Stellung in der gegenwärtigen Welt. Den Bild- und Bauprogrammen ihrer Residenzen zufolge sahen sich die Perser als Repräsentanten des Ent-Grenzten, als die, die nicht eine lokale Authentizität präsentierten, sondern eine globale Authentizität, die erst durch das Zusammenfügen des Disparaten entstanden war. Zur Bestätigung Ihrer Selbstsicht als Weltenherrscher war, so die These hier, das „Ausblenden“ einer lokalen Herkunft und lokal begrenzten Traditionswelt offenkundig unumgänglich, ebenso, wie sie für ihre Repräsentation als Weltenherrscher die Vernetzung der Symbole der Kulturen der Welt benötigten. Der Verzicht auf die Präsentation der eigenen Geschichte (sonst üblich in den Bildprogrammen der altorientalischen Gesellschaften seit dem 3. Jt. v. Chr.) wie auch die räumliche Verortung der eigenen Herkunft war eben nicht „Verzicht“, sondern politisches Programm der Weltenherrscher, die mit der Zeit- und Ortlosigkeit ihrer Herrschaftsrepräsentation und der „Mélange“ der Bezüge eine Illustration eines Zustandes boten, der keiner weiteren Legitimation bedurfte. Hyperkultur war wie geschaffen für die Repräsentation der politischen Ideologie der persischen Weltenherrscher: Das Eigene war das zeitlos Globale, die Perser „schon immer“ Weltenherrscher und die Welt schon immer zu Hause in Persepolis! Der „Verzicht“ auf die Präsentation des lokalen „Eigenen“ stellte zugleich die Wirkungsmacht der hier entstandenen Hyperkultur sicher, auf der neuen Identifikationsbasis des Ent-Grenzten und Globalen eine neue Gemeinschaft bilden zu können: die der „Weltgemeinschaft“ mit ihrem Zentrum Persien. Debatte eröffnet: An dieser Stelle ist zu diskutieren, warum die Perser die Symbolik ihrer Religion nicht stärker zur Repräsentation Ihrer Weltherrschaft einsetzten. Dass in dieser neuen Weltgemeinschaft die kriegerische und direkte Gewalt, die zu ihrer Konstituierung geführt hatte, kein Thema war, versteht sich nach den obigen Ausführungen von selbst. Dass die Gesandten aller Länder an exponierter Stelle im Fries des Apadana als Stützen dieser Weltgemeinschaft, dem Herrscher nah und untereinander gleichgestellt, im Bild erscheinen, ebenfalls. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 212 „H Y P E R K U LT U R A L I TÄT “ - D I E N E U E B I L D E R W E LT D E R P E R SE R 13.3 gelebte Realität und die Botschaft der achämenidischen Ideologen 13.4 Das Politische der Hyperkultur Hyperkultur erweist sich, so gesehen, als ideales Instrument, die Ideologie der Herrschenden implizit als herrschende Ideologie und die neu geschaffene Ordnung als Naturzustand zu präsentieren. Den politisch nicht Kundigen präsentierten sich Pasargadae und Persepolis als Zentren des ökonomischen Wohlstands und einer „reichen Kultur“. Den Kundigen, darunter vor allem auch den Gesandten, die aus den besetzten Peripherien nach Persien gereist kamen, dürften die „Mélange der Kulturen“ bzw. die Elemente der eigenen kulturellen Tradition als Teile des Bild- und Baugefüges im Zentrum der Weltmacht (und der Welt) aufgefallen sein, wobei letztere die so propagierte Wertschätzung der „eigenen“ Kultur zur Kenntnis nahmen und in der Heimat an geeigneter Stelle verbreiteten. Indes dürfte die Kluft zwischen der gelebten Realität und dem Ideal der politischen Neuordnung der Welt für die Mehrheit der Betroffenen unüberbrückbar gewesen sein. Das Weltreich war mit direkter, struktureller und kultureller Gewalt geschaffen worden. Von einer positiven Konnotation der vorgefundenen Kulturen und Ordnungen konnte nicht die Rede sein, und die Notwendigkeit, mit einem Bildprogramm der Hyperkulturalität die Harmonie der Weltenordnung als gesichert darzustellen, lässt Zweifel an der Akzeptanz des Neuen berechtigt scheinen. Weiterführende Literatur Aischylos - Die Perser. 2001. Wiedergegeben von Durs Grünbein. Frankfurt a. M. Suhrkamp Boardman, John. 2003. Die Perser und der Westen: eine archäologische Untersuchung zur Entwicklung der achämenidischen Kunst. Mainz. Zabern Briant, Pierre. 2002. From Cyrus to Alexander: a history of the Persian Empire. Winona Lake, Indiana. Eisenbrauns Han, Byung-Chul. 2005. Hyperkulturalität. Berlin. Merve-Verlag Koch, Annemarie. 2002. Persepolis. Glänzende Hauptstadt des Perserreichs. Mainz. Zabern Kuhrt, Amelie. 2007. The Persian Empire: A Corpus of Sources of the Achaemenid Period. London. Routledge - 2007. Cyrus the Great of Persia: Images and Realities, in: M. Heinz; M. H. Feldman (Hg.), Representations of Political Power: Case Histories from Times of Change and Dissolving Order in the Ancient Near East. Winona Lake, Indiana. Eisenbrauns, S. 174-175 - 2002. The Ancient Near East: c. 3000-330 BC. London. Routledge Literaturen 2007 - Das Journal für Bücher und Themen. 11/ 2007. Denker von Welt, S. 4-25 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 213 Einheit 14 Inhalt 14.1 Epochen 214 14.2 Methoden und Disziplinen 216 14.3 Theoretische Archäologie 217 14.4 Weiterführende Literatur 219 Fazit: Viele Anfänge, viel Neues - und was Sie nach dem Studium dieser Einführung noch nicht wissen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 214 F A Z I T : V I E L E A N FÄ N G E , V I E L N E U E S U N D W A S S I E N O C H N I C H T W I S S E N 14.1 vom Dorf zur Stadt Gudeazeit - Friedenszeit? Renaissance im Alten Orient? In der Einführung haben Sie erfahren, dass es die große Chance und zugleich die große Verantwortung historisch arbeitender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist, auszuwählen, was sie mitteilen wollen, und die jeweils vorgenommene Auswahl an Einblicken in die Vergangenheit zu begründen. Damit ist zugleich die Forderung an das wissenschaftliche Arbeiten erfüllt, Entscheidungswege aufzuzeigen und überprüfbar zu machen. Auswahl heißt zugleich Ausschluss: nicht alles, was berichtenswert ist, kann auch übermittelt werden. Epochen Nicht berichtet wurde hier über das sog. Chalkolithikum bzw. die Ubaidzeit (6.-5./ 4. Jt. v. Chr.). Die Vielfalt der Entwicklungsprozesse von der ländlichen Siedlungsweise hin zu zunehmend komplexeren Siedlungsformen und entsprechend komplexeren Organisationsweisen des gesellschaftlichen Miteinanders ist ohne das Studium der Ubaidzeit nicht zu verstehen. Die Auseinandersetzung mit den ubaidzeitlichen Entwicklungen ist also ein „Muss“ vor allem für das Verständnis der auf die Ubaidzeit folgenden Stadtentwicklung in der Urukzeit. Nicht behandelt wurde Gudea von Lagaš (ca. 2140-ca. 2120 v. Chr.), ein König, dessen Herrschaft seinen Inschriften nach zu urteilen nicht von Krieg und Konflikt dominiert war. Er suggerierte stattdessen, dass ganz andere Qualitäten eines Herrschers als die des kriegführenden Feldherrn das gute Leben der Gemeinschaft zu sichern vermögen. Als außerordentlicher König, der den Göttern als Bauherr von Kultbauten zu Diensten war und dessen Regierungszeit, will man der Propaganda Glauben schenken, von Frieden geprägt war, ist er in die Geschichte der altorientalischen Könige eingegangen. Um zu überprüfen, ob diese Art der Politik und der politischen Repräsentation jenseits von Krieg und Gewalt, wirklich so außerordentlich war, wird die Auseinandersetzung mit Gudea unerlässlich. Nicht thematisiert haben wir bisher eine Entwicklung, die in der Forschungsliteratur mit dem Begriff Neusumerische Renaissance bezeichnet wird (ca. 2110-2000 v. Chr.). Die Könige der III. Dynastie von Ur (einer der großen Städte Südmesopotamiens) sahen sich explizit nicht der Tradition der Akkadherrscher verpflichtet, der Könige also, deren (zweifelhafter? ) Ruhm weit über Mesopotamien hinaus bis ans Mittelmeer gelangt war. Sich nicht in die Tradition der Vorgänger zu stellen, war in den altorientalischen Gesellschaften allerdings außerordentlich. Die Tradition stellte das maßgebliche Bindeglied zwischen den Generationen dar. Dieses Band zu zerschneiden, bedurfte einer besonderen Begründung - und die erschließt sich Ihnen, wenn Sie sich der Politik, vor allem der „Kulturpolitik“, der Könige der III. Dynastie von Ur widmen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 14 215 E P O C H E N globaler Handel in Frauenhand und noch einmal: Wassermangel die Assyrer Weltreiche des 1. Jt. v. Chr. horror vacui - das Bildverständnis der Assyrer Nicht informiert wurden Sie über die Entwicklungen in der sog. Altassyrischen Zeit (18. Jh. v. Chr.), in der sich von Assyrien im heutigen Nordirak ausgehend ein reger Handel mit Anatolien entwickelte, wobei u. a. die assyrischen Frauen maßgeblich am wirtschaftlichen Gelingen dieses Austauschs beteiligt waren. Nicht berichtet wurde über die sog. Isin-Larsa-Zeit (ca. 2000-1750 v. Chr.), in der noch einmal überdeutlich wurde, wie schnell sich die Bedrohung des gesicherten Wasserzugangs zu einem kriegsauslösenden Faktor zwischen zwei Stadtstaaten entwickeln konnte. Ebenso wenig war bisher von der zunehmenden Macht der Assyrer die Rede: eine Entwicklung, die in der sog. Mittelassyrischen Zeit (ca. 1400-900 v. Chr.) begann. Vom Gebiet des heutigen Nordirak ausgehend setzten die Assyrer ihre hegemonialen Interessen gegenüber den Babyloniern durch und okkupierten schließlich ganz Mesopotamien. Die assyrische Machtausdehnung ging u. a. zu Lasten der Kassiten im Süden, der Hethiter im Nordwesten des Fruchtbaren Halbmondes und reichte bis in die Städte der Levante, westlich des klassischen Zweistromlandes. Da sich unser Augenmerk in der vorliegenden Rekonstruktion der Geschichte auf das Neue, auf die Anfänge richtet, haben Sie nichts über das Weltreich der Assyrer (ca. 900-600 v. Chr.) erfahren, das diese bis nach Ägypten hatten ausdehnen können. Auf die Infrastruktur dieses Weltreiches griffen später die Babylonier und Perser zu und nutzten sie, um ihrerseits Herrschaftsgebiete imperialen Ausmaßes aufzubauen und zu Großmächten zu avancieren. Der Prozess der Großreichsbildung begegnet uns im 1. Jt. v. Chr. allerdings nicht zum ersten Mal. Bereits im 3. Jt. v. Chr. präsentierten sich die Akkader als die ersten Herrscher der Welt und wollten als solche erinnert werden. Obwohl das assyrische Großreich eines von vielen war, die zwischen dem 3. und 1. Jt. v. Chr. im Vorderen Orient entstanden, lohnt es, sich mit den kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen seiner Entstehung und Entwicklung zu beschäftigen. Bekannt sind die Assyrer auch für ihre Bauplastik. Die Verwendung von Steinplatten, sog. Orthostaten, als Bildträger, mit denen die Wände offiziell genutzter Bauten, allen voran der Paläste, verkleidet wurden, gehört zu den charakteristischen Ausdrucksmitteln der assyrischen Kultur. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine genuin assyrische Erfindung (auch in der hethitischen Tradition - bereits in der hethitischen Großreichszeit (14. Jh. v. Chr.) und bis in die Zeit der späthethitischen Königreiche wurden die Prachtbauten mit entsprechenden Bildträgern bestückt). Der Auf- und Ausbau des assyrischen Weltreiches war für die Gesellschaften der Zeit, für die politische, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Entwicklung des Nahen Ostens im 1. Jt. v. Chr. von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Um im Rahmen einer Darstellung der Anfänge ein eigenes Kapitel zu verdienen, haben die Assyrer allerdings zu wenig Eigenständiges geleistet. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 216 F A Z I T : V I E L E A N FÄ N G E , V I E L N E U E S U N D W A S S I E N O C H N I C H T W I S S E N keine Bilder - warum? 14.2 archäologische Methodenvielfalt Als BildwissenschaftlerIn wird man die sog. neubabylonische Zeit (7.-6. Jh. v. Chr.) unter Bezug auf die „fehlenden“ Bilder unter dem Aspekt „defizitär“ in Erinnerung behalten - dies ist ein überraschender Sachverhalt vor dem Hintergrund, dass die Assyrer in gewisser Weise als Produzenten einer „Bilderflut“ im Gedächtnis der BetrachterInnen verhaftet sind. Nicht unerwähnt bleiben soll hier als Hinweis für Ihr Selbststudium, dass die Babylonier auch in der Bibel genannt werden - unter eher negativen Vorzeichen. Durch die dem babylonischen König Nebukadnezar (II./ ca. 600-560 v. Chr.) zugeschriebene Zerstörung Jerusalems und die babylonische Gefangenschaft der Juden waren die Babylonier nachhaltig und negativ im kulturellen Gedächtnis der Betroffenen und ihrer Nachkommen verankert. Und der Begriff „Menetekel“ für eine unheilverkündende Prophezeiung ist auf das mene mene tekel u-pharsin (Daniel 5, 25) zurückzuführen, das dem maßlosen babylonischen Herrscher Belsazar (ca. 550-540 v. Chr.) an der Wand seines Palastes erschienen sein soll und ihm sein Schicksal prophezeite. Methoden und Disziplinen Unter dem Leitthema der „Anfänge“ nicht zu behandeln waren die Methoden der archäologischen Forschung, der Stellenwert der theoretischen Archäologie sowie die Nachbarwissenschaften, die die archäologische Forschung erst ermöglichen. Die nachfolgend genannten Stichworte und Erläuterungen sind als erste Hilfestellung für diejenigen gedacht, die gezielt mit dem Selbststudium beginnen wollen. Unter den Methoden sei verwiesen auf die Grabungsmethoden, also die Vorgehensweisen im eigentlichen Ausgrabungsprozess, auf den Survey als Oberflächenbegehung bzw. als Methode des „remote sensing“ und auf die Notwendigkeit der Erarbeitung von Chronologien und Stratigraphien, die uns die relative und absolute zeitliche Einordnung aller genannten Ereignisse erst möglich machen. Zu verweisen ist auf den Stellenwert des naturwissenschaftlichen Arbeitens, der Geologie, Geomorphologie, Geographie(n), biologischen Anthropologie, Archäozoologie und Archäobotanik, um nur einige der Wissenschaften zu nennen, ohne die eine Rekonstruktion der vergangenen Umwelten und ihrer ökonomischen Nutzungspotentiale unmöglich und unser Wissen über die Entwicklung des Menschen deutlich geringer wäre. Der Einsatz von Statistik, von Computern auf allen Ebenen des Arbeitens und von Photographie mit all ihren technischen Möglichkeiten einschließlich der Satellitenphotographie sowie die Nutzung von GPS (global positioning system) und GIS (geographisches Informationssystem) bei der Lokalisierung der Orte, die wir erforschen, sind aus der archäologischen Feldforschung sowie der Auswertung der ergrabenen Ergebnisse nicht mehr wegzudenken. Mit dieser Einführung in die Vorderasiatische Altertumskunde stellen wir die Vorderasiatische Archäologie gemeinsam mit der Altorientalischen Philo- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 14 217 T H E O R E T I S C H E A R C H ÄO L O G I E 14.3 Theorie - alles andere als grau Theorie und Interdisziplinarität logie vor. Nur das Studium beider Bereiche ermöglicht eine fundierte Auseinandersetzung mit den Entwicklungen der altorientalischen Gesellschaften. Auch die Reflexion der Methoden des philologischen Arbeitens gehört zum universitären Unterricht. Hier sei also genannt, was wir Ihnen bisher vorenthalten haben: Nicht erläutert wurde, wie die Schriftentzifferung erfolgt ist und wie man die Keilschrift und die Sprachen der altorientalischen Gesellschaften erlernt. Und noch nicht erwähnt wurde die große Vielfalt der altorientalischen Sprachen: Sumerisch, Akkadisch mit seinen assyrischen und babylonischen Dialekten, Ugaritisch, Eblaitisch, Hurritisch und Hethitisch - um nur einige der einstmals im Nahen Osten gesprochenen Sprachen zu nennen. Theoretische Archäologie Wissenschaftliches Arbeiten heißt (u. a.) Erklären, Theoretische Archäologie kann also als erklärende Archäologie beschrieben werden. Theorie antwortet auf die Frage nach dem Warum der Ereignisse und Entwicklungen des gesellschaftlichen Miteinanders, die Sie in Form materieller Hinterlassenschaften und/ oder schriftlicher Aufzeichnungen in einer der genannten Sprachen ausgraben werden. Theorie und die Frage nach dem Warum stehen in unauflösbarer Verbindung zur Frage nach dem Wie, nach den Anfängen und Verlaufsformen der Entwicklungen und Ereignisse. Theoretisches Arbeiten in der Vorderasiatischen Altertumskunde greift zur Erläuterung des Wie einer Entwicklung zum einen auf Modelle zurück, die in den benachbarten Wissenschaften erarbeitet wurden, und bildet zum anderen selbst Modelle auf der Basis der ihr zur Verfügung stehenden Quellen. Antworten auf die Frage nach dem Warum erarbeiten die Studierenden und Forschenden im Bereich Theorie, indem sie sich den Erkenntnissen von Wissenschaften zuwenden, die an vergleichbaren Fragenkomplexen arbeiten wie ein spezifisches archäologisches Forschungsvorhaben, aber über umfangreicheres Quellenmaterial verfügen, als der Vorderasiatischen Altertumskunde in der Regel zur Verfügung steht. Theoretische Archäologie greift zu auf die Theorien und Erkenntnisse der Wissenschaften, die sich in rezenten Zusammenhängen mit dem gesellschaftlichen Miteinander im weitesten Sinn, mit Kultur, Politik, Religion und Wirtschaft, befassen. Dazu gehören die Sozialwissenschaften, die Kultur- und die Bildwissenschaften. Theoretische Archäologie nutzt die Erkenntnisse der Ethnologie, historischen Anthropologie und Kulturgeographie. Sie ist interessiert an den Reflexionen der Philosophie, den Erkenntnissen der Religionswissenschaft, Politikwissenschaft, Ökonomie und der historischen Wissenschaften generell. Es versteht sich von selbst, dass die für andere Kulturen, Gesellschaften, Räume und Zeiten erarbeiteten historischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse und Theorien nicht in direkter Analogie auf die altorientalischen Ver- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 218 F A Z I T : V I E L E A N FÄ N G E , V I E L N E U E S U N D W A S S I E N O C H N I C H T W I S S E N Theorie - Archäologie - Gesellschaft Archäologie und Geschichte - worum geht es? hältnisse zu übertragen sind. Die theoretischen Arbeiten der genannten Wissenschaften und deren Erkenntnisse hinsichtlich gesellschaftlicher, kultureller, politischer, wirtschaftlicher und religiöser Sachverhalte zeigen uns zunächst lediglich Zusammenhänge zwischen Phänomenen des gesellschaftlichen Miteinanders auf, antworten auf die Frage nach dem Wie und Warum und erläutern die kausalen Zusammenhänge gesellschaftlicher Entwicklungen. Aufgabe der Vorderasiatischen Altertumskunde ist es dann, den „Brückenschlag“ zu schaffen und Erkenntnisse, die in und an den Gesellschaften der Moderne gewonnen wurden, für die Erklärung altorientalischer Zusammenhänge fruchtbar zu machen. Dabei müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Vorderasiatischen Altertumskunde in jedem Fall überzeugend und nachvollziehbar darlegen, wie und warum die Modelle, Theorien und Erkenntnisse der rezenten Sozial- und Kulturwissenschaften auch für die Erklärung altorientalischer Entwicklungen heranzuziehen sind. Dies umso mehr, als die erklärende Sozial- und Kulturforschung - nicht nur in der Vorderasiatischen Altertumskunde - von der Prämisse ausgeht, dass die vorgefundenen gesellschaftlichen Sachverhalte stets im Rahmen ihrer Entstehungszeit und vor dem Hintergrund der damals geltenden Regeln, Normen und Werte und der sozialen Praxis zu verstehen und zu erklären sind. Indem die Vorderasiatische Altertumskunde als theoretisch arbeitende Wissenschaft die Erklärungsansätze und Modelle der Sozial- und Kulturforschung prüft und diese (ggf. modifiziert) anwendet, ist sie zugleich aktiv an der Modell- und Theoriebildung in den Sozial- und Kulturwissenschaften beteiligt. Wenn wir bestimmte Fragen beantworten wollen, die damals wie heute für das Leben und Überleben der Gesellschaften relevant waren und sind, dann ist abschließend festzuhalten: Vorderasiatische Altertumskunde ist Historische Anthropologie. Ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse sollten einen unverzichtbaren Bestandteil aller Diskurse bilden, die global in den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften geführt werden. Erreicht ist diese interdisziplinäre Kooperation noch lange nicht. Die wechselseitige Wahrnehmung der historisch-anthropologisch orientierten Archäologien und der oben genannten sozialwissenschaftlich arbeitenden Wissenschaften ist ausbaufähig und zukunftsweisend! Die intensive Auseinandersetzung mit den oben genannten (und vielen weiteren) Wissenschaften stellt den Forschenden in der Vorderasiatischen Altertumskunde das benötigte methodische und theoretische Instrumentarium zur Verfügung, um sich an die fundierte Rekonstruktion vergangener Gesellschaften zu wagen. Es geht in der Vorderasiatischen Altertumskunde stets um die Rekonstruktion von Prozessen und Ereignissen, von Entwicklungen und Brüchen, von Ursprüngen und Anfängen, die „Gesellschaft“ spiegeln, die Ergebnis auch des Handelns Einzelner, aber nie primäres und isoliertes Ergebnis der Taten „großer Frauen“ oder „großer Männer“ sind. Geschichte ist stets als „Resultat © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 14 219 W E I T E R F ÜH R E N D E L I T E R AT U R Vorderasiatische Altertumskunde ist Anthropologie 14.4 des gesellschaftlichen Miteinanders“ zu verstehen. Archäologische Forschung findet die Ergebnisse dieses gesellschaftlichen Miteinanders in Form materieller Hinterlassenschaften vor. Die Vorderasiatische Altertumskunde ist darüber hinaus in der glücklichen Lage, zu den nicht-beschrifteten Hinterlassenschaften auch die textlichen Zeugnisse der vergangenen Gesellschaften zur Rekonstruktion der Verhältnisse über 3.000 Jahre hinweg heranziehen zu können. Wenn Geschichte stets als „Resultat des gesellschaftlichen Miteinanders“ zu verstehen ist und Gesellschaft immer und überall weibliche wie männliche Akteure kennt, dann ist die Frage nach dem Anteil, den Frauen und Männer am historischen Geschehen hatten und haben, wissenschaftlich selbstverständlich. Das enorme Erkenntnispotential, das die Bearbeitung dieser Frage birgt, ist mit den Genderstudies seit mehr als 30 Jahren bekannt, in der Forschung der Vorderasiatischen Altertumskunde bis heute (2009) jedoch so gut wie nicht wahrgenommen worden. Hiermit steht den zukünftigen Forscherinnen und Forschern der Vorderasiatischen Altertumskunde ein weiteres vielversprechendes Forschungsfeld offen. Vorderasiatische Altertumskunde, so unser Schlusswort, ist Historische Anthropologie. Lehre und Forschung in der Vorderasiatischen Altertumskunde fußen daher stets auf folgenden Gedanken: Die Lebensweisen aller Gesellschaften sind und waren stets menschengemacht, und die Rekonstruktionen dieser Lebensweisen sind und waren zu jeder Zeit und überall auf der Welt interessegeleitet! Wie und Warum dies so ist, war und sein wird, gilt es zu erforschen - immer und überall! Weiterführende Literatur Geschichte Kuhrt, Amelie. 2002. The Ancient Near East. 2 Bände, London. Routledge (reprint) Van de Mieroop, Marc. 2007. A History of the Ancient Near East, ca. 3000-323 BC. Malden, Mass. Blackwell Methoden Ellis, Linda (Hg.). 2000. Archaeological method and theory: an encyclopedia. New York. Garland Theorien Funari, Pedro Paulo A. (Hg.). 2005. Global archaeological theory: contextual voices and contemporary thoughts. New York. Kluwer Acad. Heinz, Marlies; Eggert, Manfred K. H.; Veit, Ulrich. 2003. Zwischen Erklären und Verstehen? Beiträge zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen archäologischer Interpretation. Münster; München; Berlin. Waxmann Hodder, Ian (Hg.). 2001. Archaeological theory today. Cambridge. Polity Press Jones, Andrew. 2002. Archaeological theory and scientific practice. Cambridge. Cambridge University Press © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 220 F A Z I T : V I E L E A N FÄ N G E , V I E L N E U E S U N D W A S S I E N O C H N I C H T W I S S E N Van Pool, Todd L.; VanPool, Christine S. (Hg.). 2003. Essential tensions in archaeological method and theory. Salt Lake City. University of Utah Press Genderstudies Braun, Christina von; Stephan, Inge (Hg.). 2006. Gender Studies: Eine Einführung. Stuttgart. Metzler Degele, Nina. 2007. Gender/ Queer Studies. Paderborn. Fink Hark, Sabine. 2005. Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus. Frankfurt a. M. Suhrkamp Zimmermann, Anja (Hg.). 2006. Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung. Berlin. Reimer Zeitschriften Ägypten und Levante/ Egypt and the Levant. Internationale Zeitschrift für ägyptische Archäologie (Ägyptische Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Institut für Ägyptologie der Universität Wien; Österreichisches Archäologisches Institut. Kairo) American Journal of Archaeology (AJA) (Archaeological Institute of America; Boston University) Ancient Near Eastern Studies (ANES) (School of Fine Arts, Classical Studies and Archaeology, University of Melbourne) Archiv für Orientforschung (AfO) (Internationale Zeitschrift für die Wissenschaft vom Vorderen Orient; Institut für Orientalistik, Wien) Bulletin d’Archéologie et d’Architecture Libanaise (BAAL) (Ministère de la culture, Direction générale des antiquités, Beirut) Bulletin of the American Schools of Oriental Research (BASOR) (Boston University) Cambridge Archaeological Journal (CAJ) (University of Cambridge, UK) Cuneiform Digital Library Journal (CDLJ) (University of California at Los Angeles; Max Planck Institute for the History of Science, Berlin) Current Anthropology (CA) (University of Chicago Press) Environmental Archaeology. The journal of human palaeoecology (Association for Environmental Archaeology) Geoarchaeology (Department of Geosciences, University of Arizona) International Journal of Historical Archaeology (Research and Collections, New York State Museum, Albany, New York, USA) Iranica antiqua (Ghent University) Journal of Ancient Egyptian Interconnections (University of Arizona) Journal of Ancient Near Eastern Religions (Brill, Leiden) Journal of Anthropological Achaeology (Museum of Anthropology, University of Michigan, USA) Journal of Archaeological Method and Theory (Catherine M. Cameron, University of Colorado, Boulder, CO, USA, James M. Skibo, Illinois State University, Normal, IL, USA) Journal of Archaeological Method and Theory (Gary M. Feinman, Dept. of Anthropology, The Field Museum, Chicago, Illinois, USA; T. Douglas Price, University of Wisconsin- Madison, Madison, Wisconsin, USA/ University of Aberdeen, Aberdeen, Scotland) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einheit 14 221 W E I T E R F ÜH R E N D E L I T E R AT U R Journal of Archaeological Science (Ed. J. P. Grattan, R. G. Klein, Th. Rehren) Journal of Cuneiform Studies (JCS) (American Schools of Oriental Research; Boston University) Journal of Field Archaeology (Boston University) Journal of Social Archaeology (Lynn Meskell, Stanford University, USA) Journal of World Prehistory (Timothy Taylor, Department of Archaeological Sciences, University of Bradford, Bradford, West Yorkshire, UK) Levant (Council for British Research in Levant) Near Eastern Archaeology (American Schools of Oriental Research, Boston University, Ann E. Killebrew) Paléorient (CNRS/ Centre national de la recherche scientifique, Paris) Radiocarbon (A. J. T. Jull, Department of Geosciences, The University of Arizona) Revue d’assyriologie et d’archéologie orientale (RA) (Presses Universitaires de France) Syria (Institut Français du Proche-Orient (IFPO Beirut - Damas - Amman) Time and Mind. The journal of Archaeology, Consciousness and Culture (Paul Devereux, Royal College of Art (on Faculty), UK; Neil Mortimer, Former Editor, 3rd Stone: The Journal of Archaeology, Folklore and Myth, UK; George Nash, Bristol University, UK) World Archaeology (Robin Osborne, University of Cambridge, UK) Zeitschrift für Assyriologie und Vorderasiatische Archäologie (ZA) (Herausgegeben von Walther Sallaberger in Verbindung mit A. Cavigneaux, T. van den Hout und U. Seidl) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 222 Zeittafel Epoche Uruk Lagaš Ur Akkad Babylon Assur Perserreich Zeit vor Christi Geburt Neolithikum/ Jungsteinzeit ca. 10000 Uruk VI-IV G˘emdet Nasr 3000 2900 2800 Frühdynastisch [Gilgameš] 2700 2600 2500 Urnanše Akurgal Eannatum Enannatum I. Meskalamdug Mesannepadda Aannepadda Entemena Lugalkisalsi 2400 Lugalzaggesi Lugalanda Urukagina Sargon Akkad Rimuš Maništušu Naramsin 2300 Lugal-ušumgal 2200 Urbaba Šarkališarri Dudu Šudurul Neusumerisch Gudea 2100 Utuh ∞ engal Urningirsu Urgar Namh ∞ ani Urnammu Šulgi Amarsin 2000 Šusin Ibbisin 1900 Sumuabum Ilušuma Irišum Altbabylonisch/ Altassyrisch Sargon I. 1800 Sinkašid Šamši-Adad I. Hammurabi 1700 Samsuiluna 1600 Assur-nirari I. 1500 Anhang © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Anhang 223 Z E I T TA F E L Anhang Epoche Uruk Lagaš Ur Akkad Babylon Assur Perserreich Zeit vor Christi Geburt 1500 Kassiten/ Mittelbabylonisch/ Mittelassyrisch Burnaburiaš I. Karaindaš Assur-nirari II. 1400 Kurigalzu I. Burnaburiaš II. Eriba-Adad I. Assur-uballit I. Kurigalzu II. 1300 Nazimaruttaš II. Adad-nirari I. Salmanassar I. Tukulti-Ninurta I. 1200 Melišipak Marduk-apaliddina I. Assur-dan I. Tiglat-pilesar I. Assur-belkala Assurnasirpal I. 1100 1000 Phöniker/ Neuassyrisch/ Neubabylonisch Assur-dan II. 900 Adad-nirari II. Tukulti-Ninurta II. Assurnasirpal II. Salmanasser III. Marduk-zakiršumi I. Šamši-Adad V. 800 Adad-nirari III. Assur-nirari V. Tiglatpileser III. Sargon II. 700 Šamaš-šumukin Nabupolassar Sanherib Asarhaddon Assurbanipal 600 Nebukadnezar Nabonid Kyros II. Kambyses II. Perserzeit Darius I. 500 Xerxes 400 300 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 224 Abbildungsnachweise Anhang Abb. 1.1: http: / / www.derreisefuehrer.com/ images/ maps/ continents/ mea_de.gif Abb. 1.2: www.wikipedia.de; Schlagwort: Agrargeschichte; Bild: Fruchtbarer Halbmond Abb. 1.3: www.wikipedia.de; Schlagwort: Perserreich; Bild: Das Perserreich um 500 v. Chr. Abb. 1.4: www.wikipedia.de; Schlagwort: Alexanderzug; Bild: Der Feldzug Alexanders des Großen Abb. 1.5: www.wikipedia.de; Schlagwort: Römische Provinz; Bild: Römische Provinzen unter Trajan Abb. 1.6: http: / / www.uni-muenster.de/ Medienpaedagogik/ lesenswertes/ mesoptamien.htm Abb. 1.7: http: / / readitloud.files.wordpress.com/ 2008/ 07/ db_gobeklitepe_urfa-region9.jpg Abb. 1.8: http: / / www.uni-tuebingen.de/ uni/ qvo/ highlights/ h44-tell-halaf-01.html Abb. 1.9: http: / / www.mpg.de/ imgObjects/ contentbilder/ geisteswissenschaftenJahr/ jdgeist3_tontafel/ web_zoom.jpg Abb. 1.10: http: / / wps.ablongman.com/ wps/ media/ objects/ 262/ 268312/ art/ figures/ KISH010.jpg Abb. 1.11: http: / / www.marx-forum.de/ grafik/ griechen/ Mittelmeer.gif Abb. 2.1: http: / / cache.daylife.com/ imageserve/ 0aHM3hz1X1a5W/ 610x.jpg Abb. 2.2: http: / / www.smithsonianmag.com/ multimedia/ photos/ ? c=y&articleID=3070612 9&page=4 Abb. 2.3: http: / / www.urgeschichte.org/ DieBeweise/ GobekliTepe/ Gopekli_Tepe_BdW_ 2003-05_700px.jpg Abb. 3.1: http: / / ecai.org/ iraq/ siteplan.asp? siteid=20 Abb. 3.2: Roaf, Michael, Cultural Atlas of Mesopotamia and the Ancient Near East, New York/ Oxford. Facts on File 1990, S. 63 Abb. 3.3: www.wikimedia.org; Schlagwort: Uruk Plate 3000 BC Abb. 4.1: Tobler, Arthur J., Excavations at Tepe Gawra, Bd. 2. Philadelphia. Pennsylvania University Press 1950, Abb. CLXIII Abb. 4.2: http: / / www.hindunet.org/ hindu_history/ sarasvati/ lapis/ uruk1.jpg Abb. 4.3: http: / / wings.buffalo.edu/ english/ faculty/ christian/ syllabi/ 375/ hhjw1/ 127032.jpg Abb. 4.4: Schmandt-Besserat, Denise, Before Writing, Bd. 1: From Counting to Cuneiform, Austin. University of Texas Press 1992, S. 10, Abb. 4 und S. 126, Abb. 73 Abb. 4.5: http: / / www.nyu.edu/ classes/ wright/ Fall03/ Warka vase.jpg Abb. 5.1: Marlies Heinz auf der Grundlage von: Roaf, Michael, Cultural Atlas of Mesopotamia and the Ancient Near East, New York/ Oxford. Facts on File 1990, S. 64 f. Abb. 5.2: Algaze, Guillermo, The Uruk World System: the dynamics of expansion of early Mesopotamian civilization. Chicago. University of Chicago Press 1993, S. 39, Abb. 17 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Anhang 225 A B B I L D U N G SN A C H W E I S E Abb. 5.3 u. 5.4: Strommenger, Eva, Habuba Kabira: eine Stadt vor 5000 Jahren. Ausgrabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft am Euphrat in Habuba-Kabira, Syrien, Mainz. Zabern 1980, Umschlaginnenseite Abb. 5.5a: http: / / www.thecityreview.com/ f06can2.jpg Abb. 5.5b: http: / / www.louvre.fr/ media/ repository/ ressources/ sources/ illustration/ atlas/ x196image_57390_v2_m56577569830584483.jpg Abb. 5.5c: Orthmann, Winfried, Der Alte Orient, Berlin. Propyläen Verlag 1975 (Propyläen Kunstgeschichte Bd. 14), Abb. 14b Abb. 5.6: http: / / edoc.hu-berlin.de/ dissertationen/ gebauer-jens-2003-06-05/ HTML/ Gebauer_html_7dd9109c.jpg Abb. 6.1: http: / / bussinessmouse.googlepages.com/ Ur3.jpg/ Ur3-custom; size: 133,538.jpg: Abb. 6.2: www.wikimedia.org; Stichwort: Geierstele; Bild 1 Abb. 6.3: www.wikimedia.org; Stichwort: Geierstele; Bild 2 Abb. 7.1: http: / / babylonianmusings.blogspot.com/ conejpg.JPG Abb. 8.1: http: / / americanradioworks.publicradio.org/ features/ climate/ images/ akkad.jpg Abb. 8.2: http: / / www.historyforkids.org/ learn/ arts/ sargon.jpg Abb. 8.3: http: / / my.fit.edu/ ~rosiene/ akkad.jpg Abb. 9.1: http: / / oi.uchicago.edu/ OI/ IRAQ/ Images/ sumer32/ sumer32_1l.jpg Abb. 9.2: http: / / teachers.sduhsd.k12.ca.us/ ltrupe/ art%20history%20web/ final/ chap2NearEast/ Stele%20of%20Naramsim.jpg Abb. 10.1: http: / / www.geocities.com/ garyweb65/ urIIIA.html Abb. 10.2: http: / / www.damals.de/ sixcms/ media.php/ 286/ kodex0708.jpg^ Abb. 11.1: http: / / www.weltkarte.com/ mosten/ iran/ topographische_karte_iran.jpg Abb. 11.2: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Kudurru Abb. 12.1: http: / / www.geocities.com/ Athens/ Acropolis/ 7987/ anatol_1.jpg Abb. 12.2: http: / / www.kacmac.com/ cities/ images/ Ugarit/ FirstAlphabet-1400BC.jpg; Naveh, Josph, Early History of the Alphabet. An Introduction to West Semitic Epigraphy and Palaeography, Jerusalem. The Magnes Press 2. Aufl. 1987, Abb. 25 Abb. 12.3: http: / / darkwing.uoregon.edu/ ~klio/ maps/ gr/ Ph%F6nikien%20-%20Staatenwelt.JPG Abb. 12.4: http: / / www.interhomeopathy.org/ images/ gallery/ 154IH-MUREX-02.jpg Abb. 12.5: www.wikipedia.de; Stichwort: Phönizier Abb. 12.6: http: / / www.omniglot.com/ writing/ phoenician.htm Abb. 12.7: www.wikimedia.commons.org; Stichwort: Ahiram Sarcophag Abb. 13.1: http: / / wps.ablongman.com/ wps/ media/ objects/ 262/ 268312/ art/ figures/ KISH022.jpg Abb. 13.2: www.wikimedia.commons.org; Stichwort: Persian Empire Abb. 13.3: http: / / picasaweb.google.com/ lh/ photo/ Jedc8AYZWk5BmKCagxQHqA Abb. 13.4: http: / / www.livius.org/ a/ iran/ pasargadae/ pasargadae_map2.jpg © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 226 A B B I L D U N G SN A C H W E I S E Abb. 13.5: http: / / www.heritageinstitute.com/ zoroastrianism/ images/ angel.jpg Abb. 13.6: http: / / www.antike-kunst-goettingen.de/ pic_27.html Abb. 13.7: http: / / analepsis.files.wordpress.com/ 2008/ 04/ persepolis_air1.jpg Abb. 13.8: http: / / www.cais-soas.com/ CAIS/ Images2/ Achaemenid/ Persepolis/ Persepolis_ Recon_Drawing.jpg Abb. 13.9: http: / / www.babyloniangal.com/ files/ tours/ Persepolis_Apadana_Palace.jpg Abb. 13.10: http: / / www.uoregon.edu/ ~klio/ im/ ane/ Apadana%20-%20Gabenbringer%202. jpg Abb. 13.11: http: / / www.niasnet.org/ old/ Reliefs,%20Palace%20of%20Darius%20I.jpg Abb. 13.12: http: / / 1.bp.blogspot.com/ _d3V_nSv4fJA/ SQuWx2vg4gI/ AAAAAAAAAro/ VerBVIM-sNA/ s400/ Assyrian+relief+-+lion.jpg Abb. 13.13: http: / / www.sachmet.ch/ photogallery/ Iran_2006/ Persepolis_1_Bild/ Persepolis_3.jpg Abb. 13.14: http: / / www.accd.edu/ sac/ vat/ arthistory/ arts1303/ NeaAsr5.jpg (letzter Aufruf der Internetseiten: 23. 07. 2009) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. 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